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ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 LEBENSRÄUME 10 EURO FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 LEBENSRÄUME 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Herausgeber Michael K. Rasmussen Website www.velux.de/Architektur VELUX-Redaktionsteam Christine Bjørnager Lone Feifer Axel Friedland Jana Masatova Lotte Nielsen Torben Thyregod Auflage 90,000 Exemplare Redaktionsteam Gesellschaft für Knowhow-Transfer Thomas Geuder Katja Pfeiffer Jakob Schoof Bildredaktion Torben Eskerod Adam Mørk Art Direction & Layout Stockholm Design Lab ® Kent Nyberg Sharon Hwang www.stockholmdesignlab.se Titelfoto Quallenschwarm Foto: Chris Sattlberger / SPL / Agentur Focus Recherche und Textredaktion Gesellschaft für Knowhow-Transfer ISSN 1901-0982 Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe. © 2006 VELUX Gruppe ® VELUX und das VELUX Logo sind registrierte Markenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe. DISKURS VON JAIME SALAZAR Foto links von Michael Wolf, www.photomichaelwolf.com, courtesy of Hasted Hunt Gallery, New York, www.hastedhunt.com Mehr über Lebensräume erfahren Sie in dieser Ausgabe ab Seite 14. LEBENSRÄUME In einer Zeit, in der die vom Menschen entwickelte Technik atomare Größenordnungen errreicht, ist der Bau eines Hauses noch immer ein relativ vages und unpräzises Unterfangen. Im Gegensatz zu anderen, vollständig computergesteuerten Herstellungsprozessen war und ist Architektur stets ein Erzeugnis von Menschenhand. Unsere Lebensräume werden von Menschen entworfen, finanziert und bewohnt. Wünsche und Sorgen, Träume und Frustration, Konflikte und Harmonie sind entscheidende Bestandteile des Entwurfs- und Bauprozesses; sie gehören zum Leben eines Gebäudes. Architektur muss sich der widersprüchlichsten Extreme annehmen, sie muss vermitteln zwischen Tradition und Innovation, zwischen der Notwendigkeit des Neuen und der Furcht vor dem Neuen. Sie muss dem Unerwarteten Raum lassen, muss bereit sein für Wachstum und Schrumpfung, muss sich ändernde Nutzungen und Haltungen gleichermaßen aufnehmen können. Wenn irgend etwas den Namen „Architektur für das Informationszeitalter“ verdient hat, dann eine Bauweise, die noch nicht als vollendet gilt, wenn das Gebäude steht; eine Architektur, bei der die Information über künftiges Leben und künftige Nutzungen in den Entwurfsprozess zurückfließt. Es gehört zu den offensichtlichen Bestrebungen unserer Gesellschaft, uns in der Gegenwart der Zukunft versichern zu wollen. Die Sorge um unser persönliches und gesellschaftliches Fortbestehen ist einer der wichtigsten ökonomischen – und ökologischen – Einflussfaktoren überhaupt, und unsere Lebens- und Wohnräume sind für dieses unser Bestreben nach Sicherheit von grundlegender Bedeutung. Architektur bedarf heute mehr denn je der Voraussicht, eher noch als der technischen Fähigkeiten. An der Spitze des technischen Fortschritts arbeitet der Mensch daran, eine künstliche Natur zu erschaffen, die der Natur, aus der er entstammt, spiegelbildlich gegenübersteht: Maschinen tragen nahezu lebendige Züge, während unsere Körper einem zunehmenden Prozess der Artifizierung unterworfen sind. Unsere Computernetzwerke werden auf ähnliche Weise von Viren angegriffen wie wir selbst. Zugleich haben wir nach Jahrzehnten der Zerstörung die Fragilität und Komplexität der Natur als unseres Ursprungs begriffen. In einer Zeit, in der Innovation für jede Tätigkeit unabdingbar geworden ist, die dem Druck der Globalisierung standhalten will, kann Architektur nicht länger als rein technische Dienstleistung verstanden werden. Wir sollten den Prozess des Bauens als einen Prozess ständiger Verbesserung begreifen, als Ausdruck menschlichen Scharfsinns und Ideenreichtums, und als Übersetzung der unglaublichen Komplexität unserer Welt in die Praxis des Bauens. Im Grunde also als das, was sie immer schon war. 1 VELUX EDITORIAL WILLKOMMEN BEI DAYLIGHT & ARCHITECTURE, DEM ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 1 2 3 4 8 14 40 46 50 54 64 70 76 80 Diskurs von Jaime Salazar VELUX Editorial Inhalt Jetzt Mensch und Architektur Architektur ohne Architekten Lebensräume Homo Habitans Reflektionen Negotiate my boundary! Licht Europas Toskana, Italien Tageslicht im Detail Open Source Building VELUX Einblicke Suburbanes Puzzlespiel VELUX Panorama Die Farbe macht den Unterschied – Wohnsiedlung Hageneiland in Ypenburg Wochenendhaus in der Stadt – Haus XXS in Ljubljana Zeitgenössischer Klassiker – Villa Karlsson in Västerås VELUX Dialog Internationales Symposium zur Tageslichtqualität Bücher Rezensionen Empfehlungen Vorschau In dieser Ausgabe von Daylight & Architecture laden wir Sie auf eine Reise durch die „Natur des Wohnens“ ein und präsentieren ganz unterschiedliche und überraschende Blickwinkel auf einen wichtigen Teil unseres Lebensumfelds – den Wohnraum. Als Individuen haben wir alle eine Beziehung zum Wohnraum, und das macht dieses Thema für die meisten von uns zu einem Thema von grundlegender Relevanz. Darüber hinaus sind die Entwicklung von Lebensstilen im Laufe der Zeit und in verschiedenen Teilen der Erde und somit die Traditionen und Tendenzen im Bauwesen von wesentlicher Bedeutung, insbesondere auch für VELUX. Als internationaler Hersteller von Dachwohnfenstern und Tageslichtsystemen ist es für uns von höchster Bedeutung, die Relevanz unserer Produkte in gegenwärtiger und zukünftiger Architektur zu suchen und auszubauen. VELUX möchte alle Initiativen für bessere Lebensräume aktiv unterstützen und die Rolle des Tageslichts bei der Festlegung von Prioritäten im Entwurf stärken und fördern. Dieser Fokus ist unser Ausgangspunkt für einen spannenden Dialog innerhalb der Baubranche – insbesondere mit Architekten. INHALT JETZT 4 Saisonbeginn im Ice Hotel im kanadischen Québec. Fliesen und Tapeten, die auf Tageslicht reagieren. Eine „bedeutungsvolle“ Fassade von Diener & Diener in Malmö. Und: Der Traumbaum, ein Kindergarten in Berlin, wurde von der Studentengruppe Baupiloten umgebaut. MENSCH UND ARCHITEKTUR ARCHITEKTUR OHNE ARCHITEKTEN 8 2 Wir wünschen uns diesen engagierten Dialog mit Experten zum Thema Tageslicht und möchten dadurch die architektonische Relevanz unserer Produkte immer aufs Neue überprüfen als auch unter Beweis stellen. Für uns ist das Tagesgeschäft eng mit dem Entwurf von Gebäuden verbunden, insbesondere mit der Konzentration auf Tageslicht und frische Luft als Voraussetzung für bessere Lebensbedingungen im menschlichen Alltag. Tageslicht ist unsere Leidenschaft und mit „Daylight & Architecture“ möchten wir diese Leidenschaft mit Ihnen teilen. In diesem Magazin – und in den folgenden Ausgaben – sprechen wir Themen an und stellen unterschiedlichste Ansichten und Meinungen zur vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Architektur mit Tageslicht und frischer Luft vor, um damit ein Forum für den professionellen Dialog zu schaffen. Anstatt lediglich vorhersagbare Standardantworten und Statements zu präsentieren, die niemandem nutzen, möchten wir Fragen aufwerfen und dadurch gemeinsam mit Ihnen den Architekturdiskurs in Bezug auf Tageslicht und ein besseres Lebensumfeld inspirieren und voranbringen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen. Der Österreicher Bernard Rudofsky (1905-1988) gilt als Wiederentdecker der anonymen Architektur. Sein Text Architecture without Architects – A Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture“ (Architektur ohne Architekten – eine kurze Einführung in die nicht-rassereine Architektur) hat auch 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts an Relevanz eingebüßt.. D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 LEBENSRÄUME HOMO HABITANS 14 Der Mensch und sein Lebensraum, die Erde: Nicht immer und überall war diese Symbiose bislang von Harmonie geprägt. Jaime Salazar und Jakob Schooff beschreiben, wie Menschen die Welt für sich bewohnbar gemacht haben und wie menschliches Wohnen in der Zukunft aussehen könnte: urban und doch naturnah, industriell gefertigt und individuell zugleich, und fähig, sich wechselnden Nutzungen und Familiengrößen anzupassen. REFLEKTIONEN NEGOTIATE MY BOUNDARY! 40 Architekten und Bauherren sind im Wohnungsbau meist auf Erfahrungswerte und Daumenregeln angewiesen, wenn sie die Bedürfnisse der späteren Bewohner erahnen wollen. Doch es geht auch anders: In negotiate my boundary! – Verhandle meine Grenzen!! entwerfen die fünf jungen Architekten RAMTV ein Szenario, in dem die Käufer die Nutzung, Form und Größe ihrer Wohnungen selbst aushandeln. VELUX EINBLICKE SUBURBANES PUZZLESPIEL 54 Eine gesunde soziale Mischung ist das A und O vieler aktueller Wohnbauprojekte in den Niederlanden. In SWANLA, dem „Haus mit vielen Dächern“, haben die Architekten Drost + van Veen nicht nur Wohnraum für fast alle sozialen und Altersgruppen geschaffen, sondern den Bewohnern auch die Möglichkeit gegeben, ihre Wohnungen später selbst zu erweitern. VELUX PANORAMA Kleider machen Häuser – dies gilt zumindest für Hageneiland, die „Heckeninsel“ im niederländischen Ypenburg, mit ihren 119 Wohnungen von MVRDV. In Ljubljana haben Dekleva & Gregoric ein Ferienhaus für ein älteres Ehepaar vom Land gebaut. Und am Ufer des Mälarsees haben Tham & Videgard Hånsson den Typ des roten schwedischen Holzhauses auf überraschende Weise neu interpretiert. 64 3 JETZT Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Projekte und aktuelle Neuentwicklungen rund um das Thema Tageslicht. ,TRAUMBAUM’ IM KINDERGARTEN FOTO: JAN BITTER „Die Baupiloten“ nennt sich eine wechselnde Gruppe von Architekturstudenten der TU Berlin. Unter der Leitung zweier freier Architekten, Susanne Hofmann und Martin Janekovic, realisierten sie mit sparsamen Mitteln die Umgestaltung der Kindertagesstätte „Traumbaum“ in Berlin-Kreuzberg. Wie bei allen ihren Projekten zielten die Baupiloten auch hier darauf ab, Architektur mit sozialem Anspruch zu verbinden: Das insgesamt 47000 Euro teure Umbauprojekt soll die Lebensqualität in einem sozial problematischen Stadtteil verbessern. Zentrales Element der Umgestaltung ist der „Traumbaum“, eine Konstruktion aus Gipskarton und hoch reflektierendem Edelstahl im zentralen Atrium. Der Traumbaum regt die Fantasie der Kinder an, fördert die Kommunikation und bietet vielfältige Rückzugsmöglichkeiten: Er kann glitzern, leuchten und Geräusche erzeugen. Aus dem „Stamm“ wachsen „Traumblüten“, eine Art Sitzkorb, und eine Welt glänzender „Silberblätter“, die sich vom Erdgeschoss bis hinauf in das Obergeschoss verzweigen. Setzt sich ein Kind in eine der grün, blau, gelb oder orange hinterleuchteten Traumblüten, schwingt sie leicht hin und her. Dabei geben einige Blätter ein wohliges „Schnarchen“ von sich. Bewegen die Kinder den Schüttelast, so „lacht“ er. Die Blätter reflektieren auf vielfältige Weise Licht weit in die Flure hinein. Das Konzept sieht hierfür drei verschiedene Szenarien vor: Im Winter fangen die Blätter das Tageslicht im Eingangsbereich ein und lassen die Blätter an der Flurdecke im Untergeschoss glitzern. Im Frühling und Herbst wandert das Licht entlang der Flure durch das Atrium und taucht sie in ein funkelndes Licht. Im Sommer leiten so genannte „Leuchtblätter“ an der Deckenkante des Atriums das Sonnenlicht weiter und erhellen dabei die Decken im Untergeschoss. 4 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 „Das Gussglas, das die äußere Schicht der Fassade bildet, reflektiert das Licht unregelmäßig und verdeckt die dahinter liegende Schrift aus glänzendem Metall unregelmäßig. Damit wird das Licht um das Haus zum eigentlichen Material, das es immer wieder verändert.“ Roger Diener VERSTECKTE BOTSCHAFTEN FOTO: CHRISTIAN RICHTERS Auch Malmö lernt, wie viele Städte der Welt, derzeit die Vorteile seiner Lage am Wasser neu zu schätzen: Hafenanlagen werden zu Wohngebieten oder – wie im Fall der „Malmö Lärarhögskolan“ – zum Standort einer Bildungseinrichtung für angehende Lehrer und Lehrerinnen. Nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt wurde im Herbst der „Orkanen“ getaufte Neubau der Architekten Diener und Diener aus Basel eingeweiht. Je, nach Blickwinkel und Sonnenstand reflektiert die fünfgeschossige Glasfassade entweder das Blau des Himmels oder lässt den ins Grüne tendierenden Braunton der dahinter liegenden Dämmebene durchscheinen. Verwendet wurde ein 12 Millimeter starkes Gussglas mit prismatischer Oberflächenstruktur (Sekurit Typ „Raywall“), das über Punkthalter an der Rohbaufassade befestigt ist. Um den optischen Effekt zu erleben, muss der Betrachter nicht einmal den Standort wechseln: Durch die leichte Zickzackform der Fassade sind reflektierende und durchscheinende Glasflächen stets gleichzeitig im Blick. Beim senkrechten Durchblick werden hinter dem Strukturglas zudem Buchstaben aus glänzendem Metall sichtbar, die sich zum immer gleichen Wort in unterschiedlichen Sprachen formen: „Freiheit – Freedom – Vrijhed – frihed – inkululeko“. Eine Anspielung auf den Entwurf der Architekten? Diese schreiben über ihren Neubau: „Es ist ein Gebäude ohne traditionelle Hierarchien [...] Die einzelnen Bereiche sind lapidar aneinander gesetzt, nur die Hauptbibliothek legt sich über alle Trakte hinweg und verklammert das ganze Bauwerk.“ Erkennbar wird auch dies an der Fassade mit ihren wechselnden, bis zu fünf Meter reichenden Fensterhöhen, die auf den ersten Blick ausschließlich von funktionaler Notwendigkeit diktiert werden, sich bei genauerem Hinsehen jedoch zu einem durchkomponierten Gesamtbild ergänzen. 5 FOTO: XAVIER DACHEZ/ICE HOTEL QUÉBEC-CANADA FOTO: SENSITILE LICHTREFLEXE UND SCHATTENSPIELE Ein japanisches Gedicht über einen Spaziergang im Bambuswald war – so behauptet es der amerikanische Architekt Abhinand Lath – die Inspirationsquelle für seine Erfindung “SensiTile”: Ebenso wie sich die Bambuspflanzen bei Berührung bewegen und dadurch ständig neue Schattenrisse entstehen lassen, reagieren auch die “SensiTile”Kunststoff fliesen auf Bewegungen, Veränderungen in der Farbe und in der Intensität des Lichts. Sie können als Bodenbelag, Fassadenbekleidung oder Auskleidung von Becken, aber auch als Möbel- und Tischoberfläche eingesetzt werden. SensiTiles bestehen aus einer lichtleitenden Matrix, die in ein Trägermaterial eingebettet ist. Der Lichttransport geschieht durch Totalreflexion, wie sie von Lichtleitfasern bekannt ist. Die Fliesen reagieren entweder auf die Abwesenheit von Licht (also Schatten) oder auf sich bewegende Lichtquellen. Im ersten Fall bildet die Fliese jeden Schatten, 6 der auf ihre Oberfläche fällt, räumlich versetzt ab. In hellen Räumen, etwa bei Tageslicht, verursachen bewegte Schatten eine Wellenbewegung auf der Fliesenoberfläche. Bei Dunkelheit werden einfallende Lichtstrahlen von der Fliese umgelenkt und treten an anderer Stelle wieder aus. Gleichzeitig können die SensiTiles Farben absorbieren und „durchsickern“ lassen. Einfallendes, farbiges Licht wird über die gesamte Fliesenbreite gestreut. Bei mehrfarbigem Licht werden die Farben gemischt und auf der Fliesenoberfläche neu geordnet. Da die optischen Eigenschaften von SensiTile materialimmanent sind, wird kein Stromanschluss benötigt. Die optischen Effekte werden rein passiv durch externe Lichtquellen erzeugt und bleiben über die gesamte Lebenszeit der Fliese erhalten. Noch bis zum 2. April hat das „Ice Hotel Québec-Canada“ seine Türen geöffnet. Auch in seiner mittlerweile sechsten Saison heißt das temporäre Bauwerk seine Gäste mit 32 Räumen und Themen-Suiten sowie mit Innentemperaturen knapp über dem Gefrierpunkt willkommen. Sein Vorbild ist das Eishotel im nordschwedischen Jukkasjärvi: Dessen Architektur hatte der Gründer des Ice Hotel Québec-Canada, Jacques Desbois, ein Pionier des kanadischen Öko-Tourismus, eingehend studiert, bevor er seine Idee im Winter 2000 erstmals in die Tat umsetzte. Von 1000 Quadratmetern im ersten Winter ist das Eishotel inzwischen auf 3000 Quadratmeter Fläche gewachsen. Die Struktur besteht aus 12 000 Tonnen Schnee und 400 Tonnen Eis und besitzt Raumhöhen bis zu 5,4 Metern. 220 000 Menschen haben das Eishotel seit 2000 besucht, rund 11000 eine Nacht in den Zimmern verbracht, die ab 199 kanadischen Dollar pro Nacht zu buchen D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 sind. Im April jeden Jahres stellt das Hotel seinen Betrieb ein und beginnt zu schmelzen - nur um im Spätherbst des gleichen Jahres erneut errichtet zu werden. Damit dabei keine Langeweile aufkommt, werden Innenausstattung und Dekor von Jahr zu Jahr immer wieder leicht modifiziert. So gibt es im Eishotel nicht nur Betten und Sitzbänke, sondern auch einen Lüster aus Eis mit integrierten Lichtleitfasern. Das Ice Hotel Québec-Canada liegt in der Gemeinde Sainte-Catherine-de-la-Jacques-Cartier, 30 Minuten westlich des Stadtzentrums von Québec City. Es ist entweder mit dem Auto über den Highway 40 oder per Bus-Shuttle vom Stadtzentrum aus erreichbar. FOTO: SADAR VUGA ARHITEKTI FOTO: ANNA LÖNNERSTAM SCHATTEN AN DER WAND Räume verändern ihr Aussehen und ihre Atmosphäre mit dem Lichteinfall. Doch nur selten reagiert eine Raumoberfläche so direkt auf Tageslicht wie das „Wallpaper by Shadows“ der vier schwedischen Designerinnnen Front Design: Bei künstlichem Licht ist die Tapete schlicht weiß. Sobald sie jedoch von der Sonne beschienen wird, erscheinen darauf violette Schattenrisse von Lampen und anderen Haushaltsgeräten. „Wallpaper by Shadows“ ist Teil der Serie „Design by...“, mit der Front Design den Einfluss von menschlichen Handlungen und Natureinflüssen auf die Form von Objekten darstellt. Photochrome Pigmente, wie sie zum Druck des „Wallpaper by Shadows“ verwendet wurden, sind bereits seit den 60er Jahren bekannt. Wirkliche Verbreitung fanden sie jedoch erst seit Anfang der 90er Jahre, zunächst in der Brillenindustrie und später auch auf T-Shirts, in Nagellack und in zahlreichen Kunststoffprodukten. Vor allem die Werbung GRÜNE POLITIK hat die lichtempfindlichen Pigmente mittlerweile für sich entdeckt. Sie reagieren ausschließlich auf UV-Strahlung und verändern daher ihre Molekularstruktur (und damit die Farbe) nur bei Tageslicht, aber nicht bei künstlichem Licht. Anders als gewöhnliche Pigmente, die einen Teil des Lichts reflektieren, absorbieren photochrome Farbstoffe das Licht teilweise und lassen den Rest passieren. Vor einem schwarzen Hintergrund ist also kein Effekt zu beobachten. Ideal sind dagegen helle, möglichst weiße Hintergründe, die die verbleibenden Lichtanteile reflektieren und damit „farbig“ werden. Bei den meisten photochromen Pigmenten ist jedoch ein Alterungseffekt zu beobachten: Je länger sie der UV-Strahlung ausgesetzt sind, desto weniger kehren sie in ihren transparenten Ursprungszustand zurück. Ein Nachkriegsbau erstahlt in ungewöhnlichem Licht: Das Bürogebäude in der Gregorciceva 25 in Ljubljana, 1945 entworfen und in den 50er Jahren für das jugoslawische Außenministerium errichtet, wird derzeit von den Architekten Jurij Sadar und Bostjan Vuga umgebaut. Neue Nutzerin wird die slowenische Regierung sein. Die einstigen Zweispänner in den vier Büroebenen werden in Kombibüros umgewandelt. Die neue Mittelzone dient, wie in diesem Bürotyp üblich, als Treffpunkt für die Mitarbeiter und als Bereich für Pausen; sie ist jedoch auch ein wesentlicher Teil des „Bildprogramms“ der neuen Innenarchitektur. Glaswände trennen die Büros und Besprechungsräume von den Korridoren und lassen zugleich das Tageslicht tief in die Büroebenen einfallen. Zwischen den Büroräumen und Fluren bestehen die Wände aus matt transluzentem Glas mit grünen, aufgedruckten Streifen als Sichtschutz. In der Mittelzone wurden die Trennwände aus dem gleichen System gefertigt, erhielten jedoch eine Füllung aus grünen Kunststoff waben im Scheibenzwischenraum. Die eigens für dieses Projekt hergestellten, transluzenten Waben verleihen den Flächen eine grafische Struktur, die sich mit dem Blickwinkel des Betrachters ständig verändert. Im Gegenlicht lösen sie sich in ein flirrendes Spiel von Linien und Flächen auf, in dem jedes Gefühl für Maßstäbe und Entfernungen verloren geht und die Umrisse der Angestellten nur noch schemenhaft erkennbar sind. 7 MENSCH UND ARCHITEKTUR Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur: Innenansichten einer wechselvollen Beziehung. ARCHITEKTUR OHNE ARCHITEKTEN Oben Kamerun: Das Bild zeigt ein ,Saré‘-Haus, wie es ihre Bewohner, die Hausa, nennen, in der Stadt Ngaoundéré im Norden des Landes. Es ist mit Stroh gedeckt und gehört dem Stammeschef. Text von Bernard Rudofsky. Fotos von Yoshio Komatsu. Architecture without Architects – A Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture betitelte das Museum of Modern Art 1964 eine Ausstellung zur Forschungsarbeit des österreichischen Architekten Bernard Rudofsky. Der Text ist seinem Buch zur Ausstellung entnommen und führt in das gestern wie heute aktuelle Thema ein. Die in der westlichen Welt dokumentierte und gelehrte Architekturgeschichte beschäftigt sich seit jeher nur mit wenigen ausgewählten Kulturen. Geografisch umfasst sie lediglich einen kleinen Teil der Erde – Europa und Gebiete Ägyptens und Anatoliens, also kaum mehr als die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert bekannte Welt. Zudem widmet sich die Entwicklungsgeschichte der Architektur in der Regel nur den späten Phasen. Die Chronisten übergehen gerne die ersten fünf Jahrtausende, um uns ein farbenprächtiges Szenarium „formaler“ Architektur zu präsentieren; dieser willkürlich gesetzten Grenze für den Beginn der Baukunst entspräche in etwa, das Entstehen der Musik auf das Gründungsdatum des ersten Symphonieorchesters zu datieren. Die Nichtbeachtung der Frühstadien mag angesichts der Spärlichkeit damaliger Bauwerke von architektonischer Bedeutung erklärbar sein, ist aber nicht entschuldbar – diese Diskriminierung ist vielmehr bedingt durch die eingeschränkte Sichtweise der Geschichtsschreiber. Zudem wird die uns übermittelte Architekturgeschichte grundsätzlich durch soziale Aspekte beeinflusst: Sie ist kaum mehr als ein „Who’s who“ angesehener Bauplaner, die Macht und Wohlstand Ausdruck verliehen, oder eine Anthologie der Gebäude von und für privilegierte Stände – Herbergen christlichen und abtrünnigen Glaubens, Häuser von Kaufleuten oder Adelsgeschlechtern. Über die Behausungen kleiner Leute hingegen wird kein Wort verloren. [...] Architektur ohne Architekten möchte unser enges Verständnis von Baukunst überwinden und uns in die ungewohnte Welt ursprünglicher Architektur einführen. Diese ist so unbekannt, dass hierfür nicht einmal ein Name existiert. Zur allgemeinen Definition könnte man sie als volkstümlich, anonym, spontan, ursprünglich und ländlich charakterisieren. Leider wird unsere Kenntnis von ihr erschwert durch den Mangel an schriftlichen oder visuellen Belegen. Während wir recht gut informiert sind über die Kunstformen und ausgefeilten Techniken von Malern, die vor 30.000 Jahren lebten, schätzen sich Archäologen glücklich, wenn sie über die Überreste einer Stadt aus dem 3. Jahrtausend vor Christus stolpern. Da die Frage nach den Anfängen der Architektur nicht nur legitim, sondern eines der Hauptanliegen der Ausstellung ist, müssen zumindest ein flüchtiger Blick und die Bezugnahme auf mögliche Quellen gestattet sein. Ein Volk, das auf die Bibel schwört, betrachtet diese selbstverständlich als Grundlage seiner Kultur. Leider ist die Heilige Schrift im Hinblick auf die Architektur wenig ergiebig und vielmehr verwirrend, wenn wir erfahren, dass Adams Sohn Kain eine Stadt baute und nach seinem Sohn Henoch benannte (Genesis IV: 17). Eine Stadt für eine einzige Familie mag zwar herrlich klingen, ist aber ein höchst extravagantes Unterfangen, das sich im Laufe der Geschichte niemals wiederholte. Andererseits illustriert dieses Beispiel den atemberaubenden Prozess, wie sich innerhalb nur einer Generation das glückliche und unbeschwerte Leben im Paradies in den schon fast ärgerlich komplizierten Organismus einer Stadt verwandelt. Skeptiker, die Henoch als bloße Schimäre abtun, werden der Arche Noah größere Bedeutung beimessen, zumal sie von Gott selbst in Auftrag gegeben und nach seinen Anweisungen gebaut wurde. Die Frage, ob die Arche eher Gebäude oder Wasserfahrzeug war, erübrigt sich: Die Arche hatte keinen Kiel (dieser wurde erst später erfunden), und wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Schiffe damals noch nicht bekannt waren, da deren Existenz den Sinn und Zweck der Sintflut zunichte gemacht hätte. [...] Gottesleugner, die den Ursprung der Architektur lieber in der Wissenschaft suchen, werden ein paar harte Brocken zu schlucken haben: Lange bevor der erste erfinderische Mensch einige Zweige zu einem löchrigen Dach formte, beherrschten viele Tiere diese Baukunst bereits vorzüglich. So ist es mehr als unwahrscheinlich, dass Biber erst durch das Beobachten menschlicher Dammbauer auf die Idee kamen, selbst Dämme zu errichten – vermutlich verhielt es sich genau umgekehrt. Höchstwahrscheinlich wurden die ersten Menschen durch ihre Artverwandten, die Menschenaffen, zum Bau von Hütten animiert. Darwin beobachtete, dass die Orang-Utans auf den fernöstlichen Inseln und die Schimpansen in Afrika Plattformen zum Schlafen errichten, und „da beide Spezies denselben Gewohnheiten folgen, könnte dies mit instinktivem Handeln erklärt werden; andererseits können wir nicht völlig ausschließen, dass diesem Verhalten ähnliche Bedürfnisse beider Tierarten zu Grunde liegen, die vergleichbaren Denkmustern folgen“. Ungezähmte Affen teilen allerdings nicht das menschliche Bedürfnis, Schutz in Naturhöhlen oder unter Felsvorsprüngen zu suchen, sondern bevorzugen selbst gebaute D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 9 Linkss Nepal: Bei den Häusern im nepalesischen Bergdorf Dhampus ist das vorherrschende Material der Schiefer. Er findet sich in den teilweise gekalkten Mauern und als Dachdeckung wieder. Fenster, Stützen und Dachkonsolen sind aus geschnitztem Holz. Gegenüberr Mongolei: In der Mongolei heißen die Jurten ,gers‘. Auf eine kunstvoll verzierte Holzkonstruktion angebrachte Filzdecken schützen das Innere vor Witterung. Die Ringöffnung des Einfamilien-Zelts bleibt für den Luftabzug und als natürliche Lichtquelle geöffnet. offene Terrassen. An einer anderen Stelle in Die Abstammung des Menschen schreibt Darwin, dass „der Orang-Utan sich bekanntermaßen nachts mit den Blättern des PandanusBaums bedeckt“. Brehm stellte fest, dass einer seiner Paviane „sich stets eine Strohmatte über den Kopf stülpte, um sich vor der Sonne zu schützen. In diesen Verhaltensweisen“, so mutmaßte er, „zeigen sich die ersten Schritte hin zu den Anfängen grober Baukunst und Bekleidung, welche die frühen Vorfahren der Menschen entwickelten“. Jeder Vorstadtbewohner, der sich die Sonntagszeitung auf den Kopf legt und neben seinem Rasenmäher einen Mittagsschlaf hält, ist somit Sinnbild für die ersten Entstehungsformen der Architektur. Aber sogar bevor Menschen und Tiere die Erde besiedelten, existierte bereits eine gewisse Art der Architektur, roh geformt durch die urzeitlichen Kräfte der Schöpfung und zufällig durch Wind und Wasser zu anmutigen Strukturen geschliffen. Vor allem Naturhöhlen üben eine große Faszination auf uns aus. Höhlen waren mitunter die ersten Behausungen der Menschen und werden vielleicht auch wieder ihre letzten sein. In jedem Falle wurden sie in weiser Voraussicht als Aufbewahrungsort für unsere wertvollsten Artefakte – Regierungsakten und Geschäftsunterlagen – gewählt. [...] Obgleich exotische Künste in der westlichen Welt seit langem hohes Ansehen genießen – allerdings nicht ohne diese vorsichtig als „primitiv“ zu betiteln –, hat die exotische Architektur (wobei „exotisch“ hier im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung „fremdartig“ verwendet wird) bis heute kein großes Aufsehen erregt und wird nach wie vor lediglich in Geomagazinen und anthropologischen Zeitschriften behandelt. Abgesehen von wenigen regionalen Studien und unsystematischen Anmerkungen gibt es hierzu keine Literatur. Heutzutage, da die Kunst des Reisens zunehmend zu einem Industriegewerbe degradiert wird, übt der Charme von „Postkartenstädten“ und die „volkstümliche“ Architektur von „Märchenländern“ eine starke Anziehungskraft aus, die wir allerdings mit gewisser Herablassung betrachten. [...] Ein auch nur andeutungsweiser Vergleich der stimmungsvollen Architektur in so genannten Entwicklungsländern mit den architektonischen Errungenschaften in Industriestaaten ist freilich