Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit

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Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit
November 2011
2. Jahrgang
dgssa
Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit
Netzwerke, Systemtheorie
und Soziale Arbeit
Journal der dgssa
www.dgssa.de
2+3
Systemische Soziale Arbeit – Journal der dgssa
Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit
Heft 2+3
2. Jahrgang
ISSN 2192-5429
Herausgeber:
Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit e.V.
Redaktion:
• Wilfried Hosemann, Universität Bamberg/Hochschule Coburg
• Tobias Kosellek, Universität Jena
• Tilly Miller, Katholische Stiftungsfachhochschule München
Beiräte:
• Dirk Baecker, Zeppelin-Universität Friedrichshafen
• Renate Fischer, Österreich
• Andreas Hampe-Großer, Jugendamt Berlin-Mitte
• Johannes Herwig-Lempp, Hochschule Merseburg (FH)
• Julia Hille, Hochschule Merseburg (FH)
• Heino Hollstein-Brinkmann, Evangelische FH Darmstadt
• Heiko Kleve, Fachhochschule Potsdam
• Björn Kraus, Evangelische FH Freiburg i. Br.
• Ludger Kühling , Hochschule Merseburg (FH)
• Roland Merten, Universität Jena
• Walter Milowiz, Fachhochschule Campus Wien, Österreich
• Michael Pifke, FAB - Familienarbeit und Beratung e.V. Berlin
• Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg im Breisgau
• Thorsten Wege, Fachhochschule Dortmund
Bezugsbedingungen
Die Zeitschrift Systemische Soziale Arbeit – Journal der dgssa erscheint in der Regel zweimal jährlich.
Mitglieder erhalten kostenlosen Zugang zur Zeitschrift. Das Jahresabonnement kostet 20,00 €, für
Studierende, Rentner und Erwerbslose ermäßigt 14,00 €. Das Einzelheft kostet 12,00 €.
Gestaltung und Layout:
andreas n. schubert | grafikdesign. webprogrammierung.
www.andreas-n-schubert.de
Journal der dgssa
Inhalt
Inhalt
Editorial............................................................................................................................................................... 4
Beiträge
Veronika Tacke
Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu
sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt ................................................................... 6
Jan Fuhse
Kommunikation und Handeln in Netzwerken ........................................................................................... 25
Horst Uecker
Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen –
ein kommunikationstheoretischer Vergleich............................................................................................... 40
Artur Neif
Soziale Arbeit im ASD –
Kritische Beobachtungen zur programmatischen Ausgestaltung ............................................................ 52
Martin Hafen
Inklusion und soziale Ungleichheit............................................................................................................... 75
Helmut Lambers
Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Einige Thesen aus systemtheoretischer Sicht ............................................................................................. 93
Tagungsbericht
Brigitta Michel-Schwartze
Der Fachtag der dgssa am 16. Juli 2011 in Jena: beobachtet.................................................................. 119
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Journal der dgssa
Editorial
Editorial
Im Mittelpunkt der Jahrestagung der dgssa in Jena am 16. Juli 2011 stand, passend zu den aktuellen
gesellschaftlichen und fachlichen Entwicklungen, das Thema Netzwerke – Systeme –Sozialer Raum.
Wir versammelten namhafte ReferentInnen, die theoretisch anspruchsvoll die Schnittstellen zwischen Systemtheorie und Netzwerktheorie aus verschiedenen Perspektiven darlegten. Eines wurde
deutlich: die systemisch orientierte Wissenschaft der Sozialen Arbeit tut gut dran, sich mit Netzwerken auseinander zu setzen, um sie als sozialstrukturelle Phänomene theoretisch und praktisch
verorten zu können. Wir freuen uns, Ihnen in diesem Doppelheft die wichtigsten Grundlagenbeiträge des Fachtages und weitere Beiträge zum Thema Netzwerke präsentieren zu können.
Wie praxisrelevant und sozialpolitisch brisant die Diskussion ist, zeigt sich an dem Vorstoß der
Staatssekretäre zur „Wiedergewinnung kommunalpolitischer Handlungsfähigkeit“. Eine Änderung
des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) soll „die individuelle Einzelhilfe als Angebotsform
von der Regel zur Ausnahme machen“. Als Schlüsselkonzepte werden die Sozialraumorientierung
und die bessere Verbindung von Jugendhilfe und Regelangeboten (z. B. den Schulen) gesehen.
Dabei kommt der „Vernetzung“ und der „besseren Kooperation“ sozial wirksamer Institutionen
wie Jugendhilfe, Schule, Gesundheitswesen, Jobcenter usw. eine Schlüsselstellung zu. Längst ist
nicht nur unter systemisch Interessierten klar, dass die bessere Vernetzung der Adressaten untereinander ungenutzte Kräfte und Ressourcen mobilisieren kann. Die politische Forderung: “Der ständigen Ausweitung eines sich selbst definierenden Hilfsbedürftigkeit muss Einhalt geboten werden“
wird die Debatte weiter befördern und erfordert neben der politischen eine fachliche und professionelle Antwort.
Wer an fachlichen Perspektiven und Lust an systemischer Horizonterweiterung hat, wird mit den
in diesem Band zusammen getragenen Aufsätzen wertvolle Impulse, Ideen, Erfahrungen und Argumente finden.
So stellen Veronika Tacke und Jan Fuhse Systemtheorie und Netzwerktheorie gegenüber. Veronika
Tacke legt aus systemtheoretischer Perspektive einen kritischen Blick auf netzwerktheoretische Erklärungsversuche, die, wie sie meint, ohne Systemtheorie nicht zureichend gelingen können. Jan
Fuhse argumentiert aus netzwerktheoretischer Sicht und beleuchtet wiederum Fragen, die über die
Reichweite der Systemtheorie hinausgreifen. Der Kommunikationsbegriff spielt bei den Reflexionen eine zentrale Rolle. Als thematische Ergänzung ist hierzu der Beitrag von Horst Uecker zu verstehen, der Netzwerke und Organisationen kommunikationstheoretisch mit Blick auf Karrieren
vergleicht und den Bezug zur Sozialen Arbeit herstellt.
Aus der Sicht eines Praktikers im Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) greift Artur Neif die strukturelle Ausgestaltung von Organisation und Programm des ASD auf. In Form eines reflexiven Pra-
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Journal der dgssa
Editorial
xisberichts werden die auf den ASD einwirkenden Logiken beschrieben und weiterführende Fragestellungen entwickelt. Passend dazu werden die gesellschaftlichen Problemstellungen im Kontext
Inklusion und soziale Ungleichheit von Martin Hafen dargestellt. Er macht aussichtsreiche Vorschläge für Begriffsverwendungen, um soziale Ungleichheit präziser fassen zu können. Den Argumentationsbogen zu den politischen Auseinandersetzungen spannt Helmut Lambers wenn er
darlegt, ob und wie Soziale Arbeit „die Gesellschaft“ erreichen kann und dazu aus systemtheoretischer Sicht die Voraussetzungen reflektiert.
Darüber hinaus möchten wir auf Veränderungen im Herausgebergremium hinweisen. Jan Wirth ist
zurück getreten und wir bedanken uns an dieser Stelle für sein großes Engagement in der Aufbauphase. Tilly Miller ist an seiner Stelle in den Redaktionskreis getreten und startete impulsgebend für
den Fachtag Netzwerke – Systeme – Sozialer Raum in Jena und für das vorliegende Heft.
Tilly Miller studierte Sozialpädagogik (Dipl.Sozialpäd.FH), Politikwissenschaft (Dipl.sc.pol.Univ.)
und ist Theaterpädagogin BuT®. Seit 1990 ist sie Professorin für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und
Politikwissenschaft an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München. Schwerpunkte in Lehre
und Forschung sind Systemtheorie und systemische Soziale Arbeit, Netzwerktheorien, Netzwerkarbeit; Wissenschaftstheorien, Transdisziplinarität, Merkmale von Entwicklungsprozessen und Phasenverläufen im Unterstützungskontext. Sie leitet den Vertiefungsbereich Sozialarbeitsorientierte
Erwachsenenbildung und ebenso das Theaterpädagogische Zentrum, wo sie auch Theater- und
Tanzworkshops und Aufführungsprojekte anbietet. Wissenschaft – Bildung – Kultur und deren
Verbindung sind ihre Domänen und jede Monokultur ist ihr suspekt. Über den Tellerrand hinaus
denken – out of the box – ist ihre Devise. Die systemische Zugangsweise ist für sie eine tragfähige
Plattform, um an weitere Konzepte anzukoppeln.
Tilly Miller hat jahrelange Erfahrungen als Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Erwachsenenbildung und bringt von daher wertvolle Ressourcen in die Redaktionsarbeit ein.
Herzlich Willkommen!
Wir wünschen allen Lesern und Leserinnen viel Mehrwert beim Durchstöbern unseres Journals, Heft 2+3/2011.
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Systeme und Netzwerke – oder: Was man an sozialen Netzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch
beschreibt
Veronika Tacke
Zusammenfassung
Ausgehend von verbreiteten Vorurteilen, dass die Systemtheorie – im offenkundig erscheinenden
Unterschied zu Netzwerkansätzen – sich nicht dazu eignet, um soziale Netzwerkphänomene zu erfassen, geht der Beitrag den komparativen Vorteilen der Systemtheorie in der Beschreibung von sozialen Netzwerken nach. Argumentiert wird, dass die Systemtheorie als Theorie der
Kommunikation nicht zuletzt zwischen der operativen Herstellung und der bloßen Darstellung von
Netzwerken unterscheiden kann. Es ist nicht zuletzt diese Differenz, die eine Reihe von weiteren
Fragen zugänglich macht, die gängige Netzwerkansätze typischerweise nicht im Blick haben, darunter die Frage der Legitimität von Netzwerken.
Abstract
Departing from common prejudices that social systems theory is not well prepared to cope with
social networks, while network approaches, at first glance, seem to be more appropriate to describe
network phenomena, the article highlights comparative advantages of systems theory over network
approaches. It is argued that systems theory as a theory of communication is in particular able to
distinguish between the operative (re)production (Herstellung) and the pure demonstration (Darstellung) of networks. It is, amongst other things, this distinction which seems to open up a lot of
further questions that main stream network approaches typically are not well prepared to ask, e.g.
the question of network legitimacy.
1. Einleitung
Im Folgenden werden soziale Netzwerkphänomene in der Perspektive einer bestimmten Theorie
zum Thema: der soziologischen Systemtheorie. 1 Gerade mit Blick auf den Gegenstand – soziale
Netzwerke – scheint die Wahl dieser theoretischen Zugriffsweise jedoch nicht nahezuliegen. Denn
zum einen gibt es das immer wieder zu hörende Vorurteil, gerade die Theorie sozialer Systeme sei
von Hause aus ganz ungeeignet, soziale Netzwerkphänomene zu erfassen. Sofern Netzwerke doch
offen, unbegrenzt und ohne Grenzen seien, müsse an ihnen die Theorie sozialer Systeme versagen
(Weyer 2000, Hessinger et al. 2000). Und zum anderen gibt es bereits eine lange und verzweigte
Tradition der Netzwerkforschung (vgl. Holzer 2006), die bisher ohne Systemtheorie ausgekommen
1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich auf dem dgssa-Fachtag ‚Netzwerke – Systeme – Sozialer Raum‛ am 16. Juli 2011 in Jena gehalten habe.
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
ist. Was läge näher, als sich in der Beobachtung und Beschreibung von Netzwerken an diese Tradition zu halten und gegebenenfalls an deren Weiterentwicklung zu arbeiten? 2
Im Folgenden soll nicht nur demonstriert werden, dass die Systemtheorie geeignet ist, soziale
Netzwerkphänomene zu erfassen und zu beschreiben, sondern darüber hinaus soll deutlich gemacht werden, dass sie an diesem Phänomen Gesichtspunkte in den Blick zu rücken und zu erhellen vermag, die in Zugriffsweisen der Netzwerkforschung selbst nicht gesehen werden und
offenbar auch nicht gesehen werden können. Ausgehend von einer kurzen Sicht auf Stand und
Herausforderungen, die mit Netzwerken gleichwohl in der Systemtheorie verbunden sind (2), wird
zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen netzwerktheoretischen und systemtheoretischen Zugriffsweisen auf Netzwerke markiert (3) und im Rekurs auf die Systemtheorie zwischen der kommunikativen Herstellung und Darstellung von Netzwerken unterschieden (4). Im Anschluss an eine
knappe Beschreibung der Herstellung von sozialen Netzwerken und den besonderen Formen ihrer
Grenzziehung im Kontext gesellschaftlicher Strukturen (5) wird unter dem Stichwort der Legitimität (oder: kommunikativen Akzeptanz) nicht nur auf einen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht,
den Netzwerktheorien von Hause aus nicht erfassen, sondern zugleich angedeutet, in welcher Weise Darstellungen (der Funktionalität und Legitimität) von Netzwerken mit Herstellungsfragen von
(partikularen) Netzwerken im empirischen Gegenstandsbereich verbunden sind.
2. Netzwerke als Herausforderung der Systemtheorie
Zunächst einmal soll und muss hier nicht bestritten werden, dass Netzwerkphänomene für die Systemtheorie eine besondere Herausforderung darstellen. Darauf weist allein schon die Verschiedenheit der Verwendungsweisen des Netzwerkkonzepts sowie auch der Diagnosen hin, die innerhalb
der Systemtheorie mit Bezug auf soziale Netzwerke bis heute vorliegen. Mindestens fünf Varianten
lassen sich unterscheiden:
• Erstens finden sich – speziell auf den Kontext von Organisationen bezogen – eingeschränkte Netzwerkkonzepte, wobei diese in der Systemtypologie ‚Interaktion, Organisation, Gesellschaft‘ (vgl. Luhmann 1975) ihrerseits verschieden verortet wurden. Während Teubner
(1992) mit Blick auf Unternehmen eine Emergenz von Netzwerken ‚oberhalb‘ von Organisationen konstatiert hatte, betonten Kämper und Schmidt (2000) am Fall sogenannter
Policy-Networks dagegen den starken Interaktionsbezug von Netzwerken und verorteten
sie ‚unterhalb‘ von Organisationen, zu deren „struktureller Kopplung“ durch Interaktion sie
den Autoren zufolge beitragen.
• Zweitens beschreibt Stichweh (2000, 2006) Netzwerke im Rückgriff auf Konzepte der formalen Netzwerkanalyse (small worlds, scale free networks) als globale Kontaktstrukturen.
2 Im Zuge jüngerer kulturalistischer und interpretativer (meaning) Formen der Weiterentwicklung des einst formalen
Netzwerkansatzes lassen sich – insbesondere im Umfeld von Harrison C. White – auch Versuche notieren, systemtheoretische Begriffe wie Sinn und Kommunikation für die Ausarbeitung klassischer Netzwerkansätze zu nutzen. Siehe etwa
Fuhse 2009.
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Netzwerke erscheinen dabei als je funktionsspezifisch eingeschränkte „Eigenstrukturen der
Weltgesellschaft“.
• Drittens, und im einigermaßen krassen Gegensatz dazu, finden sich Beschreibungen von
„Vertrauensnetzwerken“ im Zusammenhang des regionalen Versagens, Ausfallens oder
Blockierens von Strukturen funktionaler Differenzierung, so bei Luhmann (1995) am Fall
süditalienischer Korruptionsnetzwerke oder bei Japp (2011) am Beispiel von failing states in
Afrika wie Afghanistan.
• Viertens diagnostiziert Baecker (2007) im Zusammenhang mit einer Medienrevolution
durch Computer und Internet nicht nur eine Bedeutungszunahme heterogener Netzwerkphänomene, sondern eine „nächste Gesellschaft“, deren Differenzierungsstruktur sich zwar
noch nicht erkennen lasse, die sich aber von Strukturen funktionaler Differenzierung bereits
verabschiede.
• Und fünftens gibt es den Vorschlag, soziale Netzwerke allgemein auf der Grundlage der
Theorie gesellschaftlicher Differenzierung als eine besondere, partikularistische und parasitäre Sozialform zu konzeptualisieren, die Sinnkontexte und Systemgrenzen zu übergreifen
vermag und heterogene Leistungen selektiv auf der Basis von selbst erzeugten Reziprozitäten verknüpft (Tacke 2000, Bommes/Tacke 2006, Bommes 2011, Tacke 2009, 2011).
Die Verschiedenheit dieser Vorschläge und ihrer Implikationen macht darauf aufmerksam, dass es
in der Systemtheorie offenbar nicht einfach ist, für soziale Netzwerkphänomene einen Begriff zu
bilden. Das aber ist nicht zwangsläufig schon als ein Defizit der Theorie zu verstehen, sondern zunächst einmal das Resultat unkoordinierter Beiträge zur Theorieentwicklung und ausstehender Diskussionen. Zu den Fragen in diesem Zusammenhang gehört, ob man für alle der genannten
Phänomene notwendigerweise den Netzwerkbegriff benötigt oder in der Systemtheorie verwenden
sollte. Sollte oder muss man z. B. den Netzwerkbegriff dort einsetzen, wo und weil man, wie
Stichweh (2000, 2006), Einsichten aufgreift, die mit den Mitteln von Netzwerkansätzen – also unter
ganz anderen theoretischen und methodologischen Vorzeichen – erzeugt wurden? Genügte es
nicht, sich auf die Rede von „globalen Kontaktstrukturen“ zu beschränken, gerade wenn im Sinne
der Systemtheorie angenommen wird, dass diese Kontakte durch Funktionssysteme wie Wirtschaft
oder Wissenschaft eingeschränkt werden? Ähnliche Fragen ergeben sich für die systemtheoretische
Konzeptualisierung unternehmerischer Organisationsnetzwerke. Sie werfen für den Juristen und im
Recht ersichtlich das Problem auf, wie angesichts neuer ‚hybrider‘ Arrangements Verantwortung
eindeutig zugeschrieben und vorhandenen Rechtsfiguren (Marktverträge, Organisationsverträge)
zuverlässig zugeordnet werden kann (Teubner 1992, Ladeur 2011). Aber braucht auch die Soziologie hier – über den Organisationsbegriff hinaus – ein neues (Netzwerk-)Konzept? Dies ist fraglich,
soweit Organisationen als Sozialsysteme verstanden werden können, die 1. nach außen kommunizieren können, die 2. nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Teilnehmer (einschließlich anderer
Organisationen) in Kommunikation einbeziehen können, die 3. ihre Grenzen zum Gegenstand von
Entscheidungen machen können, die 4. Interaktionen veranlassen können und die 5. immer auch
informale Formen der Kommunikation mitproduzieren, die sie in gewissem Rahmen auch für ihre
Zwecke einspannen und konditionieren, wenn auch nicht durchgreifend steuern können. All das
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
legt nahe, den Netzwerkbegriff nicht – jedenfalls nicht voreilig – für diese neuartigen organisatorischen („Netzwerk“-)Arrangements einzusetzen. 3
Die Vielfalt und Verschiedenheit der Vorschläge und Verwendungsweisen des Netzwerkkonzepts
weist aber nicht nur auf Desiderate der Systemtheorie im Umgang mit „dem“ Netzwerkproblem
und auf entsprechende Diskussionsbedarfe hin, sondern sie belegt auch bereits ein besonderes Potenzial dieser Theorie. Kurz gesagt: Von welcher anderen soziologischen Theorie, und mehr noch,
von welcher Gesellschaftstheorie, ließe sich eigentlich erwarten, dass sie die begrifflichen Mittel und
das theoretische Potential bereitstellen würde, um den offenbar sehr vielseitigen
Phänomenkomplex ‚Netzwerk‘ in so unterschiedlichen empirischen Hinsichten und gesellschaftlichen Strukturkontexten rekonstruieren zu können?
Zweifellos sind es aber nicht die empirischen Phänomene selbst, die über die Brauchbarkeit des Begriffs entscheiden können. Sie können allenfalls als Irritationen zur Herausforderung werden. Die
Leistungsfähigkeit von Begriffen entscheidet sich mit Bezug auf die Folgen, die man sich mit der
Wahl von Begriffen für Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten einhandelt. In diesem
Sinne fragen wir im Folgenden, welche Möglichkeiten der Beobachtung von Netzwerkphänomenen
– zunächst grundlegend – eröffnet bzw. verschlossen werden, wenn man den Netzwerkbegriff system- oder netzwerktheoretisch einführt.
3. Netzwerk als Grundbegriff oder kontingentes Phänomen
Mit Blick auf die Frage, was man über Netzwerke erfahren und lernen kann und was man erfassen
oder nicht erfassen kann, scheint ein Gesichtspunkt grundlegend für alles Weitere zu sein. Es ist die
Frage, wie man anfängt. Konkret geht es hier um die Alternative, ob der Netzwerkbegriff als sozialtheoretischer Grundbegriff eingeführt wird, auf dem alles Weitere dann beruht, oder ob man mit
einem anderen Grundbegriff anfängt, um auf seiner Grundlage Netzwerke als eine Sozialform zu
verstehen, die neben anderen vorkommt, also kontingent ist, und im Vergleich dann Besonderheiten aufweist.
Wo das Netzwerk Grundbegriff ist, wird die soziale Welt in Begriffen von Netzwerken beschrieben. Soweit dabei angenommen wird, dass soziale Beziehungen Grundlage des Sozialen sind
(Granovetter 1985), bedeutet dies, dass zwangsläufig alle sozialen Formen als Netzwerke sozialer
Beziehungen darstellbar sind. Egal, ob im empirischen Sinne Märkte, Organisationen, Gruppen,
Cliquen, Professionen, Familien oder Staaten im Fokus stehen; sie sind in dieser Perspektive in ihrem Substrat immer schon soziale Netzwerke. Im Zentrum steht dann die Analyse von Netzwerkstrukturen, formal beschrieben durch „Kanten“ (soziale Beziehungen) und „Knoten“ (Akteure).
Vorausgesetzt nur, dass nicht jeder immer schon in Beziehungen zu jedem anderen steht, sondern
Kontakte mehr oder weniger stark selektiv sind, lassen sich dann variierende Strukturmuster von
höherer oder geringerer „Dichte“ nachzeichnen und überdies vor allem bestimmte Beziehungen
3 Wir kommen im Abschnitt 6 auf die Frage zurück, inwieweit sich hinter solchen organisatorischen Arrangements soziale
Netzwerke verbergen.
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
(„weak ties“) und Positionen („broker“) in ihrer strategischen Bedeutung für die Beschaffung von
Informationen oder die Vermittlung von Kontakten identifizieren.
Bei allen Vorzügen solcher Analysen sind zwei Nachteile dieser Zugriffsweise evident: Wenn man
annimmt, dass die Sozialwelt grundlegend und immer schon aus Netzwerken besteht, verliert man
zum einen die Möglichkeit, in Netzwerken eine besondere Sozialform zu sehen, die neben andere
Sozialformen tritt, z. B. neben Organisationen oder Funktionssysteme. Und man verliert in dieser
sozialtheoretisch grundlegenden Perspektive zugleich und zum anderen aus dem Blick, dass soziale
Netzwerke in vielen Situationen und Kontexten nicht nur sozial verzichtbar sind, sondern mitunter
auch sozial unerwünscht – wenn nicht sogar illegal – sind. Aus der Struktur von Netzwerken ergeben sich solche sinnhaften Unterschiede jedenfalls nicht.
Die Tatsache, dass es im modernen Alltag vielfach und wohl überwiegend auch ohne Netzwerke
geht, und das Wissen, dass Netzwerke einen mindestens latenten Schatten der Illegitimität hinter
sich her ziehen, kann man erst und nur verstehen, wenn man sieht, dass die moderne Gesellschaft
auf der Ausdifferenzierung von versachlichten Systemen und damit auf universalistischen Formen
der Teilnahme beruht – also eben nicht auf der Existenz von partikularistischen sozialen Netzwerken (vgl. Tacke 2000). Ohne damit zu bestreiten, dass es hilfreiche und nützliche Kontakte sowie
auch Strukturen der Unterstützung gibt, die das Leben unter hoch individualisierten Verhältnissen
erleichtern, sind – etwa um zu einem wissenschaftlichen Vortrag eingeladen zu werden, um einen
Kaufvertrag für ein Auto abzuschließen oder um Leistungen bei einem Arzt nachzufragen – im Allgemeinen keine Beziehungsnetzwerke vorausgesetzt oder erforderlich. Und in den Rollen des Richters, des Lehrers oder des Sozialarbeiters ist es nicht vorgesehen, dass Beklagte, Schüler oder
Klienten zum persönlichen Netzwerk zählen. Auch mögen diese Fälle bereits verdeutlichen, dass
Bekanntschaft im Sinne wiederholter und regelmäßiger Kontakte nicht auf Gefälligkeiten schließen
lässt, welche in sozialen Netzwerken allerdings sehr wohl erwartet werden.
Im Unterschied zur Netzwerktheorie geht die Systemtheorie nicht von „sozialen Beziehungen“ als
Grundelementen und als Letztbegriff des Sozialen aus; vielmehr hat Luhmann (1990: 197) diese sozialtheoretische Möglichkeit und Tradition einmal polemisch als „verkorksten Theorieanfang“ bezeichnet (vgl. Schmidt 2007). Zum Inventar der Grundbegriffe der Systemtheorie zählt hingegen
der Begriff des sozialen Systems. Selbst wenn es dieser Begriff ist, der der Theorie ihren Namen
gibt, ist der Systembegriff doch nicht der Letztbegriff der Theorie. Will man die Analysepotenziale
vergleichen, die sich aus begrifflichen Grundentscheidungen ergeben, ist das (zumal angesichts des
eingangs genannten Vorurteils gegenüber der Systemtheorie) wichtig zu notieren. Letztbegriff im
grundbegrifflichen Inventar der Theorie sozialer Systeme ist der Begriff der Kommunikation. Anders gesagt: Systeme erzeugen und reproduzieren sich elementar aus Kommunikationen als ereignishaften sozialen Einheiten. 4 Soweit gilt, dass eine weitere elementare Auflösung des Sozialen
keinen Sinn macht, sind Kommunikationen als Letztelemente aufzufassen. Wenn gleichwohl Systeme der Theorie ihren Namen geben, ist damit darauf hingewiesen, dass Systembildung, die Ein-
4 Jede Kommunikation ist dabei Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen als dreistelliger Selektion, wobei der
Einheit aber gerade „keine Einheit ihres Substrats (entspricht); sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit
erzeugt“. Vgl. Luhmann 1984, Kap. 4.
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
führung der Differenz von System und Umwelt und ihre selbstbezügliche Handhabung durch das
System, die theoretisch zwingende Antwort auf die Frage ist, wie es denn angesichts laufender und
laufend erneuerter Sinnüberschüsse von Kommunikation überhaupt zu deren Fortsetzung, also
kommunikativen Anschlüssen, kommen kann. Durch Systembildung! Im selbstbezüglich-rekursiven
Operieren von Kommunikationen werden die kommunikativen Elemente für Anschlüsse durch
Anschlüsse erzeugt 5 und darüber mehr oder weniger komplexe Systemstrukturen aufgebaut, die
sinnhaft selektive Anschlussmöglichkeiten konditionieren. 6
Die kommunikationstheoretische Fundierung ist für Fragen der Beschreibung von sozialen Netzwerken in mehreren Hinsichten wichtig. Zwei sollen hier hervorgehoben werden:
Einerseits kann kommunikationstheoretisch genauer beschrieben werden, wie Netzwerkbildung
kommunikativ anläuft und sich – gegebenenfalls – stabilisiert. Man kann also nicht nur feststellen,
ob „Netzwerkbeziehungen“ vorhanden oder nicht vorhanden sind, sondern ihre soziale Herstellung und die Kommunikationsprobleme beschreiben, die damit verbunden sind. Andererseits wird
erst kommunikationstheoretisch der bedeutsame Unterschied zwischen dem operativen Vollzug
von Netzwerkkommunikationen, d.h. ihrer tatsächlichen Selbsterzeugung, und der beobachtenden
Thematisierung von Netzwerken zugänglich. Wir gehen auf diesen Gesichtspunkt im Folgenden
zuerst ein, indem wir zwischen der Herstellung und der Darstellung von Netzwerken unterscheiden
(vgl. Tacke 2005). Auf die kommunikative Herstellung von Netzwerken kommen wir im Anschluss
zu sprechen, wobei auch die Frage der Systembildung zum Thema wird.
4. Netzwerkkommunikation: Herstellung und Darstellung
Die kommunikationstheoretische Fundierung hat den erheblichen Vorteil, eine Doppelperspektive
auf Netzwerke zu eröffnen. Denn soweit für jede Kommunikation gilt, dass sie einerseits rekursive
Anschlüsse vollzieht (Operation) und andererseits dabei etwas zum Thema macht (Beobachtung),
kann auf dieser Grundlage im Weiteren auch zwischen der (operativen) Erzeugung und der (beobachtenden) Thematisierung von sozialen Netzwerken unterschieden werden. Und man kann sich
dann auch dafür interessieren, ob und wie Fragen der kommunikativen Herstellung von Netzwerken mit Fragen ihrer kommunikativen Darstellung verbunden – oder nicht verbunden – sind. In
zwei Hinsichten kann man ausbleibende Verbindungen von Herstellung und Darstellung notieren:
Erstens: Es gibt Netzwerkdarstellung ohne Netzwerkherstellung. Längst nicht überall, wo etwas als soziales
Netzwerk dargestellt und beschrieben wird (sei es in der Theorie oder in der übrigen Gesellschaft),
stellen sich soziale Netzwerke auch sozial her. Die Semantik des Netzwerkes ist gesellschaftlich
heute sehr weit verbreitet, und sie ist dabei vielfach auch positiv besetzt. Zumal das Netzwerkkonzept heute – auch in den Sozialwissenschaften – zu den „netten Begriffen“ (Luhmann) gehört, trägt
5 Zu den sinnverwendenden Systemen gehören auch Bewusstseinssysteme. Nur soziale Systeme aber reproduzieren sich
über sozialen, d. h. kommunikativen Sinn. Auch insofern ist der Kommunikationsbegriff, nicht etwa der Sinnbegriff,
Letztbegriff der Theorie sozialer Systeme.
6 Das gilt für das umfassende soziale System, also die Gesellschaft, in deren Umwelt keine sinnhaften Kommunikationen
vorkommen, wiederholt sich aber auch als Systembildung (Ausdifferenzierung) im System der Gesellschaft, d. h. im Zuge
der selbstbezüglichen Handhabung spezifischer System-Umwelt-Unterscheidungen im Rahmen von Kommunikation.
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Beitrag: Systeme und Netzwerke
dies wohl seinerseits zur gesellschaftlichen Verbreitung der Netzwerksemantik bei, auch dort und
dorthin, wo gar keine sozialen Netzwerke entstehen. So verbergen sich hinter modischen Selbstdarstellungen als Netzwerk nicht selten z. B. Vereinsgründungen und andere Organisationsaktivitäten,
also, operativ gesehen, formale Organisationen. Die Nutzung der Bezeichnung „Netzwerk“ für organisationsgestützte Zusammenhänge, auf die wir oben bereits hingewiesen hatten, ist ein heute
häufig zu beobachtender Fall. Auch wo früher – sei es in der Politik, in der Religion oder in der Erziehung – von Runden Tischen oder Arbeitskreisen die Rede war, spricht man heute gern von
Netzwerken.
