programm zur pflegerischen Betreuung HIV

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programm zur pflegerischen Betreuung HIV
© by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 2006
Pflege 2006; 19:214–222
Medizinische Poliklinik, Universitätsspital, Basel, Schweiz
Abteilung für Infektiologie, Universitätsspital, Basel, Schweiz
3 Abteilung Klinische Pflegewissenschaft, Universitätsspital Basel, Schweiz
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Ein auf Evidenz basierendes Praxisprogramm zur pflegerischen Betreuung
HIV-infizierter Menschen mit Fatigue
Miriam Unger (RN, Höfa 1, stud. MAS Palliative Care)1,2, Rebecca Spirig (RN, PhD)3
Zusammenfassung
Summary
In der Schweiz leben zwischen 15 000 und 16 000 Menschen mit HIV/AIDS. Diese Population leidet unter einer Vielzahl von Symptomen und Beschwerden. Besonders schwerwiegend und häufig ist die Fatigue,
welche gemäß aktueller Studien bei 20 bis 74% der
HIV-infizierten Menschen auftritt. Das Symptom beeinträchtigt alle Aktivitäten des täglichen Lebens, das
Empfinden körperlicher und mentaler Gesundheit sowie die Lebensqualität der Betroffenen stark. An der
HIV-Sprechstunde des Universitätsspitals Basel,
Schweiz, äußern viele Patienten und Patientinnen Beschwerden, die auf das Bestehen von Fatigue hinweisen, oder sprechen direkt über ihre starke Erschöpfung.
Eine systematische Literatursuche wurde durchgeführt
und ein evidenzbasiertes Praxisprogramm erarbeitet,
um den Betroffenen eine angepasste Betreuung bieten
zu können. Das Programm enthält die Elemente: Screening, systematisches Assessment, Interventionen und
Beratung. Für das Assessment werden der adaptierte
Global Fatigue Index und eine visuelle Analogskala
eingesetzt. Die Patientinnen werden durch systematische Interventionen bei der Verbesserung ihres Selbstmanagements unterstützt. Ziel der vorliegenden Arbeit
ist es, Pflegenden, die HIV-infizierte Menschen betreuen, eine Zusammenfassung der aktuellen Literatur
bezüglich HIV-induzierter Fatigue zu präsentieren und
die Elemente, den Ablauf sowie des Praxisprogramms
darzustellen. Es kann davon ausgegangen werden, dass
mit Hilfe des Praxisprogramms Menschen, die mit
HIV/AIDS leben und unter Fatigue leiden, positiv beim
Management dieses Symptoms ihrer chronischen Erkrankung unterstützt werden können.
An evidence based program to support HIV-infected
patients suffering from fatigue
Currently 15 000 to 16 000 people with HIV/AIDS are
living in Switzerland. Many of these patients suffer from
diverse signs and symptoms. One of the most common
symptoms reported in the literature is fatigue with a rate ranging from 20 to 74%. It is well known that fatigue impacts negatively on people’s activities of daily
living, on their sense of physical and mental health as
well as on their quality of life. Likewise many patients
of the ambulatory HIV centre at the University Hospital Basel in Switzerland, report severe exhaustion and
signs that indicated fatigue. In order to provide evidence-based care to these patients, a clinical practice
program was developed basing on a comprehensive literature review. The program has been implemented
and assists nurses to effectively assess and provide an
intervention to those patients with HIV/AIDS who suffer from fatigue. The program includes the elements:
screening, systematic assessment and intervention. For
the systematic assessment, the Global Fatigue Index
and a visual analogue scale are utilized. In this article, relevant literature has been reviewed for the development of an evidence-based program of care for patients living with HIV. Such an approach is perceived
to positively affect the outcomes of patients living with
HIV.
Einleitung
Von den weltweit über 40 Millionen (WHO, 2004) HIVinfizierten Menschen leben im Mittel 580 000 in Westeuropa (EuroHIV, 2003), hiervon offiziell ca. 15 000–16 000
in der Schweiz (Bundesamt für Gesundheit, 2004). Am
HIV-Zentrum des Universitätsspitals Basel werden etwa
Manuskript erstmals eingereicht am 11.4.2005
Endgültige Fassung eingereicht am 13.3.2006
DOI 10.1024/1012-5302.19.4.214
600 dieser Patienten und Patientinnen ambulant medizinisch betreut. Aus Praxiserfahrungen und aktueller Literatur wissen wir, dass diese Patientengruppe unter einer Vielzahl von Symptomen und Beschwerden zu leiden hat, die
mit der HIV-Erkrankung und/oder ihrer Behandlung in Zusammenhang gebracht werden. In der Literatur ist eines
der am häufigsten genannten Symptome die Fatigue, welche von 20 bis 74% der Betroffenen angegeben wird (Adinolfi, 2001; Anastasi, Capili, 2001; Barroso, 1999; Breitbart, 1998; Duran, Spire, Raffi, Walter, Bouhour, Journot,
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M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
Cailleton, Leport, Moatti, 2001; Mathur, Acharaya, Shukla, Sharma, Singh, 2002; Meystre-Augustoni, Dubois-Arber, Morency, Cochand, Telenti, Do, 2001; Selwyn, Rivard,
Kappell, Goeren, LaFosse, Schwartz, Caraballo, Luciano,
Post, 2002; Sok, Harwell, 2002). Unter Fatigue wird eine
sehr belastende und das gesamte Leben negativ beeinflussende Erschöpfung verstanden, die sich nicht durch
ausreichende Ruhe beheben lässt (Barroso, 1999/2001;
Adinolfi, 2001). In den pflegerischen und ärztlichen Patientendokumentationen im Rahmen unserer Sprechstunde finden sich oft Hinweise auf starke Ermüdung und
Erschöpfung der seropositiven Menschen. In einer von
unserem Team durchgeführten Pilotstudie (n = 23) zum
Symptommanagement HIV-betroffener Menschen wurde
festgestellt, dass 46% unter Fatigue leiden. Von diesen erleben 100% das Symptom als sehr störend, und 17% fällt
der Umgang mit Fatigue schwer bis sehr schwer (Spirig,
Battegay, Moody, Fierz, Nicca, Vincenzi, De Geest, 2004).