polemisch. Die orthodoxe Architekturgeschichte stellt die Arbeit des einzelnen Architekten in den Vordergrund, wohingegen bei ersterer der Gemeinschaftssinn im Mittelpunkt steht. Pietro Belluschi definierte Volksarchitektur als „eine einfache Kunst, die nicht von einer Handvoll Intellektueller oder Spezialisten geschaffen wird, sondern durch die spontane und kontinuierliche sowie experimentelle Leistung eines gesamten Volkes mit gemeinsamem Erbe entsteht“. Manche mögen einwenden, dass eine solche Kunst in unkultivierten Zivilisationen keinen Platz habe – wie dem auch sei, die Lektion, die uns diese Architekturform lehrt, darf nicht völlig außer Acht gelassen werden. Bevor die Architektur zu einer Fachkunst wurde, gab es viel von ihr zu lernen. Die in Raum und Zeit ungeschulten Baumeister demonstrieren ein bewundernswertes Talent, ihre Konstruktionen der natürlichen Umgebung anzupassen. Anders als wir versuchen sie nicht, die Natur zu „erobern“, sondern nehmen die Unwägbarkeiten und Herausforderungen der klimatischen und topographischen Verhältnisse vorbehaltlos in Kauf. Während die Allgemeinheit eine gleichmäßige Beschaffenheit ohne Ecken und Kanten als erstrebenswert ansieht (jedwede Unebenheit des Bodens kann schließlich mithilfe eines Bulldozers beseitigt werden), zeigen gebildete Menschen eine gewisse Vorliebe für raue Landschaften und schrecken auch nicht vor hoch komplizierten Landschaftsformen zurück. Die leidenschaftlichsten unter ihnen haben eine Behausung in wahrlich luftiger Höhe gewählt – die bekanntesten Beispiele hierfür sind der Machu Picchu, der Monte Alban und die in den Fels gehauenen Bastionen des Mönchklosters auf dem Berg Athos. Die Tendenz, Gebäude an schwer zugänglichen Orten zu errichten, ist zweifellos auf ein Sicherheitsbedürfnis, noch mehr vielleicht aber auf die Notwendigkeit zurückzuführen, die Grenzen einer Gemeinschaft zu definieren. In der Alten Welt sind viele Städte auch heute noch ansatzweise von Gräben, Lagunen, Gletschern oder Mauern umgeben, die bereits vor langer Zeit ihre Verteidigungsfunktion einbüßten. Die Mauern mochten zwar kein wirkliches Hindernis für mögliche Angreifer darstellen, konnten aber in jedem Falle eine unerwünschte Ausbreitung unterbinden. Der Ursprung des Begriffs „Urbanität“ – hergeleitet vom lateinischen „urbs“ als Bezeichnung einer mauergeschützten Stadt – ist hierauf zurückzuführen. Demzufolge muss eine Stadt, die den 10 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Anspruch erhebt, ein Kunstwerk zu sein, ebenso Grenzen aufweisen wie ein Gemälde, ein Buch oder ein Musikstück. Wir hingegen, denen eine derart restriktive Form des Städtebaus unbekannt ist, üben uns in architektonischen Auswüchsen. Unsere Städte, denen eine gewisse Oberflächlichkeit anhaftet, wachsen und wuchern unkontrolliert wie ein unheilbares Exzem. In Unkenntnis der Pflichten und Privilegien der Menschen älterer Zivilisationen akzeptieren wir Chaos und Hässlichkeit als unser vorbestimmtes Schicksal und kompensieren all unsere Befürchtungen angesichts des Übergriffs der Architektur auf unser natürliches Leben mit lahmen und unspezifischen Protestbekundungen. Unsere Probleme resultieren teilweise aus der Tendenz, den Architekten sowie allen Experten in diesem Bereich eine außergewöhnlich genaue Kenntnis unserer Lebensansprüche zu attestieren, obgleich die meisten von ihnen in Wahrheit vorwiegend an Geld und Prestige interessiert sind. Zudem wird die „Kunst des Lebens“ hier zu Lande weder gelehrt noch gefördert. Wir neigen vielmehr dazu, diese als eine Form der Ausschweifung zu betrachten, und verneinen somit die ihr zu Grunde liegenden Prinzipien wie Mäßigung, Reinheit, die grundsätzliche Achtung vor der schöpferischen Kunst und nicht zuletzt die Ehrung der Schöpfung als solche. [...] Vor allem aber die Menschlichkeitt dieser Architektur sollte uns berühren. So käme es uns beispielsweise nie in den Sinn, unsere wüstengleichen Straßen in Oasen zu verwandeln. In den Ländern, wo deren Funktion noch nicht auf schnellen Verkehrsfluss und Parkplätze reduziert ist, sind die Straßen häufig menschlicher gestaltet durch die Einrichtung von Pergolen und Markisen quer über der Straße, dachähnlicher Konstruktionen oder Festdächer. Dies ist typisch für den Orient oder Länder mit orientalischen Wurzeln wie Spanien. Bestes Beispiel der Straßenverschönerung sind Arkaden, greifbare Symbole des menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls oder gar der Menschenliebe. In unseren Breitengraden unbekannt und kaum geschätzt, ist diese einzigartig anmutige Bauweise weit mehr als reiner Wetterschutz oder Verkehrssicherheit für Fußgänger. Sie verleihen dem Straßenbild nicht nur ein einheitliches Aussehen, sondern nehmen häufig auch den Platz antiker Foren ein. In Europa, Nordafrika und Asien triff t man ständig auf Arkaden, nicht zuletzt, weil sie dort in die „formale“ 11 Aus Architecture Without Architectss by Bernard Rudofsky, © 1964 Bernard Rudofsky. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Doubleday/ Random House, Inc. Der österreichische Architekt Bernard Rudofsky (1905 Wien – 1988 New York) war in den 60er Jahren Berater des Museum of Modern Art New York. In seinen zahlreichen Forschungsreisen und -studien rund um den Globus dokumentierte er informelle, nicht in den klassischen Kanon der Architektur eingeordnete Häuser, Wohnbauten und Siedlungen. Rudofsky galt als sarkastischer Kritiker der westlichen Architektur, und als Visionär und Pionier erkannte er den künstlerischen und kulturellen Reichtum der despektierlich als „primitiv“ bezeichneten traditionellen Völker. 12 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Links Indonesien: Die Häuser der Baju an der Küste der Insel Sulawesi sind aus Magroven gefertigt, ihre Dächer mit Palmblättern gedeckt. Die Menschen leben von der Zucht und dem Verkauf von Meeresalgen. Architektur integriert wurden. Die Straßen in Bologna etwa werden auf knapp 20 Meilen von portici gesäumt. In unserer Architektur ähnlich vernachlässigt sind die Orte der Lebensmittelaufbewahrung. Bei den Völkern, die Nahrungsmittel eher als göttliche Gabe denn als Industrieprodukt betrachten, wird Kornspeichern durch ihre Architektur ein derart feierliches Aussehen verliehen, dass diese für den Nichteingeweihten wie Gotteshäuser anmuten. Trotz ihrer geringen Größe wirken die Lagerhäuser auf der Iberischen Halbinsel, im Sudan oder in Japan geradezu monumental. Wegen ihrer stilistischen Reinheit und ihres wertvollen Inhalts erlangen sie nahezu sakralen Charakter. Neben der Hohen Volkskunst – der verfeinerten Form überlieferter Architektur in Mittel- und Südeuropa und Südostasien – sowie der primitiven Architektur im eigentlichen Sinne beschäftigt sich die Ausstellung auch mit der Architektur der Bildhauer- und Skulpturkunst, beispielhaft dargestellt durch Behausungen von Einsiedlern und freistehenden Bauwerken, die aus Stein gehauen wurden. Die rudimentäre Architektur wird durch Windfänge von teilweise gigantischen Ausmaßen repräsentiert. In Japan schützen und umhüllen sie ganze Häuser, Siedlungen oder gar Dörfer. Die Architektur der Nomadenvölker ist in Form von transportablen Häusern, Häusern auf Rädern, Schlittenhäusern, Hausbooten und Zelten vertreten. Zu den Ausstellungsstücken protoindustrieller Architektur gehören sowohl vertikale als auch horizontale Wasserräder und Windmühlen sowie Taubenschläge als Beispiele des landwirtschaftlichen Nutzungsbaus. Diese Architektur mit zwar „geringem Ideenreichtum, aber ausgefeilten Funktionsdetails“ dürfte für uns eher unter mechanischem Gesichtspunkt als unter ästhetischem Aspekt interessant sein. Erfahren können wir, dass viele „primitive“ Lösungen in ihrer kühnen Art unserer schwerfälligen Technologie nicht selten etwas voraus haben. Zahlreiche unserer in den letzten Jahren entwickelten Techniken wie Fertigbauweise, Standardisierung von Bauteilen, flexible und bewegliche Strukturen in Form von Bodenheizungen, Klimaanlagen, Lichtsteuerung und sogar Aufzügen sind für die volkstümliche Architektur ein alter Hut. Zudem bekommen wir die Möglichkeit, die Annehmlichkeiten unserer Wohnungen zum Beispiel mit dem gering geschätzten Komfort afrikanischer Hausarchitektur zu Gegenüber Türkei: Spitz zulaufende Felsen charakterisieren Kapadokiens Landschaft. Der Stein ist vulkanischen Ursprungs und deshalb weich und leicht zu bearbeiten. Immer seltener wohnen Menschen in den in die Felsen gehauenen Häusern. Im 4. und 5. Jahrhundert waren es vor allem christliche Mönche, die sich hier niedergelassen hatten. vergleichen, die für einen Mann von hohem Rang sechs separate Behausungen für seine sechs Ehefrauen vorsieht. Oder wir können sehen, dass, lange bevor moderne Architekten unterirdische Städte in dem optimistischen Glauben planten, diese könnten uns in zukünftigen Kriegen Schutz bieten, solche Städte schon seit geraumer Zeit auf mehreren Kontinenten existierten und nach wie vor bestehen. Es birgt eine gewisse Ironie, dass der typische Städter zwecks körperlicher und geistiger Entspannung von Zeit zu Zeit gerne aus seiner komfortablen Umgebung flieht und sich in primitive Behausungen wie Hütten und Zelte oder im Extremfall gar in abgelegene Fischer- oder Bergdörfer zurückzieht. Ungeachtet aller Vorzüge moderner Technik und Mechanik suchen Stadtmenschen erstaunlicherweise Erholung gerade ohne derartige Bequemlichkeiten. Auch wenn es zunächst unlogisch klingen mag: Das Leben in der alten Welt birgt besondere Vorzüge. Anstatt täglich kilometerlange Fahrten zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen zu müssen, trennen den Menschen hier womöglich nur ein paar Stufen von seinem Zuhause zur Arbeitsstätte. Da er für die Gestaltung und Bewahrung seines Umfelds selbst verantwortlich ist, wird er dessen auch nicht überdrüssig und zeigt zudem wenig Interesse an „Verbesserungen“. Ebenso wenig wie Spielzeug einem Kind menschliche Liebe ersetzen kann, ist keine noch so raffinierte technische Erfindung Entschädigung für mangelnde Lebensfreude. Namenlose Baumeister sind sich nicht nur der Notwendigkeit bewusst, dem Wachstum einer Gemeinschaft Grenzen zu setzen; vielmehr erkennen sie auch bestens die Grenzen der Architektur selbst. Höchst selten ordnen sie das Allgemeinwohl dem Streben nach Profit und Fortschritt unter. In diesem Sinne halten sie es mit den Worten des bekannten Kulturhistorikers Huizinga: „Die Erwartung, dass jede Neuentdeckung oder die Vervollkommnung bestehender Mittel zwangsläufig höhere Wertigkeit oder Glück und Zufriedenheit verspricht, ist äußerst naiv … es ist keinesfalls paradox zu behaupten, dass eine Kultur am wahren und spürbaren Fortschritt zu Grunde gehen kann.“ 13 LEBENSRÄUME Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft menschlicher Wohnungen – und der professionelle Dialog, in dem sie entstehen Kein anderer Ort spiegelt unsere Persönlichkeit so genau wider wie unser Zuhause. Seine Grundfunktionen – im physikalischen wie psychologischen Sinne – sind über die Jahrhunderte hinweg dieselben geblieben, sein Entwurf und Bau sind jedoch zur Aufgabe von professionellen Architekten, Baumeistern und Lieferanten der Baubranche geworden. In ihrem Artikel beschreiben Jaime Salazar und Jakob Schoof diese Herausforderung, die nicht nur eine enge Zusammenarbeit zwischen allen am Planungsprozess beteiligten Personen, sondern möglicherweise auch neue Grundregeln für die eigentliche Planung beinhaltet. 14 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Folgende Doppelseite Apartmenthochhäuser in den Vororten von Hong Kong. Mangel an Bauland und ständig steigende Bevölkerungszahlen haben in Hong Kong Wohndichten bis zu 8000 Einwohnern pro Hektar entstehen lassen. Dicht an dicht erheben sich die Wohntürme mit dem euphemistischen Namen ‚Harmony Blocks‘ über mehreren Geschosse hohen Sockelbauten, deren Dächer als Themenparks gestaltet sind. Rechtss Fritz Lang: Metropolis (Germany 1926). In seinem Film zeichnet Fritz Lang die düstere Zukunftsvision einer Gesellschaft, die sich in der aus den Fugen geratenen Welthauptstadt Metropolis manifestiert: Die Oberschicht lebt in nahezu paradiesischen Verhältnissen, während die Arbeiter als minderwertig gelten und in einer Art Unterwelt in den Tiefen der Erde dahinsiechen. HOMO H 15 HABITAN NS LEBENSRÄUME 1. Le Corbusier: Der Modulor (1947). Ausgehend von zwei Grundmaßen (1,83 Metern – der menschlichen Körpergröße – und 2,26 Metern – der Fingerspitze der erhobenen Hand – bildete Le Corbusier dieses auf dem Goldenen Schnitt beruhende Maßsystem für seine Bauten. Vor allem die ‚Unités d’Habitation‘ sind von der Gesamtproportion bis zum Mobiliar vollkommen durch das Regelwerk geprägt. 1 2. Future Systems: Haus in Wales (1994). Aus der Ferne ist von dem an der Küste gelegenen Haus nichts zu sehen außer seiner Glasfassade, in der kleine ‚Bullaugenfenster‘ die Belüftung sicherstellen. Das Dach ist mit Gras bewachsen, einen Garten gibt es nicht – das Haus ist ein Objekt in der Landschaft, ein „Auge, das auf das Meer hinausblickt“, wie die Architekten schreiben. Im Inneren öffnet sich ein einziger, großer Raum mit dem Kaminfeuer in der Mitte. DIE NATUR DES WOHNENS 2 Rechts Mit seiner Vision der ‚Urhütte‘ gab Abbé Laugier der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Rückbesinnung auf die Wurzeln der Architektur Ausdruck. Obgleich die Urhütten-Idee von zahlreichen Zeitgenossen Laugiers als naiv kritisiert wurde, gilt sie doch bis heute als bekanntestes Sinnbild für die natürlichen Ursprünge allen Bauens. Vorangehende Seite Ein Quallenschwarm. Die Zeiten, in denen der Mensch ohne festen Wohnort im Naturraum umherschweifte, sind lange vorbei. Seine Eigenschaft als Herdentier hat er sich indessen erhalten – auch wenn sich das Menschenbild in der modernen Gesellschaft zunehmend individualisiert hat. Eine der berühmtesten Illustrationen zum Ursprung der Architektur zeigt einen Putto und eine Frauengestalt,die sich durch einen Kompass und eine antike Säule als Personifikation der Architektur zu erkennen gibt. Beide zeigen auf eine Holzkonstruktion im Bildhintergrund, die von vier Bäumen getragen wird, deren Zweige, Äste und Blätter ein Dach bilden. Die Illustration erschien erstmals 1753 im ‚Essai sur l’architecture‘ von Abbé MarcAntoine Laugier, einem Geistlichen und ehemaligen Jesuitenmönch. Seine Theorie über die ‚Urhütte‘ als Ursprung jeglicher Architektur war eine Reaktion auf den vorherrschenden Stil der Zeit, das Rokoko, mit seinen überschwänglichen Formen und üppigen Ausschmückungen. Im Gegensatz dazu war Laugiers Essay ein ‚rappel à l’ordre‘, ein Zurück zur Vernunft und Bescheidenheit, 18 und ein Versuch, die zeitgenössische Architektur mit ihren Ursprüngen, das heißt mit der Natur, zu verbinden. Seit der Antike haben andere prominente Theoretiker ähnliche Überlegungen zu Natur und Architektur angestellt. Vitruv definiert in seinem Werk ‚De architectura libri decem‘ primitive Arten der Architektur (Laubhütten, Schwalbennester und Höhlen), welche natürliche Formen imitieren oder adaptieren. Wie Vitruv stellten die Renaissancearchitekten Filarete, Alberti und Francesco di Giorgio Martini in ihren Abhandlungen über Proportion und Konstruktion den menschlichen Körper als wichtigstes Vorbild für die Architektur heraus. All diesen Gedankengängen liegt eine unbestreitbare Logik zugrunde: Für gewöhnlich stellen wir Naturgesetze nicht in Frage, sondern nehmen sie als gegeben hin. Weshalb sollte also eine Architektur in Frage gestellt werden, die auf natürlichen Gesetzen und Proportionen beruht? Auch die moderne Architektur hat sich oft als ahistorisch und unnatürlich hinsichtlich ihrer Formen im Bezug zum menschlichen Körper bezeichnet und beruht doch auf Naturgesetzen – in diesem Fall hauptsächlich auf der ‚Natur‘ der Materialien, welche letztendlich die gesamte Konstruktion und den Großteil der Ästhetik des Gebäudes beherrschen. Es scheint, dass Natur ein dehnbarer Begriff geworden ist, den selbstverständlich jede Epoche anders auslegt. Welches Verständnis haben wir am Ende der Industrialisierung und im fortgeschrittenen Informationszeitalter von Natur? Die zeitgenössische Beziehung zur Natur ist das Ergebnis einer langen Geschichte zunehmender Domestizierung und Kon- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 trolle. Das prähistorische Zeitalter kannte den heutigen Dualismus von Kultur und Natur nicht. Der Mensch war Teil der Natur und hatte keine Mittel, abgesehen von kleinsten Bereichen seines unmittelbaren Lebensumfelds, seine Umwelt zu kontrollieren. Mit der Domestizierung des Feuers und den ersten festen menschlichen Siedlungen begann der Mensch Schritt für Schritt, die Natur an seine Bedürfnisse anzupassen und sie letztlich in einer künstlerischen Weise zu gestalten. Am Ende des Mittelalters ist die „natürliche“ Natur an den meisten Orten Europas einer kultivierten Landschaft gewi- 3. Frei Otto: Wohnhaus für Ted Happold (1995). Das am Stadtrand von Bath gelegene Haus aus begrünten Gitterschalen sollte keine fossile Energie verbrauchen. Drei Energiequellen werden genutzt – Sonne, Erdwärme und Wind. Sonnenenergie wird über Kollektoren auf dem Dach und am Mast gewonnen, ein Windrad am Haus erzeugt Windenergie und ein Erdwärmespeicher sorgt für warme Luft, die ins Haus geblasen wird. 3 sehbar, dass dieses bald von der Metropole verschluckt werden würde, die Mitte des 19. Jahrhunderts alle zehn Jahre um zirka 200.000 Einwohner anwuchs. Heute ist der Central Park „ein Zufluchtsort. Es ist ein Ort, an dem jeder den ungebändigten Rhythmus, der New York zur aufregendsten Stadt der Welt macht, ändern kann“, so die offizielle Website des Parks. Der Central Park ist mehr als eine Freizeiteinrichtung; er ist zu einem zentralen Aspekt des täglichen Lebens vieler New Yorker geworden. Die Frage, ob naturbelassene Räume von der menschlichen Ausbeutung ausge- technische Werkzeuge, die noch vor einem Jahrhundert undenkbar waren, und die technische Entwicklung wurde derart beschleunigt, dass der Mensch als natürliches Lebewesen selbst kaum noch Schritt halten kann. Wissenschaftler erklären dieses Phänomen wie folgt: Die Weltbevölkerung vermehrt sich exponentiell. Gleichzeitig ermöglichen moderne Technologien jedem von uns die Kommunikation mit weit mehr Menschen, als dies früher der Fall war. Wenn wir jede Kommunikationsbrücke zwischen zwei Menschen als Einheit für mögliche Innovation sehen, dann hat das Wachstum 4. Robert Bruno: Steel House, Ransom Canyon, Texas, USA (1978-2002). Irrtümlicherweise könnte man das hoch über einem Canyon gelegene Haus für eine Skulptur halten. Es besteht aus hunderten von Stahlplatten, die Robert Bruno in Handarbeit zusammenschweißte. Sein leicht korrodiertes ‚Innenleben‘ erinnert entfernt an die neogotischen Gewölbe Antonio Gaudís. tektur, die Bernard Rudofsky mit seinem Buch ‚Architecture without Architects‘ wiederzubeleben suchte, ist zu einem weit verbreiteten Bezugspunkt auch für zeitgenössische Architekten geworden. Rudofsky schreibt: „Anonyme Architektur unterliegt keiner Mode. Sie ist beinahe unveränderlich, sogar unverbesserlich, da sie ihren Zweck außerordentlich gut verfolgt.“ Die anonymen Baumeister früherer Jahrhunderte versuchten, ihre Gebäude in die Landschaft und das umliegende Ökosystem zu integrieren, weil ein Konflikt mit dem, was immer da war, für sie undenkbar war. Wir bewun- 5–6. ‘Landmark Houses’, Lower Mill Estate, England (2005). Die Lower Mill Estate in den Cotswolds ist Englands größtes Naturreservat in Privatbesitz. Nun will der Investor Jeremy Paxton hier 46 ‚Landmark Houses‘ nach Entwürfen internationaler Stararchitekten bauen lassen, unter anderem von Will Alsop, Piers Gough, Eva Jiricna, Sarah Featherstone und Roger Sherman. Der Preis der Häuser wird auf rund zwei bis fünf englische Pfund geschätzt. schlossen werden sollen, ist möglicherweise wichtiger als je zuvor. Wir haben erkannt, dass biologische Vielfalt, stabiles Klima und vieles mehr von den ‚grünen Lungen‘ unseres Planeten abhängen. Wir haben auch erkannt, dass eine durch Agrikultur geprägte Landschaft nicht denselben ökologischen Wert wie originäre Regenwälder und naturbelassene Sümpfe hat. Daher werden große Gebiete vor der weiteren Ausbeutung geschützt. Zu den bemerkenswertesten Beispielen gehört Costa Rica, immer noch eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, wo fast ein Viertel des Landes unter Naturschutz gestellt wurde. Nach wie vor schreiten die Domestizierung und Neugestaltung der Natur voran, im Kleinen wie im Großen, bei der Genmanipulation wie in gigantischen Landschaftsarchitekturprojekten. Wir verfügen über dieser Einheiten das Bevölkerungswachstum bei weitem überflügelt. Das rapide Wachstum der Informationen und technischen Möglichkeiten hat unter anderem zu einer bruchstückhaften Weltsicht geführt. Generalisten wie Leonardo da Vinci, Isaac Newton oder Albert Einstein sind buchstäblich aus der Wissenschaft und dem Ingenieurwesen verschwunden. Der technologische Fortschritt (auch beim Entwerfen und Bauen von Häusern) hängt immer stärker von der Kommunikation und Kooperation zwischen Fachleuten ab. In der Architektur hat diese zunehmende Zerstückelung und Spezialisierung viele Theoretiker und Praktiker veranlasst, wie Abbé Laugier zu den Wurzeln zurückzukehren und Planungs- und Konstruktionskonzepte radikal zu vereinfachen. Die anonyme, volkstümliche Archi- 19 Kommunikation zwischen Architekt, Baumeister und Bewohner beruhen. Die Spezialisierung in der zeitgenössischen Architektur ist, zumindest in den Industrienationen, zur Realität geworden, und der ‚anonyme‘ Ansatz im Entwerfen und Bauen, wie ihn Rudofsky untersucht, ist eine Ausnahme. Dennoch könnte auch der Serienund Fertigbau wesentlich profitieren, wenn eine ähnliche Nähe zwischen allen Beteiligten im Planungsprozess erreicht würde. 5 4 chen. In der Renaissance fallen die Stadtmauern und in Italien entstehen außerhalb der Stadtgrenzen die ersten Villen, und die erste großen Projekte der Landschaftsarchitektur werden realisiert. Die Umwandlung der Natur erhält nunmehr eine neue Qualität, und die Agrarrevolution weicht der industriellen Revolution. Das Landschaftsbild wird immer häufiger in ‚Stadtbilder‘ transformiert, in welche die Natur in Form von Parks und Gärten vom Menschen zurückgebracht werden muss. Weitsichtige Planer haben diese Notwendigkeit schon früh in der Entwicklung der Städte vorausgesehen. Als Fredrick Law Olmsted und Calvert Vaux 1857 ihren ‚Greensward Plan‘ für den Central Park in New York zeichneten, war der spätere Park noch ein unbewohntes Sumpfgebiet außerhalb der Stadtgrenze. Es war jedoch schon vorher- dern die anonyme Architektur noch immer für ihren scheinbar mühelosen Umgang mit den rauesten Klimata, den schwierigsten Baugrundstücken und den knappsten Ressourcen. Angesichts dieser ursprünglichen Architektur stellt sich instinktiv ein Gefühl der Einheit von Standort und Gebäude, Form und Funktion, Konstruktion und Ausstattung ein. Diese Einheit ist nicht nur Ergebnis von jahrhundertealter Tradition und Reife, sondern auch der Tatsache, dass anonyme Gebäude in der Regel von denselben Personen entworfen, gebaut und ausgestattet werden und damit auf der denkbar engsten 6 „WENN WIR VON ‚NATUR’ SPRECHEN, SOLLTEN WIR DABEI NICHT VERGESSEN DASS WIR SELBST EIN TEIL DER NATUR SIND. WIR SOLLTEN UNS MIT DERSELBEN NEUGIER UND OFFENHEIT BETRACHTEN, MIT DER WIR EINEN BAUM, DEN HIMMEL ODER EINEN GEDANKEN BETRACHTEN, DENN AUCH WIR SIND MIT DEM GESAMTEN UNIVERSUM VERBUNDEN.” HENRI MATISSE HOME DREAM Wohnen ist ein überaus persönliches Thema. Der Bau oder Kauf eines Hauses ist möglicherweise das wichtigste Ereignis in der Geschichte einer Familie. Jedoch ist der Begriff ‚Haus‘ nicht gleichbedeutend mit ‚Zuhause‘. Ein Haus ist ein physisch definiertes Objekt, zwar bewohnt, aber nicht zwangsläufig individuell gestaltet; ein Bauwerk aus Wänden, Dach und Fenstern, die uns vor den Elementen schützen, und ein Besitztum im ökonomischen Sinne. Wenn wir von einem ‚Haus‘ sprechen, meinen wir damit in der Regel die Konstruktion und LEBENSRÄUME ZU HAUSE BEI SICH 13. Rob Krier, Christoph Kohl: Zitadelle Broekpolder in Heemskerk, Niederlande (seit 2001) Ein neues Stadtzentrum für Wohnen und Arbeiten in Form einer Renaissancestadt: Die „Zitadelle“ Broekpolder liegt zwischen den Gemeinden Beverwijk und Heemskerk westlich von Amsterdam. Charakteristisch für das Quartier ist eine relativ dichte Bebauung mit traditionellen Straßen- und Platzformen sowie einem Kulturzentrum mit Turm als Mittelpunkt. 7–8. The Village at Hiddenbrooke, Kalifornien (seit 2000). Ein Dorf wie aus einem Gemälde: Die Siedlung ‚The Village‘ im kalifornischen Hiddenbrooke zählt vor allem Anhänger des amerikanischen Idyllenmalers Thomas Kinkade zu ihren Einwohnern, denn sie wurde bis ins Detail den Sujets des Malers nachgebildet. Angeboten werden vier Fertighaustypen, die der Investor – mit Lizenz von Kinkades Firma – nach dem Vorbild der Cottages auf dessen Bildern gestaltet hat. 8 9–11. Jakriborg in Schweden (seit 1999). New Urbanism auf Schwedisch: Jakriborg, eine zeitgenössische ReInterpretation einer alten Hansestadt, wird seit 1999 durch die schwedische Jakri AB in der dicht besiedelten Ebene zwischen Malmö und Lund gebaut. Fassade und Stadtmöblierung wurden bis ins Detail den historischen Vorbildern nachempfunden, doch anders als diese besitzt Jakriborg keinen Zugang zum Meer. Die Häuser werden nicht verkauft, sondern ausschließlich zur Miete angeboten. 12. Sean Godsell: Park Bench House, Melbourne (2002). In Melbourne, der ‚lebenswertesten Stadt der Welt‘, wie sie sich selbst in der Werbung bezeichnet, sind rund 1,7 Prozent aller Einwohner ohne festen Wohnsitz. Für sie entwarf der Architekt Sean Godsell das ‚Parkbankhaus‘, das tagsüber als Sitzgelegenheit und nachts als MinimalObdach dient. 7 Sprachgebrauch unterstreicht dies: Wir ‚befinden uns‘ im Haus, ‚fühlen uns‘ jedoch zu Hause. In dieser Hinsicht spielt ein Zuhause eine dreifache Rolle. Es dient uns als Zuflucht vor der Außenwelt. Je mehr Disharmonie uns draußen in der Welt begegnet, desto mehr benötigen wir ein Zuhause als seelische Stütze und Ort der Sicherheit. In seinem Buch ‚Sesame and Lilies‘ von 1865 macht John Ruskin eine Beobachtung, die noch heute gültig ist. Er schreibt: „Darin besteht die wahre Natur des Heims – es ist der Ort äußere Hülle, nicht aber den Innenraum mit seiner persönlichen Einrichtung und den Alltagsdingen, mit denen wir unserem Leben Inhalt zu verleihen suchen. Der Begriff ‚Zuhause‘ dagegen löst Gedanken an innere Räume aus, die mit Worten schwer zu fassen sind, jedoch um so genauer unsere eigene Persönlichkeit widerspiegeln. Langsam und über den Zeitraum vieler Jahre schaffen wir uns innerhalb unserer Häuser mit Möbeln, Dekoration, geliebten Gegenständen und unvergesslichen Erinnerungen ein Zuhause. Nach Ansicht des finnischen Architekturtheoretikers Juhani Pallasmaa ist „Zuhause vielleicht gar kein Begriff aus der Architektur, sondern aus der Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie“.1) Pallasmaa beschreibt das Wesen eines Zuhauses als „Spiegel und Stütze der Seele des Bewohners“ Der 22 des Friedens: die Zuflucht nicht nur vor aller Verletzung, sondern vor allem Schrecken, allem Zweifel, aller Zwietracht. Wenn es dies nicht ist, dann ist es kein Heim; wenn die Ängste des äußeren Lebens eindringen, wenn Mann oder Frau die wankelmütige, lieblose, feindselige Gesellschaft über die Schwelle lassen, dann hört es auf, Heim zu sein: dann ist es nur noch ein überdachter Teil der äußeren Welt, in dem man ein Feuer entzündet hat.“2) Zweitens bietet ein Zuhause einen räumlichen und emotionalen Rahmen für die meisten Rituale unseres alltäglichen Lebens: Essen, Schlafen, Körperpflege, Familienleben mit seinen kleinen Tragödien und glücklichen Momenten sind in unserem Zuhause verortet. Es liegt daher auf der Hand, dass einem Architekten, der ein wirkliches Zuhause für einen Menschen entwerfen will, enormes Geschick abverlangt wird, und dass er die Persönlichkeit seines Bauherrn genau kennen muss. Nach Ansicht des niederländischen Architekten Jacob Beend Bakema kann ein Ort, der es verdient, ‚Zuhause‘ genannt zu werden, nur dann entstehen, wenn dem Bewohner Freiräume gelassen werden: „Wir sollten die Wohnung im Entwurf nur so weit definieren, wie das Individuum selbst daran teilhaben kann. Wir wollen einen Rahmen vorgeben, in dem der Mensch wieder der Herr seines Zuhauses, seiner Privatsphäre innerhalb des Universums wird.