Zweitens gilt auch das Umgekehrte, wenn auch aus anderen Gründen: Es gibt Netzwerkherstellung ohne
Netzwerkdarstellung: Wo sich soziale Netzwerke herstellen, kommt es also nicht zwangsläufig auch zu
deren Darstellung. Ein erster Grund dürfte darin zu sehen sein, dass Netzwerke, die sich kommunikativ herzustellen und zu stabilisieren vermögen, mitunter allen Grund haben, auf ihre Darstellung in der Kommunikation zu verzichten. Dies gilt vor allem im Kontext versachlichter und
formalisierter Funktions- und Sinnzusammenhänge, in denen sie aufgrund ihres Partikularismus
leicht als illegitim gelten. Evident ist das bei sogenannten old boys networks und anderen Seilschaften,
korruptiven und anderweitig kriminellen Netzwerken. Ein zweiter wichtiger Grund für das Ausbleiben von Darstellungen ist aber ebenfalls zu notieren. Denn Netzwerken fehlen wichtige Voraussetzungen für einheitliche kommunikative Selbstdarstellungen. Das fällt vor allem im Vergleich
mit Organisationen auf, die im Allgemeinen einigen Aufwand in ihre Selbstbeschreibung und Außendarstellung investieren, und die im Übrigen auch zu einer einheitlichen Außendarstellung in besonderer Weise befähigt sind. Die Grundlage dafür ist, dass Organisationen sich auf erklärte und
revidierbare Mitgliedschaften stützen. Sie können auf dieser Grundlage die Zustimmung der Mitglieder generalisieren und sie so auch auf eine bestimmte, einheitliche Darstellung verpflichten. Und
soweit sie sich auf Hierarchien stützen, können sie auch in der Umwelt damit rechnen, dass ihnen
ihre Selbstdarstellung als verbindliche Selbstbeschreibung abgenommen wird. Netzwerke kennen
dagegen weder spezifische Mechanismen generalisierungsfähiger Zustimmung noch Hierarchien
oder Verfahren demokratischer Willensbildung, die zu verbindlichen Selbstbeschreibungen und zur
Abnahmefähigkeit einheitlicher Außendarstellungen beitragen könnten. „Arkanität“ ist in diesem
Sinne in soziale Netzwerke eingebaut (Werron 2011, vgl. Tacke 2008). Wo sich also kompakte
Selbstdarstellungen von Netzwerken finden, kann man vermuten, dass anderes (mit) im Spiel ist,
insbesondere Formen von Organisation.
Allerdings und gleichwohl muss auch in Netzwerken, sofern es zu ihrer Selbstfortschreibung
kommt, in der Kommunikation und für Teilnehmer erkennbar sein, dass es um Netzwerkkommunikation geht und nicht um irgendetwas anderes. Auch wenn also explizite Selbstbeschreibungen
nicht zur Verfügung stehen und Implizitheit genügt (Tacke 2008) bzw. entsprechende Darstellungen in der Kommunikation vermieden werden, weil mit Illegitimität gerechnet wird, muss es in der
Kommunikation doch gelingen, Anschlüsse im Vor- und Rückgriff der Kommunikation selektiv
auf das Netzwerk hinzudirigieren (sofern ein solches operativ entsteht).
Halten wir hier aber zunächst fest: Es gibt Netzwerkdarstellung ohne Netzwerkherstellung, und es
gibt Netzwerkherstellung ohne Netzwerkdarstellung. Und wenn man das zuvor Gesagte zusammennimmt, spricht nicht nur einiges dafür, soziale Netzwerke nicht vorrangig dort zu suchen, wo
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
explizite Selbstdarstellungen als Netzwerk vorliegen, sondern auch einiges dagegen, im Falle von
Netzwerken überhaupt eine mindestens lose Verbindung zwischen Herstellung und Darstellung anzunehmen. Typisch scheint im Falle von Netzwerken vielmehr zu sein, dass es eine Kopplung von
Herstellung und Darstellung – etwa in der Weise, dass die (Selbst-)Darstellung das operativ Hergestellte simplifiziere – nicht gibt. Selbst wenn das aber zuträfe, wäre damit nicht schon die Frage beantwortet, ob und inwieweit die, zumal „netten“, gesellschaftlichen Thematisierungsweisen von
Netzwerken, wie sie heute in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Organisationen vorkommen,
Wirkungen auch auf die Plausibilität und darüber dann auch auf den Erfolg der Herstellung von sozialen Netzwerken haben. Darauf kommen wir im Weiteren (Abschnitt 6) noch zurück. Zunächst
werfen wir einen Blick auf die Netzwerkherstellung selbst.
5
Zur Herstellung von Netzwerken
Sofern man nicht nur über Fragen der Semantik und der Darstellung sprechen will, sondern sich für
Netzwerke als empirisch vorkommende Sozialgebilde interessiert, stellt sich in der Systemtheorie
die Frage und Herausforderung, wie diese Sozialgebilde sich herstellen, also kommunikativ selbst
ermöglichen. Zumal Vorschläge für eine Antwort bereits an anderen Stellen gemacht wurden (vgl.
Tacke 2000, Bommes/Tacke 2006), sollen hier nur einige Besonderheiten und Voraussetzungen der
Herstellung von Netzwerken zusammenfassend dargelegt werden.
Wir hatten bereits angedeutet, dass die moderne Gesellschaft primär nicht Netzwerkkommunikation vorsieht, die partikular an Personen und ihren Möglichkeiten orientiert ist, sondern dass die Gesellschaft primär Strukturen für Kommunikation im Rahmen der Inklusion in systemspezifische
Rollen vorsieht (seien es funktionsspezifische, wie Arzt/Patient, Kläger/Beklagter, Käufer/Verkäufer, Lehrer/Schüler usw., oder organisationsspezifische Mitglieds- bzw. Publikumsrollen). Damit ist bereits gesagt, dass es sich bei Netzwerken um sekundäre Strukturbildungen handelt,
eben im Verhältnis zu den primären Strukturen der Ausdifferenzierung, die die Gesellschaft ausmachen, d. h. zu den Funktionssystemen der Gesellschaft (wie Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Erziehung, Kunst, Sport), aber auch ihren Organisationen und Interaktionen. Den Umstand, dass
soziale Netzwerke diesen Systemen nicht gleichgestellt sind (und systemtheoretisch nicht gleichgestellt werden), mag man sich an jenen Postulaten der Gleichheit und des universalistischen Zugangs
vergegenwärtigen, die mit der modernen Gesellschaft im normativen Sinne verbunden sind, deren
strukturelle Grundlagen aber eben in der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung versachlichter Systeme zu finden sind. Kurz: Während der Zugang zu den primären Systemen – jedenfalls im Prinzip
– jedem offensteht, der die sachlichen Kriterien der Teilnahme am System erfüllt (und die Systeme
haben eben gar keine anderen als ihre Sachkriterien!), bilden sich Netzwerke partikularistisch: im
Rekurs auf bestimmte Personen, die als Adressen mobilisiert werden können, um Zugänge und
Möglichkeiten zu eröffnen.
Als sekundär sind soziale Netzwerke aber auch und nicht zuletzt in dem Sinne zu verstehen, dass
sie sich in ihrer Herstellung und Fortschreibung auf Leistungen stützen, die sie (jedenfalls in den
Zentren der modernen Gesellschaft) nicht selbst erzeugen, sondern die in und durch Funktionssysteme und Organisationen entstehen. Das mag man sich am Beispiel von Netzwerken unter Wissen-
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Journal der dgssa
Beitrag: Systeme und Netzwerke
schaftlern verdeutlichen, aus denen Personen ohne Stelle eigentümlich schnell herausfallen, möglicherweise aber dann Netzwerke unter ‚Herausgefallenen‘ entstehen. Netzwerke eröffnen in diesem
Sinne Ersatz- bzw. Zusatzperspektiven (Tacke 2009). Sie machen Systemleistungen partikular zugänglich, die anderenfalls nicht oder nicht in gleicher Weise verfügbar bzw. ‚recht und billig‘ (vgl.
Mayhew 1968) wären.
Grundlegend setzen Netzwerkbildungen an (kommunikativen) Beobachtungen von Profilen der
Inklusion und der Exklusion von Individuen an, die aus ihren jeweiligen (Nicht-)Teilnahmen an
Funktionssystemen und Organisationen resultieren. Man hat einen Bekannten, den man aus einem
Zusammenhang kennt – z. B. dem Studium, dem Sportverein oder der Partei –, und entdeckt in der
Kommunikation, dass er selbst oder ein Bekannter von ihm Möglichkeiten eröffnen kann: Zugänge
zu Aufträgen, Baugenehmigungen, Doktortiteln, Forschungsgeldern, Mitgliedschaften usw. Und
selbstredend gibt es zahllose ‚harmlosere‘ Beispiele. Netzwerke nehmen also ihren Ausgang, wo
Personen kommunikativ adressiert werden unter dem Gesichtspunkt der partikularen Mobilisierung
von Möglichkeiten, die die Inklusions- und Exklusionsprofile anderer eröffnen können. Sie sind in
diesem Sinne ein kommunikatives Nebenprodukt des modernen Umstandes, dass Individuen
polykontexturale Profile der Teilnahme an Gesellschaft aufweisen, mit denen je individualisierte
und differenzierte Geschichten von Kontakten verbunden sind. Die damit verbundenen Möglichkeiten für grenzüberschreitende Zugänge liegen nicht immer auf der Hand, können sich vielmehr
überraschend in der Kommunikation erweisen, wo miteinander und auch über Dritte und ihre Rollen kommuniziert wird („Wusstest Du nicht, dass der dort tätig ist...?“). Die partikulare Mobilisierung solcher Zugänge ist mit Blick auf die Gesellschaft aber auch ein ganz unwahrscheinlicher
Vorgang, wenn man in Rechnung stellt, dass kommunikative Kontakte vorrangig durch sachliche
Rollen eingeschränkt und konditioniert sind und in diesen Rollen eben nicht vorgesehen ist, dass
auch eigene andere Rollen zum Thema werden. Dem entspricht, dass man in wissenschaftlichen
Diskussionen, beim Arztbesuch, beim Autokauf und auch Kollegen oder Vorgesetzten gegenüber
nicht auskunftspflichtig ist über eigene andere Rollen in sei es politischen Organisationen, religiösen
Fragen, Sportvereinen oder der Familie.
Kennzeichnend für soziale Netzwerke ist, dass sie gleichsam Kapital aus dem Umstand individualisierter und multipler Inklusionen schlagen und dabei Möglichkeiten wechselseitig mobilisiert werden, die über die Rollen, die den Kontakt zunächst begründeten, hinausgehen. Gesagt ist damit
zum einen schon, dass die Leistungen, die in Netzwerken wechselseitig zur Verfügung gestellt werden, mehr oder weniger heterogen sind. Häufig liegen die Gefälligkeiten und Leistungen zunächst
noch sehr nahe bei jenen Rollen, die die Bekanntschaft begründen. Wo Grenzen des in der Rolle
Erwartbaren aber einmal überschritten sind, können Erwartungen dann auch sachlich expandieren.
Wer einen Nachbarn nicht nur bittet, die Post während des Urlaubs aus dem Briefkasten zu nehmen (was zur Rolle des Nachbarn gehört), sondern auch bei der Reparatur des Autos zu helfen
(was erkennbar nicht mehr zu dieser Rolle gehört), muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann
gebeten wird, auf das Kind des Nachbarn aufzupassen. Und wer als Wissenschaftler den Kontakt
zu einem ehemaligen Schulkollegen nutzt, der heute in einem Unternehmen tätig ist, um die Chance
eines Kollegen zu erhöhen, dort eine Projektforschung durchführen zu können, muss nicht erstaunt
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sein, wenn von dort irgendwann Erwartungen an ihn adressiert werden, die sachlich nichts mit dem
Projekt des Kollegen zu tun haben.
Gerade weil soziale Netzwerkbildungen zunächst Schranken der beliebigen Adressierbarkeit und
Mobilisierbarkeit von Leistungen überwinden müssen, die mit funktionalen und organisationalen
Rollen in der gesellschaftlichen Kommunikation regelmäßig verbunden sind, ist Netzwerkbildung
ein hoch prekärer sozialer Vorgang. Und vermutlich zerfallen die meisten Netzwerke schnell wieder,
noch bevor sie sich stabilisieren konnten. Die Anfrage des ehemaligen Schulkollegen zur Gegenleistung mag positiv oder negativ beschieden worden sein, aber selbst im positiven Falle ergeben sich
daraus nicht zwingend Anlässe zur Fortsetzung eines Netzwerkes in der Zeit.
Die Stabilisierung und Erhaltung von Netzwerken wird aber, so sie gelingt, durch den Umstand gestützt, dass es heterogene Leistungen sind, die ausgetauscht werden. Denn diese sind gerade nicht
gegeneinander verrechenbar und können auch nicht umgehend ausgeglichen werden (Gouldner
1960), so dass eine Art „übrig bleibender Verpflichtung“ (Luhmann 1997, 635) miterzeugt wird, die
das Netzwerk dann gleichsam als Gewährung eines Kredits über die Zeit bringt, und die zugleich
Selektivität für zukünftige Anschlüsse bereitstellt, sei es qua kommunikativem Rückgriff (Aktualisierung) oder qua Vorgriff (Antizipation). Diese zeitliche Überbrückung durch „Kredit“ ist gemeint,
wo Netzwerke – nicht selten – mit Reziprozität und Vertrauen in Verbindung gebracht werden.
Kommunikation in Netzwerken kann in dem Maße stabilisiert werden, wie sie sich auf Reziprozitäten
der Leistungskommunikation stützt und mit Blick auf offene Zukünfte und ‚Gegengaben‘ hinreichendes Vertrauen zu erzeugen vermag. Wichtig zu sehen ist aber, dass diese Reziprozität in der
und durch die Netzwerkkommunikation selbst und – damit selbstreferenziell – erzeugt werden muss,
zumal es für sie in der Umwelt – jedenfalls unter modernen Verhältnissen der Ausdifferenzierung –
keine gesellschaftliche Grundlage mehr gibt. Gesellschaftlich gilt der Reziprozitätsmechanismus als
„ruiniert“, gerade weil sich das gesamte öffentliche Leben in den funktionsspezifischen Komplementärrollen vollzieht (Holzer 2006, 12). Damit ist nicht ausgeschlossen, dass soziale Netzwerke in
ihrer Umwelt Strukturen oder Strukturkonstellationen vorfinden, auf denen sie sich in ihrem Anlaufen abstützen und die ihnen auch in ihrer Selbstfortsetzung Halt bieten, indem sie Beliebigkeit einschränken.
Vorausgesetzt, die besagten prekären Schranken wurden in der Kommunikation einmal erfolgreich
überwunden, bringen Netzwerke im Modus einer reziproken Leistungskommunikation ein mehr
oder weniger spezifisches Leistungsspektrum hervor. Es kann sachlich eng umgrenzt ausfallen, wie z.
B. im Falle von Wissenschaftlernetzwerken (Besio 2011, Tacke 2011). In diesem Fall wird es dann
z. B. möglich, sich wechselseitig wissenschaftsrelevante Zugänge (etwa in Bezug auf attraktive Einladungen, Personalentscheidungen, Forschungsgelder oder die Selektion von Gutachtern) zu verschaffen, über die ‚woanders‘, vor allem in einschlägigen Organisationen, entschieden wird. Soweit
diese Netzwerke an Strukturbedingungen von Wissenschaft, einschließlich Organisationen, ansetzen, ist es dann aber nicht schon ebenso selbstverständlich, dass Netzwerkteilnehmer füreinander
auch in z. B. Fragen der persönlichen Lebensführung adressierbar sind. Umgekehrt kann das Leistungsspektrum auch auffällig unspezifisch und in der Auslegung möglicher Netzwerkleistungen
sachlich expansiv angelegt sein, wie im Falle von Migrationsnetzwerken, die nicht an Inklusionen,
sondern der Faktizität von beschränkten Zugängen (Exklusionen) ansetzen und Inklusionsproble-
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Beitrag: Systeme und Netzwerke
me ihrer Teilnehmer kompensieren, die in vielen Hinsichten gleichzeitig anfallen, zumal wenn Bedingungen von Illegalität vorliegen: Sie vermitteln z. B. Erwerbsarbeit, Transport-, Kommunikations- und Wohnmöglichkeiten, Erziehungs-, Gesundheits- und Rechtsleistungen (Bommes 2011,
Tacke 2000).
In ihren sachlichen (Leistungen), sozialen (Teilnehmer) und zeitlichen (Kreditierung) Dimensionen
können Netzwerkbildungen also sehr verschieden ausfallen. Sie können aber nicht in allen drei Dimensionen zugleich unspezifisch und expansiv ausfallen, also gleichermaßen ‚offen für jeden und
alles zu beliebigen Zeitpunkten‘ sein. Zu ihrer Selbstfortsetzung braucht es immer auch Einschränkungen. Lockerungen und Flexibilitäten in einzelnen Dimensionen sind möglich (etwa als unspezifisches sachliches Leistungsspektrum), sie müssen aber durch stärkere Einschränkungen in anderen
Dimensionen (etwa dann als Beschränkung der Teilnehmer) kompensiert werden, wenn das Netzwerk, und damit die reziproke Leistungskommunikation, nicht zerfallen soll. Selbstbezügliche Formen der Einschränkung, d.h. Grenzziehung, sind für die Herstellung von sozialen Netzwerken daher
notwendig. Die Grenzziehung beruht im Falle von Netzwerken aber offenbar nicht auf einem einzelnen Mechanismus (wie der Mitgliedschaft im Falle von Organisationen), sondern auf einer ‚Verschleifung‘ von sozialen (wer?), sachlichen (was?) und zeitlichen (wann?) Einschränkungen der
Netzwerkkommunikation.
Netzwerke finden ausschließlich Halt in sich selbst, eben in der Partikularität der Verknüpfung und
in der Ineinanderverschachtelung der je nur für sie geltenden sozialen, sachlichen und zeitlichen
Strukturen. Das macht sie gewissermaßen beliebig und zugleich universell: Sie können überall in der
Gesellschaft vorkommen und sie sind zugleich ephemer: Sie tauchen auf, verschwinden und reaktivieren sich überraschend wieder. Das macht es so schwierig, diese universell verwendbare Möglichkeit der Netzwerkentstehung in der funktional differenzierten Gesellschaft zu fassen sowie auch zu
begreifen, dass das schnelle Auftauchen und Verschwinden (ähnlich wie im Falle von Konfliktsystemen) und ihre Flexibilität und Fluidität keine Argumente dagegen sind, dass es sich um soziale Systeme handelt (Bommes/Tacke 2006).
Nur wenn man, wie mancher Kritiker, den Systembegriff „reifiziert“ und damit gründlich missversteht (vgl. Luhmann 1984, 244), kommt man auf die Idee, die Systemtheorie für die Analyse von
Netzwerken für ungeeignet zu halten. Sie weist vielmehr gerade in ihrer kommunikationstheoretischen Fundierung Vorzüge in der Analyse von Netzwerken auf, an denen es Netzwerkansätzen
fehlt. Zu diesen gehört auch die Frage nach der Legitimität – oder kommunikationstheoretisch gesprochen: der Akzeptanz – von Netzwerken.
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Zur Legitimität von Netzwerken
Anders als im Falle der Netzwerktheorie, die in ihrer Perspektive von der Alltäglichkeit, weil sozial
grundlegenden Bedeutung von Netzwerken ausgeht, liegt im Rahmen der Systemtheorie, die den im
oben genannten Sinne sekundären Charakter der Netzwerkbildung unterstreicht, die Frage nahe,
wo und unter welchen Voraussetzungen es sozial akzeptiert oder nicht akzeptiert wird, dass sich
Netzwerke partikular herstellen und parasitär entfalten können. Schon in Nachbarschaften, wo soziale Netzwerke mitunter an alltäglichen Engpässen in der privaten Lebensführung anlaufen und an
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harmlosen Formen von Gefälligkeiten kristallisieren, können Netzwerkansinnen Akzeptanzfragen
aufwerfen, ablesbar an der mitunter demonstrativen Vermeidung von Kommunikationen mit
Nachbarn. Vor allem aber in zentralen Funktions- und Organisationsbereichen der Gesellschaft
sind Legitimitätsfragen zu erwarten, eben weil Netzwerke die eigentlich vorgesehenen Rollen- und
Systemgrenzen sinnhaft übertreten und in der partikularen Verfügbarmachung von Leistungen auch
universalistische Inklusionspostulate unterlaufen.
Wenn wir hier abschließend mit gewissem Erstaunen fragen, wie es möglich ist, dass eine genuin
partikularistische Sozialform gesellschaftlich – und zunächst semantisch – an erheblicher Bedeutung
und Anerkennung gewonnen hat, ist bereits in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkdiskussion eine erste Antwort zu finden. Denn nicht nur am grundbegrifflichen Ansatz der formalen Netzwerkanalyse, sondern auch mit Blick auf die umfangreichen Netzwerkdiskussionen, die sich in den
vergangenen zwanzig Jahren im Einzugsbereich der Organisationsforschung entwickelt haben, fällt
der bemerkenswerte Umstand auf, dass die Legitimität von Netzwerken ein in hohem Maße randständiges Thema geblieben ist. 7 Anders gesagt: Sehr viel mehr als zur Frage der Legitimität von
Netzwerken ist über deren Funktionalität geschrieben und gesagt worden. Und gerade im Zusammenhang der Thesen zur Netzwerkfunktionalität ist der Netzwerkbegriff zu einem „netten Begriff“
(Luhmann) avanciert. So begründen Ökonomen wie Oliver Williamson (vgl. Williamson 1996) die
Effizienz netzwerkförmiger Transaktionen mit Bezug auf Bedingungen, unter denen Märkte und
Organisationen „versagen“ (es lebe das Netzwerk als effiziente Alternative!). Und in durchaus vergleichbarer Weise haben auch Soziologen hervorgehoben, dass Netzwerke – anstatt auf hierarchischer Anweisung (Organisation) oder Preisvergleichen (Markt) – auf einer Besonderheit, nämlich
Vertrauen und Reziprozität, beruhen. In diesem „anstatt“ steckt in beiden Fällen ein normativer
Bias. Einmal wird Effizienz betont und geschätzt, das andere Mal wird den netter erscheinenden
sozialen Vertrauensverhältnissen im Vergleich zu den kühlen Geld- und Machtverhältnissen, die
alternativ in Frage kommen, der Vorzug eingeräumt. Netzwerke erscheinen als „more social“ als
andere soziale Beziehungen (Powell 1990).
Die unter dem Stichwort ‚governance‘ geführte Netzwerkdebatte – und damit Darstellungen (!) von
Netzwerken durch die Sozialwissenschaften – hat in der gesellschaftlichen Kommunikation mit dazu beigetragen, soziale Netzwerke von Legitimitätsanfragen, die im Blick auf ihren genuinen Partikularismus naheliegen, zu entlasten. Man muss zwar den Einfluss von Wissenschaft auf die übrige
Gesellschaft nicht überschätzen, aber im Falle der Netzwerkdiskussion ist leicht zu sehen, dass die
Argumente der Netzwerkfunktionalität nicht ohne Reaktionen geblieben sind, etwa in der Wirtschafts-, der Wissenschafts- und der Wohlfahrtsförderung. In zahllosen politischen Förderprogrammen werden heute Netzwerke präferiert, und mithin kann schon nicht mehr mit
institutioneller Förderung gerechnet werden, wenn man nicht nachweisen kann, dass man ‚gut vernetzt‘ ist.
7 Zu den seltenen gehaltvollen Ausnahmen gehört ein empirischer Aufsatz von Human und Prowan (2000), der am USamerikanischen Fall zweier mittelständischer Unternehmensnetzwerke deutlich macht, dass von Legitimität im Falle von
Netzwerken nicht ausgegangen werden kann, sie vielmehr erst – mit Bezug auf die Netzwerkform, die Netzwerkeinheit
und die Interaktionen – erzeugt werden muss, und zwar sowohl aufseiten der Teilnehmer wie auch aufseiten relevanter
Beobachter in der Umwelt. Vgl. auch Kraft 2011.
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Unter politischen Prämissen ist ‚Vernetzung‘ unproblematisch, sofern und solange Netzwerkfunktionalität unterstellt und entsprechende Fördergelder nicht ihrerseits partikularistisch durch Personen an Personen (also durch soziale Netzwerke) vergeben werden, sondern in organisatorischen
Verfahren, an Organisationen bzw. an Personen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen. Das kann dann übrigens durchaus auch unter dem Vorzeichen politisch-partikularer Programmkriterien geschehen – etwa in Form von „Regionalförderungen“, die als solche aber dann
wieder prinzipiell allen offenstehen.
Abgesehen von individuellen ‚Zusatzperspektiven‘ sind es offenbar Systeme – wie Wissenschaft,
Politik und (deren) Organisationen –, die Netzwerkbildung begrüßen und auch fördern. Für diese
Systeme gilt allerdings zugleich, dass ihnen personaler Partikularismus fremd ist. Denn sie kennen
aus strukturspezifischen Gründen nur sachliche Kriterien für Teilnahmen und Entscheidungen.
Und in gewisser Weise kennen sie daher auch nur solche Netzwerke, die für sie im oben genannten
Sinne systemische Kontaktstrukturen oder interorganisatorische Strukturbildungen darstellen. Ihrer
strukturellen Distanz zu parasitären sozialen Netzwerken entsprechen dann auch die Darstellungen
der Funktionalität von Netzwerken und die Entlastung derjenigen Netzwerke von Legitimitätsnachfragen, die sie fördern.
Nun kann man aber abschließend erneut nach der Differenz von Netzwerkdarstellung und Netzwerkherstellung fragen. Den politisch und organisatorisch proliferierten Netzwerksemantiken und darstellungen entsprechen zweifellos nicht auch schon Netzwerkherstellungen, sei es, weil es tatsächlich organisationsförmige Arrangements sind, die faktisch erzeugt werden, oder sei es, weil man
sich in der Reaktion auf politische oder organisatorische Erwartungen der Netzwerkbildung damit
begnügt, Netzwerke darzustellen und zu demonstrieren, wo gar keine vorliegen. Es entbehrt dabei
nicht der Ironie, wenn im Kontext von Organisationen partikulare Netzwerke, die sich operativ
nicht herstellen lassen, organisatorisch trotzdem dargestellt und demonstriert werden, um Legitimität zu sichern. Am Beispiel universitärer Transfernetzwerke haben dies Meier und Krücken (2003)
gezeigt – aber ohne Sicht auf die ironischen ‚Verkehrungen‘ im Verhältnis von Partikularismus, Rationalität und Legitimität.
Die gesellschaftliche Ausbreitung von Darstellungen der Funktionalität von Netzwerken und die
faktischen Beiträge von Sozialsystemen zur Funktionalisierung von Netzwerken haben vermutlich
aber auch ungesehene gesellschaftliche Wirkungen. Ungesehen sind sie schon deshalb, weil Funktionssysteme und Organisationen nur funktionale Netzwerke beobachten und weil die Netzwerke,
deren Herstellung sie tatsächlich ermöglichen, wie oben gesagt, immer auch ‚arkane‘ Züge tragen.
Mit ungesehenen Wirkungen soll hier aber vor allem gemeint sein, dass die Proliferation von Darstellungen der Funktionalität und Legitimität von Netzwerken auch zu Entlastungen von Legitimitätsrückfragen beiträgt, auch dort, wo sie nicht explizit vorgesehen sind – im Bereich genuin
partikularistischer Formen der Netzwerkkommunikation. Netzwerkdarstellungen können keine sozialen Netzwerke herstellen, aber soweit sie als Darstellungen nur Funktionalität kennen und Legitimität in diesem Sinne mitkommuniziert wird, können sie zumindest bei der Erzeugung einer
wichtigen Voraussetzung mitwirken, die partikularistische soziale Netzwerke benötigen, um die
Hürden ihrer eigenen Herstellung zu überwinden.
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Damit soll hier keine einfache Diagnose gestellt werden nach dem Muster: Alle reden positiv und
„nett“ von Netzwerken, daher bilden sich auch überall soziale Netzwerke. Die Verhältnisse sind
sehr viel verwickelter, wie man sich im Blick auf allerlei Kontexte, mit denen man es zu tun hat, klar
machen mag.
Bleiben wir bei Universitäten. Abgesehen von organisatorisch nur demonstrierten Netzwerken wie
den erwähnten universitären Transfernetzwerken, etablieren sich in Universitäten heute (unter dem
Druck von außen und u. a. unter dem Fördernamen „Exzellenz“) neuartige Forschungszusammenhänge, die von Universitäten getragen werden, also organisiert sind. Sie zielen darauf ab, die ‚Vernetzung‘ von Wissenschaftlern ‚im Hause‘ zu fördern und diese unter Bedingungen von
Wettbewerb stark zu machen – zum Nutzen der einzelnen Universitäten und zum Nutzen der Wissenschaft. Geht es dabei einerseits um die ‚Organisationswerdung‘ der Universität
(Brunsson/Sahlin-Andersson 2000, Huber 2011), die eine Funktionalisierung und Formalisierung
von Netzwerken erwarten lässt, scheinen andererseits zugleich partikularistische Formen der Netzwerkbildung zuzunehmen. Zum einen ist Partikularismus dabei politisch gewollt und legitim, ganz
im Sinne der oben genannten „Regionalförderung“, die in diesem Falle die Förderung einzelner
Universitätsstandorte auf der Grundlage von Wettbewerb betrifft. Zum anderen lässt sich erkennen, dass auch je vor Ort, in den Universitäten, neuartige soziale Netzwerke unter partikularistischen Vorzeichen der Teilnahme entstehen. Offenbar hängt das mit den als ‚Hochschulautonomie‘
bezeichneten neuen Organisationsbedingungen zusammen, unter denen es eben nicht mehr allein
und vorrangig um genuin wissenschaftlich motivierte Kontaktstrukturen und Kooperationen unter
Wissenschaftlern geht (zumal diese sich für lokale Organisationen und ihre Grenzen bisher nicht
vorrangig interessierten, vgl. Stichweh 1999), sondern zugleich um Ressourcen, um die im Wettbewerb zwischen, aber auch innerhalb von Universitätsorganisationen konkurriert wird. Weder werden unter der Netzwerkerwartung nur neue organisatorische Formen gebildet (was allerdings auch
geschieht) noch wird nur symbolisch (wie im Falle der Transfernetzwerke) auf Erwartungen der
Netzwerkbildung reagiert. Vielmehr entstehen unter dem Vorzeichen wissenschaftlich und organisatorisch funktionaler Netzwerke im Wettbewerb um knappgehaltene Ressourcen auch attraktive
„Einflugschneisen“ für genuine soziale Netzwerkbildungen (vgl. Tacke 2011). Zum einen machen
ihre Personenabhängigkeit und ihre Kooptationsverfahren, aber auch ihre Unabhängigkeit von
etablierten universitären Gremien und Verfahren sie bereits als Netzwerke erkennbar. 8 Zumal sie
zum anderen den Rahmen für den Einbezug von Adressen in den Grenzen der Universitätsorganisation finden, wobei auch (sub-)disziplinäre Grenzen überschritten werden, überdies aber auch die
Universitätsleitungen im Zuge der Hochschulautonomie zu attraktiven, Ressourcen und Zugänge
kontrollierenden Netzwerkadressen geworden sind, haben diese Netzwerke nur noch wenig mit
‚klassischen‘ Wissenschaftlernetzwerken gemeinsam.
