INTERTEXTUELLE METAMORPHOSEN Franz Kafkas Die
Transcription
INTERTEXTUELLE METAMORPHOSEN Franz Kafkas Die
INTERTEXTUELLE METAMORPHOSEN Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu Alexandra Vlad Betrachtet man literarische Texte aus der Perspektive der kulturellen, intertextuellen Verknüpfungen im Schreib- und Leseprozess (Renate Lachmann), dann wäre eine permanente Verwandlung und Erneuerung des Ästhetischen zu vermuten. Inwiefern ist dieser Prozess der Verflechtung von Texten, kulturellen Realitäten und Darstellungsweisen auch ein Prozess der Verwandlung? Die Texte als ein kulturelles Gewebe, welches durch zahlreiche Fäden vernetzt und verflochten wird, fasse ich als Metamorphose(n) auf, wodurch ich die Veränderungen als Übergänge perspektiviere. In diesem Sinne erscheint mir die Metamorphose der Arachne in einer Spinne bedeutend, weil das Gewebe als Textgewebe nur durch Verwandlung entstehen kann. Um textuelle und kulturelle Metamorphosen zu erläutern, verknüpfe ich Texte der deutschen und rumänischen Kultur, indem ich IN und ZWISCHEN den Texten und Kulturen verfahre. Exemplarisch möchte ich die intertextuelle Vernetzung und Veränderung der Erzählung „Die Verwandlung” von Franz Kafka an Mircea Cărtărescus Texte aus dem Erzählband „Nostalgia” zeigen. An diesen konkreten Beispielen nehme ich mir vor, auf das Potential der „intertextuellen Metamorphose” zu verweisen: die Aktivierung einer kulturellen Dynamik, wenn man den Text nicht mehr als Geflecht, sondern als Zwischenstadium einer metamorphischen Bewegung schreibt, liest und „entlarvt“. Stichworte: intertextuell, Vernetzung, Textgewebe, Verwandlung, Übergang Kennzeichnend für unser Jahrhundert ist, dass wir statt der einen, einheitlichen Weltsicht, eben den Übergang in ein pluralistisches Weltbild erleben. Charakteristisch für diese Zeit - insbesondere für die Postmoderne1 - ist, dass wir einem Geflecht widerspruchsvoller, interferierender Tendenzen und Orientierungen ausgesetzt sind. Auf literarischer Ebene bezieht sich dieses „Geflecht möglicher Verbindungen”2 auf die wechselseitige Wirkung der Texte (aus verschiedenen Kulturen oder Epochen oder sogar Gattungen) untereinander, denn jeder Text steht in einem Kontext ande1 Terry Eagleton unterscheidet den Postmodernismus, die Kunstbewegung, von der Postmoderne, der postmodernen Neuorientierung in der Philosophie. Vgl. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 4. erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S. 227. 2 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 2., durchges. u. verb. Aufl. München: Fink (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 636) 1984. Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu rer Texte. Das Verbinden der Texte in einem literarischen und kulturellen Geflecht, welches durch eine so genannte „Vernetzung“ entsteht und welches eine Eröffnung der Grenzen ermöglicht, wird unter dem Begriff Intertextualität gefasst.3 Jedoch, weil die Intertextualität durch die zahlreichen (intertextuellen) Vernetzungen die Textgrenzen erweitert, schafft sie ein pluralistisches Gebilde, was kulturelle und literarische Verwandlungen ermöglicht. Die Verwandlungen, die erfolgen, schließen eine Wechselwirkung der Produktion und Rezeption von Texten ein,4 die immer Kenntnis von frühren oder anderen Texten voraussetzt. Deshalb erscheint es mir angemessen, unter dem Konzept der Intertextualität sowohl die Vernetzung der Texte als auch ihre Verwandlung zu betrachten und zwar in Hinsicht auf Produktion und Rezeption. Die Geschichte der jungen Weberin Arachne, welche von der Göttin Athene - die Herrin über die Webekunst – bestraft und in eine Spinne verwandelt wird, nehme ich zum Anlass, das Konzept der Intertextualität im Sinne einer „Vernetzung“ und einer „Verwandlung“ zu verwenden. Die Verbindung dieser beiden Merkmale der Intertextualität hat zu der Auswahl des sprachlichen Konstruktes der intertextuellen Metamorphosen geführt, so dass ich mich innerhalb der vorliegenden Arbeit dieser Begrifflichkeit bedienen werde. Dieses Konzept wird herangezogen, um die intertextuellen Eigenschaften der gegenwärtigen rumänischen Literatur im Hinblick auf die Metamorphose und die Vernetzung der Kultur(en), auf welcher sie fußt, zu beschreiben. Dabei wird bei der Erforschung des Konzepts exemplarisch auf Texte der deutschen Moderne und der rumänischen Postmoderne eingegangen, wobei die Grundlage der empirischen Arbeit die literaturwissenschaftlichen und vergleichenden Verfahren bilden. Eine detaillierte Aufbereitung der Problematik würde den Rahmen dieser Arbeit mit Sicherheit sprengen, sowohl in räumlicher Hinsicht als auch, was die zur Unendlichkeit strebenden Intertexte und Verknüpfungen (auch meinerseits als Leser) an- 3 Im literatur- und kulturwissenschaftlichen Kontext können grundsätzlich zwei unterschiedliche Ansätze des Intertextualitätsbegriffes unterschieden werden. Der erste, theoretisch orientierte und weit gefasste Begriff der Intertextualität wurde von Julia Kristeva unter dem Einfluss Michail Bachtins Dialogizitätstheorems eingeführt und als eine Subsumierung einer Reihe von Textrelationen eines Textes zu anderen Texten, als „Mosaik von Zitaten” geprägt. Der zweite Ansatz ist besonders auf die Beziehungen zwischen den konkreten literarischen Texten, welche klassifiziert und analysiert werden, konzentriert. 4 Mit dem Paradigmenwechsel am Ende der sechziger Jahre nahm die Rezeptionsästhetik an Bedeutung zu und drängte die werkimmanente Textanalyse in den Hintegrund. Die von Foucault beschriebene „kohärenzstiftende Funktion des Autors” verlor an Relevanz, indem der Leser zunehmend als Co-Autor aufgefasst wurde. Durch die Eröffnung der Grenzen zwischen der Autor- und Leserinstanz erweiterte sich auch die Wechselwirkung zwischen Produktion und Rezeption der Texte. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 151 Alexandra Vlad belangt. Trotz dieser Grenzen wird der Diskurs in einer komparatistischen Perspektive, bei der Kreuzung und dem Schnittpunkt der Kulturen (nicht nur der Literatur) – oder im postmodernistischen Sinne bei der Vernetzung der deutschen und der rumänischen Kultur – eingeflochten. Somit beschränkt sich diese Arbeit allein auf ausgewählte Beispiele und Textstellen, die das Einwirken der kafkaschen Verwandlung auf die Texte von Mircea Cărtărescu in seinem Erzählband Nostalgia - in den Erzählungen: Ruletistul, Mendebilul, Gemenii, REM, Arhitectul - verdeutlichen sollen, und versucht ansatzweise die Ausdrucksformen der „Metamorphose“ und die Auswirkung der Verwandlungen in den erwähnten Texte zu vergleichen. Besonderes Augenmerk soll auf die Veränderungen, welche der Autor Cărtărescu vornahm, wobei nicht eine Analyse oder ein Interpretationsversuch der einzelnen Werke angestrebt wird, sondern eine Betrachtung der durch Verwandlung entstandenen Vernetzung der Texte, Literaturen, sowie der kulturellen und universellen Werte, die aber nur aufgrund der Metamorphose und der Vernetzung (aus der Perspektive des Autors und Lesers) entstanden sind. Ebenfalls will gezeigt werden, dass es sich in den postmodernen Texten nicht um eine „leere Parodie“5 handelt, sondern dass man eine extensive Wiederholung der Schrift („récriture“ oder „réécriture”) als partikuläre Form der Intertextualität in diesem Zusammenhang erfassen kann. Die Arbeit folgt also nicht dem Ansatz verschiedener Literaturkritiker und -theoretiker6, die Postmoderne sei eine blasse oberflächliche eklektizistische Neuschreibung der Literatur der Moderne, während das Innere, Inhaltliche fehlen würde, sondern will das postmodernistische Verfahren der Intertextualität (mit allen Ausdrucksformen) als eine kompensatorische Neugewinnung darstellen. Und sie als einen in neuen, gar nicht oberflächlichen, Werten umschreibende Akt7 aufzuzeigen – als eine Metamorphose zu einem Stadium, wie es in den Werken von Cărtărescu als Entlarvung zu einem Schmetterling dargestellt wird oder auch, wie er in Gemenii selbst behauptet, als ein Schreibakt, 5 Der Übergang vom Modernismus zum Postmodernismus führt laut mehreren Fachwissenschaftlern (siehe Fußnote 2.) zur Durchsetzung eines „Oberflächen”-Modells der Literatur und Kultur, das auf Inhaltlosigkeit und Beliebigkeit beruht. Der Postmoderne wird vorgeworfen, dass es das Paradigma der „Leere” und nicht der „Tiefe” verkörpern würde. 6 Kritische Haltungen gegenüber der Postmoderne: Irwing Howe, Harry Levin, Charles Newman, Terry Eagleton, Fredric Jameson, Valentine Cunningham, Jürgen Habermass. 7 Der Begriff wurde in Bezug auf den Wert des Agierens und des Aktanten (unabhängig ob Autor, Erzähler oder Leser) verwendet, denn die Literatur erhält mit der Postmodere eine pragmatische Dimension in der „gehandelt” wird. Vgl. dazu: Hawthorn, Jeremy: Grundbegriffe moderner Literaturtheorie: Ein Handbuch. Übers. von Waltraud Kolb. Tübingen [u.a.]: Francke 1994, S. 8. 152 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu [...] um eine Besessenheit durch Beschwörung auszutreiben, um meine arme Monsterseele zu schützen, vor dem schrecklichen Monster, nicht durch Abscheulichkeit, wie bei 8 Kafka, sondern durch Schönheit Dementsprechend habe ich Mircea Cărtărescus Nostalgia (Die Nostalgie), ein Erzählband 1993 erschienen, nach einer unvollendeten Ausgabe 1989, damals unter dem Namen „Visul” (Der Traum), als das Buch der Transfiguration, der Verwandlung, der Sehnsucht nach einem verlorenen Zustand9, aber auch des akuten Bewusstseins eines späteren, zukünftigen Zustandes, in den man übertreten muss, angesehen und zur konkreten Auseinandersetzung mit den intertextuellen Metamorphosen gewählt. Intertextuelle Metamorphosen von der Autor-Text-Beziehung zur TextLeser-Beziehung. Wenn man den Text als Intertextualität akzeptiert, bedeutet das ihn sowohl auf der Ebene der Schrift als Schreibweise, als auch der Lektüre10 im Rahmen des textuellen Ganzen (Kontextes), von der Gesellschaft und der Kultur (hier auch Literatur eingeschlossen) gegeben, zu betrachten. Der Text ist nicht nur ein Produkt der Schrift, sondern auch der Lektüre und des gesellschaftlichen, kulturellen Kontextes, wobei die zwei Ebenen: die der Schrift und die der Lektüre nicht konkret von einander getrennt werden können. Sie werden als ein sich kontinuierlich wandelnder Prozess in einem „veränderlich interpretierbar[en]”11 Universum der Intertexte aufgefasst. Es ist ein Spiel mit den Unterschieden der intertextuellen Analogien: aus der Perspektive des Schreibaktes (der autor-intendierten Bezügen) und auch des Leseaktes (der intertextuelle Analogien im gelesenen Text findet oder aufbaut). Somit kann man auch Cărtărescus Text12 als einen „universalen Raum” auffassen, in dem eine ganze Reihe von Schreibweisen sich überschneiden und aufeinander treffen, wie ein ganz komplexes Gewebe, mit dem der Leser konfrontiert wird, so dass er 8 Cărtărescu, Mircea: Gemenii. In: Nostalgia. Ediţia a doua. Bucureşti: Humanitas 1997, S. 77. Im Original: „[...] ci ca să exorcizeze o obsesie, ca să îmi apăr bietul suflet de monstru, de monstrul groaznic nu prin hidoşenie ca la Kafka, ci prin frumuseţe.“. (Übersetzung des Verfassers). 9 Der verlorene Zustand ist für Mircea Cărtărescu die goldene, literarische Zeit der Repräsentanten der Moderne, wobei er sich direkt auf Kafkas genialem Schreibvermögen bezieht. Vgl. dazu Cărtărescu, Mircea: Jurnal I 1990-1996. Bucureşti: Humanitas 2001, S. 207. 10 Im derridaschen Sinne wird die „écriture“ mit der Lektüre verbunden. Siehe dazu Derrida, Jaques: „Lingvistică şi gramatologie“. In: Babeţi, Adriana (Hrsg.): Pentru o teorie a textului: antologie „Tel Quel“: 1960-1971. Bucureşti: Editura Univers 1980, S. 49 ff. 11 Vgl. Frey, Hans-Jost: Der unendliche Text. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 8. 12 Die Analyse bezieht sich nicht nur auf einen Text des Bandes Nostalgia, sondern auf den Erzählband selbst. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 153 Alexandra Vlad auch eine komplexe und vielleicht komplizierte Textur aufbaut. In der von mir gesponnenen Lesevernetzung baue ich eine Verknüpfung zum kafkaschen Text, zur Erzählung Die Verwandlung auf, indem ich Cărtărescus labyrinthische Zeichensprache und die spielerischen Sprachstrukturen der Textverflechtungen selbst (komparatistisch) dekodiere. I. Intertextuelle Metamorphosen im Schreibakt Seitdem die Grenzen zwischen Kunst und Realität durch Baudrillard aufgebrochen wurden, „herrscht die ästhetische Faszination überall”. „Kunst ist daher überall, denn das Künstliche steht im Zentrum der Realität".13 Wenn die Kunst Hyperrealität (Umformung eines Ausgangstextes nach Genette14) ist, dann stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht mehr. Simulacrum (Baudrillard) und, in seiner Nachfolge, Virtualität entwickeln sich zu Konkurrenzbegriffen von Fiktion, welches immer noch mit seinem Gegenteil, dem Realen, operiert. Dabei wird ein qualitativer Sprung vollbracht: Die postmodernen Autoren bilden nicht mehr die Wirklichkeit ab, sondern simulieren Stimmen (Bachtin) und spielen mit den verschiedensten Stimmen, Erzähltechniken und sprachlichen Ausdrucksformen, um neue Welten herzustellen oder sie zu entdecken. Durch die eingesetzten Intertexte bezieht sich der Autor auf erfundene oder wirkliche Vorgängertexte (Prätexte) und nimmt sie als Voraussetzung für ein erneuerndes Kontinuum, für eine „ré-écriture”. In der Perspektive dieser Wiedergewinnung der tradierten geistigen Literatur- und Kulturwerte ist der als Hauptvertreter der „Achtziger Generation“15 anerkannte Schriftsteller, Mircea Cărtărescu zu betrachten. Der Schriftsteller ordnet seine Schriften selbst ein: Meine Bücher sind nicht von wer weiß was für Lämmchen der rumänischen Folklore 16 oder von tiefen Verneigungen der orthodoxen Zeremonie durchquert, sondern von 13 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1982, S.119 f. 14 Genettes Intertextualitätstheorie ist an der Systematisierung und Erklärung der Referentialität orientiert. Sein Oberbegriff der „Transtextualität” fasst fünf unterschiedliche Formen textübergreifender Beziehungen zusammen: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität. Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 15 Die „Achtziger Generation“ ist die rumänische Postmoderne, welche sich durch die Ablehnung der traditionellen Illusionen (der geschlossene kreisförmige Text, die Herrschaft des Autors über den Text, der mimetische Realismus, die Syntheseversuche, die einheitliche Perspektive usw.) und der Konventionen (das Subjekt mit autonomer Identität, welcher über die Objekte herrscht, die Struktur als Autorität der Klassifizierung und der Hierarchie) kennzeichnet. Vgl dazu Muşat, Carmen: Strategiile subversiunii. Descriere şi naraţiune în proza postmodernă românească. Piteşti 2002, S. 65 ff. 16 Diesers Wort könnte auch als Religion übersetzt werden. 154 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu Dantes Sterne, von dem Kompass von John Donne, von Cervantes Lanze, von Kafkas In17 sekt, von Prousts Madelaine, von Grass Butt. Durch die Verwendung der verschiedenen Mitteln der Intertextualität definiert er sich aber die Schreibweise auch innerhalb der Schriften, also der eigenen Texte; dabei arbeitet Cărtărescu mit einem Metatext. Cărtărescu bezieht sich in seiner Schreibweise ständig auf Kafka, um die Entfremdung des Menschen, aber auch den freien Spielraum, der vor allem das Denken und Schreiben eröffnet, darzustellen. Durch die Verknüpfung mit Kafkas Lebensauffassung und, direkter, mit dessen Erzählung Die Verwandlung, wendet er auch eine andere Erscheinungsform der Intertextualität an: den Hypertext. Dieses bedeutet, dass der rumänische Autor den kafkaschen Ausgangstext nicht imitiert, sondern dass er die Thematik „wiederschreibt“18 und verwandelt. Er verwendet es dafür, um einen Paratext herzustellen, was wiederum bedeutet, dass er seine eigenen Texte erklärt, indem er Informationen hinzufügt, welche die Lektüre steuern. In seinen Schreibverfahren bedient sich Cărtărescu gerade des Motivs der Verwandlung - Kafkas Verwandlung als Entfremdung19 des Individuums durch eine „tierische”20 Metamorphose – und deutet es neu um. Kafka stellt das Leben und Schicksal eines Verwandelten oder genauer den „Wendepunkt eines Schicksals”21 dar, wobei die Verwandlung am Beginn der Erzählung äußerlich schon vollständig abgeschlossen ist: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in sei22 nem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Bei Cărtărescu ist es eine Verwandlung in eine Spinne, die in Bezug auf mehrere Dimensionen des Textes gewertet wird. Der Vorgang der Verwandlung betrifft mehrere Instanzen – den Autor selbst, die Gestalten und den Leser. Einerseits werden die Gestalten von ihrem „Schöpfer“ (in seinem Werk als Puppenmacher) bestraft, in 17 „Cărţile mele nu sunt străbătute de cine ştie ce oiţe din folclorul românesc sau de mătăniile ritului ortodox, ci de stelele danteşti, de compasul lui John Donne, de lancea lui Cervantes, de gîndacul lui Kafka, de madelaina lui Proust, de calcanul lui Gunther Grass.”. Cărtărescu, Mircea: Europa are forma creierului meu. In: Pururi tînăr, înfăşurat în pixeli. Bucureşti: Editura Humanitas 2004. 18 „Wiederschreiben“ im Sinne der „réécriture“. 19 Cărtărescu bezieht sich in seiner Schreibweise ständig auf Kafka, um die Entfremdung des Menschen, aber auch den freien Spielraum, der vor allem das Denken und Schreiben eröffnet, darzustellen. 20 Im Sinne des Ekelerregenden, aber auch akut dramatischen Daseins des entfremdeten Individuums. 21 Heselhaus, Clemens: Kafkas Erzählform, S. 367. In Anlehnung an: Beicken, Peter (Hrsg.): Franz Kafka: Die Verwandlung. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1998, S. 74. 22 Kafka, Franz: Die Verwandlung, In: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hrsg. von Roger Hermes. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 96. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 155 Alexandra Vlad dem Sinne, dass sie - in dem Moment ihres Eintretens in den Text - der Verwandlung ausgesetzt sind, weil der Text alles verwandelt und als Gewebe die Gestalten in dieses Netz auffängt. Aber, andererseits, bestraft sich der Autor selbst und verwandelt sich freiwillig, also bewusst, in ein Insekt. Im umgekehrten Sinne (in Verbindung mit dem Spiegel, in dem sich die Gestalten betrachten) ist die Metamorphose nicht die eines Individuums (hier der Autor) in ein Insekt, sondern des Insektes (Kafkas Insekt) in die schriftliche Instanz. Durch die Widerspiegelung nicht nur der Personen, sondern auch des Textes selbst, wird das umgedrehte Bild der Wirklichkeit dargestellt, wobei Kafkas Verwandlung zu einem Kippbild und nicht zu einem Abbild führt. In Bezug auf den literarischen Text deutet Cărtărescu die Problematik der Verwandlung im Sinne einer hypothetischen bzw. erwünschten Endverwandlung; der letzte Stadium kann ein Monster oder aber einen Schmetterling ergeben. Dabei wertet er auch die Arbeit des Postmodernismus in diesem Kontext und zwar, dass der postmoderne Autor durch Wiederholung - sogar mehr - durch Vernetzung der Texte und Literaturen (mit angegebenem Augenmerk auf die Moderne) eine Verwandlung der modernen Werte und Formen in einen Schmetterling und nicht in ein Monster ermöglicht. Somit scheitert die Postmoderne nicht an Imitation, sondern wertet die tradierten Werte durch die „ré-écriture“ neu um. In diesem Sinne erscheint sein Schreiben als eine Handlung, die ähnlich der einer Spinne ist und die durch den Prozess der Verwandlung einer intertextuellen Metamorphose unterliegt. Dabei webt er die Welt der Schrift, aber er muss sich selbst „einspinnen”, um sich dadurch auch entfremden zu können. Sein Texte folgen dieser ästhetischen Auffassung. Der Erzählband Nostalgia ist auf dem Prinzip der Vernetzung durch die Verwandlung gebaut. Die Struktur entspricht den Stadien der Metamorphose: aus dem Ei entsteht eine Larve, aus der Larve eine Puppe, aus der Puppe ein Schmetterling (oder nicht), wobei in Cărtărescus Schriften die verschiedenen Stadien der Verwandlung des Menschen dargestellt werden: aus dem Kind wird ein Jugendlicher (Mendebilul), aus dem Jugendlichen entsteht ein Erwachsener (Gemenii), aus dem Erwachsenen ein „Schmetterling” (REM). Dieser metamorphotische Aufbau wird jedoch in ein Gewebe eingespinnt, das eine Einführung (eine Einführungsgeschichte: Ruletistul) und einen Prolog (Arhitectul) hat. In dieser Art ist auch die gesamte Prosa von Cărtărescu als ein metamorphotisches Gebilde zu betrachten: die drei Stadien der literarischen und gleichzeitig menschlichen Verwandlung finden wir in dem 1993 erschienen Erzählband Nostalgia, danach in dem 1994 erschienen Roman Travesti und, als letztes Stadium, in Orbitor. In Gemenii, der zweiten Erzählung des Bandes Nostalgia, stellt Cărtărescu seine Schreibweise dar, wobei er sich metatextuell auf das, was er nachfolgend als den 156 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu Ausgangstext seiner Erzählung – seinen Hypertext – aufzeigt, bezieht. Er stellt die kafkasche Verwandlungssituation um, so dass Kafkas Insekt verwandelt in den Autor aufwacht: «Nach einer Nacht mit einem aufgeregten Schlaf, wachte ein schreckliches Insekt ver23 wandelt in den Autor dieser Zeilen.» So würde die Erzählung, [...] beginnen [...] Es ist gleichzeitig die Verwandlung des Autors in die literarische Gestalt, als auch die Verwandlung des kafkaschen Insektes in den Autor des Textes. Die doppelte Bedeutung dieser Transformation betrifft - einerseits - die Tatsache, dass die übergeordnete TEXT-Instanz, der traditionell aufgefasste Autor, durch dessen Tod, in Frage gestellt wird (Barthes) und – andererseits – den intertextuellen Bezug auf Kafkas „Verwandlung“. Denn das Kippen des Bildes (in der Widerspiegelung der Gestalten) entspricht – auf der textuellen Ebene – einem Kippen des kafkaschen Anfangssatzes: So würde die Erzählung, welche ich mir vornehme hier zu schreiben, beginnen, wenn ich es wollte, sie zu veröffentlichen. Es würde ein wirksamer Anfang sein, was aber die Wahrhaftigkeit nicht ausschließen würde, wenn man in Acht nimmt, dass ich tatsächlich 24 dieses Insekt bin. Diese Metamorphose erscheint als eine mögliche Wiedererzählung, die in dem gegenwärtigen Text in veränderter Version erscheint, aber die sich auf die Vorgängergeschichte bezieht, um damit die Aufmerksamkeit zu gewinnen. Der Text und somit der Textsinn ist den Veränderungen unterworfen, da der Autors als bürgende Instanz für das Einheitliche verschwindet und selbst eine Gestalt in der Erzählung wird. Ebenfalls die Gestalten werden zu Koautoren des Textes. Es ist ein doppeltes „Spiel” mit den Überlieferungen, da der Autor Kafkas Text in den eigenen eintreten lässt, aber auch weil der Autor des Tagebuches (ein anderer Text in dem Erst-Text) das im ersten Text Verwandelte aufnimmt und weiter der Transformation aussetzt: [...] ich hatte den ganzen Komplex der kafkaschen Anzeichen: falsche Wiedererkennungen, jamais-vu und der ganze Rest. Aber ich habe auch tatsächlich persönliche Wahrnehmungen, die ich nirgendwo in der Literatur gefunden habe, aber in denen ich 25 mich auch nicht verwickele. Durch den Übergang kann der Autor – aufeinander folgend - mit der Stimme jeder 23 Cărtărescu, Mircea: Gemenii In: Nostalgia , Bucureşti: Humanitas 1997, S. 77. Im Original: „«După o noapte cu somn agitat, o gânganie îngrozitoare se trezi transformată în autorul acestor rânduri.» Cam aşa ar începe [...]“. (Übers. d. V.). 24 Ebd. Im Original: „Cam aşa ar începe, răsturnând fraza de început a Metramorfozei lui Kafka, povestea pe care m-am gândit să o scriu aici, dacă aş vrea să o public. Ar fi un început de efect, ceea ce nu ar exclude verdicitatea, având în vedere că eu chiar sunt această insectă”. (Übers. d. V.). 25 Ebd. Im Original: „[...] am avut tot complexul de manifestări kafkiene: recunoaşteri false, jamais-vu şi tot restul. Am şi senzaţii cu adevărat particulare, neîntâlnite de mine nicăieri în literatură, dar nu măncurc în ele”. (Übers. d. V.). ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 157 Alexandra Vlad Gestalt sprechen, aber immer als das kafkasche Insekt, welches aus einer Welt in die andere oder aus einem Gehirn ins andere hinüber gleiten kann. Durch dieses Eintreten des Autors in den Text als Gestalt vollzieht sich die Verwandlung im Falle des Autors, aber auch im Falle der anderen Gestalten. Das Wesentliche dieses Übergangs des Autors in den Text und zwar unter der Form einer körperlichen Verwandlung (hier in ein Insekt) ist, dass es nicht nur eine äußerliche, oberflächliche26 Veränderung ist, sondern dass sie auf eine Verwandlung der Sensibilität ganz deutlich hinweist: „ Ich entwickelte mich zu einem schwierigen Jugendlichen, der seltsame und absurde Ideen besaß“27. Beide sowohl die körperliche als auch die seelische Verwandlung, die im Zusammenhang mit dem Alter der Gestalt (die gleichzeitig Autor seiner Erzählung ist) zu verstehen ist, prägen die metamorphotische Entwicklung: Ich veränderte mich immer deutlicher. Mein Gesicht nahm asketische Züge, in den Augen funkelte ein leidendes, etwas seltsames Licht. Der Schnurrbart begann strenge Linien unter langen und dünnen Nasenlöcher zu zeichnen, alle Gesichtszüge begannen länger zu werden. Ich begnügte mich mit der Einsamkeit, ich wehrte mich mit allen 28 Kräften gegen etwas, das mir sowieso geschehen musste. Was anfänglich nur mit einem generellen Begriff „Insekt“ oder „Ungeziefer“ umschrieben wird, erhält im nachhinein Kontur und wird als ein Tausendfüßler, eine Spinne bezeichnet. Die Spinnengestalt ist diejenige die webt, so dass der Autor eine andere Welt und neue Welten webt, den Text webt, andere Gestalten in einem Gewebe einschließt, indem er von „dem Ganzen”29 träumt, von einem Schriftsteller, [...] der, durch sein Werk, wirklich dazu gelangen wird, das Leben der Menschen, aller Menschen, und danach des ganzen Universums, bis zu den weit entferntesten Sternen, 30 zu beeinflussen 26 Eine oberflächliche Verwandlung der Gestalten, des Autors beziehungsweise der Erzählung würde einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Primärtext bedeuten, was der Postmodene sehr häufig vorgeworfen wird. 27 Ebd., S. 100. Im Original: „Deveneam un adolescent dificil, cu bizarerii şi idei absurde.” (Über. d. V.). 28 Ebd., S. 105. Im Original: „Mă schimbam văzând cu ochii. Figura mea căpăta trăsături ascetice, în ochi îmi lucea o lumină suferindă, puţin stranie. Gura rămânea senzuală, dar chinuită şi ea de o constrângere interioară. Mustaţa începuse să mi se contureze sub nările lungi şi foarte subţiri, şi toate liniile feţei se alungiseră. Mă complăceam în singurătate, mă apăram din toate puterile de ceva care trebuia să mi se întâmple.“. (Über. d. V.). 29 Die Lyrik ist von diesem Streben charackterisiert. Dazu ist auch der Titel eines seiner Lyrikbände, Totul (deutsch:. „Das Ganze”), zu erwähnen. 30 Vgl. Cărtărescu, Mircea: REM. In: Nostalgia , Bucureşti 1997, S. 268. Im Original: „[...]care, prin arta lui, să ajungă cu-adevărat să influenţeze viaţa oamenilor, a tuturor oamenilor, şi apoi viaţa întregului univers“. (Übers. d.V.). 158 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu und damit meint er nicht, dass er sich wünscht einen großen Schriftsteller zu werden, sondern er behauptet er wolle, „das Ganze werden“31. In diesem vernetzten Gebilde ist der Schriftsteller eine Spinne, die bewusst und zielgerichtet - von dem Autor selbst - bestraft wird immerfort zu weben, Vernetzungen zu schaffen, so dass sein Werk in eine Textur (Gewebe), die dem Riss und der Auflösung ausgesetzt ist, verwandelt wird. Der „webende” Autor bewirkt aber auch eine Metamorphose der Leser, weil diese im Textgewebe eingesponnen sind und „IN” und „ZWISCHEN” den Vernetzungen irren müssen, um den Erzählsträngen zu folgen und ein anderes plurales „Erzählgewebe“ zu ermöglichen. II. Intertextuelle Metamorphosen im Akt des Lesens Somit bewirkt das intertextuelle Verfahren, welches Cărtărescu einsetzt, eine bestimmte Spannung, es setzt das Erkennen der Anspielungen voraus und erlaubt eine Vielzahl von Lesearten. Die Transformation des Prätextes auf der Ebene der Textproduktion ist als intertextuelle Schreibweise zusammengefasst so zu verstehen, dass das ändernde Zurückkommen auf Gesagtes, Geschriebenes den Text der Grenzenlosigkeit öffnet und zwar auch durch die grenzenlosen Lesearten. Somit kann der Leser seine eigene Lesestränge verfolgen und sein eigenes Lesegewebe spinnen: Man kann was auch immer lesen, jeder kann sich beliebig was vorstellen. Man kann diesem Spiegelvorhang, diesem Text, dieser Textur, diesem Textil jegliche Motivation, jegliche Interpretation finden. […] Ich will sie nicht bis ins Unendliche weben und auch nicht während der Nacht das zu zerstören, was ich tagsüber arbeite. Im Gegenteil, ich fange jetzt damit an, die Sachen fortzuführen, in das Versteck des Drachen oder des 32 kafkaschen Ungeziefers zu schlüpfen […] Demzufolge sind Cărtărescus Texte Veränderungen im wiederholten Gelesenwerden ausgesetzt, denen ihre Umgebung (als Lese-Kontext bezeichnet) unterliegt, und die auf sie selbst verändernd zurückwirken. Das eingesetzte Verfahren der Wiederholung, der „ré-écriture”, erscheint im Rahmen des TEXT-es für den Leser als Rückbesinnung auf die kulturellen, kafkaschen Zeugnisse der Vergangenheit und als Voraussetzung für ein erneuerndes Kontinuum, im Sinne der Weiterverarbeitung. Der Leser wird in die Erzählung aufgerufen (eine tatsächlich inszenierte Aufforderung), er nimmt durch sein Lesen an den Text teil, indem er die latente Erzählmerkmale bzw. -fäden des Textes durch die ständige Anspielung auf den kafkaschen Primärtext 31 Ebd, S. 268. Im Original: „[...] vreau să ajung Totul.”. (Übers. d.V.). 32 Ebd., S.150. Im Original: „Poate să citească orice, poate să-şi închipuie oricine orice. Poate să găsească orice motivaţie, orice interpretare acestei acoperitoare de oglindă, acestui text, acestei texturi, acestei textile. […] Nu vreau să o ţes la infinit, nici să destram noaptea ce lucrez ziua, dimpotrivă, mă apuc chiar acum să duc lucrurile mai departe, să intru în vizuina dragonului, sau gânganiei lui Kafka […]”. (Übers. d. Verf.). ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 159 Alexandra Vlad (und auf andere Texte) aktualisiert. Jeder Leser wird somit zum neuen Autor und schafft neue Verknüpfungen des Gelesenen mit anderen Texten, woraus dann eine Erschließung neuen Sinnes im Lektüreprozess resultiert. Der Text des Erzählbandes ist damit keine in sich geschlossene und „stabile” Einheit mehr, sondern er ist aus seiner Beziehung zu Kafkas Text zu deuten (als Vernetzung auf der Ebene der Lektüre), so dass diese Texte in ihrer Verknüpfung ein plurales Gewebe darstellen. In diesem Sinne ist auch Cărtărescus Leser ein Insekt, das im Textuniversum als verwandelt erwacht und immer wieder, wegen der intertextuellen Einfügungen Cărtărescus, das Textgewebe webt. Die Textverfahren bewirken eine „intertextuelle Metamorphose“ des Lesers und zwar durch ständige Lektüren. Genauso wie die Spinne bestraft ist zu weben und der Autor zu schreiben, muss der Leser immerfort lesen, um diesen Erzählsträngen zu folgen. So dass jede Lektüre eine andere Welt, eine Veränderung und Verwandlung entfaltet: Jede neue Lektüre war für mich ein neues Leben. Ich war, der Reihe nach, mit meinem 33 ganzen Wesen, Camus, Kafka, Sartre, Céline, Bacovia, Voronca, Rimbaud und Valéry. Damit sich die intertextuellen Leseprozesse nicht in dem Lesegewebe ganz verstricken und verlieren, greift die Autorinstanz immer in den Text ein, leitet den Lesegang, verändert ihn ein bisschen und knüpft Dialoge mit dem Leser an. Hast du mich vergessen, lieber Leser? Ich bin es, der Erzähler. Es ist wahr, dass ich mein heikles Köpfchen nicht mehr zur Schau gestellt habe, aber das, weil ich etwas ganz anderes zu tun hatte. Ich bin derjenige, der sich jetzt reitend auf dem Ei rekelt, als würde er es ausbrüten wollen, ich bin derjenige, der seine unsichtbaren (aber vielen, vielen!) 34 Beinchen durch das Zimmer, dick und begnügt, hin- und herbewegt. Und der Erzähler ist dabei „begnügt”, weil er diese Textur schaffen konnte, damit er von dem Leser „geliebt” wird und damit der Letztere Vergnügen am Text empfindet. Oder vielleicht, dass der Leser es genießt, neue und neue Stränge zu entdecken, eine Weltreise durch Bücher, Kulturen, Mythen, Magie, Zauber, Faszination und immerfort machen. Oder damit die Leser der Nostalgie diesen angegeben „Erzähler”, den auch die Gestalten dieser Erzählung, die bis zu „Cărtărescus“35 Tür gelangen und in 33 Cărtărescu, Mircea: Gemenii, In: Nostalgia, Bucureşti 1999, S. 101 Im Original: „Fiecare lectură nouă era pentru mine o nouă viaţă. Am fost pe rând, cu toată fiinţa mea, Camus, Kafka, Sartre, Céline, Bacovia, Voronca, Rimbaud şi Valéry.“. (Übers. d.V.). 34 Vgl. Cărtărescu, Mircea: REM, a.a.O., Bucureşti 1997, S. 305. Im Original: „M-ai uitat, iubit cetitor? Sunt eu, naratorul. E drept că nu mi-am scos căpşorul gingaş la vedere, dar asta fiindcă am avut cu totul altă treabă. Eu sunt cel care se lăfăie acum călare pe oul de pe masă, ca şi când ar vrea să clocească, eu sunt cel care-şi agită lăbuţele invizibilele (dar multe, multe!) prin odaie, gras şi satisfăcut.“. (Übers. d.V.). 