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ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 LEBENSRÄUME 10 EURO
FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02 LEBENSRÄUME 10 EURO
DAYLIGHT &
ARCHITECTURE
DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX
DAYLIGHT & ARCHITECTURE
ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Herausgeber
Michael K. Rasmussen
Website
www.velux.de/Architektur
VELUX-Redaktionsteam
Christine Bjørnager
Lone Feifer
Axel Friedland
Jana Masatova
Lotte Nielsen
Torben Thyregod
Auflage
90,000 Exemplare
Redaktionsteam Gesellschaft
für Knowhow-Transfer
Thomas Geuder
Katja Pfeiffer
Jakob Schoof
Bildredaktion
Torben Eskerod
Adam Mørk
Art Direction & Layout
Stockholm Design Lab ®
Kent Nyberg
Sharon Hwang
www.stockholmdesignlab.se
Titelfoto
Quallenschwarm
Foto: Chris Sattlberger /
SPL / Agentur Focus
Recherche und Textredaktion
Gesellschaft für
Knowhow-Transfer
ISSN 1901-0982
Dieses Werk und seine Beiträge sind
urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf
der Zustimmung der VELUX Gruppe.
© 2006 VELUX Gruppe
® VELUX und das VELUX Logo sind
registrierte Markenzeichen mit Lizenz
der VELUX Gruppe.
DISKURS
VON
JAIME
SALAZAR
Foto links von Michael Wolf,
www.photomichaelwolf.com,
courtesy of Hasted Hunt Gallery, New York,
www.hastedhunt.com
Mehr über Lebensräume
erfahren Sie in dieser Ausgabe ab Seite 14.
LEBENSRÄUME
In einer Zeit, in der die vom Menschen entwickelte Technik atomare Größenordnungen errreicht, ist der Bau eines Hauses noch
immer ein relativ vages und unpräzises Unterfangen. Im Gegensatz zu anderen, vollständig computergesteuerten Herstellungsprozessen war und ist Architektur stets ein Erzeugnis von
Menschenhand.
Unsere Lebensräume werden von Menschen entworfen, finanziert und bewohnt. Wünsche und Sorgen, Träume und Frustration,
Konflikte und Harmonie sind entscheidende Bestandteile des Entwurfs- und Bauprozesses; sie gehören zum Leben eines Gebäudes.
Architektur muss sich der widersprüchlichsten Extreme annehmen, sie muss vermitteln zwischen Tradition und Innovation, zwischen der Notwendigkeit des Neuen und der Furcht vor dem Neuen.
Sie muss dem Unerwarteten Raum lassen, muss bereit sein für
Wachstum und Schrumpfung, muss sich ändernde Nutzungen
und Haltungen gleichermaßen aufnehmen können.
Wenn irgend etwas den Namen „Architektur für das Informationszeitalter“ verdient hat, dann eine Bauweise, die noch nicht
als vollendet gilt, wenn das Gebäude steht; eine Architektur, bei
der die Information über künftiges Leben und künftige Nutzungen
in den Entwurfsprozess zurückfließt.
Es gehört zu den offensichtlichen Bestrebungen unserer Gesellschaft, uns in der Gegenwart der Zukunft versichern zu wollen. Die Sorge um unser persönliches und gesellschaftliches
Fortbestehen ist einer der wichtigsten ökonomischen – und ökologischen – Einflussfaktoren überhaupt, und unsere Lebens- und
Wohnräume sind für dieses unser Bestreben nach Sicherheit von
grundlegender Bedeutung.
Architektur bedarf heute mehr denn je der Voraussicht, eher
noch als der technischen Fähigkeiten. An der Spitze des technischen Fortschritts arbeitet der Mensch daran, eine künstliche
Natur zu erschaffen, die der Natur, aus der er entstammt, spiegelbildlich gegenübersteht: Maschinen tragen nahezu lebendige Züge,
während unsere Körper einem zunehmenden Prozess der Artifizierung unterworfen sind. Unsere Computernetzwerke werden
auf ähnliche Weise von Viren angegriffen wie wir selbst. Zugleich
haben wir nach Jahrzehnten der Zerstörung die Fragilität und
Komplexität der Natur als unseres Ursprungs begriffen.
In einer Zeit, in der Innovation für jede Tätigkeit unabdingbar geworden ist, die dem Druck der Globalisierung standhalten will,
kann Architektur nicht länger als rein technische Dienstleistung
verstanden werden. Wir sollten den Prozess des Bauens als einen
Prozess ständiger Verbesserung begreifen, als Ausdruck menschlichen Scharfsinns und Ideenreichtums, und als Übersetzung der
unglaublichen Komplexität unserer Welt in die Praxis des Bauens.
Im Grunde also als das, was sie immer schon war.
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VELUX EDITORIAL
WILLKOMMEN BEI
DAYLIGHT & ARCHITECTURE,
DEM ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
FRÜHJAHR 2006
AUSGABE 02
1
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50
54
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70
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Diskurs von Jaime Salazar
VELUX Editorial
Inhalt
Jetzt
Mensch und Architektur
Architektur ohne Architekten
Lebensräume
Homo Habitans
Reflektionen
Negotiate my boundary!
Licht Europas
Toskana, Italien
Tageslicht im Detail
Open Source Building
VELUX Einblicke
Suburbanes Puzzlespiel
VELUX Panorama
Die Farbe macht den Unterschied –
Wohnsiedlung Hageneiland in Ypenburg
Wochenendhaus in der Stadt –
Haus XXS in Ljubljana
Zeitgenössischer Klassiker –
Villa Karlsson in Västerås
VELUX Dialog
Internationales Symposium
zur Tageslichtqualität
Bücher
Rezensionen
Empfehlungen
Vorschau
In dieser Ausgabe von Daylight & Architecture
laden wir Sie auf eine Reise durch die „Natur
des Wohnens“ ein und präsentieren ganz unterschiedliche und überraschende Blickwinkel auf
einen wichtigen Teil unseres Lebensumfelds – den
Wohnraum.
Als Individuen haben wir alle eine Beziehung
zum Wohnraum, und das macht dieses Thema für
die meisten von uns zu einem Thema von grundlegender Relevanz. Darüber hinaus sind die Entwicklung von Lebensstilen im Laufe der Zeit und in
verschiedenen Teilen der Erde und somit die Traditionen und Tendenzen im Bauwesen von wesentlicher Bedeutung, insbesondere auch für VELUX.
Als internationaler Hersteller von Dachwohnfenstern und Tageslichtsystemen ist es für uns von
höchster Bedeutung, die Relevanz unserer Produkte in gegenwärtiger und zukünftiger Architektur zu suchen und auszubauen. VELUX möchte
alle Initiativen für bessere Lebensräume aktiv unterstützen und die Rolle des Tageslichts bei der
Festlegung von Prioritäten im Entwurf stärken
und fördern. Dieser Fokus ist unser Ausgangspunkt
für einen spannenden Dialog innerhalb der Baubranche – insbesondere mit Architekten.
INHALT
JETZT
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Saisonbeginn im Ice Hotel im kanadischen Québec.
Fliesen und Tapeten, die auf Tageslicht reagieren.
Eine „bedeutungsvolle“ Fassade von Diener & Diener in Malmö. Und: Der Traumbaum, ein Kindergarten in Berlin, wurde von der Studentengruppe
Baupiloten umgebaut.
MENSCH
UND ARCHITEKTUR
ARCHITEKTUR OHNE
ARCHITEKTEN
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2
Wir wünschen uns diesen engagierten Dialog
mit Experten zum Thema Tageslicht und möchten dadurch die architektonische Relevanz unserer Produkte immer aufs Neue überprüfen als auch
unter Beweis stellen. Für uns ist das Tagesgeschäft
eng mit dem Entwurf von Gebäuden verbunden,
insbesondere mit der Konzentration auf Tageslicht
und frische Luft als Voraussetzung für bessere Lebensbedingungen im menschlichen Alltag.
Tageslicht ist unsere Leidenschaft und mit
„Daylight & Architecture“ möchten wir diese Leidenschaft mit Ihnen teilen. In diesem Magazin –
und in den folgenden Ausgaben – sprechen wir
Themen an und stellen unterschiedlichste Ansichten und Meinungen zur vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Architektur mit Tageslicht
und frischer Luft vor, um damit ein Forum für den
professionellen Dialog zu schaffen. Anstatt lediglich vorhersagbare Standardantworten und
Statements zu präsentieren, die niemandem nutzen, möchten wir Fragen aufwerfen und dadurch
gemeinsam mit Ihnen den Architekturdiskurs in
Bezug auf Tageslicht und ein besseres Lebensumfeld inspirieren und voranbringen.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.
Der Österreicher Bernard Rudofsky (1905-1988)
gilt als Wiederentdecker der anonymen Architektur. Sein Text Architecture without Architects – A
Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture“ (Architektur ohne Architekten – eine kurze
Einführung in die nicht-rassereine Architektur) hat
auch 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung
nichts an Relevanz eingebüßt..
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
LEBENSRÄUME
HOMO HABITANS
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Der Mensch und sein Lebensraum, die Erde: Nicht
immer und überall war diese Symbiose bislang
von Harmonie geprägt. Jaime Salazar und Jakob
Schooff beschreiben, wie Menschen die Welt für
sich bewohnbar gemacht haben und wie menschliches Wohnen in der Zukunft aussehen könnte:
urban und doch naturnah, industriell gefertigt und
individuell zugleich, und fähig, sich wechselnden
Nutzungen und Familiengrößen anzupassen.
REFLEKTIONEN
NEGOTIATE MY BOUNDARY!
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Architekten und Bauherren sind im Wohnungsbau
meist auf Erfahrungswerte und Daumenregeln angewiesen, wenn sie die Bedürfnisse der späteren
Bewohner erahnen wollen. Doch es geht auch anders: In negotiate my boundary! – Verhandle
meine Grenzen!! entwerfen die fünf jungen Architekten RAMTV ein Szenario, in dem die Käufer
die Nutzung, Form und Größe ihrer Wohnungen
selbst aushandeln.
VELUX EINBLICKE
SUBURBANES PUZZLESPIEL
54
Eine gesunde soziale Mischung ist das A und O vieler aktueller Wohnbauprojekte in den Niederlanden. In SWANLA, dem „Haus mit vielen Dächern“,
haben die Architekten Drost + van Veen nicht
nur Wohnraum für fast alle sozialen und Altersgruppen geschaffen, sondern den Bewohnern auch
die Möglichkeit gegeben, ihre Wohnungen später
selbst zu erweitern.
VELUX PANORAMA
Kleider machen Häuser – dies gilt zumindest
für Hageneiland, die „Heckeninsel“ im niederländischen Ypenburg, mit ihren 119 Wohnungen
von MVRDV. In Ljubljana haben Dekleva & Gregoric ein Ferienhaus für ein älteres Ehepaar vom
Land gebaut. Und am Ufer des Mälarsees haben
Tham & Videgard Hånsson den Typ des roten
schwedischen Holzhauses auf überraschende
Weise neu interpretiert.
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3
JETZT
Was Architektur bewegt: Veranstaltungen,
Projekte und aktuelle Neuentwicklungen
rund um das Thema Tageslicht.
,TRAUMBAUM’ IM
KINDERGARTEN
FOTO: JAN BITTER
„Die Baupiloten“ nennt sich eine wechselnde Gruppe von Architekturstudenten der TU Berlin. Unter der
Leitung zweier freier Architekten, Susanne Hofmann und Martin Janekovic,
realisierten sie mit sparsamen Mitteln
die Umgestaltung der Kindertagesstätte „Traumbaum“ in Berlin-Kreuzberg. Wie bei allen ihren Projekten
zielten die Baupiloten auch hier darauf ab, Architektur mit sozialem Anspruch zu verbinden: Das insgesamt
47000 Euro teure Umbauprojekt soll
die Lebensqualität in einem sozial problematischen Stadtteil verbessern.
Zentrales Element der Umgestaltung ist der „Traumbaum“, eine Konstruktion aus Gipskarton und hoch
reflektierendem Edelstahl im zentralen Atrium. Der Traumbaum regt
die Fantasie der Kinder an, fördert
die Kommunikation und bietet vielfältige Rückzugsmöglichkeiten: Er kann
glitzern, leuchten und Geräusche erzeugen. Aus dem „Stamm“ wachsen
„Traumblüten“, eine Art Sitzkorb, und
eine Welt glänzender „Silberblätter“,
die sich vom Erdgeschoss bis hinauf
in das Obergeschoss verzweigen.
Setzt sich ein Kind in eine der grün,
blau, gelb oder orange hinterleuchteten Traumblüten, schwingt sie leicht
hin und her. Dabei geben einige Blätter ein wohliges „Schnarchen“ von
sich. Bewegen die Kinder den Schüttelast, so „lacht“ er.
Die Blätter reflektieren auf vielfältige Weise Licht weit in die Flure
hinein. Das Konzept sieht hierfür drei
verschiedene Szenarien vor: Im Winter fangen die Blätter das Tageslicht
im Eingangsbereich ein und lassen
die Blätter an der Flurdecke im Untergeschoss glitzern. Im Frühling und
Herbst wandert das Licht entlang der
Flure durch das Atrium und taucht
sie in ein funkelndes Licht. Im Sommer leiten so genannte „Leuchtblätter“ an der Deckenkante des Atriums
das Sonnenlicht weiter und erhellen
dabei die Decken im Untergeschoss.
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D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
„Das Gussglas, das die äußere Schicht der
Fassade bildet, reflektiert das Licht unregelmäßig und verdeckt die dahinter liegende
Schrift aus glänzendem Metall unregelmäßig. Damit wird das Licht um das Haus zum
eigentlichen Material, das es immer wieder
verändert.“ Roger Diener
VERSTECKTE
BOTSCHAFTEN
FOTO: CHRISTIAN RICHTERS
Auch Malmö lernt, wie viele Städte der
Welt, derzeit die Vorteile seiner Lage
am Wasser neu zu schätzen: Hafenanlagen werden zu Wohngebieten oder
– wie im Fall der „Malmö Lärarhögskolan“ – zum Standort einer Bildungseinrichtung für angehende Lehrer und
Lehrerinnen. Nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt wurde im Herbst
der „Orkanen“ getaufte Neubau der
Architekten Diener und Diener aus
Basel eingeweiht. Je, nach Blickwinkel und Sonnenstand reflektiert die
fünfgeschossige Glasfassade entweder das Blau des Himmels oder lässt
den ins Grüne tendierenden Braunton
der dahinter liegenden Dämmebene
durchscheinen. Verwendet wurde
ein 12 Millimeter starkes Gussglas
mit prismatischer Oberflächenstruktur (Sekurit Typ „Raywall“), das über
Punkthalter an der Rohbaufassade
befestigt ist. Um den optischen Effekt
zu erleben, muss der Betrachter nicht
einmal den Standort wechseln: Durch
die leichte Zickzackform der Fassade
sind reflektierende und durchscheinende Glasflächen stets gleichzeitig
im Blick. Beim senkrechten Durchblick werden hinter dem Strukturglas
zudem Buchstaben aus glänzendem
Metall sichtbar, die sich zum immer
gleichen Wort in unterschiedlichen
Sprachen formen: „Freiheit – Freedom – Vrijhed – frihed – inkululeko“.
Eine Anspielung auf den Entwurf der
Architekten? Diese schreiben über
ihren Neubau: „Es ist ein Gebäude
ohne traditionelle Hierarchien [...] Die
einzelnen Bereiche sind lapidar aneinander gesetzt, nur die Hauptbibliothek legt sich über alle Trakte hinweg
und verklammert das ganze Bauwerk.“
Erkennbar wird auch dies an der Fassade mit ihren wechselnden, bis zu
fünf Meter reichenden Fensterhöhen,
die auf den ersten Blick ausschließlich von funktionaler Notwendigkeit
diktiert werden, sich bei genauerem
Hinsehen jedoch zu einem durchkomponierten Gesamtbild ergänzen.
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FOTO: XAVIER DACHEZ/ICE HOTEL QUÉBEC-CANADA
FOTO: SENSITILE
LICHTREFLEXE
UND SCHATTENSPIELE
Ein japanisches Gedicht über einen
Spaziergang im Bambuswald war –
so behauptet es der amerikanische
Architekt Abhinand Lath – die Inspirationsquelle für seine Erfindung “SensiTile”: Ebenso wie sich
die Bambuspflanzen bei Berührung bewegen und dadurch ständig
neue Schattenrisse entstehen lassen, reagieren auch die “SensiTile”Kunststoff fliesen auf Bewegungen,
Veränderungen in der Farbe und in
der Intensität des Lichts. Sie können
als Bodenbelag, Fassadenbekleidung
oder Auskleidung von Becken, aber
auch als Möbel- und Tischoberfläche
eingesetzt werden.
SensiTiles bestehen aus einer
lichtleitenden Matrix, die in ein Trägermaterial eingebettet ist. Der
Lichttransport geschieht durch Totalreflexion, wie sie von Lichtleitfasern bekannt ist. Die Fliesen reagieren
entweder auf die Abwesenheit von
Licht (also Schatten) oder auf sich
bewegende Lichtquellen. Im ersten
Fall bildet die Fliese jeden Schatten,
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der auf ihre Oberfläche fällt, räumlich
versetzt ab. In hellen Räumen, etwa
bei Tageslicht, verursachen bewegte
Schatten eine Wellenbewegung auf
der Fliesenoberfläche. Bei Dunkelheit
werden einfallende Lichtstrahlen von
der Fliese umgelenkt und treten an
anderer Stelle wieder aus.
Gleichzeitig können die SensiTiles Farben absorbieren und
„durchsickern“ lassen. Einfallendes,
farbiges Licht wird über die gesamte Fliesenbreite gestreut. Bei
mehrfarbigem Licht werden die
Farben gemischt und auf der Fliesenoberfläche neu geordnet. Da die
optischen Eigenschaften von SensiTile materialimmanent sind, wird
kein Stromanschluss benötigt. Die
optischen Effekte werden rein passiv durch externe Lichtquellen erzeugt und bleiben über die gesamte
Lebenszeit der Fliese erhalten.
Noch bis zum 2. April hat das „Ice
Hotel Québec-Canada“ seine Türen
geöffnet. Auch in seiner mittlerweile sechsten Saison heißt das
temporäre Bauwerk seine Gäste
mit 32 Räumen und Themen-Suiten
sowie mit Innentemperaturen knapp
über dem Gefrierpunkt willkommen.
Sein Vorbild ist das Eishotel im nordschwedischen Jukkasjärvi: Dessen
Architektur hatte der Gründer des
Ice Hotel Québec-Canada, Jacques
Desbois, ein Pionier des kanadischen
Öko-Tourismus, eingehend studiert,
bevor er seine Idee im Winter 2000
erstmals in die Tat umsetzte. Von
1000 Quadratmetern im ersten
Winter ist das Eishotel inzwischen
auf 3000 Quadratmeter Fläche gewachsen. Die Struktur besteht aus
12 000 Tonnen Schnee und 400 Tonnen Eis und besitzt Raumhöhen bis
zu 5,4 Metern. 220 000 Menschen
haben das Eishotel seit 2000 besucht, rund 11000 eine Nacht in den
Zimmern verbracht, die ab 199 kanadischen Dollar pro Nacht zu buchen
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
sind. Im April jeden Jahres stellt das
Hotel seinen Betrieb ein und beginnt
zu schmelzen - nur um im Spätherbst
des gleichen Jahres erneut errichtet
zu werden. Damit dabei keine Langeweile aufkommt, werden Innenausstattung und Dekor von Jahr zu Jahr
immer wieder leicht modifiziert. So
gibt es im Eishotel nicht nur Betten
und Sitzbänke, sondern auch einen
Lüster aus Eis mit integrierten Lichtleitfasern.
Das Ice Hotel Québec-Canada
liegt in der Gemeinde Sainte-Catherine-de-la-Jacques-Cartier, 30 Minuten westlich des Stadtzentrums von
Québec City. Es ist entweder mit dem
Auto über den Highway 40 oder per
Bus-Shuttle vom Stadtzentrum aus
erreichbar.
FOTO: SADAR VUGA ARHITEKTI
FOTO: ANNA LÖNNERSTAM
SCHATTEN AN
DER WAND
Räume verändern ihr Aussehen und
ihre Atmosphäre mit dem Lichteinfall. Doch nur selten reagiert eine
Raumoberfläche so direkt auf Tageslicht wie das „Wallpaper by Shadows“
der vier schwedischen Designerinnnen Front Design: Bei künstlichem
Licht ist die Tapete schlicht weiß.
Sobald sie jedoch von der Sonne beschienen wird, erscheinen darauf
violette Schattenrisse von Lampen und anderen Haushaltsgeräten.
„Wallpaper by Shadows“ ist Teil der
Serie „Design by...“, mit der Front Design den Einfluss von menschlichen
Handlungen und Natureinflüssen auf
die Form von Objekten darstellt.
Photochrome Pigmente, wie sie
zum Druck des „Wallpaper by Shadows“ verwendet wurden, sind bereits seit den 60er Jahren bekannt.
Wirkliche Verbreitung fanden sie jedoch erst seit Anfang der 90er Jahre,
zunächst in der Brillenindustrie und
später auch auf T-Shirts, in Nagellack und in zahlreichen Kunststoffprodukten. Vor allem die Werbung
GRÜNE POLITIK
hat die lichtempfindlichen Pigmente
mittlerweile für sich entdeckt. Sie reagieren ausschließlich auf UV-Strahlung und verändern daher ihre
Molekularstruktur (und damit die
Farbe) nur bei Tageslicht, aber nicht
bei künstlichem Licht. Anders als gewöhnliche Pigmente, die einen Teil
des Lichts reflektieren, absorbieren
photochrome Farbstoffe das Licht
teilweise und lassen den Rest passieren. Vor einem schwarzen Hintergrund ist also kein Effekt zu
beobachten. Ideal sind dagegen helle,
möglichst weiße Hintergründe, die
die verbleibenden Lichtanteile reflektieren und damit „farbig“ werden.
Bei den meisten photochromen Pigmenten ist jedoch ein Alterungseffekt zu beobachten: Je länger sie der
UV-Strahlung ausgesetzt sind, desto
weniger kehren sie in ihren transparenten Ursprungszustand zurück.
Ein Nachkriegsbau erstahlt in ungewöhnlichem Licht: Das Bürogebäude
in der Gregorciceva 25 in Ljubljana,
1945 entworfen und in den 50er
Jahren für das jugoslawische Außenministerium errichtet, wird derzeit von den Architekten Jurij Sadar
und Bostjan Vuga umgebaut. Neue
Nutzerin wird die slowenische Regierung sein.
Die einstigen Zweispänner in den
vier Büroebenen werden in Kombibüros umgewandelt. Die neue Mittelzone dient, wie in diesem Bürotyp
üblich, als Treffpunkt für die Mitarbeiter und als Bereich für Pausen; sie ist
jedoch auch ein wesentlicher Teil des
„Bildprogramms“ der neuen Innenarchitektur. Glaswände trennen die
Büros und Besprechungsräume von
den Korridoren und lassen zugleich
das Tageslicht tief in die Büroebenen einfallen. Zwischen den Büroräumen und Fluren bestehen die Wände
aus matt transluzentem Glas mit grünen, aufgedruckten Streifen als Sichtschutz. In der Mittelzone wurden die
Trennwände aus dem gleichen System gefertigt, erhielten jedoch eine
Füllung aus grünen Kunststoff waben im Scheibenzwischenraum. Die
eigens für dieses Projekt hergestellten, transluzenten Waben verleihen
den Flächen eine grafische Struktur,
die sich mit dem Blickwinkel des Betrachters ständig verändert. Im Gegenlicht lösen sie sich in ein flirrendes
Spiel von Linien und Flächen auf, in
dem jedes Gefühl für Maßstäbe und
Entfernungen verloren geht und die
Umrisse der Angestellten nur noch
schemenhaft erkennbar sind.
7
MENSCH UND
ARCHITEKTUR
Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:
Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.
ARCHITEKTUR
OHNE ARCHITEKTEN
Oben Kamerun: Das Bild zeigt
ein ,Saré‘-Haus, wie es ihre
Bewohner, die Hausa, nennen, in
der Stadt Ngaoundéré im Norden des Landes. Es ist mit Stroh
gedeckt und gehört dem Stammeschef.
Text von Bernard Rudofsky.
Fotos von Yoshio Komatsu.
Architecture without Architects – A Short Introduction to Non-Pedigreed Architecture betitelte das
Museum of Modern Art 1964 eine Ausstellung zur
Forschungsarbeit des österreichischen Architekten
Bernard Rudofsky. Der Text ist seinem Buch zur
Ausstellung entnommen und führt in das gestern wie
heute aktuelle Thema ein.
Die in der westlichen Welt dokumentierte und gelehrte
Architekturgeschichte beschäftigt sich seit jeher nur mit wenigen ausgewählten Kulturen. Geografisch umfasst sie lediglich
einen kleinen Teil der Erde – Europa und Gebiete Ägyptens
und Anatoliens, also kaum mehr als die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert bekannte Welt. Zudem widmet sich die
Entwicklungsgeschichte der Architektur in der Regel nur den
späten Phasen. Die Chronisten übergehen gerne die ersten
fünf Jahrtausende, um uns ein farbenprächtiges Szenarium
„formaler“ Architektur zu präsentieren; dieser willkürlich
gesetzten Grenze für den Beginn der Baukunst entspräche in
etwa, das Entstehen der Musik auf das Gründungsdatum des
ersten Symphonieorchesters zu datieren. Die Nichtbeachtung
der Frühstadien mag angesichts der Spärlichkeit damaliger
Bauwerke von architektonischer Bedeutung erklärbar sein, ist
aber nicht entschuldbar – diese Diskriminierung ist vielmehr
bedingt durch die eingeschränkte Sichtweise der Geschichtsschreiber. Zudem wird die uns übermittelte Architekturgeschichte grundsätzlich durch soziale Aspekte beeinflusst: Sie
ist kaum mehr als ein „Who’s who“ angesehener Bauplaner,
die Macht und Wohlstand Ausdruck verliehen, oder eine Anthologie der Gebäude von und für privilegierte Stände – Herbergen christlichen und abtrünnigen Glaubens, Häuser von
Kaufleuten oder Adelsgeschlechtern. Über die Behausungen
kleiner Leute hingegen wird kein Wort verloren. [...]
Architektur ohne Architekten möchte unser enges Verständnis von Baukunst überwinden und uns in die ungewohnte
Welt ursprünglicher Architektur einführen. Diese ist so unbekannt, dass hierfür nicht einmal ein Name existiert. Zur allgemeinen Definition könnte man sie als volkstümlich, anonym,
spontan, ursprünglich und ländlich charakterisieren. Leider
wird unsere Kenntnis von ihr erschwert durch den Mangel
an schriftlichen oder visuellen Belegen. Während wir recht
gut informiert sind über die Kunstformen und ausgefeilten
Techniken von Malern, die vor 30.000 Jahren lebten, schätzen sich Archäologen glücklich, wenn sie über die Überreste
einer Stadt aus dem 3. Jahrtausend vor Christus stolpern. Da
die Frage nach den Anfängen der Architektur nicht nur legitim, sondern eines der Hauptanliegen der Ausstellung ist, müssen zumindest ein flüchtiger Blick und die Bezugnahme auf
mögliche Quellen gestattet sein.
Ein Volk, das auf die Bibel schwört, betrachtet diese selbstverständlich als Grundlage seiner Kultur. Leider ist die Heilige Schrift im Hinblick auf die Architektur wenig ergiebig
und vielmehr verwirrend, wenn wir erfahren, dass Adams
Sohn Kain eine Stadt baute und nach seinem Sohn Henoch
benannte (Genesis IV: 17). Eine Stadt für eine einzige Familie
mag zwar herrlich klingen, ist aber ein höchst extravagantes
Unterfangen, das sich im Laufe der Geschichte niemals wiederholte. Andererseits illustriert dieses Beispiel den atemberaubenden Prozess, wie sich innerhalb nur einer Generation das
glückliche und unbeschwerte Leben im Paradies in den schon
fast ärgerlich komplizierten Organismus einer Stadt verwandelt. Skeptiker, die Henoch als bloße Schimäre abtun, werden der Arche Noah größere Bedeutung beimessen, zumal sie
von Gott selbst in Auftrag gegeben und nach seinen Anweisungen gebaut wurde. Die Frage, ob die Arche eher Gebäude
oder Wasserfahrzeug war, erübrigt sich: Die Arche hatte keinen Kiel (dieser wurde erst später erfunden), und wir können
mit Sicherheit davon ausgehen, dass Schiffe damals noch nicht
bekannt waren, da deren Existenz den Sinn und Zweck der
Sintflut zunichte gemacht hätte. [...]
Gottesleugner, die den Ursprung der Architektur lieber in
der Wissenschaft suchen, werden ein paar harte Brocken zu
schlucken haben: Lange bevor der erste erfinderische Mensch
einige Zweige zu einem löchrigen Dach formte, beherrschten
viele Tiere diese Baukunst bereits vorzüglich. So ist es mehr
als unwahrscheinlich, dass Biber erst durch das Beobachten
menschlicher Dammbauer auf die Idee kamen, selbst Dämme
zu errichten – vermutlich verhielt es sich genau umgekehrt.
Höchstwahrscheinlich wurden die ersten Menschen durch
ihre Artverwandten, die Menschenaffen, zum Bau von Hütten animiert. Darwin beobachtete, dass die Orang-Utans
auf den fernöstlichen Inseln und die Schimpansen in Afrika
Plattformen zum Schlafen errichten, und „da beide Spezies
denselben Gewohnheiten folgen, könnte dies mit instinktivem
Handeln erklärt werden; andererseits können wir nicht völlig ausschließen, dass diesem Verhalten ähnliche Bedürfnisse
beider Tierarten zu Grunde liegen, die vergleichbaren Denkmustern folgen“. Ungezähmte Affen teilen allerdings nicht
das menschliche Bedürfnis, Schutz in Naturhöhlen oder unter
Felsvorsprüngen zu suchen, sondern bevorzugen selbst gebaute
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
9
Linkss Nepal: Bei den Häusern
im nepalesischen Bergdorf
Dhampus ist das vorherrschende Material der Schiefer.
Er findet sich in den teilweise
gekalkten Mauern und als Dachdeckung wieder. Fenster, Stützen und Dachkonsolen sind aus
geschnitztem Holz.
Gegenüberr Mongolei: In der
Mongolei heißen die Jurten
,gers‘. Auf eine kunstvoll
verzierte Holzkonstruktion
angebrachte Filzdecken
schützen das Innere vor
Witterung. Die Ringöffnung des
Einfamilien-Zelts bleibt für den
Luftabzug und als natürliche
Lichtquelle geöffnet.
offene Terrassen. An einer anderen Stelle in Die Abstammung
des Menschen schreibt Darwin, dass „der Orang-Utan sich
bekanntermaßen nachts mit den Blättern des PandanusBaums bedeckt“. Brehm stellte fest, dass einer seiner Paviane
„sich stets eine Strohmatte über den Kopf stülpte, um sich vor
der Sonne zu schützen. In diesen Verhaltensweisen“, so mutmaßte er, „zeigen sich die ersten Schritte hin zu den Anfängen
grober Baukunst und Bekleidung, welche die frühen Vorfahren der Menschen entwickelten“. Jeder Vorstadtbewohner, der
sich die Sonntagszeitung auf den Kopf legt und neben seinem
Rasenmäher einen Mittagsschlaf hält, ist somit Sinnbild für
die ersten Entstehungsformen der Architektur.
Aber sogar bevor Menschen und Tiere die Erde besiedelten,
existierte bereits eine gewisse Art der Architektur, roh geformt
durch die urzeitlichen Kräfte der Schöpfung und zufällig durch
Wind und Wasser zu anmutigen Strukturen geschliffen. Vor
allem Naturhöhlen üben eine große Faszination auf uns aus.
Höhlen waren mitunter die ersten Behausungen der Menschen und werden vielleicht auch wieder ihre letzten sein. In
jedem Falle wurden sie in weiser Voraussicht als Aufbewahrungsort für unsere wertvollsten Artefakte – Regierungsakten
und Geschäftsunterlagen – gewählt. [...]
Obgleich exotische Künste in der westlichen Welt seit langem hohes Ansehen genießen – allerdings nicht ohne diese vorsichtig als „primitiv“ zu betiteln –, hat die exotische Architektur
(wobei „exotisch“ hier im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung „fremdartig“ verwendet wird) bis heute kein großes
Aufsehen erregt und wird nach wie vor lediglich in Geomagazinen und anthropologischen Zeitschriften behandelt. Abgesehen von wenigen regionalen Studien und unsystematischen
Anmerkungen gibt es hierzu keine Literatur. Heutzutage, da
die Kunst des Reisens zunehmend zu einem Industriegewerbe
degradiert wird, übt der Charme von „Postkartenstädten“ und
die „volkstümliche“ Architektur von „Märchenländern“ eine
starke Anziehungskraft aus, die wir allerdings mit gewisser
Herablassung betrachten.
[...] Ein auch nur andeutungsweiser Vergleich der stimmungsvollen Architektur in so genannten Entwicklungsländern mit den architektonischen Errungenschaften in
Industriestaaten ist freilich polemisch. Die orthodoxe Architekturgeschichte stellt die Arbeit des einzelnen Architekten
in den Vordergrund, wohingegen bei ersterer der Gemeinschaftssinn im Mittelpunkt steht. Pietro Belluschi definierte
Volksarchitektur als „eine einfache Kunst, die nicht von einer
Handvoll Intellektueller oder Spezialisten geschaffen wird,
sondern durch die spontane und kontinuierliche sowie experimentelle Leistung eines gesamten Volkes mit gemeinsamem
Erbe entsteht“. Manche mögen einwenden, dass eine solche
Kunst in unkultivierten Zivilisationen keinen Platz habe –
wie dem auch sei, die Lektion, die uns diese Architekturform
lehrt, darf nicht völlig außer Acht gelassen werden.