“ 3) 14. Rob Krier, Christoph Kohl: Brandevoort, Niederlande (seit 1998). Instant History im Süden Hollands: Rob Kriers erste neotraditionalistische Stadtplanung in den Niederlanden zeichnet bis ins Architekturdetail das Bild einer historisch gewachsenen Kleinstadt nach. Das Zentrum von Brandevoort trägt nicht umsonst den Beinamen ‘Veste’: Es ist komplett von einem Wassergraben umgeben. Als Mittelpunkt der Kleinstadt dient eine Markthalle, die von einem künstlichen Teich flankiert wird. Drittens ist ein Zuhause ein Speicher für Erinnerungen, insbesondere in alten Häusern, in denen unzählige feine Schichten von Staub und Patina vom Leben früherer Bewohner erzählen. In seinem Buch ‚Poetics of Space‘ reflektiert Gaston Bachelard das Haus unserer Träume, das heißt, die Vorstellung eines Hauses, die wir im Kopf haben (Bachelard unterscheidet in seinem Buch nicht zwischen ‚Haus‘ und ‚Zuhause‘). Wenngleich er über die Größe dieses Hauses keine eindeutige Aussage triff t (er deutet Häuser mit drei bis vier Stockwerken an), beschreibt er das Vorhandensein eines Dachbodens und eines Kellers als unverzichtbar, weil der Dachboden der symbolische Speicher schöner Erinnerungen ist, wohingegen der Keller zum Verstecken unangenehmer Erinnerungen dient. Laut Bachelard benötigen wir beides für unser Wohlbefinden. D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Es ist in diesem Sinn geradezu symptomatisch, dass die Architektur des 20. Jahrhunderts Keller und Dachböden oft für entbehrlich hielt. Gerade die Nachkriegsmoderne beschränkte sich vielfach darauf, den Menschen kostengünstig Obdach und Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Für das Entwerfen und Bauen war weniger die Psyche der Bewohner maßgeblich, sondern die Prinzipien der Standardisierung und wirtschaftlichen Effizienz. Das Ergebnis war eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der Fähigkeit der modernen, seriellen Architek- zu beschreiben, welche ihre Wurzeln in einem der ersten Disney-Themenparks der Fünfzigerjahre hat: Viele Spezialisten aus verschiedenen Fachgebieten – Stadt- und Infrastrukturplaner, Architekten, Bauingenieure und Marketingspezialisten – arbeiten von der ersten Planungsphase an eng zusammen mit dem Ziel, den späteren Bewohnern und Besuchern der Siedlung ein möglichst intensives Erlebnis zu bereiten. Dabei sollte erwähnt werden, dass der New Urbanism nicht darauf abzielt, historische Vorbilder in jeder Hinsicht zu kopieren. Er kombiniert lediglich ihr äußeres Erschei- nymen Wohngegenden der Nachkriegszeit wieder aufleben lässt. Der folgende Auszug einer Rede des Prinzen von Wales erklärt die zu Grunde liegenden Prinzipien: „Deshalb wollte ich in Poundbury ein Beispiel einer gemischt genutzten, am Fußgänger orientierten Siedlung schaffen, die den Charakter und die Tradition des Ortes widerspiegelt. [... Poundbury] lehrt uns etwas ganz Einfaches: ein Netz lesbarer, miteinander verbundener Straßen, die dem Auto Platz bieten und gleichzeitig den Fußgänger hochleben lassen; die zentrale Lage fußläufig 10 Die uneingeschränkte ästhetische Integrität, die viele New Urbanists in ihren Entwürfen anstreben, ist kaum erreichbar, ohne dass das Leben in den Siedlungen streng reglementiert wird. Ferner ist fraglich, ob die Siedlungen der New Urbanists wirklich die gesunde gesellschaftliche Mischung erreichen, welche ihre Planer vorgesehen haben. Der Drahtseilakt zwischen erschwinglichem Wohnraum und Unterbringung zu Marktpreisen ist zwar ein ehrenwertes Vorhaben, in der Praxis ist er jedoch sehr schwer umzusetzen – schwerer jedenfalls, als die Erfinder des New und dennoch sind viele zeitgenössische neohistorische Siedlungen Beispiele für eben dieses Phänomen, weil der Markt (und oftmals auch staatliche Förderprogramme) den Bau von neuen Häusern in Vorstädten erschwinglicher macht als in den Zentren. Obwohl Stadtreparatur und die Weiterentwicklung des Bestands zu den vorrangigen Ziele des New Urbanism gehören, beginnen viele neoklassizistische oder neumittelalterliche Siedlungen mit der gleichen städtebaulichen ‚tabula rasa‘ wie ihre Gegenstücke aus der Zeit der Moderne. Ihr Planungsansatz 13 11 14 9 tur, uns ein wahres ‚Zuhause‘ zu bieten. Der Mensch sucht Sicherheit, Verlässlichkeit und schöne Erinnerungen in Gebäuden, deren Form und Ikonographie seit Jahrhunderten in Gebrauch sind, und in einem Umfeld, das auf menschlichen Maßstäben und Proportionen sowie auf einem Verkehrsnetz beruht, das der menschlichen Geschwindigkeit (also dem Schritttempo) angepasst ist. Der New Urbanism, jene Bewegung, die genau diese Prinzipien hochhält, nahm seinen Anfang in den Achtzigerjahren in den USA. Ursprünglich zielte der New Urbanism nicht darauf ab (und nach Aussage seiner Anhänger ist es bis heute nicht sein Ziel), bestimmte Architekturstile zu fördern, sondern ein Verständnis von Urbanität, das den Maßstab und die Geschwindigkeit des Menschen sowie das Leben in der Gemeinschaft als Alternative zu den autofreundlichen, ano- erschlossener Wohngebiete in Blockrandbebauung, die Arbeit, Einkaufen und Wohnen auf harmonische Weise verbinden; ein Drahtseilakt zwischen erschwinglichem Wohnraum und Unterbringung zu Marktpreisen, und schließlich der Verlass auf traditionelle Stadtplanung, lokale einheimische Architektur und natürliche Materialien, welche dem Alltagsleben Harmonie, Proportion und, am wichtigsten, etwas wie ‚Schönheit‘ wiedergeben.“4) Die Planungsstrategien der New Urbanists für ihre – oftmals thematisch gestalteten – Siedlungen besitzen unterschiedliche Namen, beruhen jedoch auf demselben Ansatz. Niederländische Stadtplaner haben den Begriff ‚simultanes Engineering‘ geprägt, die Disney Company verwendet das Wort ‚Imagineering‘ (zusammengesetzt aus ‚Image‘ [Bild] und ‚Engineering‘), um eine Strategie nungsbild mit modernen Annehmlichkeiten – sowohl hinsichtlich technischer Ausstattung und räumlicher Planung. Selbstverständlich existieren auch in den Entwürfen der New Urbanists Parkplätze; sie werden jedoch im Inneren der Gebäudeblocks verborgen. Diese scheinbare ‚Unehrlichkeit‘ wird den Neotraditionalisten oft zum Vorwurf gemacht. Auf eine gewisse Art und Weise spiegelt es jedoch die Spaltung in Romantik und Pragmatismus wider, die auch von unseren Köpfen Besitz ergriffen hat. Wir passen uns schnell an neue Technologien an und haben sie gern in unseren Häusern, vom PC bis zum allgegenwärtigen Fernsehapparat. Andererseits besitzen wir ein ausgeprägt romantisches Verhältnis für die Welt, die uns umgibt, und drücken diese Romantik in der Art und Weise aus, wie wir unser Zuhause ‚einkleiden‘ und ausschmücken. 23 12 Urbanism gehofft hatten. Ein Grund hierfür ist die enorme Beliebtheit der Siedlungen. In Seaside, Florida, der ältesten Siedlung des New Urbanism in den USA (und seit dem Film ‚The Truman Show‘ einer der bekanntesten), sind die Immobilienpreise seit den Achtzigerjahren um das Zehnfache gestiegen. Wohnungen werden zu Preisen verkauft, die mit denen in Manhattan vergleichbar sind. Andere, nicht weniger ehrenwerte Ziele des New Urbanism haben sich als ebenso schwer realisierbar erwiesen. Die Bewegung begann als Alternative zur Suburbanisierung, basiert auf der Kooperation von Spezialisten aus höchst unterschiedlichen Fachgebieten, um Geschichte möglichst genau zu simulieren. Es bleibt jedoch die Frage, ob Geschichte mit ihrem langsamen Reifeprozess überhaupt durch eine Generalplanung zu ersetzen ist, und ob ein Expertenteam in der Lage ist, die wenig spezialisierte Herangehensweise anonymer Bauherren-Architekten an die Architektur zu kopieren, die jene über Jahrhunderte in ihren Bauten praktiziert und damit unsere historisch gewachsenen Orte geprägt haben. Juhani Pallasmaa: Identity, Intimacy and Domicile, veröffentlicht in: Arkkitehti – Finnish Architectural Review 1/1994 2 John Ruskin: Sesame and Lilies, New York 1891, S. 136f. 3 J.B. Bakema: Thoughts about architecture. London 1981 4 Rede von Prinz Charles anlässlich der Verleihung des National Building Museum’s Vincent Scully Prize am 3. November 2005 1 INTERVIEW MIT ALEXANDER ASADOV Die Aufnahme aus einem Werbeprospekt zeigt die Idealvorstellung der Investoren (und vieler Bewohner) vom Leben in den Apartmenthochhäusern rund um Hong Kong. Anspruch und Service der Wohnanlagen entsprechen denjenigen von Luxushotels; Überwachungssysteme halten unerwünschte Eindringlinge aus den Wohnkomplexen fern. Der russische Wohnungsbau hat in den vergangenen 15 Jahren den Wandel von der staatlichen Bauwirtschaft zum freien Markt vollzogen. Inwieweit wurden damit auch inhaltlich neue Werte übernommen? DAYLIGHT&ARCHITECTURE sprach mit Alexander Asadov, einem der führenden russischen Architekten, über staatliche Reglementierung, über Ökologie und über das Faible vieler Russen für historisierende Baustile. Herr Asadov, in Ihrem Text ‚Alexander Asadov’s Credo‘, den Sie auf Ihrer Homepage publizieren, schreiben Sie: „Unabhängige Kreativität gibt es bei uns seit Mitte der 90er Jahre.“ Welchen Gestaltungsspielraum hatten Architekten vorher, zu Zeiten des kollektiven Bauens in der UdSSR? Es gibt zwei Arten von Beschränkungen: einerseits objektive Beschränkungen, die mit den historischen, baufachlichen, wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten eines Projektes zusammenhängen. Wenn diese Beschränkungen von Anfang an als Rahmenbedingungen feststehen, der Architekt jedoch zur Erreichung seines Zieles die freie Wahl besitzt, dann sind sie verständlich und stellen sich als Selbstbeschränkung dar. Zu sowjetischen Zeiten wurden leider hauptsächlich Beschränkungen in der Art und Weise der Zielerreichung vorgegeben. Sie bezogen sich auf die Werkstoffe und Konstruktionen, auf die Planungstätigkeit oder auf die Einhaltung von Brandschutzvorschriften. Heute sind Verhältnisse, wie wir sie damals kannten, schwer vorzustellen. Deshalb möchte ich nochmals hervorheben: Es existieren objektive Beschränkungen. Wenn ein Architekt sein Ziel erreichen soll, dann darf er jedoch nicht in der Anwendung seiner Instrumentarien eingeschränkt werden. Die Stadt, in der wir bauen, stellt uns selbst bereits Beschränkungen in den Weg, da es weder im städtischen Raum noch in sonstigen Räumen eine absolute Freiheit gibt. Wie hat sich der Wohnungsbau für die große Masse der Bevölkerung seit Ende der UdSSR verändert? Beobachten Sie eine steigende Nachfrage nach Einfamilienhäusern? Eine steigende Nachfrage ist bei Einfamilienhäusern insbesondere in und um Moskau festzustellen. Im Umland der Hauptstadt war dieser Trend auch früher schon erkennbar. Wir haben am Rand von Moskau eine Reihe recht großer Einfamilienhaussiedlungen errichtet, und die Zahl der Bestellungen hat uns verdeutlicht, wie stark der Sektor derzeit in Bewegung ist. Leider sind Einfamilienhäuser bisher noch sehr teuer, und auch die Unterhaltskosten liegen bei uns höher als im Ausland. Die Gründe hierfür sind unter anderem 24 die klimatischen Bedingungen, die Wärmeverluste und die noch recht bescheidenen Möglichkeiten der Energieeinsparung. Auf Grund der kontinentalen Lage haben wir sogar im Vergleich zu Nordeuropa ein raueres Klima und kältere Winter. Daneben besteht eine starke Tendenz, an der industrialisierten Großtafelbauweise festzuhalten. In einer Megapolis wie Moskau, in der private Bauvorhaben einen großen Teil des gesamten Bauvolumens ausmachen, ist es gelungen, die Plattenbauindustrie weiter zu entwickeln. Dies betriff t hauptsächlich den sozialen Wohnungsbau und in geringerem Maße den gewerblichen Wohnungsbau. Kommerzielle Anbieter kaufen die früher staatlichen Produktionsstätten auf und führen dort mit Erfolg fortschrittliche und flexible industrielle Baumethoden ein. Nimmt die Zersiedelung des Umlands um die Großstädte durch Einfamilienhaussiedlungen auch in Russland zu? Inwiefern ist damit eine Auflösung, Privatisierung und Individualisierung der Gesellschaft verbunden? Eine Auflösungstendenz ist deutlich zu erkennen. Die Inhomogenität der Gesellschaft zeigt sich zum Beispiel in den teuren Gebäuden und Wohnkomplexen, die heute bereits neben den sehr billigen und traditionell armen Randgebieten der Großstädte entstehen. Angesichts des sozialen Gefälles organisiert man für diese Objekte einen starken Wachschutz und errichtet Stacheldrahtzäune, wodurch die starke Differenzierung unterstrichen wird. Diejenigen, die im Westen als Mittelklasse bezeichnet werden, stellen bei uns nur einen geringen Prozentsatz dar und gehören zu denen, die sich den genossenschaftlichen und Einfamilienhausbau leisten können. Wie individuell ist der Wohnungsmarkt in Russland wirklich? Der größte Fortschritt für die Architektur ist gerade bei den individuellen Aufträgen zu beobachten. Dies ist derjenige Bereich, in dem sich junge Architekten am ehesten profilieren können. Er wird auch am wenigsten durch abstimmungsintensive Vorschriften reglementiert. Ein Resultat dieser Entwicklung ist die ständig wachsende Zahl von Hochglanzmagazinen, in denen eine Vielzahl erstklassiger Bauten dargestellt wird. Auch der Nationalpreis D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 des ARCHIP, einer der begehrtesten Nationalpreise auf dem Gebiet der Architektur, wird für private Bauvorhaben verliehen. Daneben wird bereits eine große Zahl von Aufträgen für städtische, mehrgeschossige Genossenschaftsbauten an private Planungsbüros vergeben. Jedes Investitionsprojekt ist so aufgebaut, dass der Anteil der Stadt, der das Grundstück und die Infrastruktur für die Bauausführenden beinhaltet, über 30 Prozent der Gesamtkosten beträgt. Hinzu kommt die Zulage aus dem Staatshaushalt; den Rest bilden die Investitionen und privaten Gelder. Und diese Gelder sind in der Stadt sowie in deren Architektur sichtbar. Zu Beginn der Umgestaltung vor zehn bis 15 Jahren hatte man den Eindruck, dass die ehemaligen staatlichen Projektierungsinstitute verschwunden waren, weil der Geldstrom aus den staatlichen Finanzierungskanälen stark abebbte und ein starker Anstieg privat geplanter Projekte begann. Mit dem Anstieg des Finanzierungsumfangs hat sich hier gegenwärtig wieder ein gewisses Gleichgewicht eingestellt. Im privaten Planungssektor überleben naturgemäß nur die Stärksten. Die nicht ausreichend gefestigte Gesetzgebung erlaubt es leider einigen Architekten, einflussreiche staatliche Posten zu besetzen und nebenher private Planungsbüros zu betreiben. Bei uns ist so etwas möglich. Gleichzeitig bestehen wirklich starke private Architekturbüros ihren Überlebenskampf und entwickeln sich erfolgreich weiter. Einige Projektierungsinstitute haben sich neu orientiert und sind von der einseitig entwurfsbezogenen Arbeit zu einem breiten Leistungsspektrum übergegangen. Es haben vor allem diejenigen Institute überlebt, die sich auf die Werkplanung von Projekten anderer Architekten spezialisiert haben. Die technischen Planungsdisziplinen sind auf dem Markt derzeit sehr gefragt. Im Idealfall kann man kleine, flexible Entwurfsbüros zur Entwicklung des kreativen Projektteils gründen und strukturierte Großunternehmen, die sich mit der Projektausarbeitung befassen. Das ist eine durchaus mögliche Symbiose. Wie groß ist der Einfluss der Politik auf den russischen Bausektor – sei es durch gesetzliche Vorschriften oder auf inoffiziellem Wege? Der Einfluss gesetzlicher Bestimmungen ist heutzutage nicht mehr besonders groß. Zu Zeiten des staatlich organisierten Bauwesens bestand eine stark reglementierende Gesetzgebung. Es gab einen gewaltigen staatlichen Apparat, den Gosstroj (dieses Komitee beschäftigte sich in unserem Land mit den gesamten Baufragen), denn 80 bis 90 Prozent des Bauwesens wurden aus staatlichen Haushaltsmitteln finanziert. Der private Bausektor war außerordentlich bescheiden. Beschränkungen gab es sowohl beim Finanzierungsvolumen als auch bei den Möglichkeiten der Nutzung von Privatgeldern. Heute gibt es den Gosstroj nicht mehr, und die Architekten haben dies noch gar nicht richtig bemerkt. An Stelle der staatlichen Gesetzgebung ist nun jedoch eine starke regionale Regulierung getreten, das heißt, es gibt jetzt örtliche Rechtsakte und örtliche Normen, die das Bauwesen reglementieren. Die Anzahl der Instanzen, die für ein Projekt durchlaufen werden müssen, wächst in katastrophalem Ausmaß, und mit ihr steigen die Planungskosten. Das ist einer der Gründe, weshalb kein westlicher Architekt sich hier orientieren und in unserem ‚Dschungel‘ arbeiten kann. Darüber hinaus schreibt das russische Baugenehmigungsverfahren die Projektbetreuung durch russische Stellen vor. Die Popularität neo-historischer Bauformen ist in Russland groß. Auf welche Art von ‚Vergangenheit‘ beziehen sich diese Architekturstile? Ich bin der Ansicht, dass dies auch für den Westen ein bekanntes Problem darstellt. Der Mensch besitzt gewisse Wurzeln und das Bedürfnis, in dieser sich schnell ändernden Welt auf einer kleinen Insel der Stabilität zu leben. Bei uns gibt es wie immer eigene Besonderheiten. Russland hat einige stürmische Veränderungen in der Architektur durchlebt. Allen ist das Russland des Jahrhundertbeginns als Wiege des Konstruktivismus bekannt. Danach gab es einen recht langen Zeitraum des Historismus, der etwa 25 bis 30 Jahre andauerte und als stalinistische Architektur bezeichnet wurde. Sie ruft heute ebenso wie der sozialistische Realismus in der Malerei erneut großes Interesse hervor, weil sie eine gute Schule für Berufsarchitekten war. Im Zuge der darauf folgenden massiven Industrialisierung des Bauwesens entstand dann eine moderne Architektur, in der das Handwerk des architektonischen Entwerfens schnell verloren gegangen ist. In Russland gibt es heutzutage nur eine Handvoll Architekten, die im historischen Stil entwerfen und dies in einer lebendigen und kreativen Weise tun. So etwas ist möglich, und die Leistungen solcher Architekten wie Filippov, Utkin, Brodski und Barchin haben gezeigt, dass die historische Schule der Architekten eine gewisse Existenzperspektive als vollwertige Kunstrichtung hat. Gleichzeitig ist ein Strom computergestützter Entwürfe losgebrochen, die man bei uns „ohne Zar im Kopf“ nennt. Es ist eine Art des Entwerfens, die mit Zitaten unterschiedlicher Stile spielt. Dabei kann der Architekt selbst häufig nicht einschätzen, was für ein Stil es ist und wie dessen Elemente zu kombinieren sind. Dies ist ein eigenartiges und besonderes Gebiet der Kunst, die so genannte Elektik. Wenn jedoch die Nachfrage nach einem Stil steigt, wenn die Möglichkeiten in Form von Datenbanken und Architekturkatalogen vorliegen, aber keine Schule des Könnens und des professionellen Erlernens besteht, dann entsteht einfach ein Schwall von etwas Unbestimmtem, das an historische Architektur erinnert. Es ist eine Schande. Viele Projekte werden in Russland derzeit im historischen Stil geplant, und diese Praxis wird in vielerlei Hinsicht durch regionale und örtliche Behörden unterstützt. Dies unterstreicht das verbreitete Bedürfnis nach Solidität und Stabilität - und danach, das Alter der eigenen Stadt, auch wenn sie noch jung ist, gleichsam künstlich zu erhöhen. Entspricht der russische Neo-Historismus einem tief liegenden Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit, vielleicht sogar nach Sentimentalität? Und inwieweit entspricht die Innenausstattung der Häuser dem rückwärts gewandten Äußeren? Beginnen wir einmal mit der zweiten Frage. Es gibt beeindruckende Fälle der Nichtübereinstimmung zwischen dem Äußeren und dem Inneren. In unserer Praxis gab es Projekte, bei denen zwischen der avantgardistischen äußeren Gestalt des Hauses und der Innenraumgestaltung ein völliges Ungleichgewicht entstanden ist. Andererseits existieren sehr prestigebetonte, im neohistorischen Stil errichtete Komplexe, deren Bewohner sich mit modernistischen oder gar minimalistischen Innenraumlösungen umgeben. Was den ersten Teil der Frage, also den Neo-Historismus, betriff t, so liegen dessen Wurzeln nicht in der Sicherheit und Sentimentalität, sondern in einer ganz bestimmten, falschen Vorstellung über Prestigegehalt, Bedeutsamkeit und Status des Objekts. Die Meßlatte hierfür bewegt sich im Bewusstsein der Gesellschaft nur allmählich und sehr langsam. Wie hoch schätzen Sie allgemein die Fähigkeit Ihrer Mitbürger ein, kompetent über Architektur zu urteilen? Ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung kennt sich in der heutigen Zeit in der Architektur recht gut aus, hat gute Beispiele der westlichen Architektur gesehen und möchte in modernen Häusern wohnen. Das ist ein natürlicher Prozess, der in vielerlei Hinsicht von den Fachkräften, von der Kritik und von der Situation in der Architektur abhängt, die das Interesse an diesem Gebiet weckt. In dieser Hinsicht bin ich voller Optimismus und hoffe, dass es ein langsamer Prozess ist, der in eine Richtung geht. Es werden immer mehr Zeitschriften erscheinen, es wird eine immer größere Anzahl von Investoren geben, die verstehen, dass gute Architektur teurer ist als schlechte. Die Bewertungsmaßstäbe für Architektur im öffentlichen Bewusstsein werden sich weiterentwickeln. ist. Doch weder bei der Bevölkerung noch bei den Fachleuten ist diese Erkenntnis in den Herzen und in der Erziehung verankert. Welche Bedeutung hat die Natur für Sie, wenn Sie in der Millionenstadt Moskau bauen? Wir beobachten, wie Moskaus Grünflächen allmählich schrumpfen wie Chagrin-Leder. Dies ist ein etwas schmerzhafter, jedoch unausweichlicher Prozess. Es gab Projekte, die wir in bestehenden Grünflächen geplant haben. Dabei schlugen wir vor, die Verluste an Grünflächen durch begrünte Dächer zu kompensieren. Doch nicht einmal wir konnten den Auftraggeber überzeugen, dies als ökologischen Faktor zu nutzen, der sich als Imagegewinn für das Objekt niederschlagen könnte. Das Leben zwingt den Auftraggeber und die Menschen leider nicht dazu, sich der Sache ernsthaft anzunehmen, und die Behörden richten ihr Augenmerk nur ungenügend auf die Prognose und Bewertung ökologischer Schäden und zwingen den Investor nicht dazu, die Kosten für den Schutz der Umwelt zu übernehmen. Ist Ökologie in der russischen Architektur allgemein ein Thema – oder ist sie nur ein Zusatz, der dann hinzugefügt wird, wenn es der Auftraggeber verlangt? Ökologie wird vom Auftraggeber bisher nicht ernsthaft verlangt. Es gibt gewisse formale staatliche Auflagen bezüglich des Umweltschutzes, die von allen, darunter auch vom Auftraggeber, als störendes Hindernis betrachtet werden, das den Bauprozess bremst. Die Menschen gewöhnen sich nur allmählich daran, dass man mit umweltfreundlichen Baustoffen bauen sollte. Ein wirkliches Entwurfskriterium ist Ökologie für die meisten jedenfalls nicht. Dies hat sicherlich mit der Vorstellung zu tun, dass unsere Bodenschätze unerschöpflich seien. Der Verstand erkennt zwar, dass alles begrenzt ist und dass Ressourceneffizienz eine Frage der Generationengerechtigkeit 25 Diese Seite Greg Lynn FORM: Embryological House©™ (1998). Nach Greg Lynns Vorstellung wird ein einziger Computer-Algorithmus künftig unendlich viele, unterschiedliche Häuser generieren können. Sie lassen sich an die unterschiedlichsten Orte und Klimata anpassen. LEBENSRÄUME ZELLE DIE UND IHR METABOLISMUS 15. Kalhöfer – Korschildgen: Fahrt ins Grüne, Remscheid (1997). Die Bauherren – beides Journalisten – wünschten sich ein zusätzliches Arbeitszimmer für ihr Fachwerkhaus. Gerhard Kalhöfer und Stefan Korschildgen konzipierten für sie einen mobilen und leichten Anbau auf Schienen, der sich im Sommer seitlich in den Garten ‘hinausfahren’ lässt, um die Terrasse für andere Nutzungen freizumachen. 17. Kalhöfer – Korschildgen: ZwischenRäumen, Reihenhausentwurf für Salzburg (2002). Indem sie alle Außen- und Innenwände als mobile Rollläden konstruieren, verleihen die Architekten einem Reihenhaus ungewohnte Weitläufigkeit. Die zentrale Halle ist als flexibel ‚schaltbarer‘ Zwischenraum konzipiert, der wahlweise mit den benachbarten Zimmern verbunden werden kann. Nach außen öffnet sich das Haus in allen denkbaren Abstufungen. 16. N55: Spaceframe & Floating Platform (1999). Spaceframe von N55 ist eine modular aufgebaute, leichte und kostengünstige Wohneinheit für drei bis vier Personen. Die Wandstruktur besteht aus regelmäßigen Tetraedern. Über eine an Stegen oder Booten befestigte Plattform wird Spaceframe zur schwimmenden Insel. 18. Le Corbusier: Unité d’Habitation in Marseille (1946). Mit einer integrierten Ladenstraße, einer Turnhalle sowie einem Schwimmbecken und einem Spielplatz auf dem Dach ist Le Corbusiers ‚Unité‘ mit ihren rund 1500 Einwohnern als autarke Einheit geplant. Auch das Wohnangebot entspricht mit 23 unterschiedlichen Wohnungstypen zwischen 32 und 137 Quadratmetern dem einer Kleinstadt. 5 Gustav Wolf: Die Grundriß-Staffel. München 1931 Juhani Pallasmaa: Identity, Intimacy and Domicile, veröffentlicht in: Arkkitehti – Finnish Architectural Review 1/1994 7 Udo Kraft, Das mitwachsende Haus, in: Fezer/Heyden: Hier entsteht …, Berlin 2004 8 Nicolaas John Habraken: Die Umsetzung einer einfachen Idee, in: Fezer/Heyden: Hier entsteht …, Berlin 2004 6 26 Die Suche nach einer ‚Zelle‘ oder ‚Kapsel‘ als kleinste bewohnbare Einheit und ihre Anpassung an die ständig wechselnden menschlichen Anforderungen hat die architektonische Phantasie des letzten Jahrhunderts beflügelt. Die Wohngrundrisse vor dem Einsetzen der Moderne wurden größtenteils durch soziale und repräsentative Zwecke bestimmt. Wohnhäuser wurden in der Regel ‚von außen nach innen‘ entworfen und die Fassadenordnung galt als wichtiger als die Funktionalität der Grundrisse. Bei Wohnungen der Mittel- und Oberklasse waren die halböffent- wickeln ließen. Für die Grundrisswissenschaftler dachte ein Architekt nicht nur über Räume und Flure nach, sondern „er entwirft das Wohnen, die Lebensform selbst.