35 Die bezeichnete Person „Cărtărescu” ist eine Gestalt in der Erzählung, welche aber in dieser eine eigene Geschichte erzählt. Somit wird mit einer zumindest doppelten Funktion des Erzählers gespielt: er wird zur Gestalt reduziert und dabei vom biografischen Autor differenziert, aber seine Autorenrolle wird wie- 160 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextuelle Metamorphosen. Franz Kafkas Die Verwandlung in und zwischen Texten von Mircea Cărtărescu seinem Zimmer selbst sehen, wie er ihre Geschichte schreibt, als den anderen Autor erkennen, den biografischen Mircea Cărtărescu. In diesem Spiel zwischen dem geschriebenen und gelesenen Text, ist Cărtărescus Text also in gleichem Maße vom „Schöpfer” und „Leser” abhängig, wobei auf diese Ambivalenz angedeutet wird: „wir sind das REM, du und ich“36. Der Text befindet sich bei dem Schnittpunkt37 zweier Blicke, zweier Präsenzen in verschiedenen Zeiten als Doppelprozess des „Schreiben und Lesens”, wobei die beiden, obwohl im Text präsent sind, nie zu dem selben Punkt gelangen. Diese Buchwelt, des Autors und Lesers, ist aber, wie der Autor der Erzählung REM selbst behauptet, vielleicht nur die Sehnsucht nach einer Unschuld der Schrift, denn die Erzählung „ist vielleicht die Nostalgie“38, für deren Verwirklichung intertextuelle Metamorphosen eingesetzt und erlebt werden. Im Spiel solcher Vernetzungen und Verwandlungen spürt der Leser oder aber der Autor, einen Drang nach Befreiung und Entgrenzung. Dabei stellt die Nostalgie gerade die Zwischenhaftigkeit und die Ungewissheit der Metamorphose dar, welche im weiteren Sinne als Offenheit und Freiheit aufzufassen ist. Denn das Angestrebte ist nicht IN Texten, sondern ZWISCHEN den Texten zu suchen, wo die Pluralität herrscht. So auch in Cărtărescus Universum, wo die Entlarvung entweder zu einem Schmetterling oder zu einem Monster führen könnte, um in diesem möglichen Übergang die kulturelle Dynamik – stets befreiend und begrenzend - zu perspektivieren. Denn, um wieder an Kafka anzuknüpfen: Ich kann nicht immerfort durch meine Kreuz- und Quergänge galoppieren, um zu sehen, ob alles in richtigem Stande ist. (Franz Kafka, aus: Der Bau) der errungen dadurch, dass er Autor einer „anderen” Erzählung wird. 36 Ebd., S. 304. Im Original: „[...] noi suntem REM-ul, tu şi cu mine” (Übers. d. V.). 37 Im Sinne der Verwandlung, die als Zwischenhaftiges, ein Kippbild erzeugt, wie es in dieser Arbeit betrachtet wurde, könnte der Schnittpunkt auch als Kippunkt bezeichnet werden. 38 Vgl. Cărtărescu, Mircea: REM. In: a.a.O., Bucureşti 1997, S. 304. (Übers. d. V.). ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 161 MARIANNE MOORE UND ROSE AUSLÄNDER Chronik einer Freundschaft Francesca Melini “Fliegend auf einer Luftschaukel Europa Amerika Europa”, diese Verszeile ist bezeichnend für Rose Ausländers Beziehung zu Amerika. Jahrelang hat Rose Ausländer Amerika als die Heimat der Einsamkeit, der Entfremdung und der Gleichgültigkeit betrachtet. Amerika war für sie jedoch auch “Umorientierung. Provokation. [...] ein frischer, erregender Antrieb” und hier geschah die Überraschung, oder besser gesagt, das Wunder, über das Rose Ausländer in dem gleichnamigen Gedicht spricht. In Amerika traf Rose Ausländer nämlich Marianne Moore, die amerikanische Schriftstellerin, die ihr die Rückkehr in die Muttersprache ermöglichte. Als sich die zwei Dichterinnen im Juli 1956 bei der New York City Writers’ Conference at Staten Island kennen lernten, hatten die beiden ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Rose Ausländer konnte ihre Gedichte nicht mehr auf Deutsch schreiben. Nach Auschwitz assoziierte sie ihre Muttersprache mit emotionalen und grausamen Erfahrungen, die ihr deren Verwendung schmerzlich machten. Rose Ausländer nahm unbewusst die englische Sprache an, weil sie ihr erlaubte, sich einem mit unbändigen Konflikten besetzten Kontext zu entziehen. Wenn Ausländer die englische Sprache benutzte, hielt sie damit ihre Muttersprache auf Distanz, die sonst ihre Gefühle in Aufruhr hätten versetzen können. Die Rose Ausländer von 1956 war eine Jüdin, die durch die Shoa tief verletzt war, deren poetische Stimme in der Gedichtsammlung Gettomotive widerhallte. In Rose Ausländers Welt war kein Platz mehr für Farben, Licht, Ruhe. Rose Ausländer behielt die unauslöschliche Erinnerung an die Tage ohne Schlaf. Sie erinnerte sich vollkommen an die Tage, als sie wach bleiben, die Ohren spitzen, mit Eulenaugen sehen musste. Rose Ausländer gelang es nach „Auschwitz“ nicht, die Greuel der Verfolgung zu vergessen: ... / Nein / ich vergesse nicht / die eingebrannten Jahre / ich vergesse nicht / dass Stiefel / den Regenbogen zertraten/ dass sie sich rüsteten / uns zu verwandeln in / Feuer1 rosen Feuerfalter Feuerschwingen / ... Sie war eine Frau, die sich an die Menschen ohne Gesicht und Gewicht erinnerte, 1 Silvia Candida, Rose Ausländer - Poesie scelte, trad. di Silvia Candida, (Roma: Goethe-Institut Rom, 1999), S. 20. Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft die kamen / mit scharfen Fahnen und Pistolen und schossen alle Sterne ab und den 2 Mond / damit kein Licht [ihnen] bliebe / damit kein Licht [sie] liebe. Sie erinnerte sich and die Menschen, die sie zu einer „Namenlosen“ machten. Und während der „fremden, vergesslichen Nacht des Gedichts Denn, fühlte Rose Ausländer, dass der Reim in die Brüche ging, die Blumenworte welkten und das alte Vokabular ausgewechselt werden musste“3. Es waren gerade diese Augenblicke, in denen sich Ausländers Muttersprache in eine Mördersprache verwandelte; und es wurde für sie unmöglich, die deutsche Sprache wie früher zu benutzen. Marianne Moore, ihrerseits, war 1956 eine der bekanntesten Lyrikerinnen der amerikanischen Moderne. Sie war mit den bedeutendsten Literaturpreisen ausgezeichnet worden, und die Veröffentlichung ihrer Gedichtsammlungen hatte sie zur Erfolgsschriftstellerin gemacht. Die amerikanische Dichterin hatte sich in der modernen literarischen Szene behauptet und beherrschte sie wegen ihres Mäzenatentums. Während dieser Zeit, die von T. S. Eliot als „unconsciuos and self-satisfied, and therefore hostile to new forms of poetry“4 proklamiert wurde, hob Marianne Moore sich durch ihr beständiges Interesse an anderen Schriftstellern hervor, aber auch durch die Hilfe, den Ansporn und die Ratschläge, die sie ihren Zeitgenossen gab, damit ihre Dichterstimme tief und echt wirke. Während ihres Amtes als Redakteurin bei der Dial (1926-1929) entfaltete Marianne Moore große Kompetenz in Bezug auf die Werkanalysen ihrer Zeitgenossen. Moore hatte ihnen ihr ganzes Leben gewidmet; sie hatte sie gelesen, gründlich untersucht, und mit einer Engelsgeduld erforscht. Sie hatte sich mit vielen Dichtern und Schriftstellern beschäftigt und hatte immer das hervorgehoben, was für sie am kennzeichnendsten war. Marianne Moore konnte ihre Zeitgenossen motivieren, damit sie einen hohen Grad an dichterischer Reife erreichten. In den sechziger Jahre begeisterte sie sich mehr denn je für das Talent der anderen Schriftsteller und interessierte sich zutiefst für deren Werke. Ihre Buchrezensionen, ihre kritischen Aufsätze und besonders ihre Briefe beweisen, 2 Ebenda, S. 62. 3 Rose, Ausländer, Hügel aus Äther unwiderruflich / Gedichte und Prosa 1966-1975,(Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1984), S. 284-288, hier S. 286. 4 Thomas Stearns Eliot, Introduction to Selected Poems, in Charles Tomlinson, Marianne Moore : A Collection of Critical Essays, (Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall, 1969), S. 60-65, hier S. 60. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 163 Francesca Melini dass Marianne Moore eine wahrnehmende und temperamentvolle Leserin ihrer Zeitgenossen war. Als sich die zwei Schriftstellerinnen trafen, begriff Marianne Moore sofort, dass Rose Ausländer eine talentierte Dichterin war. Sie musste jedoch dazu motiviert und ermutigt werden, ihre ursprüngliche Dichterstimme wieder hervortreten zu lassen. Rose Ausländer war eine Dichterin, der man den Raum, wo sie immer noch atmen konnte, zeigen musste, und außerdem war sie eine Dichterin, die zur Rückkehr in die Muttersprache geführt werden musste. Wahrscheinlich war es gerade der Mäzenageist, der Rose Ausländer helfen konnte. Wenn wir die Freundschaft zwischen Marianne Moore und Rose Ausländer untersuchen, müssen wir davon ausgehen, dass Marianne Moore ein Maecenas und Mentor ihrer Zeitgenossen war. Rose Ausländer zeigt uns diesen Blick im Brief vom 5. Oktober 1956 auf, in dem sie den Akzent auf Marianne Moores „genuine enthusiasm for the talent of others und auf ihre intuitively accurate understanding [...] so rare!“ 5 legt. Rose Ausländer stellt Marianne Moore als eine impulsive aber gütige Frau vor, die sich ihr gegenüber als liebenswert und hilfreich erweist. Rose Ausländer bewundert Marianne Moore wegen ihrer tatkräftigen und unternehmungslustigen Haltung, die nie aggressiv war, und wegen ihrer echten Begeisterung für andere Künstler. Sie bemerkt sofort, dass Marianne Moore eine bekannte Dichterin war, die mit seltenem Eigensinn und Liebe die Werke ihrer Zeitgenossen pflegte. Rose Ausländer teilt wahrscheinlich auch Elizabeth Bishops Meinung, dass Marianne Moores Sensibilität und Takt aus ihren „efforts of affection“, das heißt aus Anstrengungen der Liebe, hervorgehen. Marianne Moore ist scheinbar die einzige Frau, die Worte der Empörung, der Ermutigung und der moralischen und psychologischen Hilfe für Rose Ausländer hat. Marianne Moore ist die einzige, die Rose Ausländer unterstützen kann, in ihre Muttersprache zurückzukehren. Durch Marianne fühlt sich Rose in dem amerikanischen Wüstenland nicht so orientierungslos, nicht so allein und fremd, und weniger als Ausländerin. Wenn Marianne Moore zu Rose Ausländer spricht, sind ihre Worte immer liebevoll. Durch ihre zärtlichen Worte ist Marianne Moore Rose Ausländer immer nah, auch wenn sie weit entfernt ist. Im Briefwechsel zwischen Marianne Moore und Rose Ausländer, werden die Briefe ein fiktiver Aufenthaltsort, in dem sich Absender und Empfänger wieder begegnen und sich unterhalten können, auch wenn sie der Umstände wegen getrennt sind. Ihre Briefe sind absichtslos und geben dem Schreiben 5 Ebenda. 164 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft seine ursprüngliche Funktion zurück. Das Schreiben hat keine rein dekorative Funktion. Da die Briefe einen Adressaten haben, dienen sie der Verständigung. Sie hebt dadurch hervor, dass die Sprache immer den Zweck der Verbindung hat. Die beiden Dichterinnen zeigen in den Briefen ihre Zuneigung, ihre Seele, ihre Hintergedanken und auch ihre innersten Gefühle. Die Briefe besitzen infolgedessen am Ende eine Seele, die das Spiegelbild der Seele der Schreibenden ist. In der Tat schreibt Rose Ausländer in ihrem Brief vom 5. Oktober 1956: That letter is you: I hear your voice, I see your delicate face, the sudden turn of your head, the quick, astonished glance of your kind eyes. This is YOU as I instantly felt you are when I saw you first (love at first sight!): Generous, warm, impulsive, benign, intrinsically humble with a genuine enthusiasm for the talent of others. […] your sweet letter is 6 your ‘seelisches’ portrait, and I am the happy owner. Rose Ausländer entdeckt in jedem der von Marianne Moore geschriebenen Briefe das geistige Porträt ihrer amerikanischen Freundin, ihre Stimme, die sie in die Briefe einfließen lässt. Jedes Wort, das Marianne Moore spricht, ist so weise gewählt, dass Rose Ausländers Phantasie sofort angeregt wird. Während Rose Mariannes Briefe liest, stellt sie sich das feine Gesicht, das plötzliche Wenden ihres Kopfs und der schnelle, entgeisterte aber liebevolle Blick ihrer amerikanischen Freundin vor. Marianne Moore konnte geschickt ihre Worte in Höflichkeit und Anmut modulieren. Sie nahm immer Anteil an dem fremden Schmerz sowohl im Geiste als auch materieller Art. Es war diese geistige Macht, ihre Liebe, ihre Pflege und ihre Zurückhaltung, dass Rose Ausländer Marianne Moores Briefe für sweet hielt. Deshalb erklärte sich Rose Ausländer für die „happy owner“ der Briefe. Marianne Moore konnte aus jedem ihrer Worte die Zuneigung für die deutsche Freundin einhauchen; sie konnte sehr gut ihre Gefühle verständlich machen. Es wundert uns deshalb nicht, dass Rose Ausländer Marianne Moore mit der einzigen und freundlichsten Stimme des amerikanischen Wüstenlandes identifiziert hat, und dass ihre Bewunderung und Verehrung für sie mit den besten Beinamen, die sie finden konnte, ausdrückte. Rose schreibt Marianne Moore nie dear; sie schreibt lieber „dearest“ oder sogar „most gracious and adored Miss Moore“, wie man im Brief vom 5. Oktober 1956 lesen kann. Marianne Moore war die einzige, die Rose Ausländer helfen konnte, weil sie die Wirklichkeit mit Sorgfalt und Geduld betrachten wollte und konnte. Sie zerlegte jeden Gegenstand in seine Einzelteile, weil ihrer Meinung nach die Wahrheit nie auf der Oberfläche, sondern zwischen den Zeilen liegt. Es war ihre außergewöhnliche 6 Brief vom 5.10.1956. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 165 Francesca Melini Geschicklichkeit im Erfassen der Einzelheiten, ihre seltene Gabe einer gewissenhaften und sorgfältigen Betrachtung, und ihre stetige Suche nach dem crack in the bowl, die Marianne Moore Rose Ausländers Seele ergründen ließ. In ihren Gedichten neigt Marianne Moore dazu, die innerste Nuance der Wirklichkeit, des Gefühls und des Gedankens zu ergreifen; jedes Wort ist die Ausgeburt einer demütigen, geduldigen und exakten Betrachtung. Auf zwischenmenschlichen Beziehungsebenen drückte sich all das in einer Einstellung zu anderen Menschen aus, deren Ziel die Entdeckung von etwas ist, das absichtlich verborgen wurde. Marianne Moore versucht die Menschenseele zu ergründen, weil sie wusste, dass der Schein trügt und hinter jedem Schein eine unglaubliche, unerwartete und interessante Welt liegt. Marianne Moore war fest davon überzeugt, dass die Leute wie auch die Texte gründlich erforscht werden mussten. Man muss die Zwischenräume der Seele erforschen, weil nur so die Personen zu wahren Epiphanien werden. Als Marianne Moore Ausländers Easter Poem in German las, entdeckte sie in ihrer Freundin ein poetisches Genie, das eine große Empfindsamkeit und Dichtungstiefe hatte. Marianne Moore lobte sie sofort für ihre „verbal invention“, ihre „propensity to revery“ und am Ende für ihre „poetic sensibility and depth“. Marianne Moore spielt mehrmals auf Roses geistigen Reichtum an. Zum Beispiel, am 11. September 1956 bezeichnet sie Rose Ausländers Gedichte als „beautiful words that are beautiful thoughts“ und schreibt „unique work that is inward private very personal beauty“ weiter. Marianne Moore konnte eine talentierte Dichterin erkennen, und Rose Ausländers Gedichte waren der beste Beweis ihres außergewöhnlichen Talentes. Marianne Moores bedeutendster Verdienst liegt trotzdem darin, dass sie den unbewussten Grund, der Rose dazu gebracht hatte, sich von ihrer Muttersprache zu lösen und eine andere unbeschädigte und nicht versehrte anzunehmen, erahnte. Wenn Marianne Moore diese Eingebung nicht gehabt hätte, wäre es ihr nie gelungen, Rose Ausländer in ihre Muttersprache zurückzubringen. Marianne Moore begreift, dass Rose Ausländer ihre Muttersprache nicht mehr sprechen konnte, weil die letztere die Verwandlung in eine Mördersprache durchgemacht hatte, aber besonders weil sie an ehemaligem Wert verloren hatte. Die Muttersprache hatte ihre Seele, die an das Mutterbild tief gebunden war, verloren. Die Mutter ist seit Ewigkeiten der Ursprung des „flatus vocis“, sie ist „die Welt, zu der […] wir geboren [werden], sie ist unsere erste Sprache. Eine sonore Sprache, ein kör- 166 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft perhafter Faden, dessen Atem aus beseelten Klängen bestehet“7. Gerade dies ist der Grund, warum Rose nach dem Tod ihrer Mutter nicht mehr auf Deutsch dichten kann. Nachdem ihre Heimat im Feuer begraben war, nachdem ihre Muttersprache eine Mördersprache geworden war, fand Rose Ausländer, dass die einzige Daseinsberechtigung ihrer Muttersprache in ihrer Mutter lag. Deswegen wurde, als Rose Ausländers Mutter, das heißt der Ursprung des flatus vocis, starb, ihre Sprache des Sinnes entleert. In den Augenblicken, als man den Atem anhalten musste, weil die Muttersprache sich in die Mördersprache verwandelte, war die Mutter die einzige Lebensquelle dieser „Mutter Sprache“. Sie war in viele Stücke zersplittert, jedoch hatte die „Mutter Sprache“ sie zusammen gesetzt: “Ich habe mich / in mich verwandelt / von Augenblick zu Augenblick / in Stücke zersplittert auf dem Wortweg / Mutter Sprache / setzt mich zusammen // Menschmosaik”.8 Marianne Moore konnte also Rose Ausländer helfen, in ihre Muttersprache zurück zu kehren, wenn es ihr gelang für Rose Ausländer die Mutterfigur wieder herzustellen. Der Briefwechsel zwischen Marianne Moore und Rose Ausländer belegt den Prozess des Wiedereintritts Rose Ausländers in ihre Muttersprache, der schon im Jahre 1956 anfing und lange Zeit andauerte. Marianne Moore erreicht, dass die Mutter ihrer Freundin, für diese trotz Abwesenheit eine präsente Figur wird; nur weil Rose die Mutter wieder als anwesend wahrnimmt, kann sie die Seele ihrer Muttersprache und den Ursprung des „flatus vocis“ wiederfinden. Marianne Moore konnte verstehen, was es bedeutet, die Mutter zu verlieren. Auch sie, wie Rose, hatte eine enge Beziehung zu ihrer Mutter Mary Moore gehabt. Mutter und Tochter erschienen in den Augen der Welt als eine Dyade. Wer über ihre starke Verbindung schrieb, betonte, dass man nie einen Fall von so extremer Verbundenheit gesehen [hatte]. [...] wohin auch immer Marianne Moore gehen mag, wen auch immer sie trifft, ist die Tochter immer zusammen mit der Mutter. Sie erschienen, als ob Marianne die Nacktschnecke oder der Argonaut wäre, [Tiere, denen Marianne wunderbare Gedichte widmete] und die Mutter 9 das Schneckenhaus. Marianne Moore fühlte sich nach dem Tod ihrer Mutter im Juli 1947 allein und zer- 7 Übersetzung von Nadia Fusini, Nomi: Dieci scritture femminili, (Roma: Donzelli Editore, 1996), S. X. 8 Silvia Candida, Rose Ausländer - Poesie scelte, trad. di Silvia Candida, (Roma: Goethe-Institut Rom, 1999), S. 6. 9 Übersetzung von Nadia Fusini, ‘Marianne o dell’umiltà’ in Nomi: Dieci scritture femminili, (Roma: Donzelli Editore, 1996), SS.213-234, S. 215. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 167 Francesca Melini brechlich, weil sie ahnte, dass sie die mütterliche Schale, die sie bis jetzt beschützt hatte, verloren hatte. Sie hatte auch das Gefühl, dass die Dyade hoffnungslos zerbrochen war. Niemand konnte besser als Marianne Moore sich in Rose Ausländers Worten wiedererkennen, in ihrem Schmerz, in ihren Leiden und Einsamkeit sich einfühlen. Marianne Moore erinnerte sich wahrscheinlich wieder daran, dass auch sie am Tag nach dem Tod ihrer Mutter dieselben Gefühle und Empfindungen von Verwirrung und innerer Leere empfunden hatte. All das hatte ihr erlaubt, der Freundin näher zu kommen. Marianne Moore war außerdem Rose Ausländer zutiefst dankbar dafür, dass die Erinnerung der damaligen Beziehung mit ihrer Mutter durch Rose wieder aufgefrischt war: dear Rose, may you be blessed. You bring me always close to my mother; and to the 10 thought of your mother. Rose Ausländer entdeckte ihrerseits in Marianne Moore eine seelenverwandte Frau. Sie empfand sie als derart seelenverwandt, dass sie ihr erstes Treffen als „love at first sight“ bezeichnete. Sie fühlte sich verstanden, unterstützt, angespornt, und das erlaubte ihr Marianne Moore näher zu kommen, sie zu bewundern, sie zu verehren und zu vergöttern. Die Mutter wurde also im Briefwechsel zwischen Marianne Moore und Rose Ausländer eine umhüllende, wenn auch unsichtbare Präsenz, aus der Rose und Marianne die notwendige Macht bezogen, um in die Muttersprache zurückzukehren, sich die Rückkehr in die Muttersprache zu erlauben. Marianne Moore wusste, dass Rose dorthin zurückkehren und die Seele ihrer Sprache wieder finden konnte – das Gefühl, dass die Mutter noch anwesend war, gewann sie dadurch wieder. Am 19. Dezember 1956 schrieb sie: Dear Rose, what a wish is “good health and serenity in the new year” … I hope you may have it; am sure your mother is comforted as she looks at your generous courageous, reverent life, always giving more than anyone gives you! Und danach am 12. Januar 1958 fügte sie hinzu: Dear Rose, do be well. You contribute much by your existence. Do you not feel that your mother is aware of it? Nur wenn Rose sich davon überzeugte, dass die Mutter noch bei ihr war, konnte sie den Ursprung des „flatus vocis“ und der Ersten Sprache wiedererlangen. Nur auf diese Weise konnte die Muttersprache wieder eine Seele bekommen, eine „soulful 10 Brief vom 18.12.1959. 168 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft tongue“ und eine innere Lebenskraft erhalten, auch wenn die tragischen Ereignisse der Shoa sie entstellt hatten. Die Sprache lebte auf Grund dieses weiblichen Lebenshauches wieder. Rose Ausländer ging denselben Weg, den Marianne Moore selbst im Juli 1947 nach dem Tod ihrer Mutter ging. Sie versuchte, ihre Mutter als lebendig und neben sich lebend wahrzunehmen. Am Ende des Jahres 1947 schrieb Marianne Moore einen Brief an ihren Bruder: „Yes I feel Mole [Spitzname ihrer Mutter, Mary Moore] smiles upon us – really do.“11 Diese unsichtbare mütterliche Anwesenheit gab Marianne Moore wahrscheinlich die notwendige Kraft um weiter zu leben. Dank Marianne Moore fand Rose Ausländer außerdem den ‚Raum’, wo sie die verlorene Beziehung zwischen Mutter und Tochter wieder herstellen konnte, und wo sie in die Muttersprache zurückkehren konnte. Dieser ‚Raum’ war die Dichtung. Am 18. Dezember 1958 schrieb Marianne Moore Rose Ausländer „Mother and Child? There is a room for it!“ Die Dichtung wurde der Ort, wo die Mutter und die Tochter sich treffen konnten, und wo Rose Ausländer in Ewigkeit eine Geste der reverence festschreiben konnte, zuerst ihrer Muttersprache gegenüber, und danach gegenüber ihrer Mutter. Rose Ausländer konnte außerdem die untrennbare Beziehung, die Mutter, Tochter und Sprache verband, in der Dichtung festschreiben: “Noch ist ein Raum / Für ein Gedicht / Noch ist das Gedicht ein Raum / Wo man atmen kann 12 Die Dichtung ist der Raum, wo jeder Mensch das ursprüngliche Bündnis mit der Muttersprache und mit der Mutter, die der Ursprung des flatus vocis war und zum Sprachrohr der Muttersprache wurde, bekräftigen und betonen kann. In dem bekanntesten Gedicht Poetry hatte Marianne Moore selbst auf die Anwesenheit von etwas Authentischem in der Dichtung angespielt: I, too, dislike it. / Reading it, however, with a perfect contempt for it, one discovers in / 13 it, after all, a place for the genuine. Auch wenn Moores kultureller Kontext ganz anders war als der Ausländers, behauptete Marianne Moore doch, dass man in der Dichtung einen für die echten Gefühle vorbehaltenen Raum finden kann. Und „the genuine“, auf das sich Marianne 11 Bonnie Costello, The Selected Letters of Marianne Moore, (London: Faber & Faber, 1998), p. 465. 12 Rose Ausländer, Im Aschenregen die Spur deines Namens – Gedichte und Prosa 1976, (Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1984), S. 221. 13 Marianne Moore, Il Basilisco Piumato, ed. italiana a cura di Lina Angioletti e Gilberto Forti, (Milano: Rusconi Editore, 1972), S. 88. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 169 Francesca Melini Moore bezieht, scheint die vergangene und ursprüngliche Beziehung mit der Mutter und der Sprache zu sein. Hinter dem ausgefeilten Versschema und Stil in den Gedichten Marianne Moores verbergen sich schlichte und alltägliche Worte, die auf ihre ursprüngliche Funktion, die Sprache und das Schreiben zurückweisen. T. S. Eliot selbst schrieb in seiner Einleitung zu Moores Selected Poems über ihre Werke: Miss Moore’s poems form part of the small body of durable poetry written in our time: of the small body of writings, among what passes for poetry, in which an original sensibility and alert intelligence and deep feeling have been engaged in maintaining the life of Eng14 lish language. Und wenn man die Urfassung von Poetry liest, verdichtet sich das Gefühl, dass Marianne Moore auf eine Dichtung als Lebewesen anspiele, noch mehr: “I, too, dislike it: there are things that are important beyond all this fiddle / Reading it, however, with a perfect contempt for it, one discovers in / it, after all, a place for the genuine. / Hands that can grasp, eyes // that can dilate, hair that can rise.”15 In diesem Raum, wo echte Dinge liegen, entdeckt man Hände, die ergreifen können, Augen, die sich weiten können, und Haare, die sich sträuben. Das Gedicht wird ein Lebewesen, in dem jeder etwas Echtes finden kann. Die mütterliche Figur war die erste Übereinstimmung, und dieser Verwandtschaftspunkt verband die zwei Dichterinnen stark, und trug dazu bei, dass sich die beiden befreundeten. Ich glaube, dass trotz so vieler Unterschiede, z.B. im Alter, in der Nationalität, zwischen Marianne Moore und Rose Ausländer dieselben Vorlieben für Ruhe und Stille, eine gewisse Zurückhaltung und eine Widerwilligkeit gegenüber dem Chaos und dem hektischen Leben von New York zu finden sind. Rose Ausländer entdeckte in dem Genie der nodernen Moore eine freundliche Stimme und eine Seelenverwandtschaft, die sie bei anderen Leuten nie gefunden hatte. Rose Ausländer und Marianne Moore hegten jedoch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Sich-Vermischen, obwohl sie sich in einem Land kennen lernten, das schlechthin ein melting pot war, und wo theoretische Begriffe wie Assimilation, Mischung und Schmelzung dominierten. Die Marianne Moore der fünfziger Jahre war zwar die bekannteste Dichterin der amerikanischen Moderne mit vielen Verpflichtungen, die sie erfüllen musste, doch 14 Thomas Stearns Eliot, Introduction to Selected Poems, in Charles Tomlinson, Marianne Moore : A Collection of Critical Essays, (Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall, 1969), SS. 60-65, hier S. 65. 15 Marianne Moore, Il Basilisco Piumato, ed. italiana a cura di Lina Angioletti e Gilberto Forti, (Milano: Rusconi Editore, 1972), p. 340. 170 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft liebte sie keinesfalls das hektische Leben von New York. Marianne Moore lebte lieber in ihrer ruhigen Wohnung in der Cumberland Street und ging nur in dem botanischen Garten oder in dem Park nebenan spazieren, um die Trauerweiden und die gelben Forsythien zu betrachten. All das befriedigte sie, führte sie heran und bot ihr eine Art von „tame excitement“, von „gezähmter Aufregung“. Ihr ganzes Leben liebte Marianne Moore einen ruhigen Lebensablauf, der es ihr erlaubte, alles zu beobachten und sich durch jeden alltäglichen Gegenstand inspirieren zu lassen. Die Ruhe schuf die Bedingung für den Ausbruch ihrer Dualität, die von „Ehrgeiz und Vorsicht, Entschlossenheit und Zurückhaltung, Verwegenheit und Scheu“ gekennzeichnet war. In ihrem Gedicht Silence schreibt Marianne Moore ihre Vorliebe für die Stille nieder: My father used to say, “Superior people […], ……………………… […] sometimes enjoy solitude, and can be robbed of speech by speech which has delighted them. The deepest feeling always shows itself in silence; Not in silence, but restraint” 16 Marianne Moore liebte die Stille und die Ruhe, weil sie ihrer Meinung nach nur in diesem Kontext aufmerksam beobachten konnte. In der Stille versuchte sie, die Nuancen herauszuhören und keine Einzelheit zu übersehen. Das gleiche gilt für Rose Ausländer, deren Leben Anfang der 50er Jahre nur zwischen zwei Orten stattfand: Upper West, an der Westseite des Central Parks, wo Rose Ausländers Wohnung war, und Bridgestreet, in der Nähe von Wallstreet und Hafen, wo ihr Arbeitgeber Freedman & Slater seinen Sitz hatte. Rose Ausländer wollte nicht aus ihrem Stadtviertel heraus, weil der Besuch anderer Viertel von New York sehr anstrengend und beschwerlich war. Sie zog sich von der Metropole lieber in ihre überschaubare kleine Wohnung zurück. Sie betrachtete lieber die Grünanlagen, die in der Stadt noch waren und in der Mittagspause genoss sie im angrenzenden Battery Park die Aussicht auf Staten Island, den Hafen, die Freiheitsstatue und auf Ellis Island. Und hier, von den New Yorker Parks, ließ sie sich inspirieren und schrieb viele Gedichte, wie z.B. Sonntag am Riverside Drive, Tauben im Battery Park und 16 Marianne Moore, Il Basilisco Piumato, ed. italiana a cura di Lina Angioletti e Gilberto Forti, (Milano: Rusconi Editore, 1972), S. 210. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 171 Francesca Melini Am Strand. Rose Ausländer flüchtete oft in die New Yorker Parks, weil sie dort fern von den grauen, düsteren, farblosen New Yorker Bezirken war. Ihrer Meinung nach war New York eine „stolze, große, grellgeputzte Stadt“ wegen ihrer angrenzenden grauen Slums und des hektischen Lebens. Die Einsamkeit war ihr zwar einerseits aufgezwungen, andererseits aber auch etwas, das sie sich wünschte und herbeisehnte. Rose Ausländer brauchte die Stille und die Ruhe, um sich dem „Dämon der Stadt“ zu entziehen und um Landschaften, Figuren, die an ihre „Grüne Mutter Bukowina“ erinnerten, zu schaffen. Sie erinnerte sich an das vergangene Idyll nur in Stille und Ruhe, und nur dort konnte sie die Gräueltaten der Shoa von sich fern halten. Für Rose Ausländer war es die Ruhe, die die Bedingungen für eine Rückkehr in etwas, das echt und wirklich ist, schuf. Die Stille und die Heiterkeit schufen die Bedingung für die Verwandlung der Dichtung in einen Raum, wo man seinen inneren Gefühlen freien Lauf lässt. Und es war wahrscheinlich gerade deswegen, dass Rose Ausländer und Marianne Moore die Stille und die Zurückhaltung suchten; diese gleiche Zurückhaltung, die Marianne Moore in dem Gedicht Silence und in ihrem Brief an Rose vom 11. Juni 1962 beschrieb: I go too far, Rose / am too personal. / Pardon it. You went to me heart Wednesday. You 17 are so restrained. Die zwei Dichterinnen teilten auch die gleiche Beziehung von Hass-Liebe zu New York. Als Marianne Moore 1918 nach Manhattan zog, fühlte sie sich nicht wohl. Sie fühlte sich in dieser Stadt fremd, die Menschen waren ihr gegenüber misstrauisch. Marianne Moore galt dort als eine ‚Neuheit’, gerade durch ihre ‚manners’, das heißt durch ihre affektierte Art und ihre puritanischen Manieren. Trotzdem fühlte sie sich in New York auch wohl, und es wurde ihre Lieblingsstadt. New York eignete sich für ihre experimentelle Richtung und erlaubte ihr diese Dualität von „Ehrgeiz und Vorsicht, Entschlossenheit und Zurückhaltung, Verwegenheit und Scheu“ explodieren zu lassen. Rose Ausländer fühlte sich ihrerseits in New York immer als eine Fremde, und es gelang ihr nie, an dem hektischen und chaotischen Leben der Stadt teilzunehmen. Amerika war für Rose Ausländer nie das Gelobte Land, das Land des melting pot sie fühlte sich dort immer als ‚Ausländerin’. Rose assoziierte immer Amerika mit Begriffen wie Kälte, Dunkelheit, grauer Alltag und Fremdheit. Am 29.11.1959 bestätigte Rose Ausländer selbst während der Rundfunksendung zum 17 Brief vom 11.06.1962. 172 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Marianne Moore und Rose Ausländer: Chronik einer Freundschaft WEVD ihre Beziehung von Hass und Liebe zu New York: New York is one of the most fascinating places, both in a negative and a positive sense. For a number of years life in New York City was a haunting challenge to me, as expressed 18 in the three poems I am going to read. Ihre Gedichte - Columbus Avenue, The Clinic, The Garden City - stellen ein Bild von New York dar, das dem New York der Zwanziger Jahre ähnelt. Man findet in diesen Gedichten die gleichen chaotischen und entfremdenden Straßen, den regen Verkehr, die Gleichgültigkeit und die Menschen als „strangers and lost in loneliness“ des Gedichtes The Garden is prepared. In einem Gedicht vom 2. Januar 1956 stellt Rose Ausländer jedoch ein New York vor, das anders als das der Fünfziger und Sechziger Jahre ist: New York großartig das ich einst bewundert habe ich denk an deine Pracht ich musste dennoch dich verlassen weil mich die deutsche Sprache rief ich hab dich nicht vergessen du bist oft bei mir behüte den geliebten Bruder sei gut zu ihm ich danke dir 19 Am Ende hängt Rose Ausländer sehr an der Stadt, sie wird zu einer zweiten Heimat: Nun aber, Liebe, muss ich gestehen: ich bin so total erschöpft. Dass ich gar nicht erwartet habe – ich sehne mich nach New York zurück – es klingt mir selbst unglaubhaft, ist aber wahr. Es ist doch schon die zweite Heimat geworden – Heimat ist zu viel gesagt, aber kommt doch dem Gefühl am nächsten, das New York als ein Zuhausesein empfin20 det. Diese Temperamentverwandtschaften trugen zur Geburt der Freundschaft und Zu- 18 Rose Ausländer, Die Nacht hat zahllose Augen, (Frankfurt a. Main: Fischer Verlag, 1995), S. 158. 19 Harald Vogel und Michael Gans, Rose Ausländer Lesen, (Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 1997), S. 122. 20 Helmut Braun, ‘Ich bin fünftausend Jahre jung’: Rose Ausländer, Zu ihrer Biographie, (Stuttgart: Radius Verlag, 1999), S. 96-97. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 173 Francesca Melini sammenarbeit Moore – Ausländer bei. Rose Ausländer hing so sehr an Marianne Moore, dass sie in ihrer Anwesenheit fühlte, wie ein erhellendes Licht und eine mächtige Kraft auf sie einströmten. Rose Ausländer betrachtet deshalb Marianne Moore als eine unerschöpfliche Lichtquelle. Bevor Rose Ausländer am 16. Februar 1963 „in your presence one always feels illumined“ schrieb, hatte sie schon in ihren Gedichten, Overmore, Der Ur-Baum und Abendstern betont, dass Marianne Moore ein Lichtstern war. In Overmore spielte Rose Ausländer dementsprechend im ganzen Gedicht auf Marianne als eine Lichtquelle an, bei dem Schaffen des Bildes des „Schnee[s] des Mittags“ und des „Sonnenscheins“, die in der Stadt an die „verwundeten Wände“ fallen. Der lichtvolle Schnee scheint die Metapher von Marianne Moore zu sein, die als einen wahren Segen auf Rose Ausländer fiel, und ihr dunkles Leben, dessen Wesen ein „core of woe“ ist, erhellte. In dem Gedicht Abendstern beschwor Rose Ausländer Marianne herauf als den zartesten und stärksten Stern des Firmaments und wendete auf sie die Beinamen „zart wie die Seide der Rose“ und „Lauter wie Licht im Kristall“ an. Rose Ausländer porträtierte Marianne kraft ihrer weiblichen Lieblichkeit und Zartheit, und wenn Rose sie mit dem leuchtendsten Stern des Firmaments verglich, wollte sie vor allem darauf anspielen, dass Marianne Moore die bemerkenswerteste Dichterin der Moderne war. Marianne Moore war das Licht, das Rose in ihren Traum aufnahm, weil der Mond „ein Gaukler unverlässlicher Leuchtkraft“21 geworden war22. Die amerikanische Dichterin war für Ausländer diese zarte seidige Rose und das Licht im Stern-Kristall, so dass es der bukowinischen Dichterin erneut gegönnt war, ihre deutsche Muttersprache und ihre dichterische Identität wieder zu finden. 