Bevor die Architektur zu einer Fachkunst wurde, gab es viel
von ihr zu lernen. Die in Raum und Zeit ungeschulten Baumeister demonstrieren ein bewundernswertes Talent, ihre Konstruktionen der natürlichen Umgebung anzupassen. Anders
als wir versuchen sie nicht, die Natur zu „erobern“, sondern
nehmen die Unwägbarkeiten und Herausforderungen der klimatischen und topographischen Verhältnisse vorbehaltlos in
Kauf. Während die Allgemeinheit eine gleichmäßige Beschaffenheit ohne Ecken und Kanten als erstrebenswert ansieht
(jedwede Unebenheit des Bodens kann schließlich mithilfe
eines Bulldozers beseitigt werden), zeigen gebildete Menschen
eine gewisse Vorliebe für raue Landschaften und schrecken
auch nicht vor hoch komplizierten Landschaftsformen zurück.
Die leidenschaftlichsten unter ihnen haben eine Behausung
in wahrlich luftiger Höhe gewählt – die bekanntesten Beispiele hierfür sind der Machu Picchu, der Monte Alban und
die in den Fels gehauenen Bastionen des Mönchklosters auf
dem Berg Athos.
Die Tendenz, Gebäude an schwer zugänglichen Orten
zu errichten, ist zweifellos auf ein Sicherheitsbedürfnis, noch
mehr vielleicht aber auf die Notwendigkeit zurückzuführen,
die Grenzen einer Gemeinschaft zu definieren. In der Alten
Welt sind viele Städte auch heute noch ansatzweise von Gräben, Lagunen, Gletschern oder Mauern umgeben, die bereits
vor langer Zeit ihre Verteidigungsfunktion einbüßten. Die
Mauern mochten zwar kein wirkliches Hindernis für mögliche Angreifer darstellen, konnten aber in jedem Falle eine
unerwünschte Ausbreitung unterbinden. Der Ursprung des
Begriffs „Urbanität“ – hergeleitet vom lateinischen „urbs“
als Bezeichnung einer mauergeschützten Stadt – ist hierauf zurückzuführen. Demzufolge muss eine Stadt, die den
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D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Anspruch erhebt, ein Kunstwerk zu sein, ebenso Grenzen aufweisen wie ein Gemälde, ein Buch oder ein Musikstück. Wir
hingegen, denen eine derart restriktive Form des Städtebaus
unbekannt ist, üben uns in architektonischen Auswüchsen.
Unsere Städte, denen eine gewisse Oberflächlichkeit anhaftet, wachsen und wuchern unkontrolliert wie ein unheilbares
Exzem. In Unkenntnis der Pflichten und Privilegien der Menschen älterer Zivilisationen akzeptieren wir Chaos und Hässlichkeit als unser vorbestimmtes Schicksal und kompensieren
all unsere Befürchtungen angesichts des Übergriffs der Architektur auf unser natürliches Leben mit lahmen und unspezifischen Protestbekundungen.
Unsere Probleme resultieren teilweise aus der Tendenz,
den Architekten sowie allen Experten in diesem Bereich eine
außergewöhnlich genaue Kenntnis unserer Lebensansprüche zu attestieren, obgleich die meisten von ihnen in Wahrheit vorwiegend an Geld und Prestige interessiert sind. Zudem
wird die „Kunst des Lebens“ hier zu Lande weder gelehrt noch
gefördert. Wir neigen vielmehr dazu, diese als eine Form der
Ausschweifung zu betrachten, und verneinen somit die ihr zu
Grunde liegenden Prinzipien wie Mäßigung, Reinheit, die
grundsätzliche Achtung vor der schöpferischen Kunst und
nicht zuletzt die Ehrung der Schöpfung als solche. [...]
Vor allem aber die Menschlichkeitt dieser Architektur sollte
uns berühren. So käme es uns beispielsweise nie in den Sinn,
unsere wüstengleichen Straßen in Oasen zu verwandeln. In
den Ländern, wo deren Funktion noch nicht auf schnellen Verkehrsfluss und Parkplätze reduziert ist, sind die Straßen häufig menschlicher gestaltet durch die Einrichtung von Pergolen
und Markisen quer über der Straße, dachähnlicher Konstruktionen oder Festdächer. Dies ist typisch für den Orient oder
Länder mit orientalischen Wurzeln wie Spanien. Bestes Beispiel der Straßenverschönerung sind Arkaden, greifbare Symbole des menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls oder gar
der Menschenliebe. In unseren Breitengraden unbekannt und
kaum geschätzt, ist diese einzigartig anmutige Bauweise weit
mehr als reiner Wetterschutz oder Verkehrssicherheit für Fußgänger. Sie verleihen dem Straßenbild nicht nur ein einheitliches Aussehen, sondern nehmen häufig auch den Platz antiker
Foren ein. In Europa, Nordafrika und Asien triff t man ständig auf Arkaden, nicht zuletzt, weil sie dort in die „formale“
11
Aus Architecture Without Architectss by Bernard Rudofsky, © 1964
Bernard Rudofsky. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Doubleday/
Random House, Inc.
Der österreichische Architekt Bernard Rudofsky (1905 Wien – 1988 New
York) war in den 60er Jahren Berater des Museum of Modern Art New
York. In seinen zahlreichen Forschungsreisen und -studien rund um den Globus dokumentierte er informelle, nicht in den klassischen Kanon der Architektur eingeordnete Häuser, Wohnbauten und Siedlungen. Rudofsky galt
als sarkastischer Kritiker der westlichen Architektur, und als Visionär
und Pionier erkannte er den künstlerischen und kulturellen Reichtum der
despektierlich als „primitiv“ bezeichneten traditionellen Völker.
12
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Links Indonesien: Die Häuser der
Baju an der Küste der Insel Sulawesi sind aus Magroven gefertigt, ihre Dächer mit Palmblättern gedeckt. Die Menschen
leben von der Zucht und dem
Verkauf von Meeresalgen.
Architektur integriert wurden. Die Straßen in Bologna etwa
werden auf knapp 20 Meilen von portici gesäumt.
In unserer Architektur ähnlich vernachlässigt sind die Orte
der Lebensmittelaufbewahrung. Bei den Völkern, die Nahrungsmittel eher als göttliche Gabe denn als Industrieprodukt
betrachten, wird Kornspeichern durch ihre Architektur ein
derart feierliches Aussehen verliehen, dass diese für den Nichteingeweihten wie Gotteshäuser anmuten. Trotz ihrer geringen
Größe wirken die Lagerhäuser auf der Iberischen Halbinsel,
im Sudan oder in Japan geradezu monumental. Wegen ihrer
stilistischen Reinheit und ihres wertvollen Inhalts erlangen
sie nahezu sakralen Charakter.
Neben der Hohen Volkskunst – der verfeinerten Form überlieferter Architektur in Mittel- und Südeuropa und Südostasien – sowie der primitiven Architektur im eigentlichen Sinne
beschäftigt sich die Ausstellung auch mit der Architektur der
Bildhauer- und Skulpturkunst, beispielhaft dargestellt durch
Behausungen von Einsiedlern und freistehenden Bauwerken,
die aus Stein gehauen wurden. Die rudimentäre Architektur
wird durch Windfänge von teilweise gigantischen Ausmaßen
repräsentiert. In Japan schützen und umhüllen sie ganze Häuser, Siedlungen oder gar Dörfer. Die Architektur der Nomadenvölker ist in Form von transportablen Häusern, Häusern
auf Rädern, Schlittenhäusern, Hausbooten und Zelten vertreten. Zu den Ausstellungsstücken protoindustrieller Architektur gehören sowohl vertikale als auch horizontale Wasserräder
und Windmühlen sowie Taubenschläge als Beispiele des landwirtschaftlichen Nutzungsbaus. Diese Architektur mit zwar
„geringem Ideenreichtum, aber ausgefeilten Funktionsdetails“
dürfte für uns eher unter mechanischem Gesichtspunkt als
unter ästhetischem Aspekt interessant sein.
Erfahren können wir, dass viele „primitive“ Lösungen in
ihrer kühnen Art unserer schwerfälligen Technologie nicht
selten etwas voraus haben. Zahlreiche unserer in den letzten
Jahren entwickelten Techniken wie Fertigbauweise, Standardisierung von Bauteilen, flexible und bewegliche Strukturen
in Form von Bodenheizungen, Klimaanlagen, Lichtsteuerung
und sogar Aufzügen sind für die volkstümliche Architektur
ein alter Hut. Zudem bekommen wir die Möglichkeit, die
Annehmlichkeiten unserer Wohnungen zum Beispiel mit dem
gering geschätzten Komfort afrikanischer Hausarchitektur zu
Gegenüber Türkei: Spitz
zulaufende Felsen charakterisieren Kapadokiens Landschaft.
Der Stein ist vulkanischen
Ursprungs und deshalb weich
und leicht zu bearbeiten. Immer
seltener wohnen Menschen in
den in die Felsen gehauenen
Häusern. Im 4. und 5. Jahrhundert waren es vor allem
christliche Mönche, die sich hier
niedergelassen hatten.
vergleichen, die für einen Mann von hohem Rang sechs separate Behausungen für seine sechs Ehefrauen vorsieht. Oder wir
können sehen, dass, lange bevor moderne Architekten unterirdische Städte in dem optimistischen Glauben planten, diese
könnten uns in zukünftigen Kriegen Schutz bieten, solche
Städte schon seit geraumer Zeit auf mehreren Kontinenten
existierten und nach wie vor bestehen.
Es birgt eine gewisse Ironie, dass der typische Städter zwecks
körperlicher und geistiger Entspannung von Zeit zu Zeit gerne
aus seiner komfortablen Umgebung flieht und sich in primitive
Behausungen wie Hütten und Zelte oder im Extremfall gar in
abgelegene Fischer- oder Bergdörfer zurückzieht. Ungeachtet
aller Vorzüge moderner Technik und Mechanik suchen Stadtmenschen erstaunlicherweise Erholung gerade ohne derartige
Bequemlichkeiten. Auch wenn es zunächst unlogisch klingen
mag: Das Leben in der alten Welt birgt besondere Vorzüge.
Anstatt täglich kilometerlange Fahrten zum Arbeitsplatz in
Kauf nehmen zu müssen, trennen den Menschen hier womöglich nur ein paar Stufen von seinem Zuhause zur Arbeitsstätte. Da er für die Gestaltung und Bewahrung seines Umfelds
selbst verantwortlich ist, wird er dessen auch nicht überdrüssig
und zeigt zudem wenig Interesse an „Verbesserungen“. Ebenso
wenig wie Spielzeug einem Kind menschliche Liebe ersetzen
kann, ist keine noch so raffinierte technische Erfindung Entschädigung für mangelnde Lebensfreude.
Namenlose Baumeister sind sich nicht nur der Notwendigkeit bewusst, dem Wachstum einer Gemeinschaft Grenzen zu setzen; vielmehr erkennen sie auch bestens die Grenzen
der Architektur selbst. Höchst selten ordnen sie das Allgemeinwohl dem Streben nach Profit und Fortschritt unter. In
diesem Sinne halten sie es mit den Worten des bekannten
Kulturhistorikers Huizinga: „Die Erwartung, dass jede Neuentdeckung oder die Vervollkommnung bestehender Mittel
zwangsläufig höhere Wertigkeit oder Glück und Zufriedenheit verspricht, ist äußerst naiv … es ist keinesfalls paradox zu
behaupten, dass eine Kultur am wahren und spürbaren Fortschritt zu Grunde gehen kann.“
13
LEBENSRÄUME
Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft menschlicher Wohnungen –
und der professionelle Dialog, in dem sie entstehen
Kein anderer Ort spiegelt unsere Persönlichkeit so genau wider
wie unser Zuhause. Seine Grundfunktionen – im physikalischen
wie psychologischen Sinne – sind über die Jahrhunderte hinweg
dieselben geblieben, sein Entwurf und Bau sind jedoch zur Aufgabe von professionellen Architekten, Baumeistern und Lieferanten der Baubranche geworden. In ihrem Artikel beschreiben
Jaime Salazar und Jakob Schoof diese Herausforderung, die nicht
nur eine enge Zusammenarbeit zwischen allen am Planungsprozess beteiligten Personen, sondern möglicherweise auch neue
Grundregeln für die eigentliche Planung beinhaltet.
14
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Folgende Doppelseite Apartmenthochhäuser in den Vororten von Hong Kong. Mangel an
Bauland und ständig steigende
Bevölkerungszahlen haben in
Hong Kong Wohndichten bis zu
8000 Einwohnern pro Hektar
entstehen lassen. Dicht an dicht
erheben sich die Wohntürme mit
dem euphemistischen Namen
‚Harmony Blocks‘ über mehreren
Geschosse hohen Sockelbauten,
deren Dächer als Themenparks
gestaltet sind.
Rechtss Fritz Lang: Metropolis
(Germany 1926). In seinem Film
zeichnet Fritz Lang die düstere
Zukunftsvision einer Gesellschaft, die sich in der aus den
Fugen geratenen Welthauptstadt Metropolis manifestiert:
Die Oberschicht lebt in nahezu
paradiesischen Verhältnissen,
während die Arbeiter als minderwertig gelten und in einer Art
Unterwelt in den Tiefen der Erde
dahinsiechen.
HOMO H
15
HABITAN
NS
LEBENSRÄUME
1. Le Corbusier: Der Modulor (1947). Ausgehend von zwei
Grundmaßen (1,83 Metern – der
menschlichen Körpergröße – und
2,26 Metern – der Fingerspitze
der erhobenen Hand – bildete Le
Corbusier dieses auf dem Goldenen Schnitt beruhende Maßsystem für seine Bauten. Vor allem
die ‚Unités d’Habitation‘ sind von
der Gesamtproportion bis zum
Mobiliar vollkommen durch das
Regelwerk geprägt.
1
2. Future Systems: Haus in
Wales (1994). Aus der Ferne ist
von dem an der Küste gelegenen
Haus nichts zu sehen außer seiner Glasfassade, in der kleine
‚Bullaugenfenster‘ die Belüftung sicherstellen. Das Dach ist
mit Gras bewachsen, einen Garten gibt es nicht – das Haus ist
ein Objekt in der Landschaft, ein
„Auge, das auf das Meer hinausblickt“, wie die Architekten
schreiben. Im Inneren öffnet sich
ein einziger, großer Raum mit dem
Kaminfeuer in der Mitte.
DIE
NATUR DES
WOHNENS
2
Rechts Mit seiner Vision der
‚Urhütte‘ gab Abbé Laugier der im
18. Jahrhundert weit verbreiteten
Rückbesinnung auf die Wurzeln der
Architektur Ausdruck. Obgleich die
Urhütten-Idee von zahlreichen Zeitgenossen Laugiers als naiv kritisiert
wurde, gilt sie doch bis heute als
bekanntestes Sinnbild für die natürlichen Ursprünge allen Bauens.
Vorangehende Seite Ein Quallenschwarm. Die Zeiten, in denen der
Mensch ohne festen Wohnort im
Naturraum umherschweifte, sind
lange vorbei. Seine Eigenschaft als
Herdentier hat er sich indessen erhalten – auch wenn sich das Menschenbild in der modernen Gesellschaft
zunehmend individualisiert hat.
Eine der berühmtesten Illustrationen zum
Ursprung der Architektur zeigt einen Putto
und eine Frauengestalt,die sich durch einen
Kompass und eine antike Säule als Personifikation der Architektur zu erkennen gibt.
Beide zeigen auf eine Holzkonstruktion im
Bildhintergrund, die von vier Bäumen getragen wird, deren Zweige, Äste und Blätter
ein Dach bilden.
Die Illustration erschien erstmals 1753
im ‚Essai sur l’architecture‘ von Abbé MarcAntoine Laugier, einem Geistlichen und
ehemaligen Jesuitenmönch. Seine Theorie über die ‚Urhütte‘ als Ursprung jeglicher
Architektur war eine Reaktion auf den vorherrschenden Stil der Zeit, das Rokoko, mit
seinen überschwänglichen Formen und
üppigen Ausschmückungen. Im Gegensatz
dazu war Laugiers Essay ein ‚rappel à l’ordre‘,
ein Zurück zur Vernunft und Bescheidenheit,
18
und ein Versuch, die zeitgenössische Architektur mit ihren Ursprüngen, das heißt mit
der Natur, zu verbinden.
Seit der Antike haben andere prominente Theoretiker ähnliche Überlegungen
zu Natur und Architektur angestellt. Vitruv
definiert in seinem Werk ‚De architectura
libri decem‘ primitive Arten der Architektur (Laubhütten, Schwalbennester und
Höhlen), welche natürliche Formen imitieren oder adaptieren. Wie Vitruv stellten die Renaissancearchitekten Filarete,
Alberti und Francesco di Giorgio Martini in
ihren Abhandlungen über Proportion und
Konstruktion den menschlichen Körper
als wichtigstes Vorbild für die Architektur
heraus. All diesen Gedankengängen liegt
eine unbestreitbare Logik zugrunde: Für
gewöhnlich stellen wir Naturgesetze nicht
in Frage, sondern nehmen sie als gegeben
hin. Weshalb sollte also eine Architektur in
Frage gestellt werden, die auf natürlichen
Gesetzen und Proportionen beruht? Auch
die moderne Architektur hat sich oft als ahistorisch und unnatürlich hinsichtlich ihrer
Formen im Bezug zum menschlichen Körper bezeichnet und beruht doch auf Naturgesetzen – in diesem Fall hauptsächlich auf
der ‚Natur‘ der Materialien, welche letztendlich die gesamte Konstruktion und den Großteil der Ästhetik des Gebäudes beherrschen.
Es scheint, dass Natur ein dehnbarer Begriff
geworden ist, den selbstverständlich jede
Epoche anders auslegt. Welches Verständnis haben wir am Ende der Industrialisierung
und im fortgeschrittenen Informationszeitalter von Natur?
Die zeitgenössische Beziehung zur Natur
ist das Ergebnis einer langen Geschichte
zunehmender Domestizierung und Kon-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
trolle. Das prähistorische Zeitalter kannte
den heutigen Dualismus von Kultur und
Natur nicht. Der Mensch war Teil der Natur
und hatte keine Mittel, abgesehen von
kleinsten Bereichen seines unmittelbaren
Lebensumfelds, seine Umwelt zu kontrollieren. Mit der Domestizierung des Feuers und
den ersten festen menschlichen Siedlungen
begann der Mensch Schritt für Schritt, die
Natur an seine Bedürfnisse anzupassen und
sie letztlich in einer künstlerischen Weise
zu gestalten. Am Ende des Mittelalters ist
die „natürliche“ Natur an den meisten Orten
Europas einer kultivierten Landschaft gewi-
3. Frei Otto: Wohnhaus für Ted Happold (1995). Das am Stadtrand von
Bath gelegene Haus aus begrünten
Gitterschalen sollte keine fossile
Energie verbrauchen. Drei Energiequellen werden genutzt – Sonne,
Erdwärme und Wind. Sonnenenergie wird über Kollektoren auf dem
Dach und am Mast gewonnen, ein
Windrad am Haus erzeugt Windenergie und ein Erdwärmespeicher
sorgt für warme Luft, die ins Haus
geblasen wird.
3
sehbar, dass dieses bald von der Metropole
verschluckt werden würde, die Mitte des
19. Jahrhunderts alle zehn Jahre um zirka
200.000 Einwohner anwuchs. Heute ist der
Central Park „ein Zufluchtsort. Es ist ein Ort,
an dem jeder den ungebändigten Rhythmus,
der New York zur aufregendsten Stadt der
Welt macht, ändern kann“, so die offizielle
Website des Parks. Der Central Park ist mehr
als eine Freizeiteinrichtung; er ist zu einem
zentralen Aspekt des täglichen Lebens vieler New Yorker geworden.
Die Frage, ob naturbelassene Räume
von der menschlichen Ausbeutung ausge-
technische Werkzeuge, die noch vor einem
Jahrhundert undenkbar waren, und die technische Entwicklung wurde derart beschleunigt, dass der Mensch als natürliches
Lebewesen selbst kaum noch Schritt halten kann. Wissenschaftler erklären dieses
Phänomen wie folgt: Die Weltbevölkerung
vermehrt sich exponentiell. Gleichzeitig
ermöglichen moderne Technologien jedem
von uns die Kommunikation mit weit mehr
Menschen, als dies früher der Fall war. Wenn
wir jede Kommunikationsbrücke zwischen
zwei Menschen als Einheit für mögliche
Innovation sehen, dann hat das Wachstum
4. Robert Bruno: Steel House,
Ransom Canyon, Texas, USA
(1978-2002). Irrtümlicherweise könnte man das hoch
über einem Canyon gelegene
Haus für eine Skulptur halten. Es besteht aus hunderten
von Stahlplatten, die Robert
Bruno in Handarbeit zusammenschweißte. Sein leicht korrodiertes ‚Innenleben‘ erinnert
entfernt an die neogotischen
Gewölbe Antonio Gaudís.
tektur, die Bernard Rudofsky mit seinem
Buch ‚Architecture without Architects‘
wiederzubeleben suchte, ist zu einem weit
verbreiteten Bezugspunkt auch für zeitgenössische Architekten geworden. Rudofsky
schreibt: „Anonyme Architektur unterliegt
keiner Mode. Sie ist beinahe unveränderlich,
sogar unverbesserlich, da sie ihren Zweck
außerordentlich gut verfolgt.“ Die anonymen Baumeister früherer Jahrhunderte
versuchten, ihre Gebäude in die Landschaft
und das umliegende Ökosystem zu integrieren, weil ein Konflikt mit dem, was immer
da war, für sie undenkbar war. Wir bewun-
5–6. ‘Landmark Houses’, Lower Mill
Estate, England (2005). Die Lower
Mill Estate in den Cotswolds ist
Englands größtes Naturreservat in
Privatbesitz. Nun will der Investor
Jeremy Paxton hier 46 ‚Landmark
Houses‘ nach Entwürfen internationaler Stararchitekten bauen lassen,
unter anderem von Will Alsop, Piers
Gough, Eva Jiricna, Sarah Featherstone und Roger Sherman. Der Preis
der Häuser wird auf rund zwei bis
fünf englische Pfund geschätzt.
schlossen werden sollen, ist möglicherweise
wichtiger als je zuvor. Wir haben erkannt,
dass biologische Vielfalt, stabiles Klima und
vieles mehr von den ‚grünen Lungen‘ unseres
Planeten abhängen. Wir haben auch erkannt,
dass eine durch Agrikultur geprägte Landschaft nicht denselben ökologischen Wert
wie originäre Regenwälder und naturbelassene Sümpfe hat. Daher werden große
Gebiete vor der weiteren Ausbeutung
geschützt. Zu den bemerkenswertesten
Beispielen gehört Costa Rica, immer noch
eines der ärmsten Länder Lateinamerikas,
wo fast ein Viertel des Landes unter Naturschutz gestellt wurde.
Nach wie vor schreiten die Domestizierung und Neugestaltung der Natur voran, im
Kleinen wie im Großen, bei der Genmanipulation wie in gigantischen Landschaftsarchitekturprojekten. Wir verfügen über
dieser Einheiten das Bevölkerungswachstum bei weitem überflügelt.
Das rapide Wachstum der Informationen und technischen Möglichkeiten hat
unter anderem zu einer bruchstückhaften
Weltsicht geführt. Generalisten wie Leonardo da Vinci, Isaac Newton oder Albert
Einstein sind buchstäblich aus der Wissenschaft und dem Ingenieurwesen verschwunden. Der technologische Fortschritt
(auch beim Entwerfen und Bauen von Häusern) hängt immer stärker von der Kommunikation und Kooperation zwischen
Fachleuten ab. In der Architektur hat diese
zunehmende Zerstückelung und Spezialisierung viele Theoretiker und Praktiker
veranlasst, wie Abbé Laugier zu den Wurzeln zurückzukehren und Planungs- und
Konstruktionskonzepte radikal zu vereinfachen. Die anonyme, volkstümliche Archi-
19
Kommunikation zwischen Architekt, Baumeister und Bewohner beruhen.
Die Spezialisierung in der zeitgenössischen Architektur ist, zumindest in den
Industrienationen, zur Realität geworden,
und der ‚anonyme‘ Ansatz im Entwerfen und
Bauen, wie ihn Rudofsky untersucht, ist eine
Ausnahme. Dennoch könnte auch der Serienund Fertigbau wesentlich profitieren, wenn
eine ähnliche Nähe zwischen allen Beteiligten im Planungsprozess erreicht würde.
5
4
chen. In der Renaissance fallen die Stadtmauern und in Italien entstehen außerhalb
der Stadtgrenzen die ersten Villen, und die
erste großen Projekte der Landschaftsarchitektur werden realisiert.
Die Umwandlung der Natur erhält nunmehr eine neue Qualität, und die Agrarrevolution weicht der industriellen Revolution.
Das Landschaftsbild wird immer häufiger
in ‚Stadtbilder‘ transformiert, in welche die
Natur in Form von Parks und Gärten vom
Menschen zurückgebracht werden muss.
Weitsichtige Planer haben diese Notwendigkeit schon früh in der Entwicklung der Städte
vorausgesehen. Als Fredrick Law Olmsted
und Calvert Vaux 1857 ihren ‚Greensward
Plan‘ für den Central Park in New York
zeichneten, war der spätere Park noch ein
unbewohntes Sumpfgebiet außerhalb der
Stadtgrenze. Es war jedoch schon vorher-
dern die anonyme Architektur noch immer
für ihren scheinbar mühelosen Umgang mit
den rauesten Klimata, den schwierigsten
Baugrundstücken und den knappsten Ressourcen. Angesichts dieser ursprünglichen
Architektur stellt sich instinktiv ein Gefühl
der Einheit von Standort und Gebäude, Form
und Funktion, Konstruktion und Ausstattung ein. Diese Einheit ist nicht nur Ergebnis
von jahrhundertealter Tradition und Reife,
sondern auch der Tatsache, dass anonyme
Gebäude in der Regel von denselben Personen entworfen, gebaut und ausgestattet
werden und damit auf der denkbar engsten
6
„WENN WIR VON ‚NATUR’ SPRECHEN,
SOLLTEN WIR DABEI NICHT VERGESSEN
DASS WIR SELBST EIN TEIL DER NATUR SIND.
WIR SOLLTEN UNS MIT DERSELBEN NEUGIER
UND OFFENHEIT BETRACHTEN, MIT DER WIR
EINEN BAUM, DEN HIMMEL ODER EINEN GEDANKEN
BETRACHTEN, DENN AUCH WIR SIND
MIT DEM GESAMTEN UNIVERSUM VERBUNDEN.”
HENRI MATISSE
HOME
DREAM
Wohnen ist ein überaus persönliches Thema.
Der Bau oder Kauf eines Hauses ist möglicherweise das wichtigste Ereignis in der
Geschichte einer Familie. Jedoch ist der
Begriff ‚Haus‘ nicht gleichbedeutend mit
‚Zuhause‘. Ein Haus ist ein physisch definiertes Objekt, zwar bewohnt, aber nicht
zwangsläufig individuell gestaltet; ein Bauwerk aus Wänden, Dach und Fenstern, die
uns vor den Elementen schützen, und ein
Besitztum im ökonomischen Sinne. Wenn
wir von einem ‚Haus‘ sprechen, meinen wir
damit in der Regel die Konstruktion und
LEBENSRÄUME
ZU HAUSE
BEI SICH
13. Rob Krier, Christoph Kohl:
Zitadelle Broekpolder in Heemskerk, Niederlande (seit 2001)
Ein neues Stadtzentrum für Wohnen und Arbeiten in Form einer
Renaissancestadt: Die „Zitadelle“ Broekpolder liegt zwischen
den Gemeinden Beverwijk und
Heemskerk westlich von Amsterdam. Charakteristisch für das
Quartier ist eine relativ dichte
Bebauung mit traditionellen
Straßen- und Platzformen sowie
einem Kulturzentrum mit Turm
als Mittelpunkt.
7–8. The Village at Hiddenbrooke, Kalifornien (seit 2000). Ein Dorf wie aus
einem Gemälde: Die Siedlung ‚The Village‘ im kalifornischen Hiddenbrooke
zählt vor allem Anhänger des amerikanischen Idyllenmalers Thomas Kinkade
zu ihren Einwohnern, denn sie wurde
bis ins Detail den Sujets des Malers
nachgebildet. Angeboten werden vier
Fertighaustypen, die der Investor – mit
Lizenz von Kinkades Firma – nach dem
Vorbild der Cottages auf dessen Bildern
gestaltet hat.
8
9–11. Jakriborg in Schweden (seit
1999). New Urbanism auf Schwedisch:
Jakriborg, eine zeitgenössische ReInterpretation einer alten Hansestadt,
wird seit 1999 durch die schwedische
Jakri AB in der dicht besiedelten Ebene
zwischen Malmö und Lund gebaut. Fassade und Stadtmöblierung wurden bis
ins Detail den historischen Vorbildern
nachempfunden, doch anders als diese
besitzt Jakriborg keinen Zugang zum
Meer. Die Häuser werden nicht verkauft, sondern ausschließlich zur Miete
angeboten.
12. Sean Godsell: Park Bench House,
Melbourne (2002). In Melbourne, der
‚lebenswertesten Stadt der Welt‘, wie
sie sich selbst in der Werbung bezeichnet, sind rund 1,7 Prozent aller Einwohner ohne festen Wohnsitz. Für sie
entwarf der Architekt Sean Godsell das
‚Parkbankhaus‘, das tagsüber als Sitzgelegenheit und nachts als MinimalObdach dient.
7
Sprachgebrauch unterstreicht dies: Wir
‚befinden uns‘ im Haus, ‚fühlen uns‘ jedoch
zu Hause.
In dieser Hinsicht spielt ein Zuhause eine
dreifache Rolle. Es dient uns als Zuflucht vor
der Außenwelt. Je mehr Disharmonie uns
draußen in der Welt begegnet, desto mehr
benötigen wir ein Zuhause als seelische
Stütze und Ort der Sicherheit. In seinem
Buch ‚Sesame and Lilies‘ von 1865 macht
John Ruskin eine Beobachtung, die noch
heute gültig ist. Er schreibt: „Darin besteht
die wahre Natur des Heims – es ist der Ort
äußere Hülle, nicht aber den Innenraum mit
seiner persönlichen Einrichtung und den Alltagsdingen, mit denen wir unserem Leben
Inhalt zu verleihen suchen.
Der Begriff ‚Zuhause‘ dagegen löst
Gedanken an innere Räume aus, die mit
Worten schwer zu fassen sind, jedoch um
so genauer unsere eigene Persönlichkeit
widerspiegeln. Langsam und über den Zeitraum vieler Jahre schaffen wir uns innerhalb unserer Häuser mit Möbeln, Dekoration,
geliebten Gegenständen und unvergesslichen Erinnerungen ein Zuhause. Nach
Ansicht des finnischen Architekturtheoretikers Juhani Pallasmaa ist „Zuhause vielleicht gar kein Begriff aus der Architektur,
sondern aus der Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie“.1) Pallasmaa beschreibt
das Wesen eines Zuhauses als „Spiegel
und Stütze der Seele des Bewohners“ Der
22
des Friedens: die Zuflucht nicht nur vor
aller Verletzung, sondern vor allem Schrecken, allem Zweifel, aller Zwietracht. Wenn
es dies nicht ist, dann ist es kein Heim; wenn
die Ängste des äußeren Lebens eindringen,
wenn Mann oder Frau die wankelmütige,
lieblose, feindselige Gesellschaft über die
Schwelle lassen, dann hört es auf, Heim zu
sein: dann ist es nur noch ein überdachter
Teil der äußeren Welt, in dem man ein Feuer
entzündet hat.“2)
Zweitens bietet ein Zuhause einen räumlichen und emotionalen Rahmen für die meisten Rituale unseres alltäglichen Lebens:
Essen, Schlafen, Körperpflege, Familienleben
mit seinen kleinen Tragödien und glücklichen
Momenten sind in unserem Zuhause verortet.
Es liegt daher auf der Hand, dass einem Architekten, der ein wirkliches Zuhause für einen
Menschen entwerfen will, enormes Geschick
abverlangt wird, und dass er die Persönlichkeit seines Bauherrn genau kennen muss.
Nach Ansicht des niederländischen Architekten Jacob Beend Bakema kann ein Ort,
der es verdient, ‚Zuhause‘ genannt zu werden,
nur dann entstehen, wenn dem Bewohner
Freiräume gelassen werden: „Wir sollten die
Wohnung im Entwurf nur so weit definieren,
wie das Individuum selbst daran teilhaben
kann. Wir wollen einen Rahmen vorgeben,
in dem der Mensch wieder der Herr seines
Zuhauses, seiner Privatsphäre innerhalb des
Universums wird.“ 3)
14. Rob Krier, Christoph Kohl:
Brandevoort, Niederlande (seit
1998). Instant History im Süden
Hollands: Rob Kriers erste neotraditionalistische Stadtplanung
in den Niederlanden zeichnet
bis ins Architekturdetail das
Bild einer historisch gewachsenen Kleinstadt nach. Das Zentrum von Brandevoort trägt
nicht umsonst den Beinamen
‘Veste’: Es ist komplett von einem
Wassergraben umgeben. Als Mittelpunkt der Kleinstadt dient
eine Markthalle, die von einem
künstlichen Teich flankiert wird.