Trotz der negativen Auswirkungen von Fatigue auf die Lebensqualität der betroffenen Infizierten fanden an unserer
Sprechstunde bis 2002 weder eine systematische Symptomeinschätzung noch eine vertiefte Beratung zum Umgang mit dem Symptom statt. Diese Erkenntnis war der
Anlass, dem Symptom Fatigue bei HIV/AIDS vertieft auf
den Grund zu gehen. Im Rahmen des Praxisentwicklungsprojektes «Entwicklung und Etablierung einer erweiterten, vertieften Pflegepraxis» (Spirig, Nicca, Werder,
Voggensperger, Unger, Bischofberger, Kesselring, Battegay, De Geest, 2002) wurde ein Praxisprogramm für HIVInfizierte, die unter Fatigue leiden, erarbeitet. Im ersten
Schritt wurde eine systematische Literaturrecherche
durchgeführt. Mit Hilfe des daraus gewonnenen Wissens
wurde in einem zweiten Schritt ein pflegerisches Praxisprogramm erarbeitet, in dem Betroffene mittels Assessment und gezielten Interventionen systematisch unterstützt
werden. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sowohl die
aktuelle Literatur als auch das Praxisprogramm vorzustellen. Andere Pflegende erhalten so eine Wissensgrundlage
und damit die Möglichkeit für die systematische Abklärung und Betreuung von HIV-infizierten Menschen, die
unter Fatigue leiden.
Methoden
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Beim Erarbeiten des evidenzbasierten Praxisprogramms
für HIV-Betroffene, die an Fatigue leiden, wurde nach
Greenhalgh (2001) wie folgt vorgegangen: 1. klare Fragestellung formulieren, 2. Literaturrecherche durchführen,
3. Literatur hinsichtlich der Fragestellung kritisch auswerten: Validität, Bedeutung und klinische Anwendbarkeit
der wissenschaftlichen Evidenz bewerten, 4. Richtlinie erarbeiten, 5. Richtlinie mit den Patienten anwenden und 6.
die neue Dienstleistung evaluieren. Die Literaturrecherche
führten wir anhand der folgenden Fragestellungen durch:
Welches ist das momentan aktuellste Assessment, und welches sind die wirksamsten Interventionen und Betreuungsansätze für Patienten und Patientinnen mit HIV/
AIDS, die an einer Fatigue leiden?
Von 2002 bis Ende 2004 wurde anhand der Fragestellung systematisch Literatur gesucht, welche in Übersichts-
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Tabelle 1: Evidenzebenen nach Stetler et al. (1998)
Ebene I
Ebene II
Ebene III
Ebene IV
Ebene V
Ebene VI
Metaanalyse vieler randomisierter, kontrollierter
Studien
einzelne randomisierte, kontrollierte Studien
quasi-experimentelle Studien
nicht-experimentelle Studien
Programmevaluationen, Fallberichte etc.
Meinungen von Fachautoritäten, ExpertInnenKomitees etc., Lehrbücher
tabellen zusammengefasst wurde. Dabei wurde in den Datenbanken: Medline, Medscape, Reuthers, Google, PubMed, Cochrane, The Body Pro, Mary Ann Liebert Library, Aidsline, Medical Tribune gesucht. Insgesamt wurden
76 Arbeiten (quantitative und qualitative Studien, Reviews,
Empfehlungen von Betroffenen, ExpertInnenarbeiten) gelesen und kritisch bewertet. Davon wurden 52 nach inhaltlichen Kriterien in Tabellen erfasst. Diese Auswahl
wurde nach Einschätzung der Relevanz und Stärke der Evidenz I–VI nach Stetler, Brunell, Giuliano, Morsi, Prince,
Newell-Stokes (1998) (vgl. Tab. 1) getroffen. Da uns die
Patientenerfahrungen und der soziale Kontext, in dem die
Betroffenen leben, wichtig erscheinen, wurden auch qualitative Arbeiten und ExpertInnenbeiträge einbezogen. Das
kritische Abwägen von verschiedenster Evidenz und Praxiserfahrung im Fachgebiet ermöglichte es, die Daten einzuordnen. Zum untersuchten Thema gab es kaum relevante, deutschsprachige Arbeiten. Die Suche konzentrierte
sich hauptsächlich auf englischsprachige Studien, Artikel
und ExpertInnenarbeiten.
Resultate
Wissensgrundlagen: Was ist Fatigue,
und welche Ansätze zur Einschätzung
und Intervention sind bekannt?
Definitionen von Fatigue
Eine allgemeine Definition beschreibt Müdigkeit als das
Missverhältnis zwischen dem, was geleistet werden soll
und dem, was geleistet werden kann (Raetzo, Restellini,
1998). Seufferlein (1999) definiert Fatigue als unüberwindbares, anhaltendes Gefühl der Erschöpfung mit verminderter Kapazität für körperliche und mentale Betätigung, das unabhängig von der vorhergegangenen Aktivität
oder Anstrengung auftritt. Ferner wird unter Fatigue ein
allumfassendes Symptom verstanden, das als Energielosigkeit, Schläfrigkeit, Müdigkeit, Erschöpfung und
Schwäche beschrieben wird. Ruhe und/oder Schlaf bessern nicht, und die Lebensqualität der Betroffenen ist stark
negativ beeinflusst (Adinolfi, 2001; Barroso, 1999; Gamundi, Horn, Jefferys, Krown, 2000).