21 “Nimm ein Licht / in deinem Traum / denn der Mond ist / ein Gaukler / unverlässliche / Leuchtkraft„ in Silvia Candida, Rose Ausländer - Poesie scelte, trad. di Silvia Candida, (Roma: Goethe-Institut Rom, 1999), S. 36. 22 Siehe auch George Guţu: 1. "...aus dem Traum … reisst mich diese dürre Wirklichkeit." Zu Rose Ausländers früher Lyrik. In: Rose Ausländer, Der Traum hat offene Augen - Vis cu ochii deschişi. Zweisprachige Ausgabe. Ediţie bilingvă. Traduceri de/Übersetzung von George Guţu. Editura Fundaţiei Culturale Române, Bucureşti 2002, S. 226-238; 2. Perseverenz und Zirkularität - Landschaft als Begriff und Metapher am Rande von Rose Ausländers lyrischem Schaffen. In: transcarpathica. germanistisches jahrbuch rumänien, Heft 2, 2003, Editura Paideia, Bucureşti 2003, S. 179-217. 174 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 DER PARIA ALS JÜDISCHE VOLKSFIGUR: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? Maxine Jetschmann Das Goethe-Institut als größte weltweit tätige Kulturorganisation Deutschlands gedachte 2006 sowohl des 100. Geburtstags Hannah Arendts als auch des 150. Todestags Heinrich Heines unter anderem mit der Herausgabe von Postkarten und Plakaten, verschiedenen Beiträgen auf seiner Website, aber auch mit großen Jubiläumsveranstaltungen zu Heinrich Heine Anfang des Jahres im Hamburger Staatstheater und Ende Mai am Bebelplatz in Berlin sowie in Realzeit an verschiedenen Goethe-Instituten auf mehreren Kontinenten. Dies ist bemerkenswert, da hier die Produktionen zweier Kulturschaffender als bedeutende Beiträge zur deutschen Kultur gewürdigt werden, die ihr Judesein nie verleugnet, sondern vielmehr ausdrücklich und selbstverständlich in ihre Persönlichkeit integriert hatten. Können wir daraus schließen, dass sechzig Jahre nach dem ersten entschlossenen Versuch der Ausrottung, der zur Vernichtung eines Drittels des gesamten jüdischen Volkes und nahezu dreier Viertel der europäischen Judenheit führte, heute in Deutschland versucht wird, nicht nur die Spuren und Überreste jüdischen Lebens von einst zu dokumentieren, sondern dass nun auch ein Spielraum für eine gleichzeitig artikulierbare jüdische und deutsche Zugehörigkeit entsteht? Sollte hier über alle Trugschlüsse deutsch-jüdischer Assimilation mit ihrem unlösbaren Widerspruch von bloßer Identifikation, die Selbstaufgabe, und bloßer Distanz, die Selbstvernichtung bedeutet, hinausweisend, zumindest ansatzweise die Möglichkeit der Schaffung eines neuartigen öffentlichen Raums entstehen? Dieser enthielte das Versprechen einer Existenz in sich, in der die Identifikation die Wahrung des Selbst und die Wahrung der Andersheit die Integration garantierte. Diesen Fragen werde ich im Folgenden in drei Schritten nachgehen. Erstens rücke ich die deutsche und die jüdische Herkunft, die nach 1945 als nicht mehr vermittel- Maxine Jetschmann bar, getrennt, dastehen, in ihrem wechselseitigen Bezug ins Licht. In einem zweiten Schritt stelle ich die von Hannah Arendt aufgedeckte, von jüdischen Schriftstellern und Künstlern gebildete „verborgene Tradition“, als Denkmal für eine vernachlässigte oder gar übersehene Richtung des europäischen und insbesondere des deutschen Judentums, dar. Abschließend weise ich exemplarisch für den Horizont, von dem her Hannah Arendt schreibt, einige Beispiele der schöpferischen Begegnung zweier Kulturen in der Dichtung Heinrich Heines auf. 1. Die deutsche und jüdische Herkunft vor und nach der Schoa Nach 1945 stehen die deutsche und die jüdische Herkunft als getrennt und offensichtlich nicht mehr vermittelbar einander gegenüber wie am Ende der Todesfuge von Paul Celan: „dein goldenes Haar Margarete/dein aschenes Haar Sulamith“. Zwischen den beiden Völkern herrscht ein grundsätzliches Misstrauen, das sich oft auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt und sich auf eine fast erdrückende Erfahrungswirklichkeit stützen kann. Die Tatsache, dass die beiden Herkünfte lange Zeit durchaus aufeinander bezogen waren und sich gegenseitig geprägt hatten, ist durch die Entrechtung, Ausgrenzung und Massenvernichtung der Juden zwischen 1933 und 1945 verdunkelt worden. Dadurch ist den Nachgeborenen der Schoa zunächst jeder unvoreingenommene Blick auf die Erfahrungswelten deutschen Judentums verstellt gewesen. Es hat in etwa ein halbes Jahrhundert gedauert, bis diese wieder sichtbar und artikulierbar wurden im Sinne von gangbaren „Wegen als Deutsche und Juden“, die sich aus einer 150 jährigen Geschichte der Begegnung zweier Völker und ihrer wechselseitigen Durchdringung in den Lebensgeschichten von sieben Generationen herauskristallisiert hatten. Von einer „Normalität“ des gegenseitigen Bezugs kann heute dennoch nicht die Rede sein. Dies liegt nicht zuletzt auch an der Macht der Sprache, die einmal in der Welt Geschehenes als Bedeutung und Wirkung lang über die Lebenszeit der Zeitzeugen hinaus weiter transportiert: Das Wort Jude hat die antisemitischen Zuschreibungen aufgenommen sowie die Taten an den Juden bis hin zur Ausmordung. Das wird darin deutlich, wie mit dem Wort umgegangen wird. Unbelastet und einfach normal wollen nachgeborene Deutsche das Wort Jude, Jüdin aussprechen können. Da sie es meistens weglassen, werden sie meinen, es mache ihnen überhaupt nichts aus. Vermieden wird das Wort Jude, wenn es sich direkt auf jemanden beziehen könnte, wenn das Wort den Juden oder die Jüdin wirklich werden lässt. Dann sagt man lieber von jüdischer Herkunft oder jüdischer Abstammung, lieber als der Jude, die Jüdin. Man vermeidet dadurch auf nichtjüdischer Seite, sich dem 1 Juden unmittelbar gegenüberzustellen. 1 Viola Roggenkamp: Erika Mann. Eine jüdische Tochter. Über Erlesenes und Verleugnetes in der Frau- 176 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? Das Vermeiden, Verleugnen und Verdrängen gehört auf jüdischer Seite zur Geschichte der Emanzipation der Juden in Deutschland von Anbeginn. Dennoch lässt sich das Phänomen weder verallgemeinern noch tritt es zwangsläufig auf. Denn der Vorgang der Emanzipation lässt sich auch folgendermaßen angemessen schildern: Etwa um das Jahr 1750 beginnt bei Christen wie Juden gleichermaßen in Deutschland ein Prozess der Auflösung der traditionellen Gruppen, die in der Ständegesellschaft die Verbindung zwischen dem privaten und dem politischen Bereich sicherten. Gerade die deutsch-jüdische Emanzipation bringt mit einer Fülle von Vereinen, ganzen Netzwerken von Assoziationen, neuen Institutionen und Zentren kultureller Aktivität einen neuen Typus von Geselligkeit hervor. Aus dem Spannungsverhältnis, in dem eine entstehende jüdische Bourgeoisie sich einerseits zur traditionellen jüdischen Gemeinde verhält, zu der die Verbindungen gelockert werden, und andererseits zu einer mehrheitlich christlich geprägten Umwelt, die zwar selbst in einem Modernisierungsprozess begriffen ist, dem Eintritt von Juden aber immer noch gewaltige Hindernisse in den Weg legt, schaffen diese „Bourgeois vor dem Bürgertum“2 einen öffentlichen Raum, der als ein bestimmter Typus national-religiöser Subkultur bezeichnet werden kann. In der Zeit zwischen der Mitte des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehen so in den deutschen Ländern neue Formen der Geselligkeit, die vor allem durch eine jüdische Mittelklasse hervorgebracht werden, indem sie die entstehende bürgerliche Weltsicht mit Elementen der jüdischen Tradition schöpferisch verknüpft. Diesem neuen gesellschaftlichen Zwischenbereich mit seinen spezifischen Umgangsformen entspricht ein neues Selbstbewusstsein, das Juden ermöglicht, Juden zu bleiben in einer sich öffnenden Gesellschaft. Die Frage der Wahl, vor der jeder einzelne steht, stellt sich nunmehr in Form einer persönlichen Entscheidung, die er als Bürger täglich beantworten muss, ob er nämlich die Lebensbedingungen einer Minderheit teilen will oder nicht. In der Auffassung Hannah Arendts erscheint diese Wahl in einem völlig anderen Licht, denn sie steht unter einer Bedingung, die aus ihrer Sicht den Emanzipationsprozess in Europa überall beherrscht und „derzufolge Juden nur Menschen sein durften, wenn sie aufhörten, Juden zu sein“.3 Da Juden aufgrund ihrer spezifischen europäischen Geschichte in keine festgefügte Rangordnung hineingeboren sind, steht der einzelne in jeder Generation wieder vor der Freiheit der Wahl zwischen zwei Existenzweisen: der des Parias oder der des Parvenüs. Der Paria hält an seiner engenealogie der Familie Mann-Pringsheim, Zürich-Hamburg 2005, S. 87-88. 2 Vgl. Herbert A. Strauss: Emancipation History-Limits of Revisionism, in: Leo Baeck Institute Yearbook XXXVII, 1992, S. 106. 3 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, Acht Essays, Frankfurt/Main 1976, S. 55. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 177 Maxine Jetschmann Zugehörigkeit zum jüdischen Volk fest und lebt darum von der Gesellschaft ausgeschlossen, in einer sozialen Bodenlosigkeit und politischen Unwirklichkeit. Der Parvenü hingegen kann in der nichtjüdischen Gesellschaft nur unter der erniedrigenden und zweideutigen Voraussetzung eine Rolle spielen, dass er seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk verleugnet, aber dennoch Jude bleibt, eben eine Ausnahme des jüdischen Volkes. Der Parvenü verkörpert für Arendt das typische Sozialverhalten assimilierter Juden in Westeuropa, das von dem einzelnen verlangt, zugleich Jude und doch nicht wie ein Jude zu sein, getreu der „Hauptregel des gesamten Ausnahmejudentums, die verlangte, dass man öffentlich so wenig Gebrauch wie möglich von seiner Abstammung machte.“4 Die soziale Anerkennung ist in den europäischen Staaten aus ihrer Sicht für den einzelnen nur unter der Bedingung zu erlangen, dass er das ganze Volk wie sich selbst verrät. Und unmissverständlich formuliert sie, dass sie diesen Verrat und nicht die Taufe für das eigentliche Entreebillet zur guten Gesellschaft hält: Der demoralisierenden Forderung, sich von dem eigenen Volke zu distanzieren, verband sich die nur verlogen zu realisierende Bedingung, anders und besser als alle anderen zu 5 sein. Für diese Menschen, die vornehmlich zum Bürgertum gehörten, war dabei gleichzeitig eine Haltung charakteristisch, die so tat, als könnte man problemlos deutsch und gleichzeitig jüdisch sein. Unerschütterlich war ihr Glaube an jene in ihren Augen reale Möglichkeit trotz des stets gegenwärtigen Antisemitismus. Sie vermieden es, über ihre Abstammung zu reden, so als ob das Problem überhaupt erst in jenem Augenblick entstünde, in dem man darüber sprach. Die Haltung deutscher Juden, die sich von niemandem sagen ließen, dass sie jüdisch seien, zeugt gewiss auch von einer zumindest kurzfristigen Festigung und Stabilisierung bürgerlicher Identität einer kleinen Schicht innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie gedachten selbst darüber bestimmen, in welchem Licht sie anderen erschienen. So wollte etwa Katia Mann „wohl auf keinen Fall so gesehen werden, wie auf Juden gesehen wurde und wie auch ihr Ehemann, ob schwärmerisch oder verachtungsvoll, aus der für sich beanspruchten höheren Sphäre des christlich-deutschen Dichters über die Juden befand, nämlich“ – wie Ruth Klüger in ihrem Aufsatz Thomas Manns jüdische Gestalten formuliert – mit „Herablassung und de(m) Hang, die Juden in 4 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 131. 5 Ebd., S. 114. Dagegen war es Moses Mendelssohn durchaus bewusst, „dass der außerordentlichen Wertschätzung seiner Person eine außerordentliche Verachtung seines Volkes entsprach; da er aber diese Verachtung noch nicht teilte, war er auch nicht geneigt, sich für etwas Außerordentliches zu halten.“ (Ebd., FN 15). 178 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? minderwertige Positionen abzuschieben“.6 Dies erreichte sie allerdings nur um den Preis der Verheimlichung der eigenen Herkunft: dadurch wurde sie eine Jüdin, die keine Jüdin sein wollte, und hatte, wie schon ihre Mutter, das „Jüdische an die eigenen Kinder durch Geburt weitergegeben, ohne es recht eigentlich in Besitz genommen zu haben“, „war jüdisch in der Weise, dass es nicht zu sehen, nicht einmal für die eigenen Kinder zu spüren sein sollte.“7 So wird eine politische Frage, nämlich das Ringen der deutschen Judenheit um Anerkennung und Selbstbestimmung als deutsche Staatsbürger, zu einem individuell-seelischen Problem, dem Ringen mit dem eigenen Jüdischen. Diese Menschen leben das Jüdische im Licht der antisemitischen Zuschreibungen, die sie verinnerlicht haben, ohne sich als deutsche Juden damit zu identifizieren. Das Phänomen, das Arendt als ein charakteristisches Merkmal der 150jährigen Geschichte des deutschen assimilierten Judentums ansieht, nämlich die Umwandlung des Judeseins aus einer politisch-geschichtlichen Faktizität in ein individuell-privates Dilemma, konnte nur dort gedeihen, wo alles in der „Zweideutigkeit eines >zu gleicher Zeit Juden sein und Juden nicht sein wollen< (...) verblieb.”8 War der Spielraum für jene Unvoreingenommenheit zwischen den Völkern und Religionen, innerhalb derer dieses einzige alte Volk, das sich in die Moderne hinübergerettet hatte, doch ein Mindestmaß an öffentlicher Sichtbarkeit hat erlangen können, immer nur begrenzt gewesen, ist nun durch die Schoa nicht nur diese Art der Vorurteilslosigkeit gründlich verunmöglicht worden, auch der Blick auf eine historische Möglichkeit war dadurch lange Zeit völlig verstellt. Anschaulich wird dies nicht zuletzt an der merkwürdigen Änderung des Titels von Hannah Arendts Aufsatz The Jew as Pariah: A Hidden Tradition, den sie erstmals 1944 in der Zeitschrift Jewish Social Studies publiziert und von dem bloß noch die Hälfte im Deutschen erscheint, nämlich Die verborgene Tradition, aus dem nicht mehr zu entnehmen ist, um welche Tradition es sich eigentlich handelt. Aufschlussreich mag es in diesem Zusammenhang auch sein, an die Ratschläge zu erinnern, die Alfred Döblin 1948 einem anderen Juden für den Fall gibt, dass er für Deutsche schreibe, und die Gershom Scholem in einem Vortrag über Juden und Deutsche aus dem Jahr 1966 wiedergibt. Dieser solle insbesondere das Wort „Jude“ am besten gar nicht verwenden, 6 Viola Roggenkamp: Erika Mann, a.a.O., S. 21; Ruth Klüger, Katastrophen. Über deutsche Literatur, München 1997, S. 47. 7 Viola Roggenkamp: Erika Mann, a.a.O., S. 64. 8 Hannah Arendt: Rahel Varnhagen, a.a.O., S. 205. 1943 formuliert Arendt bitterer, die Geschichte der Assimilation in Deutschland habe ein Kunststück ohnegleichen vorgeführt: „obwohl die Juden die ganze Zeit ihre Nichtjüdischkeit unter Beweis stellten, kam dabei nur heraus, dass sie trotzdem Juden blieben.“ In: dies., Wir Flüchtlinge, in: Zur Zeit: Politische Essay, hrsg. v. Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 19. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 179 Maxine Jetschmann da es in Deutschland ein Schimpfwort geblieben sei, mit dessen Benutzung nur der Antisemitismus befördert werde. Ähnlich berichtet Scholem von eigenen Erfahrungen mit Deutschen, die sich von den Nazis abzugrenzen versuchten, und noch zwanzig Jahre nach Kriegsende eine Rechtfertigung für diese Bemerkung von Döblin lieferten, nämlich durch ihre offenbare Scheu, Juden, die nicht unbedingt darauf bestünden, als Juden anzusprechen. Diesem Sachverhalt vermag er keinerlei Verständnis entgegenzubringen und gibt seiner Empörung freien Lauf, indem er notiert: „Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre.“9 In seinen Augen ist diese Furcht davor, Menschen und Dinge beim Namen zu nennen, nichts anderes als eine Perversion, die nur dadurch überwunden werden kann, dass ausdrücklich von den Juden als Juden gesprochen wird, wenn von ihrem Schicksal unter den Deutschen die Rede ist. Hannah Arendt nahm eine vergleichbare Position ein: als Karl Jaspers sie im Dezember 1945 bat, für die mit von ihm herausgegebene Zeitschrift Die Wandlung einen Aufsatz zu verfassen, antwortet sie ihm, dass sie dies nur unter der Bedingung täte, wenn sie die Gelegenheit bekäme, als Jüdin zu einem Aspekt der Judenfrage Stellung zu nehmen. Denn Juden könnten aus ihrer Sicht nur nach Deutschland zurückkehren – und auch Schreiben sei in gewissem Sinne ein Zurückkommen -, wenn sie als Juden willkommen wären und nicht bloß, weil man nun wieder gewillt war, sie als Deutsche anzuerkennen. Ihre Auffassung, dass Juden nach 1945 nicht einfach als Deutsche, Franzosen oder Angehörige irgendeiner anderen Nation in Europa bleiben könnten, so als ob nichts geschehen wäre, sondern vielmehr die Anerkennung einer jüdischen europäischen Nationalität erkämpfen müssten, erwies sich als politisch nicht umsetzbar. Abgesehen von dem vermutlich extrem minoritären Charakter dieses politischen Interesses, scheiterte seine Durchsetzung bereits vorpolitisch an der eben beschriebenen Scham, das Wort Jude in den Mund zu nehmen. Und doch liegt eben hier nach dem Obsoletwerden der Modelle des gesellschaftlichen Parias und des gesellschaftlichen Parvenüs, die beide durch die Vernichtung der politischen Grundlagen des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert gleichermaßen zu politischen Outlaws der ganzen Welt wurden, ein möglicher dritter Weg, der die beiden utopischen Haltungen, den Realismus des Parvenüs wie den Idealismus des Parias, zu überwinden verspricht. 2. Die verborgene Tradition des Paria als jüdischer Volksfigur In einem zweiten Schritt wende ich mich nun der von Hannah Arendt aufgedeckten, verborgenen Pariatradition zu. In ihrem Aufsatz Wir Flüchtlinge von 1943 erwähnt 9 Gerschom Scholem: Judaica 2: Essays, Frankfurt/Main 1982, S. 22. 180 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? sie bereits eine von ihr ausgemachte, andere Richtung jüdischer Tradition in der Moderne, die durch die vorherrschende, etablierte der Philanthropen und Honoratioren verstellt und von einer Minderheit unter den Juden gebildet wird, die auf Erfolg und Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft verzichtet. Indem sich diese einzelnen in einer sozialen Außen- bzw. Randstellung als „bewusste Parias“ zu halten versuchen, bewahren sie sich jene Fähigkeiten, der alle Emporkömmlinge verlustig gehen, nämlich ihre menschliche Einstellung und ihren natürlichen Realitätssinn. Dieser eröffnet ihnen den Blick auf die post-emanzipatorische Verdunkelung der Wirklichkeit eines jüdischen Volkes, während jene ihren Sinn für die Existenz einer gemeinsamen Menschheit wach hält. In ihrem 1944 erschienenen Artikel The Jew as Pariah: A Hidden Tradition, weist Arendt anhand von vier Versionen der Figur des Paria eine von jüdischen Dichtern, Schriftstellern und Künstlern gebildete, „verborgene“ Tradition auf. Die gewiss durch die Bezeichnung „Paria“ nahegelegten gängigen Interpretationen dieser von Arendt zu Tage geförderten „verborgenen Tradition“ als Variation des Themas der Außenseiter in der bürgerlichen Gesellschaft10 verdecken deren Bedeutung als Denkmal für eine vernachlässigte oder gar übersehene Richtung des europäischen und insbesondere des deutschen Judentums über dessen Zerstörung hinaus. Die „Tradition“, die Arendt zu rekonstruieren und damit zu retten versucht, ist eine in Europa im Zusammenspiel von jüdischen und europäischen Kräften entstandene. Sie wird aus ihrer Sicht von einzelnen Juden getragen, die das Versprechen der Emanzipation wortwörtlich genommen und damit gründlich missverstanden hatten, indem sie versuchten, als Juden Menschen zu sein. Als Juden der politischen Freiheit und unmittelbaren Volksnähe beraubt, befreien sich diese einzelnen als Menschen sowohl von ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Umwelt. Durch eine bemerkenswerte Überspannung von Leidenschaft und Einbildungskraft gelingt es ihnen, die Befreiung von- zu übersteigen in die Freiheit zu- und Volksnähe aus eigenem Antrieb selbst zu verwirklichen. Aus eigener Kraft setzen sie sich in Bezug zu der Grundgegebenheit einer bestimmten geschichtlichen Vision des jüdischen Volkes, die von einer entstehenden jüdischen Geschichtsschreibung artikuliert wird, und schaffen so die Figur des Paria, welche die 10 Typisch für diese Art der Interpretation erscheint die Stellungnahme Thomas Manns, dem Arendt ihren Aufsatz nach Kalifornien hatte zukommen lassen und der in seinem Antwortschreiben fragte, ob das von ihr dargestellte „Schlemihl- und Paria-Pathos“ in seiner „Tragik und Tragikomik“ doch nicht „weitgehend in den allgemeinen Rahmen des Künstlerproblems überhaupt, des sentimentalischen Verhältnisses des Künstlers zur Welt, zur bürgerlichen Gesellschaft“ hineingehöre, das ihn seiner Jugend so stark beschäftigt hatte. Arendts Abhandlung erinnere ihn an seinen „Tonio Kröger“ und dessen Verlangen nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“, welches in seinen Augen „nur eine etwas anders akzentuierte und gefärbte Abwandlung der K.’schen Sehnsucht nach Einbürgerung im Dorfe“ sei. Thomas Mann an Hannah Arendt, Brief vom 10.06.1944, in: Les Cahiers du Grif, Paris Printemps 1986, S. 74-75. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 181 Maxine Jetschmann gebrochene Verbindung zum Volk wieder stiftet und bewahrt. Die These mag zunächst in der Tat einigermaßen befremdlich wirken: eben diejenigen Dichter, die in keiner der Sprachen des Volkes schrieben, also weder Hebräisch, Jiddisch noch Ladino, sondern in der Sprache des Landes, in dem sie zuhause waren, sollten „für die geistige Würde der Nation am meisten getan haben“, gerade ihre Leistungen sollten die „spezifisch jüdischen Kräfte in dem großen Kräftespiel Europas“11 darstellen? Und doch behauptet Arendt gerade dies: jene einzelnen, die sich in einem kühnen Akt unter Aufgebot aller Kräfte von ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Umgebung zu befreien und sich in gleicher Distanz zu beiden zu halten versuchen, haben aus einer oft radikalen Einsamkeit heraus einen „einheitlichen jüdischen Volkskörper“ wieder aufscheinen lassen und „dem jüdischen Volk sein altes Heimatrecht unter den abendländischen Völkern neu bestätigt“. Hiermit vollzieht Hannah Arendt gleichsam eine Rehabilitierung des assimilierten Judentums, dem sie ja auch politische Ahnungslosigkeit vorwarf: zwischen einem Salomon Maimon und Franz Kafka deckt sie eine Art Wahlverwandtschaft auf, einen „sinnvollen Zusammenhang“ verschiedener Dichter, Schriftsteller und Künstler, die in unterschiedlichen Epochen jeweils bestimmte Konzeptionen des Paria als einer jüdischen Volksfigur entwarfen. Paradoxerweise entsteht in ihrer Auslegung eben aus der assimilierten deutschen Judenheit der Nährboden für eine andere, „verborgene“ jüdische „Tradition“ in der Moderne, welche einerseits die durch den Prozess der Emanzipation und Assimilation abgedunkelte Wirklichkeit des Volkes wieder sichtbar macht, andererseits mit dieser, aus jüdischer Erfahrung entstandenen Figur zugleich eine „für die moderne Menschheit sehr bedeutsame neue Idee vom Menschen“ ans Licht bringt. In der sozialen Paria-Stellung der Einzelnen spiegelt sich „das politische Dasein des Volkes als Ganzes“, nämlich als „Pariavolk“ wider. Und dennoch erweist sich diese gesellschaftliche Randstellung als eine in Wahrheit im Zentrum angesiedelte, wenn denn die Vorstellung einer jüdischen Volksfigur als Schlemihl oder Paria aus den seit Jahrhunderten in der Mitte der Mehrheitsgesellschaften lebenden europäischen Judenheiten heraus entsteht, und so entscheidend werden konnte für die geistige und politische Entwicklung der nichtjüdischen Welt. Die Bejahung der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk bildet die Grundbedingung überhaupt für die Stellungnahme von Juden in der Welt, die primäre Realität ihrer Position als Handelnde, die ihnen erlaubt, Fuß zu fassen an einem Ort, von wo aus sich der Blick zu eröffnen vermag auf die Menschheit überhaupt. Nicht ohne Grund wird die Figur des Unberührbaren aus dem hinduistischen Kas11 Hier und im folgenden: Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, a.a.O., S. 46f. 182 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? tensystem in Deutschland – implizit oder explizit – zur Allegorie des Juden in der eigenen Gesellschaft. In der Kunst wird damit eine Thematik aufgegriffen, deren sozial-politischer Hintergrund durch die 1823 erfolgte Aufhebung des Edikts von 1812 bestimmt wird, welches Juden erstmals die Anerkennung als preußische Staatsbürger gewährt hatte. Begleitet wurde diese Maßnahme durch die Verfügung des Ausschlusses von Juden aus staatlichen Stellen. Als Michael Beer 1823 seine Tragödie „Der Paria“ im königlichen Theater in Berlin erstmals zur Aufführung bringt, scheint allerdings niemand außer Heinrich Heine zwischen dieser „tragischen Eigenthümlichkeit (...) der Inder“, „nämlich de(m) auf einer ganzen Kaste lastende(n) göttliche(n) und menschliche(n) Fluch“ und der Situation der Juden im eigenen Land irgendwelche Parallelen wahrgenommen, geschweige denn einen Zusammenhang zwischen der Herkunft des Autors und der Sensibilität für die Thematik erblickt, oder jedenfalls auf einen Sachverhalt hingewiesen zu haben, den zu ignorieren man sich in der „guten Gesellschaft“ stillschweigend übereingekommen war.12 Für Heine ist es hingegen offensichtlich, dass es sich bei dem Paria um einen verkappten Juden handelt, wobei er diese Parallelisierung besonders aufgrund der Mutmaßung des Parias, seine Vorfahren hätten durch ihr Handeln die gedrückte Lage der ganzen Kaste selbst verschuldet, scharf angreift.13 Goethe, der dem Theaterstück und dem Autor einen höchst lobenden Aufsatz widmet, meint, der Paria, der ohne Aussicht auf Veränderung in diesem Leben in einem „Zustand des höchsten Elends und der tiefsten Erniedrigung, zu welcher die menschliche Natur herabgewürdigt werden kann“, leben muss, könne ganz allgemein als „Symbol der herabgesetzten, unterdrückten, verachteten Menschheit aller Völker gelten“.14 Ohne weiter der Frage nachzugehen, welchen konkreten Menschen oder Gruppen diese im eige12 Vgl. Michael Beer: Sämtliche Werke. Hrsg.v. Eduard von Schenk, Leipzig 1835, S. XXXIII u. XXVI. 13 Vgl. Heines Brief an Moses Moser vom 21. Januar 1824, in: Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat. Über Juden und Judentum, hrsg. und eingeleitet von Paul Peters, Bodenheim 1997, S. 78. Heine, der sich im darauffolgenden Jahr evangelisch taufen lassen sollte, schreibt seinem Freund aus Hannover: „Fatal, höchst fatal war mir die Hauptbeziehung des Gedichts, nämlich dass der Paria ein verkappter Jude ist. Man muß alles aufbieten, dass es niemand einfalle, letzterer habe Ähnlichkeit mit dem indischen Paria, und es ist dumm, wenn man diese Ähnlichkeit geflissenhaft hervorhebt. Am allerdümmsten und schädlichsten und stockprügelwertesten ist die saubere Idee, dass der Paria mutmaßt, seine Vorfahren haben durch eine blutige Missetat ihren traurigen Zustand selbst verschuldet. Diese Anspielung auf Christus mag wohl manchen Leuten gefallen, besonders da ein Jude, ein Wasserdichter, sie ausspricht. (Tu n’oses pas mal-interprêter cette expression: ein Jude, ein Wasserdichter, that will not say a jew who is a waterpoet, but a jew who is not yet baptised, a water-proof jew!)”. 14 Vgl. hier und im folgenden: Johann Wolfgang von Goethe: Die drey Paria, in: Kunst und Alterthum, 5. Bd., Heft 1, Stuttgart 1824, S. 101-111. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 183 Maxine Jetschmann nen Volk entsprechen könnte, stellt er fest, Michael Beer habe jedenfalls den „deutschen Paria“ in einem Akt auf die Bühne gebracht, indem er „den gedrücktesten aller Zustände bis zum tragischen Untergang“ schildert, im Gegensatz etwa zu der französischen Tragödie gleichen Namens von Casimir Delavigne, welche dies „mehr als tragisch-grausame Motiv von der energischen Seite genommen“ hat. Goethe stellt ein in der Tat auffälliges Interesse der zeitgenössischen Dichter und Schriftsteller für die Lage der Paria-Kaste fest, ohne den Gründen hierfür weiter nachgehen zu wollen. Er selbst hatte bereits in der Weimarer Zeit von 1820 bis 1822 das Gedicht „Paria“ geschrieben, und hebt abschließend seine eigene Perspektive hervor, die sich insofern von denen der besprochenen Autoren unterscheidet, als dieser Paria seine Situation nicht für ausweglos hält, sondern Vermittlung und Ausgleichung vom Gott der Götter erhofft. Der Dichter rechnet sich selbst damit zu den „milden Stimmen“, die sich in „so manchem Widerstreit hingegebenen Tagen“ auch „hie und da hervorthun“ und „auf ein Höheres hinweisen, von wo ganz allein befriedigende Versöhnung zu hoffen ist.“ Der Geheimrat geht auf keine bestimmte historische Situation ein, in der die Gefahr heilloser Verstrickung lauert, und akzeptiert so implizit die Tabuisierungen einer Gesellschaft, zu der sich ohnehin nur Ausnahmejuden der Bildung oder des Reichtums Zutritt verschaffen können, da man hier als Jude – wie Karl Kraus es treffend auf den Begriff gebracht hat – „nur unter der Bedingung geduldet wird, dass man entweder seine jüdische Abstammung verschweigt oder mit dem Geheimnis der Herkunft auch deren Geheimnis verrät“, was zu jenem paradoxen Verhalten von Menschen führte, die vorgaben „ein Mensch auf der Straße und ein Jude zu Hause“ sein zu können.15 Salomon Maimon, der an seiner jüdischen Identität festhält und somit Paria bleibt, wiewohl er am kulturellen Leben der Mehrheitsgesellschaft durchaus mitwirkt, wird Hannah Arendt zum Begründer einer unvermuteten „Tradition“, deren Herkunft gerade aus dem assimilierten Judentum sie gegen jeden ersten Augenschein aufzuweisen entschlossen ist. Denn auf den ersten Blick scheint es fraglich, wie die von ihr nebeneinander gestellten Autoren überhaupt eine „Tradition“, sei es auch eine „verborgene“, zu bilden in der Lage wären. Außerdem ist ihr Verhältnis zum Judentum nicht unproblematisch, und Charlie Chaplin gewiss kein Jude, mochte er in der Nazizeit auch anderes behauptet haben. Es geht Arendt aber, wie wir sehen werden, eigentlich weder darum, einzelne Schriftsteller und Künstler zu Juden zu machen oder sie wieder in den Schoß der Gemeinde zurückzuführen, sondern deren Grundbestreben gerecht zu werden, das darin lag, an den Angelegenheiten der Bürger und Menschen mitzuwirken und dabei doch an dem „Zufall ihrer Geburt“ festzuhalten. 15 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 128 und 111. 184 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? Auf das unlösbare Dilemma, vor das sie der Zwang zur gesellschaftlichen Assimilation bei gleichzeitiger staatlicher Emanzipation stellt, antworten sie nicht mit dem fragwürdigen Weg der versuchten Loslösung von der Judenheit. Gerade ihren mutigen, erfinderischen und zuweilen verzweifelten Versuchen, als Juden Menschen zu sein, gilt es zur Anerkennung zu verhelfen. Ihrer Leistung will Arendt ein Denkmal setzen, die erst dann gewürdigt werden kann, wenn sie vorurteilslos betrachtet wird: nämlich ein „Volk“ wieder zu entdecken und zu behaupten, das in der politischen Neuordnung Europas unsichtbar geworden ist, ohne zu den tradierten Ritualen, Sitten und Gebräuchen der „alten Nation“ zurückkehren zu können noch zu wollen. Gegen die Behauptung von Juden, es seien dem Volk durch Taufe und „Mischehe“ so viele gerade aus der eigenen Elite verloren gegangen, versucht sie, an einzelnen Persönlichkeiten nachzuweisen, dass dies nicht unbedingt Kriterien für das Verlassen des Volkes darstellten, und diese Menschen auf eine bestimmte Weise für das Judentum zurück zu gewinnen. In dieser Art von Vorurteilslosigkeit kommt ein aus ihrer Sicht typischer Charakterzug des deutschen Judentums zum Ausdruck, welches sich exemplarisch an der Person und dem Werk Heinrich Heines darstellen ließe. In Form der Freiheit von herrschenden Vorurteilen, wie sie Heine selbst und in seiner Nachfolge auch Arendt beanspruchte, stellt sie zweifellos eine gewaltige Zumutung an ihre jüdische wie nicht-jüdische Umwelt dar.16 Für Juden ist demnach die Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt nie etwas Selbstverständliches, sondern stellt sich immer als Problem des Eintritts dar, welches sie in der Typologie dreier Lebensweisen deutlich zu machen versucht, nämlich der des Parias, des Parvenüs und des bewussten Parias. Es ist dieser recht verstandene Stolz auf die Zweideutigkeit ihrer Geburt als Juden und als Deutsche und die Treue zu dieser Doppeldeutigkeit, welche die Schöpfer des Paria als jüdischer Volksfigur auszeichnet und sie vor allen Formen des im deutschsprachigen Kulturkreises so verbreiteten Selbsthasses bewahrt. Sie deckt mit der verborgenen Tradition des Paria als jüdischer Volksfigur eine 16 Wie völlig frei Heine sich angesichts herrschender Vorurteile zu verhalten gedachte, äußert er beispielsweise in seiner Kritik an Michael Beers „Paria“, in seinem bereits zitierten Brief an Moses Moser vom 21. Januar 1824: „Ich wollte, Michel Beer wäre getauft und spräche sich derb, echt almansorig, in Hinsicht des Christentums aus, statt dass er dasselbe ängstlich schont und sogar, wie oben gezeigt, mit demselben liebäugelt.“ Ebd. Genauso provokativ mag die Einschätzung des Stellenwerts der Taufe für Heine wirken, die Arendt in einem Brief an Blumenfeld gibt: „Sich taufen zu lassen und zu sagen, man hätte lieber silberne Löffel gestohlen, das war erheblich mehr, als sich nicht taufen zu lassen. Das war wirklich vorurteilsfrei, souverän, das einzig Mögliche.“ In: Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld, „in keinem Besitz verwurzelt“. Die Korrespondenz, hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg 1995, S. 241. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 185 Maxine Jetschmann „Tradition“ auf, die nicht in einem konventionellen, sondern nur in einem in sich selbst widersprüchlichen Sinn als solche bezeichnet werden kann, da sie eigentlich weder Inhalte vermittelt, noch die Organisation eines weiterzugebenden Wissens gewährleistet, noch sich dazu auf bestimmte Institutionen verlässt. Die Tradition der Parias ist eine von Einzelnen, und ihre Fortdauer wird nicht dadurch garantiert, dass sie von Generation zu Generation weitergereicht würde. Das, was die von Arendt nebeneinander gestellten Autoren verbindet, ist jene poetische bzw. politische Figur, die sie unabhängig voneinander erfanden, indem sie auf strukturell gleich bleibende Bedingungen einen gemeinsamen Modus der Antwort entwickelten. Die Dringlichkeit für Arendt, diese Tradition aufzudecken und über ihren Untergang hinaus zu retten, ergibt sich aus ihrer Verborgenheit in einem dreifachen Sinn. Denn zunächst war sie deshalb verborgen, weil sie aufgrund der neuen Idee vom Menschen, die für die moderne Menschheit im allgemeinen von Bedeutung wird, und hier weder auf Jiddisch noch Hebräisch, sondern in der Sprache einer der europäischen Nationalstaaten Ausdruck findet, von der jüdischen Geschichtsschreibung nicht als eine aus jüdischer Erfahrung hervorgegangene anerkannt wurde. Umgekehrt wurden diese Autoren sogleich von der jeweiligen Nationalkultur der Mehrheitsgesellschaft vereinnahmt, die wiederum all jenem, was ihrem jüdischen Anteil entsprach, die Anerkennung verweigerte, so dass es sich tatsächlich um eine unausgesprochene und unsichtbare Tradition handelte.17 Diese Tradition wird dann durch den Versuch der Nationalsozialisten, das gesamte jüdische Volk zu einem Pariavolk zu machen, obsolet. Mit der Vernichtung der politischen Grundlagen des europäischen Judentums, innerhalb derer die Figur des Paria ein Bewusstsein von Freiheit und Menschlichkeit zu verkörpern in der Lage war, hatte die Wahl der Existenz zwischen Paria und Parvenü ihren Sinn verloren. Schließlich konnte die Pariatradition nach der Schoa als eine vernichtete erscheinen, die nun dem Vergessen anheim gegeben war, wenn keiner sich ihrer erinnerte. In Arendts Augen gab es danach kein europäisches Judentum mehr und würde vielleicht auch keins mehr geben. Daraus entsteht für sie die Verpflichtung, diese ver- 17 Ernst Pawel bringt diese prekäre Lage im Falle Kafkas pointiert und ironisch auf den Begriff: „Armer Kafka. Er, der es unmöglich fand, zu leben, muss inzwischen entdeckt haben, dass tot zu sein auch kein Honiglecken ist. Die Eltern, von denen er sich zu Lebzeiten niemals gelöst hat, sind noch immer bei ihm, im gleichen Grab. Die Werke, die er so etwas wie zerstört haben wollte, sind Gegenstand einiger Tausend Dissertationen in der ganzen Welt. Aber als Gipfel der Ironie mag dabei eigentlich die Metamorphose des archetypischen Prager Juden zu einem Deutschen Klassiker erscheinen.“ In: Ernst Pawel, Franz Kafkas Judentum, in: Kafka und das Judentum, a.a.O., S. 253. Demselben Impetus folgt die von der Regierung der Republik Österreich angebrachte Gedenktafel an dem Haus Grunewaldstraße 13 in Berlin-Steglitz, wo Kafka 1923/1924 wohnte, indem sie an den „österreichischen Schriftsteller“ erinnert. 186 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? borgene Tradition aufzudecken und über ihren Untergang hinaus vor dem Vergessen für die Nachwelt zu bewahren. Auf unerwartete Weise fördert sie mit der Pariatradition ein politisches Urteils- und Handlungsvermögen von Juden zutage, welches aus der Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zur Judenheit erwächst. Die Bestätigung dieser Zugehörigkeit wird so zu Grundbedingung für die Positionierung von Juden in der Welt. In dieser elementaren Realität ihrer Stellungnahme als Handelnde kristallisiert sich das Selbstbewusstsein, welches die Treffsicherheit des Urteils bedingt. Indem das Erinnern die Gegenwärtigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit des Volkes sichert, kann auch der Sinn für die politische Realität wach gehalten werden. Zu dieser hat der einzelne aber nur als konkreter Mensch Zugang, indem er den Zufall seiner Geburt bestätigt und die spezifischen Interessenlagen der Gruppe, welcher er angehört, mit übernimmt. Aus der verborgenen Pariatradition birgt Arendt die sich zu einem Urteilsgrund kristallisierende geschichtlich-politische Wirklichkeit des Volkes. Als die reale historische Entwicklung einer Nation unterscheidet sich diese grundsätzlich von jeder Auffassung vom Volk als einem organischen Nationalkörper oder einer biologischen Einheit. Zur Voraussetzung für die eigene Wahrnehmung als Volk und die Anerkennung von anderen als solches wird dann allerdings die Sichtbarkeit der kollektiven partikularen Zugehörigkeit im öffentlichen Raum. Der Erfahrungshintergrund der deutschen Judenheit lässt sich durchaus auch in den konkreten Lebensbezügen Hannah Arendts selbst nachzeichnen. Ihr Herkunftshorizont kann so als ein wesentlich durch den deutsch-jüdischen Dialog gestalteter aufgewiesen werden, der „maßgeblich die Kultur der Weimarer Republik und damit die gegenseitige Beeinflussung von Juden und Deutschen auf der Ebene von Kunst und Literatur“ bestimmte und so „in nie da gewesener Weise ein Bestandteil der europäischen Geistestradition“ wurde.18 Sie war diesem von Deutschen und Juden gleichermaßen geschaffenen öffentlichen Raum der Kultur selbst sehr verpflichtet und hat versucht, den persönlichen Freundschaften, in denen diese Öffentlichkeit seit Lessing traditionell Ausdruck fand, ein Leben lang die Treue zu wahren. Im Hinblick auf die deutschsprachigen Protagonisten kann man sagen, dass die von ihr freigelegte „verborgene Tradition“ einer jüdisch-deutschen Öffentlichkeit entspricht, die in der Hauptsache von der liberalen Judenheit in Deutschland in der Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung seit der Moderne geschaffen wurde. Die von ihr aufgewiesene, bislang verborgene jüdische Paria-Tradition findet durchaus eine 18 George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus, Frankfurt/Main – New York 1992, S. 19. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 187 Maxine Jetschmann Parallele in den Resultaten neuerer historischer Forschungen, insbesondere in der von David Sorkin aufgezeigten spezifischen deutsch-jüdischen Gemeinschaft jenseits von Religion und Nation, die für ihre Mitglieder selbst unsichtbar bleibt.19 Oder auch in dem Aufweis eines „jüdischen Projekts der Moderne“ durch Shulamit Volkov, das der „Erfindung einer Tradition“ im Sinne der Schaffung einer jüdischen Geschichte und Literatur sowie des Entwurfs einer modernen Ethik des Judentums in Deutschland entspricht.20 Da dieses Projekt durch die nationalsozialistische Machtergreifung jäh abgebrochen wurde, konnten die ihm innewohnenden Möglichkeiten nie zur vollen Entfaltung kommen. 3. Der deutsch-jüdische Erfahrungshintergrund an Beispielen aus dem Werk Heinrich Heines Von seinem frühen Werkfragment, dem „Rabbi von Bacherach“ bis zu dem späten, den „Hebräischen Melodien“ aus dem „Romanzero“ ringt Heinrich Heine um eine dichterische Auslegung der jüdischen Tradition und eine kulturelle Renaissance des Judentums, welche in dem Prozess der Akkulturation die Eigenständigkeit des jüdischen Anteils und seine Bewahrung garantieren würden. Im Geiste Herders, dem Begründer einer neuen „ebräischen Poesie“, will Heine, an der Bibel als dem „portativen Vaterland“ der Juden festhaltend, die biblische und nach-biblische Tradition als poetisches Zeugnis des Lebens des jüdischen Volkes und seines nationalkulturellen Ausdrucks verstehen. Die Geschichten der Bibel wie die der nachbiblischen jüdischen Literatur sucht er von dem alleinigen Zugriff der Theologie zu befreien, um ihre poetische und kulturelle Vielfalt freizulegen. Seine Auslegung von Elementen jüdischer Tradition bewegt sich gegenstrebig zwischen nationaler Singularität und Universalismus. Anhand des zweiten Heineschen Werkfragments, welches das Judentum explizit zum Thema macht, nämlich den „Hebräischen Melodien“, lässt sich der volksmäßige Hintergrund aufweisen, von dem der Dichter sich einerseits abhebt, dem andererseits aber seine Lieder entstammen. In der gegenläufigen Bewegung dieser gleichzeitigen Verwurzelung und Abtrennung, dieser bewahrenden und sich zugleich distanzierenden Geste schwingt die ganze Schaffenskraft einer „produktiven jüdischen Assimilation“, in der beide Seiten Gebende und Empfangende waren.21 In 19 Vgl. David Sorkin: The Transformation of German Jewry:1780-1840,New York/Oxford 1987,S.6f. 20 Vgl. Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in:Historische Zeitschrift, Bd. 253, 1991, S. 603-628. 21 So die Formulierung von Kurt Blumenfeld, in: Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld: Die Korrespondenz, a.a.O., S. 145. 188 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? „Prinzessin Sabbath“, der ersten der „Hebräischen Melodien“, präsentiert er Israel als einen Königssohn, den übler Hexenspruch in einen Hund verwandelt hat. Das Motiv des verwünschten Prinzen, der sich in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt, mag aus dem alten orientalischen Märchenbuch „Tausendundeine Nacht“ stammen, wie er es gleich im ersten Vers andeutet, war doch die Übernahme von Elementen aus volkstümlichen Märchen und deren Verdichtung zu Kunstmärchen in der Zeit durchaus üblich, wie etwa bei Wilhelm Hauff. Nun galt das Märchen der deutschen Romantik als „Volksdichtung“ und „Naturpoesie“, der Aufruf Achim von Arnims zum Sammeln und Aufzeichnen mündlich überlieferter Märchen führte zur Publikation der „Kinder- und Hausmärchen“ durch die Brüder Grimm 1812 bis 1815, und auch in den verschiedenen deutschen Landschaften gab es Professoren, Lehrer und Geistliche, die Märchen zusammentrugen und niederschrieben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Freien und reinen Herzens kann Heine so aus der Schatztruhe deutscher Märchen das Passende wählen (das Motiv der Verhexung und Verwandlung) und verbindet es mit einer der Kostbarkeiten jüdischer Tradition (dem Schabbatlied „L’kha Dodi“ von Shlomo Alkabez – und nicht, wie er angibt, von Jehuda ben Halevy). In Anlehnung an den Stil einer sefardischen Romanze führt er uns „die Sabbatexistenz des Volkes“ vor, die für ihn „die eigentlich positiv jüdische ist,“22 indem er das allwöchentliche Fest vor unseren Augen ablaufen lässt: vom feierlichen Einzug in die Synagoge nach Einbruch der Dunkelheit und dem Erscheinen der Sterne am Himmel am Freitag Abend, über das anschließende häusliche Sabbatmahl, den Sabbattag selbst bis zu seiner Beendigung und Verabschiedung. Das „beharte Ungeheuer“, das sechs Tage „durch des Lebens Kot und Kehricht kötert“ und zum Gespött der Gasse wird, streift jeden Freitag Abend die „hündischen Gedanken“ ab und verwandelt sich zurück in ein menschliches Wesen, den Prinzen, der „mit erhobnem Haupt und Herzen“ in des Vaters Halle tritt. Die deutsche Sprache erschließt hier auf dem Wege ergreifend-anrührender Wortschöpfungen und Wortspiele jüdische Lebenswelten neu, Riten und Symbole werden durch das märchenhafte Geschehen vorgestellt: wir erfahren, wie für Juden die gesamte Arbeitswoche im Zeichen des Schabbats steht, mit welch herzlicher Liebe und kindlicher Freude dieser Tag wie eine Königin begrüßt wird. In dem vom Kantor angestimmten Hochzeitkarmen wird die Vermählung des Königssohns mit der Prinzessin Sabbath besungen: „Lecho Daudi likras Kalle!“, „Auf, mein Freund, der Braut entgegen!“: in Heines Transkription aus dem Hebräischen klingt die erste Zeile des Liedes wie die Weise eines Gas- 22 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, a.a.O., S. 48. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 189 Maxine Jetschmann senhauers, dem „Singsang von der Kinderszene“ entnommen, in dem das auf dem Grunde aller Dichtung liegende Poetische gleichsam aufbewahrt ist. Während deutschen Juden das Gedicht Heines, aus dem seine große Liebe zu den Traditionen des Judentums spricht, dazu verhilft, zugleich in ihren überlieferten Sitten und in der Sprache ihres Heimatlandes zuhause zu sein, indem sie es in den Gemeinden und Familien zu Ehren des Schabbats sprechen, macht es das nichtjüdische Publikum auf die selbstverständlichste Weise genauso mit dem Inneren des Gotteshauses, mit Mesusa, Almemor und Thoraschrein bekannt wie mit dem Verlauf des Festtages im Haus.23 Das Schabbatmahl selbst wird beherrscht von dem Schalet (Tscholent), der aschkenasischen Version des vermutlich schon seit biblischen Zeiten zubereiteten Eintopfgerichts, das lange und langsam schmorren muss, und daher bereits am Freitag vorbereitet, aber erst am Schabbat nach dem Morgengottesdienst aufgetischt wird. Unter Heines Feder wird der Tscholent zur „Himmels-speise“, zum „koscheren Ambrosia“ des wahren Gottes, das Moses auf dem Berg Sinai zugleich mit den zehn Geboten offenbart wurde und den die schöne und stille Prinzessin nun ihrem Liebsten serviert. Kaum hat der Prinz von der Speise gekostet, so fühlt er sich an den Jordan versetzt, in das Palmental von Beth-El oder das Gileathgebirge, hört Brunnen rauschen und Herdenglöckchen läuten, was auf die geistige Nahrung des Tages verweist: auf die wöchentliche Erfahrung der erneuerten Seele, der Loslösung von der Herrschaft, die der Mensch im Herstellungsprozess über die Dinge ausübt und der er selbst unterworfen ist, die das Bewusstsein davon wach hält, dass er frei geboren ist. Der Schabbat symbolisiert so einen Zustand, in dem der Mensch mit seinem Nächsten, der Natur und sich selbst in Harmonie lebt, die Ruhe des Tages nimmt die Freiheit vorweg, in der die Menschen einst in messianischer Zeit nicht nur einen Tag in der Woche, sondern immer leben sollen. Neigt der Tag sich seinem Ende zu, kommt ein Gefühl der Wehmut, ja des Schmerzes auf, und der Prinz seufzt: „Ist ihm doch als griffen eiskalt Hexenfinger in sein Herze“ und „schon durchrieseln 23 Vgl. Jochanan Trilse-Finkelstein: Gelebter Widerspruch. Heinrich Heine Biographie, Berlin 1997, S. 325. Der Wahrheitsgehalt der Behauptung, „Prinzessin Sabbath“ sei das populärste unter den Gedichten der „Hebräischen Melodien“ innerhalb des deutschen Judentums gewesen, müsste nachgeprüft werden. Zutreffender scheint die Einschätzung von Paul Peters zu sein, dass Heine nie zu einer eigentlichen Integrationsfigur für die deutschen Juden geworden ist, so sehr er „kraft seines Werkes zur zentralen Figur der jüdischen Assimilation in Deutschland wurde“. In: Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat. Über Juden und Judentum, a.a.O., S. 11. In der deutschen Öffentlichkeit war dem „Romanzero“ keine nachhaltige Popularität beschieden: nach dem Erscheinen von 21 000 Exemplaren in vier Auflagen von 1851 bis 1852, einer für das 19. Jahrhundert sehr beachtlichen Anzahl, verschwand die Gedichtsammlung allmählich aus dem öffentlichen Bewusstsein. Dabei hat gewiß das Verbot in Österreich und Preußen wie die Zurückhaltung und Ablehnung in der Kritik eine Rolle gespielt und mit dazu beigetragen, die potentielle gesellschaftliche Tiefenwirkung der „Hebräischen Melodien“ zu untergraben. 190 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? ihn die Schauer/Hündischer Metamorphose.“ Über die Schwelle in den Alltag, wo er wieder „in ein Ungetüm verzottelt“ ein Sklavendasein führt, verhilft ihm, den Übergang lindernd, ein bestimmter Ritus, die Zeremonie des Abschieds, die Hawdalah: ein letztes Mal noch kostet er den Duft des Schabbats, indem er das Aroma des scheidenden Tages aus dem mit Kräutern gefüllten Gewürzbehälter einatmet und sich daran labt, leert den ihm von der Prinzessin kredenzten Becher Wein und löscht mit den letzten Tropfen das Sabbatlicht. Nicht Heines „Prinzessin Sabbath“, sondern seine „Loreley“ erlangte wirkliche Popularität und wurde in der Vertonung von Friedrich Silcher zum „deutschesten aller deutschen Lieder“, das in den Ohren klingt, als wäre es ein althergebrachtes Volkslied. Mit diesem Lied wird der deutsche Jude Heinrich Heine zum deutschen Volkschriftsteller. Es ist gerade die Volkstümlichkeit der Dichtung Heines, welche ihr einen unauslöschlichen Platz in der deutschen Kultur gesichert hat, so dass es auch den Nationalsozialisten nicht gelang, das Lied dem Volk zu entreißen, indem sie es für anonym erklärten. Für Hannah Arendt ist diese – bis heute allerdings nicht belegte Behauptung – vielleicht eines der größten Komplimente, die man dem Dichter hat machen können: als hätte man gezwungenermaßen gerade den Juden unter die anonymen Autoren, aus denen das Volk selbst in seiner Lorbeerlosigkeit spricht, eingereiht, als gehörte, was er 24 schrieb, noch in Des Knaben Wunderhorn. Tatsächlich liegt das Populäre gerade auch in Heines Judentum begründet, und zwar nicht allein aufgrund der Tatsache seines Ausgegrenztseins als jüdischer Paria, von dem sich all jene angesprochen fühlten, die selbst ausgeschlossen waren, – eben das Volk –, sondern genauso wegen seines vollkommen ungebrochenen Selbstgefühls. Die völlige Abwesenheit von Selbsthass und seine Distanz zu den Vorurteilen der Gesellschaft eröffneten ihm, vielleicht mehr noch als die Erfahrung der Stigmatisierung, den Zugang zu der Gefühls- und Bilderwelt des Volkes. Diese Haltung, aus der heraus Heine lebte und die zum expliziten Prinzip seines Werkes wurde, war nach Arendt innerhalb der deutschen Judenheit mehr verbreitet als gemeinhin angenommen, wenn auch als unbewusster und nicht ausdrücklicher Lebensgrund. Entgegen einer gängigen Auslegung ist Heine in Deutschland nicht trotz, sondern eben aufgrund seines Judentums zum populären Dichter geworden. Seine Volkstümlichkeit ist mit auch ein Beweis dafür, dass das europäische Judentum nicht, wie oft behauptet wird, am Rand, sondern in der Mitte der Kulturen Europas liegt. Dies galt in besonderem Maße für die Verbundenheit des deutschen Judentums mit 24 Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten, hrsg. von Ursula Ludz, München/Zürich 1989, S. 291. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 191 Maxine Jetschmann der deutschen Entwicklung, die nach Arendt in erster Linie etwas mit dem Phänomen der Sprache zu tun hatte, welche nicht innerhalb einer oder auch nur mehrerer Generationen wirklich zu erlernen war. Die Begegnung des jüdischen Volkes mit der deutschen Kultur hat etwas durchaus Einzigartiges, insofern sich allein in diesem Fall aufgrund der Affinität des Jiddischen mit dem Deutschen praktisch kein Sprachproblem stellt. In ihren Augen entspricht das Jiddische einem deutschen Dialekt, so dass es hier lediglich um den Übergang aus einem solchen ins Hochdeutsche geht, was sich wesentlich etwa von dem Hinüberwechseln aus dem Jiddischen ins Englische oder ins Französische unterscheidet. Franz Kafka zufolge handelt es sich bei dem Jiddischen und dem Deutschen sogar um zwei unterschiedliche Wahlformen, welche das Mittelhochdeutsche annahm, als es sich zum einen ins Neuhochdeutsche und zum anderen ins Jiddische ausformte, wobei dieses mittelhochdeutsche Formen entweder beibehielt oder folgerichtiger entwickelte als selbst das Deutsche.25 Kafka weist zugleich auf die nur aus einer „großen Ferne“ erscheinenden Nähe der beiden Sprachen hin, welche bewirkt, dass jeder der deutschen Sprache Mächtige auch das Jiddische zu verstehen in der Lage ist, dass umgekehrt aber das Jiddische eigentlich nicht ins Deutsche übersetzt werden kann, weil die Verbindungen zwischen den beiden „zu zart und zu bedeutend“ sind, „als dass sie nicht sofort zerreißen müssten“, wenn der jiddische Ausdruck ins Deutsche zurückgeführt würde. Arendt ist letztendlich zum einen weniger an der rein sprachlichen Seite der Frage interessiert und geht zum anderen nicht von der Selbständigkeit der jiddischen Sprache aus. Vorrangiger ist ihr die jahrhundertealte intime Verbundenheit beider Kulturen, deren hervorragendes Medium gleichwohl die Sprache ist, und die so Erstaunliches hervorbringt wie etwa die älteste Handschrift des Gudrun-Liedes, in hebräischer Schrift aufgezeichnet, die von aus Deutschland vertriebenen Juden nach Ägypten gebracht worden war, wo sie 1956 in der Synagoge von Fostat bei Kairo gefunden wurde.26 Ebenso hebt sie hervor, wie Heine, wenn er auch nicht die dauerhafte Einbürgerung von Juden in den deutschen Staat ermöglicht, so doch „unzähligen jüdisch-hebräischen Worten dichterisches Heimatrecht in der deutschen Sprache, ihre Gleichberechtigung durchgesetzt“ habe, indem er das, „wovon andere 25 Vgl. hier und im folgenden: Franz Kafka: Rede über die jiddische Sprache, in: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt/Main 1993, S. 188-193. 26 Dieser sogenannte „Dukus Horant“, ein fragmentarisches Brautwerbungsepos, gehört zur Cambridger Handschrift von 1382/83 und entspricht einer frühen Stufe des Jiddischen. Vgl.: Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld: Die Korrespondenz, a.a.O., S. 150 und 313-314. 192 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Der Paria als jüdische Volksfigur: eine verborgene Tradition des deutschen Judentums von Heinrich Heine bis Hannah Arendt? nur schwatzen, eine echte Amalgamierung, im Scherz und im Ernst praktiziert.“27 Die Auffassung, dass diese „Amalgamierung“ in ihrer Intensität und ihrem Ausmaß keine Entsprechung in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völkern fand, verbindet Hannah Arendt mit Kurt Blumenfeld und Gershom Scholem. Letzterer legt in erster Linie Wert auf die Tatsache, dass die Juden bei ihrem Aufbruch ins neue Zeitalter der Aufklärung und Revolution aufgrund der geographischen, politischen und sprachlichen Gegebenheiten – vier Fünftel des Volkes lebten in Deutschland, Österreich-Ungarn und den osteuropäischen Staaten – zuerst auf die deutsche Kultur trafen und zwar in einem bedeutenden Augenblick, als diese nämlich den Zenit ihrer bürgerlichen Epoche erreichte. Betont Scholem das Zusammentreffen von neu erwachender Schaffenskraft der Juden nach 1750 und einem Gipfel der Produktivität im deutschen Volk, so erblickt Arendt in der 150 jährigen Entwicklung des deutschen Judentums seit der Emanzipation nicht nur einen Höhepunkt der jüdischen Geschichte, sondern auch der Geschichte der Menschheit. Dies lässt sich anhand der für die moderne Menschheit bedeutenden neuen Idee vom Menschen nachweisen, die dem Pariadasein zugrunde liegt. Die Pariaexistenz erschließt und sichert sich in der ausdrücklichen Übernahme ihres Außenseitertums und der radikalen Distanzierung von den im wesentlichen negativ bewerteten gesellschaftlichen Bindungen dadurch aber gerade ihren Bezug zum Volk. Hiermit wird deutlich, dass die Basis für einen „unschuldigen Verkehr“ zwischen Juden und Deutschen in den Anfängen der Begegnung beider Völker sicherlich breiter war, als Arendt mit ihrer These nahe legt, es habe lediglich eine einzige Ausnahme von der Unmöglichkeit gegeben, zugleich Jude zu bleiben und ein gewöhnlicher respektierter Bürger eines der europäischen Nationalstaaten zu werden. In der verborgenen Tradition des Paria als jüdischer Volksfigur findet sich das Volk, das über keinen eigenen Staat verfügt, aufgehoben, und zwar indem es sich auf einen „Raum“ bezieht, der zwischen den Gliedern einer Gruppe unweigerlich entsteht, wenn sie in jahrtausendealten Bezügen sprachlicher, religiöser und geschichtlicher Natur miteinander verbunden sind, die sich zudem in Sitten und Gesetzen niedergeschlagen haben, die sie 28 gegen die Außenwelt schützen und untereinander differenzieren. 27 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition, a.a.O., S. 53. In dem Gedicht „Prinzessin Sabbath“ wagt Heine freimütig einen neuen Entwurf von Schillers Ode „An die Freude“, indem er mutmaßt, wie des Dichters Hochlied geklungen hätte, wäre er einmal in den Genuss des Schabbatmahls gekommen, und dichtet: „Schalet, schöner Götterfunken,/ Tochter aus Eysium...“. „Damit war Schiller weiter keine große Kränkung geschehen“, so kommentiert Hannah Arendt, „und die himmlische Speise der Prinzessin Sabbat hatte den ihr gebührenden Platz neben Nektar und Ambrosia zugewiesen erhalten.“ (Ebd., S. 54) 28 Hier und im folgenden: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 193 Maxine Jetschmann Diese Spezifizierung, die Hannah Arendt später zur Konstruktion einer Kategorie des „Territoriums ohne Land“ vornehmen wird, um das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung zu begründen, entspricht einer elaborierteren Form dessen, was bereits in der aufgedeckten Pariatradition präsent ist, der Kampf um eine politische Anerkennung des jüdischen Volkes. Dessen Realität wird jenseits eines bestimmten Stück Landes auch in eben jenen Bezügen verbürgt, die räumlich anschaulich werden, indem sie selbst den Raum eröffnen und bilden, innerhalb dessen die unterschiedlichen einzelnen Menschen der Gruppe miteinander umgehen. So hat „das jüdische Volk in den langen Jahrhunderten der Zerstreuung (...) einen solchen Zwischen-Raum über alle geographische Entfernung hinweg geschaffen und bewahrt.“ Auf dieser Basis sollte Arendt zufolge nach 1945 eine politische Repräsentanz der Juden als eines europäischen Volkes entstehen, um in Gemeinschaft mit anderen Völkern das zu erreichen, was sie in ihrem Aufsatz über die verborgene Pariatradition abschließend in Aussicht stellt, nämlich die Konstitution einer von allen Erdenbewohnern gemeinsam zu schaffenden und kontrollierten Menschenwelt. Bekanntlich ist diese politische Anerkennung als nationale Minderheit in Europa samt eines entsprechenden Minderheiten-Schutzgesetzes nicht gelungen und auch nicht wirklich eingefordert worden. In Deutschland ist Judesein allein eine religiöse Zugehörigkeit. Entsprechend garantiert die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland dem einzelnen Juden als deutschem Staatsbürger die Glaubens- und Meinungsfreiheit. Innerhalb dieses Rahmens stellt sich die zu Anfang gestellte Frage nach einer möglichen Wandlung des Selbst- und Fremdverständnisses deutscher Juden zu einer kenntlichen, sichtbaren Minderheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft im Sinne der Forderung von Schriftstellern, wie sie zum Beispiel Esther Dischereit Ende der neunziger Jahre erhob: Die deutsche Kultur also ist – das Jüdische käme hinzu, bereicherte sie nach mittlerweile herrschender Auffassung, aber niemals höre ich: die jüdische Kultur ist deutsche Kultur – oder etwa eine Formulierung wie: die jüdische Kultur ist deutsch, sie umfasst Produktionen Kulturschaffender verschiedener Herkunft und verschiedenen Ursprungs. 29 Dieser Satz wird nicht ausgesprochen. Auch zur aktuellen Standortbestimmung vermag der Rückblick auf die verborgene Tradition des Paria als jüdischer Volksfigur einen Beitrag zu leisten. Bösen, München 1964, S. 312. 29 Esther Dischereit, Übungen, jüdisch zu sein, Frankfurt/Main 1998, S. 20-21. 194 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 DAS BILD DER SPANIERIN IM DEUTSCHEN SCHLAGER während der Weimarer Republik Juan-Fadrique Fernández Martínez Mit der Problematik der Bilder von einem anderen Land und der Existenz der “Nationalcharaktere” beschäftigt sich die Imagologie. Manfred S. Fischer behauptete: Der zentrale Gegenstand der komparatistischen Imagologie sind nationen- bzw. völkerbezogene Images, die sich erklären lassen als solche Aussagen, die auf Nationen, Völker und ihre kulturellen und geistigen Leistungen gemünzt sind und diese in ihrer Gesamt1 heit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen typisieren wollen. Wie Manfred S. Fischer verstehe ich im Folgenden einzelne national-imagotype Aussagen2, die in ihrer Wiedergabe den angeblich für eine Nation, eine Nationalliteratur usw. typischen Anspruch auf Realitätsentsprechung erheben und in der Mehrzahl der Fälle auf eine Bestimmung von “Nationalcharakteren” abzielen. Sie treten fast immer im Kontext komplexer imagotyper Systeme auf, von denen sie selber Strukturelemente sind. Ich werde mit der Studie des nationalen Bildes3 oder der Bilder von Spanien im deutschen Schlager zwischen 1919 und 1933 anfangen4, und darüber hinaus werde ich mich auf das Bild der Spanierin konzentrieren. Zuerst ist es notwendig aufzuzeigen, dass der Schlager dieser Epoche eine Reihe heterogener Texte mit einer sagenhaften thematischen und rhythmischen Vielfalt ist. Es ist ein Gemeinplatz, über seine Weltoffenheit und seinen Kosmopolitismus zu sprechen5. In vielen Fällen interessierte sich der Schlager für Länder oder Gebiete, 1 Manfred S. Fischer, “Nationales Images als Gegenstand vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie”, in: Aachener Beiträge zur Komparatistik, Bd. 6. Bonn: Bouvier Verlag, 1981, S. 20. 2 Manfred S. Fischer, “Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung nationalimagotyper Systeme” in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 10. 1979, 1, S.30-44. 3 Vgl. Manfred S. Fischer, “Literarische Imagologie am Schneideweg. Die Erforschung des Bildes vom anderen Land in der Literaturkomparatistik”, in: Günther Blaicher (Hrg.) Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachigen Literatur, Tübingen: Narr, 1987, S. 56-57. 4 Vgl. Juan-Fadrique Fernández Martínez, La España estereotipada del Schlager. Análisis imagológico desde 1919 hasta 1957, Diss., Universidad de Sevilla, September 2005. 5 Vgl. “1919-1932 «Lass endlich schweigen, o Republik, Militärmusik, Militärmusik!»”, in: Monika Sperr (Hrg.) Schlager. Das große Schlager Buch. München: Rogner & Berhard, 1978, S. 84-171. Juan-Fadrique Fernández Martínez die mehr oder wenig als exotisch gelten6, für nahe gelegene Länder wie auch für entfernte. Unter den ersten befindet sich Spanien, ein sehr exotisches und relativ nahe gelegenes Land. Dort stelle ich fest, dass das Überleben des romantischen Bildes von Spanien und von den Spaniern mit einer ganzen Reihe von Stereotypen über das Spanische eng verbunden sind. Ein hoch stereotypisiertes Land, mit typischen und wiederholten Motiven und Männer- bzw. Frauen-Prototypen, die bereits von der Romantik und Postromantik in verschiedenen europäischen kulturellen Produkten (Literatur7, klasissche Musik8, Malerei oder Tanz) schon vor der Entstehung der Musikindustrie kultiviert wurden. Die spanischen und lateinamerikanischen Rhythmen (Paso doble, Tango, Rumba und spanischer Marsch9) waren während dieser Jahre für die deutsche Unterhaltungsmusik sehr beliebt, und die Benutzung solcher musikalischen Ressourcen făhrte zu einer Vermischung von Spanischem und Lateinamerikanischem10. Die Stereotype und Vorurteile, die selbst in Restspanien über Andalusien11 existierten (über sein Klima, seine Kultur und sein Volk), sind diejenigen die im deutschen Schlagertext auf das ganze nationale Gebiet bezogen werden, und sie treffen mit dem romantischen Bild zusammen, das sich über unser Land im Europa des 19. Jhs. verbreitet hatte12. Hinweise zur historischen spanischen zeitgenössischen Realität erscheinen selbstverständlich nie (z. B. die Proklamation der Republik im Jahre 1931). 6 Vgl. Willy Seidel, “Exotismus in deutscher Literatur”, in: Der Kunstwart (1928), Nr. 41, S. 148-153. 7 Vgl. Gerhart Hoffmeister, Spanien und Deutschland. Geschichte und Dokumentation der literarischen Beziehungen, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1976. 8 Vgl. Mariano Pérez, “El iberismo en la música europea”, in: Actas del Congreso Internacional España en la música de Occidente, Bd. 2, Madrid: Instituto Nacional de las Artes Escénicas y de la Música, 1987, S. 341-349. 9 Vgl. Christian Schär, Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel in der Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Diss., Zürich: Chronos, 1990. 10 Beispielhaft ist das Lied “Es lebt eine Frau in Spanien” (ca. 1933), in: dessen Text ein Gaucho in Sevilla die Wacht hält. 11 Vgl. Manuel Bernal Rodríguez “Introducción”, in: La Andalucía de los libros de viajes del siglo XIX (Antología), Sevilla: Editoriales Andaluzas Reunidas, 1985. 12 Vgl. Friedrich Brie, Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik, Heidelberg: Carl Winter, 1920, und Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imaginations im 19. Jahrhundert, Berlin, New York: de Gruyter, 2005. 196 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Das Bild der Spanierin im deutschen Schlager während der Weimarer Republik Dieses Merkmal ist konstitutiv für dieses Genre der Schlagermusik, das fremde Regionen besingt – insbesondere wird es vom zentralen Thema der U-Musik bestimmt, d. h. der Liebe13. Es ist relevant aufzuzeigen, dass eine starke Beziehung zwischen den Umweltfaktoren und dem Charakter des spanischen Volkes existiert. In diesem sonnigen Land sind die Spanier, sowohl die Männer wie auch die Frauen, sinnlich, glühend und in der Liebe feurig; das enthält aber auch gewisse Gefahren, die Untreue provoziert die Eifersucht der Spanier. Der Geliebte spielt Musik und singt, das sind seine Waffen um eine Frau zu verführen. Der Torero oder Stierkämpfer gilt als Inbegriff des Männlichen; schlanker, tapferer, glühender Mann, fähig, große Leidenschaften bei den Frauen zu erwecken, in der gleichen Art wie er in der Arena den Begeisterungssturm beim Volk auslöst. So wird hier Spanien manchmal logischerweise als “Das Land der Toreros” bezeichnet14. Für die männliche Hauptfigur (Spanier oder fremder Reisender) wirkt die spanische Frau, die durch ihre eigene und intensive Sinnlichkeit angetrieben und mit ihren künstlerischen Begabungen (der Tanz und das Spielen der Kastagnetten) geschmückt ist, als erotischer Mythos. Die Sinnlichkeit prägt die Luft, für den Tag muss sie auf Grund der strengen Moral unterdrückt werden, aber in der Nacht strömt sie auf. Die spanische Nacht ist intensiv und lang, beginnt in der Taverne, dort wird Wein getrunken, wird reichlich gesungen, aber besonders wird getanzt. Meist tanzt die Frau allein und dabei spielt sie die Kastagnetten, mit schnellen Körperbewegungen und mit der Kraft ihres Blickes schafft sie es leicht, das männliche Publikum zu betören. Es ist der alte Topos von der Frau als Zauberin oder von der Liebe als Gift15. Mitten in der Nacht, wenn der Tanz und die Musik beendet sind, schlägt die Stunde für das Liebesabenteuer des heterosexuellen Paares, denn jetzt ermöglichen die Stadt und die Dunkelheit dank ihrer Anonymität das Liebesspiel. Es ist offensichtlich, dass Spanien als Traumland wirkte, ein Land, auf das einige erotische Phantasien des deutschen Publikums projiziert werden konnten16. Sein E- 13 René Malamut, Zur Psychologie des deutschen Schlagers, Diss., Winterthur, 1964. 