Und gerade im Vergleich mit klassischen Wissenschaftlernetzwerken, denen als professionellen
Netzwerken immer auch ein gewisser antiorganisatorischer Zug eigen war (Huber 2011), wenn-
8 Das gilt auch dann, wenn mit sachthematischen Festlegungen in solchen Zusammenhängen Einschränkungen für Kooptationen einhergehen, zumal auch umgekehrt beobachtet werden kann, dass die Kooptation von bestimmten Adressen
die sachthematischen Einschränkungen liefert.
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Beitrag: Systeme und Netzwerke
gleich sehr genau gewusst wurde, wie die bürokratischen Verfahren funktionieren, kann man im
Zeitalter der offiziell annoncierten und als funktional dargestellten Netzwerkstrukturen feststellen,
dass nicht nur die Akzeptanz, sondern auch das Wissen um (die Bedeutung) formaler Kommunikationswege und universalistischer Verfahren in mitunter bemerkenswerter Weise abnimmt. Dazu
dürfte beitragen, dass sich der offizielle „Netzwerkdiskurs“, aber auch faktisch operierende soziale
Netzwerke von Hause aus eher für ‚Verbindungen‘ als für Differenzen interessieren, sie für Differenzen entsprechend auch in der Kommunikation nicht sensibilisieren: Das gilt für Differenzen wie
Rolle/Person, unpersönlich/persönlich, universalistisch/partikularistisch, die keine netzwerktypischen Beobachtungsformen sind. 9
Man kann in diesem Zusammenhang von einer „Verwischung der Grenzen zwischen persönlichen
und unpersönlichen Beziehungen“ (Stichweh 2001, 3) sprechen. Vorstellungen, dass damit eine
Auflösung von Systemen (durch Netzwerke) im Gange ist, wären aber eine maßlose Übertreibung.
Das gilt schon deshalb, weil Funktionssysteme und auch Organisationen aus sich heraus gar keinen
Anlass haben, Netzwerkkommunikation per se für eine bessere Lösung zu halten als den Rückgriff
auf organisatorisch entscheidbare und formal kontrollierte Kommunikationswege. Wohl aber könnte man von einer zunehmenden Informalisierung sprechen, die, paradox formuliert, von Systemen
geduldet wird, solange und soweit sie geduldet wird. Vorausgesetzt, sie werden zum expliziten
Thema in der Organisation und zum Problem für die Organisation, können Entscheidungen getroffen werden, die Netzwerke auflösen bzw. anderes an ihre Stelle setzen.
7
Schluss
Die Systemtheorie hat zweifellos längst noch nicht auf alle Fragen und Herausforderungen eine
Antwort, die mit sozialen Netzwerkphänomenen aufgeworfen sind. Und einige Fragen – wie die
quantitative Vermessung von Netzwerkstrukturen in formalen Hinsichten – liegen ihr vermutlich
auch zukünftig eher fern. Wohl aber kann man einen der zentralen Vorteile einer systemtheoretischen Perspektive auf Netzwerke darin sehen, dass sie – zumal sie Theorie der Kommunikation ist
– Probleme an diesem Phänomen aufzuschließen vermag, die herkömmlichen Netzwerkansätzen
nicht zugänglich sind, weil ihnen in ihrem bereits grundbegrifflich auf Netzwerke abstellenden Zugang oder in ihrer auf Netzwerkfunktionalitäten eingeschränkten Perspektive soziologisch relevante
und interessante Fragen entgehen müssen, die mit sozialen Netzwerken in der modernen Gesellschaft und ihren Organisationen verbunden sind.
9 Dies gilt aber auch für die Netzwerkforschung, die sich im Rahmen ihrer Begrifflichkeiten – von Hause aus – für diese
Unterscheidungen eher wenig interessiert, im Übrigen auch nicht für Unterscheidungen wie Netzwerkdarstellung/Netzwerkherstellung oder Netzwerkfunktionalität/Netzwerklegitimität, die hier hervorgehoben wurden.
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Campus, S. 167-212.
Autorenhinweis
Veronika Tacke, Dr. rer soc., ist Professorin für Organisationssoziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Ihre Hauptarbeitsgebiete sind die Organisations- und die Netzwerkforschung, im Rahmen der soziologischen System- und Gesellschaftstheorie.
http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/Veronika_Tacke/
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Journal der dgssa
Beitrag: Kommunikation und Handeln in Netzwerken
Kommunikation und Handeln in Netzwerken
Jan Fuhse
Zusammenfassung
Der Beitrag fasst soziale Netzwerke als Sinnstrukturen, die sich im Kommunikationsprozess bilden,
stabilisieren und verändern. Dabei wird die relationale Soziologie von Harrison White und anderen
mit der Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann kombiniert. Soziale Netzwerke bestehen einerseits aus den vielfältigen Mustern von Sozialbeziehungen, die die Netzwerkforschung untersucht. Andererseits liegen diesen Beziehungsmustern relationale Erwartungen zugrunde. Diese
bilden sich aufgrund der Zurechnung von kommunikativen Ereignissen auf mitteilende Akteure im
alltagsweltlichen Story-Telling. Akteure werden damit konstruiert als soziale Einheiten mit spezifischen auf bestimmte Andere gerichtete Handlungsdispositionen – und diese relationalen Erwartungen legen Anschlussfähigkeiten für zukünftige Kommunikation fest. Auf diese Weise werden
soziale Netzwerke als Strukturbildungen der Kommunikation konzipiert, die prinzipiell neben sozialen Systemen stehen und nicht auf diese zurückführbar sind.
Abstract
The article conceives of social networks as structures of meaning that develop, stabilize, and change
in the course of communication. It combines the relational sociology of Harrison White and others
with Niklas Luhmann’s theory of communication. On the one hand, social networks consist of the
complex patterns of social relationships studied by sociological network research. On the other
hand, these patterns spring from relational expectations. These evolve with the attribution of communicative events to actors in everyday story-telling. Actors are thus constructed as social units
with specific dispositions to particular others. And these expectations structure the course of communication. Thus social networks are social structures on the same plane as social systems and cannot be reduced to or deduced from them.
Einleitung 1
Soziale Netzwerke scheinen derzeit allgegenwärtig. Sie sind ein ausgesprochenes Modethema in den
Sozialwissenschaften und wirken – um Niklas Luhmanns Formulierung zur Kontingenz (1992, 94)
zu paraphrasieren – wie das Midas-Gold der Gegenwart: Wo immer eine geneigte Sozialwissenschaftlerin ihren Blick hin lenkt, entdeckt sie soziale Netzwerke. Dabei werden mit dem Begriff
ganz unterschiedliche Phänomene belegt. In der Alltagssprache fasst man oft komplexe InternetAngebote mit User-Profilen (und deren Verknüpfungen) wie Facebook oder Twitter als soziale
1 Der vorliegende Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den ich am 16. Juli 2011 auf Einladung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit in Jena gehalten habe. Er stellt wesentlich eine Zusammenfassung von Überlegungen aus zwei Aufsätzen dar (Fuhse 2009a; 2009b). Der Vortragsstil wurde für diese Ausarbeitung beibehalten.
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Netzwerke. Die Organisationssoziologie nimmt spezifische soziale Formen der Koordination von
Akteuren im Gegensatz zu anderen Koordinationsformen wie Markt oder Hierarchie als Netzwerke
in den Blick. Die empirie-orientierte Tradition der Netzwerkforschung betrachtet dagegen alle Verflechtungen von Akteuren als soziale Netzwerke. Diese lassen sich dann mit verschiedenen Methoden (formale Netzwerkanalyse, statistische Analysen von individuellen Beziehungsprofilen,
qualitative Methoden der Erhebung und Interpretation von Netzwerken) untersuchen. Dabei zeigen sich regelmäßig deutliche Effekte dieser Netzwerke. Diesen Erfolgen in der empirischen Erforschung sozialer Strukturen steht jedoch bisher kein überzeugendes Theorieangebot gegenüber, mit
dem diese Effekte in einen konsistenten sozial- und gesellschaftstheoretischen Rahmen eingeordnet
werden könnten.
Die folgenden Überlegungen nehmen den sehr weiten Netzwerkbegriff aus der Netzwerkforschung
auf und schlagen eine spezifische sozialtheoretische Unterfütterung vor. Wie lassen sich die empirisch beobachtbaren Effekte von Netzwerken anspruchsvoll theoretisch rahmen? Wie lassen sich
Netzwerke als reale soziale Strukturen theoretisch modellieren? Meine Antworten auf diese Fragen
gehen einerseits von der relationalen Soziologie von Harrison White und anderen aus. Andererseits
wird für die Modellierung der grundlegenden sozialen Prozesse der Bildung, Reproduktion und
Veränderung von sozialen Netzwerken auf die Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann zurückgegriffen. Diese wird hier gewissermaßen aus dem systemtheoretischen Werkzeugkasten entwendet und in einen anderen Theorie- und Problemkontext eingeordnet. Im Einklang mit der
Grundintention der Netzwerkforschung konzentriert sich dieses Theorieangebot auf empirisch beobachtbare Strukturen und Effekte. Es geht mir also nicht um die Einordnung von Netzwerken in
eine Gesellschaftstheorie, sondern um die Modellierung von Strukturen auf der Meso-Ebene des
Sozialen. Aussagen über die gesellschaftsstrukturelle Ebene werden dabei zunächst nicht anvisiert.
Die hier vorzustellende Grundidee lautet: Soziale Netzwerke entstehen aus Kommunikationsprozessen, indem diese in der Kommunikation auf Akteure zugerechnet werden. Diese werden dabei
nicht nur als Akteure erst konstruiert, sondern auch relational im Verhältnis zueinander verortet.
Ein wesentlicher Mechanismus dafür ist die Beobachtung von Kommunikation als Handeln. Zunächst werde ich die eher konventionelle Sicht der Netzwerkforschung skizzieren, in der Netzwerke
als Kontext individuellen Handelns gesehen werden (1). Anschließend schlage ich vor, soziale
Netzwerke als Sinnstrukturen zu modellieren (2). Diese entstehen, stabilisieren und verändern sich
im Kommunikationsprozess (3). Abschließend diskutiere ich einige Implikationen dieses Ansatzes
(4) und nehme dabei auch das Verhältnis zwischen Netzwerken und Systemen in den Blick (5).
1. Handeln in Netzwerken
Die konventionelle Sicht auf soziale Netzwerke behandelt diese in erster Linie als Strukturkontext
für individuelles Handeln. Das Netzwerk selbst wird dabei graphentheoretisch als Verbindungen
zwischen Knoten imaginiert, in etwa so wie in Abbildung eins dargestellt. Das Netzwerk besteht
aus dem Muster von Sozialbeziehungen in einem bestimmten Kontext – etwa zwischen Anwohnern in einer Nachbarschaft oder zwischen Jugendlichen in einem Jugendklub. Dabei wird meist
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einfach davon ausgegangen, dass dieses Muster an Sozialbeziehungen eine empirische Realität hat,
das sich in nachweisbaren Effekten zeigt.
Prinzipiell finden wir in der Netzwerkforschung zwei Herangehensweisen: Einerseits kann in solchen einigermaßen abgeschlossenen Kontexten ein Vollnetzwerk von Sozialbeziehungen erhoben
und untersucht werden. Andererseits lassen sich Netzwerke auch ego-zentriert analysieren. Dabei
wird von einzelnen Akteuren ausgehend das persönliche Beziehungsumfeld von direkten und indirekten Kontakten betrachtet. In beiden Fällen wird forschungspragmatisch eine Grenze von Netzwerken gezogen, die es im Netzwerk von Sozialkontakten praktisch nicht gibt. Denn Jugendliche
haben auch außerhalb ihres Jugendklubs wichtige Sozialbeziehungen. Und ein Freund von mir
kennt natürlich noch andere Personen, über die ich keinen Überblick habe.
A
B
C
Abbildung 1: Beispiel für ein Netzwerk von Akteuren
Die allgemeine Annahme der Netzwerkforschung ist nun, dass nicht nur die direkten Sozialbeziehungen mein Verhalten beeinflussen, sondern gerade die indirekten Sozialbeziehungen spielen eine
wichtige Rolle (Holzer 2006, 103). Insofern geht es nicht nur um die Frage der Konnektivität – wer
ist wie mit wem verbunden? Stattdessen spielen die Struktur von Netzwerken und damit die Position von Akteuren innerhalb dieser Struktur eine wichtige Rolle. So macht es für mich einen Unterschied, ob meine Bezugspersonen untereinander vernetzt sind oder nicht. Im einen Fall werde ich
stärkerer sozialer Kontrolle unterliegen, aber vermutlich auch Teil einer solidarischen Gemeinschaft
sein. Im anderen Fall habe ich Zugang zu sehr unterschiedlichen Informationsquellen und kann
möglicherweise auch meine Position als Broker zwischen verschiedenen Kontexten ausnutzen.
Im handlungstheoretischen Modell wird das individuelle Handeln in erster Linie als abhängige Variable betrachtet. Soziale Netzwerke fungieren einerseits als Opportunitäten und Restriktionen. Hier
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geht es vor allem um die Struktur des Netzwerks – etwa darum, ob ein Akteur eingebunden in ein
dichtes Netzwerk mit vielen indirekten Beziehungen ist, oder ob er oder sie über viele „weak ties“
in disparate Netzwerkkontexte verfügt (Granovetter 1973). In diesem Sinne besitzt etwa Akteur A
im Beispielnetzwerk mehr Sozialkapital als B, weil er oder sie mehr nicht-redundante Informationen
erhält und deswegen bessere Handlungsmöglichkeiten hat. Dieser Aspekt von Netzwerken steht in
der Sozialkapitalforschung im Vordergrund.
Andererseits wirken Netzwerke auch als prägendes Umfeld für Akteure. Sie liefern die kulturellen
Muster (Werte und Normen), die der Definition der Situation und der Bewertung von Handlungsalternativen durch den Akteur zu Grunde liegen. So hat vermutlich Akteur B eine andere kulturelle
Prägung als C und wird mit einer gegebenen Situation anders umgehen – obwohl beide in eine ähnliche Struktur von Sozialbeziehungen eingebettet sind. Netzwerke fungieren in diesem Sinne weniger als Opportunitäten und Restriktionen denn als Milieu (Rössel 2005, 177ff).
Insgesamt wird aus der handlungstheoretischen Perspektive das individuelle Handeln wesentlich
durch die Struktur und die Zusammensetzung von Netzwerken bedingt. Gewissermaßen handelt
weniger das Individuum als das Netzwerk. Insbesondere die Handlungsorientierungen sind nicht
individuell zu denken, sondern weitgehend durch das Netzwerk vorgegeben. In dieser Sichtweise
ergeben sich etwa Straftaten daraus, dass im Netzwerk gewisse kulturelle Orientierungen vorherrschen. Etwa in einer Gang wird kriminelles Verhalten mit der Zuteilung von Prestige belohnt. Die
Gang-Mitglieder bestärken sich gegenseitig in ihren devianten Orientierungen, so wie die britischen
Arbeiterkinder in der klassischen Studie von Paul Willis (1977).
In der Reaktion darauf rechnet aber das Rechtssystem solche kriminellen Handlungen individuell zu
und sanktioniert auch das Individuum (und nicht das Netzwerk). Dieses wird etwa in ein Gefängnis
gesteckt, kommt dann aber nach der Verbüßung einer kürzeren oder längeren Haftstrafe wieder in
das gleiche Netzwerk zurück. Auch die Abschreckung durch Bewährungsstrafen setzt beim Individuum an, obwohl das Individuum nicht unabhängig vom Netzwerk handelt. Entsprechend wahrscheinlich ist dann der Rückfall in die Kriminalität, wenn sich nicht auch das Netzwerk ändert.
Die soziale Arbeit setzt in dieser Hinsicht anders an. Sie versucht etwa durch Vernetzungsmaßnahmen durch BewährungshelferInnen oder SozialarbeiterInnen in Problemstadtteilen Netzwerke
zu verhindern. Dadurch werden einerseits vorherrschende kulturelle Muster infrage gestellt. Andererseits bietet ein Sozialarbeiter auch einen Weak Tie in andere Netzwerkkontexte, mit dem dann
andere Handlungsopportunitäten einher gehen.
So fruchtbar sich diese handlungstheoretische Perspektive für die Betrachtung unterschiedlicher sozialer Phänomene erwiesen hat, so offen bleiben die Frage der theoretischen Interpretation: Was ist
eigentlich ein soziales Netzwerk? Worin besteht die „Realität“ solcher Sozialbeziehungen? Was genau passiert eigentlich, wenn ein Sozialarbeiter in ein Netzwerk eintaucht?
2. Netzwerke als Sinnstrukturen
Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir Netzwerke als Sinnstrukturen begreifen. Im Großteil
der Netzwerkforschung wurde einfach der „strukturellen Intuition“ (Freeman 2004) gefolgt. Soziale
Netzwerke erschienen der Graphentheorie folgend einfach als Struktur von Sozialbeziehungen.
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Dieses reduktionistische Bild hat sich jedoch für die Betrachtung von vielschichtigeren Netzwerkphänomenen als unzureichend erwiesen. Entsprechend nehmen neuere Arbeiten verstärkt die Verknüpfung zwischen Netzwerken und kulturellen Formen in den Blick.
Ich habe oben schon angesprochenen, dass Netzwerke (als Milieu) die strukturelle Basis für die
Entwicklung und Verbreitung von kulturellen Deutungsmustern bilden. Auch dieses Bild von
Netzwerken als Basis für Kultur wird dem Wechselspiel aber nicht vollständig gerecht. Soziale
Netzwerken lassen sich als „Sinnstrukturen“ konzipieren. Sie sind inhärent mit Kultur verwoben
und werden dadurch erst sinnhaft konstituiert. Entsprechend ist nicht von einer monokausalen
Einwirkung von Netzwerken auf Kultur auszugehen. Kultur kann Netzwerke auch strukturieren.
So sorgen etwa Kategorien wie das Geschlecht oder die ethnische Herkunft für eine tendenzielle
Ausrichtung von Sozialbeziehungen im Netzwerk.
Ich schließe hier an die relationale Soziologie an. Dies ist eine innovative Forschungsrichtung, die
sich in den letzten 20 Jahren in den USA um Harrison White, Charles Tilly, Paul DiMaggio und andere gebildet hat. In gewisse Weise vollzieht die relationale Soziologie einen „cultural turn“ in der
Netzwerkforschung (Fuhse/Mützel 2010). Die Ursprünge der relationalen Soziologie gehen auf die
Blockmodellanalyse zurück. In dieser werden soziale Netzwerke daraufhin untersucht, inwiefern sie
sich auf Sozialbeziehungen zwischen Kategorien von Akteuren mit ähnlichen Beziehungsmustern
zurückführen lassen (White et al. 1976). Hinter diesem Konzept der strukturellen Äquivalenz steckt
die Annahme, dass Netzwerke durch Rollenmuster strukturiert sind. So sind etwa Verwandtschaftsstrukturen durch kulturell vorgeformte Kategorien wie Mutter, Onkel, Tochter etc. geprägt. Oder
die Sozialbeziehungen zwischen Menschen in einem Kloster zeigen eine deutliche Strukturierung
nach Cliquen und Einflussgruppen. Kulturelle Muster spielen hier nicht nur bei den Rollenkategorien eine wichtige Rolle. Die Blockmodellanalyse beruht auch darauf, dass sich sinnhaft verschiedene Typen von Sozialbeziehungen wie Freundschaft, Bewunderung oder Feindschaft unterscheiden
lassen.
Im Jahr 1992 erfolgte dann die Initialzündung für die relationale Soziologie mit dem Erscheinen
von Harrison Whites Identity and Control (erste Auflage). White legte hier eine äußerst komplexe empirisch orientierte Theorie vor, der es jedoch zuweilen an Verständlichkeit und Konsistenz fehlt.
Allgemein bestehen soziale Strukturen White zufolge aus Identitäten (unterschiedlicher Art), die
miteinander um Kontrolle ringen. Ein Ergebnis dieses Ringens ist die Relationierung dieser Identitäten in sogenannten „Stories“. Soziale Netzwerke bestehen mithin aus Stories, die Identitäten im
Verhältnis zueinander setzen und damit erst definieren (White 1992, 65ff). Diese Konstruktion hat
sich in der Folge als fruchtbar für eine Reihe von empirischen Arbeiten erwiesen. Allerdings erscheint sie auch in den Theoriedetails als etwas umständlich und ist schwer in Beziehung zu anderen soziologischen Theorien zu setzen.
Ich habe dagegen vorgeschlagen, Netzwerke als Sinnstrukturen zu konzipieren, die in der Kommunikation entstehen und diese strukturieren (2009a). Demzufolge bestehen Sozialbeziehungen selbst
aus sinnhaften Erwartungen darüber, welche Kommunikation zwischen Alter und Ego anschlussfähig ist. Diese Erwartungen sind das Ergebnis bisheriger Kommunikation. Sozialbeziehungen bilden in diesem Sinne ein selbstreferentielles Kommunikationssystem, das nicht rückführbar auf
Luhmanns Systemtypologie von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ist (siehe auch Holzer
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2010). In Sozialbeziehungen entwickelt sich eine je einzigartige „Beziehungskultur“. Zu dieser gehören bestimmte Symbole, Idiome, Narrative über die Entwicklung der Beziehung und über Beziehungen zu anderen und Themen, die in der Sozialbeziehung anschlussfähig sind (oder eben nicht).
Wie gelangt man nun von einzelnen Sozialbeziehungen zu deren Verknüpfung in einem Netzwerk?
Mit anderen Worten: wie sind Sozialbeziehungen aneinander gekoppelt? Dies erfolgt zunächst über
Akteure als den Knoten in Netzwerken. Diese fungieren dabei nicht als Ausgangspunkt von Netzwerken wie in der handlungstheoretischen Perspektive. Sondern sie bilden einen konstruierten Ansatzpunkt für Sozialbeziehungen. Schon Georg Simmel sah das Individuum als den Schnittpunkt
sozialer Kreise ([1908] 1992: 456ff). Die individuelle Identität ist dann das Ergebnis der
Relationierung im Verhältnis zu anderen Identitäten. Ein Akteur ist in dieser Sichtweise also keine
innengetriebene soziale Einheit und nicht der Grundbaustein von Netzwerken. Vielmehr stellt er
oder sie einen Projektionspunkt für Erwartungen im Netzwerk dar. Dieser Projektionspunkt und
die mit ihm verknüpften Erwartungen resultieren aus den Prozessen im Netzwerk und nicht anders
herum.
Ein zweiter Kopplungsmechanismus besteht in den mehr oder weniger institutionalisierten Rollenerwartungen, um die es ja in der Blockmodellanalyse geht. So impliziert etwa die Rolle des Vaters
eine bestimmte Strukturierung von Sozialbeziehungen zu seinen Kindern aber auch zur Mutter.
Damit legen Rollen in bestehenden Sozialbeziehungen weitere Sozialbeziehungen fest. So kann man
keine Ehe zu einem geliebten Menschen eingehen, ohne dabei auch Schwiegereltern zu bekommen.
Kulturelle Erwartungen legen es nahe, dass ich die Freundin eines Freundes ebenfalls freundschaftlich behandle. Dies ist ein Fall von positiver Transitivität. Ein Beispiel für negative Transitivität ist
es dagegen, wenn der Feind meines Freundes ebenfalls zu meinem Feind wird.
Man kann dies als Ergebnis einer bestimmten Strukturlogik sehen. Wichtiger sind bei diesen Beispielen aber wohl noch institutionalisierte Erwartungen darüber, wie Sozialbeziehungen entlang von
Rollenkategorien strukturiert sind. In diesem Sinne lassen sich Rollenkategorien wie Ehemann oder
Vater und Beziehungsmodelle wie Ehe, Freundschaft oder Feindschaft als „relationale Institutionen“ bezeichnen (Fuhse 2011). Diese koppeln mehrere Sozialbeziehungen aneinander, indem sie
Modelle für deren Verknüpfung bereitstellen.
Einen dritten Kopplungsmechanismus (ohne dass diese Aufzählung vollständig wäre) finden wir in
der Diffusion von kulturellen Mustern im Netzwerk. So kann etwa ein Spitzname aus einer Beziehung zwischen Freunden in andere Sozialbeziehungen aufgenommen werden. Im Ergebnis bilden
sich in dichten Netzwerken relativ homogene Gruppenkulturen. Diese sind aber nie perfekt abgegrenzt – gerade weil kulturelle Muster auch in weitere Sozialbeziehungen nach außen diffundieren
können.
Insgesamt entsteht so das Bild von sozialen Netzwerken als Bündeln von relationalen Erwartungen,
die Identitäten in Relation zueinander setzen. Dazu gehören nicht nur einzelne Sozialbeziehungen,
sondern gerade auch die indirekten Verbindungen in Rollenstrukturen und Gruppenkulturen. Bisher ist damit aber noch ein relativ statisches Bild von Netzwerken entworfen. Wie genau kommt es
zu solchen relationalen Erwartungen? Wie entstehen, wie stabilisieren und wie verändern sie sich?
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3. Von Kommunikation zu Netzwerken
An dieser Stelle lässt sich die relationale Soziologie fruchtbar mit der Kommunikationstheorie von
Niklas Luhmann kombinieren. Luhmann konzipiert Kommunikation als selbstreferentielles Prozessieren von Sinn. Kommunikation kann immer nur an vorangegangene Kommunikation anschließen
und nie an die subjektiven Gedanken der Beteiligten. Der Sinnbegriff wird in dieser Perspektive
nicht in erster Linie subjektiv gefasst wie etwa bei Max Weber oder Alfred Schütz. Vielmehr geht es
im Sozialen um kommunizierten Sinn, der allerdings strukturell gekoppelt an das psychische Prozessieren von Sinn bleibt.
Vor diesem Hintergrund lassen sich soziale Netzwerke als relationale Erwartungsstrukturen konzipieren, die in der Kommunikation entstehen, sich stabilisieren und sich verändern (Fuhse 2009b).
Netzwerke sind dynamisch, da aus jeder Kommunikation neue Erwartungen entstehen können. Als
solche Erwartungsstrukturen legen soziale Netzwerke die Anschlussfähigkeit für Folgekommunikation fest. So entsteht etwa aus der vergangenen Kommunikation die Erwartung, dass man bei bestimmten Leuten mit bestimmter Kommunikation spezifische Reaktionen erwarten kann. Diese
Erwartungen sind allerdings nicht in erster Linie in den beteiligten psychischen Systemen zu verorten. Vielmehr bilden sich Erwartungen als Eigenstrukturen der Kommunikation und leisten so eine
Reduktion von Komplexität (Luhmann [1984] 1996, 139ff). In diesem Sinne spricht Marco Schmitt
von Netzwerken als einem „Gedächtnis“ der Kommunikation (2009).
Allerdings gelten diese Formulierungen prinzipiell für alle Strukturen der Kommunikation, also
auch für soziale Systeme. Etwa die Programme in den Funktionssystemen, die Rollenstrukturen in
Organisationen oder Themen in der Interaktion fungieren als kommunikative Gedächtnisse. Was
ist nun das spezifisch Relationale an Netzwerken? Und wie ergeben sich Netzwerke als relationale
Erwartungen aus dem Kommunikationsprozess?
Ich komme dafür auf die grundlegende Konzeption von Kommunikation bei Luhmann zurück.
Luhmann fasst Kommunikation als Einheit von drei Selektionen ([1984] 1996, 193ff; 1995, 115ff):
Die erste Selektion ist die Information. Sie bezieht sich auf etwas außerhalb der Kommunikationssituation, etwa auf das Wetter. Die Informationskomponente etabliert in erster Linie (aber nicht ausschließlich) Erwartungen in der Sachdimension des Sinns. Allerdings kann man natürlich auch über
Sozialbeziehungen (etwa zu gemeinsamen Freunden) oder über Zeitplanungen reden. Bei Paul
Watzlawick entspricht die Informationskomponenten dem Inhaltsaspekt der Kommunikation
(Watzlawick et al. 1967, 51f).
Die zweite Selektion bezeichnet Luhmann als „Mitteilung“. Hier geht es um die Zurechnung von
kommunikativen Ereignissen auf eine Identität, die mitteilt. Meist handelt es sich dabei um Personen. Luhmann zufolge bezieht sich die Mitteilung im Gegensatz zur Information selbstreferentiell
auf die Kommunikationssituation selbst. Hier geht es weniger um das was als um das wie und warum
der Kommunikation – warum redet Alter gerade über das Wetter? 2 Insofern wird Kommunikation
2 Siehe zu dieser umstrittenen Interpretation die Formulierung bei Luhmann: „Im Verstehen erfaßt die Kommunikation
einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird [der
Mitteilung].“ (1995: 115; Hervorhebung und Zusatz J.F.)
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mit der Mitteilungskomponente als Handeln den beteiligten Einheiten zugerechnet. Dazu gehört
auch die Zuschreibung von spezifischen Kapazitäten und Dispositionen für Handeln: Alter redet
zwar gerne über das Wetter, ist aber nicht gerade als Experte in Meteorologie zu sehen.
In meiner Interpretation liegen die Erwartungen, die sich aus der Zurechnung der Mitteilung auf
einen oder eine Mitteilende/n ergeben, in der Sozialdimension des Sinns. Sie betreffen einerseits die
Konstruktion der beteiligten Akteure, andererseits aber auch das Verhältnis zwischen ihnen. Im
Sinne von Watzlawick geht es hier um den Beziehungsaspekt der Kommunikation.
Die dritte Selektion der Kommunikation – das Verstehen – besteht nun in der Festlegung des Gehalts eines kommunikativen Ereignisses. Im Verstehen kann stärker auf den Informations- oder
den Mitteilungsaspekt fokussiert werden. Als kommunikative Selektion ist das Verstehen nicht als
psychischer Vorgang zu sehen. Es realisiert sich stattdessen in der Folgekommunikation, indem
nachfolgende kommunikative Ereignisse den Sinngehalt eines vorangegangenen kommunikativen
Ereignisses austarieren und festlegen. Aufgrund dieses sequenziellen Charakters lässt sich die
Verstehenskomponente am ehesten der Zeitdimension des Sinns zuordnen.
Für die Bildung relationaler Erwartungen ist vor allem die Mitteilungskomponente relevant. Denn
die Zurechnung von kommunikativen Ereignissen auf mitteilende Akteure führt zur Emergenz von
personalisierten Verhaltenserwartungen. Ein Beispiel dazu: Eine Wissenschaftlerin hält auf einem
Kongress einen Vortrag. Der Inhalt ihres Vortrags – also die Informationskomponente – trägt zu
Erwartungen in der Sachdimension des Sinns bei. Diese Erwartungen lassen sich als Wissensbestand bzw. als Kultur charakterisieren. An diesen Wissensbestand schließt der Vortrag inhaltlich an,
verändert ihn aber unter Umständen auch. Mit der Mitteilungskomponente wird der Vortrag nun
auf die Wissenschaftlerin zugerechnet. Dies führt nun zur Konstruktion der Identität der Wissenschaftlerin als intelligent, kreativ, langweilig oder komisch.
Mit eventueller Kritik oder Anlehnung an andere Wissenschaftler, mit der Selbstverortung in wissenschaftlichen Schulen, aber gerade auch mit Rückfragen oder Kommentaren in der Diskussion
kommt es darüber hinaus zur Platzierung der Wissenschaftlerin im Verhältnis zu anderen. Auf diese
Weise entsteht und verändert sich in der Kommunikation ein Netzwerk von Sozialbeziehungen. So
kann etwa eine kritische Rückfrage eines Kollegen auf ihren Vortrag Folgen sowohl für den Wissensbestand (die Kultur) als auch für die relationalen Erwartungen (das Netzwerk) haben, je nachdem ob sie eher in ihrer Informations- oder in ihrer Mitteilungskomponente verstanden wird.