Drittens ist ein Zuhause ein Speicher
für Erinnerungen, insbesondere in alten
Häusern, in denen unzählige feine Schichten
von Staub und Patina vom Leben früherer
Bewohner erzählen. In seinem Buch ‚Poetics of Space‘ reflektiert Gaston Bachelard
das Haus unserer Träume, das heißt, die Vorstellung eines Hauses, die wir im Kopf haben
(Bachelard unterscheidet in seinem Buch
nicht zwischen ‚Haus‘ und ‚Zuhause‘). Wenngleich er über die Größe dieses Hauses keine
eindeutige Aussage triff t (er deutet Häuser
mit drei bis vier Stockwerken an), beschreibt
er das Vorhandensein eines Dachbodens
und eines Kellers als unverzichtbar, weil
der Dachboden der symbolische Speicher
schöner Erinnerungen ist, wohingegen der
Keller zum Verstecken unangenehmer Erinnerungen dient. Laut Bachelard benötigen
wir beides für unser Wohlbefinden.
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Es ist in diesem Sinn geradezu symptomatisch, dass die Architektur des 20.
Jahrhunderts Keller und Dachböden oft für
entbehrlich hielt. Gerade die Nachkriegsmoderne beschränkte sich vielfach darauf,
den Menschen kostengünstig Obdach und
Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Für das
Entwerfen und Bauen war weniger die Psyche der Bewohner maßgeblich, sondern die
Prinzipien der Standardisierung und wirtschaftlichen Effizienz. Das Ergebnis war
eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der
Fähigkeit der modernen, seriellen Architek-
zu beschreiben, welche ihre Wurzeln in einem
der ersten Disney-Themenparks der Fünfzigerjahre hat: Viele Spezialisten aus verschiedenen
Fachgebieten – Stadt- und Infrastrukturplaner, Architekten, Bauingenieure und Marketingspezialisten – arbeiten von der ersten
Planungsphase an eng zusammen mit dem
Ziel, den späteren Bewohnern und Besuchern
der Siedlung ein möglichst intensives Erlebnis
zu bereiten. Dabei sollte erwähnt werden, dass
der New Urbanism nicht darauf abzielt, historische Vorbilder in jeder Hinsicht zu kopieren.
Er kombiniert lediglich ihr äußeres Erschei-
nymen Wohngegenden der Nachkriegszeit
wieder aufleben lässt. Der folgende Auszug
einer Rede des Prinzen von Wales erklärt
die zu Grunde liegenden Prinzipien: „Deshalb wollte ich in Poundbury ein Beispiel
einer gemischt genutzten, am Fußgänger
orientierten Siedlung schaffen, die den Charakter und die Tradition des Ortes widerspiegelt. [... Poundbury] lehrt uns etwas ganz
Einfaches: ein Netz lesbarer, miteinander
verbundener Straßen, die dem Auto Platz
bieten und gleichzeitig den Fußgänger hochleben lassen; die zentrale Lage fußläufig
10
Die uneingeschränkte ästhetische Integrität, die viele New Urbanists in ihren Entwürfen anstreben, ist kaum erreichbar, ohne
dass das Leben in den Siedlungen streng
reglementiert wird. Ferner ist fraglich, ob
die Siedlungen der New Urbanists wirklich
die gesunde gesellschaftliche Mischung erreichen, welche ihre Planer vorgesehen haben.
Der Drahtseilakt zwischen erschwinglichem
Wohnraum und Unterbringung zu Marktpreisen ist zwar ein ehrenwertes Vorhaben, in der
Praxis ist er jedoch sehr schwer umzusetzen –
schwerer jedenfalls, als die Erfinder des New
und dennoch sind viele zeitgenössische neohistorische Siedlungen Beispiele für eben
dieses Phänomen, weil der Markt (und oftmals auch staatliche Förderprogramme)
den Bau von neuen Häusern in Vorstädten
erschwinglicher macht als in den Zentren.
Obwohl Stadtreparatur und die Weiterentwicklung des Bestands zu den vorrangigen
Ziele des New Urbanism gehören, beginnen
viele neoklassizistische oder neumittelalterliche Siedlungen mit der gleichen städtebaulichen ‚tabula rasa‘ wie ihre Gegenstücke aus
der Zeit der Moderne. Ihr Planungsansatz
13
11
14
9
tur, uns ein wahres ‚Zuhause‘ zu bieten. Der
Mensch sucht Sicherheit, Verlässlichkeit und
schöne Erinnerungen in Gebäuden, deren
Form und Ikonographie seit Jahrhunderten
in Gebrauch sind, und in einem Umfeld, das
auf menschlichen Maßstäben und Proportionen sowie auf einem Verkehrsnetz beruht,
das der menschlichen Geschwindigkeit (also
dem Schritttempo) angepasst ist. Der New
Urbanism, jene Bewegung, die genau diese
Prinzipien hochhält, nahm seinen Anfang in
den Achtzigerjahren in den USA. Ursprünglich zielte der New Urbanism nicht darauf
ab (und nach Aussage seiner Anhänger
ist es bis heute nicht sein Ziel), bestimmte
Architekturstile zu fördern, sondern ein Verständnis von Urbanität, das den Maßstab
und die Geschwindigkeit des Menschen
sowie das Leben in der Gemeinschaft als
Alternative zu den autofreundlichen, ano-
erschlossener Wohngebiete in Blockrandbebauung, die Arbeit, Einkaufen und Wohnen auf harmonische Weise verbinden; ein
Drahtseilakt zwischen erschwinglichem
Wohnraum und Unterbringung zu Marktpreisen, und schließlich der Verlass auf traditionelle Stadtplanung, lokale einheimische
Architektur und natürliche Materialien, welche dem Alltagsleben Harmonie, Proportion
und, am wichtigsten, etwas wie ‚Schönheit‘
wiedergeben.“4)
Die Planungsstrategien der New Urbanists für ihre – oftmals thematisch gestalteten – Siedlungen besitzen unterschiedliche
Namen, beruhen jedoch auf demselben
Ansatz. Niederländische Stadtplaner haben
den Begriff ‚simultanes Engineering‘ geprägt,
die Disney Company verwendet das Wort
‚Imagineering‘ (zusammengesetzt aus ‚Image‘
[Bild] und ‚Engineering‘), um eine Strategie
nungsbild mit modernen Annehmlichkeiten –
sowohl hinsichtlich technischer Ausstattung
und räumlicher Planung. Selbstverständlich
existieren auch in den Entwürfen der New
Urbanists Parkplätze; sie werden jedoch im
Inneren der Gebäudeblocks verborgen. Diese
scheinbare ‚Unehrlichkeit‘ wird den Neotraditionalisten oft zum Vorwurf gemacht.
Auf eine gewisse Art und Weise spiegelt es
jedoch die Spaltung in Romantik und Pragmatismus wider, die auch von unseren Köpfen
Besitz ergriffen hat. Wir passen uns schnell
an neue Technologien an und haben sie gern
in unseren Häusern, vom PC bis zum allgegenwärtigen Fernsehapparat. Andererseits
besitzen wir ein ausgeprägt romantisches
Verhältnis für die Welt, die uns umgibt, und
drücken diese Romantik in der Art und Weise
aus, wie wir unser Zuhause ‚einkleiden‘ und
ausschmücken.
23
12
Urbanism gehofft hatten. Ein Grund hierfür
ist die enorme Beliebtheit der Siedlungen. In
Seaside, Florida, der ältesten Siedlung des
New Urbanism in den USA (und seit dem Film
‚The Truman Show‘ einer der bekanntesten),
sind die Immobilienpreise seit den Achtzigerjahren um das Zehnfache gestiegen. Wohnungen werden zu Preisen verkauft, die mit
denen in Manhattan vergleichbar sind.
Andere, nicht weniger ehrenwerte Ziele
des New Urbanism haben sich als ebenso
schwer realisierbar erwiesen. Die Bewegung
begann als Alternative zur Suburbanisierung,
basiert auf der Kooperation von Spezialisten
aus höchst unterschiedlichen Fachgebieten,
um Geschichte möglichst genau zu simulieren. Es bleibt jedoch die Frage, ob Geschichte
mit ihrem langsamen Reifeprozess überhaupt durch eine Generalplanung zu ersetzen ist, und ob ein Expertenteam in der Lage
ist, die wenig spezialisierte Herangehensweise anonymer Bauherren-Architekten an
die Architektur zu kopieren, die jene über
Jahrhunderte in ihren Bauten praktiziert
und damit unsere historisch gewachsenen
Orte geprägt haben.
Juhani Pallasmaa: Identity, Intimacy and
Domicile, veröffentlicht in: Arkkitehti – Finnish Architectural Review 1/1994
2 John Ruskin: Sesame and Lilies,
New York 1891, S. 136f.
3 J.B. Bakema: Thoughts about architecture.
London 1981
4 Rede von Prinz Charles anlässlich der Verleihung des National Building Museum’s Vincent Scully Prize am 3. November 2005
1
INTERVIEW MIT
ALEXANDER ASADOV
Die Aufnahme aus einem Werbeprospekt zeigt die Idealvorstellung der Investoren (und vieler
Bewohner) vom Leben in den
Apartmenthochhäusern rund um
Hong Kong. Anspruch und Service der Wohnanlagen entsprechen denjenigen von Luxushotels;
Überwachungssysteme halten
unerwünschte Eindringlinge aus
den Wohnkomplexen fern.
Der russische Wohnungsbau hat
in den vergangenen 15 Jahren den
Wandel von der staatlichen Bauwirtschaft zum freien Markt vollzogen. Inwieweit wurden damit auch
inhaltlich neue Werte übernommen? DAYLIGHT&ARCHITECTURE
sprach mit Alexander Asadov, einem
der führenden russischen Architekten, über staatliche Reglementierung, über Ökologie und über das
Faible vieler Russen für historisierende Baustile.
Herr Asadov, in Ihrem Text ‚Alexander Asadov’s Credo‘, den Sie
auf Ihrer Homepage publizieren,
schreiben Sie: „Unabhängige Kreativität gibt es bei uns seit Mitte
der 90er Jahre.“ Welchen Gestaltungsspielraum hatten Architekten vorher, zu Zeiten des
kollektiven Bauens in der UdSSR?
Es gibt zwei Arten von Beschränkungen: einerseits objektive
Beschränkungen, die mit den historischen, baufachlichen, wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten
eines Projektes zusammenhängen.
Wenn diese Beschränkungen von
Anfang an als Rahmenbedingungen
feststehen, der Architekt jedoch zur
Erreichung seines Zieles die freie
Wahl besitzt, dann sind sie verständlich und stellen sich als Selbstbeschränkung dar. Zu sowjetischen
Zeiten wurden leider hauptsächlich Beschränkungen in der Art und
Weise der Zielerreichung vorgegeben. Sie bezogen sich auf die Werkstoffe und Konstruktionen, auf die
Planungstätigkeit oder auf die Einhaltung von Brandschutzvorschriften.
Heute sind Verhältnisse, wie wir
sie damals kannten, schwer vorzustellen. Deshalb möchte ich nochmals hervorheben: Es existieren
objektive Beschränkungen. Wenn
ein Architekt sein Ziel erreichen soll,
dann darf er jedoch nicht in der Anwendung seiner Instrumentarien eingeschränkt werden. Die Stadt, in der
wir bauen, stellt uns selbst bereits
Beschränkungen in den Weg, da es
weder im städtischen Raum noch
in sonstigen Räumen eine absolute
Freiheit gibt.
Wie hat sich der Wohnungsbau für
die große Masse der Bevölkerung
seit Ende der UdSSR verändert?
Beobachten Sie eine steigende
Nachfrage nach Einfamilienhäusern?
Eine steigende Nachfrage ist bei
Einfamilienhäusern insbesondere
in und um Moskau festzustellen. Im
Umland der Hauptstadt war dieser
Trend auch früher schon erkennbar.
Wir haben am Rand von Moskau eine
Reihe recht großer Einfamilienhaussiedlungen errichtet, und die Zahl
der Bestellungen hat uns verdeutlicht, wie stark der Sektor derzeit
in Bewegung ist. Leider sind Einfamilienhäuser bisher noch sehr teuer,
und auch die Unterhaltskosten liegen
bei uns höher als im Ausland. Die
Gründe hierfür sind unter anderem
24
die klimatischen Bedingungen, die
Wärmeverluste und die noch recht
bescheidenen Möglichkeiten der Energieeinsparung. Auf Grund der kontinentalen Lage haben wir sogar im
Vergleich zu Nordeuropa ein raueres
Klima und kältere Winter.
Daneben besteht eine starke Tendenz, an der industrialisierten Großtafelbauweise festzuhalten. In einer
Megapolis wie Moskau, in der private Bauvorhaben einen großen Teil
des gesamten Bauvolumens ausmachen, ist es gelungen, die Plattenbauindustrie weiter zu entwickeln. Dies
betriff t hauptsächlich den sozialen
Wohnungsbau und in geringerem
Maße den gewerblichen Wohnungsbau. Kommerzielle Anbieter kaufen
die früher staatlichen Produktionsstätten auf und führen dort mit Erfolg
fortschrittliche und flexible industrielle Baumethoden ein.
Nimmt die Zersiedelung des Umlands um die Großstädte durch
Einfamilienhaussiedlungen auch
in Russland zu? Inwiefern ist
damit eine Auflösung, Privatisierung und Individualisierung der
Gesellschaft verbunden?
Eine Auflösungstendenz ist deutlich
zu erkennen. Die Inhomogenität der
Gesellschaft zeigt sich zum Beispiel
in den teuren Gebäuden und Wohnkomplexen, die heute bereits neben
den sehr billigen und traditionell
armen Randgebieten der Großstädte
entstehen. Angesichts des sozialen
Gefälles organisiert man für diese
Objekte einen starken Wachschutz
und errichtet Stacheldrahtzäune,
wodurch die starke Differenzierung
unterstrichen wird. Diejenigen, die
im Westen als Mittelklasse bezeichnet werden, stellen bei uns nur einen
geringen Prozentsatz dar und gehören zu denen, die sich den genossenschaftlichen und Einfamilienhausbau
leisten können.
Wie individuell ist der Wohnungsmarkt in Russland wirklich?
Der größte Fortschritt für die Architektur ist gerade bei den individuellen Aufträgen zu beobachten.
Dies ist derjenige Bereich, in dem
sich junge Architekten am ehesten
profilieren können. Er wird auch am
wenigsten durch abstimmungsintensive Vorschriften reglementiert.
Ein Resultat dieser Entwicklung ist
die ständig wachsende Zahl von
Hochglanzmagazinen, in denen eine
Vielzahl erstklassiger Bauten dargestellt wird. Auch der Nationalpreis
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
des ARCHIP, einer der begehrtesten
Nationalpreise auf dem Gebiet der
Architektur, wird für private Bauvorhaben verliehen.
Daneben wird bereits eine große
Zahl von Aufträgen für städtische,
mehrgeschossige Genossenschaftsbauten an private Planungsbüros
vergeben. Jedes Investitionsprojekt
ist so aufgebaut, dass der Anteil der
Stadt, der das Grundstück und die
Infrastruktur für die Bauausführenden beinhaltet, über 30 Prozent der
Gesamtkosten beträgt. Hinzu kommt
die Zulage aus dem Staatshaushalt;
den Rest bilden die Investitionen und
privaten Gelder. Und diese Gelder
sind in der Stadt sowie in deren Architektur sichtbar.
Zu Beginn der Umgestaltung
vor zehn bis 15 Jahren hatte man
den Eindruck, dass die ehemaligen
staatlichen Projektierungsinstitute
verschwunden waren, weil der Geldstrom aus den staatlichen Finanzierungskanälen stark abebbte und ein
starker Anstieg privat geplanter Projekte begann. Mit dem Anstieg des
Finanzierungsumfangs hat sich hier
gegenwärtig wieder ein gewisses
Gleichgewicht eingestellt.
Im privaten Planungssektor überleben naturgemäß nur die Stärksten.
Die nicht ausreichend gefestigte Gesetzgebung erlaubt es leider einigen
Architekten, einflussreiche staatliche Posten zu besetzen und nebenher private Planungsbüros zu
betreiben. Bei uns ist so etwas möglich. Gleichzeitig bestehen wirklich
starke private Architekturbüros
ihren Überlebenskampf und entwickeln sich erfolgreich weiter. Einige
Projektierungsinstitute haben sich
neu orientiert und sind von der einseitig entwurfsbezogenen Arbeit zu
einem breiten Leistungsspektrum
übergegangen. Es haben vor allem
diejenigen Institute überlebt, die sich
auf die Werkplanung von Projekten
anderer Architekten spezialisiert
haben. Die technischen Planungsdisziplinen sind auf dem Markt derzeit sehr gefragt.
Im Idealfall kann man kleine, flexible Entwurfsbüros zur Entwicklung
des kreativen Projektteils gründen
und strukturierte Großunternehmen,
die sich mit der Projektausarbeitung
befassen. Das ist eine durchaus mögliche Symbiose.
Wie groß ist der Einfluss der Politik auf den russischen Bausektor
– sei es durch gesetzliche Vorschriften oder auf inoffiziellem
Wege?
Der Einfluss gesetzlicher Bestimmungen ist heutzutage nicht mehr besonders groß. Zu Zeiten des staatlich
organisierten Bauwesens bestand
eine stark reglementierende Gesetzgebung. Es gab einen gewaltigen staatlichen Apparat, den Gosstroj (dieses
Komitee beschäftigte sich in unserem
Land mit den gesamten Baufragen),
denn 80 bis 90 Prozent des Bauwesens wurden aus staatlichen Haushaltsmitteln finanziert. Der private
Bausektor war außerordentlich bescheiden. Beschränkungen gab es sowohl beim Finanzierungsvolumen als
auch bei den Möglichkeiten der Nutzung von Privatgeldern. Heute gibt es
den Gosstroj nicht mehr, und die Architekten haben dies noch gar nicht
richtig bemerkt.
An Stelle der staatlichen Gesetzgebung ist nun jedoch eine starke regionale Regulierung getreten, das
heißt, es gibt jetzt örtliche Rechtsakte und örtliche Normen, die das
Bauwesen reglementieren. Die Anzahl der Instanzen, die für ein Projekt
durchlaufen werden müssen, wächst
in katastrophalem Ausmaß, und mit
ihr steigen die Planungskosten. Das
ist einer der Gründe, weshalb kein
westlicher Architekt sich hier orientieren und in unserem ‚Dschungel‘ arbeiten kann. Darüber hinaus schreibt
das russische Baugenehmigungsverfahren die Projektbetreuung durch
russische Stellen vor.
Die Popularität neo-historischer
Bauformen ist in Russland groß.
Auf welche Art von ‚Vergangenheit‘ beziehen sich diese Architekturstile?
Ich bin der Ansicht, dass dies auch
für den Westen ein bekanntes Problem darstellt. Der Mensch besitzt
gewisse Wurzeln und das Bedürfnis, in dieser sich schnell ändernden Welt auf einer kleinen Insel der
Stabilität zu leben. Bei uns gibt es
wie immer eigene Besonderheiten.
Russland hat einige stürmische Veränderungen in der Architektur durchlebt. Allen ist das Russland des
Jahrhundertbeginns als Wiege des
Konstruktivismus bekannt. Danach
gab es einen recht langen Zeitraum
des Historismus, der etwa 25 bis
30 Jahre andauerte und als stalinistische Architektur bezeichnet
wurde. Sie ruft heute ebenso wie
der sozialistische Realismus in der
Malerei erneut großes Interesse
hervor, weil sie eine gute Schule für
Berufsarchitekten war. Im Zuge der
darauf folgenden massiven Industrialisierung des Bauwesens entstand
dann eine moderne Architektur, in
der das Handwerk des architektonischen Entwerfens schnell verloren
gegangen ist.
In Russland gibt es heutzutage
nur eine Handvoll Architekten, die im
historischen Stil entwerfen und dies
in einer lebendigen und kreativen
Weise tun. So etwas ist möglich,
und die Leistungen solcher Architekten wie Filippov, Utkin, Brodski
und Barchin haben gezeigt, dass die
historische Schule der Architekten
eine gewisse Existenzperspektive als
vollwertige Kunstrichtung hat.
Gleichzeitig ist ein Strom computergestützter Entwürfe losgebrochen, die man bei uns „ohne Zar
im Kopf“ nennt. Es ist eine Art des
Entwerfens, die mit Zitaten unterschiedlicher Stile spielt. Dabei kann
der Architekt selbst häufig nicht einschätzen, was für ein Stil es ist und
wie dessen Elemente zu kombinieren sind. Dies ist ein eigenartiges
und besonderes Gebiet der Kunst,
die so genannte Elektik. Wenn jedoch die Nachfrage nach einem
Stil steigt, wenn die Möglichkeiten
in Form von Datenbanken und Architekturkatalogen vorliegen, aber
keine Schule des Könnens und des
professionellen Erlernens besteht,
dann entsteht einfach ein Schwall
von etwas Unbestimmtem, das an
historische Architektur erinnert. Es
ist eine Schande.
Viele Projekte werden in Russland derzeit im historischen Stil geplant, und diese Praxis wird in vielerlei
Hinsicht durch regionale und örtliche
Behörden unterstützt. Dies unterstreicht das verbreitete Bedürfnis
nach Solidität und Stabilität - und
danach, das Alter der eigenen Stadt,
auch wenn sie noch jung ist, gleichsam künstlich zu erhöhen.
Entspricht der russische Neo-Historismus einem tief liegenden Bedürfnis der Bevölkerung nach
Sicherheit, vielleicht sogar nach
Sentimentalität? Und inwieweit
entspricht die Innenausstattung
der Häuser dem rückwärts gewandten Äußeren?
Beginnen wir einmal mit der zweiten
Frage. Es gibt beeindruckende Fälle
der Nichtübereinstimmung zwischen dem Äußeren und dem Inneren. In unserer Praxis gab es Projekte,
bei denen zwischen der avantgardistischen äußeren Gestalt des Hauses
und der Innenraumgestaltung ein
völliges Ungleichgewicht entstanden ist. Andererseits existieren sehr
prestigebetonte, im neohistorischen
Stil errichtete Komplexe, deren Bewohner sich mit modernistischen
oder gar minimalistischen Innenraumlösungen umgeben.
Was den ersten Teil der Frage,
also den Neo-Historismus, betriff t,
so liegen dessen Wurzeln nicht in
der Sicherheit und Sentimentalität,
sondern in einer ganz bestimmten,
falschen Vorstellung über Prestigegehalt, Bedeutsamkeit und Status des
Objekts. Die Meßlatte hierfür bewegt
sich im Bewusstsein der Gesellschaft
nur allmählich und sehr langsam.
Wie hoch schätzen Sie allgemein
die Fähigkeit Ihrer Mitbürger ein,
kompetent über Architektur zu urteilen?
Ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung kennt sich in der heutigen Zeit
in der Architektur recht gut aus, hat
gute Beispiele der westlichen Architektur gesehen und möchte in modernen Häusern wohnen. Das ist ein
natürlicher Prozess, der in vielerlei
Hinsicht von den Fachkräften, von
der Kritik und von der Situation in
der Architektur abhängt, die das Interesse an diesem Gebiet weckt. In
dieser Hinsicht bin ich voller Optimismus und hoffe, dass es ein langsamer
Prozess ist, der in eine Richtung geht.
Es werden immer mehr Zeitschriften
erscheinen, es wird eine immer größere Anzahl von Investoren geben,
die verstehen, dass gute Architektur teurer ist als schlechte. Die Bewertungsmaßstäbe für Architektur
im öffentlichen Bewusstsein werden
sich weiterentwickeln.
ist. Doch weder bei der Bevölkerung
noch bei den Fachleuten ist diese Erkenntnis in den Herzen und in der Erziehung verankert.
Welche Bedeutung hat die Natur
für Sie, wenn Sie in der Millionenstadt Moskau bauen?
Wir beobachten, wie Moskaus Grünflächen allmählich schrumpfen wie
Chagrin-Leder. Dies ist ein etwas
schmerzhafter, jedoch unausweichlicher Prozess. Es gab Projekte, die
wir in bestehenden Grünflächen geplant haben. Dabei schlugen wir vor,
die Verluste an Grünflächen durch
begrünte Dächer zu kompensieren.
Doch nicht einmal wir konnten den
Auftraggeber überzeugen, dies als
ökologischen Faktor zu nutzen, der
sich als Imagegewinn für das Objekt
niederschlagen könnte. Das Leben
zwingt den Auftraggeber und die
Menschen leider nicht dazu, sich der
Sache ernsthaft anzunehmen, und
die Behörden richten ihr Augenmerk
nur ungenügend auf die Prognose
und Bewertung ökologischer Schäden und zwingen den Investor nicht
dazu, die Kosten für den Schutz der
Umwelt zu übernehmen.
Ist Ökologie in der russischen Architektur allgemein ein Thema
– oder ist sie nur ein Zusatz, der
dann hinzugefügt wird, wenn es
der Auftraggeber verlangt?
Ökologie wird vom Auftraggeber bisher nicht ernsthaft verlangt. Es gibt
gewisse formale staatliche Auflagen
bezüglich des Umweltschutzes, die
von allen, darunter auch vom Auftraggeber, als störendes Hindernis
betrachtet werden, das den Bauprozess bremst. Die Menschen gewöhnen sich nur allmählich daran, dass
man mit umweltfreundlichen Baustoffen bauen sollte. Ein wirkliches
Entwurfskriterium ist Ökologie für
die meisten jedenfalls nicht. Dies
hat sicherlich mit der Vorstellung zu
tun, dass unsere Bodenschätze unerschöpflich seien. Der Verstand erkennt zwar, dass alles begrenzt ist
und dass Ressourceneffizienz eine
Frage der Generationengerechtigkeit
25
Diese Seite Greg Lynn FORM:
Embryological House©™ (1998).
Nach Greg Lynns Vorstellung
wird ein einziger Computer-Algorithmus künftig unendlich viele,
unterschiedliche Häuser generieren können. Sie lassen sich an die
unterschiedlichsten Orte und
Klimata anpassen.
LEBENSRÄUME
ZELLE
DIE
UND IHR METABOLISMUS
15. Kalhöfer – Korschildgen: Fahrt
ins Grüne, Remscheid (1997). Die
Bauherren – beides Journalisten
– wünschten sich ein zusätzliches
Arbeitszimmer für ihr Fachwerkhaus. Gerhard Kalhöfer und Stefan
Korschildgen konzipierten für sie
einen mobilen und leichten Anbau
auf Schienen, der sich im Sommer
seitlich in den Garten ‘hinausfahren’ lässt, um die Terrasse für andere
Nutzungen freizumachen.
17. Kalhöfer – Korschildgen: ZwischenRäumen, Reihenhausentwurf für Salzburg (2002). Indem sie alle Außen- und
Innenwände als mobile Rollläden konstruieren, verleihen die Architekten
einem Reihenhaus ungewohnte Weitläufigkeit. Die zentrale Halle ist als flexibel ‚schaltbarer‘ Zwischenraum
konzipiert, der wahlweise mit den
benachbarten Zimmern verbunden werden kann. Nach außen öffnet sich das
Haus in allen denkbaren Abstufungen.
16. N55: Spaceframe & Floating
Platform (1999). Spaceframe von
N55 ist eine modular aufgebaute,
leichte und kostengünstige Wohneinheit für drei bis vier Personen. Die
Wandstruktur besteht aus regelmäßigen Tetraedern. Über eine an
Stegen oder Booten befestigte Plattform wird Spaceframe zur schwimmenden Insel.
18. Le Corbusier: Unité d’Habitation
in Marseille (1946). Mit einer integrierten Ladenstraße, einer Turnhalle sowie einem Schwimmbecken
und einem Spielplatz auf dem Dach ist
Le Corbusiers ‚Unité‘ mit ihren rund
1500 Einwohnern als autarke Einheit geplant. Auch das Wohnangebot
entspricht mit 23 unterschiedlichen
Wohnungstypen zwischen 32 und 137
Quadratmetern dem einer Kleinstadt.
5
Gustav Wolf: Die Grundriß-Staffel. München 1931
Juhani Pallasmaa: Identity, Intimacy and Domicile, veröffentlicht in: Arkkitehti – Finnish Architectural Review 1/1994
7
Udo Kraft, Das mitwachsende Haus, in: Fezer/Heyden: Hier entsteht …, Berlin 2004
8
Nicolaas John Habraken: Die Umsetzung einer einfachen Idee, in: Fezer/Heyden: Hier entsteht …, Berlin 2004
6
26
Die Suche nach einer ‚Zelle‘ oder ‚Kapsel‘
als kleinste bewohnbare Einheit und ihre
Anpassung an die ständig wechselnden
menschlichen Anforderungen hat die architektonische Phantasie des letzten Jahrhunderts beflügelt. Die Wohngrundrisse vor dem
Einsetzen der Moderne wurden größtenteils
durch soziale und repräsentative Zwecke
bestimmt. Wohnhäuser wurden in der Regel
‚von außen nach innen‘ entworfen und die Fassadenordnung galt als wichtiger als die Funktionalität der Grundrisse. Bei Wohnungen der
Mittel- und Oberklasse waren die halböffent-
wickeln ließen. Für die Grundrisswissenschaftler dachte ein Architekt nicht nur über
Räume und Flure nach, sondern „er entwirft
das Wohnen, die Lebensform selbst.“5) Um
dies zu ermöglichen, untersuchten die Wissenschaftler die Prozesse des Wohnens. Mithilfe graphischer Methoden zeichneten sie
die Bewegungen des Bewohners in der Wohnung auf. Diese wurden in einem zweiten
Planungsschritt auf ein Minimum reduziert,
indem Räume anders gruppiert und nicht
genutzte Resträume entfernt wurden. So
wichen etwa die alten Wohnküchen raum-
Bruno Taut äußerten die Befürchtung, dass
die Standardisierung des Wohnraums einen
kleinsten gemeinsamen Nenner herbeiführen würde, der dem Individuum nur wenig
Platz einräumte.
Ein Mittel, um dem Bedürfnis nach größerer räumlicher und funktionaler Flexibilität gerecht zu werden, waren bewegliche
Trennwände, die von Architekten wie Gerrit
Rietveld, Mies van der Rohe und Le Corbusier
häufig eingesetzt wurden. Im Obergeschoss
von Rietvelds Haus Schröder in Utrecht sind
alle Innenwände beweglich, sodass die Etage
15
17
18
16
lichen Wohnräume, die der Demonstration
des sozialen Status dienten, für gewöhnlich
zur Straße hin orientiert, wohingegen sich
Schlaf- und Kinderzimmer sowie sanitäre
Einrichtungen im hinteren Bereich oder in der
Mitte des Hauses befanden und somit ihren
zweitrangigen Status demonstrierten.
Mit dem Einsetzen der Moderne in den
Zwanzigerjahren fand ein Paradigmenwechsel statt. Wohnräume wurden nicht mehr
entsprechend der sozialen oder repräsentativen Anforderungen angeordnet, sondern
gemäß ihres physischen Gebrauchs, und
bestimmen ihrerseits das äußere Erscheinungsbild eines Hauses. Angeregt durch das
reformerische Ideal der ‚Wohnung für das
Existenzminimum‘ entstand eine Grundrisswissenschaft, die nach objektiven Lebensbedingungen suchte, aus denen heraus sich
allgemeine Normen und Richtlinien ent-
minimierten Funktionsräumen nach dem
Vorbild der ‚Frankfurter Küche‘, in denen
alle Bestandteile ergonomisch angeordnet
waren. Diese waren jedoch monofunktional
und nur von einer Person gleichzeitig zu nutzen; sie ließen damit wenig Raum für sozialen
Austausch, spätere Nutzungsänderungen
oder auch nur die Zufälle des Lebens.
Der Funktionalismus mit seiner Konzentration auf Standardmaße und –räume
wurde schnell zur Zielscheibe der Kritik. Viele
Architekten erkannten, dass man nicht den
Lebensstil an sich entwerfen kann, sondern nur einen räumlichen Rahmen, in dem
sich dieser entfaltet. Der Optimismus der
Moderne hinsichtlich eines technologischen
Fortschritts, der schließlich zu mehr Gleichheit in den Lebensbedingungen führen würde,
fand keine allgemeine Zustimmung. Selbst
einstige Protagonisten der Moderne wie
entweder in vier getrennte Räume aufgeteilt
oder als ein großer, Tageslicht durchfluteter
Raum genutzt werden kann, in dem die Toilette das einzige feste und abgeschlossene
Element darstellt. Neuere Konzepte, von
denen einige in diesem Artikel gezeigt werden, beinhalten vorgefertigte Hausbausätze
mit Elementen, die sich drehen, wenden und
verschieben lassen, um so eine ständig variierende Kombination funktionaler Programme
zu ermöglichen. Nach 85 Jahren Erfahrung
scheint es jedoch fraglich, ob diese – oftmals akademischen – Konzepte in der Realität wirklich angenommen wurden. Es scheint,
als ob Konzepte ‚mobilen‘ Wohnens keinen
sehr großen Einfluss auf unser Alltagsleben
haben. Sogar unsere Möbel sind mehr oder
weniger statisch geworden. Wenn größere
räumliche Veränderungen in unseren Häusern nötig werden, bevorzugen wir einen
27
einmaligen Umbau und keine tägliche Umgestaltung unseres Wohnraums.