14 Im berühmten Schlager “Schöne Isabella von Kastilien” (1932) singt man “[...] dort im schönen Lande der Toreros”. 15 Vgl. Elisa C. Zamora, Juglares del siglo XX: la canción amorosa pop, rock y de cantautor. (Temas y tópicos literarios desde la dialogía en la década 1980-1990), Sevilla: Universidad de Sevilla, 2000. 16 Vgl. Dietrich Kayser, Schlager- Das Lied als Ware. Untersuchungen zu einer Kategorie der Illusions- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 197 Juan-Fadrique Fernández Martínez xotismus17 ist im Wesentlichen von Erotik geprägt. In der spanischen Nacht kann der Reisende das Liebesabenteuer miterleben, dieses ist gleichzeitig gefährlich. Zum Erfolg dieser Thematik trug ohne Zweifel bei, wie diese Musik rezipiert wird, denn als Tanzmusik18 wurde sie meistens in Nachtlokalen gespielt. Aus der langen Reihe von wiederholten Stereotypen und Motiven vom Land und seinen Leuten in den von uns analysierten Schlagertexten, möchte ich hier die Motive über die Schönheit der spanischen Frau präsentieren. Diesbezüglich gibt es keine regionale Differenzierung, das heisst, sie hat immer die gleichen Eigenschaften, unabhängig von ihrer Herkunft, die Frauen von Madrid, Barcelona, Tarragona oder Sevilla sehen gleich aus. Im Lied “Du schönste Frau von Madrid” (1929) erscheinen viele der Stereotype über die spanische Frau. Ihr Name («Carmencita»), ihre schmale Gestalt19 («schlank ist dein Leib», in anderen Texten «schlanke Linie»), die Haarfarbe («schwarz ist dein Haar»), dann kommt die Beschreibung des Blickes («heißer Blick»). Schließlich wird all ihr Charme insgesamt hochgeschätzt («deine Reize sind wunderbar»). Auch erscheint das Motiv von der Sonne; der Einfluss der Umwelt in Verbindung mit Anwesenheit der weiblichen Figur erweckt die Leidenschaft des Mannes: Dein heißer Blick Gibt mir Mut, Spaniens Sonne glüht In meinem Blut! Die Kraft ihres Blickes ist ein sehr häufiges Motiv: «lass mich, lass mich einmal dein Torero sein, für einen Blick, für ein Erbarmen»20. Für die Augen21 wird sehr oft der Vergleich verwendet: «und deine Augen sind so wie Kastanien», außerdem das Wort «Kastanien» bietet die Möglichkeit vom Vollreim mit «Spanien» (Wort, das ziemlich oft auftaucht) z.B. «in deinen Küssen brennt die Sonne von Spanien,/ und deine Au- industrie, Tübingen: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975. 17 Vgl. Wolfgang Reif, Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, Diss., Universität des Saarlandes, 1973. 18 Christian Schär, a. a. O., „Grossstadt-Vergnügen rund um Musik und Tanz”, S. 213-232. 19 Vgl. Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik: Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. Sie geht in ihrer Studie davon aus, dass der Körper ein soziales und physisches Gebilde ist: “Zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch statt” (S. 99). 20 Aus dem Paso doble “Lass mich einmal Deine Carmen sein” (1930). 21 Vgl. Dietrich Kayser, a. a. O., “Exkurs: Die Sprache der Augen”, S. 117-120. 198 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Das Bild der Spanierin im deutschen Schlager während der Weimarer Republik gen sind so wie Kastanien»22. Nur ausnahmsweise wird das Stereotyp über die schwarzen Augen durchbrochen, so hat im Schlager “Ich kann nicht schlafen heut’ Nacht” (1930) die weibliche Hauptfigur nicht nur «reizende und entzückende blaue Augen» sondern «Wangen wie aus Porzellan», auch das Stereotyp der braunen Haut wird hier nicht realisiert. Dieser Bruch unterstützt den humorvollen Text, der Einsatz des Chors hilft auch dabei. Im gleichen Text vergleicht man ihren Blick mit der Zauberkraft: Dein Blick verriet geheimnisvolles Feuer, Man weiß nicht was Sevilla fasziniert. Ich ahne schon, du bist gewiss sehr teuer. Ich bin von dir direkt hypnotisiert. Die Verwendung von Kastagnetten scheint auch Teil der Zauberei zu sein: Du kommst mir heut so spanisch vor, Als wärste aus Sevilla. Dein Blick verleiht dir mehr gar So wie die Kastagnetten, die gleich mein Herz in wilder Tat. 23 Dieser Frauenprototyp befindet sich in der «spanischen Taverne», ein Ort, wo Wein getrunken wird, wo viel getanzt und viel Musik gespielt wird. Dieser Ort ermöglicht besonders die Liebesbeziehung zwischen Tänzerin und Gast. Die spanische Tänzerin besitzt einen anderen moralischen Code als die Hausfrau oder die Mutter. Ihr größerer Freiheitsspielraum erweist sich als Anreiz für die Herren: Die Frau, die ich begehrte, Die ich verehrte und die mir nichts verwehrte, Die fand ich dort! 24 Im Allgemeinen geht es um eine junge Frau, denn meist bezieht man sich auf die weibliche Hauptfigur als «Mädelchen» oder «Señorita», manchmal auch als «Frau», «Donna» oder «Señora». Die Jugend wäre also ein zusätzlicher Wert für ihre 22 Aus dem Schlager “Mein lieber Schatz, bist du aus Spanien” (1931) vom berühmten Vokal-Ensemble Comedian Harmonists. 23 Aus dem Tango “Du kommst mir heut’ so spanisch vor” (ca. 1932). 24 Aus dem Tango “Adios Muchachos!” (Zwei rote Lippen und ein roter Tarragona) (1929). ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 199 Juan-Fadrique Fernández Martínez Schönheit. Die Haupttätigkeit der Spanierin ist Tanzen. Sie tanzt «boleros», den spanischen Nationaltanz, der von den 20er Jahren des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts auf den europäischen und spanischen Bühnen populär wurde25. Bei der Beschreibung des Tanzens werden natürlich viele Details von ihrem Aussehen angegeben. Zum Beispiel im Tango “Donna Klara” (1930): Bei jedem Schritte und Tritte Biegt sich dein Körper genau in der Mitte, Und herrlich gefährlich Sind deine Füße, du Süße Zu seh’n.26 Es gibt viele direkte Hinweise auf die literarische Opernfigur von Carmen, zum Beispiel im Schlager “Lass mich einmal deine Carmen sein” (1929) endet der Refrain mit «küss mich, küss mich, küss mich mal als Carmen» und sie bittet ihren Geliebten «lass mich, lass mich, einmal deine Carmen sein». Carmen ist eine prototypische Figur für die glühende und vor allen in Liebesbeziehungen unabhängige Spanierin. Das letzte Merkmal ist für den männlichen Rezipienten sehr wichtig, denn der Traum eine Carmen zu erobern ist möglich. So wird Spanien zu einer idealisierten Welt voller Carmenes und Josés27. Bezüglich ihrer Kleidung ist grundlegend die Benutzung der «Mantilla», dieses für die deutsche Kultur exotischen Kleidungsstücks – mit ihr bedeckt die Spanierin den Kopf und einen guten Teil ihres Gesichtes – im Paso doble “Valencia” (1925)28, so 25 Vgl. L. Lavaur, Teoría Romántica del Cante Flamenco. Raíces flamencas en la coreografía romántica Europea (Sevilla, 1976), Neuausgabe G. Steingress (Sevilla, Signatura Ediciones de Andalucía, 1999). 26 Aus dem Tango “Donna Klara” (1930) von Comedian Harmonists gesungen. 27 «José» (Hauptperson bei der Oper Carmen von Bizet) und «olé!» (typische spanische Interjektion) reimen sich, deshalb tauchen beide Wörter sehr oft in den deutschen Schlagertexten dieser Jahre auf. Im Schlager “Wie wär´s mal mit Lissabon?” (1931) singen die Comedian Harmonits humorvoll: Toreros, Joses und Kastanien, Gitarren und Gesang im Mondenschein, Oh! Spanien und immer nur Spanien, Ja Kinder fällt euch denn nichts bessres ein? Toreros und Olé! Das ist doch längst passé. Das ist ein Beweis dafür, dass das Thema Spanien in diesen Jahren große Mode war. 28 Das Gespenst der Inflation war 1925 endgültig vertrieben. Die Normalisierung war allgemein spürbar und machte sich bemerkbar im legendären Hit “Valenzia”. Der Erfolg dieses Liebes- bzw. Fernweh- 200 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Das Bild der Spanierin im deutschen Schlager während der Weimarer Republik heißt im Text die Hauptfigur, wird Folgendes gesungen: Sie wiegt sich in der Mantilla Der seid’nen Mantilla, Es funkelte ihre Pupilla. Ein anderes Motiv, das mit ihrem Blick verbunden wird, ist ihr starkes Temperament, ihr heißes Blut, deshalb werden strahlende oder Wärme erzeugende Bilder besonders häufig für ihre Augen und Lippen verwendet (spanisches Feuer, die Glut, wie Geranien leuchten, Pupilla funkelt, in deinen Augen die Sonne strahlt, Mond und Sterne glänzen, in Brand setzen, die rote Laterne lockt). Dies geschieht im Paso doble “Du hast Feuer im Blut” (1931): Du hast das Feuer im Blut, Wie die Frau’n in Spanien, Und deine Lippen voll glut, Leuchten wie Geranien, Du hast mich betört. Eng verbunden mit den Lippen taucht das Motiv des Kusses auf: Die Spanierin küsst besonders leidenschaftlich, und der Kuss symbolisiert die Liebesleidenschaft. Im Lied “Ein Kuss, der muss aus Spanien sein” (1932), wo die Wunder der Welt genannt werden, beginnt der Text mit dem spanischen Kuss: Ein Kuss, der muss aus Spanien sein Ein Walzer nur aus Wien, Und aus Venedig Mondenschein. Die Stimmung von Berlin (...) Zum Schluss möchte ich von einem bestimmten geographischen Determinismus sprechen: So wirkt der Sonnenschein offensichtlich auf die Leidenschaft in “Mein lieber Schatz, kommst du aus Spanien?” (1931): Mein lieber Schatz, bist du aus Spanien? In deinen Küssen brennt die Sonne von Spanien Und deine Augen sind so wie Kastanien Auch alles andre kommt mit mehr als spanisch vor. schlagers führt Theodor W. Adorno auf die erste Zeit nach der Inflation zurück: “Valenzia wird musikalisch das Ausfallstor in alle Ferne für die abgesperrte, verelendete, zerschlagene Bourgeoisie”. Th. W. Adorno: Schlageranalysen, S.111, zit. nach Werner Mezger, Schlager. Versuch einer Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichtigung des Musikmarktes der Bundesrepublik, Bd. 39, Tübingen: Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen, 1975, S. 120. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 201 Juan-Fadrique Fernández Martínez Ich sag’a ... ich sag’o Und ich sage einfach fabelhaft, Eine wundervolle tolle Leidenschaft. Das prototypische Liebespaar wird vom Torero und von der sevillanischen Tänzerin gebildet, es wird nach dem weltbekannten literarischen Modell von Carmen und Escamillo gestaltet29. Diese literarischen Figuren haben wesentlich auf den europäischen kollektiven Bilder-Komplex Einfluss genommen, der die Quelle seiner Inspiration ist. Dieses Modell fungiert als Intertext in vielen Liedern und erklärt, warum unter den unzähligen spanischen Eigennamen für Frauen Carmen (oder die Variante Carmencita) hervorsticht30. Während der Weimarer Republik kommt es häufig vor, dass die dargestellte Liebesbeziehung sehr erotisch klingt. Viele Schlagertexte haben einen Doppelsinn, dem ein scharfsinniger Humor zu Grunde liegt31. Normalerweise übernimmt der Mann die aktive Rolle, trotzdem gibt es einige Fälle, wo die Frau als femme fatale diese Rolle selber übernimmt. Nie hört man die Stimme von einer Hausfrau oder einer Ehefrau. Modernes Tanzen war während der 20er Jahre aber kein Privileg bestimmter Gesellschaftsschichten. Trotz Tanzverbote und der zahlreichen Gegner des modernen Tanzens und der dazugehörigen Schlagermusik beherrschte die Tanzbegeisterung in dieser Zeit die ganze Kulturwelt. Das neue Rollenverhalten zwischen den Geschlechtern und die Liberalisierung der Sexualität trugen sicher viel dazu bei. Im Zeichen der Modernität, verstärkter Demokratisierungstendenzen und engerer Beziehungen zwischen den Kontinenten brachen nach 1900 afro- und hispanoamerikanische Musik und Tanzformen in Europa ein32, die in den folgenden Jahren in Deutschland zu einer Revolution des Gesellschaftstanzes führen sollten. Die zahlreichen Tangos, Paso dobles, spanische Märsche oder Schotis Espagnol (viele von denen nur instrumental) sind ein weiterer Beleg für die «Tanzwut» oder das «Tanzfieber» der Goldenen Zwanzigerjahre. Trotz der scheinbaren imagologischen, semantischen und formalen Einfachheit werden wir im Folgenden sehen, dass die Wurzeln dieser kollektiven 29 Der Roman wurde im 1845 von Prosper Merimée geschrieben und die Oper von Bizet hatte in 1875 Premiere (Meilhac und Halevy schrieben das Libretto über den Roman).Vgl. Francisco Trujillo Rodríguez, Sevilla y los mitos de la ópera, Sevilla: Universidad de Sevilla, 1999. 30 S. Fußnote 27. 31 Der Übergang zwischen den Prosperitätsjahren und der Weltwirtschaftskrise kann zusätzlich an der schwindenden Zahl der überaus heiteren, exzentrischen Schlager beobachtet werden. Die Nonsens- und Quatschlieder beeinflussten die deutsche Unterhaltungsmusik der ganzen 20er Jahre und erreichten seinen Höhepunkt um die Mitte der 20er. 32 Vgl. Christian Schär, a. a. O., S. 73f. 202 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Das Bild der Spanierin im deutschen Schlager während der Weimarer Republik Bilder aus vorherigen Epochen stammen, und sich an den Zeitgeist angepasst haben. Diese Bilder dienen dazu, die wechselnde Realität zu erklären, die die Änderungen (bzw. die Nicht-Änderungen) in der Fremdwahrnehmung mit sich bringt33. Die Bücher, die am stärksten diese vorherigen Bilder von Spanien und von den Spaniern beinflusst haben, sind ohne Zweifel die, die von den romantischen Reisenden34 geschrieben wurden. Sie sind im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden, hier finden wir die Meisterwerke der Gattung, die am stärksten das Spanien- und Andalusienbild beeinflusst haben. Zum Beispiel Washington Irving, Richard Ford, George Borrow35, Theóphile Gautier, Alexandre Dumas und Prosper Merimée36. Die Ähnlichkeiten zwischen den Bildern von beiden Textsorten sind nicht bloßer Zufall, diese Bilder waren wichtiger Teil des europäischen existierenden Kollektivbewusstseins von Bildern über Spanien und die Spanier, wo die Frau nur Lustobjekt für die Männer ist. Als grundlegende Unterschiede kann man drei anzeigen: 1. Die körperlichen Eigenschaften, Gesichtszüge und Charakterzüge der Spanierin und ihrer traditionellen Kleidung (die Benutzung der Mantilla) bleiben unveränderlich. In den Reisebüchern sind nicht alle Spanierinnen hübsch (trotzdem haben alle einen besonders feurigen Blick). In den Schlagertexten dagegen sind alle ohne Ausnahme sehr hübsch. 2. In den Reisebüchern wird ein Unterschied zwischen der Zigeuner-Tänzerin37 und anderen nicht zigeunerischen Frauen (die aristokratische Dame, die populäre Maja) gemacht. In den Schlagertexten stimmt das Stereotyp über die Zigeuner-Tänzerin mit der Spanierin überhaupt überein, es wird nicht sozial unter- 33 Manfred S. Fischer (1979), a. a. O. , S. 31, spricht von der «Historizität national-imagotyper Systeme». 34 Reisebücher über Spanien von deutschen Autoren bleiben ziemlich unbekannt: Wilhelm von Humbold, Joseph Freiherr von Auffenberg, C.E.L. von Arnim, Alfred von Bergh, August Ludwig von Rochau, F. W. Hackländer, Max Mordau, Maximilian von Österreich u.a. schrieben Reisetagebücher. 35 Für die Meinungen der englischen Reisenden ist sehr relevant José Alberich Del Támesis al Guadalquivir. Antología de viajeros ingleses en la Sevilla del siglo XIX. Sevilla: Publicaciones de la Universidad, 1976. 36 Für die französische Reisende siehe León-Francois Hoffmann, Romantique Espagne. L´image de l´Espagne en France entre 1800 et 1850. Paris: Presses Univ. de France, 1961. 37 Vgl. Die Zigeunerinnendarstellung in der deutschen Literatur: Adalbert Stifters Katzensilber, Marie Eugenie delle Grazies Die Zigeunerin, Brentanos Mitidika, Lenaus Mira, Mörikes Elisabeth oder Fontanes Grete Minde. Diese Texte reihen sich in eine Tradition ein, zu der Cervantes «Zigeunermädchen», Merimées Carmen und Hugos Esmeralda. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 203 Juan-Fadrique Fernández Martínez schieden. 3. Das Verschwinden im Schlager der negativen Eigenschaften der Andalusier außer der Eifersucht, die sehr viel beiträgt, den Zustand des Abenteuers bei der Eroberung der Frau beizubehalten. Die Schlagertexte suchten nur bestimmte Motive und Figuren, wiederholten sie ständig praktisch ohne Varianten, mit dieser Simplifizierung verstärkten sie das schon stereotypisierte Bild der Spanierin. Es gab im Wesentlichen keine Konfrontation des subjektiven Bewusstseins, das ein großer Teil der Deutschen von Spanien besaß, mit der tatsächlichen Realität Spaniens. Und die Verfahrensweise, die «das nationale Bild» evoziert, ist, wie gezeigt werden konnte, stereotyp, oberflächlich und simplifizierend. Die Rolle dieser Schlagersorte mit Spanien als exotischem und erotischem Land voller Toreros und Carmenes innerhalb der gesamten Unterhaltungsmusik38 hat mit der Funktion der Trivialliteratur39 viel gemeinsam, besonders in einer politisch polarisierten Gesellschaft wie der Weimarer Republik: die alltäglichen Probleme zu verdrängen. Literatur: 1. B AUER , R OGER : Das Bild des Deutschen in der französischen und das Bild des Franzosen in der deutschen Literatur, Düsseldorf, o.J. [ca. 1972]. (Fraternitas.2.) 2. B ERNAL R ODRÍGUEZ , M ANUEL : La Andalucía de los libros de viajes del siglo XIX. Antología, Sevilla, Editoriales Andaluzas, 1985. 3. B LAICHER , GÜNTHER : "Einleitung des Herausgebers: Bedingungen literarischer Stereotypisierung", 9-25, in: G. Blaicher, Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachigen Literatur, Tübingen, Narr, 1987. 4. B LEICHER , T HOMAS : “Elemente einer komparatistischen Imagologie”, Komparatistische Hefte, 1. 1980, 2, 12-24. 5. B OERNER , P ETER : "Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung", Sprache im Technischen Zeitalter, 56, 313-321. 6. D YSERINCK , HUGO : “Zum Problem der «images» und «mirages» und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft”, arcadia, 1.1966, 107-120. 38 Vgl. Dietrich Kayser, a. a. O., “Schlager in der Tauschwertproduktion. Die Geschichte des Schlagers im Kapitalismus und in der Übergangsgesellschaft”, S. 15-61. 39 Vgl. Hans Dieter Zimmermann, Trivialliteratur? Schema-Literatur!, Stuttgart: Urban TB, 1984 (1. Ausgabe 1979). 204 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Das Bild der Spanierin im deutschen Schlager während der Weimarer Republik 7. D ERS .: Komparatistik. Eine Einführung. Bonn 1977 (Aachener Beiträge zur Komparatistik,1.) 8. D ERS .: “Zur Problematik der «nationalliterarischen Arbeitsmodelle» der Komparatistik und ihrer Begründung in sprachlicher Einheit. Der Fall des niederländischen Sprachgebiets”, in: Edeltraud Bülow und Peter Schmitter (Hrsg.): Integrale Linguistik. Festschrift für Helmut Gipper. Amsterdam 1979, 625-653. 9. F ERNÁNDEZ M ARTÍNEZ , J UAN-F ADRIQUE , La España estereotipada del Schlager. Análisis imagológico desde 1919 hasta 1957, Diss., Universidad de Sevilla, September 2005. 10. F ISCHER , M ANFRED S.: “Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme”, Zeitschrift für Sozialpsychologie, 10, 1979, 1, 30-44. 11. D ERS .: “Nationale Images als Gegenstand vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie”, in: Aachener Beiträge zur Komparatistik, Bd. 6, Bouvier Verlag, Bonn, 1981. 12. K AYSER , DIETRICH : Schlager - Das Lies als Ware. Untersuchungen zu einer Kategorie der Illusionsindustrie, Tübingen, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975. 13. M ADARIAGA , S ALVADOR DE : Englishmen, Frenchmen, Spaniards. An Essay in comparative Psychology, London, Oxford U.P.,1928. 14. M EZGER , WERNER : Schlager. Versuch einer Gesamtdarstellung unter Berücksichtigung des Musikmarktes der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 39, Hrg. Hermann Bausinger, Tübingen: Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen, 1975. 15. R IESZ , JÁNOS : “Einleitung: Zur Omnipräsenz nationaler und ethnischer Stereotype”, Komparatistische Hefte, 1.1980, 2, 3-11. 16. S CHÄR , C HRISTIAN : Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel in der Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Zürich, Chronos, 1990. 17. S PERR , M ONIKA (Hrg.): Schlager. Das große Schlagerbuch. Deutscher Schlager 1800-Heute, München, Rogner & Bernhard, 1978. 18. T RUJILLO R ODRÍGUEZ , FRANCISCO : Sevilla y los mitos de la ópera, Sevilla, Universidad de Sevilla, 1999 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 205 INTERTEXTUALITÄT IN DER LYRIK ANEMONE LATZINAS am Beispiel von Gedichten von Frieder Schuller Delia Cotarlea Der Text Anemone Latzinas „gedicht gemacht aus zeilen des frieder schuller 1978“ soll, wie schon der Titel darauf hinweist, im Jahre 1978 entstanden sein. Das Gedicht ist in keinem Gedichtband der rumäniendeutschen Dichterin publiziert und nach den Recherchen der Verfasserin ist es auch in keine Anthologie oder Publikation aufgenommen worden. Die Collage ist in Frieder Schullers Band „mein vaterland ging auf den roten strich“ enthalten, welcher im Jahre 2005 im Hora Verlag erscheinen sollte. Der Verfasserin ist eine elektronische Fassung des erwähnten Bandes von der Übersetzerin der Schuller-Gedichte überreicht worden und dadurch wurde die Grundlage folgender Untersuchung gesichert. Der Latzina-Text „gedicht gemacht aus zeilen des frieder schuller 1978“ entstand aus der Aneinanderreihung selbständiger Verse aus Gedichten von Frieder Schuller, wie das auch die Überschrift des Gedichtes belegt. Das Verständnis des Textes wird durch die filmische Nebeneinanderstellung manchmal erschwert, der Bezug zwischen den Versen wird schwerfällig realisiert, nach einer aufmerksamen Lektüre aber entsteht ein Gesamtbild. Anemone Latzina verwendete für ihren Text Zeilen aus sieben Gedichten des Frieder Schuller. Die ersten Verse – „der schweigt der Stille / nicht mehr nach dem Munde“ enthalten eine Umkehrung des Sprichwortes jemandem nach dem Munde reden, welches auf Menschen, die keine eigene Meinung vertreten, hindeutet. Es handelt sich in den Zeilen genau um das Gegenteil – man ist nicht mehr mit den politischen Verhältnissen einverstanden und man schweigt nicht mehr. Zugleich enthalten die Verse ein Sprachspiel – der Stille schweigen – ist eine Anspielung auf das Verb stillschweigen – und zwar wird nicht mehr stillgeschwiegen, die Wahrheit bezüglich der Realität muss ausgesprochen werden. Die nächsten Verse sind ein Protest, eine Verweigerung auf Anordnungen zu reagieren – „darum auch diesen Brief / schnell nicht beantworten“. Es folgt ein sprachliches Bild der Verstümmelung der Gesellschaft, die Funktionalisierung der Natur wird deutlich betont, das Holz dient den Tribünen: „es lebe das schweigsame tannengehölz / bevor es aufschreit in tribünen“. Die Zeilen enthalten einen Widerspruch – es lebe ist eine Anspielung auf den Personenkult, im Text findet aber die Umkehrung des Ausdrucks statt. „eine tote Geliebte entgleitet / meiner Nähe / diese heimat / sicher ist sicher“ – In Intertextualität in der Lyrik Anemone Latzinas am Beispiel von Gedichten von Frieder Schuller diesen Zeilen wird das Bild der toten Geliebten an die Heimat gekoppelt, und sie sind beide tot, sie entgleiten der Wahrnehmung des lyrischen Ichs, das nun zum ersten Mal im Text durch das Possessivpronomen anwesend ist. Der Heimatverlust wird als eine Tatsache betrachtet – sicher ist sicher – und durch das Adjektiv tot bekräftigt. Das nächste sprachliche Bild stellt die Unterdrückung durch das politische Regime in den Mittelpunkt: „erschreckte Äste mit fahnen besetzt / kongresse beschatten / mein land“. Der Einschub der erschreckten Äste bezieht sich auf das Tannengehölz, also auf die Verstümmelung, auf die Zerstörung der Gesellschaft, welche erschrocken die abnormen Erscheinungen des Personenkults mitmachen. Die Kongresse der RKP bedecken den Horizont, die Anspielung auf den Totalitarismus ist offensichtlich. In den nächsten drei Versen werden vier Ausdrücke untereinander gekoppelt: „heißer wird der maisbrei nicht / um den man redet / morgenstund / ist aller laster anfang“ – und zwar um den heißen Brei reden, das rumänische mămăliga nu explodează, Morgenstund hat Gold im Mund und Faulheit ist aller Laster Anfang. Die Aussage deutet auf Folgendes hinaus: die Tatsachen werden nicht beim Namen genannt, die Menschen reden um den heißen Brei herum, die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist nicht so groß, damit sich die Menschen gegen das System auflehnen. Die Assoziation der letzten zwei Redewendungen ist ebenfalls überraschend – der Morgen bringt keine Hoffnung, die Nacht ist die Zeit der Laster, welche aber nun vom Tag abgelöst wird. Die Faulheit könnte vielleicht als Grund dieser Umkehrung genannt werden, denn durch Gleichgültigkeit stärkt sich das Regime. Durch diese Haltung bringt jeder Tag Laster. „nur mein vogelsang / ist ganz vogelfrei“ – Die Verse sind doppeldeutig: einerseits ist nur die Stimme des Dichters frei, denn in seinen Gedanken kann er das Gewünschte äußern, andererseits bedeutet vogelfrei allen Gefahren ausgesetzt, das heißt der Dichter ist dem Regime ausgeliefert. Die nächsten Zeilen verweisen auf den Hund, also auf den besten Freund des Menschen: „komm hund / dich hält treue zurück / mich die zensur“ – der Hund bezieht sich auf diejenige, die dem System treu sind, gleichzeitig ist es aber auch eine Anspielung auf den inneren Schweinehund, der sich durch Treue eine Position sichert. Das lyrische Ich hält aber keine Treue zurück, sondern die Zensur. „denn ihre geheimsprache stimmt / im nationalpark gehirn“ – es stellt sich nun die Frage, wessen Geheimsprachen gemeint ist. Verfügte die Zensur über eine Geheimsprache oder führt die Zensur durch Selbstzensur zur Entstehung einer Geheim- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 207 Delia Cotarlea sprache, in der sich der Dichter ausdrücken kann? Der doppeldeutige Vers wird im Kontext nicht disambiguiert. Der Nationalpark Gehirn könnte sich auf die von dem System beabsichtigte Gehirnwäsche beziehen. Zugleich ist der Ausdruck aber auch eine Anspielung auf den ständigen Druck, dem die Gesellschaft ausgesetzt war. Eine positive Interpretation kann ebenfalls geliefert werden: Nationalpark bezieht sich auf Naturschutz, das Gehirn des Dichters schützt sich vor dem Regime sozusagen auf natürliche Weise. Eine eindeutige Interpretation dieser Verse kann meines Erachtens nicht geboten werden. Die letzten Verse bieten ein sprachliches Bild, welches keinen offensichtlichen inhaltlichen Bezug zum restlichen Gedicht aufweist: „wen erste botschaft vom siegesfest trifft / sucht seinen strick im aufbau des sozialismus“ – Die Zeilen sind wiederum doppeldeutig, sie könnten sich möglicherweise auf das Siegesfest des Systems beziehen, wodurch sich das lyrische Ich so sehr von den Aufbauworten ekelt, dass es im Lügennetz den Strick findet. Gleichzeitig könnte der Sieg des Dichters, der Revoltierenden gemeint sein, und diejenige, die sich gegen das System nicht aufgelehnt haben, finden nun ihr Ende in der Utopie des Sozialismus. Die Doppeldeutigkeit der Verse findet im Kontext des Gedichtes keine Klärung. Das Gedicht endet mit dem sprachlichen Bild des Siegesfestes, das eventuell auch als Höhepunkt des Textes betrachtet werden kann. Es ist schwierig als Leser, sich den Gesamtzusammenhang zu rekonstruieren. Die Collage-Technik ist manchmal extrem, weil die inhaltlichen Bezüge zwischen den Versen nicht hergestellt werden können. Das Gesamtbild entsteht letztendlich – das lyrische Ich tritt in den Hintergrund, dadurch rücken die dem Alltag entnommenen sprachlichen Bilder in den Vordergrund und konstruieren das Bild jener Zeiten. Die Anlehnung an O’Haras filmische Darbietungsweise lässt sich nun im Kontext einer kompletten Intertextualität zu Frieder Schuller feststellen – denn Anemone Latzina übernahm die Verse von Frieder Schuller, um selber eine Botschaft gegen den Totalitarismus zu übermitteln – eine von dem kommunistischen Regime verstümmelte Gesellschaft, die sich aber nicht gegen das Regime wehrt. Im Folgenden soll ein kurzer Blick die Gedichte Frieder Schullers streifen, in denen es Verse gibt, die dem Latzina-Text entnommen wurden. „der schweigt der stille/ nicht mehr nach dem munde” stammt aus dem Gedicht „traktor mit dem heiligenschein“. In diesem Gedicht äußert Frieder Schuller Kritik gegen das Regime. Das Symbol des Systems ist ein Traktor, welcher sogar als „agnus dei“ angesprochen wird. Die von Latzina übernommenen Verse sind bei Schuller eine Schlussfolgerung, wobei sie bei Latzina als Ausgangspunkt benutzt werden. In 208 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextualität in der Lyrik Anemone Latzinas am Beispiel von Gedichten von Frieder Schuller Frieder Schullers Gedicht schweigt das lyrische Ich nicht mehr, nachdem es über den Zaun, also über die Grenze geschaut hat. Das Berichten über die westliche Welt ist eine Konsequenz des starren Regimes, welches wenige Reisen in den Westen genehmigte und die Darstellung der kapitalistischen Welt verzerrte. Das Informieren über die tatsächliche abendländische Zivilisation war unumgänglich. In diesem Kontext sind Frieder Schullers Verse eingebettet – es wird nicht mehr im Einklang mit dem Regime geredet, es wird auch nicht mehr geschwiegen, über die existierende Wirklichkeit muss berichtet werden. Anemone Latzina übernimmt die Verse mit ihrer eigentlichen Bedeutung, setzt sie in einen ähnlichen Kontext ein, der Unterschied ist, dass der Text Latzinas von diesen Versen ausgeht. „es lebe das schweigsame tannengehölz / bevor es aufschreit in den tribünen“ stammt aus Schullers Text „willkommen tristess proletarisch“. Tristess ist die Stimmung nach der Liebe; im Gedicht Frieder Schullers wird der Verlust der Ideale in den Mittelpunkt gestellt – das lyrische Ich verspürt Trauer, nachdem es feststellt, dass die Vorstellungen der sogenannten besseren Welt des Sozialismus mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Gleichzeitig erinnert der Vers an den Roman „Bonjour tristesse“ von Françoise Sagan, welcher 1954 durch die freizügige Sommergeschichte, in der die Tochter die neue Liebhaberin des Vaters in den Tod treibt, einen Skandal auslöste. Wegen der angeblichen Unmoral wurde der Roman heftig kritisiert. Die Botschaft des Romans übernahm Frieder Schuller in seinem Gedicht: das kommunistische Regime bestimmt frei über die Bevölkerung, ohne Sorgen oder Schuldgefühle. Es treibt, wie die junge siebzehnjährige Cècil, Menschen in den Tod, es spielt gewissenlos mit ihrem Leben. Die zwei von Latzina übernommenen Verse, wiederum als Schlussfolgerung bei Schuller, knüpfen an den vorherigen Satz an: „auch die Heimat verlangt schon bakschich / und dieses von herzen“. Damit ist wahrscheinlich die zwischenstaatliche Regelung gemeint, durch welche die BRD Geld pro Aussiedlerkopf deutscher Abstammung bezahlte. Die Verstümmelung der Gesellschaft, die Zerstörung der Natur durch das Regime werden zur Sprache gebracht. Bei Anemone Latzina erfahren die übernommenen Verse keine semantische Veränderung, in ihrem Gedicht handelt es sich um die Funktionalisierung der Natur und Gesellschaft zugunsten des politischen Systems. Die meisten Zeilen aus Latzinas Text sind dem Gedicht „kongresse beschatten“ entnommen. Nach der Lektüre des Textes von Frieder Schuller hat die Verfasserin festgestellt, dass die semantischen Merkmale der zitierten Verse unverändert bleiben. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 209 Delia Cotarlea Schullers Gedicht übt Kritik am Regime, spricht erneut die Problematik der Zensur an: sein Text deutet auf die Eingrenzung, Verstümmelung und Zerstörung durch das System hin. „morgenstund / ist aller laster anfang“ übernahm Anemone Latzina aus dem Gedicht „im stadtpark“. Bei Frieder Schuller handelt es sich erneut um eine Schlussfolgerung, bei Anemone Latzina wird diese sozusagen umgekehrte Redewendung an weitere Ausdrücke gekoppelt. Die Bedeutung der Verse verändert sich bei Anemone Latzina nicht, die Grundthematik bleibt erhalten – in dem Gedicht konkretisiert sich der Protest gegen das Regime. Die Lektüre des Gedichtes „komm hund“ gibt Aufschluss über die Verse „komm hund / dich hält treue zurück / mich die zensur / denn ihre geheimsprache stimmt“. Bei Frieder Schuller genießen Herr und Hund den Spaziergang an einer langen Leine, um dann festzustellen, dass sie einer nach dem anderen dem Regime verfallen und es dadurch „zuviel treibjagd / zuwenig spätlese“ gibt. Die sprachlichen Bilder des Gedichtes sprechen erneut über Verstümmelung und Zerstörung, über Funktionalisierung. Sogar die rumänische Volksmusik wird für politische Zwecke eingesetzt. Dadurch entwickelt sich eine Geheimsprache der anderen – „der andern geheimsprache stimmt“ – in diesem Kontext wird nun die Doppeldeutigkeit aus der Latzina-Variante disambiguiert, es handelt sich bei Frieder Schuller um die Geheimsprache des Regimes, durch welche manipuliert werden soll. „im nationalpark gehirn“ stammt aus dem Gedicht „guten morgen liebes abhörgerät“. Dieser Text thematisiert die Verfolgungsverfahren und -strategien im kommunistischen Rumänien. Das System wirkt sich negativ auf das Bewusstsein der Bevölkerung aus, es verkörpert eine tatsächliche Bedrohung – „und ich spüre das beil / im nationalpark gehirn“. Im Gedicht der Latzina ist diese Zeile doppeldeutig, eine der Interpretationen aber geht auf Bedrohung, Manipulation durch das System zurück. Die Verknüpfung zum Ausgangstext bleibt somit erhalten. Die letzten Verse aus Latzinas Collage finden sich in Frieder Schullers Gedicht „Wir singen mit Kopfstimme“ wieder. Schon der Titel des Gedichts von Schuller weist auf die Lügen, die Utopie des Systems hin, denn mit Kopfstimme singen heißt falsch singen. Das Gedicht von Frieder Schuller erweist sich nach der Lektüre als eine Antihymne, es ist ein Protest gegen das kommunistische Regime, das lyrische Ich rebelliert gewaltsam. Die sprachlichen Bilder drücken eine unzähmbare Wut aus: „der balkon bricht heute / er trägt die endlose aussicht auf morgen nicht mehr / fassaden schütteln die losung vom genick / und orgeln schmuggeln sich wutschreie zu / die nacht hält die schlaflosigkeit bereit“. Das Gedicht endet mit den schon bei Latzina 210 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Intertextualität in der Lyrik Anemone Latzinas am Beispiel von Gedichten von Frieder Schuller angetroffenen Versen „wen erste botschaft vom siegesfest trifft / sucht seinen strick im aufbau des sozialismus“. Nach dem gewalttätigen Protest ist es schwer zu glauben, dass nun der Sozialismus gesiegt hat – es ist eher die Vorstellung des Sieges der Demokratie über den Sozialismus. Die Lektüre dieses Gedichts von Frieder Schuller gibt somit Aufschluss über die Bedeutung der Verse im Ausgangstext. Angesichts der Tatsache, dass Latzinas Collage ebenfalls eine Kritik am Regime übt, wird sozusagen die Doppeldeutigkeit der zwei Verse disamguiert: es ist ein Sieg gegen das Regime. Anemone Latzina und Frieder Schuller waren gut befreundet, Latzina kannte die Gedichte von Frieder Schuller, so dass sich die Übernahme von Versen ohne Veränderungen der semantischen Merkmale einigermaßen verständlich ist: Anemone Latzina wollte durch Frieder Schullers Zeilen ebenfalls ein regimekritisches Bild darbieten, was Frieder Schuller ja schon selber in seinen Gedichten erreicht hatte. Meines Erachtens erweist sich das intertextuelle Verfahren als produktiv – die Dichterin Latzina übernahm die Verse, sie kannte den Ausgangskontext und die Ausgangsbedeutung, und es gelang ihr, die separaten sprachlichen Bildern zu einer Gesamtkomposition zusammenzuführen, wobei die Botschaft dieselbe bleibt – das System verstümmelt die Gesellschaft, es zerstört die Umwelt. Anemone Latzina hatte, wie in der vorliegenden Untersuchung veranschaulicht wurde und es auch andere Beispiele belegen1, eine Vorliebe für die Übernahme fremder Textteile. Gleichzeitig gelang es der Dichterin aber auch, die intertextuellen Bezüge nicht zu verwischen und ihre Gedichte trotzdem zu personalisieren. Darin liegt auch der Wert der intertextuellen Technik bei Latzina: Fremdes zu übernehmen und zu Gedichten im knappen, luziden Latzina-Stil zu verdichten. 