Ursachen
Die Ursachen von Fatigue bei HIV-infizierten Menschen
sind multifaktoriell. Als häufigste medizinische Ursachen
gelten die Anämie, hormonelle Dysbalancen, Nebenwir-
M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
kungen der antiretroviralen Therapie, Depressionen,
Angst, Schmerz, Fieber, Leberfunktionsstörung und Koinfektion mit Hepatitis C (Barroso, Carlson, Meynell,
2003; Bernstein, 2002; Bini, Baskies, Achkar, Maslow,
2001; Corless, 2001; Gamundi et al., 2000; Jenkin, 2004).
Diese stellen jedoch nur einen Teil der möglichen Ursachen dar (Adinolfi, 2001; Barroso, 1999; Capaldini, 1998;
Wongvipat, 1999). Barroso et al. (2003) zeigten in ihrer
explorativen Studie (n = 40), dass weder die Anzahl der
CD4-Helferzellen noch die Viruslast einen Einfluss auf die
Schwere der Fatigue haben: Auch bei exzellenter Virussuppression wiesen Teilnehmer hohe Fatiguewerte auf. Als
Prediktoren für die Schwere von Fatigue wurden in dieser
Studie Angst und Depression sowie drei Blutwerte – TSH,
Thrombozyten und alkalische Phosphatase – identifiziert.
Nichtmedizinische Ursachen für Fatigue werden vermutet,
sind aber wissenschaftlich nicht erforscht. Die Erkenntnis,
HIV-infiziert zu sein, kann emotionalen Distress auslösen.
Dieser Stress kann wiederum eine traumatische Reaktion
auslösen, welche zur Entstehung von Fatigue führen kann
(Soucy, 1997). (Studien auf Evidenzebene III, V, VI)
Wie wird HIV-induzierte Fatigue erlebt und beschrieben?
Es ist bekannt, dass HIV-infizierte Menschen schon in frühen Stadien der Erkrankung an Fatigue leiden können
(Phillips, Sowell, Rojas, 2002). Fatigue ist ein stilles, meist
«sprachloses» Symptom, das subjektiv erlebt und oft mit
Scham ertragen wird. Betroffene berichten über ein umfassendes, Besorgnis erregendes Erleben von Kraftlosigkeit, Schläfrigkeit, Ermüdung, Antriebsarmut, depressiver
Verstimmung und körperlicher Schwäche, welches erheblichen Distress auslöst (Soucy, 1997). Ein treffend verwendetes Bild hierzu ist das der «Bleikugeln an den
Füßen». Die Lebenszufriedenheit und das Erleben von
körperlicher und mentaler Gesundheit werden durch Fatigue stark reduziert (Barroso, 1999). Rose, Lears, Gordon
und Pugh (1998) fanden in einer hermeneutisch-phänomenologischen Studie (n = 10) heraus, dass Fatigue als ein
Barometer der Erkrankung im Leben der Betroffenen empfunden wird. Selbst bei sonst beschwerdefreien HIV-positiven PatientInnen kann die starke Erschöpftheit ein
schwerwiegendes Symptom sein (Rose et al., 1998). In der
Regel schenken sowohl die Betroffenen selbst als auch die
Professionellen diesem Symptom wenig Beachtung (Adinolfi, 2001; Groopman, 1998; Jenkin, 2004; Wolfe, 1999).
Ein wichtiger Faktor im Erleben von Fatigue scheint die
Akzeptanz der Umwelt für die reduzierte Leistungsfähigkeit der Betroffenen zu sein. In einer qualitativen Studie
beschreibt Jenkin (2004) die Frustration der Befragten
(n = 15) über das Unverständnis der nächsten Angehörigen für das Symptom Fatigue und dessen Auswirkungen
im Alltag. (Studien auf Evidenzebene IV, V, VI)
Auswirkungen der Fatigue
Fatigue manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen – körperlich, geistig, emotional (Barroso, 1999; Capaldini,
1998; Gamundi et al., 2000; Rose et al., 1998) – und wird
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als phasenförmig verlaufend beschrieben. Sie tritt oft
gleich zu Beginn der Erkrankung auf, dann folgt eine stabile Phase. Im Verlauf verschlimmert sich die Fatigue wieder bei Eintritt in ein neues Krankheitsstadium (Wolfe,
1999). Das Leben der Betroffenen wird durch Fatigue so
sehr belastet, dass diese bei Fortschreiten der HIV-Erkrankung ihre Aktivitäten in vielen Lebensbereichen – wie
Beruf, Haushalt, Beziehungen, Sexualität, sportliche Betätigungen – zunehmend einschränken (Barroso, 1999; Capaldini, 1998). Durch den stetigen Energieverlust können
Aversionen gegen alle Aktivitäten des täglichen Lebens
entstehen (Groopman, 1998). Konzentrationsfähigkeit, Erinnerungsvermögen und klares Denken scheinen zunächst
nicht vom Erleben von Fatigue beeinflusst zu sein. Wird
der Zustand allerdings chronisch, können depressive Verstimmungen folgen (ICUS, 2001). Viele der Forscher sind