Eine zweite Annäherung zielt daher
darauf ab, Gebäuden das Wachsen, Schrumpfen und Ändern ihrer Funktionen angepasst
an die Bedürfnisse der Bewohner zu ermöglichen. Die Vorstellung von wachsenden und
schrumpfenden Häusern ist in der anonymen
Architektur, einschließlich des modernen Seltbstbaus, weit verbreitet. In vielen Gegenden
der Erde sind halbfertige, aber schon seit Jahren bewohnte Häuser nicht ungewöhnlich.
Die kulturelle Evolution des Wohnraums von
von Ästhetik, das besser mit Änderungen und
Zufällen umgehen kann. Konzeption und Konstruktion wachsender Häuser werden sich
völlig von der Art und Weise unterscheiden, wie wir heute Häuser bauen. Die Verbindungen zwischen Bauelementen müssten
rigoros vereinfacht, reversibel gemacht und
so standardisiert werden, dass neue Elemente, die zu den alten passen, auch noch
in 20 oder 30 Jahren zur Verfügung stehen.
Eine Außenwand wird vielleicht später zu
einer Innenwand, das heißt, die Fassade und
die Isolierung müssen entfernt werden kön-
prozess. Als Mies van der Rohe in seinem
Mietswohnhaus am Stuttgarter Weißenhof 1927 darauf verzichtete, die Wohnräume mit Ausnahme des Badezimmers und
der Küche im Voraus festzulegen, so tat er
dies, weil er überzeugt war, dass bestimmte
Räume in einem Zuhause nicht von Fachleuten, sondern nur von den Bewohnern selbst
und denen, die ihnen nahe stehen, entworfen
werden können. In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden Selbstbauprozesse zum
Ausdruck von Basisdemokratie und Mündigkeit des Verbrauchers. Zudem manifestierte
20
einer rein praktischen zur ästhetischen und
repräsentativen Funktion lässt jedoch die
meisten Bewohner ein Gebäude bevorzugen,
das sofort fertig aussieht und nichtsdestotrotz die Möglichkeit späterer Änderungen
offen lässt. Architekten neigen oft dazu, diese
Freiheit zu vernachlässigen: Im Bestreben,
„Gesamtkunstwerke“ zu schaffen, entwerfen
sie Häuser, deren Ästhetik unter späteren Anund Umbauten nur Schaden nehmen kann.
Juhani Pallasmaa schreibt über diese zwiespältige Situation: „[...] in unserer Rolle als
Architekten streben wir nach einer akribisch
gegliederten und zeitlich eindimensionalen
Umgebung, wohingegen wir uns als Bewohner eine vielschichtigere, mehrdeutige und
ästhetisch weniger zusammenhängende
Umgebung wünschen.“6)
Das Konzept eines ‚wachsenden‘ Hauses
bedeutet nicht unbedingt eine Einschränkung der Ästhetik, aber ein anderes Konzept
28
nen. Fundamente und Heizungsanlagen müssen vorausschauend geplant werden, also
schon zu Beginn groß genug für die voraussichtliche maximale Größe eines Hauses ausgelegt sein. Wenn dieses Konzept nicht zu
enormen Müllbergen führen soll, müssen
zudem die Bauelemente einfach und sauber in Bestandteile zu trennen sein, die entweder wiederverwertbar oder biologisch
abbaubar sind.
Wenn alldiese Anforderungen erfüllt sind,
sollte es kein Problem mehr sein, ein Haus einfach mitzunehmen, wenn ein Umzug nötig
wird. In einem Land wie Deutschland wäre
der Abbau eines solchen Hauses, sein Transport und sein Wiederaufbau 500 oder 600
Kilometer entfernt vermutlich günstiger als
der Verkauf des alten und Kauf eines neuen
Hauses inklusive aller Maklergebühren.7)
Ein dritter möglicher Ansatz basiert auf
der Beteiligung des Benutzers am Planungs-
21
sich in ihnen eine Gegenbewegung zum vorherrschenden Funktionalismus in der Architektur, über den der belgische Architekt
Lucien Kroll schreibt: „Es war die Zeit, als die
moderne Architektur akademisch geworden
war: Sie war an der Macht, hatte aber ihre
Tugenden verloren. Vor allem isolierte sie sich
in artifiziellen und autistischen Techniken.
Eine neue Faszination ging von der reichen
Vielfalt aus, mit der ein Netz sozialer Gruppen einen Ort prägen kann.“ Konzepte wie
Constants ‚New Babylon‘, Yona Friedmans
‚Spatial City‘, Archigrams ‚Plug-in Cities‘ oder
Eckard Schulze-Fielitz’ ‚Raumstadt‘ basierten alle auf der Dualität aus Tragkonstruktion und Infrastruktur, die durch öffentliche
Institutionen bereitgestellt und von Architekten geplant werden, sowie einer Vielzahl
von temporären ‚Füllungen‘, welche von den
Bewohnern selbst ihren Bedürfnissen entsprechend entworfen wurden. Der nieder-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
ländische Architekt Nicolaas John Habraken
und seine ‚Stichting Architecten Research‘
(SAR) setzte diese Idee als Erstes in die Realität um. Das System SAR basierte auf mehrstöckigen Stahlbetonrahmen sowie leichten
Trennwänden und Einbaumöbeln, welche im
Selbstbau zu realisieren waren. Vor kurzem
berichtete Nicolaas John Habraken Habraken in einem Interview, dass er seinerzeit die
tiefe Skepsis der Planungsexperten zu überwinden hatte, die entschlossen waren, das
‚ideale‘ Zuhause bis ins kleinste Detail festzulegen: „Ich bin kein politischer Mensch, aber
22
einem unendlichen Angebot von Ressourcen
zusammenstellen kann. In der Baubranche
fehlt dagegen ein allgemeiner internationaler Standard wie HTML. Forscher wie Kent
Larson von MIT befürworten eine ‚bedeutungsvolle Anpassung‘ nach dem Vorbild der
Open Source-Software, bei der jeder Benutzer den Quellcode eines Programms lesen und
ihn entsprechend seiner Anforderungen verbessern oder ändern kann. In der Architektur
wie auch in der Open Source-Software erfordert diese Teilhabe jedoch einen hohen Wissensstand seitens des Nutzers. Da es Nutzern
zudem oft schwer fällt, ihre eigenen Vorlieben genau zu definieren, haben Kent Larson und seine Mitarbeiter in ihrem Konzept
des ‚Open Source Building‘ ein ‚Präferenzmodul‘ entworfen, das den Menschen dabei
hilft, ihre eigenen Bedürfnisse und Werte
zu entdecken, und eine Vielzahl verschiedener ‚Designmodule‘, die jeweils den Stil
eines bestimmten Architekten nachahmen.
Außerdem entwickelt Larson ComputerKritiken, die den Benutzer mit fachkundigen
Rückmeldungen zu seinen Entscheidungen
während des Planungsprozesses versorgen.
23
ich kapierte, dass ich von anderen Architekten forderte, ihre Arbeitsweise zu ändern
und Macht abzugeben. Und ich musste lernen,
dass genau das immer starke Widerstände
hervorruft.“8)
Aufgrund der hohen Komplexität der Planung zählten Architekten, die häufig Projekte
mit hoher Nutzerbeteiligung betreuten, zu
den ersten, die mit computergestützten Planungwerkzeugen experimentierten. Heute
machen elektronische Daten und Kommunikationstechnologien in vielen Branchen
eine Beteiligung der Nutzer und Kunden am
Entwurf möglich. So ist ‚mass customization‘, die individualisierte Massenfertigung
von Produkten, in der Möbel-, Computerund Fahrzeugindustrie bereits gang und
gäbe. Das wohl erfolgreichste Beispiel für
‚mass customization‘ ist jedoch das Internet
selbst, in dem sich jeder Benutzer sein Informations- und Unterhaltungsprogramm aus
24
19–20. N55: Micro Dwellings
(2005). Das miniaturisierte Kapselhaus der dänischen Architekten N55 wird wie ein Schiff
aus Stahlplatten verschweißt.
Seine Inneneinrichtung besteht
nur aus wenigen, mobilen Elementen, die im Tagesverlauf
unterschiedliche Funktionen
erfüllen. N55 stellt die Micro
Dwellings nicht selbst her, sondern bietet lediglich Bauanleitungen (so genannte ‚Manuals‘)
im Internet für den Selbstbau an.
21. Stefan Eberstadt: Rucksack House (2002). Neun Meter
Zusatzraum, anzudocken an
jedes Gebäude, das tragfähig
genug ist: Stefan Eberstadts
Rucksackhaus ist ein architektonischer ‚Parasit‘, der jederzeit einen neuen Wirt aufsuchen
kann. Er wird über Stahlträger in
der Außenwand verankert, mit
zwei Stahlseilen zusätzlich gesichert und durch ein Wohnungsfenster betreten.
22–24. Kisho Kurokawa: Nakagin Capsule Tower, Ginza (1972).
Die 140 Kapseln wurden mitsamt
ihrem Innenausbau im Werk vorgefertigt, mit dem Kran an Ort
und Stelle gehoben und dort am
Betonkern des Bauwerks befestigt. Noch heute dienen die je
10 Quadratmeter (4.0 x 2,5 m)
großen Kapseln je etwa zur Hälfte
als Wohnungen und Büros.
ES GILT, DIE GEISTIGE VERFASSUNG
FÜR DEN SERIENBAU ZU SCHAFFEN:
DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DIE
KONSTRUKTION VON HÄUSERN IN
SERIENBAU,
30
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DAS
BEWOHNEN VON HÄUSERN IN SERIENBAU,
DIE GEISTIGE VERFASSUNG FÜR DEN
KÜNSTLERISCHEN ENTWURF VON
HÄUSERN IN SERIENBAU.
LE CORBUSIER, VERS UNE ARCHITECTURE, 1923
31
Der Ursprünge vorgefertigter Häuser waren
eher utilitaristischer Natur und wenig um
Anpassung oder um den Bewohner als Individuum bemüht. Die ersten europäischen
Gebäude in Serienbau waren Militärbaracken. In Amerika hat die Massenproduktion
auch im privaten Wohnungsbau eine lange
Tradition, die bis weit ins 19. Jahrhundert
zurückreicht. Als Le Corbusier daher 1923 in
Vers une architecture die Industrialisierung
des Bauens mit den Worten propagierte: „Es
gilt, die geistige Verfassung für den Serienbau zu schaffen“, forderte er lediglich ein,
LEBENSRÄUME
INDIVIDUALITÄT
UND MASSENPRODUKTION
26
25
25. IKEA/Skanska: BoKlok (seit
Mitte der 90er Jahre)
Wörtlich übersetzt, heißt BoKlok
‚klug wohnen‘. Das gleichnamige
Wohnkonzept wurde Mitte der
90er Jahre von IKEA und dem
schwedischen Wohnungsbaukonzern Skanska entwickelt und
inzwischen in fünf Länder exportiert. Die Preise beginnen bei 500
Euro je Quadratmeter Wohnfläche; die Wohnungen sind damit
nur wenig teurer als ein Mittelklasse-Wagen.
26–27. BoKlok umfasst zwei
Haustypen: die Einfamilienhäuser ‚Villa BoKlok‘, die bislang nur
in Schweden angeboten werden,
und zweigeschossige Mehrfa-
32
milienhäuser mit je sechs Wohnungen. Jeder Kunde erhält zu
seiner neuen Wohnung einen
Wertscheck über 300 bis 400
Euro und eine zweistündige Einrichtungsberatung von IKEA.
28. ‚Continental Homes‘ kurz
vor der Auslieferung, Nashua,
New Hampshire, USA. Die ersten
Wohnwagen tauchten in den
USA in den 20er Jahren auf. In
der Nachkriegszeit entwickelten
sich daraus die heutigen ‚mobile
homes‘, die in der Regel nur einmal in ihrem Leben mobil sind
– nämlich dann, wenn sie von
der Fabrik an ihren endgültigen
Standort geschleppt werden.
was in Nordamerika schon Jahrzehnte zuvor
Realität geworden war. Die amerikanische
Vorfertigung beruht auf der Konstruktionstechnik des „Balloon-Frame“, die (zum Beispieldurch Sears, Roebuck & Co.) bereits seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch
war. Der Aufbau ganzer Städte in Hochgeschwindigkeit, wie beispielsweise Oklahoma
City im April 1889, war eine aussagekräftige
Demonstration dessen, was Vorfertigung
erreichen kann. Ein Bericht dieses Datums
erläutert: „Am Mittag des 22. April 1889 [...]
war auf der Baustelle Oklahoma City nichts
als ein Bahnhof und ein paar Holzhäuser vorhanden. Beim Einbruch der Dunkelheit war
eine Zeltstadt für rund 10.000 Menschen
entstanden.“ Vier Wochen später war die
„Balloon-Frame-Stadt“ fertig, die größtenteils aus vorgefertigten Hütten mit einem
Zimmer bestand.
Le Corbusiers Vision wurde bald auch
in Europa wahr. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren entwickelten Architekten den
Geist des Serienbaus rasch weiter. Da Serienbau jedoch nicht nur die Rationalisierung der
eigentlichen Produktion, sondern auch des
Planungsprozesses beinhaltet, verloren die
Architekten bald an Einfluss und Interesse.
Es entstand eine Art Zweiklassenarchitektur,
in welcher nur eine Minderheit aller Gebäude
– öffentliche sowie Bürogebäude, Kultureinrichtungen und Häuser für zahlungskräftige Kunden – von Architekten entworfen
wurde. Der größte Teil der Bauproduktion
wurde Bauunternehmen überlassen und
nach Standardplänen mit standardisierten
und diskussionsbereit sind und ihren Anteil
an der Entscheidungsfindung haben. Dieses
Ideal ist indessen eher zur Ausnahme als zur
Regel geworden. Oftmals werden ein oder
zwei Parteien – der spätere Bewohner, der
Architekt und manchmal sogar der professionelle Bauunternehmer – von diesem Prozess ausgeschlossen. Kommunikation, der
Faktor, der ein Maß für Fortschritt bedeutet,
gilt nicht länger als Notwendigkeit.
Dochkönnten Hersteller von Kataloghäusern, Architekten und Lieferanten nicht viel
voneinander lernen? Könnten sie mit ihrem
und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.“9) Schulze verweist direkt auf eine der Kernkompetenzen
der Architekten: die Anreicherung von Räumen durch Atmosphäre und funktionale Flexibilität. Es erscheint daher logisch, dass
Architekten im Serienbau von Eigenheimen
künftig wieder eine maßgebliche Rolle spielen sollten. Wenn wir – Investoren, Architekten, Bauunternehmer, Lieferanten und
Bauherren – unsere Fähigkeit, voneinander
zu lernen, verbessern, kann unsere gebaute
Umwelt in Zukunft nur attraktiver werden.
27
28
Komponenten und sehr wenig Einflussnahme
durch Architekten errichtet.
Im Informationszeitalter vollzog die Baubranche zunächst einen weiteren Schritt der
Standardisierung, hin zu einer weltweiten
Verbreitung von Bauplänen, die unabhängig
von Standort, Bauherr oder Bauunternehmen (theoretisch) überall anwendbar sind. EBusinesses entstanden, bei denen zukünftige
Hausbesitzer die Baupläne ihres persönlichen
Traumhauses erwerben können – im neokolonialen oder modernen Stil und mit bis zu
sieben Schlafzimmern und fünf Garagen. Ein
kompletter Satz Standardpläne kostet 500
bis 700 Dollar. Der Architekt bleibt außen vor;
die Ausführung kann jeder Bauunternehmer
übernehmen, der die notwendige Ausstattung besitzt.
Die tradierte Idealvorstellung von Planung und Bau eines Hauses – zumindest die der
Architekten - beinhaltet ein Dreiecksverhältnis zwischen Kunde, Architekt und Bauunternehmer, in dem alle Beteiligten gut informiert
gesammelten Fachwissen Eigenheime nicht
entwickeln, die nicht nur ihre Funktion erfüllen, sondern mit ihrem Kontext, ihrer Kultur
und ihrer Zeit in Einklang und obendrein flexibel genug sind, sich an die Bedürfnisse des
Bewohners anzupassen? Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass ein Konglomerat standardisierter Baubestandteile, die
anhand von uniformen Plänen zusammengebaut und anschließend mit Applikationen
verziert werden, ein Haus noch nicht zu einem
Zuhause machen. Als Reaktion darauf istdas
Interesse von Investoren und Herstellern an
einer engen Zusammenarbeit mit Architekten
wieder gewachsen. Mit dem Wirtschaftswachstum und der kulturellen Entwicklung sind auch die Ansprüche der Bewohner
gestiegen. Sie fragen nach Wohnraum, der
ihnen einen Rahmen für ihre Selbstverwirklichung bietet. Erlebnisansprüche, schreibt
der Soziologe Gerhard Schulze, „wandern von
der Peripherie ins Zentrum der persönlichen
Werte; sie werden zum Maßstab über Wert
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
29
29. Apartmenthochhäuser in
Hong Kong. 25 000 Menschen,
zusammengepackt auf der Fläche
weniger Fußballfelder: Dieser
Traum oder Alptraum ist in den
Vorstädten Hong Kongs Realität. Wie sonst nirgends auf der
Welt lässt sich hier beobachten,
welchen Grad urbaner Dichte der
Mensch erträgt – und wie er sein
‘Zuhause’ trotz äußerer Gleichförmigkeit an individuelle Vorlieben
anpasst.
9
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft.
Frankfurt/Main 1997
33
In seiner Zeichnung ‚The Three Magnets‘
verweist Ebenezer Howard, der Gründer der
Gartenstadtbewegung, auf eine Dualität,
die heute noch gültig ist: Wir wohnen gerne
auf dem Land, eng mit dem verbunden, was
wir für Natur halten, auf unserem eigenen
Grundstück in einer sicheren Wohngegend.
Wir möchten jedoch auch die Annehmlichkeiten und kulturellen Einrichtungen einer
Stadt nicht missen, vom Flohmarkt bis hin
zu Kaufhäusern, Museen und Kinos. Howards
Lösung dieses Zwiespalts war die Gartenstadt, eine Siedlung von begrenzter Größe,
die Städte ganz verlassen hat und in die Vorstädte gezogen ist. In den letzten Jahren gibt
es Hinweise darauf, dass sichdiese Abwanderung verlangsamt hat, es bleibt jedoch ungeklärt, ob dies als rückläufige Entwicklung zu
verstehen ist. Bei der Entscheidung für eine
Wohnung ziehen wir für gewöhnlich nicht nur
deren Preis, Größe und Erhaltungszustand in
Betracht, sondern auch Mehrwert wie Nähe
zur Natur, Zugang zu Freizeiteinrichtungen
und Verkehrsnetzen, eine kinderfreundliche,
saubere und sichere Wohngegend sowie die
Möglichkeit, einen individuellen Lebensstil in
Nomaden“12) folgt. Die modernen Nomaden
verbringen die meiste Zeit an Orten, die entweder öffentlich sind – wie Flughäfen und
Bahnhöfe – oder unspezifisch genug, um eine
große Anzahl unterschiedlicher Menschen zu
beherbergen – wie Hotelzimmer oder Wohncontainer. In vielen Fällen unternehmen Architekten und Planer große Anstrengungen,
diese Räume mit einem Mindestmaß an Privatsphäre und Persönlichkeit auszustatten,
sodass wir sie, zumindest vorübergehend, als
Ersatz für unser Zuhause akzeptieren.
Auf der anderen Seite entscheiden sich
LEBENSRÄUME
Ebenezer Howard: Die drei
Magneten (1898). Wohnen in
der Stadt oder auf dem Land?
Ebenezer Howard, der geistige
Vater der Gartenstadt-Bewegung, vergleicht die Menschen in
seinem Diagramm mit Eisenspänen, die von drei Magneten angezogen werden: Die Stadt (town)
steht dabei für hohe Löhne, kulturelles Angebot und Gemeinschaftsleben, aber auch für den
Mangel an Naturräumen und für
Umweltverschmutzung, dem
Land (country) werden die entgegengesetzten Eigenschaften
zugeschrieben. Der dritte
Magnet, das ‚Stadt-Land‘ (towncountry) – Howards Gartenstadt
– soll die Vorzüge beider Lebensräume vereinen.
ICH
DAS
UND DIE
GESELLSCH
30
mit erkennbarem Zentrum und definierten
Grenzen, bewohnt von einer Gemeinschaft
aus Hausbesitzern. Zwischenzeitlich hat die
Vorstadt der Nachkriegszeit die Gartenstadt als Traumvorstellung der Hausbesitzer abgelöst. Sie bietet begrenzte Dichte und
die Möglichkeit, die Vorstellung vom privaten
Eigenheim Wirklichkeit werden zu lassen,
es fehlen jedoch das Zentrum und die klare
Umgrenzung der Gartenstädte.
Der fortlaufende Prozess der gesellschaftlichen Spaltung hat in den letzten
Jahrzehnten dazu geführt, dass fast nur jüngere Menschen und Familien mit hohem Einkommen in den Stadtzentren wohnen blieben.
Hohe Wohnungspreise haben die Gruppen
mit niedrigem Einkommen in die Randgebiete der Städte, insbesondere in die Wohnblocks der Sechziger- und Siebzigerjahre,
verdrängt, wohingegen die Mittelschicht
34
einer individualisierten Umgebung zu führen.
Städtische Wohnquartiere mit ihrem häufigen Mangel an Grünflächen, ihren hohen
Wohnungspreisen und sozialen Problemen
haben im Wettstreit mit den Vorstädten um
die Mittelschichtdemnach noch immer nicht
die beste Ausgangsposition.
Gegenwärtig nähern sich unsere Lebensstile zwei Extremen an: Einerseits wird eine
zunehmende Anzahl von Menschen immer
mobiler. Wenngleich Nomadentum – sogar
in seiner modernen Form – kein neues Phänomen ist, haben die Globalisierung und die
zunehmende Durchlässigkeit der Landesgrenzen zum Entstehen einer neuen Wanderarbeiterklasse geführt. Die Welt befindet
sich buchstäblich ‚unterwegs‘10), und Soziologen fragen sich, ob auf das ‚Jahrhundert
der Flüchtlinge‘, wie das 20. Jahrhundert einmal genannt wurde 11), ein „Jahrhundert der
immer mehr Menschen für einen introvertierten Lebensstil, der sich auf das eigene
Zuhause konzentriert. „Not In My Back Yard“
– was mich nicht unmittelbar betrifft, interessiert mich nicht – ist zum Slogan einer weitverbreiteten Einstellung den Problemen
gegenüber geworden, die das Gesellschaftsleben mit sich bringt. Für Soziologen hat die
neue Kultur der Introversion ihren Ursprung
in der weitverbreiteten Angst, die sich nach
den Anschlägen des 11. Septembers entwickelt hat. Menschen gehen weniger aus, verbringen weniger Zeit in der Öffentlichkeit und
bleiben mehr zu Hause, ziehen weniger (und
engere) Freundschaften zahlreichen oberflächlichen Bekanntschaften vor und entdecken Werte wie Treue und Familie neu.
Richard Sennett hat ausführlich und kritisch über das Thema dieser „Suche nach
Identität, die sich aus Elementen der inneren
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Welt zusammensetzt“13) geschrieben, und er
identifiziert sie als eine Ursache des (postmodernen) Narzissmus. Sennett zufolge ziehen
wir uns in die Privatsphäre zurück, weil wir
eine unsichere Wirklichkeit fürchten. Wir sind
von Narzissmus durchdrungen, ausschließlich auf das eigene Ich bezogen, das stets
fragt: Welche Bedeutung hat meine Umwelt
für mich? Sennett behauptet, dass Menschen
„einen verständnisvollen Blick auf die Gesellschaft“ sowie die Sensibilität für „das öffentliche Dasein“ verlieren. Für ihn ist die Stadt
der Ort, an dem sich das öffentliche Leben
31. Archizoom: Residential Parking / No-Stop City (1971).
Die ‚No-Stop City‘ von
Archizoom ist eine ironische Kritik an der Ideologie der Architekturmoderne, die bis zu ihren
absurden Grenzen getrieben
wurde. An die Stelle der Stadt
tritt ein gleichförmiges, rasterartiges Versorgungsnetzwerk,
an das sich die Bewohner an
beliebiger Stelle anschließen
und dort informelle Wohnstätten errichten. Die Natur ist verschwunden, sie wird durch eine
endlose Innenraum-Landschaft
ähnlich wie in Großraumbüros
ersetzt, in der die Menschen in
Zelten campieren.
sechs- bis zehnmal so groß wie die biologisch
produktive Erdoberfläche .
Ganz gleich, was die Hintergründe für
die Verstädterung der Vororte sind, die Welt
der Zukunft muss – und wird – in den Städten liegen. In diesem Jahr, 2006, lebt zum
ersten Mal in der Geschichte die Hälfte der
Menschheit in Städten. Daher genießen die
Eindämmung des Flächenverbrauchs und
die qualitative Verbesserung urbaner Areale absolute Priorität für unsere Zukunft. Wie
aber lassen sich städtische Ballungsräume
mit dem Streben der Einwohner nach Natur,
tigkeitsbeirat von Baden-Württemberg ein
System mit „Flächenzertifikaten“ als politisches Mittel gegen die städtische Ausdehnung vorgeschlagen. Wenn dieser Vorschlag
in die Tat umgesetzt wird, würde ein ähnliches Handelssystem entstehen wie im Fall
der Emissionszertifikate, die für die Umsetzung des Kyoto-Protokolls eingeführt wurden.
Bei Flächenzertifikaten wird jeder Gemeinde
ein bestimmter Anteil von Land für die Neubebauung zugewiesen, der ähnlich wie das
Gegenstück aus dem Kyoto-Protokoll unter
den Gemeinden handelbar ist.
31
32. Office for Subversive
im Londoner Stadtteil Tower
Architecture mit Harald
Hamlets einen neuen Anstrich,
Hugues und Trenton Oldfield:
frische Vorhänge und einen
Installation ‚Intact‘, London
‚Mini-Vorgarten‘ mit frischen
(2003). Ein Betriebsgebäude
Blumen, Kunstrasen und
der British Rail wird zur KariGartengrill. Mit der Aktion
katur eines kleinbürgerlichen
wollten sie die Behörten
Wohnhauses: Mitte 2003 verauf die Potenziale der ungepassten die Mitglieder des
nutzten Stadtbrache für drinOffice for Subversive Architec- gend benötigten Wohnraum
ture der Stahlbeton-Baracke
aufmerksam machen.
32
manifestiert, wohingegen in der Vorstadt
die Suche nach Identität und Individualität
stattfindet.
Man stelle sich vor, die 10 Milliarden Menschen, die bald die Erde bevölkern werden,
wohnten alle in Vorstädten im europäischen
oder amerikanischen Stil. In Mitteleuropa
beträgt der durchschnittliche Flächenverbrauch von Vorstädten 800 bis 900 Quadratmeter pro Kopf. Bei einer Bevölkerungszahl
von 10 Milliarden ergäbe sich somit eine Vorstadt von 9 Millionen Quadratkilometern
(ungefähr die Größe der USA, bebaut mit
Wohnzimmern, Garagen, Vorgärten, Straßen und Einkaufszentren). Der ökologische
Fußabdruck dieser Mega-Wohngegend (das
heißt die biologisch produktiven Flächen, die
beim derzeitigen Stand der Technik zu ihrer
Versorgung mit Rohstoffen sowie zur Entsorgung ihrer Abfälle nötig wären) wäre
Privatsphäre und Individualität versöhnen?
Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen
Ideen sind mannigfaltig: Sie reichen von den
Siedlungen des New Urbanism bis hin zu SOLTAG (www.soltag.net), einer Initiative vier
dänischer Unternehmen, welche sich mit der
Entwicklung vorgefertigter Hauseinheiten
auf den schätzungsweise 100.000 Quadratmetern Flachdächern der NachkriegsWohnblocks in europäischen Metropolen
beschäftigt.
Es stellt sich die Frage, ob die gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geeignet sind, um diesen
Ideen im Wettkampf mit dem freistehenden
Einfamilienhaus zum Durchbruch zu verhelfen, das immer noch die Mehrzahl der neugebauten Häuser in Europa ausmacht. Indessen
gibt es auch hier erste Ansätze für ein tiefgreifendes Umdenken. So hat der Nachhal-
10
11
12
13
14
Z. Bauman in: Globalisation, the human
consequences. Cambridge 1998
K.R. Grossman/A. Tartakower: The Jewish refugee, New York: Institute of Jewish
Affairs 1944
K. Schlögel in: Die Mitte liegt ostwärts,
Frankfurt 2002
Richard Sennett, Verfall und Ende sed
öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der
Intimität, Frankfurt /Main, 1986
In ihrem Bericht „Ecological Footprint of
Nations“ schätzen Wackernagel et al. die
2040 verfügbare biologisch produktive Erdoberfläche pro Kopf auf zirka 1 Hektar, bei
einer Weltbevölkerung von 10 Milliarden.
Im Vergleich dazu hatte 1997 ein Deutscher
im Durchschnitt einen ökologischen Fußabdruck von 5,5 Hektar pro Kopf und ein Amerikaner 10,3 Hektar (Siehe http://www.
ecouncil.ac.cr/rio/focus/report/english/
footprint).
35
INTERVIEW MIT
ANDREAS LAUESEN
Zusammen mit Force4, einem interdisziplinären Team von acht Studenten der Königlichen Dänischen
Kunstakademie sowie der Danish
School of Design in Kopenhagen – hat
Andreas Lauesen ‚Boase‘ entworfen,
ein Wohnungsprojekt für die Zukunft,
das 2001 mit dem dänischen ‚Fremtidens Bolig‘ (Haus der Zukunft)-Architekturpreis ausgezeichnet wurde.
Jetzt setzen Force4 das Projekt in Zusammenarbeit mit den Architekten
KHR aus Kopenhagen in die Tat um.
DAYLIGHT&ARCHITECTURE fragte
Andreas Lauesen, nach den Hintergründen des Projekts.
Ihr preisgekröntes „Boase“-Projekt wird jetzt tatsächlich gebaut.
Wie weit sind die Arbeiten auf der
Baustelle fortgeschritten?
Derzeit verhandeln wir noch mit dem
Kunden und dem derzeitigen Eigentümer über den Preis für das Baugrundstück. Wir gehen aber davon aus, dass
in etwa drei Monaten mit dem Bau begonnen werden kann.
Das Faszinierende an Ihrem Projekt ist sein ganzheitlicher Ansatz
– es umfasst alle Maßstabsebenen
vom Städtebau bis zum menschlichen Körper, die Gemeinschaft
und das Individuum, Technik und
Natur. Hatten Sie diesen „großen“
Vorstoß von Anfang an geplant,
oder entwickelte er sich im Laufe
der Zeit?
Wir haben das Projekt mit einer umfassenden Forschungsarbeit begonnen, die wir in acht Kategorien
aufteilten: Gemeinschaft, Technologie,
Nachhaltigkeit, Identität, Selbstversorgung, Wohnung und Haus, Leben
im Netzwerk, Dynamik und Beständigkeit. Diese acht Themen waren der
Impulsgeber und zugleich das Ziel des
Boase-Projektes; sie haben es durch
den ganzen Prozess begleitet.
Was waren die drei wichtigsten Inspirationen für Boase – Experten,
die Sie gefragt haben, Bücher, existierende Lebensgemeinschaften
oder Beispiele aus der Architektur,
die Sie sich angesehen haben?
36
Erstens ein Ausflug zur Waggonfabrik von Scania in Randers, Dänemark.
Dort wurde uns gezeigt, wie man
Räume erzeugt und dabei möglichst
wenig Abfall produziert. Die zweite
Inspiration war Ulrik Carlsson, ein
Fachmann für Phytoremedation (Bodenentgiftung durch Pflanzen). Drittens regte uns Morten Lund von der
Danish School of Design dazu an, dem
Entwurfsprozess mit offenen Augen
zu begegnen.
Inwiefern wird das Gemeinschaftsleben in Boase vom Gemeinschaftsleben heutiger Siedlungen
abweichen? Und welche Vorsorge
trifft die Architektur von Boase
hierfür?
Das Gemeinschaftsleben findet auf
zwei Ebenen statt: Zu ebener Erde
im öffentlichen, allgemein zugänglichen Park, und auf den erhöhten
Laufstegen, die größtenteils nur von
den Bewohnern verwendet werden.
Außerdem verfügt jedes Haus über
einen großen Gemeinschaftsbereich,
über den jeder Bewohner in sein eigenes Zimmer gelangt. Hier können Sie
Feste feiern oder Ihre Freunde und
Nachbarn treffen. Dieser offene Lebensraum und Treffpunkt ist etwas,
das Sie ansonsten selten in dänischen
Häusern finden.
Beobachten Sie generell einen Mangel an ganzheitlichem Denken in der
heutigen Architektur? Und könnte
dies mit der Art und Weise zu tun
haben, wie wir als Architekten ausgebildet werden?
Die skandinavische Architektur ist
immer ganzheitlich gewesen. Ich
denke aber, dass Architekten und
Designer das in den Achtziger- und
Neunzigerjahren vergessen haben ...
Diejenigen, die heute die architektonische Szene beherrschen , haben einige unserer großen skandinavischen
Vorbilder falsch verstanden.
Auf dem Bauplatz befand sich eine
kleine Ölfirma, die sich auf das Herstellen neuer Ölprodukte aus Rohöl
spezialisierte.
Sie verwenden Weiden, um den
Boden von Schadstoffen zu reinigen. Wie lange, schätzen Sie, wird
dies dauern?