1 Es gibt in der Lyrik Anemone Latzinas mehrere Texte, welche durch die Technik der Intertextualität entstanden sind – „Siebenbürgische Elegie“, „König Drosselbart“, „Rumpelstilzchen“. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 211 AUSRUF – BESCHIMPFUNG – FLUCH Zum kommunikativen Status kurzer Exklamativformen Martine Dalmas Exklamative Äußerungen sind der direkte Ausdruck einer affektiv-emotionalen Einstellung des Sprechers. In folgendem Beitrag werden Kurzformen solcher Äußerungen unter die Lupe genommen, um das Problem ihrer kommunikativen Funktion aufzuwerfen. Während es nämlich außer Zweifel steht, dass Beschimpfungen einen Adressaten brauchen, stellt sich die Frage, an wen Ausrufe oder – noch deutlicher – Flüche und andere self-talk-Formen sich wenden. Ich werde zu zeigen versuchen, dass es sich in allen Fällen um Kommunikation handelt, dass es aber andererseits ein continuum gibt zwischen Partikeln, die nur die emotionale Reaktion ausdrücken, und Wortgruppen, die einen Sachverhalt emotional bezeichnen und bewerten, neben Formen, die zwar eine lexikalische Struktur enthalten, aber ihre eigentliche Bedeutung weitgehend verloren haben. Dies erklärt die Unterschiede im kommunikativen Status solcher Äußerungsformen, die im sozialen Leben eine wichtige Rolle spielen. 1. Exklamative Äußerungen Exklamative Äußerungen nehmen innerhalb der illokutiven Akte eine Sonderstellung ein. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass sie – im Gegensatz zu den anderen Satzmodi – unterschiedlichen formalen Typen (u.a. Satztypen) entsprechen1 und sich auch auf ein bestimmtes lexikalisches Material sowie auf bestimmte phonologisch-phonetische Faktoren stützen, sondern es erklärt sich auch durch ihren kommunikativen Status. Äußerungen, die als exklamativ interpretiert werden, sind der direkte Ausdruck einer affektiv-emotionalen Einstellung des Sprechers zum dargestellten Sachverhalt, aber der Bezug zum Hörer ist alles andere als eindeutig. Bei kurzen Exklamativformen, bei denen die referentielle Dimension sehr begrenzt ist oder gar fehlt, stellen sich zwei Fragen, auf die ich im Folgenden eingehen möchte: Inwiefern ist ein Adressat involviert? Um welche Kommunikationsform(en) handelt es sich?2 Die Beschränkung auf kurze Exklamativformen erfolgt hier einerseits aus Platzgründen, andererseits aber auch, weil bei solchen Kurzformen die exklamative Les- 1 Vgl. u.a. Näf (1987), Fries (1988), (1991), (1994), Rosengren (1992), Dalmas (2004). 2 Vgl. hierzu auch Suscinskij (1987). Ausruf – Beschimpfung – Fluch. Zum kommunikativen Status kurzer Exklamativformen art ziemlich eindeutig und festgelegt ist. Unter Kurzformen verstehe ich Äußerungen wie die folgenden, die sowohl adressiert [(1)-(4)] oder nicht-adressiert [(5)-(9)] sind bzw. bei denen der Kontext entscheidet, ob ein Adressat vorhanden ist [(10)-(13)]: (1) Und ob! (2) Hör mal! (3) Wo denkst du hin?! (4) Sie Sesselfurzer! (5) O Gott, o Gott, o Gott! (6) Du heiliger Strohsack! (7) Du Schreck! (8) Verdammte Scheiße! (9) Dieser Hund! (10) Wie schön ! / Welch ein Glück! (11) Na, so was ! (12) Mensch Meier! (13) Da lachen ja die Hühner! 2. Kurzformen Zu den „exklamativen Kurzformen“ werden hier feste Formationen gerechnet wie: • Ausrufe, die propositionale Phraseologismen / feste Phrasen sind und als Äußerungen fungieren; • Ausrufe, die kein Verb enthalten, jedoch als selbstständige Äußerungen fungieren. In beiden Fällen hat man es oft mit idiomatisierten Ausdrücken zu tun, die in Situationen hoher Emotionalität die syntagmatische Produktion entlasten; im zweiten Fall kann es sich um eine Partikel bzw. eine Interjektion handeln. Außerdem findet man in beiden Typen von Kurzformen Beschimpfungen und Flüche, d.h. einige von dieser Formeln lassen sich nur durch ihren fest etablierten Gebrauch beschreiben. Wichtig für unser Anliegen ist, den kommunikativen Status aller dieser gebilde zu problematisieren. Im Folgenden wird zunächst zwischen Sequenzen mit referentieller Funktion und solchen ohne referentielle Funktion unterschieden. Danach wird eine weitere Unterscheidung je nach Adressiertheit und Idiomatizität der betreffenden Ausdrücke vorgenommen . Mein Ziel ist zu zeigen, dass diese unterschiedlichen Formen auch unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllen. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 213 Martine Dalmas 3. Partikeln und andere Interjektionen Unter den Einheiten, die keine referentielle Funktion haben, spielen Partikeln und Interjektionen eine zentrale Rolle. Sie sind sprachsystematische Einheiten3, die in erster Linie die Emotion des Sprechers ausdrücken. So beschreibt H. Paul (1920) die Interjektionen als "unwillkürlich ausgestoßene Laute, die durch den Affekt hervorgetrieben werden, auch ohne jede Absicht der Mitteilung". Das heißt, dass Interjektionen im Prinzip keine (eigene) Mitteilungsfunktion haben – bis auf einige Verwendungsweisen in Äußerungen, mit denen der Sprecher indirekt etwas zu verstehen geben will. Aber eben nur indirekt: Goffman (1978) erwähnt in seiner Darstellung von selftalk-Formen einen Ausruf wie „O Gott!“ oder „Mann!“, in einer Situation, wo einer von einem Handwerker eine Rechnung bekommt und ihm sein Entsetzen mitteilen will. Solche Interjektionen können eine Einstellung transportieren, aber diese Mitteilungsfunktion ist begrenzt: Allein können sie nicht (oder schlecht) als Antwort auf eine Frage fungieren, auch nicht auf eine Frage über die Sprecher-Einstellung. Eine solche Funktion erfüllen sie erst in Verbindung mit einem explizit geäußerten Sachverhalt bzw. mit einer Eigenschaft, die der Sprecher als normabweichend betrachtet: "Mann, ist das teuer!". Nach Ehlich (1986) gehören Interjektionen zu dem, was er „Lenkfeld“ nennt; genauer gesagt, gehören sie zu den „expeditiven Prozeduren“, deren Funktion „der unmittelbare Eingriff in Höreraktionen“ ist. Dass in einer face-to-face-Situation der Hörer durch eine Interjektion auf die Sprechereinstellung, auf eine Emotion aufmerksam gemacht wird und aus diesem Grund dann reagieren will und sich sogar in manchen Fällen dazu verpflichtet fühlt, bedeutet aber nicht, dass der Ausruf in erster Linie etwas mitteilen wollte, d.h. dass die Sprecherintention eine mitteilende war. So bei folgenden Interjektionen, die als unmittelbare Reaktion auf einen Sachverhalt zu verstehen sind: (14) Pfui! Igitt! Ih! Anders sind Einheiten zu betrachten, die in der IDS-Grammatik als „interaktive Einheiten“ eingestuft werden und zur Klasse der „Responsive“ gehören. Sie beziehen sich primär auf den Hörer: (15) 3 hallo! na! Vgl. Fries (1992). 214 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Ausruf – Beschimpfung – Fluch. Zum kommunikativen Status kurzer Exklamativformen Aber auch sie haben keine Darstellungsfunktion, sondern eine Appellfunktion. Zu den „expeditiven Prozeduren“ gehören auch manche Vokative, die ebenfalls keine referentielle Funktion haben. Es werden da Wörter benutzt, die entsemantisiert sind, d.h. sie beziehen sich nicht mehr auf den Gegenstand, den sie konventionell bezeichnen, sondern drücken etwas anderes aus, und zwar die emotionale Reaktion bzw. Einstellung des Sprechers: (16) O Mann! („generalisierender Vokativ“) Mensch! Mensch Meier! Heiliger Strohsack! Verfluchter Mist! Dies ist auch der Fall, wenn sie scheinbar adressiert sind, aber der angebliche Adressat sich eindeutig "jenseits der eigentlichen Kommunikationssituation" befindet: (17) Du lieber Gott! Teufel nochmal! Himmel, Herrgott, Sakrament! Himmel, Herrgott nochmal ! Du grüne Neune! Du Schreck! Du Scheiße! Seien es Interjektionen im engen Sinne oder Formen, die entsemantisierte lexikalische Einheiten / Nomina enthalten und die als Flüche benutzt werden: In beiden Fällen sind es weitgehend festgeprägte Formen, „ready made“, die eine sprachliche Veranschaulichung der Wirklichkeit ersetzen. In Anlehnung an Brès (1995) kann man solche Formen als erste Stufe der Aktualisierung betrachten, es werden keine weiteren Operationen gebraucht; in diesem Sinne zeugen solche meistens festgeprägten Kurzformen von der Ökonomie der Sprache: Sie dienen weitgehend zur Entlastung der Sprachbenutzer. Welchen Status diese Äußerungen bei der verbalen Interaktion haben, d.h. wie sie kommunikativ einzustufen sind, wird weiter unten im Zusammenhang mit allen exklamativen Kurzformen diskutiert. 4. Verbale Kurzformen und andere (verblose) Syntagmen Die oben erwähnte Entlastungsfunktion erfüllen auch andere Kurzformen mit einem Verb sowie verblose Syntagmen. Es sind Formen mit referentieller Funktion, sie sind zum Teil erstarrt und haben dann eine phraseologische Bedeutung, die von der wört- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 215 Martine Dalmas lichen Bedeutung mehr oder weniger weit entfernt ist und oft stark idiomatisiert ist. 4.1. Verbale Kurzformen Welche verbalen Formen zu den Kurzformen gerechnet werden sollen, hängt von der Definitionsbreite ab. Zu solchen Formen rechnen wir: • festgeprägte verbale Äußerungen: Sie sind meistens relativ kurz, denn sie müssen als Ganzes gespeichert werden. Die exklamativen Formen sind umso kürzer, als sie emotional geprägt sind. Nicht alle sind idiomatisch. (18) Da lachen ja die Hühner! Ach, du kriegst die Motten! Das fehlte gerade noch! Wo denken Sie hin! • festgeprägte Satzschemata wie N und Vinf. (19) Sie und kochen! 4.2. Verblose Kurzformen Als verblose Kurzformen betrachten wir: • feste Äußerungen (die nicht immer idiomatisch sind) wie folgende: (20) Hand aufs Herz! Und wie! Und ob! Verflixt und zugenäht! • festgeprägte Schemata (NP) vom Typ So ein N! / Welch ein- N! / Dies- N! / D- N! (21) Maier gab es auf, nach Umschreibungen zu suchen. Er erzählte, was ihm widerfahren war und was er seitdem gemacht hatte. «Ach du dickes Ei! So eine verkorkste Chose!» sagte Ruschewey, als Maier fertig war, stand auf, trat ans Fenster und sah, Maier den Rücken zudrehend, hinaus. «Und was, dachtest du, soll ich dir dabei helfen, Moritz?» fragte er schließlich über die Schulter. (Hj. Martin, Einer flieht vor gestern Nacht 92) In all diesen Fällen geht es darum, etwas mitzuteilen. Solche Ausdrücke können sich mit einer Interjektion kombinieren und stellen die referentielle Verbindung wieder her: (22) Pfui! diese Suppe! Ih, dieser Käse! Es handelt sich meistens um einen subjektiven Kommentar, den der Sprecher auch für sich selbst machen kann bzw. im inneren Monolog an sich selbst richten kann. So 216 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Ausruf – Beschimpfung – Fluch. Zum kommunikativen Status kurzer Exklamativformen die wiedergegebenen Gedanken in folgenden Beispielen: (23) « Gregor », rief es – es war die Mutter – « es ist drei Viertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren ? » Die sanfte Stimme ! Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war […] (F. Kafka, Die Verwandlung 21] (24) Denn wenn sie nicht trank, konnte sie die Erinnerung an Jean, den süßen, einmaligen, wunderbaren Jean – diesen Hund, diesen Barbaren ! – überhaupt nicht mehr ertragen. Mit Kognak ging es einigermaßen. (J. M. Simmel, Es muss nicht immer Kaviar sein 166) (25) «Ja… ja, schon… aber… » Frau Rokoszny blinzelte und suchte nach Worten. Dieser verfluchte Kirschlikör bei Grete! Sie hatte zwar nur drei Gläschen - oder vier…? (Hj. Martin, Einer flieht vor gestern Nacht 110) Steht die NP allein, d.h. ohne Interjektion, dann enthält sie eine evaluative Komponente, die meistens entweder durch das Nomen selber oder durch das attributive Adjektiv ausgedrückt wird, in manchen Fällen kann sie aber implizit bleiben: (26) Dieses Kind! 5. Beschimpfungen und Verwünschungen Eine Sonderstellung innerhalb der verblosen Kurzformen mit referentieller Funktion nehmen Beschimpfungen und Verwünschungen ein; sie wenden sich eindeutig an einen Adressaten: (27) Da sprang das Mädchen Brigitte ihn wie eine Katze an. "Du Schwein!" fauchte sie und krallte ihre Finger in sein Gesicht. "Du dreckiger, du mieser… " "Au! Du Miststück!" schrie er, keuchte und schlug zu. Sie taumelte gegen Zizie, die ihr mit einer schnellen Bewegung ihren Schal um den Hals schlang und ihn zuzuziehen begann. (Hj. Martin, Einer flieht vor gestern Nacht 119) (28) "Freya ist die Schwester Freyrs, Tochter des Njörd, Schirmherrin des Ackers und der Feldfrüchte und Göttin der Fruchtbarkeit und der sinnlichen Liebe — bei den alten Germanen, Sie ungebildete Pädagogin!" (Hj. Martin, Blut ist dunkler als rote Tinte 57) Das Personalpronomen bestätigt die Existenz eines Adressaten und die NP hat eine charakterisierende Funktion; sie enthält eine evaluative (negative) Komponente, die entweder durch das Nomen selbst oder durch das Adjektiv ausgedrückt wird. Zu den bevorzugten Bezeichnungen gehören Tiernamen, Namen von bestimmten Körperteilen oder Körperausscheidungen; die Liste der in Frage kommenden Elemente ist offen, in diesem Bereich sorgt Kreativität für die Wirksamkeit der Äußerung! Hier ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 217 Martine Dalmas nur einige wenige Beispiele: (29) Hund, Schwein, Gans, Kuh, Esel, Ochse, Ziege etc. (30) mies, schleimig, blöd, faul, kaputt, verbraucht, modernd, ranzig, schimmelnd, stinkig, kotzend (31) Arsch, Arsch mit Ohren, Arschgesicht, Arschauge, Arschamputierter, Arscheimer, Arschloch, Müllhirn, Pissklumpen, Bettnässer, Bettpisser, Furzbär, Furzakrobat, Furzklemmer, Rotzkerl, Rotzgöre, Scheißer, Schweißfußindianer, Kackmeier, Sesselfurzer, Sesselbumser, Auch wenn Beschimpfungen/Verwünschungen prinzipiell adressiert sind, gibt es Fälle, bei denen sie nicht richtig rezipiert werden. Es handelt sich dabei um Äußerungen, die nicht gehört werden sollen. Sie haben zwar einen Adressaten, aber keinen Empfänger und nehmen eine Zwischenstellung zwischen Beschimpfung und Fluch ein. Diese Übersicht über exklamative Kurzformen zeigt, dass die Grenzen in mehrfacher Hinsicht fließend sind und dass Mitteilen nur ein Sonderfall der Kommunikation ist. Abschließend möchte ich auf die Frage nach der kommunikativen Funktion der nicht-adressierten oder nicht in Empfang genommenen Formen eingehen. 6. Die Interjektion und der Fluch als self-talk-Formen Normalerweise sollte man nicht sprechen, wenn man allein ist... Und man sollte auch nicht mit sich selbst sprechen, wenn andere dabei sind. In seinem berühmten Text über den self talk erwähnt Goffman (1978) Situationen, in denen wir sozial 'berechtigt' sind zu sprechen, obwohl wir keinen Gesprächspartner bzw. keinen Rezipienten haben. Es sind zum Beispiel Situationen, wo wir allein sind und unsere Handlungen kommentieren oder wo wir uns an jemanden wenden, der abwesend ist... Solche Ausnahmen sind oft exklamativer Art, und sie lassen sich meistens durch den sozialen Kontext erklären. Es kann sich dabei um Reparaturhandlungen handeln, die auch ohne „Gegenüber“ erfolgen können, wie z.B. der Fluch oder die Beschimpfung eines Gegenstandes, der im Zusammenhang mit einem face-threatening act als störend empfunden wird. Diese exklamativen Äußerungen haben keine konversationelle Funktion, wohl aber eine kommunikative, denn der Sprecher tut, als ob jemand es hören könnte. Sie kommen in Situationen vor, in denen es darum geht, sich laut zu äußern, Situationen, in denen man es sogar manchmal muss, "soziale Situationen", die keine Konversationen im üblichen Sinne sind. Ein extremer Fall sind die Interjektionen, bei denen der Sprecher eigentlich nur "Stimm- und Lautträger" ist... 218 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Ausruf – Beschimpfung – Fluch. Zum kommunikativen Status kurzer Exklamativformen 7. Zwischen Sprache und Verhalten Zusammenfassend können exklamative Kurzformen wie folgt eingeteilt und charakterisiert werden: 1) Interjektionen und Flüche • Sie sind in erster Linie ein bloßes "Sich-äußern" – ein Rezipient ist nicht unbedingt anwesend. • Interjektionen haben eine Signalfunktion und können insofern adressiert sein. 2) Vokativformen als Beschimpfungen • Sie sind adressiert. Ob anwesend oder nicht: Der Adressat wird als solcher markiert. 3) Andere Formen mit referentieller Funktion • Sie haben eine Mitteilungsfunktion (mit Ausnahme des inneren Monologs). • Was mitgeteilt wird, ist ein Sachverhalt und dazu die emotionale Einstellung des Sprechers. Die Fälle unter 1) und 2) verweisen deutlich auf die soziale Funktion der Sprache und auf den Status der Sprachbenutzer als soziale Instanzen. Insofern sind viele Exklamativformen in erster Linie als Verhaltensweisen zu betrachten, denn sie befinden sich an der Nahtstelle zwischen Sprache und Verhalten. Literatur: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. BRÈS, JACQUES. 1995. – hou! Haa! Yrrââ!: Interjection, exclamation, actualisation. In Faits de langue n° 6, 81-91. DALMAS, MARTINE. 2004. Wenn einer ruft… Ausrufe, Aufrufe und dergleichen. Abgrenzung aufgrund der diskursiven Haltung. In Krause, Maxi / Ruge, Nikolaus (Hrsg.), 67-76. EHLICH, KONRAD. 1986. Interjektionen. Tübingen: Niemeyer. [= Linguistische Arbeiten 111] Faits de langue n° 6, septembre 1995. L’exclamation. FRIES, NORBERT. 1988. Ist Pragmatik schwer! Über sog. ‘Exklamativsätze' im Deutschen. In Sprache und Pragmatik 3, 1-18. FRIES, NORBERT. 1991. Interjektionen und Interjektionsphrasen. In Sprache und Pragmatik 17, 1-43. FRIES, NORBERT. 1992. Interjektionen, Interjektionsphrasen und Satzmodus. In Rosengren, Inger (Hrsg.), 307-341. FRIES, NORBERT. 1994. Grammatik, Emotionen und Äußerungsbedeutung. In Sprache und Pragmatik 33, 1-37. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 219 Martine Dalmas 9. GOFFMAN, ERVING. 1978. Response cries. In Language Vol. 54, n° 4, 787-815. 10. KRAUSE, MAXI / RUGE, NIKOLAUS (Hrsg.). 2004. Das war echt spitze! Zur Exklamation im heutigen Deutsch. Tübingen: Stauffenburg. 11. MEIBAUER, JÖRG (Hrsg.). 1987. Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Tübingen: Niemeyer. [= Linguistische Arbeiten 180] 12. NÄF, ANTON. 1987. Gibt es Exklamativsätze?. In Meibauer, Jörg (Hrsg.), 141-160. 13. PAUL, HERMANN. 1916-1920. Deutsche Grammatik. Halle: Niemeyer. 14. ROSENGREN, INGER. (Hrsg.). 1992a. Satz und Illokution. Band I. Tübingen: Niemeyer. [= Linguistische Arbeiten 278] 15. ROSENGREN, INGER. 1992b. Zur Grammatik und Pragmatik der Exklamation. In Rosengren, Inger (Hrsg.) 263-306. 16. SUSCINSKIJ, I. I. 1987. Zur kommunikativen Funktion des Ausrufesatzes . In Deutsch als Fremdsprache 24, 156-160. 17. ZIFONUN, GISELA / HOFFMANN, LUDGER / STRECKER, BRUNO. 1997. Grammatik der deutschen Sprache. Berlin/New York : De Gruyter. Quellen 1. 2. 3. 4. KAFKA, FRANZ. Die Verwandlung. Frankfurt/Main: Fischer. MARTIN, HANSJÖRG, Einer flieht vor gestern nacht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. MARTIN, HANSJÖRG. Blut ist dunkler als rote Tinte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. SIMMEL, JOHANNES MARIO. Es muss nicht immer Kaviar sein. München: Knaur. 220 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 INTEGRATION DURCH SPRACHE? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten Matthias Buth Französische Unruhen Wie wird der Herbst 2007? Was kommt von Frankreich nach Deutschland? In den Herbstmonaten des Jahres 2005 brannten in Frankreich tausende von Autos. In den Vororten der großen Städte der französischen Republik, in den Banlieues, begannen Krawalle. Jugendliche Migranten und viele junge Franzosen, die sich aus sozialen Gründen zu den Chancenlosen zählten, begingen Sachbeschädigungen, Brandstiftungen und Körperverletzungen in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Unruhen breiteten sich rasch aus, zunächst betrafen sie nur das Pariser Umland und ausgehend vom Oktober 2005 erfassten sie fast alle Départements. Erst nachdem fast 30.000 Autos in einigen Wochen in Flammen aufgegangen, 17.500 Müllcontainer verbrannt und viele städtische Einrichtungen (wie Bushaltestellen und Telefonzellen) zu Bruch gegangen waren, konnte nach massivem Einsatz der Gendarmerie und nach Ausrufung des Ausnahmezustandes durch die französische Zentralregierung ein vorläufiges Ende der Krawalle herbeigeführt werden. Ein wirtschaftlicher Schaden von ca. 240 Mio. € war entstanden. Auslöser für diese Krawalle war der Tod von zwei Jugendlichen, die sich der Polizeikontrolle entziehen wollten und dabei zu Tode kamen. Es waren junge Menschen mit sog. Migrationshintergrund, also Einwanderer überwiegend aus Nordafrika, die vor der Polizei flüchteten. Auch im März und Ende Mai 2006 kam es wieder zu flächendeckenden Protestaktionen, diesmal in den französischen Universitäten. Die Studenten und die sich rasch mit ihnen solidarisierenden Universitätspräsidenten wollten eine arbeitsrechtliche Verschärfung nicht akzeptieren, wonach sie in einem Zeitraum von 24 Monaten bei einer Anfangsstelle jederzeit gekündigt werden konnten, somit geradezu rechtlos sein würden. Diese erneuten Unruhen in Frankreich führten dazu, dass der französische Premierminister de Villepin seine Reise nach Berlin zum deutsch-französischen Ministerrat am 14. März 2006 absagte und in Paris blieb. Am 12. Oktober 2006 trat der deutsch-französische Ministerrat wieder zusammen. Die Unruhen von 2005 flammten wieder auf. Die Lunte brennt weiter, 2007 und die folgenden Jahre. Der in Frankreich lebende libanesische Schriftsteller Amin Maalouf äußerte sich in Quantara.de analytisch und betonte, dass das Problem der Integration in Frankreich Matthias Buth vernachlässigt worden sei. Man sei davon ausgegangen, es gäbe „eine Art Zaubereffekt, der irgendwann einträfe und die Jungen aus den Vorstädten irgendwann zu richtigen Franzosen werden ließe”. Was fehle, sei eine „gründliche und von der Politik unabhängige gedankliche Aufarbeitung des Problems”, was aber nicht in Sicht sei. Es gebe keine Verständigung mehr zwischen Arabern und dem Westen und „der Gaben zwischen Orient und Okzident” sei „tiefer als noch vor 20 oder 30 Jahren”. Trotz der gemeinsamen Sprache gebe es keine Verständigung. Zwar sage man den Kindern der Einwanderer, dass sie alle Franzosen seien, aber die Betroffenen fühlten sich von der französischen Gesellschaft abgeschnitten und auf die eigene Gemeinschaft zurückgeworfen. Die Luftangriffe Israels im Juli/August 2006 auf den Libanon und die weit reichenden Raketen der von Syrien und Iran gesteuerten Hisbollahtruppen auf israelische Städte zerstören nicht nur Menschenleben, sondern vertiefen auch die mentalen Gräben in den europäischen Einwanderungsgesellschaften wie Frankreich. Die Unruhen und die Besorgnisse in der jüngeren Generation sind also tief liegend und tangieren das Grundverständnis der französischen Gesellschaft. Während die letzteren genereller Natur sind und alle Jugendlichen erfasst, sind die BanlieuesUnruhen vom Herbst 2005 ein Spezifikum der Migrantenjugendlichen in den Ballungszentren der Vororte der großen Städte, insbesondere von Paris. Sie werden bald wieder ausbrechen. Die Gründe für die Unruhen sind zwar unterschiedlich, jedoch in einem gleich, nämlich in der Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen in Frankreich, getragen von dem Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht richtig wahrgenommen zu werden. Wenn der französische Premierminister de Villepin dabei sogar den Begriff Unruhe („riots”) für die Banlieue-Krise vermeidet und lediglich von sozialer Unrast spricht und der französische Innenminister Sarkozy durch Gesetzesänderungen noch schärfere Kontrollen der Einwanderung nach Frankreich in Aussicht stellt und Imigration einzig dem nationalen Interesse Frankreich unterordnen und zudem die Familienzusammenführung erschweren und das schon bestehende Polygamie-Verbot bei Migrantenfamilien stärker überwachen will, ist damit ein Klima entstanden, das weitere Unruhen befürchten lässt. Gleichzeitig wird erkennbar, dass sich die französische Gesellschaft atomisiert und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit zu sozialen Spannungen führt. Besonders gravierend ist dies in den eingekapselten Migrantensiedlungen. Von den 3,2 Mio. Ende 1999 legal im französischen Mutterland lebenden Ausländern kamen 37,8 % aus anderen EU-Ländern (Anteil der Portugiesen 47,2 %), 37 % aus Maghrebstaaten (Algerier 47,6 %), 9,7 % aus sonstigen europäischen und 8 % aus anderen afrikanischen Staaten. 222 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Integration durch Sprache? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten Integration und Kultur Wie Frankreich steht auch Deutschland vor großen Problemen in der Integration von zugewanderten Minderheiten. Allerdings vermeidet die französische Staatsregierung gerne den Begriff „Integration” – er klingt nach Defizit und Versagen – und spricht lieber von „Chancengleichheit und Antidiskriminierung”, - so die offizielle Regierungssemantik der französischen Regierung. Will man sich den Ursachen nähern, ist es erforderlich, sich über die grundlegenden Begriffe der Migrationsforschung zu verständigen. Es ist ja eine Tatsache, dass in einer Gesellschaft mehrere Ethnien und soziale Gruppen leben, die sich nicht nur durch die Sprache und ihr Herkommen, sondern zumeist auch durch unterschiedliche Weltanschauungen - getragen meist durch religiöse Überzeugungen – unterscheiden. Entscheidend für die unterschiedlichen Probleme und Verwerfungen der Gesellschaften in Frankreich aber auch in Deutschland ist der Verlust einer gemeinsamen Sprache bzw. das Nichteintreten in den sprachlichen Code der Mehrheitsgesellschaft. Leitbegriff für die Soziologie ist im Bereich der Migrationsforschung der von Friedrich Heckmann geprägte Begriff Ethnizität, der bedeutet, dass Gruppen von Menschen kulturelle Gemeinsamkeiten haben aufgrund von geschichtlichen und aktuellen Erfahrungen, die sie mit Vorstellungen über gemeinsame Herkunft verbinden und somit ein Identitäts- und Solidarbewusstsein herausbilden. Für die Zusammenfassung der Begriffe „Stamm, Rasse, Volk, Nation, ethnische Gruppe” bietet sich dieser Begriff an. Die zunehmende Bedeutung der Ethnizität ist meist eine Antwort auf gemeinsame Diskriminierungserfahrungen wie in Frankreich, so dass Angehörige ethnischer Gruppen versuchen, durch wechselseitige Unterstützungen und Belebung einer Gruppenkultur ihre Gruppe und ethnische Kultur zu stärken. Die Stärkung der ethnischen Gruppe wird Teil eines Widerstandes gegen Diskriminierung und Benachteilungen. Ethnizität ist ein Reflex bisher benachteiligter Gruppen auf das Aufbrechen älterer politischer und ökonomischer Strukturen. Die Ethnizität der Migrantengruppen äußert sich vor allem sprachlich, d.h. in der mitgebrachten Sprache (meist der arabischen Sprachen aus den Magrebregionen) und im „mitgebrachten” Französisch der französischen Überseeprovinzen und Regionen sowie anderer französischsprachiger Länder, also in einem Französisch, das nicht genau dem der französischen Mehrheitsgesellschaft entspricht und insofern sozial auffällig ist. Nationalstaatsvorstellungen Das Migrantenproblem wird besonders von der Nationalstaatsidee Frankreichs bestimmt. Dieses wurzelt im Sprachregime der französischen Republik. Es ist Aus- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 223 Matthias Buth druck des nationalen Kulturprinzips, das sich schon im 18. Jahrhundert vor der Französischen Revolution im Jahre 1789 in Frankreich und auch in Deutschland entwickelte. Die Fürsten der Renaissance setzten Staatenbildung gegen lokale Feudalgewalten und kosmopolitisches Christentum durch. Im Gegensatz zu Deutschland, wo adelige, ritterliche und kirchliche Feudalherren und später auch die Städte bestrebt waren, eine feste politische Organisation und selbständige Staatsgewalt zu verhindern, war die Entwicklung in Frankreich mit einem zentralen Königtum, das absolutistische Macht konzentrierte, völlig anders. Die Nationalstaatsidee entwickelte sich so in Frankreich aus einem Zentrum, in Deutschland hingegen polyzentrisch in den zahlreichen Fürstentümern, Städten und letztlich auch durch die Reformation, mit der Partikularinteressen verfolgt wurden. Deutschland ist ein ethnisch und kulturgeschichtlich begründeter Nationalstaat, der ethnische Minderheiten als Problem empfinden muss, quasi als Verletzer einer Staatsidee. Dieses Problem lässt sich entweder durch Assimilierung oder durch Kontrolle fremder Minderheiten lösen. In Frankreich besteht jedoch eher das demotischunitarische Nationskonzept, d.h. die Nation wird politisch begründet durch die Gemeinsamkeit von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Überzeugungen und ist nicht primär abgeleitet aus einer gemeinsamen Abstammung. Nation ist dabei ein innergesellschaftlicher Begriff und nicht ein Begriff, der die Außenbegrenzung des Staates meint. Hauptakteur der französischen Revolution von 1789 war eben nicht „der Franzose”, sondern der „citoyen”. Politisches und nicht-ethnisches Denken zeigte sich dabei auch bei der sog. Judenfrage, wonach entscheidend war, ob ein Jude an den gemeinsamen Aufgaben mitarbeiten könne und nicht, ob die Juden gleicher, d.h. französischer Abstammung waren. Die Französische Revolution erforderte ein kulturelles Vereinheitlichungs- und Zentralisierungsprogramm, das Ideen aus dem absolutistischen Staat fortführte. Entscheidende Mittel waren: Allgemeine Wehrpflicht, die Volksarmee und als militärische Notwendigkeit die Vereinheitlichung der Nationalsprache. Genau darauf kam und kommt es im Frankreich der Vergangenheit und Gegenwart stets an. Das ethnische und kulturelle Herkommen der Minderheiten hat sich also unmittelbar im (neuen) Status als französischer Staatsbürger aufzulösen. Abstammung und kulturgeschichtliche Begründung des Individuums sind für Frankreich unbedeutende Größen. Aus diesen Grundvorstellungen entwickelte sich der Begriff „citoyenneté”, der nicht nur nationale Zugehörigkeit bezeichnet, sondern als politisches Projekt Ausdruck des französischen Selbstverständnisses ist. Nach der Nationalstaatsidee Frankreichs müsste das Migrantenproblem ein geringeres sein als in Deutschland, d.h. jeder kann Franzose werden, der dem Legitimati- 224 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Integration durch Sprache? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten onsprinzip entspricht, nämlich bereit zu sein, die Werte der französischen Republik zu übernehmen und „citoyen” zu werden. Das französische Staatszugehörigkeitsrecht ist ein Kompromiss zwischen „Bodenrecht” (jus soli) und „Blutsrecht” (jus sanguinis). Das jus soli des Ancien Régime, das bis zur Revolution 1789 Gültigkeit hatte, ersetzte Napoleon I. im bürgerlichen Gesetzbuch durch das jus sanguinis. Das Staatszugehörigkeitsrecht wurde allerdings nach und nach durch Regelungen nach dem jus solis geändert, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es darum, aus Ausländern Franzosen zu machen, weil Frankreich sein im Vergleich zum übrigen Europa frühzeitiges demographisches Defizit durch Einwanderung und Einbürgerung wettmachen wollte: Frankreich brauchte Soldaten. Das 1851, 1869, 1889, 1927, 1945 und 1973 geänderte Staatsangehörigkeitsrecht ist heute im Gesetz vom 25. Juni 1993 verankert, das wiederum in den Gesetzen vom 16. März 1998 und 26. November 2003 novelliert wurde. Man ist Franzose, wenn man die Sprache spricht, da man damit die Kultur verinnerlicht hat und so am politischen und ökonomischen Leben teilnehmen kann. Und so ist es selbstverständlich, dass für Frankreich Albert Camus ein Franzose ist und nicht etwa ein Algerier oder ein Schriftsteller aus dem Volk der Berber. Das macht auch verständlich, dass die Unterstützung des Petitums Algiers, Frankreich solle sich für die Kolonisierung Algeriens von 1830-1962 entschuldigen, zwar durch den ehemaligen Kulturminister Jack Lang gegeben ist, das offizielle Frankreich jedoch nie zustande bringen wird. Mit dem Eintritt in die französische Sprache und besonders in die französische Hochsprache und Literatur hat er sein Franzosentum in besonderer Weise manifestiert. Die Sprache ist das, was – um Goethes „Faust” frei zu zitieren – Frankreich „im Innersten zusammenhält”. Je mehr perfekt und assimiliert die französische Sprache beherrscht wird, desto eher findet der Migrant Eintritt in die französische Gesellschaft oder eben nicht. Die Entwicklung der französischen Sprache Es ist deshalb erhellend, sich die Sprachwerdung des Französischen zu vergegenwärtigen, denn diese ist bestimmend für das nationale Werden und das Selbstverständnis Frankreichs. Die französische Sprache gehört zu denjenigen indoeuropäischen Sprachen, die sich aus dem Latein entwickelt haben. Das Latein hat einen großen Einfluss auf die Grammatik und auf den Wortschatz der romanischen Sprachen gehabt und hat viele Spuren hinterlassen. Die Entwicklung des Französischen hängt einerseits mit den Kontakten zu anderen Völkern, andererseits mit den regionalen Entwicklungen und Veränderungen zusammen. Im Mittelalter ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 225 Matthias Buth waren die offiziellen Sprachen in Frankreich das Latein für die Kirche, für die Gelehrten und die Politiker und die Dialekte, die vom Volk gesprochen wurden. Diese Koexistenz blieb bis zum 17. Jahrhundert erhalten, in kirchlichen und universitären Bereichen auch länger. In dieser Zeit entwickelte sich die französische Sprache in mehreren verschiedenen Dialekte, die von Region zu Region sehr unterschiedlichen waren. Man kann grundsätzlich die Dialekte vom Norden (langue d’oeil) und die vom Süden (langue d’oc) unterscheiden. Im Mittelalter entwickelt sich eine besondere französische Literatur an den Höfen. Es gab die „trouvères” im Norden Frankreichs, die Geschichten und Lieder auf „langue d’oeil” unter den reichen Leuten verbreiteten. Im Süden wurden sie „troubadours” genannt und sangen auf „langue d’oc”. Im Jahr 1539 wird von Villers-Cotterêt eine „ordonnance” proklamiert, mit der der König François I. will, dass alle Gesetze auf Französisch übersetzt werden. Dadurch kann sie auch das Volk verstehen. Am Ende des 13. Jahrhunderts gibt es in Frankreich noch zwei offizielle Sprachen: Latein und Französisch. Man beginnt jedoch das Französische als „Sprache des Königs und des Volkes” zu erkennen. Während des Hundertjährigen Krieges und durch den Humanismus wird es häufiger verwendet, die Grammatik und die Aussprache werden vereinfacht, der Wortschatz bereichert. Mit der Renaissance entwickelt sich der Buchdruck, die Problematik der offiziellen Sprache verstärkt sich. Dadurch entsteht das Bedürfnis, die politischen und religiösen Schriften zu übersetzen. In dieser Zeit verbreitet sich der Gebrauch der französischen Sprache und es werden erstmals Wörterbücher veröffentlicht. Es entsteht die „Pléïade”, ein Verbund von Gelehrten, die den Gebrauch der alten Sprache stark kritisieren, um die „Deffence et illustration de la langue française” zu betonen. Nicot und Estienne veröffentlichen zwei neue Wörterbücher. Mit der Entstehung der „Académie française” beschäftigen sich die Gelehrten und die Intellektuellen mit den Bereichen der Grammatik, Orthographie, Lexikologie und Aussprache. Noch heute verpflichtet sich die „Académie française” zur Bewahrung, Erhaltung und Veränderung des Französischen. In der Aufklärung verbreitet und raffiniert sich die Lehre der französischen Sprache dank der zahlreichen Veröffentlichungen von Wörterbüchern, Büchern und dem Erscheinen der „Encyclopédie”. Die französische Sprache wird eine internationale Diplomaten-Sprache, die an allen Höfen und Konsulaten gesprochen wird. Diderot, Vol- 226 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Integration durch Sprache? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten taire und andere Intellektuelle verfechten die These, dass diese Sprache dank ihrer Klarheit und Rationalität perfekt sei. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt die Epoche der Revolution. In der Sprache verschwinden Begriffe, um Platz für neue politische, institutionelle und soziale Begriffe, auch aus der englischen Sprache, freizumachen. Während der Revolution kann ein großer Teil der Bevölkerung die französische Sprache verstehen, aber nicht schreiben: jeder vierte Einwohner, vor allem auf dem Land kann nichts anderes als die „patois” oder den regionalen Dialekt. Die Syntax entwickelt sich ständig und manche Begriffe werden in allen Ländern gleich übersetzt und verwendet, zum Beispiel „citoyen”. Es verbreiten sich langsam die Gymnasien, in denen es eine Rückkehr zur lateinischen Sprache gibt und die wissenschaftlichen Fächer immer mehr Gewicht bekommen. Es erscheinen die neuen Wörterbücher von Larousse und Littré, denen neue wissenschaftliche Begriffe hinzugefügt sind. Volkssprache und „argot” erhalten ab jetzt das Recht, in der Literatur zu erscheinen. Der Fortschritt der öffentlichen Volksbildung hat allgemein eine bessere Kenntnis der Sprache und die Entwicklung der Gesellschaft bewirkt, dass jeder Bürger durch die Sprache die Fähigkeit erwirbt, sich auch in dem Alltag zu verteidigen und seine Rechte ausüben zu können. Die mündliche Sprache scheint in den letzten Jahrzehnten ständig Sprünge nach vorne zu machen. Die Abkürzungen vermehren sich, wie zum Beispiel „métro, ciné, accu” etc. Der Wortschatz der Wörterbücher vergrößert sich und die Medien verbreiten die neuen Wörter in der Öffentlichkeit. Als Gegenwirkung macht sich die Tendenz bemerkbar, dass sich all diese spezifischen Begriffe vermischen und vereinfachen. Die Ausdehnung des anglo-amerikanischen Einflusses auf die Sprache bedeutet zwar keinen Rückschritt in der Entwicklung der nationalen Sprache, sondern eher eine Bereicherung und Koexistenz der eigenen Sprache, dennoch besteht in Frankreich eine ständig wachsende Sorge, die Reinheit des Französischen zu verlieren. Damit werden politische Befürchtungen transportiert. François I. hat zwar schon 1539 Französisch als „seule et unique langue du royaume de France” und somit als Amtssprache deklariert, seitdem hält man diese aber auch für gefährdet. Dies wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts besonders deutlich. Mit der Verfassungsreform vom Juni 1992 wurde Französisch in der Verfassung als Sprache der Republik festgeschrieben (Art. 2). Obwohl das Französische in der ge- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 227 Matthias Buth samten Republik auch Schul- und allgemeine Verkehrssprache ist, existieren neun unterschiedlich weit verbreitete Regionalsprachen. Von den 59 Millionen Franzosen sprechen rund 15 Millionen neben Französisch auch eine zweite Regionalsprache. Über eine Million Elsässer beherrschen z.B. den deutschen Dialekt, 800.000 Franzosen rund um Nizza sprechen Italienisch, und ein Großteil der Basken parliert ebenfalls in der Regionalsprache. Doch die Tendenz, diese Sprachen zu benutzen ist deutlich rückläufig. Waren es vor dem Zweiten Weltkrieg noch mehr als 1,3 Millionen Bretonen, die sich ihrer Regionalsprache bedienten, so beherrschen sie heute nur noch 300.000 Einwohner. Immer mehr Regionalsprachen sind in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Alltag verschwunden, nicht zuletzt weil die Regierung eine Förderung dieser Sprachen immer wieder mit dem Hinweis, die Sprache der Republik sei Französisch, abgelehnt hat. Bis zum heutigen Tag wird keine Regionalsprache offiziell anerkannt. Eine leichte Abkehr von der ablehnenden Haltung scheint sich aber in der Folge des Korsika-Konfliktes zu entwickeln. Der damalige Premierminister Lionel Jospin hatte in seinem Korsika-Reformgesetz eine wohlwollende Haltung gegenüber KorsischUnterricht in der Schule eingenommen. Hintergrund für die Verweigerungshaltung des Zentralstaats ist die alte jakobinische Angst, Sprache als Mittel der Kultur könne die Einheit der Nation untergraben und separatistischen Tendenzen Vorschub leisten. Bereits 1789 predigte der revolutionäre Abt Grégoire die Notwendigkeit, die Dialekte auszulöschen und das Französische universal zu machen. Es entspricht diesem Prinzip, dass höhere Ämter (Präfekten, Unterpräfekten etc.) von der Zentralregierung heute meist durch Personen besetzt werden, die die jeweilige Regionalsprache gerade nicht beherrschen. Europäische Charta zum Schutz von Minderheiten- und Regionalsprachen Ein Beispiel für die Unvereinbarkeit von Sprachenvielfalt und Verfassung lieferte die Überprüfung der von der Regierung nach langem Zögern am 7. Mai 1999 unterzeichneten „Europäischen Charta zum Schutz von Minderheiten- und Regionalsprachen” durch den Verfassungsrat (Conseil constitutionnel). Genau wie der Staatsrat (Conseil d'Etat) - das Beratungsorgan der Regierung für alle mit Gesetzen und Verordnungen zusammenhängenden Fragen - sah der Verfassungsrat in dieser Charta einen Verstoß gegen die Verfassung. Der Staatsrat empfahl in seiner Stellungnahme, den Zusatz „Die Sprache der Republik ist Französisch” mit der Europarats-Charta in Einklang zu bringen, sah aber sonst keine weiteren Verfassungsprinzipien in Frage gestellt. 228 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Integration durch Sprache? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten Die Verfassungsrichter machten bei der Überprüfung des Abkommens einen Verstoß gegen das Prinzip der Unteilbarkeit der Republik, der Gleichheit vor dem Recht und der Einheit des französischen Volkes geltend. Unteilbarkeit der Republik und Einheit des französischen Volkes wähnten die Richter in Gefahr, weil die Charta ihrer Meinung nach abgegrenzte Bevölkerungsgruppen anerkenne und für sie neue Rechte schaffe. Eine gesetzliche Trennung zwischen Franzosen, die eine Regionalsprache beherrschen und denjenigen, die sie nicht beherrschen, vorzunehmen, verstoße, so der Verfassungsrat, gegen das Prinzip der Unteilbarkeit der Republik und gegen die Einheitlichkeit und Gleichheit des französischen Volkes. Den Einwand, dass in der Präambel ebenfalls festgelegt ist, dass der Schutz und die Förderung der Minderheitensprachen nicht zu Lasten der Amtsprache gehen dürfen, ließen die Richter dabei nicht gelten. Das Urteil des Verfassungsrates steht in der Tradition national-republikanischer Kräfte, die in der Charta eine politische Waffe für Autonomiebewegungen und regionale Organisationen sehen. In diesem Zusammenhang ängstigt sie vor allem die Vorstellung, die Übertragung von Rechten an die Regionen könnte ein Auseinanderbrechen des Nationalstaats zur Folge haben bzw. die Bildung eines Europas der Regionen beschleunigen. Der ehemalige Innenminister Jean-Pierre Chevènement sah in der Charta sogar die Gefahr einer Balkanisierung Frankreichs und vertrat damit eine Ansicht, die quer durch das politische Spektrum von den „Jakobinern” geteilt wird. Weil er auf eine Verfassungsänderung verzichten will, hatte Staatspräsident Jacques Chirac auf die Entscheidung des Verfassungsrates mit einer Verschiebung der Ratifizierung auf „unbestimmte Zeit” reagiert, da er die Grundprinzipien der Verfassung nicht zur Debatte stellen wollte. Auch der Gesetzentwurf vom September 2005 wurde auf die lange Bank geschoben. Die „Trias” als Staatsraison “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”, das sind im breiten Verständnis die Losungsworte der Französischen Revolution, die zum Wahlspruch des französischen Staates geworden sind. Die Zweite Republik (1848 - 1851) übernahm sie als Leitbegriffe, während der Dritten Republik (1870 - 1940) wurden sie zur offiziellen Devise erklärt. Seitdem fehlt diese “geschichtsmächtige Trias” in keiner Verfassung. Auch die Vorstellung einer einheitlichen und unteilbaren Republik (La France une et indivisible), einer homogenen Nation, in der alle Bürgerinnen und Bürger mit den gleichen Rechten und Freiheiten ausgestattet sind, durchzieht als Tenor die Verfassungen Frankreichs der letzten 150 Jahre, einschließlich der am 4. Oktober 1958 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 229 Matthias Buth in Kraft getretenen, die bis heute die Grundlage der V. Republik bildet. In Artikel 1 wird auch hier die Beschwörungsformel von der “homogenen Nation” benutzt. Sie bestimmt die Staatsraison. Dies ist von großer Tragweite. So gibt es in Frankreich offiziell keine ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten, sondern nur französische Staatsbürger mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten. Daran ändern auch die 1982 unter Staatspräsident Mitterrand erlassenen Dezentralisierungsgesetze nichts, in denen Begriffe wie zivilisatorische Einheitlichkeit, kulturelle Uniformität und politischer Zentralismus nur scheinbar infrage gestellt sind. Auch wenn der Begriff “Minderheiten” in Frankreich nicht verwendet wird und Minderheiten als solche nicht anerkannt werden, sind sie durch die Garantie, die allen Bürgern gewährt wird - also auch denjenigen, die zu einer de facto Minderheit gehören - vor Ungleichbehandlung durch das Gesetz geschützt: Sie dürfen nicht diskriminiert werden, sie genießen die Möglichkeit, ungehindert ihren Glauben auszuüben, ihre Traditionen zu pflegen und ihre besonderen Merkmale zu erhalten. Minderheitenschutz, soweit man in Frankreich davon sprechen kann, ist also im Sinne von “Schutz vor Diskriminierung” zu verstehen. Folgerichtig vertritt Frankreich auch international die Auffassung, dass z. B. Minderheitenrechte i. S. von Artikel 27 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (CCPR) vom 19. Dezember 1966 nicht auf Frankreich anwendbar seien, so z.B. bei deren Ratifizierung: “… l'article 27 n'a pas lieu de s'appliquer en ce qui concerne la République”. Die Begründung für die Ablehnung des Minderheitenbegriffs bezüglich Frankreichs wird u.a. in einer Deklaration Frankreichs bei der UNO deutlich: “Le peuple français n'admet aucune distinction établie sur des caractères ethniques, et écarte par-là même toute notion de minorité. Le gouvernement français se voit contraint aux termes de la Constitution de la République française de s'opposer au principe même d'une telle étude”. Trotz aller staatlichen Emphase und obrigkeitlichen Bevormundung ist die französische Identität brüchig und seit dem 2. Weltkrieg ständig Gegenstand breiter Diskussion der Pariser Intellektuellen. Die Verwerfungen machen sich auch in der Europa-Diskussion sichtbar und besonders in der Ablehnung des Europäischen Vertrages im Sommer 2005 durch die klare Mehrheit der französischen Wahlbürger. Französisch, das Hochplateau Die Probleme der Integration wären für Frankreich geringer, wenn sichtbar würde, wohin sich die Migranten integrieren könnten. Das Sprachregime der Regierung ist allerdings so rigide, dass es die Einwanderer nie schaffen werden, voll in die franzö- 230 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Integration durch Sprache? Das Hochplateau Französisch – unerreichbar für Migranten sische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Ihre Andersartigkeit sowie das fremde Herkommen und mittransportierte Familien- und Kulturgeschichte wird stets die Sprachfähigkeit der Migranten bestimmten. Den Status als zu schützende Minderheit werden sie nicht erlangen, dies umso mehr, als selbst die Regionalsprachen von der Pariser Regierung nicht anerkannt werden, also nicht einmal Franzosen ihre sprachliche Vielfalt gesetzlich geschützt sehen. Das Wort „Integration” wird denn auch gerne von der Regierung vermieden und stattdessen von „Chancengleichheit” und „Antidiskriminierung” gesprochen: das Sprachregime wird semantisch bis ins einzelne Wort durchgesetzt. So wird Französisch ein Hochplateau, das unerreichbar bleibt für jeden, der von außen kommt und den Reinheitsvorstellungen der französischen Gesellschaft nicht entsprechen kann oder will. In den Vorstadtschulen Frankreichs liegt denn auch seit Jahren ein erhebliches Konfliktpotential, da sich die soziale Gettobildung dort fortsetzt. Im Schuljahr 2004/5 hatte es 1651 Gewalttaten gegen Lehrer gegeben und in Problemschulen werden jedes Jahr 80 % der Lehrer ausgetauscht. Der renommierte französische Soziologe Alain Tourraine sieht zurecht einen Zusammenhang der gegenwärtigen Unruhen mit denen im November 2005 und stellt fest, dass sich die französische Gesellschaft „in einer Phase der Auflösung und sozialen Desintegration befinde und betont, dass die Schule zu einem Instrument der Ungleichheit geworden sei. Sie passe „in keiner Weise mehr zu dem republikanischen Selbstbild des Landes, das Gleichheit über alle kulturellen Differenzen” propagiere. Unser französischer Nachbar steht vor einer zersplitterten Illusion. Wenn in Frankreich die Sprache der einzige Code bleibt für das nationale Selbstverständnis, sind in der globalen Welt, im Zeitalter der Migrationen weitere große innere Konflikte unvermeidbar. Indes: den Gründungsmythos Frankreichs als über Jahrhunderte gewachsene und reglementierte Sprachnation in Frage zu stellen, könnte den ordre public und die Idee einer einheitlichen Nation aufkündigen. Also wird verkrampft am Design festgehalten, am Sprach-Design genauso wie an besonderen Formen der staatlichen Selbstinszenierung. Dabei ist das Problem der faktischen Nichtintegration nicht auf die Migranten begrenzt; es hat seine Relevanz auch im Hinblick auf ländliche Bevölkerung und regionale Situation. Es geht im Kern um einen tiefen Widerspruch: Im Namen des Universalismus (Mirabeau 1784) werden die Vernunft und die sie tragende Sprache, das Französische, zur Norm erhoben. Dabei wird aber nicht nur die Universalität der Menschenrechte propagiert, sondern stillschweigend ein soziales und eben nicht egalitäres Idealbild zur universellen Norm erhoben. Das lässt sich am honnête homme, an der Sprachnorm des Bon usage („la cour et la plus saine partie de la ville”) und am Konversationsideal festmachen. Dieses soziale elitä- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 231 Matthias Buth re Idealbild, das sich universell aufrüstet, wird dann im 19. Jahrhundert demokratisiert: bon usage für alle Schüler, sobald es die allgemeine Schulpflicht gibt. Das ist noch heute das Credo der republikanischen Schule, das ist die Wurzel der Idee von Chancengleichheit. Die Wirklichkeit aber ist, dass die Demokratisierung des sozial definierten Sprachkanons nicht gelungen ist und nicht gelingen kann. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Vielleicht ist Frankreich – bedingt durch die Probleme der Minderheiten und sozialen Verwerfungen – schon sehr bald gezwungen, seine Staatsphilosophie zu überdenken. Die Nation existiere nicht mehr als aktiver Körper (meint Wolfgang Schmale), wie es die Körpermetaphern seit dem hohen Mittelalter trotz aller Modifikationen ausdrücken, sondern als Gedächtnis, als historisches Sediment. Unser französischer Nachbar steht vor einer zersplitterten Illusion. Wenn in Frankreich die Sprache der einzige Code bleibt für das nationale Selbstverständnis, sind in der globalen Welt, im Zeitalter der Migrationen, weitere große innere Konflikte unvermeidbar. Die Präsidentschaftswahlen im April 2007 haben keinen Paradigmenwechsel eingeleitet, im Gegenteil der neue Präsident mit ungarischem Migrationshintergrund wird eine Entwicklung beschleunigen, die er eigentlich aufhalten will: die nationale Zersplitterung Frankreichs, der Mythos einer homogenen Nation ist perdu. 232 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 MODALITÄT IN DER VERFASSUNG DER EUROPÄISCHEN UNION Monika Banassova 1. Einführung Der Beitrag ist den deutschen Modalverben (weiter nur MV) in der EU-Verfassung gewidmet. Am Anfang beschäftige ich mich mit den Arten der Modalität hinsichtlich der deutschen Modalverben, da sie die zentralen Ausdrucksmittel der Modalität sind. Bei der Teilung der Modalität und der einzelnen Bedeutungen der Modalverben scheint als problematisch zu sein, dass man bei der Bewertung aus der Sicht des „menschlichen“ Subjekts ausgeht. Mehrere Arbeiten erwähnen den Gebrauch mit dem unbelebten Subjekt nicht, deshalb beschloss ich, die Deutungen der deutschen Modalverben in der EU-Verfassung zu untersuchen, wo vor allem Regel, Anordnungen und Gesetze zu finden sind, die sich nicht immer auf den „belebten“ Subjekt beschränken. Von meinem Interesse sind die einzelnen Bedeutungen der deutschen MV im Gesetz. Es ist sehr interessant zu untersuchen, in welchen Bedeutungen die MV in der EU-Verfassung auftreten. Ich beschäftige mich sowohl mit der semantischen als auch morphologisch-syntaktischen Seite der deutschen Modalverben. Am Anfang gehe ich von den Arten der Modalität aus, weil durch die Zugehörigkeit des MVs zu einer Modalitätsart die MV-Bedeutung geprägt wird. Es gibt mehrere Hypothesen, die ich in dieser Untersuchung überprüfen möchte: • Die Vorkommenshäufigkeit der MV in der Verfassung und ihre einzelnen Bedeutungen. • Meines Erachtens sind die MV-Bedeutungen im Gesetz auf die „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“ beschränkt, die semantisch zu der deontischen Modalität gehören. Ich wollte feststellen, ob auch die dynamischen und epistemischen Deutungen der MV in der Verfassung vorkommen. • Man kann annehmen, dass im Gesetz hauptsächlich die deutschen MV sollen und müssen vorkommen, da sollen und müssen die generellen MV der Notwendigkeit sind und sollen mit seiner evidentiellen Bedeutung auf die externe Quelle verweist; müssen als MV, das das strenge Nachfolgen der Notwendigkeit ausdrückt (vgl. Engberg, 2002). Dürfen als Ausdruck für Verbote und Gebote kann meiner Meinung nach in der EU-Verfassung auch im hohen Maße vorkommen. Es scheint sehr interessant zu untersuchen, inwieweit können als zentrales Verb der „Möglichkeit“ im Gesetz vorkommt. • Auch der morphologischen Seite der deutschen MV ist Aufmerksamkeit gewidmet. Ich nehme an, dass alle Konstruktionen mit dem MV auf die 3. Ps. Monika Banasova Sg./Pl. beschränkt werden (keine Anrede per 2. Ps. und keine subjektiven Aussagen in der 1. Ps.). Man kann annehmen, dass die MV vor allem in der Präsens-Form auftreten, da im Gesetz nicht auf die Vergangenheit verwiesen wird, sondern die ausgedrückten Sachverhalte atemporal gelten. Im Beitrag untersuche ich auch die Funktion des KII auf die Semantik des MVs, denn KII hat generell eine abschwächende Funktion auf die Bedeutung des MVs. 2. Modalität und deren Arten Die Problematik von Arten der Modalität wird in den Einzelstudien unterschiedlich beschrieben. Fritz (2000:91ff) geht von der Kommunikation aus – er untersucht die Modalität aus der Sicht der Pragmatik, wobei der Hörer eine dominierte Rolle hat, indem er aus der Äußerung bestimmte Inhalte gewinnen kann. Der Hörer schließt auf die Beziehung des Sprechers zur Wahrheit des ausgedrückten Sachverhalts. Der Sprecherglauben spielt beim Festlegungsprozess eine wichtige Rolle. Der schiebt dann den Hörer zwischen „Sicherheit“ und „Unsicherheit“. Aufgrund dieser Zweiteilung unterscheidet man epistemische und nicht-epistemische Modalität. Epistemische Verwendung ist mit der Unsicherheit des Sprechers verbunden und kann dann entstehen, wenn der Hörer nicht sicher weiss oder glaubt, ob gewisser Sachverhalt wohl existiert. Nicht-epistemische Verwendung bewegt sich dagegen in Intentionen der Sprechersicherheit und ihr kommt neben ihrem lexikalischen und propositionalen Status kein weitergehender Handlungswert zu. Mehrere Linguisten, die sich mit der Modalität beschäftigen, bevorzugen eher den traditionellen Ansatz vor dem pragmatischen, weil im Vordergrund der Untersuchung nicht die Wirkung auf den Hörer steht, sondern die Tatsache, wie der Sprecher das Modale erwähnt und ausdrückt, d. h. dass der Begriff des Modalen auf der Bedeutungsebene zu bestimmen ist. In Dietrich (1992: 25) ist die Modalität im Kern keine pragmatische oder kommunikative Erscheinung, sondern eben eine Bedeutungskategorie, woraus folgt, dass in pragmatischen und kommunikativen Analysen von Modalverben die semantische Bestimmung der jeweiligen modalen Einheiten zum Ausgangspunkt genommen werden kann. Er geht von zwei Hauptfeldern der Modalität aus – Notwendigkeit und Möglichkeit, die er durch die Kratzers (1988) Lesearten weiter klassifiziert. Die Geltung spielt bei der epistemischen Deutung eine wichtige Rolle, indem gezeigt wurde, dass sie durch Modalisierung „neutralisiert“ ist, und anderseits gerade das Gelten eines Sachverhalts es ist, was den Bezug zu den Basisrelationen wachruft (Dietrich 1992: 49). Öhlschläger (1989) geht von der traditionellen Untersuchung aus und erwähnt ähnlich die Zweiteilung der Modalität in die epistemische und die nicht-epistemische Deutung. Er interessiert sich vor allem für die Bedeutungen der deutschen Modal- 234 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union verben, wobei die nicht-epistemischen Bedeutungen grundlegend sind, weil dem Verb dieser Art eine einheitliche Bedeutung zukommt. „Bei allen MV lassen sich die unterschiedlichen nicht-epistemischen Verwendungsmöglichkeiten von Sätzen bzw. Äußerungen, in denen sie vorkommen, dagegen auf andere Faktoren als verschiedene Modalverbbedeutungen zurückführen.“ (S. 183). Die epistemischen Verwendungsweisen werden als sekundär angesehen und in objektiv-epistemische und subjektiv-epistemische geteilt (vgl. S. 239). Auch die Differenzierung zwischen verschiedenen Bedeutungen bzw. Bedeutungsvarianten der Modalverben werden vor allem innerhalb der nicht-epistemischen Gebrauchsweise vorgenommen. Die Bezeichnung „nicht-epistemisch“ wird in der Sprachwissenschaft verschieden charakterisiert und oft durch Termini „deontisch“, „nicht-inferentiell“, „objektiv“, „semantisch/lexikalisch“ ersetzt. Sie werden wohl durch die modallogischen Kategorien beeinflusst, die die Modalität und Modalverben in fünf Kategorien teilen (vgl. Jäntti 1989): 1. alethische – schwer von der epistemischen zu unterscheiden (Modalität der Wahrheit) 2. epistemische – bezieht sich auf die Aussagen 3. deontische – bezieht sich auf die Eigenschaften, Handlungen 4. dynamische – bezeichnet „Fähigkeit / Disposition“ 5. existenzielle – Modalität der Existenz Die Hauptkategorien sind jedoch die epistemische (dazu zählt auch das alethische und existenzielle Modalverb) und nicht-epistemische/deontische Modalität und Modalverben (dazu zählt man noch die dynamische). Darauf aufbauend erwähne ich die Dreiteilung in Hansen (2001), der eine ausführliche und in meiner Untersuchung der Modalverbbedeutungen gut anwendbare Dreiteilung anbietet. Er baut auf der Konzeption von Lyons (1977) auf und teilt die Modalität in drei Arten: epistemische, dynamische und deontische Modalität. Epistemische Modalität (ähnlich wie bei den meisten Autoren) wird als Sprechereinstellung bezeichnet. Es handelt sich um den Bereich der Überzeugungen des Sprechers, der zum Ausdruck bringt, ob die Proposition seiner Meinung nach mit der Realität übereinstimmt bzw. ob er daran zweifelt. Dynamische (oft als alethisch bezeichnete) Modalität charakterisiert Hansen (2001, S. 19ff) als Modalität der Wahrheit von Proposition. Es handelt sich um eine „objektive“ Modalität, d. h. ob eine Proposition als notwendig oder möglich klassifiziert wird, hängt von äußeren Bedingungen und nicht vom Sprecher ab. Der Sprecher tritt, unterschiedlich zur epistemischen Modalität, nur als Informator auf und ist in die Einwirkung auf den Handlungsträger nicht involviert. Ob der Handlungs- ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 235 Monika Banasova träger die Handlung ausführen kann oder muss, hängt von objektiven Bedingungen und nicht vom Specher oder dem Willen Dritter ab (ebenda:72). Deontische Modalität bezeichnet Hansen als Modalität der Verpflichtung und Erlaubnis. Für die deontische Modalität ist charakteristisch, dass der latente Zustand auf einen Willensakt zurückgeht. Die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit beruht auf dem Willen Anderer. Es kann sich um den Willen von Einzelpersonen handeln oder um den zu allgemeinen Geboten erstarrten Willen einer Gemeinschaft. Sie betrifft die Notwendigkeit und Möglichkeit von Handlungen, die von moralisch verantwortlich Handelnden ausgeführt werden. Während die Wahrheitsbedingungen bei den anderen Modalitäten eine zentrale Rolle spielen, sind sie hier eher peripher, da es um zukünftige Handlungen geht, zu den die Handelnden gedrängt werden. Für die deontische Modalität ist charakteristisch dass die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit auf eine Quelle zurückzuführen ist. Dieser Bereich wurde traditionell in der Ethik behandelt und bei der deontischen Quelle kann es sich um explizit ausformulierte moralische oder juristische Prinzipien handeln, die durch eine übergeordnete Institution bedingt sind. Dynamische und deontische Modalität bezeichnet Hansen (2002:72) als „agensorientiert“. Diese Dreiteilung von Hansen (2001) scheint auch konkret für das Thema dieses Beitrags gut geeignet zu sein, da hier die Notwendigkeit oder Möglichkeit in den juristischen Quellen extra behandelt wird. In den anderen Zweiteilungen in die epistemische und nicht-epistemiche Modalität wäre die Problematik der Notwendigkeit/Möglichkeit als nicht-epistemisch behandelt, ohne sie näher zu spezifizieren und auf ihre Quelle zurückzuführen. 3. Deutsche MV und deren einzelne Bedeutungsvarianten Als Korpus bei der Untersuchung diente mir das Regensburger Paralellkorpus, wo ich aus der EU-Verfassung die Konstruktionen mit den einzelnen deutschen MV untersucht habe. Bei jedem MV interessiert mich die semantische Seite (die konkrete Bedeutung und die Art der Modalität) und die morphologisch-syntaktische Seite (Peson, Numerus, Tempus, Modus, Satzarten). Theoretisch bin ich aus dem minimalistischen Ansatz in Öhlschläger (1989) ausgegangen, den ich mit der Auffassung in Hansen (2001) verglichen habe. Damit wird aber auf die lexikalischen Bedeutungen in den einzelnen Grammatiken nicht verzichtet. In den erwähnten Arbeiten werden die Hauptbedeutungen genannt, die auf die Grundexplikationen der MV beschränkt sind. Um die einzelnen Bedeutungsvarianten vergleichen zu können, werden bei jedem MV die Bedeutungen in Duden Grammatik (1995) erwähnt. Je to potrebné? Uvádzam to kvôli Ďurčovi ☺ 236 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union 800 700 600 500 400 300 200 100 0 Modalverben können dürfen müssen sollen möchten wollen Die Mehrheit aller MV-Konstruktionen bildet können. Im kleineren Maßen tritt dürfen, müssen und sollen auf. Es gibt im Korpus nur 11 Belege mit möchten1 und 9 Belege mit wollen. MV mögen tritt in der Verfassung nicht auf (s. obiges Schema). Im folgenden wird die Semantik der einzelnen deutschen Modalverben untersucht. Von meinem Interesse waren die einzelnen Bedeutungen der MV und ihre morphosyntakische Eigenschaften – in welchem Maßen sie die Bedeutungen beeinflussen. 3.1 KÖNNEN2 Können weist eine enge Verwandtschaft mit müssen auf. Der Unterschied zwischen diesen zwei MV ist in Öhlschläger (1989: 152) nur in der Tatsache, dass bei können mehrere Handlungsmöglichkeiten entstehen: wenn eine externe (vom Kontext gelieferte) Quelle nicht nur eine Möglichkeit zulässt, dass der Sachverhalt nicht eintritt (vgl. Definition von müssen). 1 Zu dem Unterschied zwischen mögen und möchten vgl. Kapitel 3.5 2 können: 1. mit Inf. als Modalverb: a) imstande sein, etw. zu tun; etw. zu tun vermögen b) (aufgrund entsprechender Beschaffenheit, Umstände o. Ä.) die Möglichkeit haben, etw. zu tun c) aufgrund bestimmter Umstände die Berechtigung zu einem Verhalten o. Ä. haben; in bestimmten Gegebenheiten die Voraussetzungen für ein Verhalten o. Ä. finden d) (schwächer als »dürfen«) insofern es freisteht, zugelassen ist, die Möglichkeit haben, etw. zu tun e) möglicherweise der Fall sein, in Betracht kommen 2. Vollverb a) fähig, in der Lage sein, etw. auszuführen, zu leisten; etw. beherrschen b) in bestimmter Weise zu etw. fähig, in der Lage sein c) die Möglichkeit, Erlaubnis haben, etw. zu tun d) (ugs.) weiterhin Kraft zu etw. haben ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 237 Monika Banasova Vergleicht man diese Konstruktion (1) mit der (10), so ist festzustellen, dass in der können-Regel keine starke Dringlichkeit [+OBLIG] vorhanden ist, sondern eher die Möglichkeit [+POSS] zu einer Handlung (zurückgreifen) ausgedrückt wird: (1) Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Was die einzelnen Bedeutungen von können angeht, gibt es in den Arbeiten keine Einigkeit. Die meisten Grammatiken erwähnen drei Bedeutungsvarianten für können: „Möglichkeit“ = „möglich sein“, „imstande sein“, „Erlaubnis“ und die „Fähigkeit“. Die Auffassungen in den Einzelstudien zur Modalverben sind aber anderer Meinung. Von Öhlschläger (1989:156) ausgehend werden bei können zwei Grundbedeutungen charakterisiert: die nicht-epistemische „Fähigkeit“, deren Explikation nicht nur mit dem Infinitiv, sondern auch mit der Nominalphrase zu kombinieren ist3. Ähnlich Hansen (2001) bezeichnet diese Bedeutungsalternation als dynamische „Fähigkeit“. (2) Die Mitgliedstaaten gewährleisten durch konvergentes Handeln, dass die Union ihre Interessen und ihre Werte auf internationaler Ebene geltend machen kann. (=dass sie die Fähigkeit dazu hat) Die zweite Bedeutung von können im Öhlschlägers (1989:155) minimalistischen Ansatz ist die „Erlaubnis“. Es handelt sich um eine Variante „Aufforderung“ bei müssen verwandt, in der immer eine Quelle mit verstanden wird, die eine Erlaubnis erteilen kann. In diesem Sinne ist können mit dürfen bedeutungsgleich. Hansen (2001:80) zählt diese Variante zur deontischen Modalität, „Erlaubnis“: x kann p, weil y will, dass x kann p wird folgendermaßen definiert: Eine Handlung kann durch den Willen anderer Leute bzw. bestimmter Kollektive ermöglicht werden. Wichtig ist, dass in dem Explikationsteil, der der Modalitätsebene entspricht, ein zweites Mal kann auftritt. So besteht eine Erlaubnis gerade darin, dass der Wille eines Zweiten nicht die Handlung selbst bedingt, sondern lediglich die Möglichkeit zu seiner Realisierung schafft. An einer anderer Stelle spricht er von der ethisch-juristisch bedingten Erlaubnis, d. h. einer abstrakten Erlaubnis, hinter der immer das Kollektiv stand und nicht die Einzelperson (Hansen, 20021:78). 