Ich will dies kurz an einem anderen Beispiel illustrieren: Zwei Kollegen sitzen bei einem gemeinsamen Mittagessen. A sagt: „Sie zeigen heute Abend den Film X im Kino Y.“ Die Information besteht nun genau darin, dass ein bestimmter Film in einem bestimmten Kino gezeigt wird. Mit der
Mitteilung wird dieser Satz auf A zugerechnet. Dies führte zu der Vermutung, dass A gerne mit B
ins Kino gehen möchte. Hier sind nun zwei idealtypisch unterschiedliche Folgesequenz denkbar. In
der ersten antwortet B: „Ich habe keine Zeit. Lass uns nächste Woche was machen.“ Und A reagiert: „Ja, gute Idee. Wie wäre es mit Mittwoch?“ Wolfgang Ludwig Schneider folgend legen genau
drei aufeinander folgende kommunikative Ereignisse den Sinn des ersten Ereignisses fest (1994,
176ff). In diesem Fall knüpft die Folgekommunikation alleine an der Mitteilungskomponente an.
Im Ergebnis erscheint A als Akteur, der Interesse an einem privaten Kontakt mit B hat.
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Alternativ kann die Kommunikation vor allem auf der Information aufbauen. B antwortet dann auf
den ersten Satz etwa mit: „Hmm, der läuft schon eine Weile. Ist wohl sehr erfolgreich.“ Worauf A
sagt: „In der Zeitung wurde der Film sehr gelobt. C hat er auch gefallen.“ Die Unterhaltung geht
nun alleine über den Film. Die Ausgangsmitteilung wird hier nicht unbedingt als Vorschlag ins Kino zu gehen interpretiert. Stattdessen fokussiert die Folgekommunikation auf die Sachdimension. A
und B werden auf diese Weise als Akteure mit einem Interesse an Kinofilmen sichtbar. Auch das
kann Teil einer Sozialbeziehung sein – die Erwartung, dass man miteinander gut über Kinofilme
sprechen kann. Insofern führt auch diese Sequenz, die sich vordergründig auf die Informationskomponente konzentriert, zum Aufbau von relationalen Erwartungen. Kommunikative Ereignisse
werden auf diese Weise unablässig darauf beobachtet, inwiefern sie beteiligte Identitäten im Verhältnis zueinander relationieren. Soziale Netzwerke entstehen damit als unvermeidbares Nebenprodukt des Kommunikationsprozesses. Aber wie genau läuft diese Relationierung ab?
Da allgemeine Mechanismus für die Entstehung relationale Erwartungen beruht – wie bereits angesprochen – auf der Selbstbeobachtung von Kommunikation als Handeln. Kommunikation wird
dabei auf Akteure zugerechnet. Hinter einer Mitteilung werden Kapazitäten und Dispositionen des
Mitteilenden vermutet. So führt etwa der Vortrag auf einer Tagung zu Vorstellungen von der
Kompetenz und den kulturellen Deutungsmustern der vortragenden Wissenschaftlerin. In diesem
Sinne fasse ich Akteure als konstruiert mit zugerechneten Kapazitäten und Dispositionen für spezifisches Handeln.
An dieser Stelle kommt der Begriff der Storys bei Harrison White wieder ins Spiel. Mit diesen werden Identitäten im Netzwerk konstruiert und relationiert (s.o.). Allgemein werden im alltagsweltlichen Story-Telling Ereignisse auf die internen Dispositionen von Akteuren zurückgeführt (Tilly
2002). Insofern beruht alltagsweltliche Kommunikation – im Gegensatz etwa zur wissenschaftlichen Kommunikation – auf handlungstheoretisch angelegte Selbstbeschreibungen, wie auch Jürgen
Habermas in seiner Lebenswelt-Theorie konstatiert.
Aus dieser Rückführung von Kommunikation auf Mitteilungshandeln entstehen Erwartungen hinsichtlich des zukünftigen Verhaltens des Akteurs (etwa in Bezug auf die Art und die Qualität des
nächsten Vortrags). Dahinter steht die Annahme der prinzipiellen Stabilität von Handlungsdispositionen und -kapazitäten, die auch zukünftigem Handeln zugrunde liegen werden. In einem ähnlichen Sinne werden Luhmann zufolge Personen als Erwartungsfolien in der Kommunikation in der
Beobachtung der Beteiligung von psychischen Systemen konstruiert (1995, 142ff). Allerdings können Akteure prinzipiell auch kollektiv oder korporativ sein und nicht nur Personen. In eine ähnliche Richtung geht auch der Adressenbegriff von Peter Fuchs (1997). Diesem gegenüber betont der
Akteursbegriff die aktive Rolle und die Handlungsdispositionen, die den personalen oder sozialen
Einheiten im Story-Telling zugeschrieben werden.
Wie aber kommen wir nun von diesen konstruierten Akteursidentitäten zu Netzwerken, also zu Relationen zwischen Identitäten? Die Lösung des Problems besteht darin, dass Identitäten mit der
Mitteilung nicht als isolierte handelnde Individuen beobachtet werden, sondern als Akteure mit
spezifischen Handlungsdispositionen in Bezug auf bestimmte Alteri. In der oben diskutierten Beispielsequenz führt der Ausgangssatz zu der Vermutung, dass A gerne mit B ins Kino gehen möchte
und nicht einfach nur gerne ins Kino geht. A wird also eine relationale Handlungsdisposition in Be-
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zug auf B zugeschrieben – ein Interesse an einer Freundschaft oder möglicherweise sogar einer Intimbeziehung. Kommunikation wird in diesem Sinne nicht nur als Handeln beobachtet, sondern
auch als soziales Handeln im Sinne von Max Weber. Dem Akteur werden dabei bestimmte Motivationen in Bezug auf andere Akteure zugerechnet.
Meine These ist, dass diese Beobachtung in der Kommunikation durchgängig mitläuft, um die Implikationen von Kommunikation für potentielle und bestehende Sozialbeziehungen abzuschätzen.
Sozialbeziehungen bestehen insofern aus relationalen Erwartungen, an denen sich zukünftige
Kommunikation orientiert. Von Sozialbeziehungen lässt sich sprechen, sobald sich in der Kommunikation spezifische Erwartungen für die Anschlussfähigkeit von Kommunikation zwischen Alter
und Ego bilden. Diese müssen durchaus nicht positiv sein, sondern können auch in Konkurrenz
oder Konflikt bestehen. Die forschungspragmatische Dichotomisierung von Sozialbeziehungen in
der Netzwerkforschung in Einsen und Nullen in Netzwerkmatrizen, also in bestehend oder nichtbestehend, ist entsprechend grob reduktionistisch: In der sozialen Welt geht es weniger um die Frage der Existenz einer Sozialbeziehung als darum, welche Erwartungen mit ihr verknüpft sind.
Dazu kann, muss aber nicht der Austausch von heterogenen Gefälligkeiten im Sinne „reziproker
Leistungskommunikation“ und die Bildung von entsprechenden Erwartungen gehören. Die so konstituierten Austauschnetzwerke, die Michael Bommes und Veronika Tacke (2006) alleine mit dem
Netzwerkbegriff belegen, sind in der hier vorgeschlagenen Modellierung nur ein Beispiel für die
Bildung relationaler Erwartungen aus der Zurechnung von Kommunikation auf Mitteilende. Der
hier skizzierte Netzwerkbegriff ist weiter angelegt und umfasst alle relationalen Verhaltenserwartungen – ob sie mit dem Austausch funktionssystemischer Leistungen einhergehen oder nicht. Damit entspricht er dem weiteren Netzwerkkonzept aus der Netzwerkforschung und nicht dem
engeren aus der Organisationssoziologie.
4. Implikationen
An dieser Stelle will ich kurz einige Implikationen dieser Theorieoption skizzieren:
(a) Die Zurechnung von Handeln auf Akteure ermöglicht deren Sanktionierung und damit soziale
Kontrolle. Menschen werden auf diese Weise, eingepasst in Netzwerke, „sozialisiert“. Hinter solchen Sanktionierungen steht die Annahme, dass die Dispositionen von Akteuren durch Einwirkung
von außen beeinflussbar sind. Dies führt zu einem Paradox: Die Dispositionen von Akteuren werden einerseits als stabil angenommen. Ansonsten wäre es ja nicht mehr der gleiche Akteur, den man
sanktionieren würde. Dennoch müssen diese Dispositionen als wandelbar gedacht werden – sonst
müssten Sanktionen ins Leere laufen, weil sie an den Handlungsdispositionen nichts ändern könnten.
Im Kontext der Netzwerktheorie muss festgehalten werden, dass Normen und soziale Kontrolle
oft das Verhalten von Akteuren zueinander betreffen. So wird etwa angemessenes Verhalten gegenüber Schwiegereltern oder Freunden erwartet und Devianz mit Missachtung bestraft. Im Extremfall führt dies zum Abbruch von Sozialbeziehungen (bzw. zum Umschlag von kooperativen in
defektive Verhaltenserwartungen), also zum Ausschluss aus oder zumindest zur Neusortierung von
Netzwerken.
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(b) Die Konstruktion der Identität von Knoten erlaubt die Koordination von Erwartungen aus verschiedenen Sozialbeziehungen. Dies kennzeichnet White mit dem Begriff des Switchings, das für
ihn grundlegend für den Aufbau von sinnhaften Erwartungen in Netzwerken ist (Godart/White
2010). Zum Beispiel sorgt der Ehering am Finger dafür, dass man weniger heftig mit der Urlaubsbekanntschaft flirtet. Auf diese Weise wird das Netzwerk in der individuellen Identitätskonstruktion
mit repräsentiert.
(c) Wie bereits angesprochen, können nicht nur Individuen in sozialen Netzwerken als Knoten fungieren. Die grundlegenden Mechanismen der Konstruktion von Akteuren gelten genauso für Individuen wie für Kollektive und Korporative. Dabei kommt es weniger darauf an, dass Akteure
tatsächlich als Einheiten handeln. Vielmehr müssen sie in der Kommunikation als handelnde Einheiten beobachtet werden. Dafür ist entscheidend, dass (1) der Akteur als Einheit gesehen wird,
dass (2) Phänomene als Folgen der Handlungen dieser Einheit betrachtet werden, und dass (3) entsprechende Handlungsdispositionen und -kapazitäten zugerechnet werden. Grob geht es darum,
dass vermutete Dispositionen, die beobachtete Handlung und die beobachteten Handlungsfolgen in
einen kausalen Zusammenhang gestellt werden (Schneider 1994; Fuchs 2001a). John Meyer und
Ronald Jepperson zufolge sind vor allem Individuen, formale Organisationen und Nationalstaaten
als auf diese Weise konstruierte und beobachtete Akteure der Moderne etabliert (2000). Aber auch
an kollektiven Akteuren wie Straßengangs oder soziale Bewegungen können sich relationale Erwartungen fest machen, wodurch sie zu Knoten in Netzwerken mit anderen kollektiven oder korporativen Akteuren werden.
5. Netzwerke und Systeme
Abschließend komme ich kurz zum Verhältnis zwischen Systemen und Netzwerken, das in der systemtheoretischen Literatur viel diskutiert wird (Bommes/Tacke 2011). In der bisherigen Betrachtung habe ich den Systembegriff weitgehend ausgeklammert, auch wenn Sozialbeziehungen als
dyadische selbstreferentielle Kommunikationssysteme konzipiert wurden. Ich will mit dieser Aussparung nicht behaupten, dass es keine Systeme im Sozialen gäbe. Allerdings sehe ich Aussagen
über die Realität von sozialen Netzwerken und der Prozesse in ihnen auch ohne Rückgriff auf die
Differenzierungstheorie als möglich. Meine Überlegungen sind stärker als die meisten systemtheoretischen Arbeiten empirieorientiert. Das Ziel der Theoriebildung liegt damit nicht in der Konsistenz mit der etablierten systemtheoretischen Architektur. Vielmehr geht es mir um die Fragen: Was
beobachten wir eigentlich mit der Netzwerkforschung? Und wie können wir Netzwerkeffekte theoretisch interpretieren?
Der Ausgangspunkt für meine Überlegungen liegt in der Kommunikationstheorie und nicht in der
Systemdifferenzierungstheorie, die in anderen Arbeiten meist vorangestellt wird. In dieser Sichtweise können Netzwerke und Systeme als „Formen“ (Baecker 2005, 79f, 226ff) bzw. als „Gedächtnis“
(Schmitt 2009) der Kommunikation konzipiert werden. Diese stehen prinzipiell nebeneinander und
können nicht aufeinander zurückgeführt werden. So wie empirisch beobachtbare Kommunikation
immer eine Reihe von Systemreferenzen (z.B. Interaktion, Organisation Universität, Wissenschaft)
mitführt, kann sie zugleich auch auf Netzwerke Rücksicht nehmen. Und in all diesen Referenzen
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Journal der dgssa
Beitrag: Kommunikation und Handeln in Netzwerken
(wie auch in Kultur bzw. Semantik) führt Kommunikation zu Strukturbildungen, auf die zukünftige
Kommunikation aufbauen kann und muss.
Dies bedeutet auch, dass Netzwerke Folgen für Systeme (wie auch für Kultur) haben können, wenn
sie Kommunikation auf eine bestimmte Weise prägen. So können Interaktionssysteme als Vollzug
von Netzwerkbeziehungen gesehen werden. Formale Organisationen werden eventuell durch informale Netzwerke korrumpiert. Und in Funktionssystemen wie der Wissenschaft oder der Politik
bestimmen „invisible colleges“ oder politische Seilschaften darüber, was als „wahr“ gilt bzw. welche
politischen Entscheidungen getroffen werden (Besio 2011; Schneider/Kusche 2011). Netzwerke
können sich also innerhalb von Funktionssystemen bilden und dort Effekte zeigen. Sie können aber
auch in Form von Korruption oder Gefälligkeitsnetzwerken zwischen Funktionssystemen angesiedelt
sein (Hiller 2005; Bommes/Tacke 2006).
Manche Netzwerke sind aber auch eher unterhalb der Ebene von Funktionssystemen anzusiedeln,
wenn etwa Freundschaftsnetzwerke ohne große Resonanz in den Funktionssystemen bleiben. Diese
gehören dann in den großen Bereich der Alltagskommunikation, der keinen Funktionssystemen zuzuordnen ist (Luhmann 1986). Allerdings kommt hier dem eigentümlichen Funktionssystem der
Familie eine besondere Rolle zu, weil diese selbst in Form von (stark institutionell geprägten)
Netzwerken strukturiert ist und sich in der Alltagskommunikation mit anderen persönlichen Beziehungen überschneidet. Anders herum werden Netzwerkbildungen natürlich auch dadurch geprägt,
welche Positionen oder Leistungsrollen den jeweiligen Akteuren in Organisationen oder Funktionssystemen zukommen.
In Ausnahmefällen können Netzwerke auch zu Systemen werden, wenn im Netzwerk sinnhaft eine
scharfe Außengrenze gezogen wird. Etwa bei Straßengangs, bei sozialen Bewegungen, bei Invisible
Colleges, bei einigen politischen Seilschaften, auch bei Terrorgruppen und der Mafia finden wir solche Innen-außen-Abgrenzungen, mit denen Kommunikation im Netzwerk zwischen Zugehörigen
und Nicht-Dazugehörenden unterscheidet. In solchen „Involutionen“ (Fuchs 2001b, 192, 216f)
werden die Identität des Netzwerks und die Differenz nach außen graduell zu Orientierungspunkten, die die Anschlussfähigkeit für und damit die Selbstreferenzialität von Kommunikation im System realisieren. Für die Persistenz devianter Gruppenkulturen etwa in Straßengangs ist eine solche
Involution von entscheidender Bedeutung, weil sie die Voraussetzung für die Inversion und die
Abgrenzung von gesellschaftlichen Normen im inneren der Gruppe ist (Fuhse 2003, 13ff).
Insgesamt sprechen diese Überlegungen dafür, Netzwerke nicht aus Systemen abzuleiten und damit
insbesondere den Stellenwert von Netzwerken in der Gesellschaft nicht theoretisch festzulegen.
Vielmehr eröffnet die Kombination von systemtheoretischen Überlegungen mit der Netzwerkforschung gerade Möglichkeiten für empirische Untersuchungen. So ließen sich etwa systemtheoretische Argumente zur Strukturierung von Rollenbeziehungen in Funktionssystemen mit den Mitteln
der Netzwerkforschung empirisch auf Plausibilität prüfen. Angesichts des schwierigen Verhältnisses
zwischen Systemtheorie und empirischer Anwendungsforschung erscheint diese Perspektive als
sinnvoll und vielversprechend.
Mein (zugegebenermaßen recht oberflächlicher) Eindruck ist, dass auch für die Soziale Arbeit eine
solche weite und auf empirische Erforschung gerichtete Fassung des Netzwerkbegriffs mitsamt der
hierauf bezogenen Methoden und der hier vorgestellten Interpretation von sozialen Netzwerken als
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Journal der dgssa
Beitrag: Kommunikation und Handeln in Netzwerken
relationalen Erwartungsstrukturen gut anschlussfähig ist. 3 Dazu gehört einerseits, dass die Bedingungen der Möglichkeit für deviantes Verhalten und für Desintegration auf der Netzwerkebene rekonstruiert werden. Andererseits scheint aber auch die Beobachtung von Verhalten als das
konforme oder deviante Handeln von problembeladenen Akteuren eine wichtige Determinante und
eine wichtige Rolle für die Konstruktion solcher Erwartungsstrukturen zu spielen.
Literatur:
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3 Siehe hierzu auch die Diskussion bei Tilly Miller (2010). Da ich in diesem Gebiet alles andere als ein Experte bin, muss
ich es hier bei einigen Andeutungen mit Blick auf die soziale Arbeit belassen.
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Journal der dgssa
Beitrag: Kommunikation und Handeln in Netzwerken
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Journal der dgssa
Beitrag: Kommunikation und Handeln in Netzwerken
Autorenhinweis
PD Dr. Jan Fuhse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität
Bielefeld. Veröffentlichungen u.a.: Theorien des politischen Systems (VS 2005), Ethnizität, Akkulturation und persönliche Netzwerke von italienischen Migranten (Barbara Budrich 2008), Technik
und Gesellschaft in der Science Fiction (Hrsg., Lit 2008), Relationale Soziologie (Hrsg. mit Sophie
Mützel, VS 2010), Kultur und mediale Kommunikation in sozialen Netzwerken (Hrsg. mit Christian Stegbauer, VS 2011).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen – ein
kommunikationstheoretischer Vergleich
Horst Uecker
Zusammenfassung
Der Artikel vergleicht Netzwerke und Organisationen unter den Gesichtspunkten selbstreferentieller Kommunikation und Karrieren. Die Befunde werden auf die Soziale Arbeit und dort auf Interventionsfragen bezogen.
Abstract
This article aims to compare networks and organizations with respect to self-referential communication and careers. The findings will be put towards Social Work and intervention.
Sozialarbeitende nutzen in der Fallarbeit Netzwerke und Organisationen, um der Klientel entsprechende Unterstützungsleistungen zukommen lassen zu können. Welche Rolle Netzwerken und Organisationen dabei zugemessen wird, hängt davon ab, welchen Begriff von Kommunikation man
dieser Frage unterlegt. Wird Kommunikation als Handlung oder als Handlungsverknüpfung betrachtet, dann scheinen beide mehr oder weniger gezielt beeinflussbar. Betrachtet man hingegen
Netzwerke und Organisationen als kommunikative Phänomene, 1 die sich von individuellen Gedanken und Handlungsvorstellungen unterscheiden, dann kann man deren Bedeutung für die Möglichkeiten und Grenzen der Fallarbeit kaum hoch genug einschätzen.
Netzwerke und Organisationen lassen sich nicht nur über den Begriff der Kommunikation, sondern auch über den der Karriere vergleichen. Sie realisieren Karriereformen, die ihrerseits als Bezugsproblem der Sozialen Arbeit gedeutet werden können. In der Moderne befinden
Karrierestrukturen über individuelle Positionsmöglichkeiten. Sie können als zentrale Kopplungsund Integrationsmechanismen begriffen werden, die körperliche, kognitive und kommunikative
Aufmerksamkeiten und Leistungen miteinander verknüpfen. Insofern sie entsprechend problematisiert werden können, schließt die Soziale Arbeit daran an. Sie versucht in diese Prozesse lenkend
einzugreifen, mit dem Ziel, positiv deutbare Karriereereignisse wahrscheinlicher werden zu lassen.
Der folgende Text vergleicht vor dem Hintergrund dieser Annahmen Netzwerke und Organisationen im Hinblick auf selbstreferentielle Kommunikation (1) und Karriere (2), um Gemeinsamkeiten
und Unterschiede herauszuarbeiten, die für die Soziale Arbeit bzw. für Sozialarbeitende (3) instruktiv sind. Er schließt (4) mit einem Fazit und Ausblick.
1
Für Organisationen siehe Luhmann (2000); für Netzwerke siehe z.B. Fuhse (2009).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
1. Soziale Netzwerke und Organisationen – ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der
Kommunikation
Soziale Netzwerke können ganz allgemein als universale Phänomene verstanden werden, die ‚hoch
selektiv‘ knappe Kontakte und Leistungen miteinander verknüpfen. Im besten Fall tragen sie dazu
bei, Zugangs-, Positions- und Anschlussmöglichkeiten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht
zu optimieren. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Beschäftigung mit Netzwerken in der Sozialen Arbeit Tradition hat. 2 Einerseits interessieren sie als Forschungsthema, wobei
vielfältige Bezüge auf Ethnologie, Soziologie und Psychologie gemacht werden. So geht es beispielsweise darum, transnationale Migrationsnetzwerke, oder durch Netzwerke erzeugte Ungleichheiten analytisch zu verstehen. Andererseits interessieren sie als praxisorientiertes Paradigma, wobei
im Vordergrund steht, Netzwerkanalysen in der Fallarbeit zur Informationserzeugung zu nutzen.
Dabei wird ersichtlich, dass diejenigen Personen, die besonderen Unterstützungsbedarf benötigen,
oft nur eingeschränkte oder problemhafte Zugänge zu Netzwerken realisieren (Otto 2011, 13761381) und es stellen sich Fragen, wie die Situationen verbessert werden können.
Nicht zuletzt interessieren Netzwerke die Sozialarbeitenden selbst auch deshalb, weil sie es offensichtlich ermöglichen, die eigenen beruflichen Interessen und die damit verbundenen Werte und
Moralvorstellungen zu bündeln und sich in Opposition gegen hierarchisierte Strukturen zu begeben. Hierfür kann das weltweit agierende Social Work Action Network als Beispiel dienen, 3 das sich –
organisationsgestützt – auf die Fahnen geschrieben hat, sich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit und gegen die Manageralisierung und Marktüberformung der Sozialen Arbeit einzusetzen.
Die in der Sozialen Arbeit verwendeten Netzwerkbegriffe sind vor allem handlungstheoretisch unterlegt. Handlungen werden Akteuren, Subjekten, Individuen und Gruppen zugerechnet, die sich
aufeinander beziehen. Netzwerke erscheinen vor diesem Hintergrund als Handlungsprodukte und
entsprechend beeinflussbar. Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie einen Kommunikationsbegriff entwickelt, der es ermöglicht, solche Beschreibungsprämissen weiter aufzulösen. Der Netzwerkbegriff kann damit ‚tiefer‘ angelegt werden. Netzwerke kommen in der Folge als
kommunikative Formen in den Blick, die sich mit Organisationen vergleichen lassen. Dabei ist es
gar nicht nötig, den Handlungsbegriff aufzugeben, er wird gegenüber den üblichen Vorstellungen
jedoch stark relativiert.
Kommunikation wird von Luhmann (1992, 23f) als selbstreferentieller Mechanismus verstanden,
der sich nicht auf Denk-, Wahrnehmungs- oder Körperprozesse reduzieren lässt, wiewohl er all das
als notwendige Umweltsachverhalte voraussetzt. Der Prozess der Kommunikation wird als ein operativ geschlossener aufgefasst, bei dem sich Kommunikationen auf Kommunikationen, also stets
auf Eigenzustände beziehen und dadurch soziale Systeme ausbilden. Auf den ersten Blick ist es naheliegend, Kommunikation als Handlung aufzufassen, weil man Menschen sieht, die sich mittels
Äußerungen aufeinander beziehen. Luhmann (1984, 225f) macht jedoch darauf aufmerksam, dass
2
3
Für einen Überblick mit vielen empirischen Belegen siehe Otto / Bauer (2005).
Siehe hierzu http://www.socialworkfuture.org/
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
es nicht ausreicht, Kommunikation als Handlung und den Kommunikationsprozess als Kette von
Handlungen zu begreifen. Denn in jeder sozialen Operation werden mehr selektive Prozesse einbezogen als nur Mitteilungsaspekte. Kommunikation wird als Einheit dreier Selektionen verstanden:
der Selektion einer Mitteilung, der Selektion einer Information und der Selektion eines Verstehens.
Diese Einheit muss in jeder Operation zusammengestellt werden. Betrachtet man nur Mitteilungen,
die sich aufeinander beziehen, lässt sich der Kommunikationsprozess folglich nicht angemessen erfassen. Man erliegt der optischen Täuschung, die Menschen kommunizieren sieht.
Vor diesem theoretischen Hintergrund ist zwischen bewussten und kommunikativen Akten dezidiert zu unterscheiden. Individuelles Bewusstsein kann denken, es habe gehandelt. Solche Handlungen unterscheiden sich jedoch von Situationen, in denen Kommunikation Handlungen attribuiert.
Wie gesehen, kommt Kommunikation ohne die Mitteilungskomponente, die immer ein Handeln
mitführt, nicht zustande. Diese Zurechnungsnotwendigkeit von Mitteilungshandeln ist Ansatzpunkt
für die Entstehung „sozialer Adressen“ (Fuchs 2005). Dort, wo etwas gesagt, geschrieben, gemalt
wird, sagt, schreibt oder malt – jemand. Soziale Adressen entstehen demnach immer dann, wenn
Kommunikation anläuft. Als „Verkehrssymbole der Kommunikation“ (Luhmann 2002, 39) fungieren sie für die Kommunikation als kompakte Identitäten und regeln deren Zurechnungen von Informationen auf Handelnde.
Zwei Referenzen kommen in der Moderne für Adresszurechnungen in Frage: Personen (Luhmann
2002) und Organisationen (Luhmann 2000). Beides sind genuin kommunikative Strukturen und dienen der Unterscheidung einer Mitteilung von deren Information. Im Falle von Personen geht es, im
Unterschied zu Organisationen, zusätzlich darum, dass auf der anderen Seite der Person „Menschen“ (Luhmann 2002, 28), also die Einheit von Mental- und Körperprozessen imaginiert werden,
welche Kommunikation hinreichend mit Irritationen versorgen. 4 Organisationen werden demgegenüber als formalisierte Kommunikationen verstanden, die Mental- und Körperprozesse zwar voraussetzen, dies aber nur im Modus der Allgemeinheit. Verändern sich Organisationsstrukturen
können davon viele Menschen (jetzige und zukünftige Mitglieder oder Kunden) betroffen werden,
verändern sich Personenstrukturen, wird unmittelbar ‚ein Mensch‘ davon betroffen. Der Ausdruck
‚betroffen‘ ist durchaus wörtlich gemeint. „Auch wenn man die Eigendynamik der Kommunikation
betont, besteht kein Zweifel, dass dadurch biologisch und psychologisch begreifbare Individuen betroffen sind“, formuliert Luhmann (1992, 22) und verweist damit auf diejenigen Beobachter, die als
leidensfähig begriffen werden.
Innerhalb der Gesellschaft unterscheiden sich Organisationen als formalisierte Kommunikation
von Interaktionen, also von Gesprächen unter Anwesenden. Beispiele dafür sind Gespräche am
Familientisch, im Internetchatraum oder mit dem Nachbarn. Solche Kommunikationen sind viel
unverbindlicher für individuelles Bewusstsein als die der Organisationen und vor allem sind sie
auch kurzfristiger angelegt. Organisationen unterscheiden sich zudem von wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen, künstlerischen, sozialarbeiterischen und medizinischen Kommunikationsformen.
4
Der Begriff ‚Person‘ wird im Unterschied zum empirischen Menschen definiert. Der Mensch meint die andere, kommunikativ nicht erreichbare Seite der Person (Luhmann 2002, 28). Beide Seiten kommen typischerweise nicht zur Deckung, was alltäglich erfahrbar ist.
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
Dies vor allem dadurch, dass nur erstere als Handelnde begriffen werden können. Wirtschaft, Politik und Medizin etc. lassen sich demgegenüber nicht über Adressen ansteuern. Mit Luhmann
(2000a, 70) formuliert: „Die Gesellschaft hat keine Adressen. Was man von ihr verlangen will, muss
man an Organisationen adressieren.“
Um die Zurechnung von Informationen auf Mitteilende zu regulieren und sich dadurch von der
Umwelt abzugrenzen, bedienen sich Organisationen des Konzeptes der Mitgliedschaft. 5 Mitgliedschaft wird selektiv Personen zugerechnet. Damit verbunden ist die Möglichkeit der Entscheidungszurechnung. Durch die Zurechnung von entscheidungsbasierter Kommunikation werden in
Organisationen formale Strukturen geschaffen, welche entsprechende Bindewirkungen für reversible Mitgliedschaften zeitigen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die individuellen Lebensführungsmöglichkeiten zentral an Mitgliedschaften in Organisationen und damit an bezahlter Arbeit
hängen.
An dieser Stelle kann eine kommunikativ informierte Netzwerktheorie anschließen. Netzwerke bilden sich, indem selektiv soziale Adressen (Tacke 2010, 92) 6 und deren imaginierte Leistungspotentiale aufeinander bezogen werden. Anders formuliert dienen soziale Adressen dem jeweiligen Netz
als Knotenpunkte. 7 Dabei geht es um „Strategien der Vorteilsteilung, der Zukunftssicherung und
der Einflussnahme“ (Luhmann 1999, 806), vor allem auf organisatorische Entscheidungen und den
damit verbundenen Zugriff auf Ressourcen wie Geld, Reputation und Macht etc. 8 Durch den Umstand, dass seit knapp 200 Jahren nicht nur Personen, sondern auch Organisationen als
ansteuerbare soziale Adressen fungieren, konnten Netzwerke ihre Verknüpfungsmöglichkeiten
ausweiten. Heute bilden sich Netzwerke, die sowohl Personen mit Personen als auch Personen mit
Organisationen und Organisationen mit Organisationen verknüpfen. Sie ermöglichen exklusive Zugriffe auf Ressourcen aller Art, die anders nicht oder nur erschwert möglich wären. Die Tatsache,
dass Ressourcen in der Moderne vor allem durch formale Organisationen ‚ungleich verteilt‘ werden,
rückt das Verhältnis von Netzwerken und Organisationen in den Blick der Sozialen Arbeit. Veronika Tacke zeigt dazu am Beispiel der Wissenschaft, der Kunst, der Politik und der Wirtschaft auf,
dass Netzwerke in der Moderne typischerweise an den mit „Rollenvorgaben und Programmen verbundenen Einschränkungen und Knappheiten“ (Tacke 2010, 95), also in Anlehnung an Organisationen, entstehen. 9
Netzwerke machen Unterschiede. Sie sind nicht formal und hierarchisch abgesichert, wie das bei
Organisationen der Fall ist. Sie sind auch nicht sozial adressierbar. Anders als Organisationen pro-
5
Im Unterschied zur Person wird der Mitgliedschaft als Rolle verstanden. Damit geht es um grob schematisierte und
nicht individualisierte Erwartungsbündel.