“5) Um dies zu ermöglichen, untersuchten die Wissenschaftler die Prozesse des Wohnens. Mithilfe graphischer Methoden zeichneten sie die Bewegungen des Bewohners in der Wohnung auf. Diese wurden in einem zweiten Planungsschritt auf ein Minimum reduziert, indem Räume anders gruppiert und nicht genutzte Resträume entfernt wurden. So wichen etwa die alten Wohnküchen raum- Bruno Taut äußerten die Befürchtung, dass die Standardisierung des Wohnraums einen kleinsten gemeinsamen Nenner herbeiführen würde, der dem Individuum nur wenig Platz einräumte. Ein Mittel, um dem Bedürfnis nach größerer räumlicher und funktionaler Flexibilität gerecht zu werden, waren bewegliche Trennwände, die von Architekten wie Gerrit Rietveld, Mies van der Rohe und Le Corbusier häufig eingesetzt wurden. Im Obergeschoss von Rietvelds Haus Schröder in Utrecht sind alle Innenwände beweglich, sodass die Etage 15 17 18 16 lichen Wohnräume, die der Demonstration des sozialen Status dienten, für gewöhnlich zur Straße hin orientiert, wohingegen sich Schlaf- und Kinderzimmer sowie sanitäre Einrichtungen im hinteren Bereich oder in der Mitte des Hauses befanden und somit ihren zweitrangigen Status demonstrierten. Mit dem Einsetzen der Moderne in den Zwanzigerjahren fand ein Paradigmenwechsel statt. Wohnräume wurden nicht mehr entsprechend der sozialen oder repräsentativen Anforderungen angeordnet, sondern gemäß ihres physischen Gebrauchs, und bestimmen ihrerseits das äußere Erscheinungsbild eines Hauses. Angeregt durch das reformerische Ideal der ‚Wohnung für das Existenzminimum‘ entstand eine Grundrisswissenschaft, die nach objektiven Lebensbedingungen suchte, aus denen heraus sich allgemeine Normen und Richtlinien ent- minimierten Funktionsräumen nach dem Vorbild der ‚Frankfurter Küche‘, in denen alle Bestandteile ergonomisch angeordnet waren. Diese waren jedoch monofunktional und nur von einer Person gleichzeitig zu nutzen; sie ließen damit wenig Raum für sozialen Austausch, spätere Nutzungsänderungen oder auch nur die Zufälle des Lebens. Der Funktionalismus mit seiner Konzentration auf Standardmaße und –räume wurde schnell zur Zielscheibe der Kritik. Viele Architekten erkannten, dass man nicht den Lebensstil an sich entwerfen kann, sondern nur einen räumlichen Rahmen, in dem sich dieser entfaltet. Der Optimismus der Moderne hinsichtlich eines technologischen Fortschritts, der schließlich zu mehr Gleichheit in den Lebensbedingungen führen würde, fand keine allgemeine Zustimmung. Selbst einstige Protagonisten der Moderne wie entweder in vier getrennte Räume aufgeteilt oder als ein großer, Tageslicht durchfluteter Raum genutzt werden kann, in dem die Toilette das einzige feste und abgeschlossene Element darstellt. Neuere Konzepte, von denen einige in diesem Artikel gezeigt werden, beinhalten vorgefertigte Hausbausätze mit Elementen, die sich drehen, wenden und verschieben lassen, um so eine ständig variierende Kombination funktionaler Programme zu ermöglichen. Nach 85 Jahren Erfahrung scheint es jedoch fraglich, ob diese – oftmals akademischen – Konzepte in der Realität wirklich angenommen wurden. Es scheint, als ob Konzepte ‚mobilen‘ Wohnens keinen sehr großen Einfluss auf unser Alltagsleben haben. Sogar unsere Möbel sind mehr oder weniger statisch geworden. Wenn größere räumliche Veränderungen in unseren Häusern nötig werden, bevorzugen wir einen 27 einmaligen Umbau und keine tägliche Umgestaltung unseres Wohnraums. Eine zweite Annäherung zielt daher darauf ab, Gebäuden das Wachsen, Schrumpfen und Ändern ihrer Funktionen angepasst an die Bedürfnisse der Bewohner zu ermöglichen. Die Vorstellung von wachsenden und schrumpfenden Häusern ist in der anonymen Architektur, einschließlich des modernen Seltbstbaus, weit verbreitet. In vielen Gegenden der Erde sind halbfertige, aber schon seit Jahren bewohnte Häuser nicht ungewöhnlich. Die kulturelle Evolution des Wohnraums von von Ästhetik, das besser mit Änderungen und Zufällen umgehen kann. Konzeption und Konstruktion wachsender Häuser werden sich völlig von der Art und Weise unterscheiden, wie wir heute Häuser bauen. Die Verbindungen zwischen Bauelementen müssten rigoros vereinfacht, reversibel gemacht und so standardisiert werden, dass neue Elemente, die zu den alten passen, auch noch in 20 oder 30 Jahren zur Verfügung stehen. Eine Außenwand wird vielleicht später zu einer Innenwand, das heißt, die Fassade und die Isolierung müssen entfernt werden kön- prozess. Als Mies van der Rohe in seinem Mietswohnhaus am Stuttgarter Weißenhof 1927 darauf verzichtete, die Wohnräume mit Ausnahme des Badezimmers und der Küche im Voraus festzulegen, so tat er dies, weil er überzeugt war, dass bestimmte Räume in einem Zuhause nicht von Fachleuten, sondern nur von den Bewohnern selbst und denen, die ihnen nahe stehen, entworfen werden können. In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden Selbstbauprozesse zum Ausdruck von Basisdemokratie und Mündigkeit des Verbrauchers. Zudem manifestierte 20 einer rein praktischen zur ästhetischen und repräsentativen Funktion lässt jedoch die meisten Bewohner ein Gebäude bevorzugen, das sofort fertig aussieht und nichtsdestotrotz die Möglichkeit späterer Änderungen offen lässt. Architekten neigen oft dazu, diese Freiheit zu vernachlässigen: Im Bestreben, „Gesamtkunstwerke“ zu schaffen, entwerfen sie Häuser, deren Ästhetik unter späteren Anund Umbauten nur Schaden nehmen kann. Juhani Pallasmaa schreibt über diese zwiespältige Situation: „[...] in unserer Rolle als Architekten streben wir nach einer akribisch gegliederten und zeitlich eindimensionalen Umgebung, wohingegen wir uns als Bewohner eine vielschichtigere, mehrdeutige und ästhetisch weniger zusammenhängende Umgebung wünschen.“6) Das Konzept eines ‚wachsenden‘ Hauses bedeutet nicht unbedingt eine Einschränkung der Ästhetik, aber ein anderes Konzept 28 nen. Fundamente und Heizungsanlagen müssen vorausschauend geplant werden, also schon zu Beginn groß genug für die voraussichtliche maximale Größe eines Hauses ausgelegt sein. Wenn dieses Konzept nicht zu enormen Müllbergen führen soll, müssen zudem die Bauelemente einfach und sauber in Bestandteile zu trennen sein, die entweder wiederverwertbar oder biologisch abbaubar sind. Wenn alldiese Anforderungen erfüllt sind, sollte es kein Problem mehr sein, ein Haus einfach mitzunehmen, wenn ein Umzug nötig wird. In einem Land wie Deutschland wäre der Abbau eines solchen Hauses, sein Transport und sein Wiederaufbau 500 oder 600 Kilometer entfernt vermutlich günstiger als der Verkauf des alten und Kauf eines neuen Hauses inklusive aller Maklergebühren.7) Ein dritter möglicher Ansatz basiert auf der Beteiligung des Benutzers am Planungs- 21 sich in ihnen eine Gegenbewegung zum vorherrschenden Funktionalismus in der Architektur, über den der belgische Architekt Lucien Kroll schreibt: „Es war die Zeit, als die moderne Architektur akademisch geworden war: Sie war an der Macht, hatte aber ihre Tugenden verloren. Vor allem isolierte sie sich in artifiziellen und autistischen Techniken. Eine neue Faszination ging von der reichen Vielfalt aus, mit der ein Netz sozialer Gruppen einen Ort prägen kann.“ Konzepte wie Constants ‚New Babylon‘, Yona Friedmans ‚Spatial City‘, Archigrams ‚Plug-in Cities‘ oder Eckard Schulze-Fielitz’ ‚Raumstadt‘ basierten alle auf der Dualität aus Tragkonstruktion und Infrastruktur, die durch öffentliche Institutionen bereitgestellt und von Architekten geplant werden, sowie einer Vielzahl von temporären ‚Füllungen‘, welche von den Bewohnern selbst ihren Bedürfnissen entsprechend entworfen wurden. Der nieder- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 ländische Architekt Nicolaas John Habraken und seine ‚Stichting Architecten Research‘ (SAR) setzte diese Idee als Erstes in die Realität um. Das System SAR basierte auf mehrstöckigen Stahlbetonrahmen sowie leichten Trennwänden und Einbaumöbeln, welche im Selbstbau zu realisieren waren. Vor kurzem berichtete Nicolaas John Habraken Habraken in einem Interview, dass er seinerzeit die tiefe Skepsis der Planungsexperten zu überwinden hatte, die entschlossen waren, das ‚ideale‘ Zuhause bis ins kleinste Detail festzulegen: „Ich bin kein politischer Mensch, aber 22 einem unendlichen Angebot von Ressourcen zusammenstellen kann. In der Baubranche fehlt dagegen ein allgemeiner internationaler Standard wie HTML. Forscher wie Kent Larson von MIT befürworten eine ‚bedeutungsvolle Anpassung‘ nach dem Vorbild der Open Source-Software, bei der jeder Benutzer den Quellcode eines Programms lesen und ihn entsprechend seiner Anforderungen verbessern oder ändern kann. In der Architektur wie auch in der Open Source-Software erfordert diese Teilhabe jedoch einen hohen Wissensstand seitens des Nutzers. Da es Nutzern zudem oft schwer fällt, ihre eigenen Vorlieben genau zu definieren, haben Kent Larson und seine Mitarbeiter in ihrem Konzept des ‚Open Source Building‘ ein ‚Präferenzmodul‘ entworfen, das den Menschen dabei hilft, ihre eigenen Bedürfnisse und Werte zu entdecken, und eine Vielzahl verschiedener ‚Designmodule‘, die jeweils den Stil eines bestimmten Architekten nachahmen. Außerdem entwickelt Larson ComputerKritiken, die den Benutzer mit fachkundigen Rückmeldungen zu seinen Entscheidungen während des Planungsprozesses versorgen. 23 ich kapierte, dass ich von anderen Architekten forderte, ihre Arbeitsweise zu ändern und Macht abzugeben. Und ich musste lernen, dass genau das immer starke Widerstände hervorruft.“8) Aufgrund der hohen Komplexität der Planung zählten Architekten, die häufig Projekte mit hoher Nutzerbeteiligung betreuten, zu den ersten, die mit computergestützten Planungwerkzeugen experimentierten. Heute machen elektronische Daten und Kommunikationstechnologien in vielen Branchen eine Beteiligung der Nutzer und Kunden am Entwurf möglich. So ist ‚mass customization‘, die individualisierte Massenfertigung von Produkten, in der Möbel-, Computerund Fahrzeugindustrie bereits gang und gäbe. Das wohl erfolgreichste Beispiel für ‚mass customization‘ ist jedoch das Internet selbst, in dem sich jeder Benutzer sein Informations- und Unterhaltungsprogramm aus 24 19–20. N55: Micro Dwellings (2005). Das miniaturisierte Kapselhaus der dänischen Architekten N55 wird wie ein Schiff aus Stahlplatten verschweißt. Seine Inneneinrichtung besteht nur aus wenigen, mobilen Elementen, die im Tagesverlauf unterschiedliche Funktionen erfüllen. N55 stellt die Micro Dwellings nicht selbst her, sondern bietet lediglich Bauanleitungen (so genannte ‚Manuals‘) im Internet für den Selbstbau an. 21. Stefan Eberstadt: Rucksack House (2002). Neun Meter Zusatzraum, anzudocken an jedes Gebäude, das tragfähig genug ist: Stefan Eberstadts Rucksackhaus ist ein architektonischer ‚Parasit‘, der jederzeit einen neuen Wirt aufsuchen kann. Er wird über Stahlträger in der Außenwand verankert, mit zwei Stahlseilen zusätzlich gesichert und durch ein Wohnungsfenster betreten. 22–24. Kisho Kurokawa: Nakagin Capsule Tower, Ginza (1972). Die 140 Kapseln wurden mitsamt ihrem Innenausbau im Werk vorgefertigt, mit dem Kran an Ort und Stelle gehoben und dort am Betonkern des Bauwerks befestigt. Noch heute dienen die je 10 Quadratmeter (4.0 x 2,5 m) großen Kapseln je etwa zur Hälfte als Wohnungen und Büros. ES GILT, DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DEN SERIENBAU ZU SCHAFFEN: DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DIE KONSTRUKTION VON HÄUSERN IN SERIENBAU, 30 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DAS BEWOHNEN VON HÄUSERN IN SERIENBAU, DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DEN KÜNSTLERISCHEN ENTWURF VON HÄUSERN IN SERIENBAU. LE CORBUSIER, VERS UNE ARCHITECTURE, 1923 31 Der Ursprünge vorgefertigter Häuser waren eher utilitaristischer Natur und wenig um Anpassung oder um den Bewohner als Individuum bemüht. Die ersten europäischen Gebäude in Serienbau waren Militärbaracken. In Amerika hat die Massenproduktion auch im privaten Wohnungsbau eine lange Tradition, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Als Le Corbusier daher 1923 in Vers une architecture die Industrialisierung des Bauens mit den Worten propagierte: „Es gilt, die geistige Verfassung für den Serienbau zu schaffen“, forderte er lediglich ein, LEBENSRÄUME INDIVIDUALITÄT UND MASSENPRODUKTION 26 25 25. IKEA/Skanska: BoKlok (seit Mitte der 90er Jahre) Wörtlich übersetzt, heißt BoKlok ‚klug wohnen‘. Das gleichnamige Wohnkonzept wurde Mitte der 90er Jahre von IKEA und dem schwedischen Wohnungsbaukonzern Skanska entwickelt und inzwischen in fünf Länder exportiert. Die Preise beginnen bei 500 Euro je Quadratmeter Wohnfläche; die Wohnungen sind damit nur wenig teurer als ein Mittelklasse-Wagen. 26–27. BoKlok umfasst zwei Haustypen: die Einfamilienhäuser ‚Villa BoKlok‘, die bislang nur in Schweden angeboten werden, und zweigeschossige Mehrfa- 32 milienhäuser mit je sechs Wohnungen. Jeder Kunde erhält zu seiner neuen Wohnung einen Wertscheck über 300 bis 400 Euro und eine zweistündige Einrichtungsberatung von IKEA. 28. ‚Continental Homes‘ kurz vor der Auslieferung, Nashua, New Hampshire, USA. Die ersten Wohnwagen tauchten in den USA in den 20er Jahren auf. In der Nachkriegszeit entwickelten sich daraus die heutigen ‚mobile homes‘, die in der Regel nur einmal in ihrem Leben mobil sind – nämlich dann, wenn sie von der Fabrik an ihren endgültigen Standort geschleppt werden. was in Nordamerika schon Jahrzehnte zuvor Realität geworden war. Die amerikanische Vorfertigung beruht auf der Konstruktionstechnik des „Balloon-Frame“, die (zum Beispieldurch Sears, Roebuck & Co.) bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch war. Der Aufbau ganzer Städte in Hochgeschwindigkeit, wie beispielsweise Oklahoma City im April 1889, war eine aussagekräftige Demonstration dessen, was Vorfertigung erreichen kann. Ein Bericht dieses Datums erläutert: „Am Mittag des 22. April 1889 [...] war auf der Baustelle Oklahoma City nichts als ein Bahnhof und ein paar Holzhäuser vorhanden. Beim Einbruch der Dunkelheit war eine Zeltstadt für rund 10.000 Menschen entstanden.“ Vier Wochen später war die „Balloon-Frame-Stadt“ fertig, die größtenteils aus vorgefertigten Hütten mit einem Zimmer bestand. Le Corbusiers Vision wurde bald auch in Europa wahr. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren entwickelten Architekten den Geist des Serienbaus rasch weiter. Da Serienbau jedoch nicht nur die Rationalisierung der eigentlichen Produktion, sondern auch des Planungsprozesses beinhaltet, verloren die Architekten bald an Einfluss und Interesse. Es entstand eine Art Zweiklassenarchitektur, in welcher nur eine Minderheit aller Gebäude – öffentliche sowie Bürogebäude, Kultureinrichtungen und Häuser für zahlungskräftige Kunden – von Architekten entworfen wurde. Der größte Teil der Bauproduktion wurde Bauunternehmen überlassen und nach Standardplänen mit standardisierten und diskussionsbereit sind und ihren Anteil an der Entscheidungsfindung haben. Dieses Ideal ist indessen eher zur Ausnahme als zur Regel geworden. Oftmals werden ein oder zwei Parteien – der spätere Bewohner, der Architekt und manchmal sogar der professionelle Bauunternehmer – von diesem Prozess ausgeschlossen. Kommunikation, der Faktor, der ein Maß für Fortschritt bedeutet, gilt nicht länger als Notwendigkeit. Dochkönnten Hersteller von Kataloghäusern, Architekten und Lieferanten nicht viel voneinander lernen? Könnten sie mit ihrem und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.“9) Schulze verweist direkt auf eine der Kernkompetenzen der Architekten: die Anreicherung von Räumen durch Atmosphäre und funktionale Flexibilität. Es erscheint daher logisch, dass Architekten im Serienbau von Eigenheimen künftig wieder eine maßgebliche Rolle spielen sollten. Wenn wir – Investoren, Architekten, Bauunternehmer, Lieferanten und Bauherren – unsere Fähigkeit, voneinander zu lernen, verbessern, kann unsere gebaute Umwelt in Zukunft nur attraktiver werden. 27 28 Komponenten und sehr wenig Einflussnahme durch Architekten errichtet. Im Informationszeitalter vollzog die Baubranche zunächst einen weiteren Schritt der Standardisierung, hin zu einer weltweiten Verbreitung von Bauplänen, die unabhängig von Standort, Bauherr oder Bauunternehmen (theoretisch) überall anwendbar sind. EBusinesses entstanden, bei denen zukünftige Hausbesitzer die Baupläne ihres persönlichen Traumhauses erwerben können – im neokolonialen oder modernen Stil und mit bis zu sieben Schlafzimmern und fünf Garagen. Ein kompletter Satz Standardpläne kostet 500 bis 700 Dollar. Der Architekt bleibt außen vor; die Ausführung kann jeder Bauunternehmer übernehmen, der die notwendige Ausstattung besitzt. Die tradierte Idealvorstellung von Planung und Bau eines Hauses – zumindest die der Architekten - beinhaltet ein Dreiecksverhältnis zwischen Kunde, Architekt und Bauunternehmer, in dem alle Beteiligten gut informiert gesammelten Fachwissen Eigenheime nicht entwickeln, die nicht nur ihre Funktion erfüllen, sondern mit ihrem Kontext, ihrer Kultur und ihrer Zeit in Einklang und obendrein flexibel genug sind, sich an die Bedürfnisse des Bewohners anzupassen? Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass ein Konglomerat standardisierter Baubestandteile, die anhand von uniformen Plänen zusammengebaut und anschließend mit Applikationen verziert werden, ein Haus noch nicht zu einem Zuhause machen. Als Reaktion darauf istdas Interesse von Investoren und Herstellern an einer engen Zusammenarbeit mit Architekten wieder gewachsen. Mit dem Wirtschaftswachstum und der kulturellen Entwicklung sind auch die Ansprüche der Bewohner gestiegen. Sie fragen nach Wohnraum, der ihnen einen Rahmen für ihre Selbstverwirklichung bietet. Erlebnisansprüche, schreibt der Soziologe Gerhard Schulze, „wandern von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Maßstab über Wert D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 29 29. Apartmenthochhäuser in Hong Kong. 25 000 Menschen, zusammengepackt auf der Fläche weniger Fußballfelder: Dieser Traum oder Alptraum ist in den Vorstädten Hong Kongs Realität. Wie sonst nirgends auf der Welt lässt sich hier beobachten, welchen Grad urbaner Dichte der Mensch erträgt – und wie er sein ‘Zuhause’ trotz äußerer Gleichförmigkeit an individuelle Vorlieben anpasst. 9 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt/Main 1997 33 In seiner Zeichnung ‚The Three Magnets‘ verweist Ebenezer Howard, der Gründer der Gartenstadtbewegung, auf eine Dualität, die heute noch gültig ist: Wir wohnen gerne auf dem Land, eng mit dem verbunden, was wir für Natur halten, auf unserem eigenen Grundstück in einer sicheren Wohngegend. Wir möchten jedoch auch die Annehmlichkeiten und kulturellen Einrichtungen einer Stadt nicht missen, vom Flohmarkt bis hin zu Kaufhäusern, Museen und Kinos. Howards Lösung dieses Zwiespalts war die Gartenstadt, eine Siedlung von begrenzter Größe, die Städte ganz verlassen hat und in die Vorstädte gezogen ist. In den letzten Jahren gibt es Hinweise darauf, dass sichdiese Abwanderung verlangsamt hat, es bleibt jedoch ungeklärt, ob dies als rückläufige Entwicklung zu verstehen ist. Bei der Entscheidung für eine Wohnung ziehen wir für gewöhnlich nicht nur deren Preis, Größe und Erhaltungszustand in Betracht, sondern auch Mehrwert wie Nähe zur Natur, Zugang zu Freizeiteinrichtungen und Verkehrsnetzen, eine kinderfreundliche, saubere und sichere Wohngegend sowie die Möglichkeit, einen individuellen Lebensstil in Nomaden“12) folgt. Die modernen Nomaden verbringen die meiste Zeit an Orten, die entweder öffentlich sind – wie Flughäfen und Bahnhöfe – oder unspezifisch genug, um eine große Anzahl unterschiedlicher Menschen zu beherbergen – wie Hotelzimmer oder Wohncontainer. In vielen Fällen unternehmen Architekten und Planer große Anstrengungen, diese Räume mit einem Mindestmaß an Privatsphäre und Persönlichkeit auszustatten, sodass wir sie, zumindest vorübergehend, als Ersatz für unser Zuhause akzeptieren. Auf der anderen Seite entscheiden sich LEBENSRÄUME Ebenezer Howard: Die drei Magneten (1898). Wohnen in der Stadt oder auf dem Land? Ebenezer Howard, der geistige Vater der Gartenstadt-Bewegung, vergleicht die Menschen in seinem Diagramm mit Eisenspänen, die von drei Magneten angezogen werden: Die Stadt (town) steht dabei für hohe Löhne, kulturelles Angebot und Gemeinschaftsleben, aber auch für den Mangel an Naturräumen und für Umweltverschmutzung, dem Land (country) werden die entgegengesetzten Eigenschaften zugeschrieben. Der dritte Magnet, das ‚Stadt-Land‘ (towncountry) – Howards Gartenstadt – soll die Vorzüge beider Lebensräume vereinen. ICH DAS UND DIE GESELLSCH 30 mit erkennbarem Zentrum und definierten Grenzen, bewohnt von einer Gemeinschaft aus Hausbesitzern. Zwischenzeitlich hat die Vorstadt der Nachkriegszeit die Gartenstadt als Traumvorstellung der Hausbesitzer abgelöst. Sie bietet begrenzte Dichte und die Möglichkeit, die Vorstellung vom privaten Eigenheim Wirklichkeit werden zu lassen, es fehlen jedoch das Zentrum und die klare Umgrenzung der Gartenstädte. Der fortlaufende Prozess der gesellschaftlichen Spaltung hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass fast nur jüngere Menschen und Familien mit hohem Einkommen in den Stadtzentren wohnen blieben. Hohe Wohnungspreise haben die Gruppen mit niedrigem Einkommen in die Randgebiete der Städte, insbesondere in die Wohnblocks der Sechziger- und Siebzigerjahre, verdrängt, wohingegen die Mittelschicht 34 einer individualisierten Umgebung zu führen. Städtische Wohnquartiere mit ihrem häufigen Mangel an Grünflächen, ihren hohen Wohnungspreisen und sozialen Problemen haben im Wettstreit mit den Vorstädten um die Mittelschichtdemnach noch immer nicht die beste Ausgangsposition. Gegenwärtig nähern sich unsere Lebensstile zwei Extremen an: Einerseits wird eine zunehmende Anzahl von Menschen immer mobiler. Wenngleich Nomadentum – sogar in seiner modernen Form – kein neues Phänomen ist, haben die Globalisierung und die zunehmende Durchlässigkeit der Landesgrenzen zum Entstehen einer neuen Wanderarbeiterklasse geführt. Die Welt befindet sich buchstäblich ‚unterwegs‘10), und Soziologen fragen sich, ob auf das ‚Jahrhundert der Flüchtlinge‘, wie das 20. Jahrhundert einmal genannt wurde 11), ein „Jahrhundert der immer mehr Menschen für einen introvertierten Lebensstil, der sich auf das eigene Zuhause konzentriert. „Not In My Back Yard“ – was mich nicht unmittelbar betrifft, interessiert mich nicht – ist zum Slogan einer weitverbreiteten Einstellung den Problemen gegenüber geworden, die das Gesellschaftsleben mit sich bringt. Für Soziologen hat die neue Kultur der Introversion ihren Ursprung in der weitverbreiteten Angst, die sich nach den Anschlägen des 11. Septembers entwickelt hat. Menschen gehen weniger aus, verbringen weniger Zeit in der Öffentlichkeit und bleiben mehr zu Hause, ziehen weniger (und engere) Freundschaften zahlreichen oberflächlichen Bekanntschaften vor und entdecken Werte wie Treue und Familie neu. Richard Sennett hat ausführlich und kritisch über das Thema dieser „Suche nach Identität, die sich aus Elementen der inneren D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Welt zusammensetzt“13) geschrieben, und er identifiziert sie als eine Ursache des (postmodernen) Narzissmus. Sennett zufolge ziehen wir uns in die Privatsphäre zurück, weil wir eine unsichere Wirklichkeit fürchten. Wir sind von Narzissmus durchdrungen, ausschließlich auf das eigene Ich bezogen, das stets fragt: Welche Bedeutung hat meine Umwelt für mich? Sennett behauptet, dass Menschen „einen verständnisvollen Blick auf die Gesellschaft“ sowie die Sensibilität für „das öffentliche Dasein“ verlieren. Für ihn ist die Stadt der Ort, an dem sich das öffentliche Leben 31. Archizoom: Residential Parking / No-Stop City (1971). Die ‚No-Stop City‘ von Archizoom ist eine ironische Kritik an der Ideologie der Architekturmoderne, die bis zu ihren absurden Grenzen getrieben wurde. An die Stelle der Stadt tritt ein gleichförmiges, rasterartiges Versorgungsnetzwerk, an das sich die Bewohner an beliebiger Stelle anschließen und dort informelle Wohnstätten errichten. Die Natur ist verschwunden, sie wird durch eine endlose Innenraum-Landschaft ähnlich wie in Großraumbüros ersetzt, in der die Menschen in Zelten campieren. sechs- bis zehnmal so groß wie die biologisch produktive Erdoberfläche . Ganz gleich, was die Hintergründe für die Verstädterung der Vororte sind, die Welt der Zukunft muss – und wird – in den Städten liegen. In diesem Jahr, 2006, lebt zum ersten Mal in der Geschichte die Hälfte der Menschheit in Städten. Daher genießen die Eindämmung des Flächenverbrauchs und die qualitative Verbesserung urbaner Areale absolute Priorität für unsere Zukunft. Wie aber lassen sich städtische Ballungsräume mit dem Streben der Einwohner nach Natur, tigkeitsbeirat von Baden-Württemberg ein System mit „Flächenzertifikaten“ als politisches Mittel gegen die städtische Ausdehnung vorgeschlagen. Wenn dieser Vorschlag in die Tat umgesetzt wird, würde ein ähnliches Handelssystem entstehen wie im Fall der Emissionszertifikate, die für die Umsetzung des Kyoto-Protokolls eingeführt wurden. Bei Flächenzertifikaten wird jeder Gemeinde ein bestimmter Anteil von Land für die Neubebauung zugewiesen, der ähnlich wie das Gegenstück aus dem Kyoto-Protokoll unter den Gemeinden handelbar ist. 31 32. Office for Subversive im Londoner Stadtteil Tower Architecture mit Harald Hamlets einen neuen Anstrich, Hugues und Trenton Oldfield: frische Vorhänge und einen Installation ‚Intact‘, London ‚Mini-Vorgarten‘ mit frischen (2003). Ein Betriebsgebäude Blumen, Kunstrasen und der British Rail wird zur KariGartengrill. Mit der Aktion katur eines kleinbürgerlichen wollten sie die Behörten Wohnhauses: Mitte 2003 verauf die Potenziale der ungepassten die Mitglieder des nutzten Stadtbrache für drinOffice for Subversive Architec- gend benötigten Wohnraum ture der Stahlbeton-Baracke aufmerksam machen. 32 manifestiert, wohingegen in der Vorstadt die Suche nach Identität und Individualität stattfindet. Man stelle sich vor, die 10 Milliarden Menschen, die bald die Erde bevölkern werden, wohnten alle in Vorstädten im europäischen oder amerikanischen Stil. In Mitteleuropa beträgt der durchschnittliche Flächenverbrauch von Vorstädten 800 bis 900 Quadratmeter pro Kopf. Bei einer Bevölkerungszahl von 10 Milliarden ergäbe sich somit eine Vorstadt von 9 Millionen Quadratkilometern (ungefähr die Größe der USA, bebaut mit Wohnzimmern, Garagen, Vorgärten, Straßen und Einkaufszentren). Der ökologische Fußabdruck dieser Mega-Wohngegend (das heißt die biologisch produktiven Flächen, die beim derzeitigen Stand der Technik zu ihrer Versorgung mit Rohstoffen sowie zur Entsorgung ihrer Abfälle nötig wären) wäre Privatsphäre und Individualität versöhnen? Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Ideen sind mannigfaltig: Sie reichen von den Siedlungen des New Urbanism bis hin zu SOLTAG (www.soltag.net), einer Initiative vier dänischer Unternehmen, welche sich mit der Entwicklung vorgefertigter Hauseinheiten auf den schätzungsweise 100.000 Quadratmetern Flachdächern der NachkriegsWohnblocks in europäischen Metropolen beschäftigt. Es stellt sich die Frage, ob die gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geeignet sind, um diesen Ideen im Wettkampf mit dem freistehenden Einfamilienhaus zum Durchbruch zu verhelfen, das immer noch die Mehrzahl der neugebauten Häuser in Europa ausmacht. Indessen gibt es auch hier erste Ansätze für ein tiefgreifendes Umdenken. So hat der Nachhal- 10 11 12 13 14 Z. Bauman in: Globalisation, the human consequences. Cambridge 1998 K.R. Grossman/A. Tartakower: The Jewish refugee, New York: Institute of Jewish Affairs 1944 K. Schlögel in: Die Mitte liegt ostwärts, Frankfurt 2002 Richard Sennett, Verfall und Ende sed öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt /Main, 1986 In ihrem Bericht „Ecological Footprint of Nations“ schätzen Wackernagel et al. die 2040 verfügbare biologisch produktive Erdoberfläche pro Kopf auf zirka 1 Hektar, bei einer Weltbevölkerung von 10 Milliarden. Im Vergleich dazu hatte 1997 ein Deutscher im Durchschnitt einen ökologischen Fußabdruck von 5,5 Hektar pro Kopf und ein Amerikaner 10,3 Hektar (Siehe http://www. ecouncil.ac.cr/rio/focus/report/english/ footprint). 35 INTERVIEW MIT ANDREAS LAUESEN Zusammen mit Force4, einem interdisziplinären Team von acht Studenten der Königlichen Dänischen Kunstakademie sowie der Danish School of Design in Kopenhagen – hat Andreas Lauesen ‚Boase‘ entworfen, ein Wohnungsprojekt für die Zukunft, das 2001 mit dem dänischen ‚Fremtidens Bolig‘ (Haus der Zukunft)-Architekturpreis ausgezeichnet wurde. Jetzt setzen Force4 das Projekt in Zusammenarbeit mit den Architekten KHR aus Kopenhagen in die Tat um. DAYLIGHT&ARCHITECTURE fragte Andreas Lauesen, nach den Hintergründen des Projekts. Ihr preisgekröntes „Boase“-Projekt wird jetzt tatsächlich gebaut. Wie weit sind die Arbeiten auf der Baustelle fortgeschritten? Derzeit verhandeln wir noch mit dem Kunden und dem derzeitigen Eigentümer über den Preis für das Baugrundstück. Wir gehen aber davon aus, dass in etwa drei Monaten mit dem Bau begonnen werden kann. Das Faszinierende an Ihrem Projekt ist sein ganzheitlicher Ansatz – es umfasst alle Maßstabsebenen vom Städtebau bis zum menschlichen Körper, die Gemeinschaft und das Individuum, Technik und Natur. Hatten Sie diesen „großen“ Vorstoß von Anfang an geplant, oder entwickelte er sich im Laufe der Zeit? Wir haben das Projekt mit einer umfassenden Forschungsarbeit begonnen, die wir in acht Kategorien aufteilten: Gemeinschaft, Technologie, Nachhaltigkeit, Identität, Selbstversorgung, Wohnung und Haus, Leben im Netzwerk, Dynamik und Beständigkeit. Diese acht Themen waren der Impulsgeber und zugleich das Ziel des Boase-Projektes; sie haben es durch den ganzen Prozess begleitet. Was waren die drei wichtigsten Inspirationen für Boase – Experten, die Sie gefragt haben, Bücher, existierende Lebensgemeinschaften oder Beispiele aus der Architektur, die Sie sich angesehen haben? 