3 Relevant für diese Bedeutung ist nicht die IP (Infinitivphrase), sondern die Subjekt-NP (Nominalphrase) und die VP (Verbalphrase) dieser IP. Es kommt hinzu, dass diese Bedeutung auch offensichtlich die Bedeutung ist, die können in seinen Verwendungen mit einer akkusativischen NP zukommt (Karl kann Englisch) – können hat eine Subjekts-NP auch dann, wenn es mit einer Infinitivkonstruktion kombiniert wird. (Öhlschläger, 1989:157) 238 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union (3) Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, dass die unmittelbar oder über einen anderen Mitgliedstaat nach der Regelung des Artikels 2 durchgeführte Einfuhr von in den Niederländischen Antillen raffinierten Erdölerzeugnissen auf seinem Markt tatsächliche Schwierigkeiten hervorruft und dass sofortige Maßnahmen zur Behebung dieser Sachlage erforderlich sind, so kann er von sich aus beschließen, dass auf diese Einfuhr Zölle erhoben werden, deren Sätze nicht über den Zollsätzen liegen dürfen, die gegenüber Drittländern für dieselben Erzeugnisse angewendet werden. Dem Mitgliedstaat ist also die Möglichkeit gegeben, die als eine Folge bestimmter Bedingungen erscheint, dass im Einklang mit der Erlaubnis vom europäischen Rat Zölle erhoben werden. Im diesem Beispiel ist die kausale Möglichkeit markant, die in den kausalen Zusammenhängen und in der Folge-Beziehung eingeprägt wird. In diesem Punkt unterscheidet sich können von dürfen. Beide MV drücken „Erlaubnis“ aus4, können erscheint in den kausalen Zusammenhängen, während dürfen mit den (negativen) Konsequenzen verbunden ist (vgl. Kap. 3.2). Dürfen im Unterschied zu können erscheint als einziges MV, dass stark patientiv ist. Im Vergleich mit müssen entsteht bei können in der Variante „Erlaubnis“, die mit der müssen-„Pflicht“ in ihrer Explikation verwandt ist, eine Handlungs- bzw. Variationsmöglichkeit. Während müssen nur eine Handlungsmöglichkeit zuläßt, wird bei können erwartet, dass die Pflicht befolgt wird (nicht verlangt = müssen). Die Dringlichkeit der Erlaubnis ist also nicht so stark. Hansen (2001:79) führt noch eine andere Variante bei können auf: „objektive Möglichkeit“5, die zur dynamischen Modalität gehört. Ihre Explikation lautet: x kann p, weil außerhalb von x bestimmte Umstände vorhanden sind und lässt sich so erklären, dass in diesem Falle es nicht innere Eigenschaften des Handlungsträgers sind, die eine Handlung ermöglichen, sondern äußere Bedingungen. Unterschiedlich zu deontischer „Erlaubnis“ kann man in dieser Alternation nicht von einem Willen eines Zweiten sprechen, es entsteht hier nur aufgrund äußerer Verhältnisse eine Möglichkeit zur Realisierung des Sachverhalts: 4 Obwohl in den dürfen-Belegen Variante „Berechtigung“ erwähnt ist, wird die „Erlaubnis“ implizit mitverstanden (vgl. Kap. 3.2). 5 In diesem Zusammenhang erwähne ich zwei Explikationen von können-Variationen: Bech (1949): Können als Prädikationsverbum bezeichnet den Inhalt der Subjekt-Infinitiv-Prädika-tion als kausale Möglichkeit (possibilitas), d. h. er wird als Glied eines Kausalzusammenhanges gesehen, der ein Komplex von Ursachen und Wirkungen (Gründen und Folgen) ist. Nach Kratzer (1978) e kann IP: ausgedrückte Proposition ist dann und genau dann wahr, wenn bei dieser Äußerung mit der IP bezeichnete Proposition mit dem jeweiligen Redehintergrund logisch verträglich ist – also: wenn aus dem Redehintergrund nicht logisch folgt, dass diese Proposition falsch ist. (In: Öhlschläger, 1989:153) ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 239 Monika Banasova (4) Zur Arbeit zugelassene Jugendliche müssen ihrem Alter angepasste Arbeitsbedingungen erhalten und vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeder Arbeit geschützt werden, die ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihre körperliche, geistige, sittliche oder soziale Entwicklung beeinträchtigen oder ihre Erziehung gefährden könnte. Interessant ist die Tatsache, dass „objektive Möglichkeit“ vor allem in der KII-Form auftritt. Damit ist wohl das Mögliche verdeutlicht, dass in den kausalen Zusammenhängen (in der Folge-Beziehung) realisiert werden kann / vorhanden ist. Einige Belege treten auch in der negierten Form auf (fast 5%). Da können sehr nahe dem dürfen steht, ist anzunehmen, dass negiertes können ein „Verbot“ ausdrückt (vgl. Duden Grammatik): (5) Natürliche oder juristische Personen können Rechtssachen zwischen Mitgliedstaaten, zwischen Organen der Union oder zwischen Mitgliedstaaten und Organen der Union nicht beitreten. In diesem Falle kann man nicht von einem „Verbot“ sprechen, sondern eher „aufgrund einer nicht erteilten Erlaubnis keine Möglichkeit haben“, d. h. die Bedeutung bewegt sich im Bereich der „Möglichkeit“, tritt nur in der negierten Form auf. Hansen (2001:66) führt logische Äquivalenzen auf: ¬ ◊ p = □ ¬ p : x kann-nicht p = x muss nicht p6. Auf den Beleg (5) beziehend, natürliche oder juristische Personen können-nicht Rechtsachen beitreten = sie müssen Rechtsachen nicht-beitreten. Ähnlich gilt es auch bei der negierten „objektiven Möglichkeit“: (6) Im Einklang mit dieser Regel versteht es sich von selbst, dass die Einbeziehung der Charta in die Verfassung nicht dahin gehend verstanden werden kann, dass sie für sich genommen den als „Durchführung des Rechts der Union“ betrachteten Aktionsrahmen der Mitgliedstaaten (im Sinne von Absatz 1 und der vorstehend genannten Rechtsprechung) ausdehnt. In diesem Satz handelt es sich um kein „Verbot“, die Einbeziehung der Charta so und so zu verstehen, sondern um „keine objektive Möglichkeit dazu haben“. In diesem Sinne kann man negiertes können nicht als eine neue Bedeutungsvariante betrachten, es handelt sich eher um die gleichen Alternationen, nur in der verneinten Form. Von allen können-Belegen wird die Hauptbedeutung „Erlaubnis“ in 88% ausgedrückt. Mit 9% drückt können in der EU-Verfassung die „objektive Möglichkeit“ aus. Die „Fähigkeit“ ist nur auf 3% beschränkt. 6 In der logischen Negation steht ◊ für kann, □ für muss, p für Proposition, ¬ für die Negation und = für logische Äquivalenz (vgl. Hansen, 2001:65). 240 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union Erlaubnis Objektive Möglichkeit Fähigkeit 3.2 DÜRFEN 7 Die Bedeutung von dürfen ist eng mit können verwandt. Als ein markiertes Pendant zu können unterscheidet sich dürfen in der Quelle; bei können in dem Kausalfaktor, bei dürfen in einem Willen. Unterschiedlich zu können beschreibt Öhlschläger (1989:162) dürfen mit Hilfe von Konsequenzen: wenn eine (von Kontext gelieferte) Quelle es zulässt, dass der Sachverhalt eintritt, ohne dass damit negative Konsequenzen verbunden sind. Folgendes Beispiel (7) Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen. ist dann zu erklären, die Staatsangehörigen dritter Länder können (ist ihnen die Möglichkeit gegeben) im Gebiet der Mitgliedstaaten arbeiten, ohne dass damit negative Konsequenzen (Arbeitsverbot, Ausbürgerung, Strafe) verbunden sind. Hier sieht man die Nähe zu können. Fritz (2000:125) vergleicht dürfen und können auf dem Beispiel von „Fähigkeit“. Gegenüber können (in Variante von „Fähigkeit“) formuliert dürfen eine „passivische“ Perspektive: Das Einräumen des Dürfens zugunsten des grammatischen Subjekts bedeutet, dass eine externe Quelle die „Fähigkeit“ hat dem Subjekt die „Möglichkeit“ zur Infinitivprädikation zu verschaffen. 7 dürfen: 1. mit Inf. als Modalverb a) die Erlaubnis haben, berechtigt, autorisiert sein, etw. zu tun b) drückt einen Wunsch, eine Bitte, eine Aufforderung aus (oft verneint) c) die moralische Berechtigung, das Recht haben, etw. zu tun (verneint) d) Veranlassung zu etw. haben, geben e) <nur im KonjunktivΙΙ+ Inf.> es ist wahrscheinlich, dass ... f) (landsch.) brauchen (meist in Verbindung mit »nur, bloß«) 2. Vollverb: die Erlaubnis zu etw. Bestimmtem, Vorgenanntem haben ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 241 Monika Banasova Öhlschläger (1989:164) weist mit seinem minimalistischen Ansatz auf die Tatsache hin, dass alle dürfen-Konstruktionen eine einheitliche Bedeutung haben und die häufig angesetzten verschiedenen Bedeutungen bzw. Bedeutungsvarianten nur in je unterschiedlichen Quellen bedingt sind. So wird außer der Bedeutung „Erlaubnis“ eine zweite Bedeutung „Berechtigung“ angesetzt, die sich nur dadurch von der ersten Bedeutung unterscheidet, dass es hier „kein erlaubendes Individuum, sondern ein bestimmter Sachverhalt ist, aufgrund dessen etwas als berechtigt charakterisiert werden kann“. Von diesen zwei verschiedenen Quellen ausgehend, kann man wohl in der EU-Verfassung von einer „Berechtigung“ sprechen. Bei der „Berechtigung“ stellt eine Institution, EU, der Rat, usw. die (vom Kontext gelieferte) Quelle dar, die den Sachverhalt zulässt; die „Erlaubnis“ ist aber immer implizit mitgemeint, weil hinter diesen Sachverhalten immer ein menschlicher Gesetzgeber steht. Einige Autoren (Helbig/Buscha 1998, Engel 1996, zum Teil Dudengrammatik 1995) schreiben dem negierten dürfen eine neue Bedeutung zu – „Verbot“. Negiertes dürfen drückt in Engel (1998:465) „Verbot“ aus, „aufgrund einer verweigerten/nicht erteilten Erlaubnis nicht die Möglichkeit haben“. Im Vergleich mit negiertem sollen ist nicht dürfen mehr eindringlich (Helbig/Buscha 1998:134). Aus diesem Grund verbindet man die Bedeutung von nicht dürfen mit „Notwendigkeit“ (DudenGrammatik, 1995). Öhlschläger (1989:161ff) weist aber darauf hin, dass es sich um keine neue Bedeutung handelt. Seines Erachtens ist die Bedeutung gleich. Für negiertes dürfen erwähnt es folgende Bedeutungsexplikation: wenn eine (vom Kontext gelieferte) Quelle nur die eine Möglichkeit zulässt, dass dann, wenn der Sachverhalt eintritt, negative Konsequenzen damit verbunden sind. Positiv ausgedrückt hat nicht dürfen die gleiche Bedeutungsbestimmung wie dürfen (siehe oben). Vergleicht man dies mit einer Konstruktion aus dem Korpus: (8) Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Union zuwiderläuft. ist festzustellen: die vom Kontext gelieferte Quelle (Gesetzgeber) lässt nur die Möglichkeit zu, dass man die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht beeinträchtigt. Wäre Handlungsverkehr in einem Ausmaß jedoch beeinträchtigt, steht das schon im Widerspruch mit dem Gesetz und werden die negativen Konsequenzen gezogen. Es handelt sich also um kein „Verbot“, eher um die „Berechtigung“ im negativen Sinne – „es entsteht keine Berechtigung“. Diese Variante bildet 62,5% aller dürfen-Belege in der EU-Verfassung. 242 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union 3.3 MÜSSEN8 Müssen steht dem sollen am nächsten. Die beiden MV sind die zentralen Ausdrücke der „Notwendigkeit“. Sollen ist durch „schwächere Verpflichtung“ charakteristisch (Hansen, 2001:80), wobei müssen nur eine Möglichkeit, die Handlung auszuführen, zulässt. In Öhlschläger (1989:134ff) schreibt man dem deontischen müssen „kausale Notwendigkeit“9 (necessitas) zu und wird einheitlich definiert: eine (vom Kontext gelieferte) Quelle läßt nur eine Möglichkeit zu, dass der Sachverhalt eintritt. In der Regel wird die Quelle nicht sprachlich realisiert, sondern ist aus dem Kontext ergänzbar, wird aufgrund des Situations- und anderen Wissens bei verschiedenen Äußerungen jeweils mit verstanden (ebenda:145). Im Rahmen vom deontischen müssen werden zwei Varianten „objektive Notwendigkeit“ und „Pflicht“ unterschieden. In Öhlschläger (1989:149) wird auf einige Konzeptionen hingewiesen, dass in der Bedeutung „Pflicht“ nur belebte Personen als Subjekte auftreten. In Bezug auf die EU-Verfassung wäre dies nicht eindeutig. (9) Wird ein solcher Antrag angenommen, so müssen die Mitglieder der Kommission geschlossen ihr Amt niederlegen, und der Außenminister der Union muss sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes Amt niederlegen. Als Subjekt treten hier die „belebten“ Mitglieder der Kommission und der Außenminister. Es handelt sich um Variante „Pflicht“ - sie sind dazu verpflichtet, gezwungen und haben nur eine Möglichkeit, dass sie unter genannten Bedingungen ihr 8 müssen: 1. mit Inf. als Modalverb a) einem [von außen kommenden] Zwang unterliegen, gezwungen sein, etw. zu tun; zwangsläufig notwendig sein, dass etw. Bestimmtes geschieht b) aufgrund gesellschaftlicher Normen, einer inneren Verpflichtung nicht umhinkönnen, etw. zu tun; verpflichtet sein, sich verpflichtet fühlen, etw. Bestimmtes zu tun; c) aufgrund bestimmter vorangegangener Ereignisse, aus logischer Konsequenz o. Ä. notwendig sein, dass etw. Bestimmtes geschieht d) (nordd.) dürfen, sollen (verneint) e) drückt eine hohe, sich auf bestimmte Tatsachen stützende Wahrscheinlichkeit aus; drückt aus, dass man etwas als ziemlich sicher annimmt: er muss jeden Moment kommen; f) <nur 2. Konj.> drückt aus, dass etwas erstrebenswert, wünschenswert ist 2. Vollverb a) gezwungen sein, etw. zu tun, sich irgendwohin zu begeben b) notwendig sein, dass etw. Bestimmtes geschieht 9 D. h.: wird als Glied eines Kausalzusammenhanges gesehen, der ein Komplex von Ursachen und Wirkungen (Gründen und Folgen) ist. ... seine Realisation (Existenz, Realität) wird von der Realisation (Existenz, Realität) der übrigen Glieder des Kausalzusammenhanges (Kausalfaktoren) und deren Zusammenspiel impliziert. (Bech, 1949, In: Öhlschläger, 1989:134) ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 243 Monika Banasova Amt niederlegen. Im anderen Beispiel: (10) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats müssen die anderen Mitgliedstaaten nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten. ist die deontische Quelle vom „unbelebten“ Mitgliedstaat besetzt. Der Staat kann nicht bewusst handeln, es geht trotzdem um Variante „Pflicht“. Hinter dem Mitgliedstaat sind mehrere führenden Personen verkörpert, aus diesem Grund kann man wohl über „Pflicht“ sprechen, obwohl hier kein belebtes Subjekt auftritt. Aus diesem Grund kommt in der EU-Verfassung Variante „Pflicht“ vor, weil der Gesetzgeber es für notwendig hält, dass ein bestimmter Sachverhalt eintritt. Diese Tatsache ist in jedem müssen-Beleg der Verfassung impliziert. Hansen (2001:141) unterscheidet „objektive Notwendigkeit“ = „muss p(x), weil q“ von der „Verpflichtung“ = „muss p(x), weil y will, dass x p“. In beiden Beispielen handelt es sich um „kausale Notwendigkeit“ (weil), in der zweiten Variante wird jedoch markanter ausgedrückt, dass eine externe deontische Quelle hinter der Notwendigkeit / Verpflichtung steht. In diesem Zusammenhang spricht er von der „ethisch-juristischen Verpflichtung“ (Hansen, 20011:78), da hinter dieser Verpflichtung das Kollektiv steht und nicht die Einzelperson. Alle Bedeutungen von müssen stammen in der EU-Verfassung aus dem semantischen Feld der „kausalen Notwendigkeit“. Im Korpus wird den müssen-Belegen trotzdem die Bedeutung der „Pflicht“ zugeschrieben, da die Quelle, die Ursachen, bei der „Pflicht“ anders sind, als bei der „bloßen“ „Notwendigkeit“ (muss p(x), weil y will, dass x p). In der EU-Verfassung steht hinter der Verpflichtung immer ein Kollektiv (weil y will). Es gibt nur einen Beleg im Korpus, wo negiertes müssen die „Möglichkeit“ ausdrückt: (11) Die Mitgliedstaaten müssen diese Unterstützung nicht in Anspruch nehmen. Logisch gesehen: ¬nec p = pos ¬ p10, d. h. nicht müssen p = können nicht p. Wenn die Mitgliedstaaten die Unterstützung nicht in Anspruch nehmen müssen, heißt das, dass sie die Möglichkeit haben, die Unterstützung nicht in Anspruch zu nehmen / auf die Unterstützung zu verzichten. Interessant ist die Tatsache, dass in keinem Beleg müssen in der KII-Form vorkommt. Müssen mit der Bedeutung der „absoluten Notwendigkeit“ ist in der Ver10 nec = necessity (Notwendigkeit), pos = possibility (Möglichkeit), ¬ Zeichen für Negation, p steht für Proposition 244 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union fassung nicht durch KII abgeschwächt. Unterschiedlich zu sollen drückt müssen vor allem in den Gesetzen ein strenges Rechtsfolgen mit nur einer Handlungsmöglichkeit; es wird gerade auf die „Notwendigkeit“ betont und damit der Rezipient stärker beeinflusst. 11 3.4 SOLLEN Sollen und müssen sind semantisch sehr ähnlich. In Öhlschläger (1989) ist sollen eine Konverse zu wollen, weil sollen ähnlich wie wollen ausdrückt, dass man bei der Realisierung des Sachverhalt nicht nur eine Möglichkeit hat (wie bei müssen). Engberg (2002) ähnlich wie Öhlschläger schreibt dem müssen „nur eine Handlungsmöglichkeit haben“ zu. Sollen bezeichnet mehrere Handlungsmöglichkeiten und drückt „begrenzt fakultative Pflicht“ aus. Der Autor vergleicht die beiden Modalverben durch eine Parallele zu anderen Verben: müssen = verlangen, sollen = erwarten; mit sollen wird also die fakultative Obligation ausgedrückt; das gewollte Bestehen, ist immer mitgemeint. Hansen (2002:80) schreibt dem sollen eine „schwache Verpflichtung“ zu. Im Unterschied zur Verpflichtung bleibt hier die Entscheidung, die Handlung auszuführen, beim Handlungsausführenden. Die Bedeutung wird ähnlich in Öhlschläger (1989:145) beschrieben: eine (vom Kontext gelieferte) Quelle zieht es vor, dass der Sachverhalt eintritt. Er weist aber darauf hin, dass nicht jeder gewollte Sachverhalt zugleich ein geforderter ist. Er kann auch an einen Anderen gerichtet werden und dessen Einstellung gegenüber dem ausgesagten 11 sollen: 1. mit Inf. als Modalverb a) die Aufforderung, Anweisung, den Auftrag haben, etw. Bestimmtes zu tun b) drückt einen Wunsch, eine Absicht, ein Vorhaben (des Sprechers od. eines Dritten) aus c) <fragend od. verneint> drückt ein Ratlossein aus d) drückt eine Notwendigkeit aus e) <häufig im 2. Konj.> drückt aus, dass etw. Bestimmtes eigentlich zu erwarten wäre f) <häufig im 2. Konj.> drückt aus, dass etw. Bestimmtes wünschenswert, richtig, vorteilhaft o. ä. wäre g) drückt etw. (von einem früheren Zeitpunkt aus gesehen) in der Zukunft Liegendes durch eine Form der Vergangenheit aus: jmdm. beschieden sein h) <im 2. Konj.> für den Fall, dass i) <im Präs.> drückt aus, dass der Sprecher sich für die Wahrheit dessen, was er als Nachricht, Information o.Ä. weitergibt, nicht verbürgt j) <im 2. Konj.> dient in Fragen dem Ausdruck des Zweifels, den der Sprecher an etw. Bestimmtem hegt 2. Vollverb a) tun, machen sollen: das solltest du aber; was soll [denn] das? (welchen Zweck hat das [denn]?); b) sich irgendwohin begeben sollen; irgendwohin gebracht, gelegt usw. werden sollen: ich hätte heute eigentlich in die/zur Schule gesollt; wohin soll denn die neue Stadthalle? (wo soll sie denn gebaut werden?); er soll aufs Gymnasium (soll das Gymnasium besuchen). ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 245 Monika Banasova Sachverhalt beeinflussen. Aus diesem Grund drückt sollen auch „eine Aussage über das Bestehen einer Forderung“, wobei die Evidentialität von sollen zum Ausdruck gebracht wird. Engberg (2002:132) beschreibt diesen Unterschied sowohl semantisch als auch syntaktisch. Er weist auf eine Regel hin, dass sollen bei Vorkommen in Hauptsätzen eine verbindliche Regelung performativ12 einführt, wogegen sollen in Nebensätzen eine Absicht wiedergibt, die vom Gesetzgeber als beim Normadressaten vorhanden vorausgesetzt wird. Aus den genannten Gründen unterscheide ich in meinem Korpus zwischen der deontischen Notwendigkeit, die auch andere Subvarianten „Anforderung, Wille, Ratschlag“ einschließt und eine Notwendigkeit ausdrückt, die man erwartet: (12) Mit dem letzten Satz des Absatzes soll der Union die Möglichkeit gegeben werden, für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen. und einer dynamischen „Wiedergabe einer Absicht, einer Aussage über das Bestehen einer Forderung“: (13) Die Bank kann auf Vorschlag des Verwaltungsrats durch einen vom Rat der Gouverneure mit qualifizierter Mehrheit gefassten Beschluss Finanzierungen für Investitionen gewähren, die ganz oder teilweise außerhalb der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten durchgeführt werden sollen. Es gibt einige Belege, wo die Notwendigkeit noch markanter begrenzt ausgedrückt wird. Es handelt um die Konstruktionen mit K II, die relativ häufig (34%) vorkommen : (14) Jeder Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsakts sollte einen Vermerk mit detaillierten Angaben enthalten, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden. Haraldsen (2002:52) schreibt dem K II den abschwächenden Effekt zu, er kommt als eine Indiz für eine schwächere direktive Nuance vor. In Fritz (2000:135) trägt K II einen „hypothetischen Sinnanteil“. In den konditionalen Nebensätzen tritt sollen als nicht modal auf. Wie Hansen (2002) darauf hinweist, drückt sollen keine modale Bedeutung aus, sondern bietet den Raum für die Konditionalität. (15) Sollte die Anwendung von Artikel 34 zu einer deutlichen Zunahme der Einfuhren bestimmter Waren mit Ursprung in Ceuta oder Melilla führen, so dass die Erzeuger der Union geschädigt werden könnten, kann der Rat auf Vorschlag der Kommission Europäische Verordnungen oder Beschlüsse zur Fest12 performativ – das Schaffen einer Pflicht im Gegensatz zum bloßen Verweisen auf eine schon bestehende Pflicht. 246 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union legung von besonderen Bedingungen für den Zugang dieser Waren zum Zollgebühr der Union erlassen. 3.5 MÖCHTEN 13 Es gibt Autoren (Hansen, Öhlschläger), die mögen von möchten unterscheiden. Es handelt sich um eine K II-Form von mögen, heute wird aber schon als Indikativform verstanden. Die Bedeutungen beider Verben unterscheiden sich; sowohl syntaktisch als auch semantisch steht möchten dem wollen näher als mögen14. Während wollen einen „entscheidenden Wunsch“ ausdrückt, bezeichnet möchten eine „höflichere Form“, die sich dem Verb wünschen nähert (Öhlschläger, 1989:181). Im Korpus gibt es nur möchten-Belege. In allen Beispielen wird ein „Wunsch“ ausgedückt. Im Vergleich mit der wollen-Konstruktion (18), drückt man in der mögenKonstruktion einen „schwächeren Wunsch“ aus: (17) Der Antrag der Mitgliedstaaten, die untereinander im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Verstärkte Zusammenarbeit begründen möchten, wird an den Rat gerichtet. 3.6 WOLLEN 15 13 mögen: 1. mit Inf. als Modalverb a) zum Ausdruck der Vermutung; vielleicht, möglicherweise sein, geschehen, tun, denken b) zum Ausdruck der Einräumung od. des Zugeständnisses c) (schweiz., sonst landsch.) können, imstande sein, die Möglichkeit haben od. enthalten d) <Konjunktiv Prät. meist in der Bed. eines Indik. Präs.> den Wunsch haben e) wollen, geneigt sein, die Neigung u. die Möglichkeit haben (bes. verneint) f) zum Ausdruck der [Auf]forderung o. Ä.; sollen: er mag sich ja in Acht nehmen 2. Vollverb a) für etw. eine Neigung, Vorliebe haben; etw. nach seinem Geschmack finden, gern haben b) für jmdn. Sympathie od. Liebe empfinden; leiden mögen, gern haben c) den Wunsch nach etw. Haben d) nach etw. Verlangen haben, etw. erstreben 14 Mögen mit der nichtmodalen Bedeutung bezeichnet ein „Lustgefühl“ (Öhlschläger, 1989:178) – „gern haben“, oder mir seiner modalen Bedeutung drückt es „zulassen“ aus. Dementsprechend steht mögen dem können näher. 15 wollen: 1. mit Inf. als Modalverb a) die Absicht, den Wunsch, den Willen haben, etw. Bestimmtes zu tun b) <Prät.> dient der Umschreibung einer Bitte, eines Wunsches ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 247 Monika Banasova Die zentrale Bedeutung von wollen ist „etwas beabsichtigen, planen, wünschen“. Nach Öhlschläger (1989:166) wird eine Äußerung mit wollen folgend interpretiert: wenn der mit der NP (Nominalphrase) bezeichnete Gegenstand16 es vorzieht, dass der Sachverhalt eintritt. Ähnlich wie bei müssen, auch bei wollen wird das Merkmal [+OBLIGATION] ausgedrückt. Wollen ist durch einen Eingriff in die Temporalität charakteristisch. Bei allen Belegen aus dem Korpus kann man von einer „Absicht“ sprechen, die noch nicht realisiert wird, bzw. die vom jetzigen Zeitpunkt bis in die Zukunft zu realisieren ist. Dementsprechend kann man von einem „noch nicht verwirklichten Wille“ oder einer solchen „Absicht“ sprechen: (18) 2) Kommt der Mitgliedstaat, der innerstaatliche Vorschriften erlassen oder ändern will, der an ihn gerichteten Empfehlung der Kommission nicht nach, so kann nicht nach Artikel III-174 verlangt werden, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften ändern, um die Verzerrung zu beseitigen. 4. Morphologische Untersuchung der MV Alle Konstruktionen treten in der 3. Person Sg./Pl. auf. Es gibt keine Anrede per 2. Person und keine Aussagen in der 1. Person. Es ist verständlich, denn in der Verfassung Subjekte wie Europäische Union, Parlament, der Europäische Rat, Mitgliedstaat, usw. vorkommen. Ähnlich sind alle Konstruktionen ausschließlich im Präsens. Sie gelten aber atemporal, d. h. beziehen sich auf die allgemein geltenden Sachverhalte, obwohl sie hauptsächlich ein futurisches Element beinhalten. Die meisten Be- c) <Konjunktiv Präs.> (veraltend) drückt einen Wunsch, eine höfliche, aber zugleich bestimmte Aufforderung aus d) drückt aus, dass der Sprecher die von ihm wiedergegebene Behauptung eines anderen mit Skepsis betrachtet, für fraglich hält e) meist verneint; drückt aus, dass etw. [nicht] in der im Verb genannten Weise funktioniert, geschieht, abläuft o. Ä f) <in Verbindung mit einem 2. Part. u. »sein« od. »werden«> drückt aus, dass etw. eine bestimmte Bemühung, Anstrengung o. Ä. verlangt; müssen g) einen bestimmten Zweck haben; einem bestimmten Zweck dienen 2. Vollverb a) die Absicht, den Wunsch haben, etw. zu tun b) zu haben, zu bekommen wünschen; erstreben c) <Konjunktiv Prät.> drückt einen irrealen Wunsch aus: ich wollte (wünschte), es wäre alles vorüber; d) (ugs.) drückt meist verneint aus, dass etw. nicht funktioniert, nicht in der gewünschten Weise abläuft o. Ä e) (ugs.) für sein Gedeihen o. Ä. brauchen, verlangen f) *jmdm. etw. w. (ugs.; etw. Übles gegen jmdn. im Sinne haben, jmdm. etw. anhaben wollen 16 Unter „Gegenstand“ sind sowohl unbelebte Gegenstände als auch belebte Personen zu verstehen. Da die EU-Verfassung untersucht wird, erwähne ich lieber „Gegenstand“, weil im Korpus ausschließlich nur unbelebte Gegenstände vorkommen (Institution, Rat, Union, usw.) 248 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union lege sind Indikativformen. Es gibt aber einige KII-Formen. KII verändert die Bedeutung des MVs nicht, sondern hat einen abschwächenden Charakter, bezieht die Bedeutung in die schwächere Direktion. In allen Beispielen hat Negation keinen Einfluss auf die Bedeutung. Sie kommt nicht so häufig vor (außer dürfen), verändert die semantische Seite des MVs nicht, sondern schiebt die Bedeutung in die fehlende Umstände, d. h. „keine Möglichkeit haben“ (vgl. Kap. 3). Am meisten markant ist es bei dürfen. Mehr als die Hälfte aller dürfen-Belege bildet negierte Form, die die Bedeutung „keine Berechtigung haben“ (kein „Verb“) ausdrücken. Relativ häufig kommen Sätze in der Passivform vor. Es handelt sich um einen Gesetz, deshalb ist es natürlich, dass mit dem Passiv auf die Handlung, nicht auf den Täter hingewiesen wird. MV Person Tempus Modus (Anzahl) 3.Ps. Sg/Pl Präsens können (679) dürfen (147) müssen (74) sollen (70) möchten (11) wollen (9) 100% 100% 96% 4% 70% 30% 5% 100% 100% 100% 0% 60% 40% 62,5% 100% 100% 100% 0% 43% 57% 1,3% 100% 100% 100% 100% 66% 100% 34% x17 46% 100% 54% 0% 7% 0% 100% 100% 100% 0% 100% 0% 11% Indikativ KII Genus Aktiv Negation Passiv 5. Arten der Modalität in der EU-Verfassung Wie erwartet, kommt im Korpus kein Beleg in der epistemischen Modalität vor. Es ist verständlich, denn im Gesetztext findet die Sprechereinstellung keinen Platz. Interessant ist Verhältnis zwischen der dynamischen und deontischen Modalität. Bei deontischer Modalität der Verpflichtung und Erlaubnis berührt die Notwendigkeit und Möglichkeit auf dem Willen Anderer (vgl. Kap. 2). Die deontische Quelle führt auf die moralischen bzw. juristischen Prinzipien zurück, die durch eine Institution (Europäische Union) bedingt sind. Aus diesem Grund kommt deontische Modalität im höchsten Maßen vor (86,3%). Die dynamische Modalität beschränkt sich auf die „Fähigkeit“ (z. B. eines Mitgliedstaates) oder auf die „Wiedergabe einer Absicht“ bei sollen (vgl. Kap. 3.4). Nur 0,4% aller Belege aus dem Korpus geht es um nicht modale Deutungen (bei sollen, vgl. Kap. 3.4). 17 Wie erwähnt, möchten wird als Indikativform mit eigener Bedeutung verstanden (vgl. Kap. 3.5) ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 249 Monika Banasova Modalitätsarten in der EU-Verfassung: deontisch dynamisch epistemisch nicht modal 6. Bedeutungen der MV in der EU-Verfassung – eine Zusammenfassung Den konkreten Bedeutungen der MV und deren Explikationen wird Kapitel 3. gewidmet. An dieser Stelle möchte ich die Ergebnisse rekapitulieren und die Hauptbedeutungen erwähnen. Zuerst beschäftige ich mich mit den Bedeutungen des jeweiligen MVs: MV Bedeutungen Erlaubnis können Anteil in % 88 Objektive Möglichkeit 9,1 Fähigkeit 2,9 dürfen Berechtigung 100 müssen Pflicht 98,6 Möglichkeit sollen 1,4 Wiedergabe einer Absicht 52,8 Notwendigkeit 41,4 Nicht modale Konditionalität 5,8 möchten Wunsch 100 wollen Absicht 100 Aufgrund der minimalistischen semantischen Analyse im Kapitel 3 kann man feststellen, dass man die einzelnen Bedeutungen in drei semantische Hauptfelder gliedern kann: semantisches Feld der „Möglichkeit“ und „Notwendigkeit“ und des „Wunsches“. Das größte semantische Feld bildet die „Möglichkeit“, durch können und dürfen vertreten. Eine Handlung kann durch den Willen Anderer bzw. bestimmter Kollektive (hier EU) ermöglicht werden. Den größeren Anteil bildet können, das die „kausale Möglichkeit“ ausdrückt – man hat die Möglichkeit, weil ein Sachverhalt auftritt / es zuläßt. Im Gesetz ist eher dürfen zu erwarten, da es der zentrale Ausdruck für eine 250 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 Modalität in der Verfassung der Europäischen Union „Erlaubnis“ ist. Semantisch stehen sich diese MV sehr nahe einander, beide bewegen sich im Feld der „kausalen Möglichkeit“, können ist jedoch weniger konsequent und lässt eine „Möglichkeit“ zu, d. h. man kann etwas, weil es zugestanden ist. 700 600 können 500 400 dürfen m üssen 300 sollen 200 m öchten 100 w ollen 0 Möglichkeit Notw endigkeit Wunsch Müssen und sollen sind die zentralen Ausdrücke der „Notwendigkeit“. Sie unterscheiden sich voneinander nur in der Stärke der „Notwendigekit“. Während müssen nur eine Handlungsmöglichkeit zulässt, drückt sollen18, dass eine Handlung erwartet wird, lässt also mehrere Handlungsmöglichkeiten zu. Beide MV drücken aber „Verpflichtung“ aus, die durch Merkmal [+OBLIG] charakteristisch sind. Das Nachfolgen wird verlangt/erwartet. Man kann feststellen, diese zwei MV sind in der EUVerfassung am meisten direktiv, obwohl sie nur kleinen Anteil in der Verfassung bilden. Beide MV drücken „kausale Notwendigkeit“ aus, man ist verpflichtet etwas zu tun, weil es gewollt / gefordert ist. In den Einzelstudien unterscheidet man das semantische Feld „Wunsch“ nicht; jedoch erwähne ich diese dritte Grundbedeutung, da es sich um keine „Möglichkeit“, bzw. „Notwendigkeit“ handelt, sondern es wird eher eine „Absicht“, ein „Wunsch“ ausgedrückt, der sich auf die Zukunft bezieht. In dieser Variante treten ausschließlich wollen und möchten auf, deren Semantik sich auf die noch nicht realisierte Handlungen bezieht und so Vorhaben/Pläne/Absichte in die Zukunft ausdrückt. Die Bedeutungen der übrigen MV sind eher atemporal, nur bei diesen zwei bezieht sich die Semantik auf die zukünftigen Handlungen. Nach dem Auswerten aller Bedeutungen scheint es überraschend zu sein, dass den größten Anteil der Bedeutungen gerade „Möglichkeit“ bildet. Im Gesetz wären eher müssen und sollen zu erwarten. Man kann also feststellen, dass die EU-Verfassung zwar direktive „Notwendigkeiten“ fordert, im größeren Maßen wird aber die „Mög- 18 Dazu zählt man auch die Variante „Wiedergabe einer Absicht“, da es sich um eine Notwendigkeit evidentieller Art handelt. ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007 251 Monika Banasova lichkeit“ ausgedrückt, d. h. aufgrund einer Erlaubnis/Berechtigung die Möglichkeit haben etwas zu tun. Der Gesetz ist folglich weniger direktiv, erwähnt eher die Möglichkeiten, die den Mitgliedsstaaten und den handelnden Personen zugestanden sind, als direktiv etwas aufzufordern. Man kann nicht von einer Direktivität in der EU-Verfassung sprechen, sondern es wird vor allem auf die kausalen Möglichkeiten (aufgrund von bestimmten Umständen/Berechtigung die Möglichkeit zum Handeln haben) hingewiesen. In allen drei semantischen Feldern tritt Kausalität als bedeutungsgebend auf. Die Kausalität beeinflusst die Semantik der MV, indem sie in die kausalen Zusammenhänge verbindet und die Semantik der MV in das pragmatische Gebiet schiebt. Man kann feststellen, dass die Modalität an der Grenze zwischen der Subjektivität und Kausalität liegt. Modalität als intersystematisches Phänomen befindet sich im Rahmen des Feldes der Kausalität. Die Kausalität, eng mit der Pragmatik verbunden, steht über Bereich der Modalität, d. h. grenzenübergreifend beeinflusst sie die Semantik der MV. Literatur: 1. Regensburger Paralellkorpus – die EU-Verfassung 2. DIETRICH, R.: Modalität im Deutschen: zur Theorie der relativen Modalität. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. 3. EISENBERG, P. et al.: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Bd 4, Dudenverlag 1995. 4. ENGBERG, J.: Sollen in Gesetztexten. In: HANSEN, C. F., LEIRBUKT, O., LETNES, O.: Modus, Modalverben, Modalpartikeln. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2002. 5. ENGEL, U.: Deutsche Grammatik. Heidelberg: Groos Verlag, 1996. 6. FRITZ, T. A.: Wahr-Sagen: Futur, Modalität und Sprecherbezug im Deutschen. Hamburg: Helmut Buschke Verlag, 2000. 7. HANSEN, B.: Das slavische Modalauxiliar. München: Verlag Otto Sanger, 2001. 8. HANSEN, B.: Die modale Landkarte im Slavischen: Russisch, Polnisch und Serbisch/Kroatisch. Slavistische Beiträge. München: Verlag Otto Sanger, 2001. 9. HARALDSEN, T.: Semantische und pragmatische Aspekte direktiv verwendeter Konditionalgefüge mit indikativischem wenn-Satz. In: HANSEN, C. F., LEIRBUKT, O., LETNES, O.: Modus, Modalverben, Modalpartikeln. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2002. 10. HELBIG, G., BUSCHA, J.: Deutsche Grammatik. Langenscheidt Verlag Enzyklopädie 1998. 11. JÄNTTI, A.: Probleme der Modalität in der Sprachforschung. In: Studia Philologica Jyväskyensia 23. Universität Jylväskylä, Jylväskylä 1989. 12. ÖHLSCHLÄGER, G.: Zur Syntax und Semantik der Modalverben des Deutschen. Tübingen, 1989 252 ZGR 1-2 (29-30) / 2006, 1-2 (31-32) / 2007