6
Dies im Gegensatz zu Vorstellungen, dass Netzwerke aus `konkreten Personen` bestehen (siehe hierzu Bauer 2005, 38).
7
Die Unterscheidung von Knoten und Netz dient der Netzwerktheorie als mögliche Leitunterscheidung (Weber 2001,
58). Dass die eine Seite nicht ohne die andere gedacht werden kann, zeigt White (2008).
8
Die bekannte und auch in der Sozialen Arbeit immer wieder aufgerufene Metapher des „sozialen Kapitals“ (Bourdieu
1992: 49f), das notwendig scheint, um an bestimmten Kommunikationen teilnehmen zu können, liegt auch hier als Beschreibungsmöglichkeit auf der Hand. Soziales Kapital erhöht die Möglichkeiten, als relevante Netzwerkadresse in Frage
zu kommen und es reproduziert sich durch die Verknüpfung innerhalb eines Netzwerkes kontextspezifisch.
9
Für ein solches Argument siehe auch Luhmann (1999, 806).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
duzieren sie keine Selbst- und Fremdbeschreibungen, die sie intern und extern sichtbar machen und
gegenüber einer Umwelt abgrenzen. Entsprechend kann ihnen keine Verantwortung zugerechnet
werden, sie kommen nicht als ‚Handelnde‘ in Frage, denen kommunikativ Mitteilungen zugerechnet
werden können. 10 Im Falle von Netzwerken geht es also um etwas, das nicht nur im Gegensatz zu
formalisierten Grenzziehungen, sondern auch zu jeglichen Rollenkomplementaritäten und zur Öffentlichkeit steht. Sie kommen durch selbsterzeugte „Reziprozitäten“ (Tacke 2010, 93) unter ‚Gleichen‘ zustande, auf die kein einklagbarer Anspruch besteht. Dabei werden jedoch nicht einzelne
Beiträge mit bestimmten anderen verrechnet. Beiträge zirkulieren als ‚Vorschüsse‘, wenn man so
will, die in der Gegenwart geleistet werden und die an unbestimmter Stelle im Netzwerk, zu unbestimmter Zeit durch andere Beiträge entschädigt werden. Erinnerbare Vorschüsse bilden somit das
Gedächtnis des Netzwerkes. Sie können wieder aufgerufen werden. Die Betonung liegt hier auf
‚können‘, soll heißen, es besteht lediglich die Möglichkeit, dass ein Beitrag als solcher identifiziert
wird. Auch das Netzwerk und dessen Themengeschichte bestimmt mit, was als Beitrag akzeptiert,
was ignoriert, abgelehnt oder vergessen wird. Anders formuliert wird eine soziale Adresse erst dadurch zum Netzwerkknoten, „dass sie in eine Beziehung zu einem anderen Knoten eingebunden
ist; umgekehrt wird die Beziehung als Beziehung erst konstituiert dadurch, dass sie eine
Relationierung von Knoten darstellt“ (Holzer / Schmidt 2009, 234).
Schon diese ersten allgemeinen Überlegungen machen deutlich, dass sowohl Netzwerke als auch
Organisationen für die individuelle Lebensführung und damit auch für die Soziale Arbeit bedeutsam sind. Beide verweisen auf Ressourcenzugänge. Außer Frage steht, dass individuelles Bewusstsein lebenslang damit beschäftigt ist, sich für diejenigen Netzwerke und Organisationen
entsprechend ‚adressabel‘ zu halten, an deren Kontakten es interessiert ist. Das kann durchaus als
„biographische Lebensbewältigung“ im Sinne Böhnisch (1997) gedeutet werden. Er verweist auf
das Streben nach individueller Handlungsfähigkeit, die im Licht der hier geführten Diskussion über
Kontakte zu Netzwerken und Organisationen erweitert wird. Im Zuge solcher ‚Kontakte‘ vermag
individuelles Bewusstsein gedanklich zu errechnen, was in unterschiedlichen Kontexten an Verhalten erwartet wird, um in zukünftigen Kommunikationssituationen als Adresse oder als Thema berücksichtigt zu werden.
Auch an dieser Stelle sind Personen und Organisationen vergleichbar, denn auch letztere können
durch derartige Kontakte bemerken, welche Erwartungen an sie gestellt werden, und wie individuelles Bewusstsein, je nachdem, ob sie sich gegenüber diesen Erwartungen indifferent verhalten können oder nicht, ihre offiziellen Außendarstellungen danach ausrichten. Auch sie versuchen ihr
‚Adressmanagement‘ an Erwartungen anderer auszurichten, um die eigenen Handlungsfähigkeiten
zu erhöhen.
Wichtig für die weiteren Überlegungen ist der Umstand, dass individuelles Bewusstsein und Organisationen `ihre` sozialen Adressen nicht dominieren. Was immer auf der einen Seite an Selbstbeschreibungen offeriert wird, muss auf der anderen Seite gegengezeichnet werden. Um solche
10
Wer wie Bauer (2005, 12) davon ausgeht, dass Netzwerke als zu steuernde Systeme in den Blick kommen, versperrt sich
mit dieser Annahme die Sicht auf solche Differenzen.
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
Verhältnisse angemessen zu beschreiben, stellt die Systemtheorie das Begriffstriplet Integration/Kopplung/Interpenetration zur Verfügung. Um deren Effekte sichtbar zu machen, eignet sich der
Karrierebegriff. So gilt es Netzwerke und Organisationen unter diesen Gesichtspunkten zu vergleichen.
2. Netzwerke und Organisationen – ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der Karriere
Beim Vergleich von Netzwerken und Organisationen erscheinen nur letztere sozial adressierbar.
Beide können jedoch, wie der Personenbegriff auch, als Integrationsmechanismen, als Kopplungsmechanismen und als Orte der Interpenetration aufgefasst und entsprechend verglichen werden.
Von Integration wird soziologisch dann gesprochen, wenn es bei ‚Kontakten‘ zwischen Bewusstsein und Kommunikation um die dafür notwendige wechselseitige Einschränkung von Freiheitsgraden geht (Luhmann 2002a, 338). In allen Fällen geht es darum, dass sich individuelles
Bewusstsein, Wahrnehmung, der Situation entsprechendes Körperverhalten und Kommunikation
aufeinander beziehen. Auf der einen Seite reduziert Bewusstsein seine Aufmerksamkeitsmöglichkeiten und im gleichen Zug die körperlichen Bewegungsmöglichkeiten, um der jeweiligen Kommunikation zu folgen und die eigenen Beiträge darauf abstimmen zu können. Auf der anderen Seite stellt
Kommunikation ihre Geschwindigkeit und Themen auf die Verarbeitungs- und Beitragsmöglichkeiten des daran beteiligten Bewusstseins ein. 11 Anders ausgedrückt müssen Selbstselektionen und
Fremdselektionen aneinander ausgerichtet werden, um wechselseitige Integrationsprozesse zu ermöglichen.
Die Systemtheorie spricht an dieser Stelle von struktureller Kopplung und Interpenetration (siehe z.B.
Fuchs 2004, 81f), 12 um den aufgezeigten Sachverhalt zu fassen. Der Begriff der strukturellen Kopplung meint, ganz allgemein formuliert, dass Bewusstsein und Kommunikation in jedem Moment
mit sie erhaltenden oder bedrohenden Umweltverhältnissen gekoppelt sind, beispielsweise mit
neuronalen Ereignissen, Körperprozessen, Schwerkraft, Sauerstoff und Lärm. Der Sonderfall ist
dann derjenige, bei dem sie sich punktuell aufeinander beziehen bzw. strukturell koppeln. 13 Der
Begriff der Interpenetration macht zusätzlich auf die Tatsache aufmerksam, dass sich beide im Zuge solcher Kopplungen wechselseitig ihre jeweilige strukturelle Komplexität zur Verfügung stellen
bzw. in Anspruch nehmen, auf dass die jeweils andere Seite daran ihre Strukturen abgleichen, bestä-
11
Kommt es hier zu Synchronisationsproblemen, die auf problematisierbare Lebenslagen schließen lassen, sind dies Ansatzpunkte sozialer Arbeit.
12
Der Begriff der strukturellen Kopplung gibt darüber Auskunft, wie Bewusstsein und Kommunikation, trotz operativer
Geschlossenheit, sich aneinander strukturieren können, ohne sich zu überlappen. Luhmann (1997, 73f) geht davon aus,
dass der Begriff der Interpenetration, der auf wechselseitige Irritationen im Zuge dieser Kopplungen zielt, den Beziehungsbegriff ersetzen könnte. Er ermöglicht es allenfalls, die Kausalitäten zu beobachten, die meist weder im Bewusstsein
noch in der Kommunikation bedacht oder thematisiert werden. In diesem Text wird der Netzwerkbegriff sehr allgemein
gehalten. Ein theoretisch stärker fundierter Netzwerkbegriff müsste an dieser Stelle zeigen können, inwiefern er über die
Begriffe ‚strukturelle Kopplung‘ und ‚Interpenetration‘ hinausreicht. Als ernsthafter Kandidat kommt Harrison Whites
(2008) Netzwerkbegriff in Frage.
13
In diesem Sinne ermöglichen soziale Adressen, also Personen, Rollen und Organisationen, aber vor allem auch Sprache
strukturelle Kopplungen von Bewusstsein und Kommunikation.
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
tigen oder variieren kann. Strukturelle Kopplungen und Interpenetrationen zwischen Bewusstsein
und Kommunikation sind demnach zeitpunktfixierte Quellen wechselseitiger Irritation. Sie sind
Generatoren von Unsicherheit, die auf beiden Seiten mit eigenen Operationen abgearbeitet werden
muss.
Für die Soziale Arbeit ist in diesem Zusammenhang mindestens der Gedanke instruktiv, dass eine
Vielzahl unterschiedlicher struktureller Kopplungen die Autonomie des Bewusstseins tendenziell
stärkt. Der Interpenetrationsbegriff macht dabei darauf aufmerksam, dass Kopplungen nicht beliebig sind. Will Soziale Arbeit die Autonomie der Klientel stärken, muss sie folglich deren Kopplungsmöglichkeiten erhöhen und darauf achten, welche Strukturen dabei in Anspruch genommen
werden. 14 Dass ist alles andere als einfach, denn im Zuge von Integrations-, Kopplungs- und Interpenetrationsverhältnissen verteilen Netzwerke und Organisationen ihre Relevanzen höchst selektiv.
Erstere markieren eigenlogisch, welche individuellen oder organisatorischen Beiträge als Netzwerkbeiträge in Frage kommen. Letztere entscheiden darüber, welche Personen in Form von Leistungsrollen als Mitglieder akzeptiert werden und welche in Form von Komplementärrollen, als Patienten,
Schüler oder Kunden beispielsweise berücksichtigt werden. 15 Auf der anderen, der individuell bewussten Seite, werden Motivationsbereitschaften und bestimmte Adressmerkmale vorausgesetzt,
nämlich solche, die sich ‚passend‘ in die kommunikativen Erwartungsprofile einfädeln lassen.
Derartige Kombinationen von Selbst- und Fremdselektionen und entsprechende Effekte für die
individuellen Lebensmöglichkeiten können auch mit dem Begriff der Karriere instruktiv beschrieben werden. 16 Karrieren ermöglichen der Sozialen Arbeit, die Geschichte solcher Selektionen zu
rekonstruieren und zukünftige Möglichkeiten einzuschätzen. Sie verweisen auf Personen und Positionen in Netzwerken oder in Organisationen. Selbstselektion meint an dieser Stelle, dass individuelles
Bewusstsein andere Möglichkeiten des Handelns zugunsten dieser Kontakte zurückstellen muss.
Fremdselektion meint, dass Netzwerke und Organisationen Positionsbesetzungen durch bestimmte
Personen ermöglichen und andere Kontaktmöglichkeiten dadurch ausschließen. Hier wird davon
ausgegangen, dass Karriereprozesse auch Organisationen und Netzwerke miteinander verknüpfen.
Selbstselektion meint dann, dass Organisationen ihre Entscheidungen zugunsten anderer zurückstellen, um als Knoten in Netzwerken relevant zu werden. Fremdselektion meint dann, dass Netzwerke die offerierten Beiträge als relevant goutieren, Organisationen als Knoten anspielen und
andere Organisationen ausschließen.
Weitere Karrieremerkmale sind für die folgenden Überlegungen wichtig: Karriereereignisse schreiben Attribute in soziale Adressen ein, beispielsweise Eigenschaften, Motivationen, Leistungsfähigkeiten, Reputationsmerkmale, Kontaktpotentiale, Beurteilungen und Zensuren. Solche Attribute
sind oft dokumentiert, beispielsweise durch Schul- und Arbeitszeugnisse oder Empfehlungsschrei-
14
Dabei gilt es auch zu fragen, ob die eigenen Strukturen hilfreich sind oder ob Nichthilfe die bessere Option wäre. Zu
einem solchen kommunikativen Verständnis von Sozialer Arbeit siehe Baecker (2005, 32f).
15
Zur Unterscheidung von Leistungs- und Komplementärrollen siehe Luhmann / Schorr (1988, 39).
16
Zu einem weitreichenden Karrierebegriff im Kontext der Moderne siehe Lehmann (2009).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
ben. Sie ermöglichen, vergangene und zukünftig mögliche Karriereereignisse zu errechnen. 17 Dabei
gilt, dass Karriereereignisse im Hinblick auf die Zukunft einerseits unsicher sind und andererseits
durchaus selbstverstärkende Effekte zeitigen (Luhmann / Schorr 1988: 278f.). Man kann zwar nicht
wissen, welche Adressmerkmale in der Zukunft relevant sein werden, um Positionen zu erreichen,
und man kann auch nicht wissen, ob nicht die Vergangenheit von anderer Seite her in einer Art und
Weise gedeutet wird, die Zugänge verhindert, dennoch machen erreichte Positionen das Erreichen
bestimmter Positionen wahrscheinlicher.
Die Darlegungen führen zu dem Schluss, dass sowohl Personen als auch Organisationen über Karrieremuster beobachtet werden können. Im ersten Fall über solche, die sich in Netzwerken wie
auch in Organisationen bilden. Im zweiten Fall über solche, die auf Netzwerke beschränkt sind. In
allen Fällen sind zukünftige Karriereprozesse grundsätzlich unsicher, folgen jedoch sich selbst verstärkenden Pfaden und gehen mit entsprechenden Adressprofilen einher. Werden solche Pfade negativ gedeutet, kann die Soziale Arbeit daran anschließen und versuchen, auf Adressierungen
Einfluss zu nehmen, was es abschließend zu zeigen gilt.
3. Implikationen für die Soziale Arbeit
Deutet man als problematisch beschreibbare soziale Adressen und damit verbundene Karrieren als
Bezugsprobleme der Sozialen Arbeit, dann kommen sowohl Personen als auch Organisationen, nicht
aber Netzwerke als ‚Klientel‘ in den Blick. Solche Beschreibungen stehen quer zu denen, die innerhalb der Sozialen Arbeit zirkulieren. Aufmerksamkeit wird in der Sozialen Arbeit vor allem Personen geschenkt und die werden meist mit realen, handelnden Menschen verwechselt. Mit diesen
Ausgangsprämissen kommen Organisationen nicht als mit Personen vergleichbare Phänomene in
den Blick, die beide als Knoten in sozialen Netzwerken fungieren können.
Lässt man sich dagegen auf die hier gemachten Überlegungen ein, dann sind vielfältige Relationen
denkbar. Es geht in der Sozialen Arbeit folglich darum, Karrierestrukturen in den Blick zu nehmen,
solche, die Personen mit Personen (via Netzwerke) und solche, die Personen mit Organisationen
und Organisationen mit Organisationen (via Netzwerke) verknüpfen. Sowohl Organisationskarrieren als auch Netzwerkkarrieren erscheinen für die Lebenslaufperspektive der Klientel relevant. Sind
die für die angemessene Lebensführung notwendigen Kontaktmöglichkeiten ausgedünnt, kommt es
tendenziell zu kumulativen Exklusionen, die inakzeptabel erscheinen.
Im Falle von Personen geht es sowohl um Karrieren der Klientel, als auch um die der Sozialarbeitenden. Im einen Fall kann es beispielsweise darum gehen, einer Person, deren sozialer Adresse
nicht die notwendigen Attribute zugeschrieben werden (können), um bestimmte organisatorische
Stellen zu besetzen, andere Möglichkeiten zu offerieren. Solche Stellenbesetzungen zeitigen typischerweise Effekte auf entsprechende Netzwerke. Sie können dadurch erst zugänglich oder gar
17
Zu einer historischen Studie, die das Verhältnis von Personen und Dokumenten instruktiv am thematisiert, siehe
Groebner (2007).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
überflüssig werden. Oder es geht darum, dass Sozialarbeitende Netzwerkkontakte nutzen, um die
Fallarbeit nicht nur mit den Mitteln der eigenen Organisation zu leisten.
Im Fall von Organisationen kann es beispielsweise darum gehen, einen Jugendtreff, eine Suppenküche oder einen Tante-Emma-Laden aufzubauen oder zu erhalten, um die Bildung bestimmter persönlicher Netzwerke zu begünstigen und andere zu vermeiden. Lassen sich Personen und
Organisationen mit Netzwerken und den damit verbundenen positiv deutbaren Ressourcen entsprechend verbinden, entlasten derartige Karriereereignisse die Soziale Arbeit. Sie kann die Effekte
dann als Erfolge verbuchen. Damit sind für die Klientel oft auch informelle Bildungsprozesse und
Sozialisierungsmöglichkeiten verbunden, die durch die Soziale Arbeit oder der anknüpfenden Sozialpädagogik nur schwerlich substituierbar sind.
Bündelt man die Überlegungen, dann geht es in allen Situationen darum, Potentiale sozialer Adressen im Licht von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Karrieremöglichkeiten zu analysieren und im Hinblick auf positiv deutbare Anschlussmöglichkeiten zu verknüpfen. Die
Ernüchterung für die Sozialarbeitenden in der Fallarbeit stellt sich oft dann ein, wenn die gewünschten Verknüpfungen sich nicht realisieren lassen und andere Möglichkeiten realisiert werden.
Achtet man jedoch auf die stets notwendige Kombination von Selbst- und Fremdreferenz, dann
wird klar, dass sowohl die Menschen ‚hinter‘ den Personen, wie auch Netzwerke und Organisationen sich in ihren Integrationsformen nur begrenzt beeinflussen lassen. Denn schon die Tatsache,
dass etwas eine Handlung ist, wird, wie gezeigt, kommunikativ konstruiert und Adressen zugeordnet, ob das jeweils hinter diesen Adressen stehende individuelle Bewusstsein etwas anderes wollte
oder nicht. Wissen kann man als Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin, dass die Bildung sozialer Adressen nicht beliebig ist, Integrationspfaden folgt und sowohl vom jeweiligen Bewusstsein, dessen
Körper wie auch von Organisationen und Netzwerken beeinflusst wird. Sichtbar wird an dieser
Stelle auch, dass jeder Kontakt eines individuellen Bewusstseins mit der Sozialen Arbeit seinerseits
soziale Adressformate und Karrierestrukturen realisiert, die es zu reflektieren gilt.
Um in diesen Verhältnissen professionell ‚handeln‘ zu können, sind Sozialarbeitende gefordert,
nicht nur die Adressen der Klientel, sondern auch die eigenen im jeweiligen Kontext einzuschätzen.
Die Schwierigkeit besteht in der Folge darin, darauf Einfluss zu nehmen. Denn was immer jemand
plant oder inszeniert, um die Wahrscheinlichkeit der Annahme seiner Kommunikationsofferte zu
erhöhen, dieser Jemand wird die kommunikative Verwicklung seiner Offerte nicht kontrollieren
können. Das soll jedoch nicht daran hindern, es dennoch zu versuchen und dabei strategisch vorzugehen. Im Mindesten muss dabei bemerkt werden, ob und wie man als Experte und Expertin, als
Mitglied in Organisationen und als Knoten in Netzwerken beobachtet wird. Damit auf Organisationen und deren Entscheidungen entsprechend Einfluss genommen werden kann, hilft es, Netzwerkpotentiale zu aktivieren. Um als Knoten für letztere in Frage zu kommen, sollte man Mitglied
in Organisationen sein und dort über zentrale Ressourcen verfügen können.
4. Fazit und Ausblick
Das Programm einer kommunikationstheoretisch informierten Netzwerkforschung ist für die Beschreibungen der Soziale Arbeit noch relativ neu. Der vorliegende Beitrag hat zu zeigen versucht,
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
dass sich soziale Netzwerke und Organisationen nicht nur über einen selbstreferentiellen Kommunikationsbegriff, sondern auch über den Begriff der Karriere instruktiv vergleichen und auf die Soziale Arbeit beziehen lassen. In Fragen von fallbezogenen Ressourcenallokationen erscheinen beide
wichtig, wobei wesentliche strukturelle Unterschiede ausgemacht werden können.
Fraglos braucht es weitere Klärungen, die über die hier vorgelegten, allgemeinen Beschreibungen
hinausgehen, sowohl hinsichtlich der Forschungsdesigns als auch in Bezug auf die praktisch angewandten Netzwerkanalysen. Es geht um die Frage, wie diese zu strukturieren sind, wenn sie sich an
dem hier vorgeschlagenen Kommunikationsbegriff orientieren. Weiteren Klärungsbedarf gibt es
bezüglich des Verhältnisses einer theoretisch anspruchsvollen soziologischen Netzwerktheorie
(White 2008) und der allgemeinen soziologischen Systemtheorie (Luhmann 1984). Nach Miller
(2010, 41), die diese Schnittstelle und möglichen Konsequenzen für die Soziale Arbeit in einem Artikel skizziert, liegt hier ein Konkurrenzverhältnis vor, weil beide Theorien den Anspruch erheben,
Komplexitätstheorie zu sein. Im Vergleich beider Theoriearchitekturen muss m. E. auf jeden Fall
klar werden, ob und inwiefern der Netzwerkbegriff über die systemtheoretischen Begriffe der strukturellen Kopplung und Interpenetration hinausreicht.
Die hier diskutierten Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Personen, Netzwerken und Organisationen dienen jedoch nicht nur theoretischen Interessen. Schon das Konzept der Karriere ist auch
für die praktische Soziale Arbeit instruktiv. 18 Es macht Sozialarbeitende darauf aufmerksam, dass in
der Fallarbeit unvermeidlich kognitive und kommunikative Selbst- und Fremdreferenzen im Spiel
sind, deren ‚pattern matching‘ nicht kontrolliert beeinflusst werden kann. Ein vertieftes Wissen darüber kann dazu beitragen, in der konkreten Fallarbeit die jeweiligen Interventionen passgenauer zu
planen. Es verhindert allenfalls auch, dass die Möglichkeiten, die mit Netzwerkphänomen verbunden sind, romantisiert werden. Netzwerke sind grenzenlos, sie sind nicht erreichbar, man kann ihnen nicht schreiben, wie das bei Organisationen der Fall ist. Sie kommen folglich nicht für
Interventionen und Steuerungsversuche in Frage. 19 Dennoch zeitigen sie positiv und negativ deutbare Effekte, welche die Lebensläufe der Klientel und die Möglichkeiten der Sozialarbeitenden beeinflussen können. Sollen sie – auf Umwegen – interveniert werden, gilt es soziale Adressen zu
bearbeiten und dabei instruktive Steuerungstheorien einzubeziehen.
18
19
Und natürlich auch die damit verbundenen Begriffe wie Integration, strukturelle Kopplung und Interpenetration.
So aber Otto (2007) und Bauer (2005).
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit zwischen Netzwerken und Organisationen
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Autorenhinweis
Horst Uecker studierte Bildungswissenschaft/Erwachsenenbildung MA, Management von
Gesundheits- und Sozialeinrichtungen MA, Systemisches Management und Soziale Arbeit FH an
den Universitäten Kaiserslautern, Witten-Herdecke und der Fachhochschule St. Gallen. Promoviert
zum Dr. phil. hat er an der Friedrich-Schiller-Universität- Jena, Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Nach beruflichen Tätigkeiten im Bereich der Sozialpädagogik, der Sozialarbeit
und des Managements ist er seit 2007 Dozent an der Fachhochschule St. Gallen.
Forschungsinteressen: Organisationssoziologie, Kommunikationstheorie, Hochschullehre
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Soziale Arbeit im ASD – Kritische Beobachtungen zur
programmatischen Ausgestaltung
Artur Neif
Zusammenfassung
Der Arbeitsalltag im ASD gilt als vielschichtig, fachlich anspruchsvoll und aufreibend, er konfrontiert sowohl ASD-Fachkräfte als auch die Leitungsebene mit diffusen und ambivalenten Situationen. Veröffentlichungen seitens der ASD-Fachkräfte in Form von Praxisberichten sind jedoch
selten, obwohl sie für die Reflexion und Weiterentwicklung der Programmatik des ASD dringend
not-wendig erscheinen.
Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, welche Perspektiven und Beschreibungslogiken in der
Programmatik des ASD wirken und für die Fachkräfte zur Herausforderung werden. Die Offenlegung der im ASD wirksamen Perspektiven soll dabei helfen, die Konjunktur von normativen und
kontrollorientierten Positionen zu reflektieren und zuzuordnen. Die geschilderten Praxisbeobachtungen münden schließlich in weiterführende Fragestellungen zur programmatischen Ausgestaltung
eines ASD, der den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen genügen soll.
1. Einleitung und Fragestellung: Strukturelle Schwächungen des ASD und die Folgen für
die sozialarbeiterische Programmatik
Eine Einleitung für eine Veröffentlichung über den ASD 1 muss anlässlich der aktuellen Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung des Kinderschutzes polarisieren. Dies würde bspw. gelingen,
wenn man sich hinsichtlich der Akzentuierung des Kinderschutzes skeptisch bis kritisch positioniert. Eine der möglichen polarisierenden Fragen wäre: Genügt die momentan strukturell angelegte
Akzentuierung des Kinderschutzes professionellen und ethischen Standards Sozialer Arbeit?
Profession und Disziplin Sozialer Arbeit sehen sich vor die Herausforderung gestellt, die konjunkturbedingt nachgefragten kurzfristigen Schutzmaßnahmen in der Ausübung des Wächteramts mit
nachhaltigen Programmen des Kinderschutzes bzw. der Familienhilfe zu ergänzen. Dabei finden im
Diskurs über die Ausgestaltung dieser Programme gesellschaftlich hochstrittige Fragen der demokratischen Legitimation, der Freiheitsrechte, der gemeinschaftlichen Willensbildung und dessen
Durchsetzungsfähigkeit ihren Platz. Beschreibungen des ASD sind dabei aufgrund seiner Bedeutung in der Begriffswahl oft zugespitzt (bspw. Fallsucht, Prekarisierung der ASD-Fachkräfte,
1 Anstelle der Bezeichnung ASD werden häufig alternative Begriffe genutzt: Kommunaler Sozialdienst (KSD), Bezirkssozialdienst (BSD), Regionaler Sozialdienst (RSD) u.A., die mehr oder weniger inhaltliche Abweichungen bei Organisationsaufbau und -ablauf und fachlichem Vorgehen verdeutlichen sollen. Bei der hier verwendeten Bezeichnung ASD sind die
in der Regel durch SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen besetzten kommunalen Basisdienste gemeint, die mit wenigen Ausnahmen an die Jugendämter angeschlossen sind.
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
generalistischer Dilettantismus) und metaphernverliebt (Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle, Zwischen allen Stühlen, maßgeschneidert). Inwieweit Zuspitzungen und Metaphern das Schmiermittel
sozialarbeiterischen Erfolgs und Argumentationshilfen für die Praxis darstellen, kann dabei seitens
der ASD-Fachkräfte kritisch hinterfragt werden.
Zurecht wird dabei jedoch entlang der Zuspitzungen und Metaphern auf das asymmetrische Verhältnis zwischen struktureller Ausstattung und Ressourcen der ASDs und dem Anspruch der Umsetzung des fachlichen, kommunalspezifischen und gesellschaftlichen Auftrags hingewiesen.
Zurecht erscheint diese Asymmetrie fatal, wenn die oben genannten gesellschaftlich hochstrittigen
Fragen von Fachkräften zu klären sind, die im ökonomischen Präkariat verortet werden (vgl. zur
Präkarisierung des Arbeitsfeldes Kinder- und Jugendhilfe Eichinger 2011). Vor allem SozialarbeiterInnen, die nach der Ausbildung in dieses Arbeitsfeld einsteigen, kommen mit den diffusen, überfordernden und widersprüchlichen Arbeitsbedingungen an ihre Belastungsgrenzen. Populär ist
dabei die Nennung der sogenannten ´Multiproblemfamilien` und deren Begleitung als Grund für
die Belastung. Seltener wird das asymmetrische Verhältnis zwischen Struktur und Anspruch thematisiert, sodass dieser Widerspruch an die ASD-Fachkräfte durchgereicht werden kann. Der strukturelle Bedarf an „praxiskompatiblen MitarbeiterInnen“ (vgl. Böllert/Otto 1990, 126ff.) erscheint
dabei als schlüssige Konsequenz.
Die sich mit dieser Arbeitssituation ergebende Wut und Ohnmacht lassen sich für ASD-Fachkräfte
nur bedingt öffentlich kommunizieren und sind zudem kaum anschlussfähig an die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses. Aktuelle Versuche der Übersetzung dieses Defizits in arbeitsrechtliche
Auseinandersetzungen 2 und wissenschaftliche Publikationen (vgl. Biesel 2011, 46 und Rudow 2010)
haben nur geringe bzw. vereinzelt Effekte hinsichtlich der notwendigen Veränderungen und Verbesserung der Arbeitssituation von ASD-Fachkräften (vgl. Eichinger 2011). Die Titelfrage des Sozialmagazins 4/2010 bleibt somit aktuell: Macht der ASD die Mitarbeiter krank?
Fragestellung
Diese Veröffentlichung zum ASD soll sowohl die eben genannten Themenbereiche in sich aufnehmen als auch zu einem fachlich tragfähigen und kritischen Diskurs beitragen. In Form eines reflexiven Praxisberichts 3 wird, in Anlehnung an Methoden der teilnehmenden Beobachtung 4
2
Die Bemühungen um eine bundesweite und –einheitliche Höhergruppierung der SozialarbeiterInnen im ASD mündete
schließlich in eine Tarifreform für den kommunalen öffentlichen Dienst und eigenständige Tarifregelungen für den Sozial- und Erziehungsdienst, TvÖD SuE (vgl. Landes 2011, 147f.). Die darin vorgesehene Tarifgruppe S 14 für ASDFachkräfte wurde in manchen Kommunen jedoch nicht ausbezahlt, obwohl diese Tarifgruppe eindeutig dem Aufgabenspektrum des ASD entspricht (vgl. Gissel-Palkovich 2011, 70). In Bayern beispielsweise wurde auf Initiative des Kommunalen Arbeitsgeberverbandes (KAV Bayern) die Höhergruppierung durch eine arbeitsrechtlich mögliche Interpretation
von Herbst 2009 bis Anfang 2011 zurückgehalten.