sich einig, dass Fatigue für Menschen mit HIV eine schwere Beeinträchtigung in der Lebensgestaltung, der Berufsausübung und der Lebensqualität bedeutet (Adinolfi, 2001;
Barroso, 1999/2001; Barroso, Lynn, 2002; Groopman,
1998; Ferrando, Evans, Goggin, Sewell, Fishman, Rabkin,
1998; Rose et al., 1998). Barroso (2001) belegte in ihrer
qualitativen Studie (n = 31) die beeinträchtigende Wirkung
von Fatigue auf das Rollenverständnis, die berufliche Identität und das soziale Leben von HIV-betroffenen Menschen. (Studien auf Evidenzebene IV, V, VI)
Adhärenz und Fatigue
Die Minderung der Lebensqualität durch Fatigue kann einen negativen Einfluss auf die Bereitschaft ausüben, antiretrovirale Medikamente regelmäßig einzunehmen (AIDS
Alert, 1996). Eine Studie an chinesischen HIV-Betroffenen
(n = 136) zeigte, dass Adhärenz einem multidimensionalen
Konzept entspricht, das von vielen Einzelfaktoren, wie Fatigue, Schmerzen, Krankheitsstadium, familiärer Unterstützung u. a., beeinflusst wird (Molassiotis, Nahas-Lopez,
Chung, Lam, Li, Lau, 2002). In dieser Untersuchung wird
Fatigue als wichtiger Faktor mit Nonadhärenz in Verbindung gebracht. Obwohl es kaum Daten über Fatigue und
deren unmittelbaren Einfluss auf die Adhärenz gibt, geht
Turner (2001) davon aus, dass Fatigue psychischen Distress
auslöst und deshalb genau beobachtet werden muss, um
einen negativen Einfluss auf die Medikamententreue frühzeitig zu erkennen. Duran et al. (2001) untersuchten HIVinfizierte Menschen (n = 336), die mit einer neuen antiretroviralen Therapie begonnen hatten, auf Symptome,
jeweils einen und vier Monate nach Therapiebeginn. Nach
einem Monat berichteten 94% von ihnen nach vier Monaten 88% von mindestens einem Symptom, wobei Fatigue
und Durchfall am meisten genannt wurden. Betroffene, die
bereits nach einem Monat unter einer Vielzahl von Symptomen litten, neigten nach vier Monaten vermehrt zur Nonadhärenz. Dieses Ergebnis wird durch eine weitere Studie
(Trotta, Ammassari, Cozz-Lepri, Zaccarelli, Castelli, Narciso, Melzi, de Luca, Monforte, Antinori, 2003) gestützt,
welche zwei verschiedene Therapieregimes bezüglich Adhärenz an Teilnehmern (n = 596) aus drei HIV-Kohorten
untersuchte. Die Adhärenz wurde mitttels Fragebogen für
die vorangegangenen vier Wochen erfasst. Bei 46% der Be-
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M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
fragten wurde eine Nonadhärenz nachgewiesen. Junge Betroffene unter 35 Jahren, die aktiven Drogenkonsum, Fatigue oder Erbrechen angaben, zeigten schlechtere Adhärenz.
Auch diese Studie belegt, dass Fatigue mit Nonadhärenz
bei HIV-infizierten Menschen in Verbindung zu bringen ist.
(Studien auf Evidenzebene III, IV, VI)
Depression und Fatigue
Breitbart (1998) und Barroso et al. (2002) zeigten in deskriptiven Studien, dass die Einschränkungen durch Fatigue Gefühle von Insuffizienz, Scham und Leid auslösen,
die zu Depressionen führen können. Nach einer von Breitbart (1998) an ambulanten AIDS-PatientInnen (n = 427)
durchgeführten Studie sind Frauen mit 61,6% häufiger von
Fatigue betroffen als Männer mit 49,1%. Laut Eller (2001)
wird die Lebensqualität von HIV-Infizierten von vier variablen Faktoren beeinflusst: soziodemographische Fakten, Depression, Immunstatus und Fatigue. Der berufliche
Status, Depression und Fatigue wurden mit 58% als Haupteinflussfaktoren auf die Lebensqualität HIV-Betroffener
identifiziert. Diese Studie an ambulanten HIV-positiven
Menschen (n = 81) belegt, wie wichtig das Routineassessment von Fatigue und Depression bei HIV-infizierten ist.
Die Schwere der Fatigue wird oft mit Depression und Angst
in Verbindung gebracht (Barroso, 2001; Barroso et al.,
2003; Breitbart, 1998; Capaldini, 1998; Ferrando et al.,
1998; Perkins, Leserman, Stern, Baum, Liao, Golden,
Evans,1995; Soucy, 1997). Barroso et al. (2003) untersuchten in einer explorativen Studie (n = 40) die Korrelation von Angst und Depression mit Fatigue. Auch die Ergebnisse dieser Untersuchung belegen eine signifikante
Verflechtung der drei Symptome. Bangsberg (2003) geht
in seiner Übersichtsarbeit (Bing, Burnam, Longshore,
2001; Wang, Berglund, Kessler, 2000) von einer Depressionsprävalenz bei HIV-Infizierten von bis zu 50% aus.