Unser Experte Ulrik Carlsson von
DMU nimmt an, dass das Reinigen des
Bodens 10-15 Jahre dauern wird. Ich
denke, dass das die preiswerteste Lösung ist. Bei der konventionellen Bodensanierung wird das Problem nicht
gelöst, sondern der Schmutz wird nur
an einen anderen Platz geschafft, an
dem er zeitweilig unsichtbar ist.
Wie Sie eben erwähnten, geschieht
Umweltverschmutzung oft, ohne
von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Und die Öffentlichkeit interessiert sich meistens
nicht für das, was sie nicht sehen
kann. Ist dieser Mangel an Unmittelbarkeit bei unserem Umgang
mit natürlichen Ressourcen ein
Problem?
Ich glaube, dass die Menschen sich zu
Wort melden sollten. Nicht in negativer Hinsicht, sondern mit Vorschlägen, wie diese Probleme behoben
werden können.
Gab es bezüglich der öffentlichen
Gesundheit Bedenken, weil Sie
auf verseuchten Grund bauen
wollten?
Ja, natürlich. Wir wussten von Anfang an, dass das der wunde Punkt
des Projektes werden könnte. Deshalb setzten wir uns mit einem Arzt
der Gesundheitsbehörde und einem
Experten auf dem Gebiet der Toxikologie in Verbindung. Sie rieten uns, das
Gebäude über den Boden anzuheben,
sodass der Wind den Boden darunter
belüften kann.
Mit Boase geben Sie der Natur und
der Menschheit etwas zurück. Oder,
wie Sie sagten, „Wir fordern die
Erde für zukünftige Generationen
zurück“. Sehen Sie das als Wende
– weg von einer Architektur, die
normalerweise nur nimmt und nie
etwas gibt?
Ich glaube, dass in Dänemark das Interesse am individuellen Menschen
wächst. Die Situation wird sich aber
meiner Meinung nach in naher Zukunft nicht drastisch verändern.
Diese Vorstellung, die Gebäude
vom Boden zu erheben, erinnert
mich ein wenig an alte Utopien wie
Constants „New Babylon“ oder Ron
Herrons „Walking Cities“. Wurden
Sie durch ihre Gedanken angeregt?
Natürlich kennen wir diese Projekte;
sie waren aber keine wirkliche Inspiration für das Projekt. Unsere Inspirationen sind unter anderem neue
Materialien, Änderungen in der Gesellschaft und das moderne Ingenieurwesen.
Der Bauplatz, der für „Boase“ ausgesucht wurde, ist stark verseucht.
Wie wurde er vorher genutzt?
Sie beschreiben Boase als „Zusatz“
zu vorhandenen Städten. Könnten
Sie sich eine ganze Stadt vorstellen,
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
die auf der Grundlage des BoaseModells gebaut wurde?
Wir haben ein paar Entwürfe von
Boase-Städten auf Wasser gemacht.
Wir dachten, dass das System vielleicht an häufig überfluteten Orten
umgesetzt werden könnte; ich denke
aber, dass dies eine schlechte Idee
wäre, weil eine Stadt aus vielen verschiedenen Menschen und verschiedenen Häusern und Funktionen
bestehen sollte.
Eine bemerkenswerte Eigenschaft
von Boase ist die Tatsache, dass die
Wohnungen vollständig vorgefertigt werden. Was bedeutet das im
Zusammenhang mit Ihrem Projekt?
Sehen Sie die Notwendigkeit, auch
in der Fertighausindustrie ‚grüner‘
zu denken?
Die industrielle Produktion der Häuser kommt der effizienten Verwendung von Rohstoffen entgegen und
vermeidet Abfall. Deshalb glaube ich,
dass diese Methode für den Hausbau
der Zukunft notwendig ist. Man muss
jedoch auch der Energie, der Umwelt
und dem Einsatz von gesunden Materialien Rechnung tragen.
In der Realität entscheidet meistens der Preis, welche Häuser Erfolg haben und welche nicht. Wie
erschwinglich ist ein Boase-Haus?
Die Häuser werden für zirka 6000
DKK (850 EUR) im Monat pro 72-Quadratmeter-Einheit vermietet. Für eine
Neubauwohnung gleichen Standards
im Zentrum von Kopenhagen würden
Sie viel mehr bezahlen.
LEBENSRÄUME
DIE ZUKUNFT DES
WOHNENS
Ingenieure strebten danach, von diesen Beispielen zu lernen. Andere zeitgenössische
Architekten und Ingenieure vergleichen
ein Haus mit einer ‚dritten Haut‘ des Menschen – neben der ersten, natürlichen Haut,
und der zweiten Haut, unserer Kleidung. Sie
fordern daher, dass die Haut eines Hauses
ebenso einfach in der Lage sein muss, sich
an schwankende Bedingungen des Klimas,
Tageslichts und der Belüftung anzupassen
wie die menschliche Haut.
2.) Langfristig denken – weil nichts für
die Ewigkeit ist. In ihrem Buch Cradle to
33. Faber Maunsell und Houghton
Architects: Südpolarstation Halley
VI (2005). Die neue Forschungsstation der British Antarctic Survey fährt Ski: Ihre teleskopartigen
Beine stehen auf Gleitern, die ihr
eine Fortbewegung ermöglichen
und zugleich das Versinken im
Schnee – Schicksal so vieler Südpolarstationen zuvor – verhindern
sollen. An das zweigeschossige
Zentralmodul werden kleinere
Wohn- und Arbeitseinheiten angedockt. Soll die Station ‚auf Wanderschaft‘ gehen, werden pro
Modul zwei Bulldozer als Zugmaschinen benötigt.
33
Das Zuhause der Zukunft wird scheinbare
Widersprüche in Einklang bringen müssen.
Es wird urban und gleichzeitig naturnah,
robust und erschwinglich, in Serie gefertigt
und dennoch individuell sein; es wird wachsen und schrumpfen können, Privatsphäre
und die Möglichkeit zu sozialen Kontakten
bieten und der Umwelt mehr zurückgeben,
als es nimmt. Angesichts der Frage, wie diese
scheinbar widersprüchlichen Ziele erreicht
werden sollen, lohnt der Blick auf drei Strategien, die führende Denker in den letzten
Jahrzehnten entwickelt haben:
1.) Beobachten, wie Natur wächst, baut
und sich entwickelt. Vor allem in den letzten
Jahren haben sich die lebenden Dinge, die
uns umgeben, als eine der reichhaltigsten
Inspirationsquellen für Designer, Architekten, Tragwerksplaner und Materialwissenschaftler herausgestellt. In seinem Essay
Lessons From Nature erwähnt der amerikanische Architekt und Designer Eugene Tsui
zwölf zugrunde liegende Prinzipien natürlicher Strukturen. Unter anderem geht
Natur sparsam mit Material um, maximiert
die strukturelle Stabilität und das in einer
Form eingeschlossene Volumen, maximiert
das Verhältnis von Stabilität zu Gewicht,
erreicht Energieeffizienz durch Formgebung, verwendet lokal vorkommende Baumaterialien, erzeugt nichts, was schädlich
für die Umwelt ist, und entwirft Strukturen,
die von einem einzelnen Organismus gebaut
werden können.15)
Natürliche Strukturen wie Spinnennetze, Vogelnester und Termitenhügel
ziehen nicht nur wegen ihrer Schönheit
unsere Aufmerksamkeit auf sich, sondern
auch wegen ihrer unglaublich intelligenten
Materialverwendung. Frei Otto und andere
Cradle vertreten der amerikanische Architekt William McDonough und der deutsche
Chemiker Michael Braungart die Meinung,
dass in der Natur nichts nur einen einzigen
Lebenszyklus hat. Es gibt keine Abfallstoffe,
da alles Bestandteil eines kontinuierlichen
Kreislaufs von Wachstum und Verfall,
Geburt und Tod ist. In ähnlicher Weise sollte
alles, was wir produzieren oder bauen, ein
Bestandteil zweier Stoffwechsel sein: des
technischen Stoffwechsels, in dem idealerweise alle Materialien unendlich rezykliert
und wiederverwendet werden, und dem
natürlichen Stoff wechsel, in dem Materialien zersetzt und wieder zu biologischen
Nährstoffen werden. Daher sollten wir uns
McDonough und Braungart zufolge in Acht
nehmen vor so genannten ‚monströsen
Hybriden‘ – Produkten oder Bauelementen,
die nicht sortenrein getrennt und damit Teil
37
eines der beiden Zyklen werden können. Mithilfe moderner Technologien können wir
die Strukturen, Formen und Funktionen der
Natur recht gut nachahmen. Es ist jedoch
noch ein weiter Weg, bis wir dazu in der Lage
sein werden, sie aus denselben erneuerbaren
oder biologisch abbaubaren, stabilen, effizienten und schönen Materialien zu erschaffen wie die Natur. Wenn wir Erfolg haben,
erhält die Vorstellung von Gebäuden als
‚dritte Haut‘ des menschlichen Körpers eine
neue Bedeutung und wird schließlich mehr
als nur eine Metapher.
kopplung, die Unabhängigkeit der Systemfunktion von quantitativem Wachstum, die
funktionsorientierte (und nicht produktorientierte) Arbeit des Systems, die Mehrfachnutzung von Produkten, Funktionen und
Organisationsstrukturen sowie das Konzept
der Symbiose – der gegenseitigen Nutzung
von Verschiedenartigkeit durch Kopplung
und Austausch.
Welchen Einfluss haben diese Regeln auf
die Planung eines Zuhauses? An erster Stelle
ist die Rückkopplung mit dem Bewohner –
positiv wie negativ – von äußerster Bedeu-
im Zentrum des Prozesses, indem sie personalisierte Informationen zu Entwurf,
Produkten und Dienstleistungen für ihre
Entscheidungsfindung erhalten“.17) Ähnlich
wie Vesters Ansatz basiert die Vorstellung
der ‚Open Source‘ auf der Annahme, dass der
Verzicht auf zentrale Kontrolle im Planungsprozess und das Zulassen eines größeren
Maßes an Unvorhersehbarkeit und „fuzzy
logic“ zu einem individuelleren, robusteren
und fehlertoleranteren Ergebnis führt.
Drittens führt uns das Konzept der
Symbiose zurück zu einem eingangs in die-
34. Vision einer Raumstation
(1970). Nach der erfolgreichen
Mondlandung durch Apollo 9
planten Wissenschaftler der
NASA die ersten Raumstationen
im Orbit: Hohlzylinder, die in ihrem
Inneren eine verkleinerte Version des irdischen Ökosystems
enthielten. Auch die Architektur
der Wohngebäude unterschied
sich nur wenig vom Standard amerikanischer Vorstädte.
35
34
3.) Überdenken unserer Planungsstrategien. In der Natur gibt es keine vereinfachenden Wenn-Dann-Beziehungen. Jede
Aktion ruft nicht nur eine, sondern eine
Vielzahl von Reaktionen hervor. Unser Ökosystem basiert nicht auf deterministischer
Programmierung oder zentraler Überwachung, sondern auf einer komplizierten
Vernetzung rekursiver Steuerkreise, die
alle miteinander interagieren. Ein Beispiel
dafür ist das menschliche Gehirn mit seiner
neuronalen ‚Architektur‘. In seinem Buch
Die Kunst, vernetzt zu denkenn16) erklärt der
deutsche Biologe und Planungstheoretiker
Frederic Vester, dass Planung diese Komplexität verinnerlichen muss, anstatt sie kontinuierlich zu reduzieren. Vester stellt acht
Grundregeln der Biokybernetik heraus, zu
denen die folgenden zählen: die Existenz
sowohl positiver als auch negativer Rück-
38
tung; die daraus gewonnenen Erkenntnisse
sollten daher auch direkt in die Planung und
Herstellung einfließen. Wird es möglich
sein, den Serienbau zukünftiger Häuser in
einen Prozess zu verwandeln, der permanent
und automatisch von den Erfahrungen der
Benutzer lernt? Sollte dies gelingen, so wäre
(vielleicht zum ersten Mal überhaupt) eine
wirklich zielgerichtete und am Menschen orientierte Planung Wirklichkeit geworden.
Zweitens könnte ein Überdenken der
Rolle von Architekten, Herstellern und Bauunternehmen von großem Vorteil sein. Kent
Larsons vorausblickendes Konzept eines
‚Open Source Building‘ impliziert: „[...] Bauunternehmer werden zu Monteuren, Architekten erarbeiten Entwurfsmodule, um
auf effiziente Weise tausende einzigartiger Umgebungen zu erstellen, [und] Kunden (Hauskäufer) werden zu ‚Innovatoren‘
sem Artikel diskutierten Punkt. Die menschliche Welt ist zu einer Welt der Spezialisten
geworden, in der die Konzepte der Individualität und Verschiedenheit vorherrschen.
Dadurch haben wir das Potential für eine
Vielzahl fruchtbarer Symbiosen geschaffen,
in denen jeder Teilnehmer vom anderen profitieren kann. Eine wahrhaft breit angelegte
Symbiose im Planungsprozess, die auf gegenseitigem Respekt, Solidarität und enger Kommunikation beruht, wäre eine solide Basis für
unsere Aufgabe, Lebensräume für die 10 Milliarden Menschen zu schaffen, die bald die
Erde bewohnen werden.
15
16
17
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
http://www.tdrinc.com/natarch.htm
Die Kunst, vernetzt zu denken. Ein Bericht an
den Club of Rome. München 2002
Siehe Artikel in dieser Zeitschrift.
35. PLOT: HySociety (2004).
‚Was wäre, wenn Dänemark eine
Energiekostenrechnung von Null
hätte?‘, fragen die Kopenhagener Architekten PLOT in ihrem
Projekt zur Architekturbiennale
2004 in Venedig. Sie entwerfen
ihre wasserstoffgetriebene Utopie als kompakten, städtischen
‚Superblock‘ für 1500 Bewohner,
in dem ein geschlossener Kreislauf aus Energieerzeugern und
Energieverbrauchern entsteht.
Haupt-Energiequelle ist die
Sonne. Abwärme geht nicht verloren, sondern wird zum Beheizen von Wohnungen, Büros und
eines Schwimmbades genutzt.
36. Richard Horden et al.:
Forschungsstation Peak_Lab
(2003). Die Forschungsstation
Peak_Lab auf dem Kleinen Matterhorn ist als energie- und wasserautarker Selbstversorger
geplant. Die Montage erfolgt
über Helikopter. Der ‚Gipfelstürmer‘ ist in Module eingeteilt, die
wiederum verschiedene Nutzungsvarianten erlauben. So
kann das Küchen- auch zum
Schlaf- und Wohnmodul umgewandelt werden.
BILDNACHWEIS
S.15 FILM MUSEUM BERLIN –
DEUTSCHE KINEMATHEK
S.16–17
7 FOTO: MICHAEL WOLF
WWW.PHOTOMICHAELWOLF.COM,
COURTESY OF HASTED HUNT GALLERY, NEW YORK,
WWW.HASTEDHUNT.COM
ALTARFALZ: QUALLENSCHWARM
FOTO: CHRIS SATTLBERGER / SPL / AGENTUR FOCUS
DIE NATUR DES WOHNENS
1. ZEICHNUNG: LE CORBUSIER/VG BILD-KUNST
2. FOTO: RICHARD DAVIES
3. FOTO: ATELIER FREI OTTO
4. FOTO: ROBERT BRUNO
5–6. RENDERINGS: WILL ALSOP/SARAH FEATHERSTONE
S.20–21
FOTO: THE THOMAS KINKADE COMPANY
ALTARFALZ: HONG KONG INTERIOR
FOTO: MAP OFFICE
ZU HAUSE BEI SICH
7–8. FOTOS: THOMAS LINKEL
9–11. FOTOS: LARS MONGS
12. FOTO: HAYLEY FRANKLIN
13. ZEICHNUNG: ROB KRIER
14. FOTO: JAKOB SCHOOF
DIE ZELLE UND IHR METABOLISMUS
S.26 RENDERING: GREG LYNN FORM
15. FOTO: LANGE/DECHAU
16. FOTO: N55, KOPENHAGEN
17. RENDERING: KALHÖFER – KORSCHILDGEN
18. FOTO: FONDATION LE CORBUSIER/ VG BILD-KUNST
19. FOTO: JAKOB SCHOOF
20–21. ZEICHNUNG: N55
22. ZEICHNUNG: KISHO KUROKAWA
23. FOTO: KISHO KUROKAWA ARCHITECTS
24. FOTO: TOMIO OHASHI
P.28–29
ZEICHNUNG: FONDATION LE CORBUSIER/ VG BILD-KUNST
INDIVIDUALITÄT UND MASSENPRODUKTION
25. FOTO: BOKLOK
26–27. FOTO: JAKOB SCHOOF
28. FOTO: BOB PERRON
29. FOTO: MAP OFFICE/LAURENT GUTIERREZ,
VALERIE PORTEFAIX
DAS ICH UND DIE GESELLSCHAFT
30. ZEICHNUNG: EBENEZER HOWARD
31. FOTOMONTAGE: ARCHIZOOM / COLLECTION CENTRO
STUDI E ARCHIVIO DELLA COMMUNICAZIONE,
UNIVERSITÀ DI PARMA
32. FOTO: OFFICE FOR SUBVERSIVE ARCHITECTURE
36
DIE ZUKUNFT DES WOHNENS
33. RENDERING: FABER MAUNSELL +
HUGH BROUGHTON ARCHITECTS
34. RENDERING: NASA AMES RESEARCH CENTER
35. FOTO: PLOT
36. RENDERING: PROF. RICHARD HORDEN, LONDON
UND TU MÜNCHEN; PROF. DR. ULRICH PFAMMATTER,
HOCHSCHULE FÜR TECHNIK UND WIRTSCHAFT,
ABTEILUNG BAU UND GESTALTUNG, CHUR/SCHWEIZ
REFLEKTIONEN
Neue Perspektiven:
Ideen abseits der Alltagsarchitektur.
NEGOTIATE
MY BOUNDARY!
Oben Eine Wand ist in negotiate my boundary!! nicht automatisch eine Wand. Das Storyboard
von RAMTV zeigt Möglichkeiten,
wie Räume und mobile Einbauten
gemeinsam genutzt werden können.
Text von RAMTV – Aljosa Dekleva, Manuela Gatto,
Tina Gregoric, Robert Sedlak, Vasili Stroumpakos.
Was wäre, wenn Form und Größe menschlicher Wohnungen von den
Bewohnern selbst in einem Prozess gegenseitiger Verhandlungen
festgelegt würden? In „negotiate my boundary! – Verhandle meine
Grenzen!“, ihrer Abschlussarbeit an der Architectural Association in
London, entwickelten die fünf jungen Architekten RAMTV ein
Planungswerkzeug, das diese Art der Verhandlung ermöglicht. Das
Ergebnis ist ein Gebilde von Wohnungen, die nicht nur die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmer, sondern auch die Bedürfnisse der
Gemeinschaft als Ganzes erfüllen.
Negotiate my boundary! schlägt ein Modell vor, um Woh- Der Hauptfokus liegt auf der Verhandlung von Grenzen vor dem
nungen individuell zu gestalten und über das Internet zu kaufen. Hintergrund mehrerer – räumlicher und sozialer – Spielarten
Die Anpassung von Wohnungen im großen Stil erfolgt durch und auf vielen verschiedenen Maßstäben von der Detail- bis zur
eine webbasierte Software, genannt ‚cluster:blaster‘, die inten- Quartiersebene. Die Verhandlung wird zu einem generativen
sive Diskussionen und Verhandlungen zwischen zukünftigen Parameter für die räumliche Realisierung eines architektonischen
Kunden auslöst. Das findet in einer Echtzeitumgebung mit inte- Konzepts. Die innerhalbdes Projektes geschaffenen Grenzen defigrierten spekulativen Marktstrategien (‚Börsenmodell‘) statt.
nieren weniger die Differenzierung zwischen Öffentlichem und
Das Projekt untersucht, wie sich entwickelnde soziale Systeme Privatem, sondern die stufenweise ansteigende Intimität, die mehund häusliche Organisationsformen heutzutage die städtische rere Bereiche unddamit vielfältige Arten des sozialen Austausches
Wohnarchitektur beeinflussen. Diese Forschung zum ‚superge- schafft. Es geht nicht nur um Trennung und Privatsphäre, sonwöhnlichen‘ Thema Wohnen wird in einem Entwurfsprojekt dern auch um mögliche performative Effekte bei der Interaktion
über die individualisierte Massenfertigung einer Nachbar- zwischen Raumbegrenzung und Bewohner.
schaft mit einer ehrgeizigen sozialen Agenda entwickelt. Die
Arbeit simuliert einen parametergesteuerten Entwurfsprozess i. forschungsprozes
mit Beteiligung der Nutzer, wobei die künftigen Bewohner
über eine Webseite an der physischen und sozialen Organisa- Die Studie begann mit der gleichzeitigen Fokussierung auf zwei
tion der Nachbarschaft teilhaben und über den Entwurf ihrer autonome Systeme – das territorialisierende System und das ergoWohnungen mitbestimmen. Sie wählen Aktivitäten aus, wel- nomische System – als Grundlage für die Analyse der ‚Unité
che die Wohnung über digitale morphogenetische Verfahren d’habitation‘ von Le Corbusier. Parallel dazu gab eine getrennte
erzeugen. Sämtliche Aktivitäten laufen in einem Börsenmodell Forschung zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit
ab: Vor dem Kauf verhandeln die Kunden über das Internet mit Aufschluss über den Aufbau sozialer Szenarien. Die faszinierende
ihren Nachbarn über den gemeinsam genutzten Raum. Dieses Instabilität sozialer Beziehungen löste eine Studie zu reaktiven
Modell integriert die Grundsätze der gleichzeitigen Reaktion Umgebungen aus, um räumliche Strategien zu ermöglichen. In
und Ansprechbarkeit, und es beruht auf Verhandlungen in einer ‚negotiate my boundary!‘ werden neue Grenzsysteme erzeugt, die
Echtzeitumgebung mit integrierten spekulativen Marktstrate- soziale und räumliche Dynamik aufzeichnen und hervorrufen.
gien. Das Internet mit seinem interaktiven Potenzial wird als ein Das Genotyp-System (abgeleitet vom territorialisierenden System)
Instrument der architektonischen Planung verwendet – strate- und das Aktivitäts-Komponenten-System (abgeleitet vom ergogisch, räumlich und sozial. Es wird als Medium für eine erneu- nomischen System) interagieren miteinander auf eine Art und
erte Idee von der Gemeinschaft und als Werkzeug verwendet, Weise, welche das Entstehen einer bestimmten räumlichen Organicht nur, um soziale Spielformen zu realisieren und zu ermög- nisation, des sogenannten Hyper-Verbundenen-Systems, ermöglichen, sondern hauptsächlich, um neue soziale Interaktionen zu licht. Dieses System erlaubt die individualisierte Massenfertigung
stimulieren. Das Internet „setzt die Hemmschwelle der persön- (‚mass-customisation‘) der Wohnungen durch potenzielle Benutlichen Kommunikation zwischen Benutzern erheblich herunter zer im Internet, bevor diese auf einem ausgewählten Grundstück
und berücksichtigt die Entwicklung eines bestimmten Grads tatsächlich realisiert werden.
der Selbstauswahl und gemeinschaftlichen Selbstorganisation
in einem sicheren und unverbindlichen virtuellen Bereich. Dies 1. Territorialisierendes System >> Genotyp-System
ist auch der Bereich, in dem ein von Grund auf interaktiver Ent- Die ‚Unité d‘habitation‘ wurde analysiert, um ihr System einwurfsprozess schließlich plausibel wird. Eben diese ‚Entwurfs- heitlicher Wohnungstypen und deren kombinatorische Muster
prozesse‘ der Auswahl, Aussprache und Verhandlung werden zur herauszustellen. Die einförmige Struktur der Fassade lässt das
Schubkraft für den Aufbau sozialer Beziehungen, die zu neuen hohe Niveau der inneren Komplexität des Gebäudes, die wieGemeinschaftsformen führen könnten.“ 1)
derum aus einer Reihe relativ einfacher Wohnungstypen und
D&A FRÜHJAHR 2006
0
AUSGABE 02
41
Ergonomic system > Activity-tile system
Linkss Projektübersicht zu negotiate
my boundary!.
! Kern des Projekts sind
ein ergonomisches Subsystem – die
Aktivitäts-Komponenten – und ein
räumliches Subsystem – die Genotypen. Beide zusammen ergänzen
sich zur Gesamtform der Wohnung,
die im Internet mit den Mitbewohnern und Nachbarn ausgehandelt
wird.
Territorialising system > Genotype system
B
A
Virtual envelope
Negotiation space
Customising spatial envelope > Possible actualisation
Lofting technique (A – B)
Spatial organisation = Hyperattached system
deren Kombinationen abgeleitet ist, nicht erkennen. Da das
Prinzip ineinander verschachtelter Paare von Wohneinheiten
ein Hauptmerkmal des Systems ist, führte die Untersuchung zu
einem Genotyp-System, das sich auf die paarweise Verhandlung
zwischen benachbarten Wohnungen und das Testen des Potenzials ihrer Zwischenräume (Verhandlungsräume) konzentriert. Es
legt die Grundsätze der Geometrie, Struktur, Zirkulation und
Kombination (Durchdringung) von Wohnungen fest.
2. Ergonomisches System >> Aktivitäts-Komponenten-System
Die Forschung zum ergonomischen System konzentriert sich
auf die Beziehung zwischen Tätigkeiten und Ergonomie – eine
Schnittstelle zwischen dem menschlichen Körper und seiner häuslichen Umgebung. Ergonomische Positionen des menschlichen
Körpers undfestgelegte Tätigkeiten erzeugen ein Aktivitäts-Komponenten-System, das die typische Aufteilung von Wohnraum
zwischen Fußboden und Decke durch kontinuierliche Variantenbildung herausfordert und die innere Wahrnehmung einer
Wohneinheit moduliert.
3. Reaktive Umgebungen >> Grenzen
Eine reaktive Umgebung ist im Stande, auf Reize zu reagieren, die
als Input für ihre Funktion, Anordnung oder ihr Erscheinungsbild dienen. Letztere beruhen wiederum auf den Tätigkeiten
und Entscheidungen der einzelnen Nutzer. Damit ein solches
System als wahrhaft reaktiv betrachtet werden kann, muss es im
Stande sein, eingehende Informationen zu verarbeiten und sich
an eine Bedingung anzupassen, die von einem Anfangszustand
(einschließlich der Organisation, Einordnung oder Installation
eingebauter Elemente) abweicht. Dies kann heute durch Softwaresysteme gesteuert werden, deren Konfiguration auf Informationen beruht, die aufgrund menschlicher Verhaltens- und
Gebrauchsmuster innerhalbdieser Installationen gesammelt werden. Folglichbestehen solche Umgebungen aus architektonischen
Elementen, die mehr tun als sich nur zu ‚bewegen‘.
Um die räumlichen Schwellen und Sichtverbindungen zwischen Wohnungen neu zu erarbeiten, wurden im Rahmen des
Projekts verschiedene reaktive Systeme entwickelt. Sie beeinflussen die Setzung und das Verhalten der Grenzen in sozialer wie in
physischer Hinsicht. Das Projekt lässt eine reaktive Umgebung
entstehen, in der das Verhalten der Bewohner andauernder Bewer-
42
tung unterliegen kann. In dieser Umgebung ‚atmet‘ die Wohnung
mit dem Bewohner und lernt seine Gewohnheiten.
Reaktive Umgebungen funktionieren auf zweierlei Ebenen:
Einerseits sind sie materielle Konstrukte, die gesehen, berührt
und angepasst werden können (das heißt, sie besitzen eine physische Präsenz). Andererseits bestehen sie auch aus unsichtbaren
Netzwerken mit Steuerprogrammen, die sich an programmierbaren Leistungskriterien orientieren. Diese bestimmen in letzter
Instanz, wie diese Anordnungen auf spezifische Bedürfnisse und
vordefinierte Ereignisse reagieren.
4. Soziale Szenarien>> Nachbarschaft
Die anfängliche Erforschung gesellschaftlicher Wirklichkeit
innerhalb des häuslichen Bereichs wurde zur Grundlage für die
Simulation sozialer Szenarien, aus denen sich wiederum die Organisationsdiagramme für die Entwicklung der vorgeschlagenen
reaktiven Nachbarschaft generieren. Dabei bilden die Diagramme
die Grundlage für den endgültigen Entwurf, während sie gleichzeitig die für ihn relevanten Vorgänge beschreiben. Der Aufbau
dieser sozialen Szenarien geht von einer abstrakten Matrix möglicher Mitglieder aus, die ihre Beziehungen zu anderen Mitgliedern (Verbindungen – vertraut, verwandtschaftlich, irgendwie)
und Grenzen ([nicht] öffentlich, [nicht] autonom) und Interaktionen mit anderen Mitgliedern beschreibt. Diese Beschreibung
reicht bis hin zu sehr spezifischen sozialen Drehbüchern, die auf
echten Lebensgeschichten beruhen, was äußerst individuallisierte
Wohnungen ermöglicht.
Raumorganisation = Hyper-Verbundenes System
Die Genotypen mit ihrer festgelegten Geometrie und den möglichen Formveränderungen bilden die virtuelle räumliche Hülle,
während die Arten ihrer Gruppierung und Durchdringung den
Verhandlungsraum (Zwischenraum zwischen zwei Genotypen)
festlegen. Diese virtuelle Hülle ist eine allgemeine, undifferenzierte räumliche Einheit, die später durch den Prozess der individualisierten Massenfertigung ausformuliert wird.
ii. soziale tagesordnung
Die potenzielle Gemeinschaft wird zunächst über die webbasierte
Software als virtuelle Einheit gebildet und dann vor Ort verwirk-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Oben Auszug aus dem Katalog
möglicher Aktivitäts-Komponenten. Von links nach rechts:
Verbindung zwischen zwei Räumen, Baustein ‚Schlafplatz‘ und
Baustein ‚Badewanne‘.
Ganz unten Abhängig davon, welche Präferenzen die Bewohner hinsichtlich Zugang zum Freibereich,
natürlicher Belichtung und Aussicht die Bewohner haben, wird
die Struktur des Quartiers ausfallen: ein Teppich aus Patiohäusern
(oben), eine Reihenhaussiedlung
(Mitte) oder ein Wohnhochhaus
(unten).
Mitte Statistische Verteilung
der Haushaltsgrößen in Großbritannien (1995-1996)
Type of household (UK 1995 – 96)
Single under pensionable age
13%
Single overpensionable age
15%
Married couple
29%
Married couple with 1 child
9%
Married couple with 2 children
10%
Married couple with 3 or more children
4%
Married couple with nondependent children
6%
Single parent with dependent children
7%
Single parent with nondependent children
3%
Two or more unrelated adults
3%
Carpet
Middle-rise
28% Singles
74%
10% Single parents
High-rise
licht. Das Projekt ist ein ‚Gesellschaftsexperiment‘, das auf die
vorhandenen sozialen Tendenzen antwortet und diese verstärkt,
damit nicht nur die wesentlichen Bedürfnisse nach Häuslichkeit und Privatsphäre erfüllt werden, sondern auch neue gesellschaftliche Interaktionen zwischen zukünftigen Mitgliedern der
Gemeinschaft gefördert werden. Es schlägt neue Beziehungen
zwischen einzelnen Haushalten, die Überschneidung von Grenzen und ihre kontrollierte Durchlässigkeit vor. Räume werden
geteilt und vermietet und Grenzen werden geöffnet, um sie für
jeden zugänglich zu machen ...
Die Grenzen legen keine öffentlich-privaten Dichotomien fest,
sondern verschiedene Ebenen der Intimität und damit verschiedene Arten des Austausches. Das Konzept stellt die übliche Definition einer Wohnung als komplett ausgestattete Einheit2) durch
ein ‚Ausschlussprinzip‘ (z. B. ohne Versorgungseinrichtungen
> eine Wohnung ohne Küche) und durch ein ‚Einschlussprinzip‘
(z. B. einschließlich öffentlicher Extras > eine Wohnung mit einem
Heimkino) in Frage. Dieser Prozess führt zu einem durchstrukturierten System von Abhängigkeiten zwischen Haushalten und
einer völligen Integration des öffentlichen Raums in den privaten
Bereich. Das Ergebnis ist ein Netz öffentlicher Unterhaltungsangebote im Kleinformat, die in den privaten Bereich integriert sind
(z. B. Kleinkino, Restaurant mit hausgemachten Gerichten etc.)
oder durchdie Vermietung eines Teils der Wohnung (Sauna, großzügiges Esszimmer, Profiküche etc.) integriert werden.
Aktuelle gesellschaftliche Tendenzen deuten darauf hin,
dass Haushalte in Zukunft kleiner sein werden als jemals zuvor.
Eine ‚Familie‘ im herkömmlichen Sinne wird sich an neue gesellschaftliche Strukturen anpassen. Es kommt zu einem Anstieg von
alleinerziehenden Eltern und Single-Haushalten oder Paaren im
Ruhestand. Durch den intensiven Einschluss von gemeinsamen
Haushalten3) entsteht eine bunte Tätigkeitsgemeinschaft an Stelle
städtischer Enklaven (Geburtshäuser, Altersruhesitze etc.) mit
zwangsläufig diskriminierendem Beigeschmack. Es gibt somit
keine gesellschaftlichen Randerscheinungen, sondern es entsteht
ein neues Potenzial für menschliches Miteinander: Verschiedene
Lebensstile und Zeitpläne geben Gelegenheit zur gegenseitigen
Hilfe; Mitglieder führen untereinander Dienstleistungen aus und/
oder erfüllen gesellschaftliche Pflichten (z. B. Kinderfürsorge).