36 Erstens ein Ausflug zur Waggonfabrik von Scania in Randers, Dänemark. Dort wurde uns gezeigt, wie man Räume erzeugt und dabei möglichst wenig Abfall produziert. Die zweite Inspiration war Ulrik Carlsson, ein Fachmann für Phytoremedation (Bodenentgiftung durch Pflanzen). Drittens regte uns Morten Lund von der Danish School of Design dazu an, dem Entwurfsprozess mit offenen Augen zu begegnen. Inwiefern wird das Gemeinschaftsleben in Boase vom Gemeinschaftsleben heutiger Siedlungen abweichen? Und welche Vorsorge trifft die Architektur von Boase hierfür? Das Gemeinschaftsleben findet auf zwei Ebenen statt: Zu ebener Erde im öffentlichen, allgemein zugänglichen Park, und auf den erhöhten Laufstegen, die größtenteils nur von den Bewohnern verwendet werden. Außerdem verfügt jedes Haus über einen großen Gemeinschaftsbereich, über den jeder Bewohner in sein eigenes Zimmer gelangt. Hier können Sie Feste feiern oder Ihre Freunde und Nachbarn treffen. Dieser offene Lebensraum und Treffpunkt ist etwas, das Sie ansonsten selten in dänischen Häusern finden. Beobachten Sie generell einen Mangel an ganzheitlichem Denken in der heutigen Architektur? Und könnte dies mit der Art und Weise zu tun haben, wie wir als Architekten ausgebildet werden? Die skandinavische Architektur ist immer ganzheitlich gewesen. Ich denke aber, dass Architekten und Designer das in den Achtziger- und Neunzigerjahren vergessen haben ... Diejenigen, die heute die architektonische Szene beherrschen , haben einige unserer großen skandinavischen Vorbilder falsch verstanden. Auf dem Bauplatz befand sich eine kleine Ölfirma, die sich auf das Herstellen neuer Ölprodukte aus Rohöl spezialisierte. Sie verwenden Weiden, um den Boden von Schadstoffen zu reinigen. Wie lange, schätzen Sie, wird dies dauern? Unser Experte Ulrik Carlsson von DMU nimmt an, dass das Reinigen des Bodens 10-15 Jahre dauern wird. Ich denke, dass das die preiswerteste Lösung ist. Bei der konventionellen Bodensanierung wird das Problem nicht gelöst, sondern der Schmutz wird nur an einen anderen Platz geschafft, an dem er zeitweilig unsichtbar ist. Wie Sie eben erwähnten, geschieht Umweltverschmutzung oft, ohne von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Und die Öffentlichkeit interessiert sich meistens nicht für das, was sie nicht sehen kann. Ist dieser Mangel an Unmittelbarkeit bei unserem Umgang mit natürlichen Ressourcen ein Problem? Ich glaube, dass die Menschen sich zu Wort melden sollten. Nicht in negativer Hinsicht, sondern mit Vorschlägen, wie diese Probleme behoben werden können. Gab es bezüglich der öffentlichen Gesundheit Bedenken, weil Sie auf verseuchten Grund bauen wollten? Ja, natürlich. Wir wussten von Anfang an, dass das der wunde Punkt des Projektes werden könnte. Deshalb setzten wir uns mit einem Arzt der Gesundheitsbehörde und einem Experten auf dem Gebiet der Toxikologie in Verbindung. Sie rieten uns, das Gebäude über den Boden anzuheben, sodass der Wind den Boden darunter belüften kann. Mit Boase geben Sie der Natur und der Menschheit etwas zurück. Oder, wie Sie sagten, „Wir fordern die Erde für zukünftige Generationen zurück“. Sehen Sie das als Wende – weg von einer Architektur, die normalerweise nur nimmt und nie etwas gibt? Ich glaube, dass in Dänemark das Interesse am individuellen Menschen wächst. Die Situation wird sich aber meiner Meinung nach in naher Zukunft nicht drastisch verändern. Diese Vorstellung, die Gebäude vom Boden zu erheben, erinnert mich ein wenig an alte Utopien wie Constants „New Babylon“ oder Ron Herrons „Walking Cities“. Wurden Sie durch ihre Gedanken angeregt? Natürlich kennen wir diese Projekte; sie waren aber keine wirkliche Inspiration für das Projekt. Unsere Inspirationen sind unter anderem neue Materialien, Änderungen in der Gesellschaft und das moderne Ingenieurwesen. Der Bauplatz, der für „Boase“ ausgesucht wurde, ist stark verseucht. Wie wurde er vorher genutzt? Sie beschreiben Boase als „Zusatz“ zu vorhandenen Städten. Könnten Sie sich eine ganze Stadt vorstellen, D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 die auf der Grundlage des BoaseModells gebaut wurde? Wir haben ein paar Entwürfe von Boase-Städten auf Wasser gemacht. Wir dachten, dass das System vielleicht an häufig überfluteten Orten umgesetzt werden könnte; ich denke aber, dass dies eine schlechte Idee wäre, weil eine Stadt aus vielen verschiedenen Menschen und verschiedenen Häusern und Funktionen bestehen sollte. Eine bemerkenswerte Eigenschaft von Boase ist die Tatsache, dass die Wohnungen vollständig vorgefertigt werden. Was bedeutet das im Zusammenhang mit Ihrem Projekt? Sehen Sie die Notwendigkeit, auch in der Fertighausindustrie ‚grüner‘ zu denken? Die industrielle Produktion der Häuser kommt der effizienten Verwendung von Rohstoffen entgegen und vermeidet Abfall. Deshalb glaube ich, dass diese Methode für den Hausbau der Zukunft notwendig ist. Man muss jedoch auch der Energie, der Umwelt und dem Einsatz von gesunden Materialien Rechnung tragen. In der Realität entscheidet meistens der Preis, welche Häuser Erfolg haben und welche nicht. Wie erschwinglich ist ein Boase-Haus? Die Häuser werden für zirka 6000 DKK (850 EUR) im Monat pro 72-Quadratmeter-Einheit vermietet. Für eine Neubauwohnung gleichen Standards im Zentrum von Kopenhagen würden Sie viel mehr bezahlen. LEBENSRÄUME DIE ZUKUNFT DES WOHNENS Ingenieure strebten danach, von diesen Beispielen zu lernen. Andere zeitgenössische Architekten und Ingenieure vergleichen ein Haus mit einer ‚dritten Haut‘ des Menschen – neben der ersten, natürlichen Haut, und der zweiten Haut, unserer Kleidung. Sie fordern daher, dass die Haut eines Hauses ebenso einfach in der Lage sein muss, sich an schwankende Bedingungen des Klimas, Tageslichts und der Belüftung anzupassen wie die menschliche Haut. 2.) Langfristig denken – weil nichts für die Ewigkeit ist. In ihrem Buch Cradle to 33. Faber Maunsell und Houghton Architects: Südpolarstation Halley VI (2005). Die neue Forschungsstation der British Antarctic Survey fährt Ski: Ihre teleskopartigen Beine stehen auf Gleitern, die ihr eine Fortbewegung ermöglichen und zugleich das Versinken im Schnee – Schicksal so vieler Südpolarstationen zuvor – verhindern sollen. An das zweigeschossige Zentralmodul werden kleinere Wohn- und Arbeitseinheiten angedockt. Soll die Station ‚auf Wanderschaft‘ gehen, werden pro Modul zwei Bulldozer als Zugmaschinen benötigt. 33 Das Zuhause der Zukunft wird scheinbare Widersprüche in Einklang bringen müssen. Es wird urban und gleichzeitig naturnah, robust und erschwinglich, in Serie gefertigt und dennoch individuell sein; es wird wachsen und schrumpfen können, Privatsphäre und die Möglichkeit zu sozialen Kontakten bieten und der Umwelt mehr zurückgeben, als es nimmt. Angesichts der Frage, wie diese scheinbar widersprüchlichen Ziele erreicht werden sollen, lohnt der Blick auf drei Strategien, die führende Denker in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben: 1.) Beobachten, wie Natur wächst, baut und sich entwickelt. Vor allem in den letzten Jahren haben sich die lebenden Dinge, die uns umgeben, als eine der reichhaltigsten Inspirationsquellen für Designer, Architekten, Tragwerksplaner und Materialwissenschaftler herausgestellt. In seinem Essay Lessons From Nature erwähnt der amerikanische Architekt und Designer Eugene Tsui zwölf zugrunde liegende Prinzipien natürlicher Strukturen. Unter anderem geht Natur sparsam mit Material um, maximiert die strukturelle Stabilität und das in einer Form eingeschlossene Volumen, maximiert das Verhältnis von Stabilität zu Gewicht, erreicht Energieeffizienz durch Formgebung, verwendet lokal vorkommende Baumaterialien, erzeugt nichts, was schädlich für die Umwelt ist, und entwirft Strukturen, die von einem einzelnen Organismus gebaut werden können.15) Natürliche Strukturen wie Spinnennetze, Vogelnester und Termitenhügel ziehen nicht nur wegen ihrer Schönheit unsere Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch wegen ihrer unglaublich intelligenten Materialverwendung. Frei Otto und andere Cradle vertreten der amerikanische Architekt William McDonough und der deutsche Chemiker Michael Braungart die Meinung, dass in der Natur nichts nur einen einzigen Lebenszyklus hat. Es gibt keine Abfallstoffe, da alles Bestandteil eines kontinuierlichen Kreislaufs von Wachstum und Verfall, Geburt und Tod ist. In ähnlicher Weise sollte alles, was wir produzieren oder bauen, ein Bestandteil zweier Stoffwechsel sein: des technischen Stoffwechsels, in dem idealerweise alle Materialien unendlich rezykliert und wiederverwendet werden, und dem natürlichen Stoff wechsel, in dem Materialien zersetzt und wieder zu biologischen Nährstoffen werden. Daher sollten wir uns McDonough und Braungart zufolge in Acht nehmen vor so genannten ‚monströsen Hybriden‘ – Produkten oder Bauelementen, die nicht sortenrein getrennt und damit Teil 37 eines der beiden Zyklen werden können. Mithilfe moderner Technologien können wir die Strukturen, Formen und Funktionen der Natur recht gut nachahmen. Es ist jedoch noch ein weiter Weg, bis wir dazu in der Lage sein werden, sie aus denselben erneuerbaren oder biologisch abbaubaren, stabilen, effizienten und schönen Materialien zu erschaffen wie die Natur. Wenn wir Erfolg haben, erhält die Vorstellung von Gebäuden als ‚dritte Haut‘ des menschlichen Körpers eine neue Bedeutung und wird schließlich mehr als nur eine Metapher. kopplung, die Unabhängigkeit der Systemfunktion von quantitativem Wachstum, die funktionsorientierte (und nicht produktorientierte) Arbeit des Systems, die Mehrfachnutzung von Produkten, Funktionen und Organisationsstrukturen sowie das Konzept der Symbiose – der gegenseitigen Nutzung von Verschiedenartigkeit durch Kopplung und Austausch. Welchen Einfluss haben diese Regeln auf die Planung eines Zuhauses? An erster Stelle ist die Rückkopplung mit dem Bewohner – positiv wie negativ – von äußerster Bedeu- im Zentrum des Prozesses, indem sie personalisierte Informationen zu Entwurf, Produkten und Dienstleistungen für ihre Entscheidungsfindung erhalten“.17) Ähnlich wie Vesters Ansatz basiert die Vorstellung der ‚Open Source‘ auf der Annahme, dass der Verzicht auf zentrale Kontrolle im Planungsprozess und das Zulassen eines größeren Maßes an Unvorhersehbarkeit und „fuzzy logic“ zu einem individuelleren, robusteren und fehlertoleranteren Ergebnis führt. Drittens führt uns das Konzept der Symbiose zurück zu einem eingangs in die- 34. Vision einer Raumstation (1970). Nach der erfolgreichen Mondlandung durch Apollo 9 planten Wissenschaftler der NASA die ersten Raumstationen im Orbit: Hohlzylinder, die in ihrem Inneren eine verkleinerte Version des irdischen Ökosystems enthielten. Auch die Architektur der Wohngebäude unterschied sich nur wenig vom Standard amerikanischer Vorstädte. 35 34 3.) Überdenken unserer Planungsstrategien. In der Natur gibt es keine vereinfachenden Wenn-Dann-Beziehungen. Jede Aktion ruft nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Reaktionen hervor. Unser Ökosystem basiert nicht auf deterministischer Programmierung oder zentraler Überwachung, sondern auf einer komplizierten Vernetzung rekursiver Steuerkreise, die alle miteinander interagieren. Ein Beispiel dafür ist das menschliche Gehirn mit seiner neuronalen ‚Architektur‘. In seinem Buch Die Kunst, vernetzt zu denkenn16) erklärt der deutsche Biologe und Planungstheoretiker Frederic Vester, dass Planung diese Komplexität verinnerlichen muss, anstatt sie kontinuierlich zu reduzieren. Vester stellt acht Grundregeln der Biokybernetik heraus, zu denen die folgenden zählen: die Existenz sowohl positiver als auch negativer Rück- 38 tung; die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten daher auch direkt in die Planung und Herstellung einfließen. Wird es möglich sein, den Serienbau zukünftiger Häuser in einen Prozess zu verwandeln, der permanent und automatisch von den Erfahrungen der Benutzer lernt? Sollte dies gelingen, so wäre (vielleicht zum ersten Mal überhaupt) eine wirklich zielgerichtete und am Menschen orientierte Planung Wirklichkeit geworden. Zweitens könnte ein Überdenken der Rolle von Architekten, Herstellern und Bauunternehmen von großem Vorteil sein. Kent Larsons vorausblickendes Konzept eines ‚Open Source Building‘ impliziert: „[...] Bauunternehmer werden zu Monteuren, Architekten erarbeiten Entwurfsmodule, um auf effiziente Weise tausende einzigartiger Umgebungen zu erstellen, [und] Kunden (Hauskäufer) werden zu ‚Innovatoren‘ sem Artikel diskutierten Punkt. Die menschliche Welt ist zu einer Welt der Spezialisten geworden, in der die Konzepte der Individualität und Verschiedenheit vorherrschen. Dadurch haben wir das Potential für eine Vielzahl fruchtbarer Symbiosen geschaffen, in denen jeder Teilnehmer vom anderen profitieren kann. Eine wahrhaft breit angelegte Symbiose im Planungsprozess, die auf gegenseitigem Respekt, Solidarität und enger Kommunikation beruht, wäre eine solide Basis für unsere Aufgabe, Lebensräume für die 10 Milliarden Menschen zu schaffen, die bald die Erde bewohnen werden. 15 16 17 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 http://www.tdrinc.com/natarch.htm Die Kunst, vernetzt zu denken. Ein Bericht an den Club of Rome. München 2002 Siehe Artikel in dieser Zeitschrift. 35. PLOT: HySociety (2004). ‚Was wäre, wenn Dänemark eine Energiekostenrechnung von Null hätte?‘, fragen die Kopenhagener Architekten PLOT in ihrem Projekt zur Architekturbiennale 2004 in Venedig. Sie entwerfen ihre wasserstoffgetriebene Utopie als kompakten, städtischen ‚Superblock‘ für 1500 Bewohner, in dem ein geschlossener Kreislauf aus Energieerzeugern und Energieverbrauchern entsteht. Haupt-Energiequelle ist die Sonne. Abwärme geht nicht verloren, sondern wird zum Beheizen von Wohnungen, Büros und eines Schwimmbades genutzt. 36. Richard Horden et al.: Forschungsstation Peak_Lab (2003). Die Forschungsstation Peak_Lab auf dem Kleinen Matterhorn ist als energie- und wasserautarker Selbstversorger geplant. Die Montage erfolgt über Helikopter. Der ‚Gipfelstürmer‘ ist in Module eingeteilt, die wiederum verschiedene Nutzungsvarianten erlauben. So kann das Küchen- auch zum Schlaf- und Wohnmodul umgewandelt werden. BILDNACHWEIS S.15 FILM MUSEUM BERLIN – DEUTSCHE KINEMATHEK S.16–17 7 FOTO: MICHAEL WOLF WWW.PHOTOMICHAELWOLF.COM, COURTESY OF HASTED HUNT GALLERY, NEW YORK, WWW.HASTEDHUNT.COM ALTARFALZ: QUALLENSCHWARM FOTO: CHRIS SATTLBERGER / SPL / AGENTUR FOCUS DIE NATUR DES WOHNENS 1. ZEICHNUNG: LE CORBUSIER/VG BILD-KUNST 2. FOTO: RICHARD DAVIES 3. FOTO: ATELIER FREI OTTO 4. FOTO: ROBERT BRUNO 5–6. RENDERINGS: WILL ALSOP/SARAH FEATHERSTONE S.20–21 FOTO: THE THOMAS KINKADE COMPANY ALTARFALZ: HONG KONG INTERIOR FOTO: MAP OFFICE ZU HAUSE BEI SICH 7–8. FOTOS: THOMAS LINKEL 9–11. FOTOS: LARS MONGS 12. FOTO: HAYLEY FRANKLIN 13. ZEICHNUNG: ROB KRIER 14. FOTO: JAKOB SCHOOF DIE ZELLE UND IHR METABOLISMUS S.26 RENDERING: GREG LYNN FORM 15. FOTO: LANGE/DECHAU 16. FOTO: N55, KOPENHAGEN 17. RENDERING: KALHÖFER – KORSCHILDGEN 18. FOTO: FONDATION LE CORBUSIER/ VG BILD-KUNST 19. FOTO: JAKOB SCHOOF 20–21. ZEICHNUNG: N55 22. ZEICHNUNG: KISHO KUROKAWA 23. FOTO: KISHO KUROKAWA ARCHITECTS 24. FOTO: TOMIO OHASHI P.28–29 ZEICHNUNG: FONDATION LE CORBUSIER/ VG BILD-KUNST INDIVIDUALITÄT UND MASSENPRODUKTION 25. FOTO: BOKLOK 26–27. FOTO: JAKOB SCHOOF 28. FOTO: BOB PERRON 29. FOTO: MAP OFFICE/LAURENT GUTIERREZ, VALERIE PORTEFAIX DAS ICH UND DIE GESELLSCHAFT 30. ZEICHNUNG: EBENEZER HOWARD 31. FOTOMONTAGE: ARCHIZOOM / COLLECTION CENTRO STUDI E ARCHIVIO DELLA COMMUNICAZIONE, UNIVERSITÀ DI PARMA 32. FOTO: OFFICE FOR SUBVERSIVE ARCHITECTURE 36 DIE ZUKUNFT DES WOHNENS 33. RENDERING: FABER MAUNSELL + HUGH BROUGHTON ARCHITECTS 34. RENDERING: NASA AMES RESEARCH CENTER 35. FOTO: PLOT 36. RENDERING: PROF. RICHARD HORDEN, LONDON UND TU MÜNCHEN; PROF. DR. ULRICH PFAMMATTER, HOCHSCHULE FÜR TECHNIK UND WIRTSCHAFT, ABTEILUNG BAU UND GESTALTUNG, CHUR/SCHWEIZ REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseits der Alltagsarchitektur. NEGOTIATE MY BOUNDARY! Oben Eine Wand ist in negotiate my boundary!! nicht automatisch eine Wand. Das Storyboard von RAMTV zeigt Möglichkeiten, wie Räume und mobile Einbauten gemeinsam genutzt werden können. Text von RAMTV – Aljosa Dekleva, Manuela Gatto, Tina Gregoric, Robert Sedlak, Vasili Stroumpakos. Was wäre, wenn Form und Größe menschlicher Wohnungen von den Bewohnern selbst in einem Prozess gegenseitiger Verhandlungen festgelegt würden? In „negotiate my boundary! – Verhandle meine Grenzen!“, ihrer Abschlussarbeit an der Architectural Association in London, entwickelten die fünf jungen Architekten RAMTV ein Planungswerkzeug, das diese Art der Verhandlung ermöglicht. Das Ergebnis ist ein Gebilde von Wohnungen, die nicht nur die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmer, sondern auch die Bedürfnisse der Gemeinschaft als Ganzes erfüllen. Negotiate my boundary! schlägt ein Modell vor, um Woh- Der Hauptfokus liegt auf der Verhandlung von Grenzen vor dem nungen individuell zu gestalten und über das Internet zu kaufen. Hintergrund mehrerer – räumlicher und sozialer – Spielarten Die Anpassung von Wohnungen im großen Stil erfolgt durch und auf vielen verschiedenen Maßstäben von der Detail- bis zur eine webbasierte Software, genannt ‚cluster:blaster‘, die inten- Quartiersebene. Die Verhandlung wird zu einem generativen sive Diskussionen und Verhandlungen zwischen zukünftigen Parameter für die räumliche Realisierung eines architektonischen Kunden auslöst. Das findet in einer Echtzeitumgebung mit inte- Konzepts. Die innerhalbdes Projektes geschaffenen Grenzen defigrierten spekulativen Marktstrategien (‚Börsenmodell‘) statt. nieren weniger die Differenzierung zwischen Öffentlichem und Das Projekt untersucht, wie sich entwickelnde soziale Systeme Privatem, sondern die stufenweise ansteigende Intimität, die mehund häusliche Organisationsformen heutzutage die städtische rere Bereiche unddamit vielfältige Arten des sozialen Austausches Wohnarchitektur beeinflussen. Diese Forschung zum ‚superge- schafft. Es geht nicht nur um Trennung und Privatsphäre, sonwöhnlichen‘ Thema Wohnen wird in einem Entwurfsprojekt dern auch um mögliche performative Effekte bei der Interaktion über die individualisierte Massenfertigung einer Nachbar- zwischen Raumbegrenzung und Bewohner. schaft mit einer ehrgeizigen sozialen Agenda entwickelt. Die Arbeit simuliert einen parametergesteuerten Entwurfsprozess i. forschungsprozes mit Beteiligung der Nutzer, wobei die künftigen Bewohner über eine Webseite an der physischen und sozialen Organisa- Die Studie begann mit der gleichzeitigen Fokussierung auf zwei tion der Nachbarschaft teilhaben und über den Entwurf ihrer autonome Systeme – das territorialisierende System und das ergoWohnungen mitbestimmen. Sie wählen Aktivitäten aus, wel- nomische System – als Grundlage für die Analyse der ‚Unité che die Wohnung über digitale morphogenetische Verfahren d’habitation‘ von Le Corbusier. Parallel dazu gab eine getrennte erzeugen. Sämtliche Aktivitäten laufen in einem Börsenmodell Forschung zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit ab: Vor dem Kauf verhandeln die Kunden über das Internet mit Aufschluss über den Aufbau sozialer Szenarien. Die faszinierende ihren Nachbarn über den gemeinsam genutzten Raum. Dieses Instabilität sozialer Beziehungen löste eine Studie zu reaktiven Modell integriert die Grundsätze der gleichzeitigen Reaktion Umgebungen aus, um räumliche Strategien zu ermöglichen. In und Ansprechbarkeit, und es beruht auf Verhandlungen in einer ‚negotiate my boundary!‘ werden neue Grenzsysteme erzeugt, die Echtzeitumgebung mit integrierten spekulativen Marktstrate- soziale und räumliche Dynamik aufzeichnen und hervorrufen. gien. Das Internet mit seinem interaktiven Potenzial wird als ein Das Genotyp-System (abgeleitet vom territorialisierenden System) Instrument der architektonischen Planung verwendet – strate- und das Aktivitäts-Komponenten-System (abgeleitet vom ergogisch, räumlich und sozial. Es wird als Medium für eine erneu- nomischen System) interagieren miteinander auf eine Art und erte Idee von der Gemeinschaft und als Werkzeug verwendet, Weise, welche das Entstehen einer bestimmten räumlichen Organicht nur, um soziale Spielformen zu realisieren und zu ermög- nisation, des sogenannten Hyper-Verbundenen-Systems, ermöglichen, sondern hauptsächlich, um neue soziale Interaktionen zu licht. Dieses System erlaubt die individualisierte Massenfertigung stimulieren. Das Internet „setzt die Hemmschwelle der persön- (‚mass-customisation‘) der Wohnungen durch potenzielle Benutlichen Kommunikation zwischen Benutzern erheblich herunter zer im Internet, bevor diese auf einem ausgewählten Grundstück und berücksichtigt die Entwicklung eines bestimmten Grads tatsächlich realisiert werden. der Selbstauswahl und gemeinschaftlichen Selbstorganisation in einem sicheren und unverbindlichen virtuellen Bereich. Dies 1. Territorialisierendes System >> Genotyp-System ist auch der Bereich, in dem ein von Grund auf interaktiver Ent- Die ‚Unité d‘habitation‘ wurde analysiert, um ihr System einwurfsprozess schließlich plausibel wird. Eben diese ‚Entwurfs- heitlicher Wohnungstypen und deren kombinatorische Muster prozesse‘ der Auswahl, Aussprache und Verhandlung werden zur herauszustellen. Die einförmige Struktur der Fassade lässt das Schubkraft für den Aufbau sozialer Beziehungen, die zu neuen hohe Niveau der inneren Komplexität des Gebäudes, die wieGemeinschaftsformen führen könnten.“ 1) derum aus einer Reihe relativ einfacher Wohnungstypen und D&A FRÜHJAHR 2006 0 AUSGABE 02 41 Ergonomic system > Activity-tile system Linkss Projektübersicht zu negotiate my boundary!. ! Kern des Projekts sind ein ergonomisches Subsystem – die Aktivitäts-Komponenten – und ein räumliches Subsystem – die Genotypen. Beide zusammen ergänzen sich zur Gesamtform der Wohnung, die im Internet mit den Mitbewohnern und Nachbarn ausgehandelt wird. Territorialising system > Genotype system B A Virtual envelope Negotiation space Customising spatial envelope > Possible actualisation Lofting technique (A – B) Spatial organisation = Hyperattached system deren Kombinationen abgeleitet ist, nicht erkennen. Da das Prinzip ineinander verschachtelter Paare von Wohneinheiten ein Hauptmerkmal des Systems ist, führte die Untersuchung zu einem Genotyp-System, das sich auf die paarweise Verhandlung zwischen benachbarten Wohnungen und das Testen des Potenzials ihrer Zwischenräume (Verhandlungsräume) konzentriert. Es legt die Grundsätze der Geometrie, Struktur, Zirkulation und Kombination (Durchdringung) von Wohnungen fest. 2. Ergonomisches System >> Aktivitäts-Komponenten-System Die Forschung zum ergonomischen System konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Tätigkeiten und Ergonomie – eine Schnittstelle zwischen dem menschlichen Körper und seiner häuslichen Umgebung. Ergonomische Positionen des menschlichen Körpers undfestgelegte Tätigkeiten erzeugen ein Aktivitäts-Komponenten-System, das die typische Aufteilung von Wohnraum zwischen Fußboden und Decke durch kontinuierliche Variantenbildung herausfordert und die innere Wahrnehmung einer Wohneinheit moduliert. 3. Reaktive Umgebungen >> Grenzen Eine reaktive Umgebung ist im Stande, auf Reize zu reagieren, die als Input für ihre Funktion, Anordnung oder ihr Erscheinungsbild dienen. Letztere beruhen wiederum auf den Tätigkeiten und Entscheidungen der einzelnen Nutzer. Damit ein solches System als wahrhaft reaktiv betrachtet werden kann, muss es im Stande sein, eingehende Informationen zu verarbeiten und sich an eine Bedingung anzupassen, die von einem Anfangszustand (einschließlich der Organisation, Einordnung oder Installation eingebauter Elemente) abweicht. Dies kann heute durch Softwaresysteme gesteuert werden, deren Konfiguration auf Informationen beruht, die aufgrund menschlicher Verhaltens- und Gebrauchsmuster innerhalbdieser Installationen gesammelt werden. Folglichbestehen solche Umgebungen aus architektonischen Elementen, die mehr tun als sich nur zu ‚bewegen‘. Um die räumlichen Schwellen und Sichtverbindungen zwischen Wohnungen neu zu erarbeiten, wurden im Rahmen des Projekts verschiedene reaktive Systeme entwickelt. Sie beeinflussen die Setzung und das Verhalten der Grenzen in sozialer wie in physischer Hinsicht. Das Projekt lässt eine reaktive Umgebung entstehen, in der das Verhalten der Bewohner andauernder Bewer- 42 tung unterliegen kann. In dieser Umgebung ‚atmet‘ die Wohnung mit dem Bewohner und lernt seine Gewohnheiten. Reaktive Umgebungen funktionieren auf zweierlei Ebenen: Einerseits sind sie materielle Konstrukte, die gesehen, berührt und angepasst werden können (das heißt, sie besitzen eine physische Präsenz). Andererseits bestehen sie auch aus unsichtbaren Netzwerken mit Steuerprogrammen, die sich an programmierbaren Leistungskriterien orientieren. Diese bestimmen in letzter Instanz, wie diese Anordnungen auf spezifische Bedürfnisse und vordefinierte Ereignisse reagieren. 4. Soziale Szenarien>> Nachbarschaft Die anfängliche Erforschung gesellschaftlicher Wirklichkeit innerhalb des häuslichen Bereichs wurde zur Grundlage für die Simulation sozialer Szenarien, aus denen sich wiederum die Organisationsdiagramme für die Entwicklung der vorgeschlagenen reaktiven Nachbarschaft generieren. Dabei bilden die Diagramme die Grundlage für den endgültigen Entwurf, während sie gleichzeitig die für ihn relevanten Vorgänge beschreiben. Der Aufbau dieser sozialen Szenarien geht von einer abstrakten Matrix möglicher Mitglieder aus, die ihre Beziehungen zu anderen Mitgliedern (Verbindungen – vertraut, verwandtschaftlich, irgendwie) und Grenzen ([nicht] öffentlich, [nicht] autonom) und Interaktionen mit anderen Mitgliedern beschreibt. Diese Beschreibung reicht bis hin zu sehr spezifischen sozialen Drehbüchern, die auf echten Lebensgeschichten beruhen, was äußerst individuallisierte Wohnungen ermöglicht. Raumorganisation = Hyper-Verbundenes System Die Genotypen mit ihrer festgelegten Geometrie und den möglichen Formveränderungen bilden die virtuelle räumliche Hülle, während die Arten ihrer Gruppierung und Durchdringung den Verhandlungsraum (Zwischenraum zwischen zwei Genotypen) festlegen. Diese virtuelle Hülle ist eine allgemeine, undifferenzierte räumliche Einheit, die später durch den Prozess der individualisierten Massenfertigung ausformuliert wird. ii. soziale tagesordnung Die potenzielle Gemeinschaft wird zunächst über die webbasierte Software als virtuelle Einheit gebildet und dann vor Ort verwirk- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Oben Auszug aus dem Katalog möglicher Aktivitäts-Komponenten. Von links nach rechts: Verbindung zwischen zwei Räumen, Baustein ‚Schlafplatz‘ und Baustein ‚Badewanne‘. Ganz unten Abhängig davon, welche Präferenzen die Bewohner hinsichtlich Zugang zum Freibereich, natürlicher Belichtung und Aussicht die Bewohner haben, wird die Struktur des Quartiers ausfallen: ein Teppich aus Patiohäusern (oben), eine Reihenhaussiedlung (Mitte) oder ein Wohnhochhaus (unten). Mitte Statistische Verteilung der Haushaltsgrößen in Großbritannien (1995-1996) Type of household (UK 1995 – 96) Single under pensionable age 13% Single overpensionable age 15% Married couple 29% Married couple with 1 child 9% Married couple with 2 children 10% Married couple with 3 or more children 4% Married couple with nondependent children 6% Single parent with dependent children 7% Single parent with nondependent children 3% Two or more unrelated adults 3% Carpet Middle-rise 28% Singles 74% 10% Single parents High-rise licht. Das Projekt ist ein ‚Gesellschaftsexperiment‘, das auf die vorhandenen sozialen Tendenzen antwortet und diese verstärkt, damit nicht nur die wesentlichen Bedürfnisse nach Häuslichkeit und Privatsphäre erfüllt werden, sondern auch neue gesellschaftliche Interaktionen zwischen zukünftigen Mitgliedern der Gemeinschaft gefördert werden. Es schlägt neue Beziehungen zwischen einzelnen Haushalten, die Überschneidung von Grenzen und ihre kontrollierte Durchlässigkeit vor. Räume werden geteilt und vermietet und Grenzen werden geöffnet, um sie für jeden zugänglich zu machen ... Die Grenzen legen keine öffentlich-privaten Dichotomien fest, sondern verschiedene Ebenen der Intimität und damit verschiedene Arten des Austausches. Das Konzept stellt die übliche Definition einer Wohnung als komplett ausgestattete Einheit2) durch ein ‚Ausschlussprinzip‘ (z. B. ohne Versorgungseinrichtungen > eine Wohnung ohne Küche) und durch ein ‚Einschlussprinzip‘ (z. B. einschließlich öffentlicher Extras > eine Wohnung mit einem Heimkino) in Frage. Dieser Prozess führt zu einem durchstrukturierten System von Abhängigkeiten zwischen Haushalten und einer völligen Integration des öffentlichen Raums in den privaten Bereich. Das Ergebnis ist ein Netz öffentlicher Unterhaltungsangebote im Kleinformat, die in den privaten Bereich integriert sind (z. B. Kleinkino, Restaurant mit hausgemachten Gerichten etc.) oder durchdie Vermietung eines Teils der Wohnung (Sauna, großzügiges Esszimmer, Profiküche etc.) integriert werden. Aktuelle gesellschaftliche Tendenzen deuten darauf hin, dass Haushalte in Zukunft kleiner sein werden als jemals zuvor. Eine ‚Familie‘ im herkömmlichen Sinne wird sich an neue gesellschaftliche Strukturen anpassen. Es kommt zu einem Anstieg von alleinerziehenden Eltern und Single-Haushalten oder Paaren im Ruhestand. Durch den intensiven Einschluss von gemeinsamen Haushalten3) entsteht eine bunte Tätigkeitsgemeinschaft an Stelle städtischer Enklaven (Geburtshäuser, Altersruhesitze etc.) mit zwangsläufig diskriminierendem Beigeschmack. Es gibt somit keine gesellschaftlichen Randerscheinungen, sondern es entsteht ein neues Potenzial für menschliches Miteinander: Verschiedene Lebensstile und Zeitpläne geben Gelegenheit zur gegenseitigen Hilfe; Mitglieder führen untereinander Dienstleistungen aus und/ oder erfüllen gesellschaftliche Pflichten (z. B. Kinderfürsorge). 