3 Der Begriff `reflexiv` soll hier verdeutlichen, dass in diesem Praxisbericht weniger die konkreten Handlungen und
Sprachkommunikationen zwischen den Akteuren in den Blick genommen werden, vielmehr die reflexive Verarbeitung der
Praxisbeobachtungen unter gelegentlichem Einbezug einschlägiger Fachveröffentlichungen.
4 Zur Einordnung dieser Methode in der Sozialen Arbeit vgl. Munsch (2010, 1180), zur teilnehmenden Beobachtung von
Organisationen als qualitative Forschungsmethode vgl. Bachmann (2009).
53
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
während meiner dreijähigen Tätigkeit im ASD, ein Bild der Organisation und Programmatik gezeichnet, welches die verschiedenen Perspektiven offenlegt, die im ASD wirken und für die ASDFachkräfte zur Herausforderung werden. Dies geschieht entlang der Frage, inwieweit die strukturelle Ausgestaltung des ASD den Anforderungen professioneller Sozialarbeit in modernen Gesellschaften genügt. Dabei soll die Ausgestaltung der Fallarbeit und die darin Anwendung findenden
systemischen Methoden und Haltungen aufgrund der großen Anzahl an Veröffentlichungen weniger berücksichtigt werden (vgl. Kron-Klees 1997, Poller/Weigel 2010). Die Fallebene soll vielmehr
rückgebunden werden an die strukturelle Ausgestaltung von Organisation und Programm des ASD.
Der Praxisbericht mündet schließlich in Fragestellungen, die für eine professionell anschlussfähige
Weiterentwicklung der ASD-Programmatik grundlegend erscheinen.
2. Im ASD wirksame Beschreibungsformen und -logiken
Formen und Logiken der Beschreibung, die innerhalb von Organisationen wie dem ASD wirksam
und beobachtbar werden, können unterschiedliche Akzente setzen und dadurch Perspektiven hervorheben. Die hier gewählten Perspektiven sind aufgrund der Potentiale für eine kritische Auseinandersetzung der systemtheoretischen Beschreibung gesellschaftlicher Funktionssysteme
entnommen (vgl. Kleve 2003, 99). Der ASD als Bestandteil der öffentlichen Verwaltung weist einen
engen Bezug zum Rechtssystem und zur Politik auf. Die Wechselwirkungen zwischen Sozialer Arbeit, Rechts- und Politiksystem werfen Fragen danach auf, welche Interaktionen im ASD welcher Perspektive zugerechnet werden können und wie sich das Selbstverständnis der ASD-Fachkräfte in diesen
Wechselwirkungen stabilisiert und verändert. Profession und Disziplin Sozialer Arbeit erscheinen dabei
in hohem Maße verunsichert, wie fachlich tragfähige Unterscheidungen hinsichtlich Wissen, Entscheidung, Handeln und Reflexion für den ASD kommuniziert und umgesetzt werden können.
Für ASD-Fachkräfte wird folgenreich erlebbar, wie diese Verunsicherung innerhalb der Organisation (kommunale Verwaltungseinheiten als klar strukturierte Aufbau- und Ablauforganisationen mit
dem entsprechenden Habitus) an sie durchgereicht werden kann. Normativ geleitete Entscheidungen können dabei als Antwort auf diffuse, heterogene und ambivalente Situationen verstanden werden, die sich durch die Herstellung von Passungen zu den klaren Formen der kommunalen
Verwaltungslogiken ergeben. Die Notwendigkeit einer fachlich tragfähigen Reflexion normativ geleiteter Entscheidungen bedarf einer Offenlegung der verschiedenen Perspektiven, die den Praxisalltag im ASD kennzeichnen. Bei folgenreichen Entscheidungskonstellationen wird erlebbar, wie
verschiedene Beschreibungslogiken durch die beteiligten Akteure hindurchsprechen und Kontingenz erzeugen.
Die leitende Fragestellung der folgenden Beschreibung des ASD verweist als Praxisbericht auf die Anforderungen an die ASD-Fachkräfte, die durch die verschiedenen Beschreibungslogiken entstehen: Welche Beschreibungslogiken des ASD entfalten wie ihre Wirkmächtigkeit in der alltäglichen ASD-Praxis?
Oder kurz: Welche Perspektiven wirken auf die Organisation und Programmatik des ASD?
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
2.1 Perspektive der Gesetze und des Rechts
Eine relevante Perspektive der Beschreibung des ASD stellt die rechts- und gesetzesbezogene
Kommunikation dar, die sich auf die für den ASD relevanten Gesetzestexte bezieht bzw. aus dem
Rechtsbezug des ASD als Bestandteil der öffentlichen Kommunalverwaltung entsteht (vgl. hierzu
Pluto et al. 2007, 61). Die hinter dieser Kommunikation liegenden Mechanismen können in den
Beziehungen zwischen den Funktionssystemen Soziale Arbeit, Recht und Politik (zur Kopplung
von ASD und Politik genauer 2.2.) verortet werden, die in der Organisation ASD aneinander reiben
und sich in der Programmatik des ASD zugunsten und zum Nachteil der Adressaten Sozialer Arbeit verschränken können. Hinsichtlich der rechtlichen Perspektive haben ASD-Fachkräfte die
Aufgabe, diese Reibungen zu moderieren und entsprechend der eigenen Fachlichkeit zu operieren.
ASD-Fachkräfte können dabei zwischen rechtlicher Legitimation (entsprechend der professionellen
Haltung, entsprechend Konzepten sozialer Gerechtigkeit) und gesetzeskonformem Handeln (entsprechend der Passung zwischen ASD und Gesetzgebung) unterscheiden.
Organisationsinterne rechtliche Kommunikation
Die Kopplung Sozialer Arbeit mit dem Rechtssystem ermöglicht, ´verbriefte Rechte´ der Adressaten durchsetzbar zu machen (Rechtsanspruch bspw. bei Leistungen nach dem SGB VIII und sonstigen Sozialleistungen, aber auch hinsichtlich unverhältnismäßiger Einmischungen durch das
staatliche Wächteramt). Andererseits wird dadurch notwendig, Versäulungstendenzen innerhalb des
ASD zu berücksichtigen, die aufgrund der normierenden rechtlichen Logik zwangsläufig entstehen.
Dies gilt vor allem dann, wenn durch die gesetzliche Versäulung sozialarbeiterischer Programme
Ausschlussverfahren generiert werden (vgl. die Kritik innerhalb der Sozialraumorientierung, etwa
Früchtel et al. 2007, 37). In Fallbesprechungen, die den fallbezogenen Hilfebedarf und die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27ff. SGB VIII klären, wird ein Ringen zwischen stellvertretender Beschreibung des Klientensystems durch die zuständige ASDFachkraft und den rechtlichen Zugangsschneisen deutlich. Übersetzungshandeln zwischen der Beschreibung der ASD-Fachkraft bis hin zur möglichen Übergabe des Falls an einen externen Hilfeerbringer, der wiederum Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27ff. nach eigener Deutung annimmt und
umsetzt, lassen zumindest einzelne Aspekte des Hilfebedarfs untergehen.
Der Rückbezug auf den gesetzlichen Ordnungsrahmen ermöglicht zudem eine flexible Handhabung der Komplexität organisationsinterner Verfahren. In Fallbesprechungen von ASD-Teams
wird die Möglichkeit genutzt, die Komplexität von Fallverläufen, adressatenbezogener Bedarfe und
der Teamkommunikation darüber je nach Zeitkontingenten den zur Verfügung stehenden gesetzlichen Säulen zuzuordnen. Vor allem bei vielschichtigen Problemkonstellationen wird das Oszillieren
zwischen nachhaltig wirksamen und gesetzlich möglichen Hilfemaßnahmen deutlich und schlägt je
nach verfügbaren Zeitkontingenten in Richtung des gesetzlichen Möglichkeitsrahmens aus. Feststellungen wie „Das ist eine 32er Hilfe“ versuchen dabei, die fallzuständige Fachkraft in einer Passung zwischen Organisation und Familie zu belassen und in beiden Richtungen handlungsfähig zu
bleiben. Prozesse struktureller Öffnung und Schließung der Programmatik des ASD beeinflussen
dabei den Alltag der Kooperationspartner und Adressaten grundlegend. Entscheidungen hinsicht-
55
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
lich der Rahmung von Ausschlussverfahren entlang der programmatischen Öffnung und Schließung sind dabei von Zeitkontingenten und anderen Faktoren abhängig.
Folgt man der Beschreibung Sozialer Arbeit als Gewährleistung der Freiheitsrechte durch Sicherung
der Grundversorgung, Legitimation der Gesellschaftsform und als Beitrag zur Transformation der
Gesellschaft (Erath 2004), stellt sich die rechtliche Legitimation sozialarbeiterischer Programme
zum einen als unverzichtbar dar, zum anderen erscheinen notwendige Abweichungen zur Erfüllung
der genannten Paradigmen als legitim.
Dies betrifft vor allem strukturelle, rechtlich nicht festgeschriebene Interventionen (´mehr als gesetzlich garantiert´), bspw. im Stadtteil notwendige Programme zur Inklusion von Jugendgruppen
(z.B. das Konzept Baskidball des Trägers ISO in Bamberg 5 ), aber auch die Abweichung von
schwammigen Begrifflichkeiten wie der der Geeignetheit und Notwendigkeit (vgl. § 27 Abs. 1 SGB
VIII; ´alternativ zur gesetzlichen Norm´). Die auf die Akteure wirkenden Kontexte unterscheiden
sich zwischen ASD-Fachkräften im Gegensatz zur Fach- und Dienstaufsicht der ASDs (Jugendamts-/Sachgebietsleitungen; vgl. zu strukturellen Konflikten für ASD-Leitungen Rudow 2010, 18)
und anderen primär gesetzesgebundenen Akteuren, weswegen unterschiedliche Interpretationen
von Geeignetheit und Notwendigkeit stets gegeben sind. Der interpretationswürdige Begriff der
Notwendigkeit lässt in der Praxis Fragen der Bedürftigkeit des Klientensystems auf Fragen der finanziellen Machbarkeit des Helfersystems prallen. Die Verpflichtung Sozialer Arbeit zum verantwortlichen Umgang mit (finanziellen) Ressourcen wird dadurch erkennbar, dass mancherorts
finanzielle Machbarkeit als Alleinstellungsmerkmal seitens der ASD-Fachkräfte toleriert wird, ohne
in der für den ASD relevanten Gesetzgebung aufzutauchen. Dieser informelle Finanzierungsvorbehalt, den Pluto et al. (2007, 415) in ihrer Studie offenlegen, zeigt die Möglichkeit der Flexibilisierung
der Anspruchsvoraussetzungen für öffentliche Hilfemaßnahmen auf.
Kooperation und rechtliche Kommunikation
Neben der Verschränktheit der rechtlichen Beschreibungslogiken innerhalb des ASD bestehen zudem strukturelle Kopplungen zu Organisationen, die dem Rechtssystem zugeschrieben werden.
Bedeutsam für die Arbeit der ASD-Fachkräfte erscheint neben der jugendamtsinternen die fallbezogene und fallunabhängige Kooperation mit den Familiengerichten.
Fallbezogen kooperiert der ASD mit den Familiengerichten in dem Sinne, dass die zuständige ASDFachkraft gegenüber dem Familiengericht bei Fragen des Sorgerechts, des Umgangsrechts und bei
der Ausübung des staatlichen Wächteramtes als Fachbehörde Stellung nehmen und Empfehlungen
abgeben soll. Das Familiengericht hat dabei v.A. die Möglichkeit, Entscheidungen hinsichtlich der
Sorgerechtskonstellation zu treffen, Umgangskontakte zu regeln und diesbezüglich Auflagen zu erteilen. Diese strukturelle Entscheidungssituation in der fallbezogenen Kooperation kann, wie Kindler (2007, 94) zutreffend anführt, innerhalb des ASD zu einer Übernahme von Entscheidungs- und
Handlungslogiken des Familiengerichts führen, genauer gesagt zur Antizipation von zukünftig mög-
5 Aufgrund der Potentiale einer digitalen Fachzeitschrift werden gelegentlich Verweise auf weiterführende Websites genannt: http://www.iso-ev.de/Content/show/Projekt/Baskidball/id/143/activeImageId/2, zuletzt aufgerufen am
30.07.2011
56
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
lichen Entscheidungen und Handlungen seitens der Familiengerichte. Der ASD antizipiert dabei,
entsprechend seiner Fähigkeiten als Organisation Sozialer Arbeit, Handlungslogiken anderer Akteure. Hierbei ist jedoch zu unterscheiden, inwieweit diese notwendige Antizipation die eigenen professionellen Standards überfärbt. 6 Dieses Phänomen könnte sich verschärfen aufgrund der
aktuellen Umsetzung des FamFG 7 , der zu erwartenden Einführung des BKiSchG 8 und der damit
einhergehenden Verpflichtung zur Intensivierung der Vernetzung, die weniger adressatenorientiert,
sondern vielmehr orientiert an der guten Beziehung zwischen den Organisationen ASD und Familiengericht ablaufen könnte. 9
Deutlich wird, dass die Reflexion von rechtlichen Beschreibungslogiken aufschlussreich für ASDinterne und -externe Abläufe sein kann. ASD-Fachkräfte nutzen die Potentiale der rechtlichen Logik, zugleich wirkt sie hinderlich für fall- und strukturbezogene Interventionen und untergräbt stellenweise das Selbstverständnis der SozialarbeiterInnen. Dies wird um so deutlicher, wenn übliche
Beschreibungen des ASD die programmatische Wechselwirkung zwischen ASD und Gesetz ernst
nehmen und in einen Gesetz-Methoden-Folgeschritt münden (vgl. etwa Maly 2010). Fallbezogen
bei Bedarf anschlussfähig an rechtliche Logiken zu sein und dabei professionelle Standards ausreichend zu berücksichtigen, stellt eine hohe Herausforderung an ASD-Fachkräfte dar.
Die Berücksichtigung rechtlicher Logiken, deren Offenlegung, deren Anwendung v.a. im Sinne der
AdressatInnen und die sich daraus ergebenden Entscheidungen und Handlungen ermöglichen die
Perspektive auf den Bedarf organisationaler und struktureller Gestaltung. Von Interesse ist abschließend, welche Potentiale rechtliche Kommunikation zur fallunabhängigen Strukturgestaltung
bereitstellt.
Potentiale strukturbezogenen Handelns durch rechtliche Kommunikation
Folgende Abbildung zeichnet eine Übersicht der für ASD-Fachkräfte relevanten Gesetze, die hinsichtlich organisationsbezogener, struktureller Interventionen und Argumentationen von Bedeutung sein können:
6 Kindler (2007, 94) weist darauf hin, dass bspw. die Gefährdungskategorie „emotional vernachlässigte Kinder“ durch
eine fehlende Passung zum Wissen rechtlicher Fachkräfte seitens des ASD, trotz entsprechenden Forschungsstandes über
die Beeinträchtigung für die Kinder und die Familien, weniger berücksichtigt wird. Demzufolge werden akute und isolierbare Gewaltanwendungen häufiger familiengerichtlich verhandelt, da diese passungsfähiger zum Rechtssystem erscheinen,
skandalisierbar sind und somit für ASD-Fachkräfte weniger komplex argumentierbar.
7 Abkürzung für das am 01.09.2009 eingeführte ´Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit´, das die Zusammenarbeit zwischen Familiengerichten, Jugendämtern u.A. regelt.
8 Abkürzung für das geplante ´Bundeskinderschutzgesetz´. Hinsichtlich der Positionierung der Bundesarbeitsgemeinschaft BAG ASD/KSD und den kritischen Anmerkungen zur Ausformulierung des Gesetzestextes siehe
http://www.bag-asd.de/, zuletzt aufgerufen am 31.08.2011.
9 Auf der Fachtagung „Netzwerke – Systeme – Sozialer Raum“ der dgssa in Jena am 16.07.2011 wurde deutlich, dass in
der Netzwerkforschung ein Paradigma der ´guten Beziehung´ zwischen den beteiligten Akteuren einen Wert an sich darstellt, dessen Abweichung aus Netzwerkperspektive als Defizit zu kennzeichnen ist. Eine derartige Interpretation von
interorganisationaler Vernetzung innerhalb der Sozialen Arbeit und mit anderen Organisationen kann dazu führen, dass
Akteure jenseits des Netzwerkhabitus exkludiert werden (vgl. hierzu bezogen auf die Soziale Arbeit Miller (2010, 45)).
Hinsichtlich der Kooperationsbeziehungen im Zuge des FamFG fällt dem ASD dabei neben der Akteursrolle die der
Moderatorin zu, die eine am Bedarf der Arbeitskreise ausgerichtete Klärung von professionellen Kooperationsbeziehungen voraussetzt.
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Gesetz
Inhalt der Gesetzestexte
Art. 6 GG
Regelung der Beziehung zwischen Familien und
•
staatlicher Gemeinschaft: Rangfolge von Recht und
•
Pflicht der Eltern zur Erziehung (Abs. 2) - Überwachung
durch die staatliche Gemeinschaft (Abs. 2) – Trennung
von Kind und Familie nur bei Versagen der Eltern bzw.
Gefährdungen aus anderen Gründen (Abs. 3)
Potentiale strukturbezogenen Handelns für den ASD
verfassungsrechtliche Grundlage des ASD
Nutzung durch ASD als Folie für die fallbezogenen
Interaktionen zwischen Helfer- und Klientensystem
§ 1 Abs. 1 SGB
VIII
Rechtsanspruch von Kindern und Jugendlichen auf
Förderung der Entwicklung und Erziehung zur
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit
•
§ 1 Abs. 3 Nr. 4
SGB VIII
Verpflichtung öffentlicher Familienhilfe, zu positiven
Lebensbedingungen und kinder- und
familienfreundlichen Umwelten beizutragen
•
Herstellung der Passung von Defizit/Bedarf und
Hilfeleistung auf struktureller Ebene
Aufdecken von strukturellen Defiziten der sozialen
Infrastruktur
Ermöglichung strukturbezogener Interventionen und
Programme
§ 2 SGB VIII
Beschreibung der Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe
•
•
•
§ 4 SGB VIII
Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit freien Trägern
und deren Vorrangigkeit (Subsidiaritätsprinzip)
•
•
§§ 16-18 SGB
VIII
Verpflichtung öffentlicher Familienhilfe zum
Beratungsangebot als Basisdienst (neben
Erziehungsberatungsstellen)
§ 27 Abs. 1 SGB
VIII
Rechtsanspruch der Sorgeberechtigten/Eltern auf
•
öffentliche Hilfen zur Erziehung bei Erziehungsdefiziten
•
•
•
§ 27 Abs. 2 und
Abs. 2a SGB
VIII
•
•
§§ 19, 27-35a
und 41 SGB
VIII
Fallkategorien und rechtlich anschlussfähiges
Leistungsspektrum des ASD mit Rechtsanspruch seitens
der Adressaten
§ 71 SGB VIII
§ 1626ff. BGB
und FamFG
•
•
•
•
Möglichkeit der Externalisierung von Programmen
und deren jugendamtsexterner Initiierung bei
verwaltungsbezogenen Hemmnissen
Verpflichtung zur Kooperation innerhalb der
sozialen Infrastruktur entlang der Bedarfe der
Adressaten
präventive Einflussnahme auf Fallverläufe
strukturelle Positionierung des ASD innerhalb der
sozialen Infrastruktur
fallbezogene Herstellung von Passung (geeignet) und
Verhältnismäßigkeit (notwendig) zwischen
Defizit/Bedarf und Hilfeleistung
fallbezogene Kommunikation über Passung zwischen
Bedarf und sozialer Infrastruktur
Möglichkeit der strukturellen Öffnung der stationären
Unterscheidung hinsichtlich der Hilfeerbringung
Hilfeerbringung jenseits professioneller Hilfen
durch Fachkräfte und Personen aus dem familiären
Umfeld („unterhaltspflichtige Personen“)
Vorrang professioneller Hilfeerbringung (siehe §§ 1619 und 28-35a)
•
•
•
§ 70 SGB VIII
Ausformulierung der Unterscheidung von Hilfe(Leistungen) und Kontrolle (andere Aufgaben)
Beeinflussung der Initiierung und Überwachung
stationärer Hilfeangebote
Aufteilung des Jugendamtes (JA) in Verwaltung des
JA und Jugendhilfeausschuss (JHA)
Zweigliedrigkeit des Jugendamtes; Klärung der
Beziehung zwischen JA und überörtlichem Träger
(Landesjugendamt)
•
rechtliche Regelung zur Beziehung der
Sorgeberechtigten zueinander und zu den Kindern
und Jugendlichen
rechtliche Regelung der Zusammenarbeit in
Familiengerichtsverfahren als sog.
Verantwortungsgemeinschaft
•
•
•
Bedarfsklärung und Fallsteuerung bei Hilfen zur
Erziehung; Überprüfung der Effekte versäulter
Fallkategorien für die soziale Infrastruktur
Möglichkeit fallkontextbezogener Interventionen
Möglichkeit von Gruppenangeboten zur Ergänzung
der Angebote der sozialen Infrastruktur
ASD als Bestandteil der Verwaltung ist nicht
zwingend Bestandteil des JHA und der
Jugendhilfeplanung
Aufgaben des ASD sind Ausführung der Beschlüsse
des JHA und die Geschäfte der laufenden
Verwaltung
Möglichkeit der fallbezogenen Externalisierung von
Entscheidungssituationen
Festigung der Beratungsrolle durch Externalisierung
von Fragen von Recht und Macht
Abb. 1: Potentiale strukturbezogenen Handelns durch rechtliche Kommunikation
58
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Abb. 1 zeigt die sich aus der rechtlichen und gesetzesbezogenen Kommunikation ergebenden Potentiale zur Gestaltung der sozialen Infrastruktur und Potentiale für strukturbezogene Interventionen für den ASD. Im Gegensatz zur Ebene der Fallarbeit und zum rechtlichen Habitus bleibt der
strukturbezogene Interventionsraum eher unklar und unterentwickelt. Sowohl rechtsintern formulierte Ansprüche als auch sozialarbeiterische Potentiale der Gestaltung der sozialen Infrastruktur
werden durch die aktuelle Ausformulierung v.a. des SGB VIII eher abgedeckt.
2.2 Perspektive der Politik
Eine weitere relevante Perspektive der Beschreibung des ASD stellt eine politisch-normative dar.
Politisch-normative Kommunikation beeinflusst die Organisation ASD sowohl auf programmatischer Ebene, als auch auf der Fallebene, wenn politisch-normative und sozialarbeiterische Haltungen sich in relevanten Entscheidungssituationen decken oder nicht decken. Politisch geförderte
Programme
wie
die
flächendeckende
Implementierung
von
präventiven
10
Kinderschutzprogrammen auf Bundesebene und parteipolitische Besonderheiten auf der Ebene
der Länder und der Kommunen wirken sich auf den ASD aus. Dabei wirken politisch gewollte
Programme als Impulse zur Entwicklung der eigenen Fachlichkeit innerhalb des ASD. Am Beispiel
des Kinderschutzes wird dies deutlich an einer Professionalisierung und damit einhergehenden
Formalisierung der organisationsinternen Verfahren, parallel zu einer sich verfestigenden „repressiven Wende“ (Lutz 2010, 44) innerhalb der Sozialen Arbeit.
Die politische Beschreibungslogik ist im ASD entsprechend der demokratischen Gewaltenteilung in
u.A. Judikative und Legislative eng mit der rechtlichen verwoben, weshalb beide Logiken in Wechselwirkung zueinander diskutiert werden müssen: politische Programme münden in Vorschriften
und Gesetze, rechtliche Regelungen stellen wiederum den Rahmen für die Programme dar. Der
Fokus auf politische Beschreibungslogiken eröffnet für den ASD den Zugang zu normativen, ökonomischen, medial-öffentlichen und weiteren Beschreibungslogiken. Diese werden dadurch für den
ASD und die ASD-Fachkräfte entlang der eigenen Verfahren beobachtbar. Es werden Fragen nach
Machtstrukturen im internen und gegenüber den externen Hilfesystemen reflektierbar, als auch
Macht- und Statusfärbungen in den Beziehungen zwischen Klienten- und Helfersystem. Folgerungen zur strukturellen Ausgestaltung von sozialen Räumen von Adressaten und der sozialen Infrastruktur legen das politische Mandat der Sozialen Arbeit offen, die im ASD greifen.
Im Folgenden sollen, wie unter 2.1. zur rechtlichen Perspektive geschehen, politisch-normative Beschreibungslogiken eruiert werden, die auf die Organisation und Programmatik des ASD wirken.
10
Die Bezeichnungen der einzelnen Programme in den jeweiligen Bundesländern sind dabei sehr unterschiedlich, in Bayern wurde die Bezeichnung ´Koordinierende Kinderschutzstelle´ (KoKi) gewählt. Zusammengefasst und auf Bundesebene koordiniert werden die einzelnen, meist bei der Jugendamtsverwaltung angesiedelten Programme über das Nationale
Zentrum Frühe Hilfen (NZFH: http://www.fruehehilfen.de/). Generelles Ziel der Programme ist der verlässliche, systemübergreifende Schutz von (Klein-)Kindern vor Gewalt und Vernachlässigung durch präventive Hilfen (vgl. GisselPalkovich 2011, 143f.).
59
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Dabei wird der aktuelle Diskurs über die Ausrichtung des ASD im Hinblick auf die Intensivierung
des Kinderschutzes in den Blick genommen und kritisch diskutiert.
Intensivierung des Kinderschutzes = Marginalisierung der Familienhilfe?
Die erhöhte Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien auf den ASD wirkt deutlich auf die strukturelle Ausgestaltung und die Programmatik des ASD. Schlagzeilen wie „Mehr Kinder in Obhut“
(Frankfurter Rundschau vom 16.07.2008, 6), „Jugendämtern droht Überlastung“ (FR 23.04.2009, 7)
und „Zahl der getöteten Kinder sinkt“ (FR 08.07.2010, 34) prägen dabei den fachlichen Diskurs
und verweisen auf die gesteigerte öffentliche Rechenschaftspflicht der Jugendämter. Die Zahl der
durch den ASD in Obhut genommenen Kinder verweist auf Effekte der Intensivierung des Kinderschutzes: Seit Einführung des § 8a SGB VIII im Oktober 2005, der den Kinderschutz detaillierter regelt und neben den Jugendämtern weitere Organisationen der öffentlichen Familienhilfe
einbezieht, sind die Zahlen der Inobhutnahmen deutschlandweit von 25847 (in 2006) auf 35418 (in
2010) um 37% gestiegen 11 .
Die im Gesetzestext verankerten Unterscheidungen in Gefahr/Nicht-Gefahr, Handeln/NichtHandeln und Schuldig/Nicht-Schuldig (vgl. Lieb et al. 2008, 257f.) verweisen auf den strukturell
angelegten Entscheidungs- und Handlungsdruck, der den Praxisalltag der ASD-Fachkräfte prägt.
Der Gesetzestext des § 8a SGB VIII suggeriert dabei durch seine Formulierung, dass anlässlich einer beobachteten Gefährdung eines Kindes eben das Handeln der zuständigen ASD-Fachkraft zur
Gefahrenabwehr führt oder auch nicht, und somit Fragen der Ursache und Schuld auf die ASDFachkräfte zielen:
Schuld
durch
Nicht-Handeln/Unterlassen
Schuld
durch
Handeln
Unschuld
durch
Nicht-Handeln/Unterlassen
Unschuld
durch
Handeln
Abb. 2: Zusammenhang von Schuld und Handeln im § 8a SGB VIII (in Anlehnung an Lieb et al. 2008)
Abb. 2 ermöglicht die Hervorhebung einer sich parallel zum Gesetzestext einstellenden Verschiebung hin zur Unschuld durch Handeln, und einer Sorge der ASD-Fachkräfte, sich durch unterlassene mögliche Schutzhandlungen schuldig zu machen. In Zusammenhang mit der gesteigerten
Rechenschaftspflicht der Jugendämter kann in Fallverläufen festgestellt werden, dass die fallbezogenen Teambesprechungen im ASD sich zwischen einer Tendenz zu Aktionismus und Schuldverhinderung gegenüber einer fachlich vertretbaren, nachhaltigen Unterstützung bewegen. Das eigene
nachweisbare Handeln (etwa eine beleg- und kommunizierbare Inobhutnahme) tritt dabei in Kon-
11 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland unter http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Sozialleistungen/KinderJugendhilfe/Tabellen/Content50/Schutzmassnahmen,templateId=
renderPrint.psml, zuletzt aufgerufen am 31.08.2011.
60
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
kurrenz zum Prinzip des Wohlergehens der Kinder und der Familien. Öffentlich weniger nachvollziehbare Interventionen, bspw. Kontextinterventionen oder Vereinbarungen im familiären Umfeld,
werden aufgrund des beschriebenen normativen Drifts unter den ASD-Fachkräften und den rechenschaftspflichtigen Jugendamtsleitungen weniger favorisiert und fallabhängig als Nicht-Handeln
verstanden. Dies verstärkt sich je nach Standing von Professionalität und ethischen Prinzipien Sozialer Arbeit im jeweiligen Jugendamt im Kontrast zu parteipolitischen Besonderheiten in der jeweiligen Kommune.
Festzustellen ist hinsichtlich der zu beobachtenden Intensivierung des Kinderschutzes in Deutschland, dass der Keim dieser Intensivierung im Diskurs über (bis zum Tod) vernachlässigte und misshandelte Kleinkinder zu verorten ist. Erwähnenswert erscheint diese Feststellung, da der Anlass der
öffentlichen Zuwendung zu Familien eben in den vernachlässigten und misshandelten Kindern
(Kinderschutz), weniger in den Bedarfen der Familien aufgrund der momentan veränderten strukturellen Anforderungen (Familienhilfe) zu sehen ist. Dies schlägt sich in den politisch geförderten
Veränderungen der ASD- und Jugendamtsprogrammatik nieder, indem eine klare Grenze zwischen
Kindern (Kinderschutz) und deren Familien (Familienhilfe) gezogen wird. Zu dieser Grenze trägt
die in der Programmatik des ASD verankerte Familialisierung von Fallverläufen bei, die kontextund strukturbezogene Interventionen eher vernachlässigt. Die Grenze zwischen Kinderschutz bzw.
Wächteramt und Familienhilfe verschiebt sich dabei auf zwei Ebenen: innerfamiliär von einer Unterstützung für Kinder und deren Familien hin zur Unterstützung von Kindern zum Schutz vor deren Familien, gesellschaftsstrukturell von einer Perspektive der Anforderungen an Familien in
modernen Gesellschaften hin zur Individualisierung familienbezogener Risiken.
Die Potentiale, die in einer Intensivierung der Unterstützung strukturell benachteiligter Familien
stecken können, werden durch den beschriebenen Perspektivendrift und die dadurch entstehende
Kontrastierung verdeckt. 12 Innerhalb der Programmatik stellt sich entlang der Intensivierung des
Kinderschutzes unter den ASD-Fachkräften und den weiteren kinderschutzbezogenen Entscheidungsträgern eine Kultur der Tabuisierung fachlich vertretbarer, nachhaltiger Hilfeangebote ein.