43
iii. individualisierte massenfertigung
Einzigartige Lebensstile erfordern äußerst spezifische, maßgeschneiderte Wohneinheiten. Heute passt sich Massenproduktion
an neue Marktanforderungen durch individualisierte Massenfertigung an. Universelle, standardisierte Produkte weichen persönlichen, kundengerecht angefertigten Gütern. Sie basieren auf
Verfahren zur Massenfertigung, die das Endprodukt an Kundenwünsche und -vorlieben anpasst. Dank computergestützter Produktionsverfahren sind individualisierte Waren kein Luxus mehr,
sondern ein natürlicher Bestandteil wirtschaftlich tragbarer großer Serienproduktionen. Individualisierte Produkte finden breiten Absatz und sind für jeden erschwinglich. Für ihren Verkauf
per Internet existieren bereits zahlreiche Beispiele, von Autos und
Kleidern bis hin zu Schuhen und Mobiltelefonen. Das Ausmaß
der Anpassung durch den Nutzer variiert von Details (Aussehen,
Farben oder Initialen auf Nike-Turnschuhen) bis hin zu wesentlichen Bestandteilen (Struktur – Auswahl an Hardware- und Softwarebestandteilen in einem Dell-Computer). Diese Modelle der
individuellen Massenfertigung dienen als Prototypen dafür, wie
man Wohnungen heute entwerfen und kaufen könnte.
In ‚negotiate my boundary!‘ wurde eine Online-Benutzeroberfläche entwickelt, die den Anpassungsprozess erleichtert.
Hier können Kunden ihre zukünftige Nachbarschaft zusammenstellen und ihre Wohnungen räumlich und nutzungsgerecht
anpassen und kaufen. In einer Simulation des Onlinekaufs von
individuellen Wohnungen wurden der Vorgang der Informationssammlung und das kollektive Aushandeln, das den Entwurf
moduliert und verfeinert, zunächst getestet. Diese Simulation
wurde erstellt, um den Doppelprozess des ‚Zusammenwohnens‘
und der Erstellung der Wohneinheiten sowie die Techniken zu
erklären, mit denen man zu Entwürfen gelangt, die ebenso individuell sind wie die Präferenzen und ‚ausgehandelten‘ Anforderungen jedes einzelnen Bewohners.
Es ist ein parametrischer Entwurfsprozess, der die individuelle
Massenfertigung auf einem städtischen kollektiven Wohnmaßstab untersucht. Da die vorgeschlagenen Unterkunftseinheiten
keine Vorstadtvillen (z. B. freistehende Objekte wie die Villa
Savoye von Le Corbusier) ohne physische Nähe zu ihren Nachbarn sind, entstehen notwendigerweise wechselseitige Auswirkungen, wobei die Anpassung einer Einheit die andere beeinflusst.
Der Anpassungsprozess registriert selektive Vorlieben der Nutzer
und wägt Einschränkungen im Entwurf gegeneinander ab. Er
ist in drei unterschiedliche Levels gegliedert, wobei jeder nächste Level den Individualisierungsgrad der Wohnumgebung
verfeinert: die parametrische Nachbarschaft betrachtet die Gruppierung und Anordnung der Wohneinheiten auf städtebaulicher
Ebene; die Anpassung der räumlichen Hülle schließt Verfahren
ein, mit denen die Nutzer ihre eigenen Wohnungen anpassen;
und die Anpassung der Grenzen legt die interaktiven Systeme
reaktiver Grenzflächen fest. In diesem letzten Schritt wählen die
Kunden die Form und Funktion der Grenzen ihrer Wohnungseinheiten aus.
44
Ebene 1 >> Parametrische Nachbarschaft
Die ‚Reaktionsfähigkeit‘ des Entwurfs auf der städtebaulichen
Ebene unterliegt den Parametern, die Kunden und Planer festlegen. Durch die Anmeldung auf einer Webseite wird der Kunde
offizielles Mitglied des Clubs; ein Mitglied der Gemeinde und
zugleich ihr Mitbegründer. Die Kunden legen die ersten Rahmenbedingungen für die parametrische Nachbarschaft fest, indem sie
einen Onlinefragebogen ausfüllen, auf dem sie den Grad der Verbindung zu angrenzenden Nachbarn, ihre Beziehung zu offenen
Räumen, den Einschluss öffentlicher Programme und eine Reihe
von Tätigkeiten in der Wohnung usw. angeben. Parallel zu den
räumlichen Vorlieben entwickeln sie ihr soziales Drehbuch –
sie stellen Verbindungen zwischen zukünftigen Mitgliedern
einer Gemeinschaft her und legen die Art ihrer Haushaltsgrenzen fest, indem sie entweder autonom oder nicht autonom sind
und öffentlich oder nicht öffentlich leben. Ihre Auswahl wird
gespeichert und für die Anordnung der Wohnungen in ihrem
urbanen Umfeld verwendet. Es entsteht eine nicht hierarchische,
schwammartige Raumorganisation.
Die Aufgabe der Planer ist es, den allgemeinen Rahmen der
Wohneinheiten zu definieren, der den anfänglichen Einschränkungen eines Hyper-Verbundenen-Systems (Geometrie, Prinzipien der Kombination und Verschmelzung von Einheiten)
unterliegt, und Parameter festzulegen, die eine zusammenhängende Entwicklung der Wohngruppe, einschließlich der Versorgung mit Tageslicht, der Erschließung, der Tragstruktur und der
Einflüsse durch den urbanen Kontext, gewährleisten. Die Entscheidungen jeder Partei werden in einem virtuellen räumlichen
Hülle mit genau festgelegten Verhandlungsräumen abgebildet,
die als Grundlage für die weitere Anpassung und Entwurfsdefinition dient.
Ebene 2 > Anpassung der räumlichen Hülle
Dieser Prozess der räumlichen sowie sozialen Verhandlung lässt
unterschiedliche – auch unerwartete – konkrete Ausformungen
der virtuellen räumlichen Hülle zu, die auf den Verhandlungen
zwischen verschiedenen Parteien bezüglich der Position, der Form
und der Leistung des Raums basieren. Ein Kunde wird eingeladen, mit seinen Nachbarn über den Verhandlungsraum zu verhandeln, indem er bevorzugte Tätigkeiten und ihre Funktionen
auswählt, welche in entsprechenden baulichen Abschnitten verkörpert werden. Ein Lofting-Prozess4) verbindet die gewählten
Abschnitte und erstellt räumlich einzigartige Wohnungen, die
durch Benutzereingaben und den automatischen Verbindungsprozessen angepasst werden. Dies alles findet in einem ‚Börsenmodell‘ statt.
Ebene3 > Anpassung der Grenzen
Die letzte Ebene der Anpassung konzentriert sich auf die Begrenzungssysteme, welche die Form der interaktiven sozialen Umgebung des Projektes direkt beeinflussen. Dem Kunden werden
verschiedene reaktive Systeme vorgeschlagen, aus denen er das
Muster, die Gestalt und spezifische kinetische Funktionen der
Grenzflächen auswählt, welche die Beziehung zum Innenraum
der Wohnung, zum Außenraum und zu allen Nachbarn beein-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
flussen. Zwei dieser interaktiven Systeme (ein System von drehbaren Lamellen sowie ein System tragender Drähte) beruhen auf
der mechanischen, durch die Software definierten Funktion der
Elemente. Mit ihrer Hilfe lässt sich die physische und visuelle Verbindung der Räume untereinander beeinflussen und damit die
soziale und physische Funktion der Grenzen kontrollieren und
ein stets variabler sozialer Raum erzeugen.
fazit
Die städtische Wohnarchitektur mit verhandelbaren Grenzen ist
ein Produkt der heutigen komplizierten gesellschaftlichen Situationen und Wechselwirkungen. Sie gleicht dem Leben bei Big
Brother, indem Sie als Bewohner exponiert sind (solange Ihre
Persönlichkeit dies erlaubt), und Ihre Nachbarn und die breite
Öffentlichkeit Anteil an Ihren Möglichkeiten und Ihrem Lebensstil haben. Wenn Sie nicht öffentlich leben möchten, können Sie
sich zurückziehen und völlig isoliert bleiben: Ihr Haus wird zu
einem Kokon. Auf jeden Fall wird es zu einer reaktiven Umgebung, wo Ihr Verhalten ständig bewertet und mit Hilfe architektonisch programmierter Elemente angepasst werden kann. Ihr
häuslicher Bereichlebt und atmet mit Ihnen,lernt von Ihnen und
reagiert auf Ihre Gewohnheiten – solange Sie dies wollen.
Der Vorschlag stellt nur Strategien, Parameter und Regeln
auf. Deshalb wird nie ein einziges, endgültiges Ergebnis in einem
System erreicht; stattdessen wird die fortlaufende Entwicklung
des Projektes durch das Sammeln, Anzeigen und Verhandeln von
Informationen online festgehalten. Abhängig vom gesellschaftlichen Input, Verhandlungsbedingungen undden Besonderheiten
des Ortes gibt es viele mögliche Realisierungsformen. Die Simulation von Szenarien des Zusammenlebens durch potenzielle Kunden hat zu einer möglichen architektonischen Ausdrucksform
geführt, die das Ergebnis eines ‚parametrischen Entwurfsprozesses‘ darstellt. Das Projekt wird zu einer fortlaufenden Lebensspiel-Simulation mit schwankenden Vorlieben, Einschränkungen
und Vereinbarungen.
Plans and sections 1:200
negotiate my boundary! - Verhandle meine Grenzen! ist das Projekt einer
Master-Arbeit, die am Design Research Lab (AADRL) von fünf Absolventen
der Architectural Association School of Architecture (AA) in London entwickelt wurde. negotiate my boundary! ist auch ein Buch, das kürzlich bei
AA-Publications London veröffentlicht wurde.
Ganz oben Im letzten Planungsschritt werden die Fassaden
individuell angepasst. Durch
ein System vertikaler Lamellen
kann der Nutzer festlegen, welche Bereiche seiner Wohnung
sich nach draußen öffnen sollen
und für welche er mehr Intimität
wünscht.
Mitte So könnten die fertigen Wohnungen bei negotiate
my boundary!! aussehen – oder
auch ganz anders. Sobald
die Verhandlungen abgeschlossen sind, generiert das
Programm ‚cluster:blaster‘
automatisch die Werkpläne
aus den gesammelten Daten.
1
Patrik Schumacher, Autopoiesis of a residential community, in: B. Steele,
(Hrsg.), RAMTV, Negotiate my boundary!! (London: AA Publications, 2002),
S.14.
2
Definition von ‚Wohnung‘ (UK, 1991): Eine Wohnung ist eine in sich abgeschlossene Einheit, die über Zimmer, Bad oder Dusche, WC und Küche verfügt.
3
Ein ‚gemeinsamer Haushalt‘ umfasst mindestens zwei Grenzen (kleinere
Haushalte innerhalb einer größeren Haushaltsanordnung – Verknüpfung
kleinerer Haushalte [Alleinerziehende, Single, Rentner] mit größeren Kollektivhaushalten.)
4
‚Lofting‘ ist ein automatisierter Prozess, bei dem unterschiedliche zweidimensionale Schnittsegmente zu einem 3D-Körper verschmolzen werden. Diese
Technik steht in vielen herkömmlichen 3D-Programmen zur Verfügung.
45
43°19 05 N, 11°19 51 E
05.2002
LA TERRA SEN
D’ALBERI, LA TER
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Vorhergehende Doppelseite
S. Quirico D’Orcia, Siena
Foto: Andrea Rontini
www.andrearontini.it
ZA DOLCEZZA
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O SIENA IL SUO
ARE MORTO
LONTANANZA
N POSSEDUTO DAL
LAGA DIVERSA
NSITARE I PENSIERI
I TRATTIENE,
OME RICORDO,
ME ANSIA.
Mario Luzi: „Tracce o inganni –
Al fuoco della controversia“
aus: Mario Luzi, „Tutte le poesie“
Diese Landschaft ohne den Zauber von Bäumen,
dieser unfruchtbare Boden,
der unterhalb von Siena sein lebloses Wogen unterbricht
und in der Ferne dahinwogt,
ist ein dem Verstand verborgener Ort,
ein ungewöhnlicher Erdstrich,
welcher den Gedanken freien Zutritt gewährt,
sie jedoch nicht festhält,
der nicht Erinnerung, sondern Sehnsucht hervorruft.
TAGESLICHT IM
DETAIL
Genauer hingesehen:
Wie Tageslicht in Gebäude gelangt
OPEN SOURCE BUILDING
FOTO: KENT LARSON
Links Spontane Individualisierung von Massenwohnblocks in Taipei.
Text von Kent Larson.
Die individuelle Gestaltung des Wohnraums geht
heute weit über die bloße Wahl der Einrichtung
hinaus. Moderne Schnittstellen zwischen Bauherr,
Architekt und Hersteller machen den Kunden selbst
zum Architekten seines ganz persönlichen Wohnumfelds. Im folgenden Beitrag beschreibt Kent Larson
vom MIT in Cambridge, USA, neue Wege der ‚mass
customization‘ im Wohnungsbau.
Die Massenwohnblocks von Taipei werden, so wie sie von bedienung an, und Sie werden damit Erfolg haben. Sie wollen
ihren Architekten konzipiert wurden, als düster und monoton Informationen – und je mehr Quellen zur Verfügung stehen,
wahrgenommen. Diese banalen Gebäude bilden jedoch die desto besser; denn sie fürchten sich nicht vor Entscheidungen
Kulisse für außergewöhnlich kreative Gestaltungsaktivitäten. – aber: sie verlangen ihr eigenes Tempo und ihre eigenen VorSpontan und vermutlich illegal werden Fenster zu Erkern umge- stellungen.“
baut, Brücken angebracht und Balkone mit einer schier unendDie heute vorhandene Prozess- und Kostenstruktur im Wohlichen Fülle an Formen, Materialien und Systemen verkleidet. nungsbau macht es jedoch fast unmöglich, sich beim Entwerfen
Einige zeugen von einer akribischer Liebe zum Detail, während den individuellen Problemen einzelner Bewohner zu widmen.
andere eher Todesfallen ähneln. Als Ganzes bringen sie jedoch Architekten konzentrieren sich in der Regel auf die Planung
den starken Wunsch des Einzelnen nach der Gestaltung eines und das äußere Erscheinungsbild, was zur Standardisierung von
Wohnräumen führt. Doch die Idee der individuellen architektoeinzigartigen Wohnraums in der großen Stadt ans Licht.
Während dieser Wunsch an den Fassaden amerikanischer nischen Anpassung ist nicht neu: Mies van der Rohe sagte bereits
und europäischer Gebäude meist keinen Ausdruck findet, wird 1927, dass seiner Ansicht nach „alle begründeten Wohnansprüer doch in den Hunderten von Büchern, Zeitschriften und TV- che erfüllt werden könnten, wenn lediglich die Küche und das
Sendungen aufgegriffen, die sich dem Thema „Wohnraumge- Bad als standardisierte Räume festgelegt würden und der übrige
staltung“ widmen. Firmen wie Ikea, Home Depot und Lowes Wohnbereich aus beweglichen Wänden bestünde“. Walter Groprofitieren in großem Umfang von dieser Do-it-yourself-Men- pius, Gründer des Bauhauses, schrieb 1910, dass industrialisierte
talität. Die Wohnungsbaubranche jedoch hat noch keine prak- Bauprozesse den „Wunsch der Öffentlichkeit nach Individualitikable Strategie für eine sinnvolle individuelle Anpassung an tät erfüllen und dem Kunden das Vergnügen der eigenen Entdie Wünsche der Kunden gefunden.
scheidung bieten könnten“.
Heute geht das Bedürfnis nach Individualisierung weit über
Unterdessen stellen andere Branchen bereits ihre Produkte
und Prozesse um und reagieren so auf die individualisierte Nach- die Erfüllung dieses Wunsches hinaus. Das Zuhause wird immer
frage des Marktes. Auf den Websites von Autoherstellern kön- mehr zu einem Zentrum für aktive Gesundheitsvorsorge, dezennen die potenziellen Käufer das Fahrzeug ganz nach ihrer Wahl trale Energieerzeugung, Arbeit, Handel, Unterhaltung und Lermit Extras versehen und so selbst den Preis bestimmen. Dell nen. Die Wohnung der Zukunft wird von allen Gebäudearten
wurde mit der Herstellung maßgeschneiderter Computer für wahrscheinlich die komplexeste Kombination von Nutzungen
Privatpersonen zum erfolgreichsten PC-Hersteller. Die New besitzen. Zukünftigen gesellschaftlichen Problemen, seien sie
York Times bietet Nutzern ihres Online-Angebots die Mög- nun demografisch oder energetisch begründet, muss durch die
lichkeit, sich benutzerdefiniert mit Nachrichten zu versorgen; Entwicklung neuer Modelle aus kosteneffektiver Anpassung von
und bei Bekleidungs- und Schuhherstellern können Sie Ihren Form, Technologie und Dienstleistung entgegengewirkt werden,
Körpern scannen lassen, um auf Sie zugeschnittene Produkte die den Werten des Einzelnen gerecht werden.
zu erwerben.
Viele der Firmen sind im Grunde Generalunternehmer, die open source building
in einem strategischen Netzwerk mit Partnern und Lieferanten Wir sind der Überzeugung, dass es möglich ist, die Qualität,
operieren, um so große Mengen eines personalisierten Produkts die Zufriedenheit, die Kosteneffizienz und den Formenreichanzubieten zu können. Bei einer Konferenz des amerikanischen tum im Wohnungsbau zu steigern, indem wir die Werkzeuge
Bauherrenverbandes „National Association of Home Builders” unserer Zeit nutzen: den kostengünstigen Einsatz von Compuim Jahr 2002 sagte William Novelli, Direktor der amerika- tern, leistungsfähige Algorithmen, nahezu kostenlos erhältliche
nischen Pensionärsvereinigung AARP, über die so genannten Elektronik, das Internet, leistungsstarke Materialien sowie neue
Baby Boomer und das Wohnungswesen: „Sie lieben die Aus- Entwurfs-, Herstellungs- und Versorgungstechnologien. Wir
wahl: Bieten Sie ihnen einfach eine bunte Mischung mit Selbst- schlagen ein neues Modell für den Entwurf und das Bauen vor,
D&A SPRING 2006 ISSUE 02
51
FOTOS: KENT LARSON
RENDERING. LARSON 2003, MODELL: MCLEISH 2003
das so genannte „Open Source Building“. Diesem Modell lie- leicht zugänglichen Anschlüssen an das Gebäudechassis. Diese
gen sechs Konzepte zu Grunde:
Komponenten beherbergen Sensor-, Kommunikationsmedien-,
 Generalunternehmer arbeiten mit Entwicklern zusammen, Beleuchtungs- und Steuersysteme.
um Einzelpersonen maßgeschneiderte Markenlösungen
anbieten zu können,
umstrukturierung des entwurfsprozesses
 Gebäude bestehen aus unterschiedlichen Ebenen integrierter für eine anpassungsfähige wohnarchitektur
Die Anpassung von Eigenheimen stellt eine deutlich größere
Montagemodule,
 Hersteller verständigen sich Schnittstellennormen und wer- Herausforderung dar als die Anpassung von Einzelprodukten,
den die Direktlieferanten für die Komponenten,
da die Benutzer des Systems ein deutlich größeres Spektrum an
 Bauunternehmer werden zu Monteuren,
Altersgruppen, Interessen, Kenntnissen und kognitiven Fähig Architekten entwickeln Designmodule, mit denen effizient keiten abdecken. Das daraus resultierende Eigenheim ist eine
tausende einzelne Wohnwelten geschaffen werden können,
Mischung aus einer Vielzahl von Produkten, teilweise in Standar Kunden (Hauskäufer) werden zu „Innovatoren“. Sie stehen im dausführung und teilweise individuell angepasst, im komplexen
Zentrum des gesamten Prozesses, indem sie zum Zeitpunkt Umfeld architektonischer Form, Beleuchtung und Materialien.
jeder Entscheidung personalisierte Informationen über den Da ein einzelner Entwerfer bei einem großen Wohnungsbauprojekt nicht mit jedem Bewohner eng zusammenarbeiten kann,
Entwurf, die Produkte und die Dienstleistungen erhalten.
In diesem Kapitel fassen wir die Arbeit des MIT-ForschungsproT
wird eine Designschnittstelle benötigt, die den einzelnen „Amajekts House_n
n zusammen, bei dem ausgewählte Design-, Ent- teurdesignern“ die Möglichkeit gibt, gut informiert Entscheischeidungsfindungs- und Bausysteme entwickelt und getestet dungen zu treffen, ohne vom Prozess selbst überfordert zu werden.
werden, um dieses neue Modell zu unterstützen.
Dazu gehört mehr, als eine bloße Auswahl anzubieten, denn, wie
Joe Pine schreibt: „Kunden wollen nicht die Wahl haben. Sie
chassis und integrierte ausfachung (i)
wollen, was sie wollen (und meistens sofort).“
Das vielfach publizierte HyWire-Konzeptfahrzeug von GM
Ein guter Entwerfer ist in der Lage, viele Variablen gleichzeitig
besteht aus einem Standardchassis, wie es bei nahezu allen im Spiel zu halten, bis eine ganzheitliche Lösung gefunden wurde
Fahrzeugen der Produktreihe verwendet wird, und einer stark – er löst also gleichzeitig viele Probleme, sowohl auf formeller als
individualisierten „Füllung“ (Karosserieteile, Innenausstattung, auch auf funktionaler Ebene. In unserem Entwurfsmodell entElektronik usw.), die häufig von Direktlieferanten bereitges- wickeln Experten Systeme, mit denen die Entwurfskenntnisse
tellt wird. Auch PCs werden nach einem ähnlichen Prinzip und Werte der späteren Bewohner erfasst werden. Die Experten
hergestellt. Für Design und Bau von Gebäuden findet sich sind daran gewöhnt, Amateurdesigner bei komplexen Designjedoch kein vergleichbarer Ansatz. Die MIT-Gruppe House_n und Entscheidungsfindungsfragen zu unterstützen, ohne dass
hat anhand von Prototypen untersucht, wie sich Gebäude in diese selbst wie Experten denken müssen. Dieser Ansatz für die
„Chassis“ (die standardisierte Struktur, Stromversorgung, Daten- Entscheidungsfindung für Amateurdesigner basiert auf vier inteund Rohrsystem eines Gebäudes) und „Ausfachung“ (Innenaus- grierten Komponenten:
stattung, die zum Zeitpunkt des Verkaufs vom Käufer angepasst
wird und sich standardmäßig mit dem Chassis verbinden lässt) präferenzmodul
gliedern lassen. Eine Variante der Chassis-i3-Strategie wurde Mit einem Präferenzmodul nehmen Personen an einer Reihe von
zum Bau einer Forschungsumgebung in Wohnungsgröße ver- Übungen oder Spielen teil, um Bedürfnisse, Vorlieben, Werte
wendet, um die Interaktion von Menschen mit neuen Tech- und annehmbare Kompromisse zu ermitteln – dies könnte als
nologien zu untersuchen. Das PlaceLab, eine Initiative von architektonisches Programm bezeichnet werden. Mithilfe des
MIT House_n
n und TIAX LLC besteht hauptsächlich aus vor- Präferenzmoduls wird ein Benutzerprofil erstellt, das auch Angagefertigten, angepassten Innenausstattungskomponenten mit ben zu Familiengröße, Budget, ästhetischen Werten und Akti-
52
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Gegenüber (oben rechts) Innenaufnahme des PlaceLab mit
i3-Ausstattung. Jede der 22
Innenausstattungskomponenten enthält einen Mikrokontroller,
einen Sensorbus und eine Reihe
von Sensoren für die Statusänderung und die Umgebung, außerdem Kommunikationsgeräte.
Gegenüber (unten rechts)
Innenaufnahme des PlaceLab
zum Test der i3-Komponenten
mit Sensoren und aufrufbarer
Beleuchtungsinfrastruktur. Zu
sehen sind aufklappbare, leicht
zugängliche Kanäle für den
Installationsbus. Für alle
Schränke wurden dieselben
integrierten Anschlüsse
verwendet, um den Einbau zu
vereinfachen und die Flexibilität
zu steigern. Die Anlage ist mit
mehreren Hundert modularen
Sensoren ausgestattet.
vitäten enthält. Um verschiedene Strategien zu entwickeln und
zu testen, haben wir einen digitalen Tisch konstruiert, bei dem
Bilder und Daten von unten auf eine beleuchtete Oberfläche
projiziert werden. Mithilfe von Sensoren werden Gesten und
optisch gekennzeichnete Maßstabsmodelle architektonischer
Komponenten erkannt.
designmodul
Beim Designmodul handelt es sich um einen computergesteuerten Algorithmus, der aus den Daten des Präferenzmoduls einen
Entwurf erstellt, den der „Designer“ (d. h. der zukünftige Eigenheimbesitzer) dann weiter entwickelt. Wir wünschen uns im
Idealfall eine Vielzahl von Designmodulen, die jeweils die Arbeitsweise eines bestimmten Architekten wiedergeben.
schnittstelle für den iterationsprozess
Durchdie Verwendung einer von vielen möglichen Schnittstellen
für den iterativen Entwurfsprozess können Kunden mit verschiedenen Designs experimentieren und eine komplexe Mischung
aus Elementen auswerten. T. J. McLeish, Mitarbeiter von House_
n, hat einen Prototyp einer Designschnittstelle entwickelt, bei
der dem Benutzer verschiedene Werkzeuge zum Verständnis des
Designs und seiner Auswirkungen zur Verfügung stehen:
• Konzeptansichten. Schematische Etagenpläne zeigen die Beziehung zwischen Räumen und Elementen.
• Physische Objekte. Optisch gekennzeichnete, maßstabsgerechte
physische Objekte, die auf dem Plan platziert werden. Diese
Objekte ermöglichen die Bewegung architektonischer Elemente
und Möbel zur Auswertung verschiedener Arrangements.
• Wahrnehmungsansichten. Beim Verschieben der physischen
Objekte wird eine rund 3 Meter hohe Projektion der Perspektive aktualisiert, die Form, Beleuchtung und Material zeigt.
• Daten. Die verschiedenen Lösungen können im Hinblick auf
Kosten, Leistungsfähigkeit, Strapazierfähigkeit usw. ausgewertet werden. Hierbei können die Herstellerdaten direkt berücksichtigt werden.
computergesteuerte beurteilungssysteme
Während des Entwurfsprozesses werden die meisten Amateurdesigner die Meinung eines Experten in Bezug auf bewährte
Techniken, Bauvorschriften und Vollständigkeit des Designs
Linkss Digitaler Tisch mit Grundriss, Informationsdisplay, physischen Komponenten und dem
sich ständig aktualisierenden
Entwurfs-Feedback.
FOTO: KENT LARSON
Gegenüber (ganz links)
Maßstabsgerechtes Ansichtsmodell des Gebäudes.
benötigen. Da bei Bauprojekten die direkte Interaktion zwischen
einem erfahrenen Architekten und dem Kunden nicht immer
gewährleistet ist, denken wir an ein System, bei dem Architekten
Software-Plug-ins zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe Amateurdesigner Echtzeit-Feedback erhalten, während sie ihre Entwürfe bearbeiten. Während für Bauvorschriften auf gesetzliche
Regelungen zurückgegriffen werden kann, ist für die Erfassung
der eher subjektiven Werte eines Architekten vermutlich ein
offenerer Ansatz erforderlich. Computergesteuerte Beurteilungssysteme können den Benutzer mit Feedback versorgen, während
er nach und nach Änderungen am Design vornimmt.
Nachdem der Entwurf feststeht, können Spezifikationen für
Standardprodukte direkt an den Hersteller und Maschinendaten
direkt an die Hersteller von Holzfertigteilen gesendet werden,
beispielsweise für die Produktion angepasster Einzelstücke oder
Massenwaren.
standards
Weithin verfügbare, stark individualisierte Wohnungen werden
nur möglich, wenn die Entwerfer und die Baubranche gemeinsam Standards für den Anschluss von Gebäudekomponenten
und -systemen erarbeiten. Dazu zählen genormte Schnittstellen
für Stromversorgung, Daten- und Rohrleitungssysteme sowie
mechanische Vorrichtungen, die in der Elektronikbranche üblich
sind. Dieser Ansatz kann die Art und Weise verändern, in der
Eigenheime in den nächsten 10 bis 15 Jahren gebaut werden.
Außerdem kann er Unternehmen, die Materialien, Produkte
und Dienstleistungen für diese Branche herstellen, neue Wege
in diesen lukrativen Markt (300 Milliarden Dollar Umsatz pro
Jahr) aufzeigen. Er könnte auch zur Erfindung des ultimativen
angepassten Massenprodukts führen: stark personalisierte Wohnumgebungen, integriert in eine komplexe Struktur standardisierter und angepasster Einzel- und Massenprodukte.
Kent Larson ist Forschungsleiter an der MIT School of Architecture and
Planning in Cambridge, USA. Er ist Leiter der Forschungsgruppe ‘Changing Places’ sowie der ‘MIT Open Source Building Alliance’. Larson arbeitet seit 1981 als Architekt: in Zusammenarbeit mit Peter L. Gluck von
1981 bis 1995 in New York City und seit 1995 selbstständig als Kent Larson Architects, PC. Sein Büro wurde von der Zeitschrift ‚Architectural
Digest‘ unter die 100 besten Planungsbüros für Wohnbauten gewählt.
53
Vorherige Doppelseite Dass
der Komplex unterschiedliche
Wohntypen umfasst, ist von
außen nicht unbedingt ersichtlich. Die hier abgebildete nördliche ,Wohninsel‘ beherbergt
vorwiegend zwei- bis dreigeschossige Einfamilien- und Reihenhäuser.
Links Auf der dem Dorf zugewandten Südwestseite steigt
der Komplex auf insgesamt fünf
Geschosse an.
Gegenüberr Geparkt wird entweder in der Tiefgarage oder zwischen den Wohneinheiten. Die
Umfassungsmauer ist so konstruiert, dass Blicke in den Hof
der Anlage möglich bleiben.
Zevenhuizen ist eines der vielen kleinen Dörfer im nördlichen Rotterdamer Einzugsgebiet, rund 16 Kilometer vom Stadtzentrum
entfernt und zwischen zwei Autobahnen im
flachen Polderland gelegen. Etwa 10000
Einwohner zählt die Gemeinde ZevenhuizenMoerkapelle, Tendenz steigend. Ebenso die
Anzahl der Rentner, Alleinstehenden und
allein erziehenden Personen. Aber auch
Familien, die den Großstadtlärm meiden,
suchen hier die Ruhe der grünen Landschaft,
eine Idylle inmitten von Grachten und Glashaus, Gewerbegebiet und Autobahn.
Es wird momentan „stark am Wohnungsmarkt gearbeitet“, lässt die Gemeinde offiziell verlauten. Und: „Der Bedarf an qualitativ
hochwertigen Eigenheimen wächst.“ Zwar
kennt man guten Wohnungsbau von Utrecht,
Rotterdam und Amsterdam, selten aber von
einem kleinen Randstad-Dorf wie Zevenhuizen. Die jungen Rotterdamer Architekten
Drost + van Veen stellten sich dieser Herausforderung. Rund11MillionenEuroinvestierte
der Bauträger, die Woonpartners Midden
Holland, in das zwei Hektar große Wohnprojekt SWANLA auf einem ehemals landwirtschaftlich genutzten Grundstück am
56
Rand des Dorfs – knappe Mittel, bedenkt
man seine hehren Ambitionen, etwas „ganz
anderes“ zu schaffen.
Das Programm zielte vor allem darauf
ab, sozial schwach gestellte Menschen und
Bewohner mit höherem Einkommen unter
,ein Dach‘ zu bringen. Folgerichtig haben die
Architekten ein Puzzlespiel aus Miet- und
Eigentumswohnungen, Lofts, Einfamilienund Reihenhäuser entworfen. Die städtebauliche Form ist homogen undkompakt. Es
drängt sichdas Bild einer Festung auf – eine
starke Geste, die diverse Wohnformen in
sich vereint. Der soziale Charakter des Projekts wird besonders deutlich, vergleicht
man es mit den Bauten der Umgebung: Die
Siedlungen, die in den vorangegangenen
Jahren um das Grundstück entwickelt wurden, entsprechen den standardisierten
Reihenhäusern der Wohnungsbaugesellschaften, wie sie in der holländischen Provinz nur zu häufig vorzufinden sind.
Als Sieger eines eingeschränkten Wettbewerbs aus drei vorausgewählten Teilnehmern begannen Drost + van Veen im Jahr
2000 mit den Planungen, Anfang 2005
wurde der Wohnkomplex fertig gestellt.
Es ist Dezember. Ich begleite die Architektin Evelien van Veen auf eine Besichtigung.
Wir nähern uns SWANLA-Catsburg von
Westen und überqueren eine schmale Fußgängerbrücke; das Grundstück wird von
allen vier Seiten von Grachten begrenzt. Nur
an zwei Stellen, der Ost- und West-Ecke,
kann man auch mit dem Auto das bebaute
Stück Land befahren. „Die Leute sollten
nach Wunsch des Auftraggebers nicht vor
dem Haus parken können. Dieser Ansatz war
für ein kleines Dorf wie Zevenhuizen etwas
absolut Neues,“ sagt Evelien van Veen. In
der Tat: Autos sind trotz des ungewöhnlich
weiten Straßenraums vor dem Gebäude
nicht zu sehen, denn die meisten Anwohner
parken den Wagen in der Tiefgarage des
Komplexes oder neben ihrem Haus. Dafür
zieht das geschuppte, fast bis aufden Boden
gezogene dunkle Dach die Blicke auf sich.