Capaldini und Harrison (2003/2004) sprechen von einer
10- bis 50prozentigen Depressionsprävalenz bei HIV-Infizierten, im Gegensatz zu 5 bis 15% bei der nicht HIV-infizierten Bevölkerung. Diese Zahlen zeigen, dass Fatigue
und Depression bei HIV-betroffenen Menschen vergleichbar häufig vorkommen. Depression gilt nach Kemppainen,
Buffum, Holzemer, Jensen, Finley (2001) als eine Barriere zur regelmäßigen Einnahme der antiretroviralen Medikamente. Die Abgrenzung von Fatigue und Depression
ist nach Breitbart (1998) und Capaldini (1998) ebenso
schwierig wie notwendig, da sich beide Symptome ähnlich darstellen und miteinander korrelieren. Die Differenzierung beider Symptome mit Hilfe systematischer
Einschätzung ist unerlässlich für die angemessene Behandlung und Erhaltung der Lebensqualität der von
Fatigue Betroffenen (Barroso, Lynn, 2002; Capaldini,
1998; Rose et al., 1998). (Studien auf Evidenzebene III,
IV, V, VI)
Fatigue, Depression und Schlafstörungen
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Mock, Phillips und Sowell (2002) untersuchten die Korrelationen von Fatigue, Depression und Schlafstörungen
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in einer deskriptiven Studie an HIV-infizierten Frauen
(n = 174). Von diesen Frauen erlebten 45,7% Tages-Fatigue, 45,8% berichteten von Symptomen, die auf eine Depression schließen ließen, und 59% beklagten Schlafstörungen. Die ForscherInnen zeigen, dass Depression,
Schlafstörungen und Fatigue Faktoren sind, die Rückschlüsse auf Morbidität und Mortalität bei HIV-infizierten
Menschen zulassen. Depression und Schlafstörungen sind
signifikante Prediktoren für Fatigue. (Evidenzebene IV)
Fatigue und Schlafstörungen
Sehr belastend ist die Tatsache, dass HIV-induzierte Fatigue häufig zu Schlafstörungen aller Art führt (Gamundi et
al., 2000; Lee, Portillo, Miramontes, 2001; Perkins et al.,
1995; Phillips et al., 2002). Phillips et al. (2002) untersuchten die Krankenakten von 57 HIV-Infizierten einer
HIV-Klinik. Sie fanden heraus, dass Schlafprobleme oft in
der frühen Phase der Infektion beginnen. Kommen andere Symptome der HIV-Infektion, das Ausbrechen von
AIDS oder eine opportunistische Erkrankung hinzu, nehmen die Schlafstörungen, Tagesmüdigkeit und daraus resultierender Stress zu. Betroffene können trotz großer Müdigkeit nicht einschlafen oder erwachen nach wenigen
Stunden wieder, um am nächsten Tag noch erschöpfter zu
sein (Lee et al., 2001; Phillips et al., 2002). Lee et al. (2001)
untersuchten in einer quantitativen Studie (n = 104) den
Einfluss von Schlafqualität, Schlaftiefe, absoluter Schlafzeit und Aktivitätsmustern auf das Ausmaß von Fatigue bei
HIV-positiven Frauen. Je stärker die Fatigue war, desto
massiver waren die Schlafstörungen, was die Fatigue wieder verstärkte. Dies belegt die Wichtigkeit von geschulter,
pflegerischer Aufmerksamkeit, was den Schlaf, depressive Symptome und Aktivitätsmodalitäten der HIV-Infizierten betrifft. (Studien auf Evidenzebene III, IV, V, VI)
Fatigue-Assessment
Ein bewährtes Instrument zur Einschätzung von Fatigue
bei chronisch kranken Menschen ist der Global Fatigue Index – GFI (Cronbach’s alpha =.96), welcher von Bormann,
Shively, Smith, Gifford (2001) in einer randomisierten,
kontrollierten Studie (n = 209) auf Reliabilität und Validität getestet wurde. Der GFI entstand aus dem «Multidimensional Assessment of Fatigue – MAF» (Belza, 2000)
nach Revision der Piper Fatigue Skala (Piper, Lindsey,
Dodd, Ferketich, Paul, Weller, 1989). In der Literatur sind
etliche Assessmentinstrumente beschrieben, die Fatigue in
Ausmaß, Intensität und Einfluss auf die Aktivitäten des
täglichen Lebens messen (Bormann et al., 2001; Breitbart,
1998). HIV-induzierte Fatigue ist bisher nicht erforscht wie
die durch Krebs hervorgerufene Fatigue. Durch die spezifischen Bedingungen der HIV-Krankheit, insbesondere
durch die Tatsache der sexuellen Übertragbarkeit und entsprechende Stigmatisierung, herrschen andere Grundthemen im Leben HIV-Betroffener vor als im Leben von Menschen mit Krebs. Diese Tatsache macht eine spezielle
Symptomeinschätzung für diese Patientengruppe nötig
(Barroso, Lynn, 2002). Soucy (1997) meint, dass das wich-
M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
tigste Angebot für HIV-Infizierte, die an Fatigue leiden, ein
systematisches Assessment sein muss. Diese Einschätzung
wird von Forschern wie Wolfe (1999), Capaldini (1998)
und Gamundi et al. (2000) dahingehend geteilt, dass ein
solches Assessment der Schlüssel für erfolgreiche Interventionen ist. Ein spezifisches Instrument zur Einschätzung HIV-induzierter Fatigue existiert in deutscher Sprache bis heute nicht. Die verfügbaren Instrumente stammen
aus dem Krebs-Fatigue-Bereich. Einzig Barroso entwickelte 2002 den HRFS (HIV-related Fatigue Scale), ein Instrument, das spezifisch die HIV-assoziierte Fatigue misst
(Barroso, Lynn, 2002; Barroso et al., 2003), dessen Publikation aber noch aussteht. (Studien auf Evidenzebene II,
IV, V, VI)
Interventionen
Medikamentös
Bei HIV-assoziierten Defizitsituationen wie Anämie, Cortisol-, T 4- und Testoteronmangel sind Substitutionstherapien – wie Gaben von Eisen, Transfusionen, Erythropoietin, Testosteron, Hydrocortisol, Thyroxin – beschrieben
(Barroso, 1999; Capaldini, 1998; Gamundi et al., 2000;
Rabkin, Wagner, Rabkin, 2001; Soucy, 1997; Wolfe, 1999;
Wongvipat, 1999). Insbesondere die Testosterongabe wies
gemäß einer randomisierten Doppelblindstudie (n = 70) einen signifikanten Effekt auf: In der Interventionsgruppe
gaben 59% eine Energiesteigerung an, im Gegensatz zu
25% in der Kontrollgruppe (Rabkin et al., 2001). Diese Ergebnisse werden durch eine frühere Interventionsstudie
derselben Forscher gestützt. 108 Teilnehmer mit klinischen
Symptomen von Hypogonadotropismus erhielten 12 Wochen lang zweimal wöchentlich Testosteroninjektionen.