43 iii. individualisierte massenfertigung Einzigartige Lebensstile erfordern äußerst spezifische, maßgeschneiderte Wohneinheiten. Heute passt sich Massenproduktion an neue Marktanforderungen durch individualisierte Massenfertigung an. Universelle, standardisierte Produkte weichen persönlichen, kundengerecht angefertigten Gütern. Sie basieren auf Verfahren zur Massenfertigung, die das Endprodukt an Kundenwünsche und -vorlieben anpasst. Dank computergestützter Produktionsverfahren sind individualisierte Waren kein Luxus mehr, sondern ein natürlicher Bestandteil wirtschaftlich tragbarer großer Serienproduktionen. Individualisierte Produkte finden breiten Absatz und sind für jeden erschwinglich. Für ihren Verkauf per Internet existieren bereits zahlreiche Beispiele, von Autos und Kleidern bis hin zu Schuhen und Mobiltelefonen. Das Ausmaß der Anpassung durch den Nutzer variiert von Details (Aussehen, Farben oder Initialen auf Nike-Turnschuhen) bis hin zu wesentlichen Bestandteilen (Struktur – Auswahl an Hardware- und Softwarebestandteilen in einem Dell-Computer). Diese Modelle der individuellen Massenfertigung dienen als Prototypen dafür, wie man Wohnungen heute entwerfen und kaufen könnte. In ‚negotiate my boundary!‘ wurde eine Online-Benutzeroberfläche entwickelt, die den Anpassungsprozess erleichtert. Hier können Kunden ihre zukünftige Nachbarschaft zusammenstellen und ihre Wohnungen räumlich und nutzungsgerecht anpassen und kaufen. In einer Simulation des Onlinekaufs von individuellen Wohnungen wurden der Vorgang der Informationssammlung und das kollektive Aushandeln, das den Entwurf moduliert und verfeinert, zunächst getestet. Diese Simulation wurde erstellt, um den Doppelprozess des ‚Zusammenwohnens‘ und der Erstellung der Wohneinheiten sowie die Techniken zu erklären, mit denen man zu Entwürfen gelangt, die ebenso individuell sind wie die Präferenzen und ‚ausgehandelten‘ Anforderungen jedes einzelnen Bewohners. Es ist ein parametrischer Entwurfsprozess, der die individuelle Massenfertigung auf einem städtischen kollektiven Wohnmaßstab untersucht. Da die vorgeschlagenen Unterkunftseinheiten keine Vorstadtvillen (z. B. freistehende Objekte wie die Villa Savoye von Le Corbusier) ohne physische Nähe zu ihren Nachbarn sind, entstehen notwendigerweise wechselseitige Auswirkungen, wobei die Anpassung einer Einheit die andere beeinflusst. Der Anpassungsprozess registriert selektive Vorlieben der Nutzer und wägt Einschränkungen im Entwurf gegeneinander ab. Er ist in drei unterschiedliche Levels gegliedert, wobei jeder nächste Level den Individualisierungsgrad der Wohnumgebung verfeinert: die parametrische Nachbarschaft betrachtet die Gruppierung und Anordnung der Wohneinheiten auf städtebaulicher Ebene; die Anpassung der räumlichen Hülle schließt Verfahren ein, mit denen die Nutzer ihre eigenen Wohnungen anpassen; und die Anpassung der Grenzen legt die interaktiven Systeme reaktiver Grenzflächen fest. In diesem letzten Schritt wählen die Kunden die Form und Funktion der Grenzen ihrer Wohnungseinheiten aus. 44 Ebene 1 >> Parametrische Nachbarschaft Die ‚Reaktionsfähigkeit‘ des Entwurfs auf der städtebaulichen Ebene unterliegt den Parametern, die Kunden und Planer festlegen. Durch die Anmeldung auf einer Webseite wird der Kunde offizielles Mitglied des Clubs; ein Mitglied der Gemeinde und zugleich ihr Mitbegründer. Die Kunden legen die ersten Rahmenbedingungen für die parametrische Nachbarschaft fest, indem sie einen Onlinefragebogen ausfüllen, auf dem sie den Grad der Verbindung zu angrenzenden Nachbarn, ihre Beziehung zu offenen Räumen, den Einschluss öffentlicher Programme und eine Reihe von Tätigkeiten in der Wohnung usw. angeben. Parallel zu den räumlichen Vorlieben entwickeln sie ihr soziales Drehbuch – sie stellen Verbindungen zwischen zukünftigen Mitgliedern einer Gemeinschaft her und legen die Art ihrer Haushaltsgrenzen fest, indem sie entweder autonom oder nicht autonom sind und öffentlich oder nicht öffentlich leben. Ihre Auswahl wird gespeichert und für die Anordnung der Wohnungen in ihrem urbanen Umfeld verwendet. Es entsteht eine nicht hierarchische, schwammartige Raumorganisation. Die Aufgabe der Planer ist es, den allgemeinen Rahmen der Wohneinheiten zu definieren, der den anfänglichen Einschränkungen eines Hyper-Verbundenen-Systems (Geometrie, Prinzipien der Kombination und Verschmelzung von Einheiten) unterliegt, und Parameter festzulegen, die eine zusammenhängende Entwicklung der Wohngruppe, einschließlich der Versorgung mit Tageslicht, der Erschließung, der Tragstruktur und der Einflüsse durch den urbanen Kontext, gewährleisten. Die Entscheidungen jeder Partei werden in einem virtuellen räumlichen Hülle mit genau festgelegten Verhandlungsräumen abgebildet, die als Grundlage für die weitere Anpassung und Entwurfsdefinition dient. Ebene 2 > Anpassung der räumlichen Hülle Dieser Prozess der räumlichen sowie sozialen Verhandlung lässt unterschiedliche – auch unerwartete – konkrete Ausformungen der virtuellen räumlichen Hülle zu, die auf den Verhandlungen zwischen verschiedenen Parteien bezüglich der Position, der Form und der Leistung des Raums basieren. Ein Kunde wird eingeladen, mit seinen Nachbarn über den Verhandlungsraum zu verhandeln, indem er bevorzugte Tätigkeiten und ihre Funktionen auswählt, welche in entsprechenden baulichen Abschnitten verkörpert werden. Ein Lofting-Prozess4) verbindet die gewählten Abschnitte und erstellt räumlich einzigartige Wohnungen, die durch Benutzereingaben und den automatischen Verbindungsprozessen angepasst werden. Dies alles findet in einem ‚Börsenmodell‘ statt. Ebene3 > Anpassung der Grenzen Die letzte Ebene der Anpassung konzentriert sich auf die Begrenzungssysteme, welche die Form der interaktiven sozialen Umgebung des Projektes direkt beeinflussen. Dem Kunden werden verschiedene reaktive Systeme vorgeschlagen, aus denen er das Muster, die Gestalt und spezifische kinetische Funktionen der Grenzflächen auswählt, welche die Beziehung zum Innenraum der Wohnung, zum Außenraum und zu allen Nachbarn beein- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 flussen. Zwei dieser interaktiven Systeme (ein System von drehbaren Lamellen sowie ein System tragender Drähte) beruhen auf der mechanischen, durch die Software definierten Funktion der Elemente. Mit ihrer Hilfe lässt sich die physische und visuelle Verbindung der Räume untereinander beeinflussen und damit die soziale und physische Funktion der Grenzen kontrollieren und ein stets variabler sozialer Raum erzeugen. fazit Die städtische Wohnarchitektur mit verhandelbaren Grenzen ist ein Produkt der heutigen komplizierten gesellschaftlichen Situationen und Wechselwirkungen. Sie gleicht dem Leben bei Big Brother, indem Sie als Bewohner exponiert sind (solange Ihre Persönlichkeit dies erlaubt), und Ihre Nachbarn und die breite Öffentlichkeit Anteil an Ihren Möglichkeiten und Ihrem Lebensstil haben. Wenn Sie nicht öffentlich leben möchten, können Sie sich zurückziehen und völlig isoliert bleiben: Ihr Haus wird zu einem Kokon. Auf jeden Fall wird es zu einer reaktiven Umgebung, wo Ihr Verhalten ständig bewertet und mit Hilfe architektonisch programmierter Elemente angepasst werden kann. Ihr häuslicher Bereichlebt und atmet mit Ihnen,lernt von Ihnen und reagiert auf Ihre Gewohnheiten – solange Sie dies wollen. Der Vorschlag stellt nur Strategien, Parameter und Regeln auf. Deshalb wird nie ein einziges, endgültiges Ergebnis in einem System erreicht; stattdessen wird die fortlaufende Entwicklung des Projektes durch das Sammeln, Anzeigen und Verhandeln von Informationen online festgehalten. Abhängig vom gesellschaftlichen Input, Verhandlungsbedingungen undden Besonderheiten des Ortes gibt es viele mögliche Realisierungsformen. Die Simulation von Szenarien des Zusammenlebens durch potenzielle Kunden hat zu einer möglichen architektonischen Ausdrucksform geführt, die das Ergebnis eines ‚parametrischen Entwurfsprozesses‘ darstellt. Das Projekt wird zu einer fortlaufenden Lebensspiel-Simulation mit schwankenden Vorlieben, Einschränkungen und Vereinbarungen. Plans and sections 1:200 negotiate my boundary! - Verhandle meine Grenzen! ist das Projekt einer Master-Arbeit, die am Design Research Lab (AADRL) von fünf Absolventen der Architectural Association School of Architecture (AA) in London entwickelt wurde. negotiate my boundary! ist auch ein Buch, das kürzlich bei AA-Publications London veröffentlicht wurde. Ganz oben Im letzten Planungsschritt werden die Fassaden individuell angepasst. Durch ein System vertikaler Lamellen kann der Nutzer festlegen, welche Bereiche seiner Wohnung sich nach draußen öffnen sollen und für welche er mehr Intimität wünscht. Mitte So könnten die fertigen Wohnungen bei negotiate my boundary!! aussehen – oder auch ganz anders. Sobald die Verhandlungen abgeschlossen sind, generiert das Programm ‚cluster:blaster‘ automatisch die Werkpläne aus den gesammelten Daten. 1 Patrik Schumacher, Autopoiesis of a residential community, in: B. Steele, (Hrsg.), RAMTV, Negotiate my boundary!! (London: AA Publications, 2002), S.14. 2 Definition von ‚Wohnung‘ (UK, 1991): Eine Wohnung ist eine in sich abgeschlossene Einheit, die über Zimmer, Bad oder Dusche, WC und Küche verfügt. 3 Ein ‚gemeinsamer Haushalt‘ umfasst mindestens zwei Grenzen (kleinere Haushalte innerhalb einer größeren Haushaltsanordnung – Verknüpfung kleinerer Haushalte [Alleinerziehende, Single, Rentner] mit größeren Kollektivhaushalten.) 4 ‚Lofting‘ ist ein automatisierter Prozess, bei dem unterschiedliche zweidimensionale Schnittsegmente zu einem 3D-Körper verschmolzen werden. Diese Technik steht in vielen herkömmlichen 3D-Programmen zur Verfügung. 45 43°19 05 N, 11°19 51 E 05.2002 LA TERRA SEN D’ALBERI, LA TER ROMPE SOTTO MAREGGIA E INCRESTA IN È UN LUOGO NON SENSO, UNA PL CHE LASCIA TRAN PERÒ NON LI NON OPERA CO MA COM Vorhergehende Doppelseite S. Quirico D’Orcia, Siena Foto: Andrea Rontini www.andrearontini.it ZA DOLCEZZA RRA ARIDA CHE O SIENA IL SUO ARE MORTO LONTANANZA N POSSEDUTO DAL LAGA DIVERSA NSITARE I PENSIERI I TRATTIENE, OME RICORDO, ME ANSIA. Mario Luzi: „Tracce o inganni – Al fuoco della controversia“ aus: Mario Luzi, „Tutte le poesie“ Diese Landschaft ohne den Zauber von Bäumen, dieser unfruchtbare Boden, der unterhalb von Siena sein lebloses Wogen unterbricht und in der Ferne dahinwogt, ist ein dem Verstand verborgener Ort, ein ungewöhnlicher Erdstrich, welcher den Gedanken freien Zutritt gewährt, sie jedoch nicht festhält, der nicht Erinnerung, sondern Sehnsucht hervorruft. TAGESLICHT IM DETAIL Genauer hingesehen: Wie Tageslicht in Gebäude gelangt OPEN SOURCE BUILDING FOTO: KENT LARSON Links Spontane Individualisierung von Massenwohnblocks in Taipei. Text von Kent Larson. Die individuelle Gestaltung des Wohnraums geht heute weit über die bloße Wahl der Einrichtung hinaus. Moderne Schnittstellen zwischen Bauherr, Architekt und Hersteller machen den Kunden selbst zum Architekten seines ganz persönlichen Wohnumfelds. Im folgenden Beitrag beschreibt Kent Larson vom MIT in Cambridge, USA, neue Wege der ‚mass customization‘ im Wohnungsbau. Die Massenwohnblocks von Taipei werden, so wie sie von bedienung an, und Sie werden damit Erfolg haben. Sie wollen ihren Architekten konzipiert wurden, als düster und monoton Informationen – und je mehr Quellen zur Verfügung stehen, wahrgenommen. Diese banalen Gebäude bilden jedoch die desto besser; denn sie fürchten sich nicht vor Entscheidungen Kulisse für außergewöhnlich kreative Gestaltungsaktivitäten. – aber: sie verlangen ihr eigenes Tempo und ihre eigenen VorSpontan und vermutlich illegal werden Fenster zu Erkern umge- stellungen.“ baut, Brücken angebracht und Balkone mit einer schier unendDie heute vorhandene Prozess- und Kostenstruktur im Wohlichen Fülle an Formen, Materialien und Systemen verkleidet. nungsbau macht es jedoch fast unmöglich, sich beim Entwerfen Einige zeugen von einer akribischer Liebe zum Detail, während den individuellen Problemen einzelner Bewohner zu widmen. andere eher Todesfallen ähneln. Als Ganzes bringen sie jedoch Architekten konzentrieren sich in der Regel auf die Planung den starken Wunsch des Einzelnen nach der Gestaltung eines und das äußere Erscheinungsbild, was zur Standardisierung von Wohnräumen führt. Doch die Idee der individuellen architektoeinzigartigen Wohnraums in der großen Stadt ans Licht. Während dieser Wunsch an den Fassaden amerikanischer nischen Anpassung ist nicht neu: Mies van der Rohe sagte bereits und europäischer Gebäude meist keinen Ausdruck findet, wird 1927, dass seiner Ansicht nach „alle begründeten Wohnansprüer doch in den Hunderten von Büchern, Zeitschriften und TV- che erfüllt werden könnten, wenn lediglich die Küche und das Sendungen aufgegriffen, die sich dem Thema „Wohnraumge- Bad als standardisierte Räume festgelegt würden und der übrige staltung“ widmen. Firmen wie Ikea, Home Depot und Lowes Wohnbereich aus beweglichen Wänden bestünde“. Walter Groprofitieren in großem Umfang von dieser Do-it-yourself-Men- pius, Gründer des Bauhauses, schrieb 1910, dass industrialisierte talität. Die Wohnungsbaubranche jedoch hat noch keine prak- Bauprozesse den „Wunsch der Öffentlichkeit nach Individualitikable Strategie für eine sinnvolle individuelle Anpassung an tät erfüllen und dem Kunden das Vergnügen der eigenen Entdie Wünsche der Kunden gefunden. scheidung bieten könnten“. Heute geht das Bedürfnis nach Individualisierung weit über Unterdessen stellen andere Branchen bereits ihre Produkte und Prozesse um und reagieren so auf die individualisierte Nach- die Erfüllung dieses Wunsches hinaus. Das Zuhause wird immer frage des Marktes. Auf den Websites von Autoherstellern kön- mehr zu einem Zentrum für aktive Gesundheitsvorsorge, dezennen die potenziellen Käufer das Fahrzeug ganz nach ihrer Wahl trale Energieerzeugung, Arbeit, Handel, Unterhaltung und Lermit Extras versehen und so selbst den Preis bestimmen. Dell nen. Die Wohnung der Zukunft wird von allen Gebäudearten wurde mit der Herstellung maßgeschneiderter Computer für wahrscheinlich die komplexeste Kombination von Nutzungen Privatpersonen zum erfolgreichsten PC-Hersteller. Die New besitzen. Zukünftigen gesellschaftlichen Problemen, seien sie York Times bietet Nutzern ihres Online-Angebots die Mög- nun demografisch oder energetisch begründet, muss durch die lichkeit, sich benutzerdefiniert mit Nachrichten zu versorgen; Entwicklung neuer Modelle aus kosteneffektiver Anpassung von und bei Bekleidungs- und Schuhherstellern können Sie Ihren Form, Technologie und Dienstleistung entgegengewirkt werden, Körpern scannen lassen, um auf Sie zugeschnittene Produkte die den Werten des Einzelnen gerecht werden. zu erwerben. Viele der Firmen sind im Grunde Generalunternehmer, die open source building in einem strategischen Netzwerk mit Partnern und Lieferanten Wir sind der Überzeugung, dass es möglich ist, die Qualität, operieren, um so große Mengen eines personalisierten Produkts die Zufriedenheit, die Kosteneffizienz und den Formenreichanzubieten zu können. Bei einer Konferenz des amerikanischen tum im Wohnungsbau zu steigern, indem wir die Werkzeuge Bauherrenverbandes „National Association of Home Builders” unserer Zeit nutzen: den kostengünstigen Einsatz von Compuim Jahr 2002 sagte William Novelli, Direktor der amerika- tern, leistungsfähige Algorithmen, nahezu kostenlos erhältliche nischen Pensionärsvereinigung AARP, über die so genannten Elektronik, das Internet, leistungsstarke Materialien sowie neue Baby Boomer und das Wohnungswesen: „Sie lieben die Aus- Entwurfs-, Herstellungs- und Versorgungstechnologien. Wir wahl: Bieten Sie ihnen einfach eine bunte Mischung mit Selbst- schlagen ein neues Modell für den Entwurf und das Bauen vor, D&A SPRING 2006 ISSUE 02 51 FOTOS: KENT LARSON RENDERING. LARSON 2003, MODELL: MCLEISH 2003 das so genannte „Open Source Building“. Diesem Modell lie- leicht zugänglichen Anschlüssen an das Gebäudechassis. Diese gen sechs Konzepte zu Grunde: Komponenten beherbergen Sensor-, Kommunikationsmedien-, Generalunternehmer arbeiten mit Entwicklern zusammen, Beleuchtungs- und Steuersysteme. um Einzelpersonen maßgeschneiderte Markenlösungen anbieten zu können, umstrukturierung des entwurfsprozesses Gebäude bestehen aus unterschiedlichen Ebenen integrierter für eine anpassungsfähige wohnarchitektur Die Anpassung von Eigenheimen stellt eine deutlich größere Montagemodule, Hersteller verständigen sich Schnittstellennormen und wer- Herausforderung dar als die Anpassung von Einzelprodukten, den die Direktlieferanten für die Komponenten, da die Benutzer des Systems ein deutlich größeres Spektrum an Bauunternehmer werden zu Monteuren, Altersgruppen, Interessen, Kenntnissen und kognitiven Fähig Architekten entwickeln Designmodule, mit denen effizient keiten abdecken. Das daraus resultierende Eigenheim ist eine tausende einzelne Wohnwelten geschaffen werden können, Mischung aus einer Vielzahl von Produkten, teilweise in Standar Kunden (Hauskäufer) werden zu „Innovatoren“. Sie stehen im dausführung und teilweise individuell angepasst, im komplexen Zentrum des gesamten Prozesses, indem sie zum Zeitpunkt Umfeld architektonischer Form, Beleuchtung und Materialien. jeder Entscheidung personalisierte Informationen über den Da ein einzelner Entwerfer bei einem großen Wohnungsbauprojekt nicht mit jedem Bewohner eng zusammenarbeiten kann, Entwurf, die Produkte und die Dienstleistungen erhalten. In diesem Kapitel fassen wir die Arbeit des MIT-ForschungsproT wird eine Designschnittstelle benötigt, die den einzelnen „Amajekts House_n n zusammen, bei dem ausgewählte Design-, Ent- teurdesignern“ die Möglichkeit gibt, gut informiert Entscheischeidungsfindungs- und Bausysteme entwickelt und getestet dungen zu treffen, ohne vom Prozess selbst überfordert zu werden. werden, um dieses neue Modell zu unterstützen. Dazu gehört mehr, als eine bloße Auswahl anzubieten, denn, wie Joe Pine schreibt: „Kunden wollen nicht die Wahl haben. Sie chassis und integrierte ausfachung (i) wollen, was sie wollen (und meistens sofort).“ Das vielfach publizierte HyWire-Konzeptfahrzeug von GM Ein guter Entwerfer ist in der Lage, viele Variablen gleichzeitig besteht aus einem Standardchassis, wie es bei nahezu allen im Spiel zu halten, bis eine ganzheitliche Lösung gefunden wurde Fahrzeugen der Produktreihe verwendet wird, und einer stark – er löst also gleichzeitig viele Probleme, sowohl auf formeller als individualisierten „Füllung“ (Karosserieteile, Innenausstattung, auch auf funktionaler Ebene. In unserem Entwurfsmodell entElektronik usw.), die häufig von Direktlieferanten bereitges- wickeln Experten Systeme, mit denen die Entwurfskenntnisse tellt wird. Auch PCs werden nach einem ähnlichen Prinzip und Werte der späteren Bewohner erfasst werden. Die Experten hergestellt. Für Design und Bau von Gebäuden findet sich sind daran gewöhnt, Amateurdesigner bei komplexen Designjedoch kein vergleichbarer Ansatz. Die MIT-Gruppe House_n und Entscheidungsfindungsfragen zu unterstützen, ohne dass hat anhand von Prototypen untersucht, wie sich Gebäude in diese selbst wie Experten denken müssen. Dieser Ansatz für die „Chassis“ (die standardisierte Struktur, Stromversorgung, Daten- Entscheidungsfindung für Amateurdesigner basiert auf vier inteund Rohrsystem eines Gebäudes) und „Ausfachung“ (Innenaus- grierten Komponenten: stattung, die zum Zeitpunkt des Verkaufs vom Käufer angepasst wird und sich standardmäßig mit dem Chassis verbinden lässt) präferenzmodul gliedern lassen. Eine Variante der Chassis-i3-Strategie wurde Mit einem Präferenzmodul nehmen Personen an einer Reihe von zum Bau einer Forschungsumgebung in Wohnungsgröße ver- Übungen oder Spielen teil, um Bedürfnisse, Vorlieben, Werte wendet, um die Interaktion von Menschen mit neuen Tech- und annehmbare Kompromisse zu ermitteln – dies könnte als nologien zu untersuchen. Das PlaceLab, eine Initiative von architektonisches Programm bezeichnet werden. Mithilfe des MIT House_n n und TIAX LLC besteht hauptsächlich aus vor- Präferenzmoduls wird ein Benutzerprofil erstellt, das auch Angagefertigten, angepassten Innenausstattungskomponenten mit ben zu Familiengröße, Budget, ästhetischen Werten und Akti- 52 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Gegenüber (oben rechts) Innenaufnahme des PlaceLab mit i3-Ausstattung. Jede der 22 Innenausstattungskomponenten enthält einen Mikrokontroller, einen Sensorbus und eine Reihe von Sensoren für die Statusänderung und die Umgebung, außerdem Kommunikationsgeräte. Gegenüber (unten rechts) Innenaufnahme des PlaceLab zum Test der i3-Komponenten mit Sensoren und aufrufbarer Beleuchtungsinfrastruktur. Zu sehen sind aufklappbare, leicht zugängliche Kanäle für den Installationsbus. Für alle Schränke wurden dieselben integrierten Anschlüsse verwendet, um den Einbau zu vereinfachen und die Flexibilität zu steigern. Die Anlage ist mit mehreren Hundert modularen Sensoren ausgestattet. vitäten enthält. Um verschiedene Strategien zu entwickeln und zu testen, haben wir einen digitalen Tisch konstruiert, bei dem Bilder und Daten von unten auf eine beleuchtete Oberfläche projiziert werden. Mithilfe von Sensoren werden Gesten und optisch gekennzeichnete Maßstabsmodelle architektonischer Komponenten erkannt. designmodul Beim Designmodul handelt es sich um einen computergesteuerten Algorithmus, der aus den Daten des Präferenzmoduls einen Entwurf erstellt, den der „Designer“ (d. h. der zukünftige Eigenheimbesitzer) dann weiter entwickelt. Wir wünschen uns im Idealfall eine Vielzahl von Designmodulen, die jeweils die Arbeitsweise eines bestimmten Architekten wiedergeben. schnittstelle für den iterationsprozess Durchdie Verwendung einer von vielen möglichen Schnittstellen für den iterativen Entwurfsprozess können Kunden mit verschiedenen Designs experimentieren und eine komplexe Mischung aus Elementen auswerten. T. J. McLeish, Mitarbeiter von House_ n, hat einen Prototyp einer Designschnittstelle entwickelt, bei der dem Benutzer verschiedene Werkzeuge zum Verständnis des Designs und seiner Auswirkungen zur Verfügung stehen: • Konzeptansichten. Schematische Etagenpläne zeigen die Beziehung zwischen Räumen und Elementen. • Physische Objekte. Optisch gekennzeichnete, maßstabsgerechte physische Objekte, die auf dem Plan platziert werden. Diese Objekte ermöglichen die Bewegung architektonischer Elemente und Möbel zur Auswertung verschiedener Arrangements. • Wahrnehmungsansichten. Beim Verschieben der physischen Objekte wird eine rund 3 Meter hohe Projektion der Perspektive aktualisiert, die Form, Beleuchtung und Material zeigt. • Daten. Die verschiedenen Lösungen können im Hinblick auf Kosten, Leistungsfähigkeit, Strapazierfähigkeit usw. ausgewertet werden. Hierbei können die Herstellerdaten direkt berücksichtigt werden. computergesteuerte beurteilungssysteme Während des Entwurfsprozesses werden die meisten Amateurdesigner die Meinung eines Experten in Bezug auf bewährte Techniken, Bauvorschriften und Vollständigkeit des Designs Linkss Digitaler Tisch mit Grundriss, Informationsdisplay, physischen Komponenten und dem sich ständig aktualisierenden Entwurfs-Feedback. FOTO: KENT LARSON Gegenüber (ganz links) Maßstabsgerechtes Ansichtsmodell des Gebäudes. benötigen. Da bei Bauprojekten die direkte Interaktion zwischen einem erfahrenen Architekten und dem Kunden nicht immer gewährleistet ist, denken wir an ein System, bei dem Architekten Software-Plug-ins zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe Amateurdesigner Echtzeit-Feedback erhalten, während sie ihre Entwürfe bearbeiten. Während für Bauvorschriften auf gesetzliche Regelungen zurückgegriffen werden kann, ist für die Erfassung der eher subjektiven Werte eines Architekten vermutlich ein offenerer Ansatz erforderlich. Computergesteuerte Beurteilungssysteme können den Benutzer mit Feedback versorgen, während er nach und nach Änderungen am Design vornimmt. Nachdem der Entwurf feststeht, können Spezifikationen für Standardprodukte direkt an den Hersteller und Maschinendaten direkt an die Hersteller von Holzfertigteilen gesendet werden, beispielsweise für die Produktion angepasster Einzelstücke oder Massenwaren. standards Weithin verfügbare, stark individualisierte Wohnungen werden nur möglich, wenn die Entwerfer und die Baubranche gemeinsam Standards für den Anschluss von Gebäudekomponenten und -systemen erarbeiten. Dazu zählen genormte Schnittstellen für Stromversorgung, Daten- und Rohrleitungssysteme sowie mechanische Vorrichtungen, die in der Elektronikbranche üblich sind. Dieser Ansatz kann die Art und Weise verändern, in der Eigenheime in den nächsten 10 bis 15 Jahren gebaut werden. Außerdem kann er Unternehmen, die Materialien, Produkte und Dienstleistungen für diese Branche herstellen, neue Wege in diesen lukrativen Markt (300 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr) aufzeigen. Er könnte auch zur Erfindung des ultimativen angepassten Massenprodukts führen: stark personalisierte Wohnumgebungen, integriert in eine komplexe Struktur standardisierter und angepasster Einzel- und Massenprodukte. Kent Larson ist Forschungsleiter an der MIT School of Architecture and Planning in Cambridge, USA. Er ist Leiter der Forschungsgruppe ‘Changing Places’ sowie der ‘MIT Open Source Building Alliance’. Larson arbeitet seit 1981 als Architekt: in Zusammenarbeit mit Peter L. Gluck von 1981 bis 1995 in New York City und seit 1995 selbstständig als Kent Larson Architects, PC. Sein Büro wurde von der Zeitschrift ‚Architectural Digest‘ unter die 100 besten Planungsbüros für Wohnbauten gewählt. 53 Vorherige Doppelseite Dass der Komplex unterschiedliche Wohntypen umfasst, ist von außen nicht unbedingt ersichtlich. Die hier abgebildete nördliche ,Wohninsel‘ beherbergt vorwiegend zwei- bis dreigeschossige Einfamilien- und Reihenhäuser. Links Auf der dem Dorf zugewandten Südwestseite steigt der Komplex auf insgesamt fünf Geschosse an. Gegenüberr Geparkt wird entweder in der Tiefgarage oder zwischen den Wohneinheiten. Die Umfassungsmauer ist so konstruiert, dass Blicke in den Hof der Anlage möglich bleiben. Zevenhuizen ist eines der vielen kleinen Dörfer im nördlichen Rotterdamer Einzugsgebiet, rund 16 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und zwischen zwei Autobahnen im flachen Polderland gelegen. Etwa 10000 Einwohner zählt die Gemeinde ZevenhuizenMoerkapelle, Tendenz steigend. Ebenso die Anzahl der Rentner, Alleinstehenden und allein erziehenden Personen. Aber auch Familien, die den Großstadtlärm meiden, suchen hier die Ruhe der grünen Landschaft, eine Idylle inmitten von Grachten und Glashaus, Gewerbegebiet und Autobahn. Es wird momentan „stark am Wohnungsmarkt gearbeitet“, lässt die Gemeinde offiziell verlauten. Und: „Der Bedarf an qualitativ hochwertigen Eigenheimen wächst.