Unter ihm lugt eine Mauer in warmem Backsteinrot hervor. Großzügig geschwungene
Ecken schließen die Fassade ab und lassen
das Volumen der Anlage erahnen. Mit ihren
fünf Geschossen, die die Mietwohnungen
beherbergen, markiert sie den Eingang und
nimmt gleichzeitig Bezug zu den gegen-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
58
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Swanla von innen: Fotos von Bert Teunissen www.bertteunissen.com
59
überliegenden Gebäuden. Wir gehen ein
paar Schritte um die Ecke, die Hand fährt
an der rauen Backsteinhaut entlang. „Alter
Klinker“, so die Architektin, „wurde hier verwendet. Nur gutes Material.“ Trotz knapper
finanzieller Ressourcen habe ihr Büro doch
besonderes Augenmerk auf die Wahl der
Baustoffe legen können. Backstein und Ziegel seien typischfür die Region, und traditionelle Bauformen, Materialien und Kontext
spielten eine tragende Rolle in den Projekten
von Drost + van Veen. Die kleinteiligen Dachziegel beispielsweise antworteten auf den
dörflichen Maßstab. Die keramischen Schindeln besitzen einen leichten horizontalen
Knick gen Himmel. Das reflektiert die Sonne,
obschon sie zu dieser Jahreszeit selten ist.
48 Reihenhäuser und 41 Mietwohnungen mit einer Nutzfläche (BVO) von 11680
Quadratmeter umfasst der gesamte Wohnkomplex. Er besteht aus zwei rund 50 Meter
breiten und 130 beziehungsweise 85 Meter
langen ,Inseln‘. Auffallend ist ihre Anordnung: Nur die Endpunkte liegen auf der gleichen Achse, während sich der Blockrand
leicht zur Mitte hin verengt. Die Großform
bleibt erhalten und wird doch angenehm in
60
der Perspektive unterbrochen. Die Zweiteilung und das Versetzen der Straßen haben
aber noch einen weiteren wichtigen Grund:
Sie gehen auf die Struktur zurück, welche
die benachbarten Häuserfluchten und die
Sichtachsen in die offene Weidelandschaft
vorgeben.
Wir setzen unseren Weg entlang der
Südostseite fort. Nach rund 50 Metern wird
das Gebäude niedriger. Die dreigeschossigen Reihenhäuser beginnen, die Materialien bleiben. Die dunkle, wie eine Tarnkappe
übergezogene Verkleidung begleitet als
Band oder als Pultdach den durchgehenden
und in der Ebene zurückgesetzten backsteinroten Sockel. Doch trotz der differenzierten
Kubatur lässt sich kaum nachvollziehen,
was Reihen-, Einfamilienhaus oder Maisonette-Wohnung ist. Wie schon bei den Mietseinheiten wechseln Glasfassaden an den
Eingängen und geschlossene, anthrazitfarbene Garagentore einander ab. Die hölzernen Türen und Fensterrahmen sind im
gleichen Grau gestrichen. Die Dachhaut, die
sich jetzt fast in greifbarer Nähe befindet,
bietet uns Schutz vor dem einsetzenden
Regen. Eine schmale Parkbucht zwischen
zwei Reihenhäusern mit Pultdach unterbricht nach ungefähr 20 Metern die Gebäudeflucht. Durch winzige Öffnungen in der
Backsteinmauer erhaschen wir einen kurzen Blick in den Hof, auf Terrassen, Pflanzen
und Remisen.
Es hört auf zu nieseln, als wir zwischen
den beiden ,Inseln‘ ankommen. Der Kinderspielplatz in der Mitte des Platzes ist leer.
Freitagnachmittag. Ein älterer Herr führt
seinen Hund spazieren. Die meisten Anwohner SWANLAs kehren erst später von der
Arbeit zurück.
Wir betreten das gläserne Foyer am Ausgangspunkt unserer Runde auf der Westseite. Schon von außen war zu erkennen,
dass Drost + van Veen auch hier ,andere‘
Entwurfsprinzipien verfolgten: Wie zufällig dahingeworfene, in den Raum projizierte
Mikadostäbe kreuzen sich die einzelnen
Treppenläufe und lassen unterschiedliche
Raum- und Blickbeziehungen entstehen.
Dank der großflächigen Panoramafenster
wirkt der Erschließungsraum offen und
licht. Auch für das Innere der Anlage erarbeiteten die Architekten ein funktional wie
räumlich stimmiges Konzept: Eine Konstruk-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
tion aus Holz und Glaspaneelen schützt die
Laubengänge vor dem Wind. Wie die Treppenläufe bestehen auch sie aus vorgefertigten Betonelementen – den minimalen
Mitteln entsprechend. Eine Sitzbank deutet darauf hin, dass der Ort von den Anwohnern angenommen wird. Im Erdgeschoss
vermittelt sich ein ähnlicher Eindruck: Niedrige Holztröge markieren die Trennlinie zwischen privatem und gemeinschaftlichem,
mittlerweile begrüntem Außenraum. Zueinander sind die Terrassen offen.
Die Großform, die von außen den Komplex bestimmt, weicht hier einem kleinteiligen, fast familiären Charakter. Jeder sucht
sich seine Gesellschaft – oder eben nicht.
Innerhalb der Reihen- und Einfamilienhäuser herrscht das Prinzip der Verdichtung:
Gartenlauben säumen eine schmale Gasse
in der Mitte des Hofs. Die Terrasse zwischen
Haus und Remise ist ganz privat.
In SWANLA-Catsburg leben vor allem
aus der Gegend Zugezogene, namentlich
viele ältere Menschen, die sich, wie sie der
Architektin sagten, von dem „Besonderen“
dieses Wohnkonzeptes hingezogen fühlten.
Die Grundrisse der Wohneinheiten basieren
durchgängig auf dem Standardmaß von
5,40 Metern in der Breite und elfbeziehungsweise zwölf Metern in der Tiefe. Die Wohnungstypen variieren zwischen 109 und 190,
die Maisonette-Wohnungen zwischen 141
und 196 Quadratmeter Grundfläche. Sie
werden von der unteren Ebene aus erschlossen, eine einläufige Treppe führt ins Obergeschoss. Grundsätzlich folgen die
Grundrisse einem Schema: ein großzügiger
Wohnraum mit offener Küche, zwei bis drei
Schlafzimmer, Balkon oder Loggia nach
außen hin oder eine Terrasse zum Hof. Alle
profitieren sie von dem Tageslicht, das
durch die großflächig verglasten Fronten
und die Dachfenster von oben in die Räume
fällt. Besonders deutlich wird dies in den
Eckhäusern, deren Wohnraum von zwei Seiten erhellt wird.
Der Innenausbau war bei den Planungen
auf das Wesentliche reduziert. Den Grundriss wählen die Käufer nach ihren persönlichen Bedürfnissen und Wünschen. Aber
nicht nur das: Sie entscheiden letztendlich
über das individuelle Gesicht ihres Hauses,
zum Beispiel bei den Garagen, die zu einem
weiteren Zimmer ausgebaut werden kön-
nen. Lassen es die finanziellen Mittel zu,
werden sich die Eigentümer womöglich ein
weiteres Geschoss errichten. Dabei wird
den bereits bestehenden Geschossen einfach ein Pultdach aufgesetzt. SWANLACatsburg verändert im Laufe der Jahrzehnte
sein Aussehen, und auch das, was die zahlreichen Entwurfsmodelle zeigen, gilt nicht
beziehungsweise hat noch nie so existiert.
Die Form ist stark. Das Gebäude lebt.
Vorherige Doppelseite Vier
intime Einblicke: Trotz der
äußerlich einheitlichen Wohnungen unterscheiden sich die
Bewohner und deren Einrichtungsstil erheblich.
Gegenüber Das Grundstück wird
von allen vier Seiten von Wasserläufen begrenzt. Die Längsansichten der beiden den Komplex
bildenden ,Inseln‘ sind zueinander leicht versetzt.
Oben Die Mietwohnungen im
südlichen Teil der Anlage werden
vom Innenhof über Laubengänge
erschlossen. Glaspaneele schützen vor dem Wind.
61
Fakten
Standort
Gebäudetyp
Bauträger
Architekten
Fertigstellung
Zevenhuizen-Moerkapelle, NL
(sozialer) Wohnungsbau,
Miet- und Eigentumswohnungen
Woonpartners Midden Holland
Drost + van Veen Architecten,
Rotterdam, NL
2005
Unten (links) Satteldach und
Fassade bilden eine Einheit. Die
Oberfläche besteht aus anthrazitgrauen Keramikschindeln
mit einem leichten horizontalen
Knick, der die Sonne reflektiert
und dem Ganzen einen dörflichen
Maßstab verleiht.
Unten (rechts) Zusätzlichen
Wohnraum bietet das Pultdach,
das nach Wunsch auf die bestehende Flachdachkonstruktion aufgesetzt werden kann.
Ganz unten (im Uhrzeigersinn von
links): Dachfassade (Vertikalschnitt), Lageplan, Schnitt durch
Tiefgarage und Mietswohnungen
mit Laubengangerschließung
A3
DRAWINGS BY AND COPYRIGHT OF © DROST + VAN VEEN
C5
62
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
© FMGB. GUGGENHEIM BILBAO MUSEOA, BILBAO, 2006.
Guggenheim Museum Bilb
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VELUX PANORAMA
Architektur mit VELUX
aus aller Welt.
DIE FARBE MACHT DEN UNTERSCHIED
SIEDLUNG HAGENEILAND
IN YPENBURG
Fakten
Standort
Gebäudetyp
Investor
Architekten
Fertigstellung
Siemensvaart Ypenburg, Rijswijk
Reihen- und Doppelhäuser
Amvest, Amsterdam
MVRDV, Rotterdam
2001
Das Wohnen in den Niederlanden hat seit Beginn der 90er Jahre
einen radikalen Wandel erlebt: Mit
dem Rückzug des Staats aus dem
Wohnungsbau verdoppelten sich
die Preise innerhalb weniger Jahre.
Gleichzeitig entstanden Themensiedlungen, die manchmal als regelrechte Parallelwelten inszeniert
wurden, etwa in Form von mittelalterlichen Kastellen oder RenaissanceSchlössern. Beim VINEX-Gebiet in
Ypenburg, einer Stadterweiterung
mit rund 15000 Wohneinheiten, lautete das Thema „Landschaft“: Die
Masterplaner Fritz Palmboom und
Els Bet teilten das Gelände auf einem
ehemaligen Militärflughafen in Themenfelder wie „Moor“, „Wald“, oder
„Wasser“ ein. Hageneiland – wörtlich
übersetzt: die Heckeninsel - ist Teil
des von MVRDV geplanten „Wasserquartiers“. Namensgeber sind
die hohen Hecken, hinter denen die
Privatgärten der Bewohner dereinst
verschwinden werden. Das Gebiet ist
ausschließlich fußläufig erschlossen,
Parkplätze gibt es nur entlang der
umlaufenden Ringstraße.
Bei der Planung der 119 Eigentums- und Mietwohnungen sahen
sich MVRDV mit der zweiten Eigenheit des privaten Wohnungsmarkts
konfrontiert: Risikoarmut. Die Wohnungsgrundrisse sind weitgehend
vereinheitlicht, typologische Experimente nicht erwünscht, der
Architekt ist meist nur noch Fassadengestalter. Er verschaff t den
64
Siedlungen durch Äußerlichkeiten
wie Dachform, Fensteranordnung
und Materialwahl eine eigene Identität. MVRDV spielten dieses Spiel in
aller Konsequenz mit: Sie reduzierten
die Häuser äußerlich auf ihre Urform
– zwei Geschosse mit Satteldach,
ohne sichtbare Dachrinnen, Vordächer und sonstiges Zubehör. Lediglich Dachfenster durchbrechen an
einigen Stellen die homogene Dachhaut und spenden den Innenräumen
Tageslicht.
Dem unterschwelligen Wunsch
der Bewohner nach einem „eigenen“
Haus mit Wiedererkennungswert
trugen MVRDV durch die Materialauswahl Rechnung: Die Häuser sind
vom Sockel bis zum Dachfirst einheitlich verkleidet, wobei zwei benachbarte Häuserzeilen niemals das
gleiche Fassadenmaterial erhielten.
Verwendet wurden Holzschindeln,
Faserzement-Welltafeln, Aluminiumblech, Polyurethan-Paneele in Blau
und Grün sowie Dachziegel aus Ton.
Die grünen Häuser sollen in den kommenden Jahren vollständig durch
Efeu überwuchert werden.
2
1. Die ‚Heckeninsel‘ Hageneiland ist Teil eines von Fritz Palmboom und Els Bet entworfenen
Masterplans. Die Nähe zum Wasser bestimmt – wie oft in den
Niederlanden – das städtebauliche Konzept.
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
FOTOS: ADAM MØRK
1
2. Das Innere der Siedlung ist
vollkommen autofrei. Die Zeilen
umfassen maximal sechs Einzelhäuser und werden durch zahlreiche kleinere Quartiersplätze
aufgelockert, die Hageneiland eine
dorfähnliche Struktur verleihen.
Bewusst verzichteten MVRDV
auf jegliche Extravaganz.
Lediglich unterschiedliche
Fassadenmaterialien dienen der
Differenzierung.
WOCHENENDHAUS IN DER STADT
HAUS XXS IN LJUBLJANA
Fakten
Standort
Gebäudetyp
Bauherr
Architekten
Fertigstellung
Wer schon einmal in der slowenischen
Hauptstadt Ljubljana war, kennt bestimmt die malerische Altstadt mit
ihren vielen kleinen Cafés entlang des
Flusses Ljubljanica. Weit weniger bekannt ist hingegen das beschauliche
Viertel „Krakovo“ unweit der Altstadt.
Ursprünglich als Händlerviertel für
das benachbarte mittelalterliche Kloster entstanden, findet es in den letzten Jahren zunehmend Interesse bei
jenen, die die Nähe zum städtischen
Leben suchen und sich trotzdem ein
Haus mit Garten wünschen. Die kleinteilige Bebauung im Landhausstil, bei
der an jedes Haus ein lang gezogener
Garten angeschlossen ist, wirkt wie
eine grüne Oase in der bevölkerungsreichsten Stadt Sloweniens.
In diesem Ambiente entstand im
Jahr 2004 das kleine XXS-Haus, geplant von Dekleva Gregorič Architekten aus Ljubljana. Der Bauherr,
Vater von Aljosa Dekleva und selbst
Architekt, finanzierte damit dem jungen Architekturbüro quasi das erste
büroeigene Projekt. Dem Bauvorhaben liegt jedoch eine ungewöhnliche
Nutzungsidee zu Grunde: Das Bauherrenehepaar lebt eigentlich auf dem
Land und wünscht sich, um am kulturellen Leben in der Stadt teilnehmen
zu können, ein „Wochenendhaus in
Ljubljana
Einfamilienhaus
privat
Dekleva Gregorič_ Architects,
Ljubljana
Oktober 2004
1
der Stadt“. Auf diese Bauaufgabe reagieren Dekleva Gregorič Architekten
mit einem strengen Minimalismus in
Form und Material: Die einfache Kubatur des 43 Quadratmeter großen
„Xtra-Xtra-Small-Hauses“, die wegen
baubehördlicher Vorschriften dem
Vorgängerbau entsprechen musste,
wird durch die Fassaden- und Dachverkleidung aus großformatigen Faserzementplatten noch hervorgehoben.
Wie mit dem Messer ausgeschnitten wirken darin die fassadenbündig gesetzten Fenster. Im Innenraum
befinden sich zwei übereinander liegende Räume, die dem Konzept einer
Hotel-Suite folgen: Mit dem Notwendigsten ausgestattet nehmen sie alle
Funktionen vom Bad bis zur kleinen
Küche auf, die man zum kurzzeitigen
Wohnen benötigt. Eine skulpturale
Stahltreppe in der Mitte des Erdgeschosses führt zu den Schlafräumen
im Obergeschoss. Hier begegnen die
Architekten der Nordorientierung des
Daches mit einem Trick: Die lang gezogene Dachgaube öffnet sich nicht
nach vorn, sondern nach oben, wodurch der Innenraum mit viel natürlichem Licht versorgt wird. So wird
das Wohnen auf engstem Raum zu
einem Wohnen im von der Sonne verwöhnten Stadthaus.
3
66
4
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
ZEICHNUNGEN © DEKLEVA GREGORI_ ARCHITECTS
2
1. Die Vorschriften der Baubehörden, aus
denen sich eine Orientierung des Daches nach
Norden ergibt, machen ein spezielles Lichtkonzept notwendig, um die Innenräume mit
viel natürlichem Licht versorgen zu können.
2. Das beschauliche Viertel ‚Krakovo‘ unweit
der Altstadt ist geprägt von einer kleinteiligen Bebauung im Landhausstil. In dieses
Umfeld passt sich das XXS-Haus mit seiner äußeren Form, die seinem Vorgängerbau
folgt, unauffällig ein.
3. Lageplan
4. Ansicht
5. Seine ausreichende Höhe erhält der Raum im
Obergeschoss erst durch die lange Dachgaube.
Sie ist außerdem so geformt, dass das Licht nicht
von vorn, sondern von oben hineinfällt.
6. Reichlich natürliches Licht fällt durch die
Treppenöffnung bis ins Erdgeschoss. Die auf ihr
Minimum reduzierte Treppe wirkt dabei wie eine
Skulptur aus Stahl. Nun ein dünnes Profil dient
ihr als Handlauf.
7. Die Kubatur des kleinen Hauses wirkt durch die
als Fassadenverkleidung gewählten, großformatigen Faserzementplatten wie mit dem Messer
ausgeschnitten. So hebt es sich vor allem in der
Materialität von seinem Umfeld ab.
5
FOTOS: MATEVZ PATERNOSTER
6
7
67
ZEITGENÖSSISCHER KLASSIKER
VILLA KARLSSON IN VÄSTERÅS
Fertigstellung
Die auf einer kleinen Insel im mittelschwedischen Mälarsee gelegene
“Villa Karlsson” ist ein modernes Beispiel für einfaches Bauen und die Koexistenz mit der wilden schwedischen
Landschaft. Sie greift die Form der
traditionellen roten Holzhäuser
Schwedens auf, variiert diese jedoch
zu einer “extralangen” Version.
Die Bauherren, ein Ehepaar in
den Sechzigern ohne vorherige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit
Architekten, wünschten sich eigenen Wohnraum im Erdgeschoss, das
Dachgeschoss sollte für einen späteren Ausbau freigehalten werden
Tidö-Lindö, Västerås (Sweden)
Einfamilienhaus
Björn und Berit Karlsson
Tham & Videgård Hansson
Arkitekter AB
2002
und zwischenzeitlich als Unterkunft
für Kinder und Gäste dienen. Traditionelle Scheunen, Lagerhäuser und
andere landwirtschaftliche Gebäude,
wie sie auf der und rund um die Insel
Tidö Lindö noch häufig vorkommen,
waren die hauptsächliche Inspirationsquelle für den Entwurf.
Räume ohne zwischengeschaltete Korridore und zahlreiche Querverbindungen ermöglichen es, das
Haus auf vielfältige Art zu nutzen.
Die Fenster sind so angeordnet, dass
sie bestimmte Aussichten rahmen –
zum Beispiel auf den Gartenteich,
einen besonderen Baum oder den
1
Himmel – ganz so, als ob die Blicke
nach draußen Bilder in einer Kunstgalerie wären. Der Gebrauch und die
Anordnung der Fenster ist ein starkes
poetisches Element, das in einem
markanten Kontrast zum soliden Äußeren des Hauses steht.
Um die Baukosten niedrig zu
halten, basiert die Konstruktion der
Villa auf einem 120-Zentimeter-Raster. Standardisierte Bauteile machten das Haus rund 30 bis 50 Prozent
günstiger als vergleichbare andere
Häuser. Die äußere Verkleidung
der Villa Karlsson besteht aus übergroßen Holzpaneelen aus dem Kern-
2
68
holz langsam wachsender Kiefern. Ein
Anstrich aus traditionellem “Falu-Rot”
bestimmt das prismatische Äußere
und interpretiert gleichzeitig eine
jahrhundertealte skandinavische Bedachungstechnik neu, die vor allem im
Norden und auf der Insel Gotland angewandt wurde. Alle äußeren Beschläge sind im gleichen Rot gehalten,
um das traditionelle Erscheinungsbild
eines schwedischen Holzhauses zu erreichen. Das Innere besticht dagegen
durch seine Lichtfülle. Hier wurden
weißer Putz und moderne skandinavische und internationale Möbelklassiker verwendet.
FOTOS: ÅKE E:SON LINDMAN AB
Fakten
Standort
Gebäudetyp
Bauherr
Architekten
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
2. Frei angeordnete Fenster und
senkrecht ausgestellte Läden
überziehen das Dach und die Fassaden gleichermaßen. Sie lassen
das Licht im Inneren des Hauses
von Raum zu Raum und je nach
Tageszeit variieren.
3. Dachfenster bringen Tageslicht in
den Treppenraum und in den Wohnraum im Dachgeschoss, der, abgesehen von einigen wenigen dekorativen
Gegenständen, noch unmöbliert ist.
4. Das strahlend weiße Innere des
Gebäudes steht in betontem Kontrast zur ‘Falu-roten’ Farbe von Dach
und Fassade.
5. Detailschnitt.
6. Axonometrie der Konstruktion.
3
5
4
6
ZEICHNUNGEN © THAM & VIDEGÅRD HANSSON ARKITEKTER AB
1. Die Villa Karlsson liegt in
einem weitläufigen Gebiet mit
Abstand zu den Nachbarn und
zur nächstgelegenen Kleinstadt.
69
VELUX DIALOG
Das internationale Symposium
zur Tageslichtqualität.
AUF DER SUCHE NACH
EINER GEMEINSAMEN
SPRACHE
Text von Werner Osterhaus, Co-Moderator des Symposiums
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert bedarf die Tageslichtplanung
einer gemeinsamen Fachsprache, die den Erfahrungs- und
Informationsaustausch zwischen sämtlichen Branchen der
Bauindustrie erleichtert und zudem die Faktoren exakt definiert,
welche für eine Tageslichtbeleuchtung höchster Qualität
maßgeblich sind. Detaillierte Informationen zu erfolgreichen
Beispielen aus der Tageslichtbeleuchtung sind für diesen
Prozess von entscheidender Bedeutung. Hierüber waren sich
alle Experten für Tageslichtbeleuchtung – Forscher, Ausbilder,
Architekten, Lichtdesigner und Nutzer tageslichtbeleuchteter
Räumlichkeiten – auf dem Symposium in Budapest einig.
Abb. 1
Das BTV-Gebäude in Wolfurt,
Österreich. Schichtweise
angeordnete Fassadenelemente
regulieren das Tages- und
Sonnenlicht in Bankbüros und
Appartements (Quell: Baumschlager & Eberle Architekten,
Lochau, Österreich)
Unbestritten ist die Vorliebe der Menschen
für Tages- und Sonnenlicht, und verständlich somit auch das Bestreben, Gebäude zu
konstruieren und zu nutzen, die eine weitgehende und optisch angenehme natürliche
Beleuchtung schaffen. Lichtdurchflutete
Räume und eine ansprechende Aussicht
sind mittlerweile Synonyme für moderne
Architektur und hochwertige Bautechnik.
Die Architekten, die im Rahmen des Symposiums einige ihrer Planungen vorstellten,
betonten, dass die kreative Einbindung von
Tageslicht und Aussicht bei der Gebäudeplanung nicht nur ihr persönliches Ziel ist,
sondern auch dem Wunsch der Kunden entspricht.
Weltweite Studien belegen, dass eine
ansprechende Tageslichtbeleuchtung für
die Arbeitsproduktivität und das Lernverhalten förderlich ist, ein gesünderes Umfeld
bietet, den Energieverbrauch beträchtlich
senkt und nicht zuletzt auch dem Image
von Planern bzw. Gebäudeeigentümern und
-nutzern zuträglich ist, da Kunden und Besucher auf helle und freundliche Räume positiv reagieren.
Alexia Monauni vom österreichischen
Architekturbüro Baumschlager & Eberle
präsentierte eine Reihe von Projekten mit
exakt geplanten Gebäudefassaden, die
das Tages- und Sonnenlicht durch integrierte Architekturelemente aus verschiedenen Materialien unter Berücksichtigung
individueller Anforderungen regulieren. Ihr
Unternehmen bevorzugt ein Schichtsystem,
häufig unter Verwendung von Schiebepa-
neelen an der Außenseite, eingelassenen
Glaselementen in der Mitte und Vorhängen oder Jalousien an der Innenseite, um
den Gebäudenutzern zu ermöglichen, die
Menge und Qualität des in die Räume einfallenden Tages- und Sonnenlichts zu variieren (Abb. 1). Es wäre interessant gewesen
zu erfahren, wie dieses ausgefallene Design
von den Nutzern im alltäglichen Gebrauch
aufgenommen wird.
Ivan Redi vom Architekturbüro ‚Ortlos‘
stellte das Bestreben seines Teams vor, die
neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters auszuschöpfen, um Architekturkonzepte und Lichtdesign richtungsweisend in
neue Wege zu lenken. Bezugnehmend auf
die Techniken alter Meister der Malkunst
vertritt er die grundlegende Überzeugung,
dass das Lichtdesign von Gebäuden mit der
Licht- und Schattentechnik alter Kunstgemälde vergleichbar sei, um dem Betrachter
(bzw. Gebäudenutzer) eine jeweils eigene
Sichtweise einer Szenerie oder eines Raums
zu gestatten.
Nach Ivan Redis Ansicht konzentrieren sich die Forscher zu sehr auf messbare
Aspekte bzw. Endergebnisse und zu wenig
auf den Planungsprozess; es würden aber
eben in diesem Planungsprozess Entscheidungen getroffen, welche die Wahrnehmung
eines Raums seitens des Nutzers entscheidend beeinflussen. Zudem sprach Herr Redi
in seinem Vortrag die Wunschvorstellungen
seiner Kunden von optimal konzipierten
Räumlichkeiten an, die von Tageslicht durchflutet sind und durch direkten Sonneneinfall
sowohl in psychophysischem als auch psychologischem Sinne Wärme ausstrahlen.
Die Vorliebe der Bewohner und Nutzer eines Gebäudes für Tages- und Sonnenlicht ist jedoch nicht vorbehaltlos, wie Peter
Boyce, anerkannter Experte und Berater für
Humanfaktoren der Lichtplanung, in seinem
Vortrag betonte. Dies wurde von vielen Teilnehmern bestätigt: Trotz ihres allgemeinen
Bedürfnisses nach Tageslicht bemängeln
die Gebäudenutzer gleichzeitig die hiermit
verbundenen Probleme. Oftmals werden sie
mit starken Helligkeitskontrasten innerhalb
ihres Sichtfelds konfrontiert und empfinden
Blendung und Lichtreflexionen, hohe Wärmeentwicklung durch Sonneneinstrahlung
oder andere Eigenschaften ihrer Arbeitsplatz- oder Raumbeleuchtung als unangenehm. Andererseits werde die mangelnde
Ausnutzung möglicher Tages- und Sonnenlichteinstrahlung von den Nutzern beklagt.
Die Gründe für die nicht optimale Tageslichtbeleuchtung eines Gebäudes sind vielfältig: Häufig wird z.B. die wesentliche
Bedeutung von Tages- und Sonnenlicht und
dessen formgebender Effekt auf die Architektur unterschätzt und oft auch die moderne
Technologie vom Planer unangemessen
genutzt. Zudem erschwert das Fehlen konkreter Definitionen, Beschreibungsfaktoren
und Indikatoren zur Beurteilung der Tageslichtqualität die Kommunikation zwischen
Forschern, Architekten, Lichtdesignern und
Eigentümern bzw. Nutzern von Gebäuden.
Aktuelle Richtlinien und Empfehlungen
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
71
Abb. 2 Computersimuliertes
Lichtdesign für komplexe (oben)
und eher einfache (rechts)
Umgebungen.
(Quelle: Ivan Redi, Architekturbüro Ortlos, Graz, Österreich)
basieren häufig auf veralteten Forschungsergebnissen anhand nunmehr überholter
Licht- und Steuerungssysteme oder Bautechniken. Ein gutes Beispiel hierfür sind
Büroräume: Während noch vor einigen Jahren eine horizontale Arbeitsfläche üblich war,
setzen heutzutage nahezu vertikale Bildschirme den Standard; dementsprechend
haben sich auch die Beleuchtungsanforderungen geändert. Neue Voraussetzungen
verlangen unweigerlich neue Lösungen: Da
viele Planungsmodelle nicht an die moderne
(Tages-)Lichttechnik angepasst werden
können, sind neue Modelle gefragt, um diese
Lücke zu schließen.
Marc Fontoynont, Leiter des Forschungsprogramms für Tageslichtbeleuchtung an der École Nationale des Travaux
Publics d‘Etat (ENTPE) in Frankreich, erörterte den Teilnehmern des Symposiums die
von der ENTPE ermittelten Grundsätze und
Erkenntnisse zur Tageslichtforschung unter
Beachtung der Bestimmungen der International Energy Agency Task 31. Als Schlüsselfaktoren dienten u.a. die Auswertung von
Nutzerbefragungen zu Tageslichtsystemen
sowie nützliche Indikatoren zur Kostenbestimmung alternativer Lichtmittel. Tageslicht, das durch Fenster und Oberlichter
einströmt, ist nachweislich die bevorzugte
und zudem preisgünstigte Lichtquelle für
Innenräume: Die Kosten betragen 0,35 €
für Oberlichter und 1,08 € für Seitenfenster pro Mega-Lumenstunde (MImh) für
die Beleuchtung der Arbeitsfläche.
Fabio Bisegna von der Universität Rom
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beschäftigte sich mit diversen Aspekten
der Tageslichtplanung aus südeuropäischer
Sicht und betonte insbesondere die Zusammenhänge zwischen Tageslicht und Nutzung
von Solaranlagen, denen im Mittelmeerraum
große Bedeutung zukomme, um Energie zu
sparen und eine gesteigerte Lebensqualität
zu sichern.
András Majoros von der Technischen
Universität Budapest stellte die dynamischen Eigenschaften des Tageslichts
heraus, die mitunter Grund für die Vorliebe
der Menschen für Tageslicht seien. Intensität
und Farbe des natürlichen Lichts variieren
in Abhängigkeit von Tages- und Jahreszeit.
Daher würden automatische Tageslicht- und
Solaranlagen mit dem Ziel entwickelt, die
Gratwanderung zwischen willkommener Hilfestellung für den Nutzer und komplett automatisierter Steuerung zu meistern.
Jan Wienold vom deutschen Fraunhofer
Institut ist an dem ECCO-Bauprojekt beteiligt, einem fachübergreifenden europäischen
Forschungsprojekt, das sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung von Algorithmen für benutzer- und klimaabhängige
Tageslicht- und Solaranlagen beschäftigt.
Durch dieses Projekt wurden bereits einige
wichtige Erkenntnisse gewonnen, z.B. verbesserte Auswertungsmittel für Bilder von
Helligkeits-Messkameras hinsichtlich möglicher Blendwirkungen und eine neue Blendschutzformel.
Eleanor Lee beschäftigt sich derzeit
hauptsächlich mit Versuchsaufbauten in
Originalgröße und mit Computersimulati-
onsmodellen des neuen Bürogebäudes für
die New York Times, das kürzlich vom Studio Renzo Piano in Zusammenarbeit mit der
LBNL geplant wurde. Dieses Projekt bietet
die einzigartige Möglichkeit, die zahlreichen
Einflussfaktoren der Tageslichtqualität
lange vor der tatsächlichen Bauphase auszuwerten. Äußere und innere Fassadenelemente, Tageslicht- und Solaranlagen, die
Integration elektrischer Beleuchtung sowie
Einrichtungen und Büroausstattungen können allesamt vor ihrer endgültigen Installation getestet und beurteilt werden. Dennoch
sind die LBNL-Forscher der Auffassung, dass
die verfügbaren Tageslichtmesswerte nicht
ausreichen, um eindeutige Beurteilungskriterien für die zahlreichen Aspekte dieses
innovativen Gebäudes festzulegen. Die Präferenzen visueller Wahrnehmung weichen
häufig von Person zu Person beträchtlich ab.
Dies ist eine große Herausforderung bei der
Planung eines Tageslichtsystems, das allen
Gebäudebewohnern und -nutzern gerecht
wird – schließlich möchte niemand die Einrichtung des persönlichen Arbeitsumfelds
einem anderen überlassen.
Marie-Claude Dubois von der kanadischen Universität Laval präsentierte den
neuesten Stand der Forschung zur Beurteilung der Tageslichtqualität in einfachen Räumen anhand von Computersimulationen. Eine
schlichte Raumgeometrie ermögliche dem
Forscher, so ihr Standpunkt, den Einfluss vieler einzelner Variablen durch parametrische
Studien anhand von Computermodellen
auszuwerten; eine komplexe Raumgeome-
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Abb. 3 Ein mit Hilfe simulierter
Lichtplanung erstelltes Realmodell
einer komplexen Tageslichtumgebung mit künstlichem Himmel eines
Sonnensimulators. (Quelle: Peter
Andres Lichtplanung, Hamburg,
Deutschland)
Werner Osterhaus ist Architekturdozent und
Lichtforscher am Zentrum für Bautechnik in der
Architekturfakultät der Victoria- Universität
Wellington (Neuseeland). Zu kontaktieren ist er
per E-Mail unter der Adresse
Werner.Osterhaus@vuw.ac.nz.