Kurzfristigen Maßnahmen zum Schutze von Kindern vor deren Familien wird dabei zur nachweisbaren Schuldvermeidung der Vorzug gegeben, wobei sich im ASD-internen Diskurs Haltungen
´pro Kind` vs. `kontra Kind` herauskristallisieren. ASD-Fachkräfte, die nach fachlich vertretbaren,
nachhaltigen Lösungen suchen, werden dabei im Zuge der Intensivierung des normativ gefärbten
Kinderschutzes dem ´kontra Kind´-Lager zugeschrieben.
Die durch eine derart verstandene Übersetzung der Intensivierung des Kinderschutzes entstehenden Sackgassen werden in Theorie und Praxis nur ansatzweise reflektiert. In einem Diskussionspa-
12
Das Bundesverfassungsgericht antwortete auf die beobachtbare Intensivierung des Kinderschutzes und die im Praxisvollzug einhergehende Kontrastierung von Kindern und deren Familien folgendermaßen: „Die Eltern und deren sozioökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes. Zum Wächteramt des
Staates zählt nicht die Aufgabe, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen“ (BVerfG 2010,
2333). Dieses Zitat aus einem Kammerbeschluss kann als Verweis auf den Vorrang der Elternrechte vor staatlicher Einmischung gewertet werden, und die Sorge, dass öffentliche Organisationen wie der ASD diesen Grundrechtsbestand verletzen.
61
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
pier der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe (AGJ 2010) mit dem Titel „ASD – Mehr
als Kinderschutz!“ wird anlässlich der Intensivierung des Kinderschutzes die Aufgabenvielfalt der
Programmatik des ASD hervorgehoben und eine Verengung des ASD auf das Wächteramt kritisch
bewertet. Kindler/Sann (2011) verweisen in einem kritischen Beitrag auf problematische Effekte
der Intensivierung des Kinderschutzes im deutschsprachigen Raum am Beispiel der sog. Frühen
Hilfen bzw. Frühwarnsysteme. Dabei werden drei Aspekte hervorgehoben, die auf die Programmatik des ASD übertragen werden können:
• wenig wirkungsvolle, flächendeckende Programme, die das Kontrollhandeln überbetonen,
ohne Fälle von Kindeswohlgefährdungen bekannt machen (etwa verpflichtende Hausbesuche des ASD mit verpflichtender sog. Inaugenscheinnahme der Kinder bei problematischer
Kooperation zwischen Kinderarzt und Eltern),
• Effekte der Stigmatisierung von Familien und wechselseitige Selbstverstärkung stigmatisierender Prozesse durch systematische Prävention,
• Erhöhung der staatlichen Einmischung mit dem Effekt, dass Gefährdungen bspw. durch
Rückgang der „Selbstmeldungen“ seitens der Familien selbst entstehen.
Es kann abschließend festgehalten werden, dass die politisch-normative Beschreibungslogik, hier
anhand der Akzentuierung des Kinderschutzes diskutiert, für das Klientensystem und die Helfersysteme problematische Effekte mit sich führt. Die politisch-normative Vorstellung, ausreichende Bedingungen des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen durch die dargestellten präventiven
und repressiven Maßnahmen herstellen zu können, muss seitens der Sozialen Arbeit und im Speziellen in der Programmatik des ASD im Hinblick auf die unterschiedlichen Beschreibungslogiken
übersetzt werden. Dabei werden Fragen auf mehreren Ebenen nicht ausreichend diskutiert:
Wer sind im jeweiligen ASD die Adressaten der verschiedenen Beschreibungslogiken?
Wie positioniert sich der ASD im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen zur Gegenüberstellung von
Hilfe und Kontrolle?
Wie wird diese Grenze entsprechend der professionellen und ethischen Prinzipien diskutiert?
Welchen normativen Rahmen legt der ASD bei der Feststellung von Gefährdungen zugrunde?
Ab wie vielen Inobhutnahmen und Fremdunterbringungen wird der normative Rahmen verflüssigt
und wer ist dabei in welcher Weise der Auftraggeber?
Wie können strukturelle Voraussetzungen im Hinblick auf die Ausbildung und die ressourcenbezogene Ausstattung der ASDs geschaffen werden?
2.3 Perspektive Sozialer Arbeit
In der Beschreibungslogik Sozialer Arbeit laufen die genannten und weitere Perspektiven zusammen und werden in der Programmatik des ASD und im Entscheiden und Handeln der ASDFachkräfte aufeinander bezogen. Im Folgenden sollen nach einem kurzen geschichtlichen Abriss
die Effekte des Wirkens der verschiedenen Perspektiven auf die Programmatik und die ASDFachkräfte differenziert dargestellt werden.
62
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
„Familienfürsorge gilt als der Inbegriff dessen, was sich angehende Sozialarbeiter ersparen möchten“ 13
Die Perspektive Sozialer Arbeit hat in der Organisation ASD schrittweise Einzug gehalten. Die von
Kasakos formulierten Vorbehalte gegenüber der Einarbeitung mehrerer Perspektiven in sozialarbeiterische Professionalität könnte einer der Gründe gewesen sein.
Dem heutigen ASD ähnliche Organisationsformen reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Die anfangs ehrenamtlich organisierte kommunale Armenpflege wurde schrittweise überführt
in die Familienfürsorge, eine Art Vorläuferin des heutigen ASD (vgl. Gissel-Palkovich 2011, 17ff.).
Erste Versuche, nach 1945 die Organisation und Programmatik des ASD zu beschreiben, sind in
den unter dem Schlagwort „Neuorganisation Sozialer Dienste“ geführten Diskussionen zu verorten. Diese mündeten ab 1975 in mehrere Stellungnahmen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle
für Verwaltungsvereinfachung (KGST) und des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV). Diese Stellungnahmen wurden jedoch aufgrund der ehemals vorwiegend therapeutischen Orientierung der sozialarbeiterischen Praxis nicht entsprechend diskutiert, programmatische
und organisatorische Fragestellungen wurden in Zeiten des sogenannten Therapiebooms nicht ausreichend erörtert (vgl. Krieger 1994, 50).
Die seither wohl effektivsten Veränderungen der ASD-Programmatik können in der Anwendung
von Methoden der systemischen Fallarbeit (vgl. Ritscher 2005), der Sozialraumorientierung (vgl.
hierzu für die Stadt Rosenheim Budde et al. 2006 und Pichlmeier/Rose 2010) und des Case
Mangement (vgl. Hermsen et al. 2006 und Löcherbach et al. 2009) gesehen werden. Sozialraumorientierung und Case Management bieten dabei Konzepte für bedarfsorientierte Veränderungen auf
der Ebene der Organisation an.
Anforderungen an die Programmatik des ASD
Dem ASD wird innerhalb der sozialen Infrastruktur hohe Bedeutung hinsichtlich Professionalität
und fachlich fundiertem Handeln zugeschrieben. Er gilt als die organisationale Einheit in der Kinder- und Jugendhilfe mit der höchsten Akademisierungsdichte (92%, vgl. AGJ 2010, 3). Dem ASD
fallen dementsprechend Aufgaben der Fachberatung als zentrales kommunales Steuerungsinstrument der sozialen Infrastruktur zu. Positive Effekte für die Qualität der Familienhilfe in den jeweiligen Kommunen sind über eine ausreichende personelle Ausstattung des ASD auch im
Zusammenspiel mit den freien Trägern, Beratungsstellen und weiteren Kooperationspartnern
erwartbar. Der ASD als fachlicher Multiplikator wirkt somit auch indirekt auf die bestehende soziale Infrastruktur und trägt zur Gestaltung von bedarfsgerechten Programmen bei. Betrachtet man
die problematischen Arbeitsbedingungen und die weiterhin vergleichsweise geringe Bezahlung der
ASD-Fachkräfte, wird dieser Anspruch mancherorts eingetauscht gegen ein an Kinderschutz und
Budgetverwaltung orientiertes Verwaltungshandeln in Krisensituationen (vgl. Biesel 2011, 46). Die
wegen der fehlenden Anreize zur Tätigkeit im ASD aus der Not geborene Einstellung von BerufseinsteigerInnen verschärft diese Entwicklung zudem.
13
Kasakos (1980, 13), zitiert aus Textor (1994, 8).
63
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Im Diskurs über die programmatische Ausgestaltung des ASD lassen sich mehrere Dimensionen
herausarbeiten, die durchgängig leitende Fragestellungen zur ASD-Organisation ermöglichen (in
Anlehnung an Landes 2010, 143ff.):
• Wie generalisiert bzw. spezialisiert arbeitet der ASD?
• Inwieweit ist der ASD sozialräumlich orientiert?
• Unter welchen Bedingungen wird ein Fall an einen externen Leistungserbringer vergeben?
• Inwieweit berücksichtigt die ASD-Programmatik Bedarfe der sozialen Infrastruktur?
Die Positionierung des ASD innerhalb dieser Felder führt an die jeweilige programmatische Ausgestaltung heran. Der ASD ist dabei von einer fachlich anspruchsvollen Vielfalt geprägt, die sowohl
fallbezogene als auch strukturelle Interventionen betrifft. Der ASD als Organisation und die einzelnen ASD-Fachkräfte stehen dabei vor der Aufgabe, verschiedene Methoden, Rollen und organisationale Aufgaben (Teamentwicklung, infrastrukturelle Bedarfsklärung) in einem Wechsel
struktureller Öffnung und Schließung der Organisation umzusetzen. Dies wird seitens der ASDFachkräfte in der gegebenen Vielfalt, Diffusität und Ambivalenz erlebt. Die Heterogenität,
Diffusität und Ambivalenz der (Praxis-)Perspektive Sozialer Arbeit soll im Folgenden hinsichtlich
der Programmatik und Organisation des ASD besprochen werden und Fragen von Kooperationen
und Kopplungen bearbeiten.
Heterogenität der ASD-Programmatik
Um das heterogene Feld der öffentlichen Familienhilfe und den ASD als organisationale Einheit
dieses Feldes beschreiben zu können, sind grundlegend die strukturellen und losen Kopplungen auf
der Ebene der Organisationen sichtbar zu machen. Dem ASD haftet der Anspruch an, seine
Kenntnis über die sich in diesem Feld bewegenden verschiedenen Professionen und Funktionslogiken in Kooperationen und Hilfeleistungen übersetzen zu können:
64
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Abb. 3: Kooperationen in der ASD-Programmatik
Diese ausbaufähige Darstellung zeigt mögliche KooperationspartnerInnen des ASD, ohne diese
zwingend in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Mögliche Systematisierungen können sinnvollerweise in den einzelnen ASDs vorgenommen werden. 14 Verdeutlicht werden soll die
Vielfalt und Unterschiedlichkeit der kooperierenden Organisationen, deren Ansprüche an Zusammenarbeit an den ASD als Basisdienst adressiert werden können. Inwieweit verlässliche Vereinbarungen mit den jeweiligen Organisationen bestehen, ist je nach sozialer Infrastruktur und
Kooperationskultur unterschiedlich. Deutlich wird dabei in der Praxis, inwieweit einzelne Akteure
für die Herstellung von Passungen im Sinne der Vernetzung notwendig sind (vgl. hierzu Miller
2010, 45).
Die Anforderungen an den ASD ergeben sich durch diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit der kooperierenden Akteure und unterschiedliche Kopplungsintensitäten. Hierbei ist keinesfalls nach der
Maßgabe ´je enger desto besser´ vorzugehen, sondern wiederholt eine an den Bedarfen der Familien und den Hilfeprozessen ausgerichtete Analyse der Kooperationsbeziehungen vorzunehmen. In
der Praxis wird wiederholt deutlich, dass Sinnhaftigkeit und Anspruch von Kooperationsbeziehun-
14
Tenhaken (2010, 93) bietet eine Systematisierung an, die sich an der im Folgenden verwendeten Unterscheidung in ein
internes und externes Hilfesystem orientiert. Pluto et al. (2007, 617) benennen die aus der Perspektive der Jugendämter
wichtigsten Kooperationspartner. Dabei wird deutlich, dass der Kooperation mit dem externen Hilfesystem deutlich mehr
Bedeutung zugesprochen wird als jugendamtsinternen Kooperationen.
65
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
gen stets thematisiert werden müssen. Interinstitutionelle Zusammenarbeit wird dabei als notwendiges Übel beschrieben bzw. als zum guten Ton gehörend innerhalb der sozialen Infrastruktur. Die
durch interprofessionelle Beziehungsarbeit aufgeladene Kooperationskultur kann in diesem Zusammenhang kritisch hinsichtlich der Effekte für Adressaten hinterfragt werden.
Beispielsweise sollte in Zusammenarbeit mit den hilfeerbringenden Einrichtungen das öffentliche
Bild in die Überlegungen einbezogen werden. Bei Kooperationsgesprächen mit der Erziehungsberatungsstelle oder den FamilienhelferInnen ist darauf zu achten, ob die Grenze zwischen behördlicher Sozialarbeit (inkl. der Rolle des Wächteramtes) und hilfeerbringenden Einrichtungen (meist
jugendamtsexterne freie Träger) professionellen Standards entsprechend gewahrt wird und seitens
der Adressaten auch so beobachtet werden kann. Eine durchgängige Färbung der öffentlichen Familienhilfe mit Fragen des Kinderschutzes als Kontrastierung zur Unterstützung von Familien hat
weitreichende Konsequenzen für das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen.
Deutlich wird in Abb. 3 auch, dass aufgrund der hohen Anzahl unterschiedlicher Akteure Hemmungen hinsichtlich der Reflexion und Gestaltung der Kooperationsbeziehungen bestehen können.
Die hierbei zu treffenden Entscheidungen, mit wem wie kooperiert wird, erweisen sich aufgrund
der programmatischen Erfordernisse für Kooperationsentscheidungen als Erschwernis. Ergänzend
ist anzumerken, dass der Jugendhilfeausschuss als Instrument der Planung der sozialen Infrastruktur nur in Ausnahmen ausreichend genutzt wird (vgl. Pluto et al. 2007, 340f.), die Beteiligung des
ASD ist dabei nicht gesetzlich verpflichtend. Der Jugendhilfeausschuss als Ort der Übersetzung
von Kooperationsbeziehungen in bedarfsorientierte Programme kann seitens der ASD-Fachkräfte
somit nicht ausreichend genutzt werden. Kooperationsbemühungen haben aufgrund der fehlenden
Anbindung des ASD an die kommunale Jugendhilfeplanung wenig strukturelle Bedeutung und verbleiben dabei zu oft in losen, personenbezogenen, informellen Kopplungen.
Als Folge nicht ausreichend reflektierter und strukturwirksamer Kooperationsbeziehungen kommt
es in der Fallarbeit zum Verharren auf den jeweiligen Vorstellungen von Zuständigkeit und NichtZuständigkeit. Eine Klärung von Fragen der Kooperation und Zuständigkeit erscheint vor allem im
Hinblick auf Krisensituationen notwendig. In einer kritischen Betrachtung von Fallverläufen kann
herausgearbeitet werden, dass problematische Kooperationsbeziehungen zwischen Fachkräften in
Zusammenhang mit der Kooperationsbereitschaft von Familien gebracht werden können. Dabei ist
zu beobachten, dass Fachkräfte im Spannungsverhältnis zwischen interorganisationaler Kooperation und komplexen Fragen der Fallarbeit dazu tendieren, interorganisationale Kooperationsschwierigkeiten zum Nachteil der Adressaten in ausbleibende Kooperation der Familien/Eltern/etc. zu
übersetzen. Vor allem aufgrund der Verpflichtung zur Stellungnahme gegenüber Familiengerichten
sind dabei fatale Effekte im Einzelfall beobachtbar. Fragen des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen werden dabei verkürzt auf Fragen der Kooperationsbereitschaft der Eltern.
Verschärft wird dieses Problem zudem durch die gesetzesbezogene Fokussierung auf einzelne Kinder und deren Familie: „Strukturelle Probleme der Gesellschaft, wie Arbeitslosigkeit, Armut oder
soziale Brennpunkte, werden häufiger als Problem mit gravierenden Auswirkungen auf die Jugendhilfe wahrgenommen als andere Problemlagen, für deren Lösung es eine originär sozialpädagogische Kompetenz gibt“ (Pluto et al. 2007, 89). Hierbei verweisen die Autoren der Studie ´Kinder-
66
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
und Jugendhilfe im Wandel´ darauf, dass unter derartigen strukturellen Bedingungen ein Drift zur
Individualisierung struktureller Problemlagen zu beobachten ist. Fehlende Programme zur Strukturgestaltung und ein individualisierendes „Abarbeiten“ struktureller Problemlagen werden seitens
der ASD-Fachkräfte neben der Vielfalt an Problemlagen der Adressaten als belastend erlebt (vgl.
Pluto et al. 2007, 89f.).
Diffusität und Ambivalenz in der ASD-Prgrammatik
Die anhand der Kooperationsbedingungen offengelegten heterogenen Ansprüche an den ASD
verweisen auf Diffusität und Ambivalenz der ASD-Programmatik. ASD-Fachkräfte befinden sich
im Praxisalltag in Situationen, die unklar und widersprüchlich erscheinen. Dies wird anhand der
Annahme der Allzuständigkeit des ASD deutlich. Die unterstellte Allzuständigkeit wird aufgrund
eines möglichen generalistischen Dilettantismus kritisch diskutiert (Greese 2005, 9f.), um auf das
fehlende Professionalisierungsprofil eines für Alle und Alles zuständigen ASD hinzuweisen. Der
Begriff Allzuständigkeit wird bei Kleve (2003, 95ff.) aufgenommen und für die Grundlegung Sozialer Arbeit als postmoderne Profession in einen doppelten Generalismus (universeller und spezialisierter Generalismus) übertragen.
Die Handhabung von diffusen und unklaren Situationen kristallisiert sich im ASD heraus zu organisationsinternen Konfliktthemen. Im Gegensatz zum auf Klarheit und Eindeutigkeit bezogenen
rechtlichen und politischen Kommunikations- und Beschreibungsmodus finden sich ASDFachkräfte mit der fall- und strukturbezogenen Diffusität und Ambivalenz in einem strukturellen
Spannungsfeld wieder. Ein Anspruch professioneller Sozialarbeit auf organisationaler Ebene kann
dabei in der Akzeptanz des Diffusen einhergehend mit einem den Prinzipien Sozialer Arbeit entsprechenden Umgang mit diffusen Beziehungen, Situationen und Strukturen gesehen werden. Als
generelle Frage kann unter Einbeziehung der diffusitäts- und ambivalenzsteigernden Akteure formuliert werden: Wodurch also werden diffus und ambivalent erlebte Situationen und Strukturen für
ASD-Fachkräfte kategorisier- und bearbeitbar?
Zur Steigerung der Diffusität trägt bei, dass die beschriebene Heterogenität der ASD-Arbeit phasenweise mit nicht ausreichenden zeitlichen Ressourcen in Verbindung steht und dadurch unter
Zeitdruck unübersichtliche Situationen entstehen. Durch den generellen Anspruch an die ASDFachkräfte, „stets kompetent, schnell und zuverlässig im Hinblick auf die Erfüllung seiner zahlreichen Aufgaben“ zu handeln (AGJ 2010, 13), und dies entlang den Strukturmaximen Allzuständigkeit und Erst- und Letztzuständigkeit, werden Situationen generiert, die oft auch aufgrund der
Gleichzeitigkeit der Anforderungen an die einzelnen Fachkräfte als komplex und diffus erlebt werden. Diese für die Fachkräfte erlebbare Diffusität wird auf mehreren Ebenen deutlich:
• in der Handhabung von ungeklärten Beziehungen zu einzelnen Fachkräften und kooperierenden Organisationen hinsichtlich der jeweiligen Kompetenzen und Zuständigkeiten,
• in der Handhabung von jugendamtsinternen Kompetenzverteilungen, auch hinsichtlich
zwar wirkmächtiger, jedoch unter Umständen intransparenter Hirarchieebenen,
67
Journal der dgssa
•
•
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
in der Kommunikation zwischen organisationsinternen und –externen Akteuren, bspw. in
der wechselseitigen Übersetzungsleistung zwischen verwaltungsinternen Vorgaben hinsichtlich (finanzieller) Ressourcen und rechtlichem Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB VIII, 15
in diffusen Übergängen und Zwischenstufen im eigenen Erleben der Fallarbeit (beispielhaft
für die Tätigkeit im ASD ist hierfür der Wechsel zwischen sogenannten Gefährdungsfällen
bzw. der Rolle des Wächteramtes und Beratungssituationen, in welchen Klienten als Klagende agieren).
Wie sich also positionieren als ASD-Fachkraft hinsichtlich der Potentiale für diffuse und ambivalente Situationen und Strukturen? Welche Mechanismen der Verarbeitung von Unsicherheit werden
im ASD generiert? Kleve (2003, 90ff.) hat in seiner Begründung der Sozialen Arbeit als postmoderne Profession den Begriff Ambivalenz zugrunde gelegt. Daran anschließend wird Ambivalenz in
seinem widersprüchlichen Charakter und hinsichtlich der Frage der Passung/Nicht-Passung
scheinbar sich widersprechender Anforderungen verstanden und in der Interpretation der Praxis
des ASD Verwendung finden.
Widersprüchlichkeiten und beobachtbare Passungen und Nicht-Passungen sind permanent Gegenstand sozialarbeiterischen Handelns und Reflektierens im ASD. Konkretisierbar wird diese These
für den ASD in der Ambivalenz des doppelten Mandats von Hilfe und Kontrolle. Diese Gegenüberstellung kann aufgrund seiner klaren Formulierung die vielfältigen Rollen des ASD in der Interaktion mit Klientensystemen anschaulich machen und zur Transparenz von Hilfeprozessen
beitragen. Es bleibt jedoch die Frage, inwieweit die Gegenüberstellung von Hilfe und Kontrolle als
professionelle und fachlich begründbare Handlungs- und Reflexionsfolie dienlich sein kann. Die
Suche nach Alternativen zur Gegenüberstellung von Hilfe und Kontrolle als professionelle Leitunterscheidung erscheint dabei aufgrund der fehlenden Passung der Begriffe und problematischer
Folgewirkungen als notwendiger Schritt seitens Profession und Disziplin.
In Zusammenarbeit mit den Familien sind ASD-Fachkräfte gesetzlich verpflichtet, bei erzieherischen und sonstigen familiären Problemlagen sog. notwendige und geeignete Hilfen zu generieren (vgl. § 27ff. SGB VIII). Dabei ist zwischen den Bedarfen der Familie, der (eigenen) fachlichen
Erörterung des Hilfebedarfs und den zur Verfügung stehenden Hilfeleistungen im sozialen
Nahraum eine Passung herzustellen. Der ASD bearbeitet dabei v.a. in Fällen der Vernachlässigung
und Misshandlung kontingente und ambivalente Übergänge in der Interaktion mit den Familienmitgliedern und den kooperierenden Akteuren. Die sich dabei ergebenden Widersprüche sind sei-
15
Öffentliche Verwaltungen, v.a. auf kommunaler Ebene, haben aufgrund der momentanen Konjunktur hinsichtlich der
sog. „Konsolidierung des Bundeshaushaltes“ und der kommunalen Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB VIII die
Aufgabe, die Nichtgewährung rechtlicher Ansprüche in einen nachvollziehbaren Sinnzusammenhang (bspw. nachhaltiger
Umgang mit Ressourcen im Hinblick auf nachfolgende Generationen, Zwänge durch föderalistische Zuständigkeitsvorgaben) zu bringen. Formulierungen wie „Kommunalverwaltung handelt engpassorientiert“ stehen dabei im krassen Gegensatz zur normativ aufgeladenen Debatte um die Erfordernisse des politisch geforderten Kinderschutzes und den
dadurch entstandenen Anforderungen an ASD-Fachkräfte.
68
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
tens der ASD-Fachkraft zu thematisieren, um das Verhältnis zwischen Passung und Nicht-Passung
des Hilfeprozesses offenzulegen und Modifikationen zu ermöglichen. Die Kenntnis der Adressaten
über die Thesen der Fachkräfte (z.B. hinsichtlich der geäußerten Bedarfe der Eltern und den notwendigen Vereinbarungen hinsichtlich einer positiven Entwicklung der Kinder) sind grundlegender
Bestandteile erfolgreicher Hilfeprozesse.
Ambivalenz auf der Ebene der ASD-Prgrammatik lässt sich anschließend an Abb. 3 in der Unterscheidung zwischen ASD, internem und externem Hilfesystem und Klientensystem verdeutlichen.
Die heterogenen Kooperationsbeziehungen des ASD lassen sich hierbei kategorisieren, um die unterschiedlichen und widersprüchlichen Facetten der ASD-Arbeit herausarbeiten zu können:
Abb. 4: Unterscheidung in internes und externes Hilfesystem (in Anlehnung an Simmen et al. (2003, 178))
Abb. 4 macht durch ihre Unterscheidungen die Grenze zwischen internem Hilfesystem (kommunal
verwaltete öffentliche Kinder- und Jugendhilfe) und externem Hilfesystem (freie Träger, öffentliche
Institutionen und weitere Kooperationspartner außerhalb des Jugendamtes) deutlich. Diese Grenze
wird für ASD-Fachkräfte als Widerspruch deutlich, wenn (externe) Fragen des Anspruchs auf Hilfemaßnahmen mit (internen) Fragen der Gewährung von Hilfen kollidieren. Poller/Weigel verweisen dabei auf die strukturelle Geschlossenheit des ASD, wenn zu klären ist, welche Konstellationen
zwischen internem Hilfesystem und der Umwelt zu Fällen generiert werden: „Um die Eigenstabilität aufrecht zu erhalten und bestimmte Erwartungsmuster zu bedienen, bildet jede Organisation ein
spezifisches Regelsystem heraus. Dies ist nur möglich, wenn die Organisation sich gegenüber externen Anforderungen so weit abschotten, auf sich bezogen und selektiv agieren kann, um ein entsprechend beschränktes Kommunikations- und Handlungsmuster herauszubilden. Die sich auf
diese Weise herausbildenden Routinen ermöglichen einerseits erst den Umgang mit der Komplexität und Vielfalt des Fallgeschehens, andererseits beschränken sie eine offene, der Besonderheit des
Einzelfalls angemessene Wahrnehmung der Ausgangsproblematik“ (Poller/Weigel 2010, 58). Aufgabe der ASD-Fachkräfte ist dabei, zwischen den widersprüchlichen Systemlogiken hin- und her-
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Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
zuwechseln und die eigene Position im internen Hilfesystem zu reflektieren. Ein konstruktiver Umgang mit derlei ambivalenten und diffusen Konstellationen und deren Aufrechterhaltung erscheint
dabei als Basis des professionellen Selbstverständnisses von ASD-Fachkräften.
Ein weiteres Spannungsverhältnis ergibt sich aus den sich widersprechenden Rollen einer (Jugend)Amtsmitarbeiterin und Sozialarbeiterin. Übliche Übersetzungsversuche dieses Widerspruchs können aufseiten der ASD-Fachkräfte ein radikales Hilfeparadigma generieren (vgl. Krieger 1994,
18ff.), welches der komplexen Aufgabenstellung im ASD jedoch nicht entsprechen kann. Anhand
Abb. 4 kann zudem die Frage gestellt werden, wie sich die einzelne ASD-Fachkraft zwischen den
beiden Hilfesystemen und den Adressanten positioniert und welche Effekte dadurch für die jeweiligen Anforderungen an den ASD erwartbar sind. ASD-Fachkräfte sind, wenn sie sich entsprechend
ihres Auftrags zwischen den verschiedenen Polen positionieren, eingespannt in ein Geflecht sich
widersprechender Positionen der Leitungsebene, Hilfeerbringer und Adressaten. Die bei Fortbildungen für ASD-Fachkräfte beschworene Haltung „Verantwortungen zurückgeben“, stößt dabei an
ihre Grenzen und behandelt die Frage unterkomplex, gegenüber welchen gesellschaftlichen Akteuren sich Soziale Arbeit in der Verantwortung sieht. Fragen der Verantwortung und des Selbstverständnisses von ASD-Fachkräften drohen dabei in einem fall- und kooperationsbezogenen
`Kleinklein` abgedeckt zu werden und Potentiale, die in einer sozialarbeiterischen Beschreibung des
ASD zu sehen sind, zu wenig zu nutzen.
3. Weiterführende Fragestellungen: Diskurs über einen ASD der Sozialen Arbeit in modernen Gesellschaften
Der Bedarf an organisationsbezogener Reflexion und der Weiterentwicklung der ASDProgrammatik wird anhand der drei in Wechselwirkung zueinander stehenden Beschreibungsformen deutlich. Die verschiedenen, im ASD wirkenden Logiken erscheinen dabei für Profession
und Disziplin Sozialer Arbeit ungenügend herausgearbeitet, was sich in Praxisvollzügen in heterogenen, diffusen und ambivalenten Strukturen äußert. Das aktuelle Diskursangebot zur Normalisierung von Kontrolle bearbeitet die beschriebene Multiperspektivität Sozialer Arbeit im ASD dabei
rückschrittlich. Die Positionierung der ASD-Fachkräfte in diesem Diskurs wird dabei beeinflusst
von alternativen Theorieangeboten, wobei deren Ausbleiben und fehlende Qualität zur Normalisierung von Kontrolle beitragen dürfte.
Als abschließender Beitrag zum Diskurs über die Weiterentwicklung der Programmatik des ASD
werden im Folgenden themenbezogen leitende Fragen formuliert:
Positionierung und Interpretation des ASD in modernen Gesellschaften
Wie lässt sich das Programm des ASD in einem Diskurs zwischen Profession und Disziplin beschreiben? Wie können die verschiedenen Beschreibungslogiken und die sich daraus ergebende
Ambivalenz und Diffusität herausgearbeitet und nutzbar gemacht werden?
Wie wird in den Beschreibungen deutlich, dass der ASD eine für Soziale Arbeit bedeutsame Organisation in modernen Gesellschaften darstellt? Welche Interventionsrichtungen (fallbezogen, Fallumfeld, Sozialstruktur) sind dabei weiterzuentwickeln?
70
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
Welche Themen und Fragestellungen sind seitens der Disziplin Sozialer Arbeit zu thematisieren
und bislang unzureichend bearbeitet?
Wie lässt sich ein positives Bild des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen, bspw. entlang
der positiven Indikatoren des UNICEF Innocenti Research Centre (vgl. Lippman et al. 2009 16 ),
jenseits von Gefährdungsszenarien beschreiben?
Ausbildung Sozialer Arbeit, Fachentwicklung und ASD
Wie kann in den Hochschulen und weiteren Orten der Fachentwicklung eine Passung zwischen
Ausbildung Sozialer Arbeit und dem ASD hergestellt werden, um das sozialarbeiterische Profil der
ASD-Programmatik zu schärfen? Welche Lücken müssen in der disziplinären Ausbildung geschlossen werden, um ASD-Fachkräfte handlungsfähig für einen `ASD der Sozialen Arbeit in modernen
Gesellschaften´ zu machen?
Wären `ASD-Akademien´ umsetzbar, die einen strukturellen Verbund zwischen ASDs, Hochschulen und Landesjugendämtern darstellen und die organisationale und programmatische Entwicklung unterstützen? Wie können Feldberichte von ASD-Fachkräften und disziplinäre
Fachentwicklung strukturell gekoppelt werden?
Praxis Sozialer Arbeit im ASD
Wie können ASD-Fachkräfte durch Fachverbände wie den DBSH und durch Hochschulen unterstützt werden, die eigene Praxis mit ausreichenden Zeitressourcen und fachlich vertretbaren Positionen auszustatten?