“ Zwar kennt man guten Wohnungsbau von Utrecht, Rotterdam und Amsterdam, selten aber von einem kleinen Randstad-Dorf wie Zevenhuizen. Die jungen Rotterdamer Architekten Drost + van Veen stellten sich dieser Herausforderung. Rund11MillionenEuroinvestierte der Bauträger, die Woonpartners Midden Holland, in das zwei Hektar große Wohnprojekt SWANLA auf einem ehemals landwirtschaftlich genutzten Grundstück am 56 Rand des Dorfs – knappe Mittel, bedenkt man seine hehren Ambitionen, etwas „ganz anderes“ zu schaffen. Das Programm zielte vor allem darauf ab, sozial schwach gestellte Menschen und Bewohner mit höherem Einkommen unter ,ein Dach‘ zu bringen. Folgerichtig haben die Architekten ein Puzzlespiel aus Miet- und Eigentumswohnungen, Lofts, Einfamilienund Reihenhäuser entworfen. Die städtebauliche Form ist homogen undkompakt. Es drängt sichdas Bild einer Festung auf – eine starke Geste, die diverse Wohnformen in sich vereint. Der soziale Charakter des Projekts wird besonders deutlich, vergleicht man es mit den Bauten der Umgebung: Die Siedlungen, die in den vorangegangenen Jahren um das Grundstück entwickelt wurden, entsprechen den standardisierten Reihenhäusern der Wohnungsbaugesellschaften, wie sie in der holländischen Provinz nur zu häufig vorzufinden sind. Als Sieger eines eingeschränkten Wettbewerbs aus drei vorausgewählten Teilnehmern begannen Drost + van Veen im Jahr 2000 mit den Planungen, Anfang 2005 wurde der Wohnkomplex fertig gestellt. Es ist Dezember. Ich begleite die Architektin Evelien van Veen auf eine Besichtigung. Wir nähern uns SWANLA-Catsburg von Westen und überqueren eine schmale Fußgängerbrücke; das Grundstück wird von allen vier Seiten von Grachten begrenzt. Nur an zwei Stellen, der Ost- und West-Ecke, kann man auch mit dem Auto das bebaute Stück Land befahren. „Die Leute sollten nach Wunsch des Auftraggebers nicht vor dem Haus parken können. Dieser Ansatz war für ein kleines Dorf wie Zevenhuizen etwas absolut Neues,“ sagt Evelien van Veen. In der Tat: Autos sind trotz des ungewöhnlich weiten Straßenraums vor dem Gebäude nicht zu sehen, denn die meisten Anwohner parken den Wagen in der Tiefgarage des Komplexes oder neben ihrem Haus. Dafür zieht das geschuppte, fast bis aufden Boden gezogene dunkle Dach die Blicke auf sich. Unter ihm lugt eine Mauer in warmem Backsteinrot hervor. Großzügig geschwungene Ecken schließen die Fassade ab und lassen das Volumen der Anlage erahnen. Mit ihren fünf Geschossen, die die Mietwohnungen beherbergen, markiert sie den Eingang und nimmt gleichzeitig Bezug zu den gegen- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 58 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Swanla von innen: Fotos von Bert Teunissen www.bertteunissen.com 59 überliegenden Gebäuden. Wir gehen ein paar Schritte um die Ecke, die Hand fährt an der rauen Backsteinhaut entlang. „Alter Klinker“, so die Architektin, „wurde hier verwendet. Nur gutes Material.“ Trotz knapper finanzieller Ressourcen habe ihr Büro doch besonderes Augenmerk auf die Wahl der Baustoffe legen können. Backstein und Ziegel seien typischfür die Region, und traditionelle Bauformen, Materialien und Kontext spielten eine tragende Rolle in den Projekten von Drost + van Veen. Die kleinteiligen Dachziegel beispielsweise antworteten auf den dörflichen Maßstab. Die keramischen Schindeln besitzen einen leichten horizontalen Knick gen Himmel. Das reflektiert die Sonne, obschon sie zu dieser Jahreszeit selten ist. 48 Reihenhäuser und 41 Mietwohnungen mit einer Nutzfläche (BVO) von 11680 Quadratmeter umfasst der gesamte Wohnkomplex. Er besteht aus zwei rund 50 Meter breiten und 130 beziehungsweise 85 Meter langen ,Inseln‘. Auffallend ist ihre Anordnung: Nur die Endpunkte liegen auf der gleichen Achse, während sich der Blockrand leicht zur Mitte hin verengt. Die Großform bleibt erhalten und wird doch angenehm in 60 der Perspektive unterbrochen. Die Zweiteilung und das Versetzen der Straßen haben aber noch einen weiteren wichtigen Grund: Sie gehen auf die Struktur zurück, welche die benachbarten Häuserfluchten und die Sichtachsen in die offene Weidelandschaft vorgeben. Wir setzen unseren Weg entlang der Südostseite fort. Nach rund 50 Metern wird das Gebäude niedriger. Die dreigeschossigen Reihenhäuser beginnen, die Materialien bleiben. Die dunkle, wie eine Tarnkappe übergezogene Verkleidung begleitet als Band oder als Pultdach den durchgehenden und in der Ebene zurückgesetzten backsteinroten Sockel. Doch trotz der differenzierten Kubatur lässt sich kaum nachvollziehen, was Reihen-, Einfamilienhaus oder Maisonette-Wohnung ist. Wie schon bei den Mietseinheiten wechseln Glasfassaden an den Eingängen und geschlossene, anthrazitfarbene Garagentore einander ab. Die hölzernen Türen und Fensterrahmen sind im gleichen Grau gestrichen. Die Dachhaut, die sich jetzt fast in greifbarer Nähe befindet, bietet uns Schutz vor dem einsetzenden Regen. Eine schmale Parkbucht zwischen zwei Reihenhäusern mit Pultdach unterbricht nach ungefähr 20 Metern die Gebäudeflucht. Durch winzige Öffnungen in der Backsteinmauer erhaschen wir einen kurzen Blick in den Hof, auf Terrassen, Pflanzen und Remisen. Es hört auf zu nieseln, als wir zwischen den beiden ,Inseln‘ ankommen. Der Kinderspielplatz in der Mitte des Platzes ist leer. Freitagnachmittag. Ein älterer Herr führt seinen Hund spazieren. Die meisten Anwohner SWANLAs kehren erst später von der Arbeit zurück. Wir betreten das gläserne Foyer am Ausgangspunkt unserer Runde auf der Westseite. Schon von außen war zu erkennen, dass Drost + van Veen auch hier ,andere‘ Entwurfsprinzipien verfolgten: Wie zufällig dahingeworfene, in den Raum projizierte Mikadostäbe kreuzen sich die einzelnen Treppenläufe und lassen unterschiedliche Raum- und Blickbeziehungen entstehen. Dank der großflächigen Panoramafenster wirkt der Erschließungsraum offen und licht. Auch für das Innere der Anlage erarbeiteten die Architekten ein funktional wie räumlich stimmiges Konzept: Eine Konstruk- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 tion aus Holz und Glaspaneelen schützt die Laubengänge vor dem Wind. Wie die Treppenläufe bestehen auch sie aus vorgefertigten Betonelementen – den minimalen Mitteln entsprechend. Eine Sitzbank deutet darauf hin, dass der Ort von den Anwohnern angenommen wird. Im Erdgeschoss vermittelt sich ein ähnlicher Eindruck: Niedrige Holztröge markieren die Trennlinie zwischen privatem und gemeinschaftlichem, mittlerweile begrüntem Außenraum. Zueinander sind die Terrassen offen. Die Großform, die von außen den Komplex bestimmt, weicht hier einem kleinteiligen, fast familiären Charakter. Jeder sucht sich seine Gesellschaft – oder eben nicht. Innerhalb der Reihen- und Einfamilienhäuser herrscht das Prinzip der Verdichtung: Gartenlauben säumen eine schmale Gasse in der Mitte des Hofs. Die Terrasse zwischen Haus und Remise ist ganz privat. In SWANLA-Catsburg leben vor allem aus der Gegend Zugezogene, namentlich viele ältere Menschen, die sich, wie sie der Architektin sagten, von dem „Besonderen“ dieses Wohnkonzeptes hingezogen fühlten. Die Grundrisse der Wohneinheiten basieren durchgängig auf dem Standardmaß von 5,40 Metern in der Breite und elfbeziehungsweise zwölf Metern in der Tiefe. Die Wohnungstypen variieren zwischen 109 und 190, die Maisonette-Wohnungen zwischen 141 und 196 Quadratmeter Grundfläche. Sie werden von der unteren Ebene aus erschlossen, eine einläufige Treppe führt ins Obergeschoss. Grundsätzlich folgen die Grundrisse einem Schema: ein großzügiger Wohnraum mit offener Küche, zwei bis drei Schlafzimmer, Balkon oder Loggia nach außen hin oder eine Terrasse zum Hof. Alle profitieren sie von dem Tageslicht, das durch die großflächig verglasten Fronten und die Dachfenster von oben in die Räume fällt. Besonders deutlich wird dies in den Eckhäusern, deren Wohnraum von zwei Seiten erhellt wird. Der Innenausbau war bei den Planungen auf das Wesentliche reduziert. Den Grundriss wählen die Käufer nach ihren persönlichen Bedürfnissen und Wünschen. Aber nicht nur das: Sie entscheiden letztendlich über das individuelle Gesicht ihres Hauses, zum Beispiel bei den Garagen, die zu einem weiteren Zimmer ausgebaut werden kön- nen. Lassen es die finanziellen Mittel zu, werden sich die Eigentümer womöglich ein weiteres Geschoss errichten. Dabei wird den bereits bestehenden Geschossen einfach ein Pultdach aufgesetzt. SWANLACatsburg verändert im Laufe der Jahrzehnte sein Aussehen, und auch das, was die zahlreichen Entwurfsmodelle zeigen, gilt nicht beziehungsweise hat noch nie so existiert. Die Form ist stark. Das Gebäude lebt. Vorherige Doppelseite Vier intime Einblicke: Trotz der äußerlich einheitlichen Wohnungen unterscheiden sich die Bewohner und deren Einrichtungsstil erheblich. Gegenüber Das Grundstück wird von allen vier Seiten von Wasserläufen begrenzt. Die Längsansichten der beiden den Komplex bildenden ,Inseln‘ sind zueinander leicht versetzt. Oben Die Mietwohnungen im südlichen Teil der Anlage werden vom Innenhof über Laubengänge erschlossen. Glaspaneele schützen vor dem Wind. 61 Fakten Standort Gebäudetyp Bauträger Architekten Fertigstellung Zevenhuizen-Moerkapelle, NL (sozialer) Wohnungsbau, Miet- und Eigentumswohnungen Woonpartners Midden Holland Drost + van Veen Architecten, Rotterdam, NL 2005 Unten (links) Satteldach und Fassade bilden eine Einheit. Die Oberfläche besteht aus anthrazitgrauen Keramikschindeln mit einem leichten horizontalen Knick, der die Sonne reflektiert und dem Ganzen einen dörflichen Maßstab verleiht. Unten (rechts) Zusätzlichen Wohnraum bietet das Pultdach, das nach Wunsch auf die bestehende Flachdachkonstruktion aufgesetzt werden kann. Ganz unten (im Uhrzeigersinn von links): Dachfassade (Vertikalschnitt), Lageplan, Schnitt durch Tiefgarage und Mietswohnungen mit Laubengangerschließung A3 DRAWINGS BY AND COPYRIGHT OF © DROST + VAN VEEN C5 62 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 © FMGB. GUGGENHEIM BILBAO MUSEOA, BILBAO, 2006. Guggenheim Museum Bilb Host of the award event for * / 5 & 3 / " 5 * 0 / " - 7&-69"8"3% '03456%&/540'"3$)*5&$563& 8887&-69$0." VELUX PANORAMA Architektur mit VELUX aus aller Welt. DIE FARBE MACHT DEN UNTERSCHIED SIEDLUNG HAGENEILAND IN YPENBURG Fakten Standort Gebäudetyp Investor Architekten Fertigstellung Siemensvaart Ypenburg, Rijswijk Reihen- und Doppelhäuser Amvest, Amsterdam MVRDV, Rotterdam 2001 Das Wohnen in den Niederlanden hat seit Beginn der 90er Jahre einen radikalen Wandel erlebt: Mit dem Rückzug des Staats aus dem Wohnungsbau verdoppelten sich die Preise innerhalb weniger Jahre. Gleichzeitig entstanden Themensiedlungen, die manchmal als regelrechte Parallelwelten inszeniert wurden, etwa in Form von mittelalterlichen Kastellen oder RenaissanceSchlössern. Beim VINEX-Gebiet in Ypenburg, einer Stadterweiterung mit rund 15000 Wohneinheiten, lautete das Thema „Landschaft“: Die Masterplaner Fritz Palmboom und Els Bet teilten das Gelände auf einem ehemaligen Militärflughafen in Themenfelder wie „Moor“, „Wald“, oder „Wasser“ ein. Hageneiland – wörtlich übersetzt: die Heckeninsel - ist Teil des von MVRDV geplanten „Wasserquartiers“. Namensgeber sind die hohen Hecken, hinter denen die Privatgärten der Bewohner dereinst verschwinden werden. Das Gebiet ist ausschließlich fußläufig erschlossen, Parkplätze gibt es nur entlang der umlaufenden Ringstraße. Bei der Planung der 119 Eigentums- und Mietwohnungen sahen sich MVRDV mit der zweiten Eigenheit des privaten Wohnungsmarkts konfrontiert: Risikoarmut. Die Wohnungsgrundrisse sind weitgehend vereinheitlicht, typologische Experimente nicht erwünscht, der Architekt ist meist nur noch Fassadengestalter. Er verschaff t den 64 Siedlungen durch Äußerlichkeiten wie Dachform, Fensteranordnung und Materialwahl eine eigene Identität. MVRDV spielten dieses Spiel in aller Konsequenz mit: Sie reduzierten die Häuser äußerlich auf ihre Urform – zwei Geschosse mit Satteldach, ohne sichtbare Dachrinnen, Vordächer und sonstiges Zubehör. Lediglich Dachfenster durchbrechen an einigen Stellen die homogene Dachhaut und spenden den Innenräumen Tageslicht. Dem unterschwelligen Wunsch der Bewohner nach einem „eigenen“ Haus mit Wiedererkennungswert trugen MVRDV durch die Materialauswahl Rechnung: Die Häuser sind vom Sockel bis zum Dachfirst einheitlich verkleidet, wobei zwei benachbarte Häuserzeilen niemals das gleiche Fassadenmaterial erhielten. Verwendet wurden Holzschindeln, Faserzement-Welltafeln, Aluminiumblech, Polyurethan-Paneele in Blau und Grün sowie Dachziegel aus Ton. Die grünen Häuser sollen in den kommenden Jahren vollständig durch Efeu überwuchert werden. 2 1. Die ‚Heckeninsel‘ Hageneiland ist Teil eines von Fritz Palmboom und Els Bet entworfenen Masterplans. Die Nähe zum Wasser bestimmt – wie oft in den Niederlanden – das städtebauliche Konzept. D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 FOTOS: ADAM MØRK 1 2. Das Innere der Siedlung ist vollkommen autofrei. Die Zeilen umfassen maximal sechs Einzelhäuser und werden durch zahlreiche kleinere Quartiersplätze aufgelockert, die Hageneiland eine dorfähnliche Struktur verleihen. Bewusst verzichteten MVRDV auf jegliche Extravaganz. Lediglich unterschiedliche Fassadenmaterialien dienen der Differenzierung. WOCHENENDHAUS IN DER STADT HAUS XXS IN LJUBLJANA Fakten Standort Gebäudetyp Bauherr Architekten Fertigstellung Wer schon einmal in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana war, kennt bestimmt die malerische Altstadt mit ihren vielen kleinen Cafés entlang des Flusses Ljubljanica. Weit weniger bekannt ist hingegen das beschauliche Viertel „Krakovo“ unweit der Altstadt. Ursprünglich als Händlerviertel für das benachbarte mittelalterliche Kloster entstanden, findet es in den letzten Jahren zunehmend Interesse bei jenen, die die Nähe zum städtischen Leben suchen und sich trotzdem ein Haus mit Garten wünschen. Die kleinteilige Bebauung im Landhausstil, bei der an jedes Haus ein lang gezogener Garten angeschlossen ist, wirkt wie eine grüne Oase in der bevölkerungsreichsten Stadt Sloweniens. In diesem Ambiente entstand im Jahr 2004 das kleine XXS-Haus, geplant von Dekleva Gregorič Architekten aus Ljubljana. Der Bauherr, Vater von Aljosa Dekleva und selbst Architekt, finanzierte damit dem jungen Architekturbüro quasi das erste büroeigene Projekt. Dem Bauvorhaben liegt jedoch eine ungewöhnliche Nutzungsidee zu Grunde: Das Bauherrenehepaar lebt eigentlich auf dem Land und wünscht sich, um am kulturellen Leben in der Stadt teilnehmen zu können, ein „Wochenendhaus in Ljubljana Einfamilienhaus privat Dekleva Gregorič_ Architects, Ljubljana Oktober 2004 1 der Stadt“. Auf diese Bauaufgabe reagieren Dekleva Gregorič Architekten mit einem strengen Minimalismus in Form und Material: Die einfache Kubatur des 43 Quadratmeter großen „Xtra-Xtra-Small-Hauses“, die wegen baubehördlicher Vorschriften dem Vorgängerbau entsprechen musste, wird durch die Fassaden- und Dachverkleidung aus großformatigen Faserzementplatten noch hervorgehoben. Wie mit dem Messer ausgeschnitten wirken darin die fassadenbündig gesetzten Fenster. Im Innenraum befinden sich zwei übereinander liegende Räume, die dem Konzept einer Hotel-Suite folgen: Mit dem Notwendigsten ausgestattet nehmen sie alle Funktionen vom Bad bis zur kleinen Küche auf, die man zum kurzzeitigen Wohnen benötigt. Eine skulpturale Stahltreppe in der Mitte des Erdgeschosses führt zu den Schlafräumen im Obergeschoss. Hier begegnen die Architekten der Nordorientierung des Daches mit einem Trick: Die lang gezogene Dachgaube öffnet sich nicht nach vorn, sondern nach oben, wodurch der Innenraum mit viel natürlichem Licht versorgt wird. So wird das Wohnen auf engstem Raum zu einem Wohnen im von der Sonne verwöhnten Stadthaus. 3 66 4 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 ZEICHNUNGEN © DEKLEVA GREGORI_ ARCHITECTS 2 1. Die Vorschriften der Baubehörden, aus denen sich eine Orientierung des Daches nach Norden ergibt, machen ein spezielles Lichtkonzept notwendig, um die Innenräume mit viel natürlichem Licht versorgen zu können. 2. Das beschauliche Viertel ‚Krakovo‘ unweit der Altstadt ist geprägt von einer kleinteiligen Bebauung im Landhausstil. In dieses Umfeld passt sich das XXS-Haus mit seiner äußeren Form, die seinem Vorgängerbau folgt, unauffällig ein. 3. Lageplan 4. Ansicht 5. Seine ausreichende Höhe erhält der Raum im Obergeschoss erst durch die lange Dachgaube. Sie ist außerdem so geformt, dass das Licht nicht von vorn, sondern von oben hineinfällt. 6. Reichlich natürliches Licht fällt durch die Treppenöffnung bis ins Erdgeschoss. Die auf ihr Minimum reduzierte Treppe wirkt dabei wie eine Skulptur aus Stahl. Nun ein dünnes Profil dient ihr als Handlauf. 7. Die Kubatur des kleinen Hauses wirkt durch die als Fassadenverkleidung gewählten, großformatigen Faserzementplatten wie mit dem Messer ausgeschnitten. So hebt es sich vor allem in der Materialität von seinem Umfeld ab. 5 FOTOS: MATEVZ PATERNOSTER 6 7 67 ZEITGENÖSSISCHER KLASSIKER VILLA KARLSSON IN VÄSTERÅS Fertigstellung Die auf einer kleinen Insel im mittelschwedischen Mälarsee gelegene “Villa Karlsson” ist ein modernes Beispiel für einfaches Bauen und die Koexistenz mit der wilden schwedischen Landschaft. Sie greift die Form der traditionellen roten Holzhäuser Schwedens auf, variiert diese jedoch zu einer “extralangen” Version. Die Bauherren, ein Ehepaar in den Sechzigern ohne vorherige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Architekten, wünschten sich eigenen Wohnraum im Erdgeschoss, das Dachgeschoss sollte für einen späteren Ausbau freigehalten werden Tidö-Lindö, Västerås (Sweden) Einfamilienhaus Björn und Berit Karlsson Tham & Videgård Hansson Arkitekter AB 2002 und zwischenzeitlich als Unterkunft für Kinder und Gäste dienen. Traditionelle Scheunen, Lagerhäuser und andere landwirtschaftliche Gebäude, wie sie auf der und rund um die Insel Tidö Lindö noch häufig vorkommen, waren die hauptsächliche Inspirationsquelle für den Entwurf. Räume ohne zwischengeschaltete Korridore und zahlreiche Querverbindungen ermöglichen es, das Haus auf vielfältige Art zu nutzen. Die Fenster sind so angeordnet, dass sie bestimmte Aussichten rahmen – zum Beispiel auf den Gartenteich, einen besonderen Baum oder den 1 Himmel – ganz so, als ob die Blicke nach draußen Bilder in einer Kunstgalerie wären. Der Gebrauch und die Anordnung der Fenster ist ein starkes poetisches Element, das in einem markanten Kontrast zum soliden Äußeren des Hauses steht. Um die Baukosten niedrig zu halten, basiert die Konstruktion der Villa auf einem 120-Zentimeter-Raster. Standardisierte Bauteile machten das Haus rund 30 bis 50 Prozent günstiger als vergleichbare andere Häuser. Die äußere Verkleidung der Villa Karlsson besteht aus übergroßen Holzpaneelen aus dem Kern- 2 68 holz langsam wachsender Kiefern. Ein Anstrich aus traditionellem “Falu-Rot” bestimmt das prismatische Äußere und interpretiert gleichzeitig eine jahrhundertealte skandinavische Bedachungstechnik neu, die vor allem im Norden und auf der Insel Gotland angewandt wurde. Alle äußeren Beschläge sind im gleichen Rot gehalten, um das traditionelle Erscheinungsbild eines schwedischen Holzhauses zu erreichen. Das Innere besticht dagegen durch seine Lichtfülle. Hier wurden weißer Putz und moderne skandinavische und internationale Möbelklassiker verwendet. FOTOS: ÅKE E:SON LINDMAN AB Fakten Standort Gebäudetyp Bauherr Architekten D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 2. Frei angeordnete Fenster und senkrecht ausgestellte Läden überziehen das Dach und die Fassaden gleichermaßen. Sie lassen das Licht im Inneren des Hauses von Raum zu Raum und je nach Tageszeit variieren. 3. Dachfenster bringen Tageslicht in den Treppenraum und in den Wohnraum im Dachgeschoss, der, abgesehen von einigen wenigen dekorativen Gegenständen, noch unmöbliert ist. 4. Das strahlend weiße Innere des Gebäudes steht in betontem Kontrast zur ‘Falu-roten’ Farbe von Dach und Fassade. 5. Detailschnitt. 6. Axonometrie der Konstruktion. 3 5 4 6 ZEICHNUNGEN © THAM & VIDEGÅRD HANSSON ARKITEKTER AB 1. Die Villa Karlsson liegt in einem weitläufigen Gebiet mit Abstand zu den Nachbarn und zur nächstgelegenen Kleinstadt. 69 VELUX DIALOG Das internationale Symposium zur Tageslichtqualität. AUF DER SUCHE NACH EINER GEMEINSAMEN SPRACHE Text von Werner Osterhaus, Co-Moderator des Symposiums Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert bedarf die Tageslichtplanung einer gemeinsamen Fachsprache, die den Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen sämtlichen Branchen der Bauindustrie erleichtert und zudem die Faktoren exakt definiert, welche für eine Tageslichtbeleuchtung höchster Qualität maßgeblich sind. Detaillierte Informationen zu erfolgreichen Beispielen aus der Tageslichtbeleuchtung sind für diesen Prozess von entscheidender Bedeutung. Hierüber waren sich alle Experten für Tageslichtbeleuchtung – Forscher, Ausbilder, Architekten, Lichtdesigner und Nutzer tageslichtbeleuchteter Räumlichkeiten – auf dem Symposium in Budapest einig. Abb. 1 Das BTV-Gebäude in Wolfurt, Österreich. Schichtweise angeordnete Fassadenelemente regulieren das Tages- und Sonnenlicht in Bankbüros und Appartements (Quell: Baumschlager & Eberle Architekten, Lochau, Österreich) Unbestritten ist die Vorliebe der Menschen für Tages- und Sonnenlicht, und verständlich somit auch das Bestreben, Gebäude zu konstruieren und zu nutzen, die eine weitgehende und optisch angenehme natürliche Beleuchtung schaffen. Lichtdurchflutete Räume und eine ansprechende Aussicht sind mittlerweile Synonyme für moderne Architektur und hochwertige Bautechnik. Die Architekten, die im Rahmen des Symposiums einige ihrer Planungen vorstellten, betonten, dass die kreative Einbindung von Tageslicht und Aussicht bei der Gebäudeplanung nicht nur ihr persönliches Ziel ist, sondern auch dem Wunsch der Kunden entspricht. Weltweite Studien belegen, dass eine ansprechende Tageslichtbeleuchtung für die Arbeitsproduktivität und das Lernverhalten förderlich ist, ein gesünderes Umfeld bietet, den Energieverbrauch beträchtlich senkt und nicht zuletzt auch dem Image von Planern bzw. Gebäudeeigentümern und -nutzern zuträglich ist, da Kunden und Besucher auf helle und freundliche Räume positiv reagieren. Alexia Monauni vom österreichischen Architekturbüro Baumschlager & Eberle präsentierte eine Reihe von Projekten mit exakt geplanten Gebäudefassaden, die das Tages- und Sonnenlicht durch integrierte Architekturelemente aus verschiedenen Materialien unter Berücksichtigung individueller Anforderungen regulieren. Ihr Unternehmen bevorzugt ein Schichtsystem, häufig unter Verwendung von Schiebepa- neelen an der Außenseite, eingelassenen Glaselementen in der Mitte und Vorhängen oder Jalousien an der Innenseite, um den Gebäudenutzern zu ermöglichen, die Menge und Qualität des in die Räume einfallenden Tages- und Sonnenlichts zu variieren (Abb. 1). Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie dieses ausgefallene Design von den Nutzern im alltäglichen Gebrauch aufgenommen wird. Ivan Redi vom Architekturbüro ‚Ortlos‘ stellte das Bestreben seines Teams vor, die neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters auszuschöpfen, um Architekturkonzepte und Lichtdesign richtungsweisend in neue Wege zu lenken. Bezugnehmend auf die Techniken alter Meister der Malkunst vertritt er die grundlegende Überzeugung, dass das Lichtdesign von Gebäuden mit der Licht- und Schattentechnik alter Kunstgemälde vergleichbar sei, um dem Betrachter (bzw. Gebäudenutzer) eine jeweils eigene Sichtweise einer Szenerie oder eines Raums zu gestatten. Nach Ivan Redis Ansicht konzentrieren sich die Forscher zu sehr auf messbare Aspekte bzw. Endergebnisse und zu wenig auf den Planungsprozess; es würden aber eben in diesem Planungsprozess Entscheidungen getroffen, welche die Wahrnehmung eines Raums seitens des Nutzers entscheidend beeinflussen. Zudem sprach Herr Redi in seinem Vortrag die Wunschvorstellungen seiner Kunden von optimal konzipierten Räumlichkeiten an, die von Tageslicht durchflutet sind und durch direkten Sonneneinfall sowohl in psychophysischem als auch psychologischem Sinne Wärme ausstrahlen. Die Vorliebe der Bewohner und Nutzer eines Gebäudes für Tages- und Sonnenlicht ist jedoch nicht vorbehaltlos, wie Peter Boyce, anerkannter Experte und Berater für Humanfaktoren der Lichtplanung, in seinem Vortrag betonte. Dies wurde von vielen Teilnehmern bestätigt: Trotz ihres allgemeinen Bedürfnisses nach Tageslicht bemängeln die Gebäudenutzer gleichzeitig die hiermit verbundenen Probleme. Oftmals werden sie mit starken Helligkeitskontrasten innerhalb ihres Sichtfelds konfrontiert und empfinden Blendung und Lichtreflexionen, hohe Wärmeentwicklung durch Sonneneinstrahlung oder andere Eigenschaften ihrer Arbeitsplatz- oder Raumbeleuchtung als unangenehm. Andererseits werde die mangelnde Ausnutzung möglicher Tages- und Sonnenlichteinstrahlung von den Nutzern beklagt. Die Gründe für die nicht optimale Tageslichtbeleuchtung eines Gebäudes sind vielfältig: Häufig wird z.B. die wesentliche Bedeutung von Tages- und Sonnenlicht und dessen formgebender Effekt auf die Architektur unterschätzt und oft auch die moderne Technologie vom Planer unangemessen genutzt. Zudem erschwert das Fehlen konkreter Definitionen, Beschreibungsfaktoren und Indikatoren zur Beurteilung der Tageslichtqualität die Kommunikation zwischen Forschern, Architekten, Lichtdesignern und Eigentümern bzw. Nutzern von Gebäuden. Aktuelle Richtlinien und Empfehlungen D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 71 Abb. 2 Computersimuliertes Lichtdesign für komplexe (oben) und eher einfache (rechts) Umgebungen. (Quelle: Ivan Redi, Architekturbüro Ortlos, Graz, Österreich) basieren häufig auf veralteten Forschungsergebnissen anhand nunmehr überholter Licht- und Steuerungssysteme oder Bautechniken. Ein gutes Beispiel hierfür sind Büroräume: Während noch vor einigen Jahren eine horizontale Arbeitsfläche üblich war, setzen heutzutage nahezu vertikale Bildschirme den Standard; dementsprechend haben sich auch die Beleuchtungsanforderungen geändert. Neue Voraussetzungen verlangen unweigerlich neue Lösungen: Da viele Planungsmodelle nicht an die moderne (Tages-)Lichttechnik angepasst werden können, sind neue Modelle gefragt, um diese Lücke zu schließen. Marc Fontoynont, Leiter des Forschungsprogramms für Tageslichtbeleuchtung an der École Nationale des Travaux Publics d‘Etat (ENTPE) in Frankreich, erörterte den Teilnehmern des Symposiums die von der ENTPE ermittelten Grundsätze und Erkenntnisse zur Tageslichtforschung unter Beachtung der Bestimmungen der International Energy Agency Task 31. Als Schlüsselfaktoren dienten u.a. die Auswertung von Nutzerbefragungen zu Tageslichtsystemen sowie nützliche Indikatoren zur Kostenbestimmung alternativer Lichtmittel. Tageslicht, das durch Fenster und Oberlichter einströmt, ist nachweislich die bevorzugte und zudem preisgünstigte Lichtquelle für Innenräume: Die Kosten betragen 0,35 € für Oberlichter und 1,08 € für Seitenfenster pro Mega-Lumenstunde (MImh) für die Beleuchtung der Arbeitsfläche. Fabio Bisegna von der Universität Rom 72 beschäftigte sich mit diversen Aspekten der Tageslichtplanung aus südeuropäischer Sicht und betonte insbesondere die Zusammenhänge zwischen Tageslicht und Nutzung von Solaranlagen, denen im Mittelmeerraum große Bedeutung zukomme, um Energie zu sparen und eine gesteigerte Lebensqualität zu sichern. András Majoros von der Technischen Universität Budapest stellte die dynamischen Eigenschaften des Tageslichts heraus, die mitunter Grund für die Vorliebe der Menschen für Tageslicht seien. Intensität und Farbe des natürlichen Lichts variieren in Abhängigkeit von Tages- und Jahreszeit. Daher würden automatische Tageslicht- und Solaranlagen mit dem Ziel entwickelt, die Gratwanderung zwischen willkommener Hilfestellung für den Nutzer und komplett automatisierter Steuerung zu meistern. Jan Wienold vom deutschen Fraunhofer Institut ist an dem ECCO-Bauprojekt beteiligt, einem fachübergreifenden europäischen Forschungsprojekt, das sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung von Algorithmen für benutzer- und klimaabhängige Tageslicht- und Solaranlagen beschäftigt. Durch dieses Projekt wurden bereits einige wichtige Erkenntnisse gewonnen, z.B. verbesserte Auswertungsmittel für Bilder von Helligkeits-Messkameras hinsichtlich möglicher Blendwirkungen und eine neue Blendschutzformel. Eleanor Lee beschäftigt sich derzeit hauptsächlich mit Versuchsaufbauten in Originalgröße und mit Computersimulati- onsmodellen des neuen Bürogebäudes für die New York Times, das kürzlich vom Studio Renzo Piano in Zusammenarbeit mit der LBNL geplant wurde. Dieses Projekt bietet die einzigartige Möglichkeit, die zahlreichen Einflussfaktoren der Tageslichtqualität lange vor der tatsächlichen Bauphase auszuwerten. Äußere und innere Fassadenelemente, Tageslicht- und Solaranlagen, die Integration elektrischer Beleuchtung sowie Einrichtungen und Büroausstattungen können allesamt vor ihrer endgültigen Installation getestet und beurteilt werden. Dennoch sind die LBNL-Forscher der Auffassung, dass die verfügbaren Tageslichtmesswerte nicht ausreichen, um eindeutige Beurteilungskriterien für die zahlreichen Aspekte dieses innovativen Gebäudes festzulegen. Die Präferenzen visueller Wahrnehmung weichen häufig von Person zu Person beträchtlich ab. Dies ist eine große Herausforderung bei der Planung eines Tageslichtsystems, das allen Gebäudebewohnern und -nutzern gerecht wird – schließlich möchte niemand die Einrichtung des persönlichen Arbeitsumfelds einem anderen überlassen. Marie-Claude Dubois von der kanadischen Universität Laval präsentierte den neuesten Stand der Forschung zur Beurteilung der Tageslichtqualität in einfachen Räumen anhand von Computersimulationen. Eine schlichte Raumgeometrie ermögliche