Nähere Informationen zu den einzelnen Symposiumsvorträgen sind auf der Tageslicht-Website
http://193.163.166.242 zu finden.
trie hingegen erschwere solche Studien, da
gegenseitige Abhängigkeiten der Variablen
das Ergebnis beeinträchtigten.
Guy Newsham vom Nationalen Forschungsrat Kanada (NRC) widmete sich der
Frage, wie neue Erkenntnisse zu den Reaktionen auf Tageslicht seitens der Gebäudenutzer für existierende und neuartige
Planungswerkzeuge genutzt werden können.
Eines der NRC-Forschungsprojekte beschäftigte sich mit den Bewegungsabläufen verschiedener Büroangestellter. Die Verbindung
zwischen der Tageslichtdynamik und dem
Verhalten der Gebäudenutzer kann nützliche
Erkenntnisse für die Beurteilung der natürlichen Ausleuchtung eines Gebäudes oder
Raumes liefern. Letzten Endes erhofft man
sich, mit Planungswerkzeugen verschiedene
mögliche Gestaltungsszenarien dynamisch
auswerten zu können.
Der Beleuchtungsexperte Peter Andres
aus Hamburg gab den Teilnehmern des Symposiums einen detaillierten Einblick darüber, wie sein Unternehmen die Lichtqualität
beurteilt. Langjährige Erfahrung wird durch
die Arbeit mit virtuellen und realen Modellen ergänzt. Seiner Überzeugung nach ist
der Zugang zu einem künstlichen Himmel
mit Sonnensimulator wesentliche Voraussetzung für die Erforschung der Tages- und
Sonnenlichtdynamik, insbesondere im Falle
außergewöhnlicher Raumgeometrien. Seine
Kunden gewinnen aus erster Hand Einblick
in das Innere eines Modells und können so
den Einfluss unterschiedlicher Planungslösungen erkennen. Seine Erfahrung zeigt,
dass reale Modelle gegenüber virtuellen
Entwürfen nach wie vor als wirklichkeitsgetreuer erachtet werden.
Qualitativ hochwertige Tageslichtbeleuchtung kann, so denke ich, vermutlich am
besten als das Tageslicht beschrieben werden, das eine ausreichende Arbeitsbeleuchtung schafft, visuell angenehm und blendfrei
ist, das Sichtfeld nicht beeinträchtigt, den
architektonischen sowie sozialen Anforderungen gerecht wird, sich im Raum gut verteilt und nicht zuletzt der Gesundheit und
dem Wohlbefinden der Menschen zuträglich ist.
Zu den bekannten Beschreibungsfaktoren für Tageslichtqualität gehören:
• Leuchtdichte (Adaption, Verhältnisse, Kontrast, Verteilung)
• volumetrische Helligkeit (wahrgenommener
Effekt der Gesamthelligkeit auf allen Raumflächen – entspricht der durchschnittlichen
Strahlungstemperatur bei thermischer
Messung)
• Beleuchtungsstärke in Lux (okular, vertikal, horizontal, Arbeitsfläche, skalar, zylindrisch, Gleichmäßigkeit)
• Tageslichtfaktor (Durchschnitt, Minimum)
• korrelierte Farbtemperaturen und –spektren der Lichtquellen
• Direkte und diffuse Lichtanteile
Leider verwenden auch angesehene
Lichtplaner diese Begriffe bzw. Beschreibungsfaktoren unkorrekt und ohne weitgreifendes Verständnis der zugrunde
liegenden Konzepte. Eine entsprechende
Schulung ist daher dringend angeraten.
Zudem gilt es zu bedenken, dass die genannten Parameter in erster Linie quantitativer
und nicht qualitativer Art sind. Planer und
Designer benötigen allerdings konkrete Orientierungspunkte, um die Planungsziele für
die Tageslichtqualität zu definieren und
mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Gute
Beispiele und angemessene Planungswerkzeuge sind hierfür unabdingbar. Anfänglich
mögen einfache Mittel (z.B. Faustregeln)
ausreichen, später aber sind komplexere
Werkzeuge gefragt, die eine räumliche (dreidimensionale) und zeitliche Darstellung
ermöglichen. Schließlich machen sich die
Planer und Designer Gedanken über den
zusätzlichen Zeit- und Kostenaufwand, der
mit der Einbindung solcher Prozesse verbunden ist. Zudem befürchten sie, nicht einschätzenzukönnen,obihrePlanungsentwürfe
letztendlich zu dem gewünschten Ergebnis
führen, insbesondere weil sich die Wünsche
und Anforderungen hinsichtlich der Raumgestaltung von Mensch zu Mensch gravierend unterscheiden können.
Von den Lichtspezialisten erwarten
die Planer designorientiertere Ergebnisse
auf der Grundlage durchgeführter Studien.
Grundsätzlich sollten sowohl Planer als auch
Forscher „mehr mit ihren Augen als mit ihren
Belichtungsmessern denken“, wie Ivan Redi
pointiert formulierte.
Dieses Symposium hat Grundlagen
geschaffen und Teilnehmer aus verschiedenen Bereichen zusammengeführt, die
normalerweise nicht an einem Tisch sitzen,
Informationen austauschen und diskutieren.
73
Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache ist angesichts der vielfältigen Betrachtungsweisen offensichtlich. Lichtforscher,
Ausbilder, Designer und Gebäudenutzer liegen nicht unbedingt auf einer Wellenlänge
– noch nicht jedenfalls. Deutlich aber ist der
Wunsch nach Zusammenarbeit. Zudem
stand der Vorschlag im Raum, auch noch
andere Bereiche wie Videowissenschaft und
Psychologie einzubinden. Sinnvoll wäre es
auch, strukturierte Evaluationen geplanter
Gebäude einzuholen und somit Design und
Forschung miteinander zu verbinden, um
unser Verständnis für die Tageslichtqualität weiter zu fördern.
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Fakten
Das Internationale VELUX-Tageslichtsymposium, das am 6. und 7. November 2005 in
Budapest stattfand, war das erste internationale akademische Forum, das sich ausschließlich mit Tageslicht in der Architektur
befasste. Zu den 80 Teilnehmern aus 17
Ländern in vier Kontinenten gehörten
Architekten privater Unternehmen, Vertreter öffentlicher Institutionen sowie Forscher und Lehrkörper von Universitäten und
Architekturschulen. Das Symposium mit 13
Hauptvorträgen wurde von zwei Moderatoren geleitet: Marc Fontoynont, Leiter des
Labors für Bautechnik, Département Génie
Civil Urbain et Bâtiment in Vaulx-en-Velin
(F), und Werner Osterhaus, Dozent an der
Architekturschule Wellington (NZ).
Referenten
-Marc Fontoynont, Leiter des Labors für
Bautechnik, Département Génie Civil
Urbain et Bâtiment in Vaulx-en-Velin (F).
-Peter Boyce, Berater für Humanfaktoren
des Lichtdesigns (GB)
-Alexia Monauni/Elmar Hasler,
Baumschlager & Eberle (A)
-Guy Newsham, Institut für Konstruktionsforschung des National Research Council
of Canada (CDN)
-Jan Wienold, Fraunhofer Institut für
Solarenergiesysteme (D)
-Werner Osterhaus, Dozent an der
Wellington School of Architecture (NZ)
-Ivan Redi, Architekturbüro ORTLOS (A)
-Eleanor Lee, Bautechnikerin, Laurence
Berkeley National Laboratory (USA)
-Fabio Bisegna, Fakultät für Technische
Physik an der Universität Rom (I)
-András Majoros, Architekturfakultät an
der Universität für Technik und Wirtschaft
in Budapest (H)
-Marie-Claude Dubois, Architekturfakultät
der Universität Laval, Québec (CDN)
-Peter Andres, Lichtplaner, Hamburg (D)
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Tageslicht-Impulse mit VELUX.
Eine Idee von Fritschi, Stahl, Baum
Atmosphären, die durch Tageslicht entstehen, werden von den Architekten Fritschi, Stahl, Baum
häufig thematisiert. In der Visualisierung zum “Projekt Bergstraße” zeigen sie, wie wirkungsvoll
der Einsatz von hochwertigen VELUX Lösungen das Wechselspiel von Licht und Schatten beeinflusst. Wir unterstützen auch Sie bei der Entwicklung besonderer Ideen und Projekte – und bieten
Systeme, mit denen vielseitige Ansätze für Tageslichtkonzepte realisiert werden können.
velux.de/architektur
BÜCHER
REZENSIONEN
Zum Weiterlesen:
Aktuelle Bücher,
vorgestellt von D&A.
THE PRESENCE OF
THE CASE STUDY
HOUSES
Ethel Buisson, Thomas Billard
Birkhäuser 2004
ISBN 3–7643–7118–8
(Französische Ausgabe: Les éditions de l’Imprimeur 2004
ISBN 2-910735-51-6)
Die ‚Case Study Houses‘ gehören
zur amerikanischen Architekturgeschichte wie der berühmte Schriftzug zu den Bergen Hollywoods. Die
Architekten, die diese einzigartige
Serie experimenteller Wohnhäuser
entwarfen, wurden weltbekannt:
Charles Eames, Eero Saarinen,
Richard Neutra und Pierre Koenig,
um nur einige zu nennen. Ihre Bauten verkörpern die Essenz des ‚american dream‘: hier der Glaube an
Fortschritt und industrielle Vorfertigung, an Stahl und Glas, dort die
meisterhafte Einbettung der Bauten in eine Natur, die seinerzeit noch
(scheinbar) in unbegrenztem Ausmaß zur Verfügung stand. 1945
hatte John Entenza, Herausgeber
des Architekturmagazins ‚Arts &
Architecture‘, acht kalifornische und
nach Kalifornien eingewanderte Ar-
76
chitekten eingeladen, an der amerikanischen Westküste die ersten acht
Häuser zu bauen. Später entwickelte
sich das Programm zum Selbstläufer: 28 Case Study Houses wurden
bis 1966 geplant, immerhin 20 auch
realisiert.
Vor einigen Jahren machten sich
die beiden Autoren Ethel Buisson und
Thomas Billard daran, die Geschichte
der Case Study Houses bis in unsere
Tage fortzuschreiben. Sie suchten die
noch existierenden Häuser auf, fotografierten sie und sprachen mit den
heutigen Bewohnern. Zudem recherchierten sie in alten ‚Arts & Architecture‘-Ausgaben nach Plänen und
Fotografien, die sie ihren Neuaufnahmen gegenüber stellten. In ihren Texten verflechten sie Geschichte und
Gegenwart, Architekturdokumentation und Reportage auf unterhaltsame Weise miteinander. Mindestens
ebenso aufschlussreich wie die Bauten selbst ist die Darstellung der Darstellung der Häuser – also des Echos,
das die Case Study Houses seinerzeit
in ‚Arts & Architecture‘ und anderen
Medien erfuhren. Ergänzt werden
die Kapitel schließlich durch kurze
Exkurse zur amerikanischen Architektur- und Zeitgeschichte der 40er
bis 60er Jahre.
Trotz seiner dokumentarisch angelegten Fotografien, auf denen stets
die Architektur und nicht die Einrichtungsvorlieben der Bewohner im Vordergrund steht, ist ‚The Presence of
the Case Study Houses‘ kein Architekturbuch im traditionellen Sinne, sondern ein Expeditionsbericht in die
Gegenwart einer Architekturepoche,
die sonst gern als abgeschlossen betrachtet wird. Das Buch überzeugt
gleich dreifach: Es zeigt traumhafte,
lichterfüllte Architektur, porträtiert
eine Architektengeneration und ihre
Ideale und belegt, wie Architektur
und Medien auch früher schon einander beeinflussten.
UTZON’S
OWN HOUSES
Michael Asgaard Andersen,
Tobias Faber
Arkitektens Forlag 2005
ISBN 87–7407–316–8
Jørn Utzon ist der Welt vor allem
als Architekt der Oper von Sydney
und der Bagsvaerd-Kirche in Kopenhagen bekannt. Die übrigen, meist
wenig bekannten Bauten des Pritzker-Preisträgers wollen die Danish
Architectural Press und das Louisiana Museum of Modern Art nun in
einer wahren ‚Tour de Force‘ der Öffentlichkeit zugänglich machen: Bis
2007 sollen das 25000 Zeichnungen
umfassende Archiv Utzons duchforstet und seine Entwürfe in einer Komplett-Edition publiziert werden.
Den Auftakt zum Werkkatalog
machen Utzons eigene Wohnhäuser
in einem handlichen, nicht nur wegen
des Titelbildes sehr persönlich gefärbten Band, an dem ausgewiesene Utzon-Kenner wie Tobias Faber
und der 2000 verstorbene Christian
Norberg-Schulz mitgewirkt haben.
Sie legen dar, wie Utzon, ausgehend
von Vorbildern wie Wright, Asplund
und Aalto, in dessen Büro er eine
Zeitlang arbeitete, eine eigene Architektur von großer konstruktiver
Klarheit entwickelte. Ende der 60er
Jahre ließ er sich von der Lust am
industrialisierten Bauen anstecken
und entwickelte ein eigenes Holzbausystem für Wohnhäuser, das er
‚Espansiva‘ taufte. Dennoch blieben
seine Bauten stets dem Menschen
und seinen Bedürfnissen verpflichtet. Seine Grundthemen sind die Urfunktionen des Hausbaus: Menschen,
die sich um eine Feuerstelle versammeln, der Rückzug in die schützende
Höhle und der Lauf der Sonne um das
Gebäude.
D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
Besonders deutlich wird die Annäherung Utzons an die Ursprünge
der Architektur bei seinen Wohnhäusern aus Mallorca, die in diesem
Buch einen breiten Raum einnehmen.
Hier griff er so gekonnt auf regionale
Bautechniken zurück, dass ein einheimischer Architekt später schrieb,
Utzon habe ihn seine eigene Heimat
neu sehen gelehrt.
Utzons Häuser entstanden stets
unmittelbar aus dem Bauprozess heraus. „Die Konstruktion ist die Architektur, alles andere ist nur Lippenstift“,
bringen Kim Dirckinck-Holmfeld und
Martin Keiding seine Haltung in der
Einleitung zum Buch auf den Punkt.
Die Pläne für sein erstes Wohnhaus in
Hellebaek von 1952 zeichnete er bezeichnenderweise erst auf, nachdem
es fertig gestellt war. Utzons Häuser
sind Architektur für den zweiten Blick:
Anders als sein Opernbau springen sie
nicht durch prägnante Formgebung
ins Auge, sondern durch Raumbeziehungen, Blickachsen, Lichtführung
und Details. All dies wird dem Leser
des vorliegenden Buchs in zahlreichen
Detailzeichnungen und exzellenten
(im Druck leider etwas flau wiedergegebenen) Farbaufnahmen von
Søren Kuhn und Tobias Faber näher
gebracht. Auf die weiteren Ergebnisse der Archivrecherche darf man
in jedem Fall schon heute gespannt
sein.
UNMODERN
ARCHITECTURE
Hans Ibelings
NAi Publishers, 2005
ISBN 90–5662–352–4
Fragt man derzeit einen Niederländer über die Situation der Architektur in seinem Land, so kommen
früher oder später meist zwei Dinge
zur Sprache: erstens ein allgemeines
Lamento über die nachlassende Architekturqualität im einstigen Musterland der Neomoderne, und
zweitens das Staunen über den Siegeszug eines neuen Traditionalismus,
der sich insbesondere im Wohnungsbau größter Beliebtheit erfreut. In
der Tat haben sich die Niederlande
im Windschatten der britischen
und amerikanischen Vorreiter zu
einem neuen Zentrum des ‚New
Urbanism‘entwickelt. Ganze Kleinstädte entstanden und entstehen
dort nach den Vorbildern mittelalterlicher Dörfer, Festungsstädte, Wasserburgen oder Schlösser.
Unter den Architekten stehen
sich Anhänger des Neotraditionalismus und solche, für die bereits der
Begriff ‚traditionell‘ ein rotes Tuch ist,
unversöhnlich gegenüber. Wirklich
sachliche, unparteiische Bestandsaufnahmen sind dementsprechend
rar. An einer solchen hat sich nun ausgerechnet Hans Ibelings, der Autor
des vieldiskutierten Buches ‚Supermodernism‘, versucht. Dass ihm
viele Leser eine streng neutrale Haltung möglicherweise nicht abnehmen, nimmt Ibelings in Kauf. Doch er
entgegnet: „Ebenso wie ich ,supermoderne’ Architektur aus Neugier
dokumentieren wollte, versuche ich
nun das Bild eines anderen Phänomens in der zeitgenössischen Architektur wiederzugeben, das mich
ebenso sehr fasziniert und die ich
unter dem Namen ,zeitgenössischer
Traditionalismus’ zusammenfasse.“
Zu Beginn seines Buchs vergleicht
Ibelings die traditionalistische Architektur mit biologischer Nahrung: Früher existierte nichts anderes, doch in
dem Moment, da sie unter den Einwirkungen der Industrialisierung
praktisch ausgemerzt worden war,
musste man sie unter einem neuen
Namen wieder erfinden. Und: Traditionalismus in der Architektur ist
ebenso wie ‚Bio‘ beim Essen eine
Sache der Lebensanschauung oder,
oberflächlicher betrachtet, des Lifestyle. Ibelings bemerkt, dass sich die
Traditionalisten in einer Zeit, in der
das Festhalten an bewährten Formen misstrauisch beäugt wird, einer
weitaus radikaleren, provokanteren
Rhetorik bedienen müssen als ihre
neomodernistischen Gegenspieler – eben „weil sie es wagen, sich
der Tradition des Neuen entgegenzustellen“.
In ‚Unmodern Architecture‘
zeichnet Ibelings die Entwicklung
des ‚zeitgenössischen Traditionalismus‘ und seiner Hauptvertreter in
Holland – Rob und Léon Krier, Adolfo
Natalini, Vera Yanovshtchinsky,
Sjoerd Soeters und Molenaar &
van Winden, um nur einige zu nennen – nach. Dabei macht er deutlich,
wie sie, die fast alle in der Tradition
der Nachkriegsmoderne ausgebildet wurden, nun nachholen, was an
den Niederlanden seinerzeit weitgehend vorbeiging: die Postmoderne. Sein Versprechen, die Dinge
unvoreingenommen zu beschreiben,
hält Ibelings ein – und gerade deswegen zeigt das Buch den Neotraditionalismus bisweilen im neuen,
ungewohnten Licht. Doch leider gibt
Ibelings dabei fast ausschließlich die
Sicht der Architekten wieder. Ausgeblendet werden die ‚Mitspieler‘, ohne
die es die Architekturbewegung in
dieser Breite nie gegeben hätte: die
Wohnungswirtschaft, die die Bauten in Auftrag gab, und der ‚Mann auf
der Straße‘ als Käufer, dessen Wünschen der neu-alte Architekturstil ja
zu entsprechen versucht. So stellt
‚Unmodern Architecture‘ den Neotraditionalismus – möglicherweise
ungewollt – als etwas dar, was er nie
war: eine autonome (Bau-)Kunst, die
praktisch losgelöst von den Zwängen des Marktes praktiziert wird.
BUILT BY HAND –
VERNACULAR
BUILDINGS AROUND
THE WORLD
Autoren: Bill Steen, Athena Steen
and Eiko Komatsu
Fotos: Yoshio Komatsu
Gibbs Smith, Utah, USA 2003
ISBN 1-58685-237-X
Die beiden Autoren Athena und Bill
Steen mit indianischen, mexikanischen und europäischen Vorfahren
gründeten 1989 das Canelo-Projekt,
eine gemeinnützige Organisation und
Kommune in den Weidelandschaften
bei Tuscon, Arizona. Mit ihren selbst
gebauten Häusern aus Stroh und anderen natürlichen Materialien haben
sie sich vor allem in den USA bereits
einen Namen gemacht.
Das 2003 erschienene Buch ‚Built
by Hand‘ gibt einen umfassenden
Einblick in das, auf was sich die beiden in ihren Projekten berufen – von
Hand gebaute Architektur, beruhend
auf traditionellen, ortstypischen Materialien und Techniken. Der eigentliche Autor von ‚Built by Hand‘ ist
jedoch ihr japanischer Freund und
Fotograf Yoshio Komatsu. Rund um
die Welt waren er und seine Frau Eiko
unterwegs, um indigene Bauwerke
und ihre Bewohner, die gleichzeitig
auch die Architekten sind, in Bildern
festzuhalten.
Den Einstieg in die 472 Seiten
starke Dokumentation bilden die
Kapitel ‚Erde‘, ‚Stein‘, ‚Holz‘, ‚Bambus‘ und ‚Stroh‘. Knappe Texte führen in die jeweilige Bautechnik ein.
Weitere Abschnitte sind den Bauten ‚Auf dem Wasser‘, ‚In der Erde‘,
den ‚Beweglichen Häusern‘ und ‚Mit
dem Klima bauen‘ gewidmet. Getreidelager, Kultplätze, Straßen und
Eingänge, Fenster, handgeformte
Details und Ornamentik finden im
Bildband ebenfalls ihren Platz: So
ist neben den Häusern in Al-Hajjara
im Jemen ein Gebäude in Cicmany,
Slowakei, abgebildet. Fresken in
Holzgau, Österreich, und in Ardez,
Schweiz, folgen prachtvollen Wandmalereien im kolumbianischen Valledupar. „When I find a beautiful house,
my heart beats faster as I get feelings from its shape, materials and
settings“, schreibt Yoshio Komatsu
im Epilog. Es ist die Schönheit des
Einfachen, die den Fotografen fasziniert – und mit Sicherheit auch
den Leser. Nicht zu vergessen ist die
Gastfreundlichkeit der Bewohner,
die sich in einer Vielzahl der großformatigen, farbenfrohen Bilder
mitteilt. Trotz der Vielfalt der Bauten, Materialien und der Orte, die sie
präsentieren, erheben die Autoren
nicht den Anspruch auf Vollständigkeit – dem sie ohnehin nicht gerecht
werden könnten. ‚Built by Hand‘ ist
in einer zunehmend vom westlichen
Konsumismus beherrschten Welt
eine Sammlung, die Mut macht,
weil sie den Reichtum der Kulturen
widerspiegelt und ‚neue alte‘ Wege
aufweist: Nicht jedes Dach über dem
Kopf, das dient, wärmt, schützt oder
einfach nur Freude bereitet, muss
aus Glas, Beton und Wellblech sein.
77
BÜCHER
EMPFEHLUNGEN
Architekten empfehlen ihre
Lieblingsbücher in D&A.
1 Guillermo Vazquez Consuegra
2 Peter Ebner und
Franziska Ullmann
3 Nabil Gholam und
Aram Yeretzian
1
1 GUILLERMO
VAZQUEZ CONSUEGRA
EMPFIEHLT
2
Pensar la arquitectura
(Architektur denken)
Autor: Peter Zumthor
Gustavo Gili
ISBN 84–252–1992–2
18 años con el arquitecto
Louis I. Kahn (18 Jahre mit dem
Architekten Louis I. Kahn)
Autor: August Komendant
COAGalicia (erhältlich bei
publiarq@buildnet.es)
(Englische Ausgabe:
Aloray Publishers,
ISBN 0–913690–06–6)
Inquietud Teórica y Estrategia Proyectual (Theoretische
Unruhe und Entwurfsstrategien)
Autor: Rafael Moneo
Actar
ISBN 84–94941–68–1
(Englische Ausgabe: The MIT Press,
ISBN 0–262–13443–8)
Peter Zumthor ist einer der führenden
Köpfe der zeitgenössischen Schweizer Architektur. Auch in Zeiten der
Globalisierung bewies der 1943 in
Basel geborene Architekt und gelernte Möbelschreiner ein gehöriges
Maß an Bodenhaftung. Material und
Konstruktion, nicht formale Trends,
sind die Grundlagen seiner Arbeit
– und der Respekt vor unserem kulturellen Erbe. In der Reihe „Arquitectura conTextos“ bei Gustavo Gili ist
nun eine Sammlung von Texten erschienen, die Zumthor während der
letzten 10 Jahre verfasst hat. Sie bilden ein seltenes und wertvolles Zeugnis über das architektonische Denken
des eigenwilligen Schweizers, der seit
1996 an der Architekturakademie in
Mendrisio (Schweiz) lehrt.
In diesem Buch lässt der Ingenieur
August Komendant 18 Jahre gemeinsamer Arbeit mit Louis Kahn und die
zahlreichen Bauten, die während dieser Zeit entstanden, Revue passieren.
Das Salk Institute, das Olivetti-Underwood Fabrikgebäude, der Regierungssitz in Dacca/Bangladesh und
das Kimbell Art Museum erschließen sich dem Leser damit auf eine
neue Art und Weise. Die galizische
Architektenkammer, Herausgeberin
der spanischen Lizenzausgabe, misst
dem Buch „Kultwert“ bei, da es wertvolles Insiderwissen über die Arbeit
eines der größten Architekten des
20. Jahrhunderts enthält.
Rafael Moneo hat bislang einen
großen Teil seiner Zeit als Architekt
der Lehre und Architekturkritik gewidmet. In diesem Buch, das aus
einer Vorlesungsreihe an der Harvard Graduate School of Design heraus entstand, analysiert Moneo die
Werke acht zeitgenössischer Architekten und ihre theoretischen Positionen: Herzog & de Meuron, Rem
Koolhaas, Frank O. Gehry, Alvaro
Siza, Peter Eisenman, Aldo Rossi,
Venturi Scott & Brown und James
Stirling. Das mit 600 Abbildungen
reich illustrierte Buch verrät dem
Leser damit nicht nur viel über die
Arbeiten acht führender Architekten,
sondern ebenso viel über einen neunten – den Verfasser selbst.
Alejandro de la Sota
Hrsg.: Moisés Puente Rodríguez
Gustavo Gili
ISBN 84–252–1880–2
Alejandro de la Sota (1913–1996)
gehört zu den großen Lehrmeistern
der spanischen Architektur des 20.
Jahrhunderts. Doch obwohl seine
Bauten oft publiziert wurden, sind
seine Schriften noch weitgehend unbekannt. Der Band von Moisés Puente Rodríguez vereint nun erstmals
Texte de la Sotas aus den Jahren 1951
bis 1996, darunter auch viel bislang
unveröffentlichtes Material. Ein Abschnitt des Buches widmet sich den
Aufsätzen des Architekten, im zweiten sind mehrere Gespräche mit de la
Sota wiedergegeben, und ein dritter
beinhaltet Transkriptionen mehrerer
Vorträge, die de la Sota im Laufe seiner langen Karriere hielt.
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D&A FRÜHJAHR 2006 AUSGABE 02
2 PETER EBNER UND
FRANZISKA ULLMANN
EMPFEHLEN
Frei Otto – Das Gesamtwerk
Publisher: Wilfried Nerdinger
Birkhäuser Verlag
ISBN: 3-7643-7233-8 (deutsch)
ISBN: 3-7643-7231-1 (englisch)
Kaum ein deutscher Architekt hat in
der zweiten Hälfte des 20, Jahrhunderts so viel internationale Anerkennung gefunden wie Frei Otto. Zu
seinem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr widmete das Architekturmuseum der TU München dem
großen Ingenieur-Architekten eine
umfassende Einzelausstellung nd
eine mehr als 200 Seiten starke Monografie. Darin beschreiben Weggefährten die wichtigsten Aspekte von
Frei Ottos Schaffen – insbesondere
sein stetiges Bestreben, von der Natur
zu lernen, das ihn in den 80er und 90er
Jahren zu einem der Wegbereiter der
Öko-Architektur in Deutschland werden ließ. Ein ausführliches Werkverzeichnis der 200 Bauten und Projekte
aus den Jahren 1951 bis 2004 komplettiert den Band.
3 NABIL GHOLAM UND
ARAM YERETZIAN
EMPFEHLEN
Der Baron auf den Bäumen
Autor: Italo Calvino
dtv Verlag
ISBN 3-423-10578-X
(Italienische Originalausgabe:
Italo Calvino
IT’ART
ISBN 88-04-37085-8)
In seinem 1957 erstmals erschienenen Roman erzählt der italienische Schriftsteller Italo Calvino
die Geschichte eines ganz besonderen Einsiedlers: Am 15. Juni 1767
steigt der 12jährige Cosimo Piovasco
di Rondo aus Protest gegen seine Eltern auf einen Baum in deren Garten – und kehrt zeitlebens nie mehr
auf die Erde zurück, noch nicht einmal, um zu sterben: Vom Landeanker
einer Montgolfiere aus seinem Baum
mitgerissen, entschwebt er auf das
Meer hinaus und damit aus der Erzählung. Im Buch erzählt Cosimos jüngerer Bruder Biagio von dessen Leben
auf den Bäumen. Italo Calvinos Buch
zählt zu den großartigsten Vertretern
der Gattung „Abenteuerroman“; es ist
unterhaltsam geschrieben und dennoch von großer Tiefe.
„Essays on Space and Science“ heißt
der Untertitel dieses ungewöhnlichen Ausstellungskatalogs von und
über den isländischen Künstler Olafur Eliasson. Obwohl die Werkschau
„Surroundings Surrounded“, die zunächst 2000 in Graz und 2001 in
Karlsruhe stattfand, ganz im Zeichen von Eliassons Arbeiten stand,
verzichtet der Künstler im Katalog
auf die sonst übliche Dokumentation und legt statt dessen die theoretischen Grundlagen seiner Arbeit
offen. Das 704 Seiten starke Buch
umfasst 56 Essays von Natur- und
Geisteswissenschaftlern, Architekten und Kunsttheoretikern, von
denen 30 hier erstmals veröffentlicht werden.
Beirut City Center Recovery
Autor: Robert Saliba
Steidl
ISBN 3-882243-978-5
Living under the Crescent Moon:
Domestic Culture in the Arab World
Autoren: Alexander von Vegesack
and Mateo Kries
Vitra Design Museum
ISBN 3-931936-41-1
In seinem Bildband beschreibt Robert Saliba den Wiederaufbau zweier
der beliebtesten Stadtviertel der libanesischen Hauptstadt nach dem
Libanonkrieg von 1975 bis 1990. Eine
Hauptrolle spielte dabei die Immobiliengesellschaft Solidere des erst
vor wenigen Monaten bei einem
Anschlag getöteten libanesischen
Ministerpräsidenten und Bauunternehmers Rafik Hariri. Durch den gewaltsamen Tod des „Erfinders“ des
modernen Beiruts hat das Buch eine
unerwartete tagespolitische Bedeutung erhalten. Doch auch ohne sie
regt „Beirut City Center Recovery“
zu Diskussionen über den künftigen
Städtebau im Nahen Osten an.
In dem Buch „Living under the Crescent Moon – Domestic Culture in the
Arab World“ werden die Wohnkulturen der arabischen Welt gezeigt
– Nomadenzelte der Tuareg und der
Beduinen, marokkanische Kasbahs,
prächtige Hofhäuser in Städten wie
Marrakesch, Damaskus oder Kairo
und Gebäude des 20. Jahrhunderts
von den Architekten Hassan Fathy,
Elie Mouyal oder Abdelwahed ElWakil. Keramiken, Textilien, Werkzeuge und Architekturelemente
vermitteln dem Leser arabische
Wohn- und Lebensgewohnheiten.
Mit zahlreichen Innenaufnahmen
von Privathäusern gibt das Buch
einen seltenen Einblick in die Sphäre
der arabischen Welt, die normalerweise Fremden gegenüber streng geschützt wird.
Traditional Domestic Architecture of the Arab Region
Autor: Friedrich Ragette
Axel Menges
ISBN 3-932565-30-4
Vermutlich zum ersten Mal stellt das
Buch von Friedrich Ragette die traditionelle Wohnarchitektur der arabischen Welt, vom Atlantik bis zum
Persischen Golf, in systematischer
Form vor. Der Autor, selbst mehr als
30 Jahre lang als Architekt in der
arabischen Welt tätig, analysiert die
klimatischen und kulturellen Faktoren, die das Bauen in der arabischen Welt beeinflussen, und stellt
die daraus entstandenen Wohnformen vom Nomadenzelt bis zur
dicht bebauten Stadt vor. Ergänzend
zum analytischen Teil des Buchs präsentiert Ragette eine Sammlung von
mehr als 200 Beispielen traditioneller Architektur aus allen 13 Ländern der arabischen Region.
Olafur Eliasson
Surroundings Surrounded
Herausgeber: Peter Weibel
MIT Press
ISBN 0-262-73148-7
basics – Grundformen der
Architektur
Autorin: Franziska Ullmann
Springer Verlag
ISBN 3-211-83800-7
„Was ist ein Solitär? Was macht einen
Solitär zum Monument? Warum ist
ein Gebäude profan? Was macht
einen Raum zum Sakralraum?
Warum wirken Zaha Hadid’s Bauten dynamisch?“ Diese und viele andere Grundfragen zu Architektur und
Raumwahrnehmung beantwortet
Franziska Ullmann in ihrem Buch „basics“. In direkter Gegenüberstellung
von Texten und Bildern internationaler Bauten untersucht sie die
Bedeutung und Wirkung architektonischer Grundelemente einzeln
und in Kompositionen. Ausgangspunkt ist dabei Wassily Kandinskys
Grundlagenwerk „Punkt und Linie zu
Fläche“, in dem der Maler eine ähnliche Analyse für die Elemente der Malerei vornimmt.
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DAYLIGHT &
ARCHITECTURE
AUSGABE 03
SOMMER 2006
TEXTUREN
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