Von den Männern gaben 72% zu Studienbeginn Fatigue
an, 79% von ihnen erlebten durch die Testosterongaben einen ansteigenden Energielevel (Wagner, Rabkin, Rabkin,
1998). Dieselbe Forschergruppe untersuchte in einer randomisierten, placebokontrollierten Studie (n = 22) den
Nutzen von Dextroamphetaminen bei HIV-assoziierter
Fatigue. Hier konnten 73% der Teilnehmer in der Interventionsgruppe profitieren, im Gegensatz zu 25% in der
Kontrollgruppe, ohne dass die Therapie zu einer Abhängigkeitsentwicklung geführt hätte (Wagner, Rabkin, 2000).
In einer weiteren randomisierten Doppelblindstudie an drei
Gruppen (n = 109) erwies sich die Gabe von zwei Psychostimulantien – Ritalin und Cyclert – als effizient. Von den
Patienten in den Interventionsgruppen berichteten 36%
bzw. 41% über eine Besserung ihrer Erschöpfungssituation, im Gegensatz zu 15% der Kontrollgruppe (Breitbart,
Rosenfeld, Kaim, Funesti-Esch, 2001). Die Therapie mit
Interleukin 2 wurde in einer randomisierten Studie (n = 50)
ebenfalls als verbessernd belegt. 28 männliche Probanden
der Interleukin erhaltenden Gruppe berichteten von einer
guten Verbesserung ihres Leistungsniveaus. Diese Steigerung hielt nur eine Woche an. Nach vier Wochen war der
Energielevel wieder auf das Baseline-Niveau abgesunken
(Grady, Anderson, Chase, 1998). Im Rahmen einer deskriptiven Studie (n = 25) wurden 20 HIV-Betroffene entweder ausschließlich mit Hyperbarer Sauerstofftherapie
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oder zuerst mit Außenluft, danach mit 100prozentigem
Sauerstoff behandelt. Diese Interventionen zeigten nach
zweiwöchiger Anwendung einen deutlichen Erfolg in beiden Gruppen. Alle Zeichen von Fatigue kehrten nach Absetzen der Behandlung wieder zurück (Reillo, Myers,
1993). (Studien auf Evidenzebene II, IV, V, VI)
Verhaltensorientiert
Gamundi et al. (2000) empfehlen die Reduktion von Drogen, Zigaretten und Alkohol, obwohl es keine Daten gibt,
dass der Gebrauch dieser Substanzen Fatigue hervorruft.
Betroffene berichten, dass der Konsum von Drogen, Zigaretten oder Alkohol Fatigue verstärken kann. Abusus verschiedener Noxen ist oft Ausdruck von Angst, Depression
oder Schlafstörungen. (Gamundi et al., 2000). Eine von
Reibel (2001) durchgeführte quantitative Studie (n = 136)
liefert Hinweise darauf, dass über acht Wochen regelmäßig angewendete Meditation bei chronisch kranken Menschen zur Besserung sowohl des Allgemeinbefindens als
auch der Fatigue führt. Von den Probanden berichteten 91%
über einen bleibend positiven Effekt auf ihre mentale und
körperliche Gesundheit, nachdem sie die meditativen
Übungen während eins weiteren Jahres fortgesetzt hatten.
Corless (2001) zeigte mit einer deskriptiven Studie (n =
422), dass sich leichtes, körperliches Training bei HIV-Betroffenen bewährt hat. Delmonte (1997) und Gamundi et
al. (2000) beziehen sich in ihren Arbeiten auf Patientenberichte, die diese Aussage stützen. Melville (2001) bestätigt diese Erfahrungen in einer randomisiert-kontrollierten Studie (n = 60). Hier erfuhr die trainierende Gruppe
ebenfalls eine deutliche Verbesserung ihrer Erschöpfungssituation. Dies ist gerade hinsichtlich des positiven Effekts
von Sport auf die Blutfettwerte, welche oft durch die antiretrovirale Therapie dereguliert sind, sehr interessant.
Dudgeon, Phillips, Bopp, Hand (2004) bestätigten in einem Literaturreview diese Ergebnisse. Präventive Stressvermeidung kann gemäß einer deskriptiven Studie (n =
422) von Corless (2001) zur Verbesserung der Gesamtsituation führen. Im psychischen Bereich wurde bisher wenig über Interventionen bei HIV-Fatigue geforscht. Wir
wissen jedoch, dass Psychotherapie, Lebensberatung – je
nach Lebenssituation unter Einbezug der Beziehungspartner – und gezielte Information über das Symptom Fatigue
von Betroffenen als hilfreich empfunden wurden (Capaldini, 1998; Glaus, Frei, Knipping, Ream, Browne, 2002;
Soucy, 1997). (Studien auf Evidenzebene II, III, IV, V, VI)
Praxisprogramm
Aufgrund der Erkenntnisse aus der Literaturrecherche
wurde im Jahr 2003 das Praxisprogramm zur Beratung
HIV-infizierter Personen die unter Fatigue leiden, erarbeitet. Dieses bietet die Struktur für eine systematische Betreuung von Patienten und Patientinnen, bei denen Müdigkeit in einem ungewöhnlichen Maß vorliegt. Das
Vorgehen zum Assessment und die Interventionen sind im
Praxisprogramm beschrieben. Als Teil des Praxisprogramms wurde aufgrund von Praxiserfahrungen eine klei-
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M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
ne PatientInnenbroschüre mit dem Titel «Müdigkeit bewältigen» zusammengestellt, die den Betroffenen im Rahmen der Betreuung abgegeben wird. Die Beratungen werden im Rahmen eines pflegewissenschaftlichen Projektes
an der HIV-Sprechstunde angeboten.