dem Forscher, so ihr Standpunkt, den Einfluss vieler einzelner Variablen durch parametrische Studien anhand von Computermodellen auszuwerten; eine komplexe Raumgeome- D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Abb. 3 Ein mit Hilfe simulierter Lichtplanung erstelltes Realmodell einer komplexen Tageslichtumgebung mit künstlichem Himmel eines Sonnensimulators. (Quelle: Peter Andres Lichtplanung, Hamburg, Deutschland) Werner Osterhaus ist Architekturdozent und Lichtforscher am Zentrum für Bautechnik in der Architekturfakultät der Victoria- Universität Wellington (Neuseeland). Zu kontaktieren ist er per E-Mail unter der Adresse Werner.Osterhaus@vuw.ac.nz. Nähere Informationen zu den einzelnen Symposiumsvorträgen sind auf der Tageslicht-Website http://193.163.166.242 zu finden. trie hingegen erschwere solche Studien, da gegenseitige Abhängigkeiten der Variablen das Ergebnis beeinträchtigten. Guy Newsham vom Nationalen Forschungsrat Kanada (NRC) widmete sich der Frage, wie neue Erkenntnisse zu den Reaktionen auf Tageslicht seitens der Gebäudenutzer für existierende und neuartige Planungswerkzeuge genutzt werden können. Eines der NRC-Forschungsprojekte beschäftigte sich mit den Bewegungsabläufen verschiedener Büroangestellter. Die Verbindung zwischen der Tageslichtdynamik und dem Verhalten der Gebäudenutzer kann nützliche Erkenntnisse für die Beurteilung der natürlichen Ausleuchtung eines Gebäudes oder Raumes liefern. Letzten Endes erhofft man sich, mit Planungswerkzeugen verschiedene mögliche Gestaltungsszenarien dynamisch auswerten zu können. Der Beleuchtungsexperte Peter Andres aus Hamburg gab den Teilnehmern des Symposiums einen detaillierten Einblick darüber, wie sein Unternehmen die Lichtqualität beurteilt. Langjährige Erfahrung wird durch die Arbeit mit virtuellen und realen Modellen ergänzt. Seiner Überzeugung nach ist der Zugang zu einem künstlichen Himmel mit Sonnensimulator wesentliche Voraussetzung für die Erforschung der Tages- und Sonnenlichtdynamik, insbesondere im Falle außergewöhnlicher Raumgeometrien. Seine Kunden gewinnen aus erster Hand Einblick in das Innere eines Modells und können so den Einfluss unterschiedlicher Planungslösungen erkennen. Seine Erfahrung zeigt, dass reale Modelle gegenüber virtuellen Entwürfen nach wie vor als wirklichkeitsgetreuer erachtet werden. Qualitativ hochwertige Tageslichtbeleuchtung kann, so denke ich, vermutlich am besten als das Tageslicht beschrieben werden, das eine ausreichende Arbeitsbeleuchtung schafft, visuell angenehm und blendfrei ist, das Sichtfeld nicht beeinträchtigt, den architektonischen sowie sozialen Anforderungen gerecht wird, sich im Raum gut verteilt und nicht zuletzt der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Menschen zuträglich ist. Zu den bekannten Beschreibungsfaktoren für Tageslichtqualität gehören: • Leuchtdichte (Adaption, Verhältnisse, Kontrast, Verteilung) • volumetrische Helligkeit (wahrgenommener Effekt der Gesamthelligkeit auf allen Raumflächen – entspricht der durchschnittlichen Strahlungstemperatur bei thermischer Messung) • Beleuchtungsstärke in Lux (okular, vertikal, horizontal, Arbeitsfläche, skalar, zylindrisch, Gleichmäßigkeit) • Tageslichtfaktor (Durchschnitt, Minimum) • korrelierte Farbtemperaturen und –spektren der Lichtquellen • Direkte und diffuse Lichtanteile Leider verwenden auch angesehene Lichtplaner diese Begriffe bzw. Beschreibungsfaktoren unkorrekt und ohne weitgreifendes Verständnis der zugrunde liegenden Konzepte. Eine entsprechende Schulung ist daher dringend angeraten. Zudem gilt es zu bedenken, dass die genannten Parameter in erster Linie quantitativer und nicht qualitativer Art sind. Planer und Designer benötigen allerdings konkrete Orientierungspunkte, um die Planungsziele für die Tageslichtqualität zu definieren und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Gute Beispiele und angemessene Planungswerkzeuge sind hierfür unabdingbar. Anfänglich mögen einfache Mittel (z.B. Faustregeln) ausreichen, später aber sind komplexere Werkzeuge gefragt, die eine räumliche (dreidimensionale) und zeitliche Darstellung ermöglichen. Schließlich machen sich die Planer und Designer Gedanken über den zusätzlichen Zeit- und Kostenaufwand, der mit der Einbindung solcher Prozesse verbunden ist. Zudem befürchten sie, nicht einschätzenzukönnen,obihrePlanungsentwürfe letztendlich zu dem gewünschten Ergebnis führen, insbesondere weil sich die Wünsche und Anforderungen hinsichtlich der Raumgestaltung von Mensch zu Mensch gravierend unterscheiden können. Von den Lichtspezialisten erwarten die Planer designorientiertere Ergebnisse auf der Grundlage durchgeführter Studien. Grundsätzlich sollten sowohl Planer als auch Forscher „mehr mit ihren Augen als mit ihren Belichtungsmessern denken“, wie Ivan Redi pointiert formulierte. Dieses Symposium hat Grundlagen geschaffen und Teilnehmer aus verschiedenen Bereichen zusammengeführt, die normalerweise nicht an einem Tisch sitzen, Informationen austauschen und diskutieren. 73 Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache ist angesichts der vielfältigen Betrachtungsweisen offensichtlich. Lichtforscher, Ausbilder, Designer und Gebäudenutzer liegen nicht unbedingt auf einer Wellenlänge – noch nicht jedenfalls. Deutlich aber ist der Wunsch nach Zusammenarbeit. Zudem stand der Vorschlag im Raum, auch noch andere Bereiche wie Videowissenschaft und Psychologie einzubinden. Sinnvoll wäre es auch, strukturierte Evaluationen geplanter Gebäude einzuholen und somit Design und Forschung miteinander zu verbinden, um unser Verständnis für die Tageslichtqualität weiter zu fördern. 74 Fakten Das Internationale VELUX-Tageslichtsymposium, das am 6. und 7. November 2005 in Budapest stattfand, war das erste internationale akademische Forum, das sich ausschließlich mit Tageslicht in der Architektur befasste. Zu den 80 Teilnehmern aus 17 Ländern in vier Kontinenten gehörten Architekten privater Unternehmen, Vertreter öffentlicher Institutionen sowie Forscher und Lehrkörper von Universitäten und Architekturschulen. Das Symposium mit 13 Hauptvorträgen wurde von zwei Moderatoren geleitet: Marc Fontoynont, Leiter des Labors für Bautechnik, Département Génie Civil Urbain et Bâtiment in Vaulx-en-Velin (F), und Werner Osterhaus, Dozent an der Architekturschule Wellington (NZ). Referenten -Marc Fontoynont, Leiter des Labors für Bautechnik, Département Génie Civil Urbain et Bâtiment in Vaulx-en-Velin (F). -Peter Boyce, Berater für Humanfaktoren des Lichtdesigns (GB) -Alexia Monauni/Elmar Hasler, Baumschlager & Eberle (A) -Guy Newsham, Institut für Konstruktionsforschung des National Research Council of Canada (CDN) -Jan Wienold, Fraunhofer Institut für Solarenergiesysteme (D) -Werner Osterhaus, Dozent an der Wellington School of Architecture (NZ) -Ivan Redi, Architekturbüro ORTLOS (A) -Eleanor Lee, Bautechnikerin, Laurence Berkeley National Laboratory (USA) -Fabio Bisegna, Fakultät für Technische Physik an der Universität Rom (I) -András Majoros, Architekturfakultät an der Universität für Technik und Wirtschaft in Budapest (H) -Marie-Claude Dubois, Architekturfakultät der Universität Laval, Québec (CDN) -Peter Andres, Lichtplaner, Hamburg (D) D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Tageslicht-Impulse mit VELUX. Eine Idee von Fritschi, Stahl, Baum Atmosphären, die durch Tageslicht entstehen, werden von den Architekten Fritschi, Stahl, Baum häufig thematisiert. In der Visualisierung zum “Projekt Bergstraße” zeigen sie, wie wirkungsvoll der Einsatz von hochwertigen VELUX Lösungen das Wechselspiel von Licht und Schatten beeinflusst. Wir unterstützen auch Sie bei der Entwicklung besonderer Ideen und Projekte – und bieten Systeme, mit denen vielseitige Ansätze für Tageslichtkonzepte realisiert werden können. velux.de/architektur BÜCHER REZENSIONEN Zum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, vorgestellt von D&A. THE PRESENCE OF THE CASE STUDY HOUSES Ethel Buisson, Thomas Billard Birkhäuser 2004 ISBN 3–7643–7118–8 (Französische Ausgabe: Les éditions de l’Imprimeur 2004 ISBN 2-910735-51-6) Die ‚Case Study Houses‘ gehören zur amerikanischen Architekturgeschichte wie der berühmte Schriftzug zu den Bergen Hollywoods. Die Architekten, die diese einzigartige Serie experimenteller Wohnhäuser entwarfen, wurden weltbekannt: Charles Eames, Eero Saarinen, Richard Neutra und Pierre Koenig, um nur einige zu nennen. Ihre Bauten verkörpern die Essenz des ‚american dream‘: hier der Glaube an Fortschritt und industrielle Vorfertigung, an Stahl und Glas, dort die meisterhafte Einbettung der Bauten in eine Natur, die seinerzeit noch (scheinbar) in unbegrenztem Ausmaß zur Verfügung stand. 1945 hatte John Entenza, Herausgeber des Architekturmagazins ‚Arts & Architecture‘, acht kalifornische und nach Kalifornien eingewanderte Ar- 76 chitekten eingeladen, an der amerikanischen Westküste die ersten acht Häuser zu bauen. Später entwickelte sich das Programm zum Selbstläufer: 28 Case Study Houses wurden bis 1966 geplant, immerhin 20 auch realisiert. Vor einigen Jahren machten sich die beiden Autoren Ethel Buisson und Thomas Billard daran, die Geschichte der Case Study Houses bis in unsere Tage fortzuschreiben. Sie suchten die noch existierenden Häuser auf, fotografierten sie und sprachen mit den heutigen Bewohnern. Zudem recherchierten sie in alten ‚Arts & Architecture‘-Ausgaben nach Plänen und Fotografien, die sie ihren Neuaufnahmen gegenüber stellten. In ihren Texten verflechten sie Geschichte und Gegenwart, Architekturdokumentation und Reportage auf unterhaltsame Weise miteinander. Mindestens ebenso aufschlussreich wie die Bauten selbst ist die Darstellung der Darstellung der Häuser – also des Echos, das die Case Study Houses seinerzeit in ‚Arts & Architecture‘ und anderen Medien erfuhren. Ergänzt werden die Kapitel schließlich durch kurze Exkurse zur amerikanischen Architektur- und Zeitgeschichte der 40er bis 60er Jahre. Trotz seiner dokumentarisch angelegten Fotografien, auf denen stets die Architektur und nicht die Einrichtungsvorlieben der Bewohner im Vordergrund steht, ist ‚The Presence of the Case Study Houses‘ kein Architekturbuch im traditionellen Sinne, sondern ein Expeditionsbericht in die Gegenwart einer Architekturepoche, die sonst gern als abgeschlossen betrachtet wird. Das Buch überzeugt gleich dreifach: Es zeigt traumhafte, lichterfüllte Architektur, porträtiert eine Architektengeneration und ihre Ideale und belegt, wie Architektur und Medien auch früher schon einander beeinflussten. UTZON’S OWN HOUSES Michael Asgaard Andersen, Tobias Faber Arkitektens Forlag 2005 ISBN 87–7407–316–8 Jørn Utzon ist der Welt vor allem als Architekt der Oper von Sydney und der Bagsvaerd-Kirche in Kopenhagen bekannt. Die übrigen, meist wenig bekannten Bauten des Pritzker-Preisträgers wollen die Danish Architectural Press und das Louisiana Museum of Modern Art nun in einer wahren ‚Tour de Force‘ der Öffentlichkeit zugänglich machen: Bis 2007 sollen das 25000 Zeichnungen umfassende Archiv Utzons duchforstet und seine Entwürfe in einer Komplett-Edition publiziert werden. Den Auftakt zum Werkkatalog machen Utzons eigene Wohnhäuser in einem handlichen, nicht nur wegen des Titelbildes sehr persönlich gefärbten Band, an dem ausgewiesene Utzon-Kenner wie Tobias Faber und der 2000 verstorbene Christian Norberg-Schulz mitgewirkt haben. Sie legen dar, wie Utzon, ausgehend von Vorbildern wie Wright, Asplund und Aalto, in dessen Büro er eine Zeitlang arbeitete, eine eigene Architektur von großer konstruktiver Klarheit entwickelte. Ende der 60er Jahre ließ er sich von der Lust am industrialisierten Bauen anstecken und entwickelte ein eigenes Holzbausystem für Wohnhäuser, das er ‚Espansiva‘ taufte. Dennoch blieben seine Bauten stets dem Menschen und seinen Bedürfnissen verpflichtet. Seine Grundthemen sind die Urfunktionen des Hausbaus: Menschen, die sich um eine Feuerstelle versammeln, der Rückzug in die schützende Höhle und der Lauf der Sonne um das Gebäude. D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 Besonders deutlich wird die Annäherung Utzons an die Ursprünge der Architektur bei seinen Wohnhäusern aus Mallorca, die in diesem Buch einen breiten Raum einnehmen. Hier griff er so gekonnt auf regionale Bautechniken zurück, dass ein einheimischer Architekt später schrieb, Utzon habe ihn seine eigene Heimat neu sehen gelehrt. Utzons Häuser entstanden stets unmittelbar aus dem Bauprozess heraus. „Die Konstruktion ist die Architektur, alles andere ist nur Lippenstift“, bringen Kim Dirckinck-Holmfeld und Martin Keiding seine Haltung in der Einleitung zum Buch auf den Punkt. Die Pläne für sein erstes Wohnhaus in Hellebaek von 1952 zeichnete er bezeichnenderweise erst auf, nachdem es fertig gestellt war. Utzons Häuser sind Architektur für den zweiten Blick: Anders als sein Opernbau springen sie nicht durch prägnante Formgebung ins Auge, sondern durch Raumbeziehungen, Blickachsen, Lichtführung und Details. All dies wird dem Leser des vorliegenden Buchs in zahlreichen Detailzeichnungen und exzellenten (im Druck leider etwas flau wiedergegebenen) Farbaufnahmen von Søren Kuhn und Tobias Faber näher gebracht. Auf die weiteren Ergebnisse der Archivrecherche darf man in jedem Fall schon heute gespannt sein. UNMODERN ARCHITECTURE Hans Ibelings NAi Publishers, 2005 ISBN 90–5662–352–4 Fragt man derzeit einen Niederländer über die Situation der Architektur in seinem Land, so kommen früher oder später meist zwei Dinge zur Sprache: erstens ein allgemeines Lamento über die nachlassende Architekturqualität im einstigen Musterland der Neomoderne, und zweitens das Staunen über den Siegeszug eines neuen Traditionalismus, der sich insbesondere im Wohnungsbau größter Beliebtheit erfreut. In der Tat haben sich die Niederlande im Windschatten der britischen und amerikanischen Vorreiter zu einem neuen Zentrum des ‚New Urbanism‘entwickelt. Ganze Kleinstädte entstanden und entstehen dort nach den Vorbildern mittelalterlicher Dörfer, Festungsstädte, Wasserburgen oder Schlösser. Unter den Architekten stehen sich Anhänger des Neotraditionalismus und solche, für die bereits der Begriff ‚traditionell‘ ein rotes Tuch ist, unversöhnlich gegenüber. Wirklich sachliche, unparteiische Bestandsaufnahmen sind dementsprechend rar. An einer solchen hat sich nun ausgerechnet Hans Ibelings, der Autor des vieldiskutierten Buches ‚Supermodernism‘, versucht. Dass ihm viele Leser eine streng neutrale Haltung möglicherweise nicht abnehmen, nimmt Ibelings in Kauf. Doch er entgegnet: „Ebenso wie ich ,supermoderne’ Architektur aus Neugier dokumentieren wollte, versuche ich nun das Bild eines anderen Phänomens in der zeitgenössischen Architektur wiederzugeben, das mich ebenso sehr fasziniert und die ich unter dem Namen ,zeitgenössischer Traditionalismus’ zusammenfasse.“ Zu Beginn seines Buchs vergleicht Ibelings die traditionalistische Architektur mit biologischer Nahrung: Früher existierte nichts anderes, doch in dem Moment, da sie unter den Einwirkungen der Industrialisierung praktisch ausgemerzt worden war, musste man sie unter einem neuen Namen wieder erfinden. Und: Traditionalismus in der Architektur ist ebenso wie ‚Bio‘ beim Essen eine Sache der Lebensanschauung oder, oberflächlicher betrachtet, des Lifestyle. Ibelings bemerkt, dass sich die Traditionalisten in einer Zeit, in der das Festhalten an bewährten Formen misstrauisch beäugt wird, einer weitaus radikaleren, provokanteren Rhetorik bedienen müssen als ihre neomodernistischen Gegenspieler – eben „weil sie es wagen, sich der Tradition des Neuen entgegenzustellen“. In ‚Unmodern Architecture‘ zeichnet Ibelings die Entwicklung des ‚zeitgenössischen Traditionalismus‘ und seiner Hauptvertreter in Holland – Rob und Léon Krier, Adolfo Natalini, Vera Yanovshtchinsky, Sjoerd Soeters und Molenaar & van Winden, um nur einige zu nennen – nach. Dabei macht er deutlich, wie sie, die fast alle in der Tradition der Nachkriegsmoderne ausgebildet wurden, nun nachholen, was an den Niederlanden seinerzeit weitgehend vorbeiging: die Postmoderne. Sein Versprechen, die Dinge unvoreingenommen zu beschreiben, hält Ibelings ein – und gerade deswegen zeigt das Buch den Neotraditionalismus bisweilen im neuen, ungewohnten Licht. Doch leider gibt Ibelings dabei fast ausschließlich die Sicht der Architekten wieder. Ausgeblendet werden die ‚Mitspieler‘, ohne die es die Architekturbewegung in dieser Breite nie gegeben hätte: die Wohnungswirtschaft, die die Bauten in Auftrag gab, und der ‚Mann auf der Straße‘ als Käufer, dessen Wünschen der neu-alte Architekturstil ja zu entsprechen versucht. So stellt ‚Unmodern Architecture‘ den Neotraditionalismus – möglicherweise ungewollt – als etwas dar, was er nie war: eine autonome (Bau-)Kunst, die praktisch losgelöst von den Zwängen des Marktes praktiziert wird. BUILT BY HAND – VERNACULAR BUILDINGS AROUND THE WORLD Autoren: Bill Steen, Athena Steen and Eiko Komatsu Fotos: Yoshio Komatsu Gibbs Smith, Utah, USA 2003 ISBN 1-58685-237-X Die beiden Autoren Athena und Bill Steen mit indianischen, mexikanischen und europäischen Vorfahren gründeten 1989 das Canelo-Projekt, eine gemeinnützige Organisation und Kommune in den Weidelandschaften bei Tuscon, Arizona. Mit ihren selbst gebauten Häusern aus Stroh und anderen natürlichen Materialien haben sie sich vor allem in den USA bereits einen Namen gemacht. Das 2003 erschienene Buch ‚Built by Hand‘ gibt einen umfassenden Einblick in das, auf was sich die beiden in ihren Projekten berufen – von Hand gebaute Architektur, beruhend auf traditionellen, ortstypischen Materialien und Techniken. Der eigentliche Autor von ‚Built by Hand‘ ist jedoch ihr japanischer Freund und Fotograf Yoshio Komatsu. Rund um die Welt waren er und seine Frau Eiko unterwegs, um indigene Bauwerke und ihre Bewohner, die gleichzeitig auch die Architekten sind, in Bildern festzuhalten. Den Einstieg in die 472 Seiten starke Dokumentation bilden die Kapitel ‚Erde‘, ‚Stein‘, ‚Holz‘, ‚Bambus‘ und ‚Stroh‘. Knappe Texte führen in die jeweilige Bautechnik ein. Weitere Abschnitte sind den Bauten ‚Auf dem Wasser‘, ‚In der Erde‘, den ‚Beweglichen Häusern‘ und ‚Mit dem Klima bauen‘ gewidmet. Getreidelager, Kultplätze, Straßen und Eingänge, Fenster, handgeformte Details und Ornamentik finden im Bildband ebenfalls ihren Platz: So ist neben den Häusern in Al-Hajjara im Jemen ein Gebäude in Cicmany, Slowakei, abgebildet. Fresken in Holzgau, Österreich, und in Ardez, Schweiz, folgen prachtvollen Wandmalereien im kolumbianischen Valledupar. „When I find a beautiful house, my heart beats faster as I get feelings from its shape, materials and settings“, schreibt Yoshio Komatsu im Epilog. Es ist die Schönheit des Einfachen, die den Fotografen fasziniert – und mit Sicherheit auch den Leser. Nicht zu vergessen ist die Gastfreundlichkeit der Bewohner, die sich in einer Vielzahl der großformatigen, farbenfrohen Bilder mitteilt. Trotz der Vielfalt der Bauten, Materialien und der Orte, die sie präsentieren, erheben die Autoren nicht den Anspruch auf Vollständigkeit – dem sie ohnehin nicht gerecht werden könnten. ‚Built by Hand‘ ist in einer zunehmend vom westlichen Konsumismus beherrschten Welt eine Sammlung, die Mut macht, weil sie den Reichtum der Kulturen widerspiegelt und ‚neue alte‘ Wege aufweist: Nicht jedes Dach über dem Kopf, das dient, wärmt, schützt oder einfach nur Freude bereitet, muss aus Glas, Beton und Wellblech sein. 77 BÜCHER EMPFEHLUNGEN Architekten empfehlen ihre Lieblingsbücher in D&A. 1 Guillermo Vazquez Consuegra 2 Peter Ebner und Franziska Ullmann 3 Nabil Gholam und Aram Yeretzian 1 1 GUILLERMO VAZQUEZ CONSUEGRA EMPFIEHLT 2 Pensar la arquitectura (Architektur denken) Autor: Peter Zumthor Gustavo Gili ISBN 84–252–1992–2 18 años con el arquitecto Louis I. Kahn (18 Jahre mit dem Architekten Louis I. Kahn) Autor: August Komendant COAGalicia (erhältlich bei publiarq@buildnet.es) (Englische Ausgabe: Aloray Publishers, ISBN 0–913690–06–6) Inquietud Teórica y Estrategia Proyectual (Theoretische Unruhe und Entwurfsstrategien) Autor: Rafael Moneo Actar ISBN 84–94941–68–1 (Englische Ausgabe: The MIT Press, ISBN 0–262–13443–8) Peter Zumthor ist einer der führenden Köpfe der zeitgenössischen Schweizer Architektur. Auch in Zeiten der Globalisierung bewies der 1943 in Basel geborene Architekt und gelernte Möbelschreiner ein gehöriges Maß an Bodenhaftung. Material und Konstruktion, nicht formale Trends, sind die Grundlagen seiner Arbeit – und der Respekt vor unserem kulturellen Erbe. In der Reihe „Arquitectura conTextos“ bei Gustavo Gili ist nun eine Sammlung von Texten erschienen, die Zumthor während der letzten 10 Jahre verfasst hat. Sie bilden ein seltenes und wertvolles Zeugnis über das architektonische Denken des eigenwilligen Schweizers, der seit 1996 an der Architekturakademie in Mendrisio (Schweiz) lehrt. In diesem Buch lässt der Ingenieur August Komendant 18 Jahre gemeinsamer Arbeit mit Louis Kahn und die zahlreichen Bauten, die während dieser Zeit entstanden, Revue passieren. Das Salk Institute, das Olivetti-Underwood Fabrikgebäude, der Regierungssitz in Dacca/Bangladesh und das Kimbell Art Museum erschließen sich dem Leser damit auf eine neue Art und Weise. Die galizische Architektenkammer, Herausgeberin der spanischen Lizenzausgabe, misst dem Buch „Kultwert“ bei, da es wertvolles Insiderwissen über die Arbeit eines der größten Architekten des 20. Jahrhunderts enthält. Rafael Moneo hat bislang einen großen Teil seiner Zeit als Architekt der Lehre und Architekturkritik gewidmet. In diesem Buch, das aus einer Vorlesungsreihe an der Harvard Graduate School of Design heraus entstand, analysiert Moneo die Werke acht zeitgenössischer Architekten und ihre theoretischen Positionen: Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas, Frank O. Gehry, Alvaro Siza, Peter Eisenman, Aldo Rossi, Venturi Scott & Brown und James Stirling. Das mit 600 Abbildungen reich illustrierte Buch verrät dem Leser damit nicht nur viel über die Arbeiten acht führender Architekten, sondern ebenso viel über einen neunten – den Verfasser selbst. Alejandro de la Sota Hrsg.: Moisés Puente Rodríguez Gustavo Gili ISBN 84–252–1880–2 Alejandro de la Sota (1913–1996) gehört zu den großen Lehrmeistern der spanischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl seine Bauten oft publiziert wurden, sind seine Schriften noch weitgehend unbekannt. Der Band von Moisés Puente Rodríguez vereint nun erstmals Texte de la Sotas aus den Jahren 1951 bis 1996, darunter auch viel bislang unveröffentlichtes Material. Ein Abschnitt des Buches widmet sich den Aufsätzen des Architekten, im zweiten sind mehrere Gespräche mit de la Sota wiedergegeben, und ein dritter beinhaltet Transkriptionen mehrerer Vorträge, die de la Sota im Laufe seiner langen Karriere hielt. 78 3 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 2 PETER EBNER UND FRANZISKA ULLMANN EMPFEHLEN Frei Otto – Das Gesamtwerk Publisher: Wilfried Nerdinger Birkhäuser Verlag ISBN: 3-7643-7233-8 (deutsch) ISBN: 3-7643-7231-1 (englisch) Kaum ein deutscher Architekt hat in der zweiten Hälfte des 20, Jahrhunderts so viel internationale Anerkennung gefunden wie Frei Otto. Zu seinem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr widmete das Architekturmuseum der TU München dem großen Ingenieur-Architekten eine umfassende Einzelausstellung nd eine mehr als 200 Seiten starke Monografie. Darin beschreiben Weggefährten die wichtigsten Aspekte von Frei Ottos Schaffen – insbesondere sein stetiges Bestreben, von der Natur zu lernen, das ihn in den 80er und 90er Jahren zu einem der Wegbereiter der Öko-Architektur in Deutschland werden ließ. Ein ausführliches Werkverzeichnis der 200 Bauten und Projekte aus den Jahren 1951 bis 2004 komplettiert den Band. 3 NABIL GHOLAM UND ARAM YERETZIAN EMPFEHLEN Der Baron auf den Bäumen Autor: Italo Calvino dtv Verlag ISBN 3-423-10578-X (Italienische Originalausgabe: Italo Calvino IT’ART ISBN 88-04-37085-8) In seinem 1957 erstmals erschienenen Roman erzählt der italienische Schriftsteller Italo Calvino die Geschichte eines ganz besonderen Einsiedlers: Am 15. Juni 1767 steigt der 12jährige Cosimo Piovasco di Rondo aus Protest gegen seine Eltern auf einen Baum in deren Garten – und kehrt zeitlebens nie mehr auf die Erde zurück, noch nicht einmal, um zu sterben: Vom Landeanker einer Montgolfiere aus seinem Baum mitgerissen, entschwebt er auf das Meer hinaus und damit aus der Erzählung. Im Buch erzählt Cosimos jüngerer Bruder Biagio von dessen Leben auf den Bäumen. Italo Calvinos Buch zählt zu den großartigsten Vertretern der Gattung „Abenteuerroman“; es ist unterhaltsam geschrieben und dennoch von großer Tiefe. „Essays on Space and Science“ heißt der Untertitel dieses ungewöhnlichen Ausstellungskatalogs von und über den isländischen Künstler Olafur Eliasson. Obwohl die Werkschau „Surroundings Surrounded“, die zunächst 2000 in Graz und 2001 in Karlsruhe stattfand, ganz im Zeichen von Eliassons Arbeiten stand, verzichtet der Künstler im Katalog auf die sonst übliche Dokumentation und legt statt dessen die theoretischen Grundlagen seiner Arbeit offen. Das 704 Seiten starke Buch umfasst 56 Essays von Natur- und Geisteswissenschaftlern, Architekten und Kunsttheoretikern, von denen 30 hier erstmals veröffentlicht werden. Beirut City Center Recovery Autor: Robert Saliba Steidl ISBN 3-882243-978-5 Living under the Crescent Moon: Domestic Culture in the Arab World Autoren: Alexander von Vegesack and Mateo Kries Vitra Design Museum ISBN 3-931936-41-1 In seinem Bildband beschreibt Robert Saliba den Wiederaufbau zweier der beliebtesten Stadtviertel der libanesischen Hauptstadt nach dem Libanonkrieg von 1975 bis 1990. Eine Hauptrolle spielte dabei die Immobiliengesellschaft Solidere des erst vor wenigen Monaten bei einem Anschlag getöteten libanesischen Ministerpräsidenten und Bauunternehmers Rafik Hariri. Durch den gewaltsamen Tod des „Erfinders“ des modernen Beiruts hat das Buch eine unerwartete tagespolitische Bedeutung erhalten. Doch auch ohne sie regt „Beirut City Center Recovery“ zu Diskussionen über den künftigen Städtebau im Nahen Osten an. In dem Buch „Living under the Crescent Moon – Domestic Culture in the Arab World“ werden die Wohnkulturen der arabischen Welt gezeigt – Nomadenzelte der Tuareg und der Beduinen, marokkanische Kasbahs, prächtige Hofhäuser in Städten wie Marrakesch, Damaskus oder Kairo und Gebäude des 20. Jahrhunderts von den Architekten Hassan Fathy, Elie Mouyal oder Abdelwahed ElWakil. Keramiken, Textilien, Werkzeuge und Architekturelemente vermitteln dem Leser arabische Wohn- und Lebensgewohnheiten. Mit zahlreichen Innenaufnahmen von Privathäusern gibt das Buch einen seltenen Einblick in die Sphäre der arabischen Welt, die normalerweise Fremden gegenüber streng geschützt wird. Traditional Domestic Architecture of the Arab Region Autor: Friedrich Ragette Axel Menges ISBN 3-932565-30-4 Vermutlich zum ersten Mal stellt das Buch von Friedrich Ragette die traditionelle Wohnarchitektur der arabischen Welt, vom Atlantik bis zum Persischen Golf, in systematischer Form vor. Der Autor, selbst mehr als 30 Jahre lang als Architekt in der arabischen Welt tätig, analysiert die klimatischen und kulturellen Faktoren, die das Bauen in der arabischen Welt beeinflussen, und stellt die daraus entstandenen Wohnformen vom Nomadenzelt bis zur dicht bebauten Stadt vor. Ergänzend zum analytischen Teil des Buchs präsentiert Ragette eine Sammlung von mehr als 200 Beispielen traditioneller Architektur aus allen 13 Ländern der arabischen Region. Olafur Eliasson Surroundings Surrounded Herausgeber: Peter Weibel MIT Press ISBN 0-262-73148-7 basics – Grundformen der Architektur Autorin: Franziska Ullmann Springer Verlag ISBN 3-211-83800-7 „Was ist ein Solitär? Was macht einen Solitär zum Monument? Warum ist ein Gebäude profan? Was macht einen Raum zum Sakralraum? Warum wirken Zaha Hadid’s Bauten dynamisch?“ Diese und viele andere Grundfragen zu Architektur und Raumwahrnehmung beantwortet Franziska Ullmann in ihrem Buch „basics“. In direkter Gegenüberstellung von Texten und Bildern internationaler Bauten untersucht sie die Bedeutung und Wirkung architektonischer Grundelemente einzeln und in Kompositionen. Ausgangspunkt ist dabei Wassily Kandinskys Grundlagenwerk „Punkt und Linie zu Fläche“, in dem der Maler eine ähnliche Analyse für die Elemente der Malerei vornimmt. 79 DAYLIGHT & ARCHITECTURE AUSGABE 03 SOMMER 2006 TEXTUREN 80 D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02