Assessment
Das Instrument GFI – Global Fatigue Index – dient als
Grundlage für unser HIV-spezifisches Instrument zur Fatigueeinschätzung. Es ist gemäß Bormann et al. (2001) validiert (Cronbach’s alpha .96) und praxisbewährt. Die 16
Fragen des GFI – Intensität und Häufigkeit von Fatigue,
symptominduzierter Stress, Auswirkungen der Fatigue auf
die Aktivitäten des täglichen Lebens – wurden durch sieben weitere ergänzt, die uns aus der Praxiserfahrungen
wichtig scheinen. Schlafmodalitäten sowie Fatigue verbessernde und verschlechternde Umstände werden erfragt.
Das Instrument befindet sich in der Erprobungsphase und
sollte so kurz wie möglich sein, um der reduzierten Kräftesituation der Befragten zu entsprechen. Das Fatigue-Assessments wird durch eine visuelle Analogskala ergänzt,
wie sie aus der Schmerzerfassung bekannt ist. Sie liefert
in der Verlaufskontrolle als semiquantitatives Instrument
– im Messbereich 1 (keine Fatigue) bis 10 (stärkste Fatigue) – eine gute Möglichkeit zur Einschätzung der Erschöpfung und der Wirksamkeit von Interventionen. Wolfe (2004) zeigte im Rahmen einer Langzeitstudie (n =
7760), dass die Verwendung einer visuellen Analogskala
zur Fatiguemessung im klinischen Alltag umfangreicheren Assessmentinstrumenten ebenbürtig, in der Verlaufskontrolle sogar überlegen ist.
Ablauf der Beratung bei HIV-induzierter
Fatigue
219
1. Screening/Erfassung: Die Erfassung, ob Fatigue vorliegt, wird im Rahmen der pflegerischen Erst- und Verlaufsgespräche durch spezialisierte HIV-Pflegefachpersonen oder während der ärztlichen Konsultationen
vorgenommen. Sowohl die Pflegenden wie auch die Ärzte
führen eine systematische Symptomerfassung durch. Bei
Vorliegen von Fatigue oder Symptomen, die auf Fatigue
hindeuten, erfolgt eine Meldung an die auf Fatigue spezialisierte Pflegeperson.
2. Vorbereitung der Beratung: Folgende medizinische Parameter und Diagnosen werden vorab durch die spezialisierte Pflegefachperson anhand der Krankenakte geprüft:
CD 4-Zellzahl, Viruslast, Hämoglobin, Cortisol, Testosteron, Schilddrüsenwerte, Leberwerte, opportunistische Infektionen, CD-Stadium, Komorbiditäten, psychiatrische
oder neurologische Diagnosen.
3. Einschätzung, erster Kontakt: Assessment der aktuellen
Fatiguesituation mit spezifischem Fragebogen und visueller Analogskala. Planung erster Interventionen – beispielsweise das Führen eines Fatigue- oder Schlaf-Tagebuchs, Erlernen von Meditationstechniken, Ausüben eines
leichten körperlichen Trainings, Dokumentation der
Schlafstruktur und Empfehlung für gezielten Aufenthalt an
Pflege 2006; 19:214–222
der Sonne etc. Die Angehörigen werden gerne in den Verlauf der Beratung(en) mit einbezogen, da die tägliche Lebenssituation für ein erfolgreiches Symptommanagement
von großer Bedeutung ist (Bodenheimer, Lorig, Holman,
Grumbach, 2002; Dodd, Janson, Facione, Faucett, Froelicher, Humphreys, 2001).
4. Auswertung: Die Resultate des Beratungsgespräches
werden nach dem Erstkontakt systematisch anhand einer
Auswertungstabelle (nach GFI) ausgewertet und schriftlich in Form eines Berichtes zusammengefasst, welcher in
der Krankenakte abgelegt wird. Der Bericht wird dem
behandelnden Arzt gegeben und diskutiert. Notwendige
medizinische Diagnostikverfahren zur vertieften Abklärung werden besprochen und folgen gegebenenfalls.
5. Zweiter Kontakt:Verlaufserfassung der Fatigue und Einschätzung der Veränderungen mittels visueller Analogskala, Anpassung der Interventionen an die individuellen
Lebensumstände des Betroffenen.
6. Weitere Verlaufskontakte: Fortlaufende Erfassung der
Fatigue mittels visueller Analogskala, Unterstützung bei
der Umsetzung von Veränderungen der Lebensgewohnheiten, Überprüfung und weitere Anpassung der Interventionen.
Diskussion
Unsere Literaturübersicht zeigt, dass Fatigue für HIV-infizierte Menschen ein schwerwiegendes Leiden darstellt.
Trotz des großen Ausmaßes der Beeinträchtigung wird Fatigue oft übersehen und bleibt unter- oder gar unbehandelt.
Das in der Literaturarbeit zusammengetragene Wissen und
unser Praxisprogramm ermöglichen es, HIV-positive Menschen mit Fatigue adäquat pflegerisch zu betreuen. Die
Literaturübersicht legt einen Zusammenhang zwischen Fatigue und schlechter Adhärenz nahe. Wenn die Einnahmezuverlässigkeit der antiretroviralen Therapie durch Fatigue
gemindert wird, kann dies zur Verschlechterung des Krankheitsverlaufs, zum Ausbruch von AIDS, zu Resistenzbildung und zur Reduzierung des körperlichen, wie des psychischen Befindens der Infizierten führen. Wie wir wissen,
bedarf es einer lebenslangen, zu 95% zuverlässigen Medikamententreue, um die Wirksamkeit der antiretroviralen
Medikamente zu gewährleisten und der Entwicklung von
Medikamentenresistenzen vorzubeugen (Paterson, Swindells, Mohr, Brester, Vergis, Squier, Wagener, Singh, 2000;
Stone, 2002). Aus diesem Grund ist das Wissen um Faktoren, die zur Minderung der Adhärenz führen, von zentraler Bedeutung in der Betreuung HIV-infizierter Menschen. Die enge Verknüpfung von Fatigue, Depression und
Schlafstörungen liefert einen weiteren Grund für die Anwendung des Praxisprogramms, da Depressionen eine
ernstzunehmende Barriere für die Adhärenz darstellen
(Kempainnen et al., 2001). Fatigue und Schlafstörungen
bedingen sich gegenseitig und lösen Distress bei den Betroffenen aus. Psychischer Distress schwächt das Immunsystem bei HIV-Infizierten (Cruess, Antoni, Gonzalez,
Fletcher, Klimas, Duran, Ironson, Schneiderman, 2003)
auf diesem Wissenshintergrund stellt das systematische
Fatigue-Mangement für HIV-infizierte Menschen eine
Notwendigkeit dar, da ein unzureichendes Symptomma-
M. Unger und R. Spirig Evidenzbasiertes Programm für HIV-infizierte Menschen mit Fatigue
nagement das Risiko von Krankheitsverschlechterung und
Lebensqualitätsminderung erhöht. Es existieren viele Assessmentinstrumente zur Messung von Fatigue, nur eines
dieser Instrumente ist jedoch HIV-spezifisch. Leider sind
in der Literatur die Elemente dieses HRFS – HIV-related
Fatigue Scale – nur schematisch dargestellt, so dass er nicht
von anderen HIV-Zentren übernommen werden kann. Zudem ist der HRFS mit 56 Fragen (Barroso et al., 2003) sehr
umfangreich, was gerade für die Gruppe der erschöpften
Menschen nicht unerheblich ist. Es war uns wichtig, die
systematisch vertiefte Symptomerfassung mit einer dem
Symptom Fatigue angemessenen Kürze und Praktikabilität
zu kombinieren. Wir beschränken uns aus diesem Grund
im Assessment auf 23 Fragen und im Verlauf auf die
visuelle Analogskala. Die systematische Einschätzung
macht es möglich, im HIV-Krankheitsverlauf die umfassenden, negativen Folgen der Fatigue durch gezielte,
evidenzbasierte Interventionen und Krankheitsbegleitung
zu mindern. Die Literaturübersicht zeigte, dass noch wenig Wissen über wirksame Interventionen bei HIV-assoziierter Fatigue vorhanden ist. Die Forschung im Bereich
der HIV-induzierten Fatigue ist jung, was sich unter anderem darin zeigt, dass noch keine Metaanalyse zu diesem
Thema vorliegt und nur eine kleine Anzahl von Interventionen, die sich auf Evidenzebene II einordnen lassen,
beschrieben ist. Leider kommen die evidenten, medizinischen Interventionen nur für eine begrenzte Anzahl Betroffener in Frage, da sie – wie beispielsweise der Einsatz
von Psychostimulantien, Interleukin und Hyperbarer Sauerstofftherapie – trotz guter Evidenz nicht für eine breite
Anwendung geeignet sind. Die erfolgversprechendsten
Möglichkeiten bieten bisher die Behandlungen von Anämie und Testosteronmangel, die aber nur zwei Faktoren
der multifaktoriellen Symptomursachen abdeckt. Wir
konnten leider keine Studien finden, die die Evidenz von
Interventionen im nicht medizinischen Bereich, wie gezieltes Selbstmanagement, Unterstützung in der Krankheitsbewältigung oder Lebensbegleitung, für HIV-Infizierte mit Fatigue belegen. Die Literatur zeigt aber, dass
Interventionen, die das Selbstmanagement von chronisch
Kranken unterstützen und stärken, erfolgreich sind (Doran, Sidani, McGillis Hall, Watt Watson, Mallette, Laschinger, Pringle, White, 2003). Es zeigte sich, dass derart betreute, chronisch kranke Menschen aktiv Strategien
zur Problemlösung entwickeln und umsetzen konnten.
Besserung wird durch die wachsende Fähigkeit zu konstruktiverem Umgang mit der Krankheit und dem Symptom im Sinne von Selbstmanagement erreicht. Das
empfundene Leiden kann relativiert werden, was die Verbesserung der gesamten Lebenssituation nach sich ziehen
kann. Empathisches Sich-Einfühlen in die Lebenswelt der
Betroffenen ist ein wichtiger, erster Schritt, um die Patienten und Patientinnen in ihrer Selbstkompetenz stärken
zu können. So werden Entwicklungen und Veränderungen
angestoßen, die zur Verbesserung des Selbstmanagements
und zur subjektiven Reduktion des Leidens führen, ohne
dass faktisch etwas an der Fatigue verursachenden Erkrankung verändert wurde. Vielmehr scheint es in diesem
Zusammenhang um die Adaptationsfähigkeit und das aktive Selbstmanagement der Betroffenen zu gehen, die sie
befähigen, ihr Leben nicht nur trotz, sondern mit einer zeh-
Pflege 2006; 19:214–222
renden, chronischen Krankheit als lebenswert empfinden
und gestalten zu können.
Dank
Die Autorinnen danken Professor M. Battegay herzlich für
seine wertvollen Hinweise bei der Durchsicht des Manuskripts. Weiterer Dank geht an R. Kreider, G. Eze und
M. Battegay für ihre Unterstützung bei der Einrichtung der
neuen Dienstleistung. Diese Arbeit wurde durch einen «unrestricted educational grant» von GlaxoSmithKline, Merck
Sharp und Dohme Chibret, Roche Pharma und BristolMyers Squibb und den Schweizerischen Nationalfonds
Grant Nr 3346-100884 mitfinanziert.
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