Wie lässt sich die Programmatik eines `ASD als Soziale Arbeit in modernen Gesellschaften` auf
Ebene der Fallarbeit, der Fallumgebung und Sozialstruktur/sozialen Infrastruktur ausformulieren?
Wie kann das Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Rollenbilder und Verfahren des ASD übersetzt
werden? Wie beeinflusst die Intensivierung des Kinderschutzes Aspekte der anwaltschaftlichen
Vertretung der Adressaten?
Welche fallbezogenen Verfahren ermöglichen eine strukturelle Anbindung und Folgerungen zur
Strukturgestaltung? Wie müssten sich die Organisation und die Verfahren des ASD verändern, um
sozialraum- und strukturbezogene Interventionen zu provozieren?
Welche Orte der Strukturgestaltung sind vorhanden (etwa Jugendhilfeausschuss, Sozial- und Armutsberichterstattung) und können strukturell an den ASD gekoppelt werden?
16
Die von den Autoren vorgenommene Rahmung zum Diskurs über positive Indikatoren `des Kindeswohls` ist kostenfrei zu beziehen unter `http://www.unicef-irc.org/publications/580`.
71
Journal der dgssa
Beitrag: Soziale Arbeit im ASD
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Autorenhinweis
Artur Neif, Jahrgang 1980, wohnt aktuell in Nürnberg, Bayern. Studium der Sozialen Arbeit (Dipl.)
an der Universität Bamberg von 2002 bis 2007, Schwerpunkte: Familienhilfen, systemische Soziale
Arbeit und sozialraumorientierte Konzepte. Von 2008 bis 2011 tätig im ASD, Kreisjugendamt
Neumarkt i.d.OPf. Seit Oktober 2011 Masterstudium der Sozialen Arbeit an der Universität
Eichstätt. Mitgliedschaft im DBSH seit 2006. Korrespondenzadresse: artur.neif@ku-eichstaett.de.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
Inklusion und soziale Ungleichheit
Martin Hafen
Zusammenfassung
Der Nutzen der systemtheoretischen Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion’ zur Beschreibung von
sozialer Ungleichheit wird kontrovers diskutiert. Während einige nicht spezifisch systemtheoretisch
argumentierende Autoren der Unterscheidung jeglichen Nutzen für die Beschreibung sozialer Prozesse absprechen, erscheint sie aus systemtheoretischer Sicht für die Beschreibung des Verhältnisses
von Mensch und Gesellschaft unverzichtbar – gerade im Kontext der Sozialen Arbeit. Dabei fällt
auf, dass die systemtheoretische Argumentation ihre gewohnte Tiefenschärfe bei der Nutzung der
Inklusions-/Exklusionsunterscheidung nicht immer erreicht. So ist z.B. unklar, ob das aktive Ausgrenzen eines Jugendlichen aus einer Gruppe von Gleichaltrigen („Hau ab, du Versager!“) als Inklusion oder als Exklusion einzustufen ist. Einerseits wird der Betroffene in der Kommunikation
als relevant erachtet (Inklusion); gleichzeitig soll er aus der Gruppe aber auch ausgeschlossen werden (Exklusion). In diesem Beitrag wird vorgeschlagen, die Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion‘
in Zusammenhang mit anderen wichtigen Unterscheidungen der soziologischen Systemtheorie wie
‚Operation/Beobachtung‘ oder ‚Form/Medium‘ zu stellen, um in der Folge ‚soziale Ungleichheit‘
mit Unterscheidungen wie ‚Inklusion/Inklusionsfähigkeit‘ und ‚Exklusion/Exklusionsgefahr‘ präziser fassen zu können.
Abstract
The usefulness of the systems theoretical distinction ‚inclusion/exclusion’ for the description of
‚social inequality’ is controversially discussed. While some authors with no specific systems theoretical line of argumentation deny the distinction’s usefulness for the description of social processes
categorically, in a systems theoretical perspective the distinction seems to be indispensable for the
description of the relation of man and society – above all in the context of Social Work. In this
process we see that, using the distinction ‘inclusion/exclusion’, the systems theoretical argumentation doesn’t always reach its usual precision. For example it is unclear if the active expulsion of a
youth out of a peer group (“Get lost, you loser!”) is to be seen as inclusion or as exclusion. On the
one hand the youth is treated as relevant vor communication (inclusion), on the other hand the
group tries to bar him from the group (exclusion). In this article it is suggested to put the distinction ‘inclusion/exclusion’ in relation to other important distinctions of the sociological systems
theory as ‘operation/observation’ or ‘form/medium’ in order to be able to comprehend ‘social inequality’ more precisely using distinctions as ‘inclusion/ability of inclusion’ or ‘exclusion/danger of
exclusion’.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
1. Einleitung
In den letzten Jahren hat sich die soziologische Systemtheorie zunehmend mit dem Phänomen der
sozialen Ungleichheit auseinandergesetzt und dabei der Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion’ eine
zentrale Bedeutung zugemessen (vgl. z.B. Kronauer 2002, 2010 oder die Aufsätze in Stichweh
2005a und in Schwinn 2004), was sich auch auf die systemtheoretische Beobachtung der Sozialen
Arbeit ausgewirkt hat (vgl. etwa Bommes/Scherr 2000, Kleve 2003, Merten/Scherr 2004,
Hosemann/Geiling 2005, Hosemann 2006, Hünersdorf 2009) . Ein wichtiger Faktor für die Einleitung dieser Entwicklung war, dass Luhmann neben seinem grundlegenden Aufsatz zur Inklusions/Exklusionsunterscheidung (1995) seinen Blick in mehreren Publikationen (etwa: 1995b, 147f.;
1997, 631ff.) auf 'Exklusionszonen' 1 wie die brasilianischen 'Favelas’ resp. auf langfristige Exklusionen aus mehreren Funktionssystemen gelenkt hat – Exklusionen, welche mit dem System der Sozialen Arbeit die Ausdifferenzierung eines sekundären Funktionssystems 2 begünstigen, "das sich
mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befasst". 3
In der Diskussion um den Nutzen der Inklusions-/Exklusionsunterscheidung zur Beschreibung sozialer Ungleichheit (Schwinn 2004) scheiden sich die Geister: Esser (2004, 179) z.B. ist der Ansicht,
dass sich die soziologische Systemtheorie bei ihrem Versuch, soziale Ungleichheit mit der Inklusions-/Exklusionsunterscheidung zu erfassen, "vollends als – unvollständiger und methodologisch
ohnehin immer schon höchst unbefriedigender – Spezialfall" des Modells soziologischer Erklärung
erweise, wenigstens insoweit als mit 'Inklusion’ und 'Exklusion’ "endgültig die menschlichen Akteure als relevante Einheiten des sozialen Geschehens (wieder-)entdeckt werden". Giegel (2004, 114)
anerkennt zwar, dass die Theorie der funktionalen Differenzierung der Ungleichheitsproblematik
zu wenig Aufmerksamkeit schenkt; er ist aber im Gegensatz zu Esser nicht der Meinung, dass dieses Defizit mit der "systematischen Anlage" der Systemtheorie zu erklären sei. Gestützt wird er dabei u.a. durch Stichweh (2004), Nassehi (2004) und Bommes (2004), die Vorschläge unterbreiten,
wie die Schwächen der Systemtheorie in Hinblick auf die Beschreibung sozialer Ungleichheit mit
den Mitteln der Systemtheorie behoben werden könnten, wobei Unterscheidung Inklusion/Exklusion in der Argumentation dieser Autoren ebenfalls einen zentralen Stellenwert einnimmt.
1 Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang auch die räumliche Komponente von ‚Zone‘ – erstaunlich, weil Systeme in
dieser Theorie bekanntlich als Differenzen (von System und Umwelt) und damit raumlos konzipiert sind.
2 Luhmann bezieht sich an dieser Textstelle auf Baecker (1994) und Fuchs/Schneider (1995), von denen er auch den Begriff des 'sekundären Funktionssystems' übernimmt.
3 Ob es sich beim System der Sozialen Arbeit um ein eigenes Funktionssystem handelt oder ob die Soziale Arbeit ihre
Leistungen im Kontext anderer Funktionssysteme erbringt, wird diskutiert (vgl. dazu u.a. die Aufsätze in Merten 2000).
Im Übrigen ist noch kein Konsens darüber erreicht, ob von einem System der sozialen Hilfe, der Sozialen Arbeit oder gar
der Sozialarbeit gesprochen werden soll. Wir gehen hier davon aus, dass die Herausbildung von Funktionssystemen maßgeblich an Organisationsbildung und Professionalisierung gebunden ist, dass aber nicht organisierte und nicht professionalisierte Kommunikationen in einem Funktionsbereich trotzdem zur Reproduktion der Funktionssysteme beitragen. So
ist nicht professionelle Hilfe (Nachbarschaftshilfe, innerfamiliäre Hilfe etc.) sowohl von der Form als auch von der Funktion her als Hilfe einzustufen, die zur Reproduktion des Systems der sozialen Hilfe beiträgt. Das System der Sozialen Arbeit entspricht in diesem Sinn einem Subsystem des Systems der sozialen Hilfe – einem Subsystem, in dem professionelle
Hilfe geleistet oder präventiv versucht wird, Hilfeanlässe zu verhindern. Vgl. zu dieser Diskussion Hafen (2005a, 177).
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
Und auch die Systemtheorie Sozialer Arbeit ist auf dem Weg, die Unterscheidung Inklusion/Exklusion mit sozialer Ungleichheit zu verbinden, wobei es in Hinblick auf die Möglichkeit der
Zusammenführung der beiden Ansätze auch hier kritische Stimmen gibt (etwa Hillebrandt 2004).
Dieser Text schliesst an die genannten Bemühungen an, die Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion’
aus systemtheoretischer Perspektive und am Beispiel der sozialen Ungleichheit zu reflektieren. Die
folgenden Überlegungen setzen bei der Annahme an, dass auch in dieser neueren (systemtheoretischen) Diskussion um die Inklusions-/Exklusionsunterscheidung zu wenig beachtet wird, dass Inklusion und Exklusion ursprünglich als Begriffe zur Beschreibung operativer Prozesse konzipiert
waren, dass sie aber gemeinhin (auch bei Luhmann) zusätzlich (und ohne entsprechende Begründung) Potentialitäten im Sinne von ‚Inklusionsfähigkeit’ oder ‚Exklusionsbedrohung’ markieren 4 .
Die daran anschliessende These ist, dass diese begriffliche Unschärfe mit dafür verantwortlich ist,
dass die Leistungsfähigkeit der Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion’ zur Beschreibung sozialer
Phänomene wie Ungleichheit nicht vollständig ausgeschöpft ist. 5
Die Argumentation wird dadurch eingeleitet, dass zunächst die Unterscheidung 'Inklusion/Exklusion' in Bezug zur systemtheoretischen Typisierung von sozialen Systemen gestellt wird;
in der Folge werden die Begriffe 'Inklusion’ und 'Exklusion' mittels Unterscheidungen wie 'Operation/Beobachtung' (Beobachten) und 'Aktualität/Potentialität' (Sinn) respezifiziert; alsdann geht es
darum, die Begriffe im Kontext des Inklusion/Exklusion-Konzeptes (Person, soziale Adresse,
Adressabilität, Mensch, Individuum etc.) in Bezug zur Medium/Form-Unterscheidung zu stellen,
und zum Abschluss wird diskutiert, inwiefern die spezifizierten systemtheoretischen Konzepte sich
auf die Beschreibung sozialer Phänomene wie Ungleichheit auswirken könnten.
2. Inklusion/Exklusion und die Typisierung sozialer Systeme
Von Inklusion ist nach Luhmann (1995, 241) die Rede, wenn "im Kommunikationszusammenhang
Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden" 6 . Die 'Menschen' werden damit nicht wie
von Esser befürchtet zu "Einheiten sozialen Geschehens"; vielmehr werden sie als Personen inkludiert (Luhmann 1994a, 429). 'Personen' sind dabei nicht als Systeme (weder psychische noch physische) konzipiert, sondern als Strukturen sozialer Systeme, welche die Zuschreibung (Selektion) von
Handlungen ermöglichen und den Spielraum möglichen Verhaltens einschränken. Es sind – anders
formuliert – also die sozialen Systemen, die Menschen als Personen konstruieren und mit einer sozialen Adresse versehen, welche die Erwartung den Individuen in einem System prägen. Dieser
4
Anders formuliert geht es darum, dass Operativität an Gegenwart gebunden ist, während Potentialität Zukunft ins Spiel
bringt, was unter anderem auch für die Prävention von entscheidender Bedeutung ist (vgl. dazu Hafen 2005a). Wir werden
nachfolgend bestrebt sein, diese Differenz anhand der Unterscheidung von Operation und Beobachtung nachzuzeichnen.
5 ‚Ungleichheit’ dient dabei lediglich als Anlass für eine theorietechnische Grundlagendiskussion. Eine elaborierten Gegenüberstellung systemtheoretischer und klassen- resp. milieuspezifischer Konzepte von ‚Ungleichheit’ wird hier nicht
angestrebt.
6 Wir schliessen uns hier Fuchs (1997, 63) an und beschränken den Inklusionsbegriff nicht auf Menschen, sondern auf
alle "Weltereignisse", die adressabel sind – also z.B. auf schwanzwedelnde, hechelnde Hunde, denen durch eine nachfolgende Kommunikation ("Freust du dich, mein Goldschatz!?") die Mitteilung einer Information zugeschrieben wird.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
Punkt ist für Professionen wie die Soziale Arbeit von entscheidender Bedeutung: Ob eine Klientin
im Rahmen einer Sozialberatung als hoffnungslose Versagerin behandelt wird, die nichts auf die
Reihe kriegt, oder ob sie als fähige, ressourcenvolle Person in einer schwierigen Lebensphase konstruiert wird, das wirkt sich auf den Verlauf der Beratungskommunikation in entscheidendem Ausmass aus. 7
Die Unterscheidung Inklusion/Exklusion ist demnach darauf ausgerichtet, Phänomene der Kopplung von sozialen und psychischen/körperlichen Systemen zu beschreiben. In Hinblick auf die sozialen Systeme liegt der Fokus bei Luhmanns (1995, 262f.) Verständnis von Inklusion und Exklusion
auf dem Gesellschaftssystem, d.h. auf den Gesamtzusammenhang aller Kommunikationen. Aus
dieser Perspektive setzt er sich mit den bereits erwähnten so genannten 'Exklusionsbereichen' (z.B.
Favelas oder Ghettos in Grossstädten) auseinander. Luhmann argumentiert, dass in diesen Exklusionsbereichen einiges dafür spreche, dass Menschen nicht mehr als Personen, sondern vor allem als
Körper erfasst würden, was sich unter anderem in einer erhöhten Bereitschaft zu körperlicher Gewalt manifestiere. Diese systemtheoretische Auseinandersetzung mit Phänomenen der Ungleichheit
hat einige Beachtung gefunden – in der Form von Anerkennung, dass sich die Systemtheorie einem
solchen Thema annimmt, aber auch in der Form von Kritik, die sich u.a. im Vorwurf äussert, die
Systemtheorie erreiche in diesem Bereich ihre sonstige theoretische Tiefenschärfe nicht (vgl. dazu
etwa Kronauer 2010, 27).
Ein Kritikpunkt an Luhmanns Konzept von Inklusion und Exklusion ist seine Fokussierung auf die
Gesellschaft. So spricht Luhmann (1997, 632) davon, "dass die Variable Inklusion/Exklusion in
manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken
und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren". Ob eine Unterscheidung wie Recht und
Unrecht überhaupt zum Zuge kommt und ob sie nach systeminternen Programmen behandelt
wird, hänge dann in erster Linie von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab.
Für Stichweh (1997, 132) ist Luhmanns These, die Differenzierung von Inklusion und Exklusion
schiebe sich als Primärdifferenzierung vor die funktionale Differenzierung, nicht einleuchtend.
Vielmehr sei von einer Weltgesellschaft auszugehen, die auf globalisierten, auf Inklusion basierenden Funktionssystemen aufruhe. In diese Weltgesellschaft sei eine Vielzahl von Exklusionsbereichen eingebettet, die unter einander nicht vernetzt seien – vergleichbar mit schwarzen Löchern,
über deren Binnenstruktur beinahe nichts bekannt sei und deren Anziehungskraft man sich kaum
entziehen könne, wenn man sich ihnen einmal angenähert habe. Mit seiner Metapher spielt
Stichweh auf die Kumulationen von Exklusion an, die auch durch Luhmann erkannt werden: keine
Arbeit, kein Geld, keine Familie, keine Wohnung etc. – Exklusionskumulationen, die einen zentraler Ansatzpunkt der Sozialen Arbeit darstellen 8 .
7
Vgl. zu diesem Aspekt auch Eugster (2000).
Richtet man den Blick auf die Prozesshaftigkeit solcher Exklusionen, dann kann man mit Fuchs/Schneider (1995, 209)
von einem "Exklusionsdrift" resp. vom "Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom funktionaler Differenzierung" sprechen: Es
kann sich polizeilich nur registrieren lassen, wer Arbeit hat; Arbeit bekommt man jedoch nur, wenn man polizeilich registriert ist.
8
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
Sieht man die Gesellschaft mit Luhmann (1997, 16) und Fuchs (2001, 111) als das alle andern sozialen Systeme umfassende Kommunikationssystem und damit als die Gesamtheit aller Kommunikation, dann stellt sich die Frage, warum die Kommunikation, die in den durch Luhmann
beschriebenen Exklusionsbereichen fraglos reproduziert wird, nicht mit der Differenz von Inklusion und Exklusion zu fassen ist. Auch in den Favelas wird geliebt und gestritten, gehandelt und erzogen, und es ist davon auszugehen, dass auch Rechtsnormen und Hilfeleistungen Strukturwert
gewinnen – wenngleich sie nicht ins staatliche, politisch legitimierte Rechts- oder Hilfesystem eingebunden sind. Wie oben gezeigt wurde, steht der Inklusionsbegriff ja dafür, dass Menschen für die
Kommunikation als relevant erachtet werden, d.h. dass sie in der Kommunikation als Adressaten
für die Zuschreibung von Mitteilungshandlungen selegiert werden. Dies legt nahe, die Inklusions/Exklusionsdifferenz nicht nur für die Gesamtgesellschaft und die Funktionssysteme einzusetzen,
sondern auch für die beiden andern Ebenen gesellschaftlicher Differenzierung: Organisation und
Interaktion – dies zumindest ansatzweise gegen Luhmann (1997, 619), der die Systemreferenz ‚Gesellschaft‘ in den Vordergrund stellt.
Nassehi/Nollmann (1997, 401f.) argumentieren in unserem Sinn, wenn sie schreiben, dass "die Inklusion von Menschen in die Gesellschaft in erster Linie über Organisationen" läuft, dass also Organisationen "gewissermassen zu den Inklusionsinstanzen der modernen Gesellschaft" werden, die sich fast
immer in einer intermediären Position zu den Funktionssystemen befinden. 9 So seien sowohl die
materielle Versorgung als auch die politische Partizipation, der Erwerb von Bildung, die Inanspruchnahme öffentlicher oder privater Fürsorge, die Produktion von Wissen etc. an Organisationen gebunden. Der Vorteil des rigiden, aber partiellen Zugriffs auf Menschen über die
Organisationsmitgliedschaft müsse jedoch mit dem Nachteil bezahlt werden, dass Inklusion kontingent gestaltet sein müsse. Im Gegensatz zu den Funktionssystemen sei aber nicht die Inklusion
der Normalfall, sondern die Exklusion, da Organisationen mit Ausnahme der hochselektiv ausgewählten Mitglieder alle Personen ausschliessen. Für Nassehi/Nollmann (1997, 404) sind Organisationen demnach der "empirische Ort, an dem Inklusion von Menschen in die moderne Gesellschaft
und ihre Funktionssysteme stattfindet", und sie weisen darauf hin, dass nicht nur die Differenz
Mitgliedschaft/Nicht-Mitgliedschaft und die formalen Strukturen (z.B. Rollen) in Organisationen
Ungleichheiten bewirken. Vielmehr brächten "kommunikative Fertigkeiten im informalen Bereich
subtilere Formen ungleicher Positionszuweisungen hervor", denen man etwa durch formale Programme der Chancengleichheit (Frauenförderung, Quotenregelung etc.) nicht beikomme.
Nassehi/Nollmann (1997, 409) runden ihre Argumentation mit der These ab, dass die Phänomene
einer Inklusionstheorie der funktional differenzierten Gesellschaft erst dann empirisch sichtbar werden, "wenn theoretisch zwischen Inklusionen in Funktionssysteme des Gesellschaftssystems und Inklusionen/Exklusionen bezüglich Organisationsmitgliedschaft unterschieden wird". Hier wäre
gerade in Hinblick auf die Soziale Arbeit anzufügen, dass Inklusion in Organisationen nicht nur
über Mitgliedschaft erfolgt. Vielmehr entscheiden die Organisationen Sozialer Arbeit (z.B. eine So-
9 Die Nähe von Inklusion/Exklusion und Organisation wird auch in der Systemtheorie der Sozialen Arbeit gesehen, etwa
bei Hosemann/Geiling (2005, 140), die schreiben, dass die „Exklusionsprobleme und -erfahrungen… insbesondere auf
der Systemebene Organisationssystem sichtbar“ werden.
79
Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
zialberatung) nach ihren Programmen, ob jemand als Klient oder Klientin inklusionsfähig ist oder
eben nicht. Inklusion durch Hilfe erfolgt in diesen Organisationen demnach immer vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Nichthilfe (Baecker 1994, 100).
Bevor wir uns vertieft damit auseinandersetzen, wie Inklusion (und Exklusion) in Organisationen
und Funktionssysteme zustande kommt, wollen wir uns kurz mit der Frage beschäftigen, ob es
nicht zur Schärfung einer Systemtheorie der Inklusion/Exklusion beitragen könnte, wenn auch die
Systemebene 'Interaktion' in die Überlegungen miteinbezogen wird. Die These ist, dass Interaktion
als Kommunikation unter der Bedingung wechselseitiger Wahrnehmbarkeit (Luhmann 1997, 814)
immer wieder auch Inklusionen reproduziert, die wohl durch die Gesellschaft (als Gesamtheit aller
Kommunikation), nicht aber durch die Funktionssysteme und auch nicht durch Organisationen abgedeckt sind. In andern Worten: Neben interaktiven Inklusionen, die in struktureller Kopplung zu
Organisationen und Funktionssystemen erfolgen (Gerichtsverhandlungen, Schulunterricht, Vorstandssitzungen etc.), gibt es immer wieder auch interaktive Kommunikation, die weder in Organisationen noch in Funktionssystemen zu Anschlüssen führen – etwa ein Gespräch unter Nachbarn
in einem Stadtquartier. Führt man diesen Gedanken weiter, so sind ohne weiteres auch Argumente
dafür zu finden, die Inklusions-/Exklusionsunterscheidung zusätzlich auf Systeme anzuwenden, die
vornehmlich interaktiv operieren und dabei nicht als formale Organisationen einzustufen sind, aber
doch über Strukturen verfügen, die jenen von Organisationen ähnlich sind – etwa Freundschaften,
Peer-Groups und nicht formal organisierte Netzwerke, die über je eigene Kriterien der Inklusion/Exklusion verfügen. Es kann hier nicht darum gehen, die formalen Merkmale solcher Systemtypen herauszuarbeiten. 10 Vielmehr geht es um die Feststellung, dass die oben eingeführte abstrakte
Definition für Inklusion – die Bezeichnung und damit das relevant Erachten von Menschen im
Kommunikationszusammenhang – für alle Formen von sozialen Systemen gilt. Die Erweiterung
des Schemas Inklusion/Exklusion ermöglicht dann, die Inklusions-/Exklusionsmechanismen dieser
Systeme zu beschreiben oder Individuen darauf hin zu beobachten, wie sie ihre Inklusionschancen
in solchen Systemen zu erhöhen versuchen 11 .
3. Die Form von Inklusion und Exklusion
Nach dem Vorschlag, die Inklusions-/Exklusionsunterscheidung nicht nur in Hinblick auf die Gesellschaft und die Funktionssysteme, sondern auf alle Formen sozialer Systeme zu anzuwenden, soll
der Blick auf die Frage gelenkt werden, in welcher Form Inklusionen und Exklusion in resp. aus so-
10
Vgl. dazu etwa die Ausführungen von Luhmann (1995) zu (in seinem Beispiel meist kriminellen) Netzwerke der wechselseitigen Gunsterweisung, die "über einen eigenen Mechanismus der Inklusion bzw. Exklusion" (1995, 253) verfügen
und zur Schliessung von Lücken beitragen, die durch die schwindende Bedeutung der Familie entstehen.
11
So können bestimmte nicht erwünschte Verhaltensweisen wie Rauchen oder Rauschtrinken als Inklusions/Exklusionskriterien in Peer-groups beschrieben werden, welche die Gruppenidentität stärken. Aus der Perspektive der
Individuen erhöht es dann die Inklusionschancen in diese Gruppen, wenn sie sich diesen Verhaltensweisen nicht enthalten. Vgl. dazu Hafen (2005b/2006).
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
zialen Systemen erfolgen. Einen ersten Schritt zu dieser Formbestimmung wollen wir mit Hilfe der
Unterscheidung von Operation und Beobachtung machen.
Luhmann (1994b, 73) definiert Beobachten in Anlehnung an das mathematische Kalkül von George Spencer Brown als Operation des Unterscheidens und Bezeichnens. Jede Beobachtung besteht
demnach in der simultanen Wahl einer Unterscheidung und der Bezeichnung der einen Seite dieser
Unterscheidung. Fuchs (1999, 48) kommt zum Schluss, dass es sich bei Operation und Beobachtung um die Figur einer – zwangsläufig paradoxen – Einheit einer Zweiheit handle: "Dieses Eine passiert als Eines und als Zweierlei, diese Operation passiert als Operation und Beobachtung. Sie ist EINS
und ZWEI. Sie ist selbstunterschieden.“ Man sehe nicht, ohne etwas zu sehen, höre nicht, ohne etwas
zu hören, und natürlich sei es unmöglich, das Hören zu hören oder das Denken zu denken, ohne es
als Etwas zu denken. Wir haben es also mit einem Beobachtungsbegriff zu tun, der zwei unterschiedliche Ebenen vereint: die Ebene des Konstruierens (Operation) und die Ebene der Konstruktion (Beobachtung). 'Beobachten' ist demnach (wie jede Form) als grundsätzlich paradoxe Form zu
sehen (Luhmann 1993, 101). 12
Mit dem Entscheid, die Form der Inklusion anhand der Unterscheidung von Operation und Beobachtung zu analysieren, schliessen wir zumindest ansatzweise an den Vorschlag von Nassehi
(2004, 335) an, eine operative Theorie der Inklusion/Exklusion zu entwickeln und "folgerichtig
nach denjenigen Operationen zu fragen, die dafür sorgen, dass Personen für relevant gehalten werden
– oder eben nicht". Bei der Inklusion sei der Fall einfach: "Es geht darum, wie Personen in und
durch Kommunikationen erzeugt werden, als Sprecher, als Akteure, als Thema, als Bezieher von
Leistungen, als Mitglieder etc." Exklusion ist nach Nassehi (2004, 336) in diesem Sinn "eine explizite Operation sozialer Systeme, die weitere Kommunikation mit bestimmten Personen explizit ausschliesst". Entscheidend sei dabei, dass es sich bei einer solchen Operation selbst um eine
inkludierende Operation handle (vgl. auch Stichweh 2005b, 187f.), denn die betreffende Person
werde zumindest in einem exkludierenden Sinn für relevant gehalten.
Zu beachten ist bei dieser Deutung des Schemas Inklusion/Exklusion vor allem, dass Nassehi nicht
nur von 'Inklusion' spricht, wenn eine Person im Rahmen eines Gesprächs adressiert wird, sondern
auch dann, wenn es um die zukünftige (mögliche) Inklusion von Personen geht. Luhmann (1997,
620) argumentiert ähnlich, wenn er schreibt, dass Inklusion als Form zu begreifen sei, "deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Aussenseite unbezeichnet bleibt." Auch die Rede von der 'Chance' führt eine Perspektive ein,
aus welcher 'Inklusion' als Potentialität in einer mehr oder weniger fernen Zukunft beschrieben
wird. Wir können daraus schliessen, dass Nassehi und Luhmann wie auch andere systemtheoretische Autoren (etwa Stichweh) von einer doppelten Deutung von 'Inklusion' ausgehen. Bei der ersten Deutung bezieht sich die Inklusion auf strukturell gekoppeltes personales System in der Umwelt
des inkludierenden Kommunikationssystems. Das bedeutet, dass das inkludierende soziale System
12
Wir werden in Kap. 4 darlegen, dass es in der soziologischen Systemtheorie zwei Varianten des Formbegriffs gibt, die
aufeinander bezogen sind: die eben beschriebene Form als Einheit einer Differenz und die Form als Bezeichnungsleistung
(mit de Saussure gesprochen: als signifié) vor dem Hintergrund eines Mediums.
81
Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
und das (als Person) inkludierte Individuum, resp. sein psychisches System und seine körperlichen
Systeme im Modus der konditionierten Koproduktion, also gleichzeitig operieren. Bei der zweiten
Deutung von Inklusion geht es um die Chance, als Person sozial berücksichtigt zu werden. 'Chance'
verweist auf Zukunft und ist daher operativ nicht bestimmbar, denn die Operation ist als Ereignis
immer gegenwärtig. Das heisst, dass 'Chance' lediglich eine Konstruktionsleistung auf der Ebene
der Beobachtung darstellt, die sich auf künftige Inklusionsmöglichkeiten bezieht, und dass die 'Person' hier nur Thema der Kommunikation ist, nicht aber auf eine strukturell gekoppelte (psychische
und körperliche) Umwelt verweist.
Die systemtheoretische Diskussion um Inklusion und Exklusion und die dadurch aufgeworfenen
Fragen (z.B. ob in den 'Exklusionsbereichen' wirklich keine Inklusion erfolgt) regen zur Überlegung
an, ob zusätzliche Klarheitsgewinne erreicht werden könnten, wenn darauf verzichtet wird, sowohl
die gegenwärtige als auch die zukünftige Relevanz von Personen in der Kommunikation mit den
gleichen Begriffen (Inklusion/Exklusion) zu erfassen. Möglicherweise argumentieren Göbel/Schmidt (1998, 91) in diese Richtung, wenn sie bemerken, "dass die primär wissenssoziologisch
fundierte Luhmannsche Gesellschaftstheorie bei der Frage von Inklusion und Exklusion den Zusammenhang (und die Differenz) von Semantik und Struktur nicht klar benennt". Die Unterscheidung 'Systemstruktur/Semantik' lässt sich auf eine ähnliche Weise in Bezug zur Unterscheidung
'Operation/Beobachtung' setzen wie 'Inklusion/Exklusion': Während die Strukturen auf der operativen Ebene bei jeder Kommunikation aktualisiert werden und dabei unbeobachtbar bleiben, ist die
Semantik der Ebene der Beobachtung (der Bezeichnungen, der Texte, der Konstruktionen) zuzuordnen, wobei die semantischen Beobachtungen natürlich selbst auch immer Operationen darstellen, die strukturiert werden. 13 Gerade wenn man 'Struktur' wie Luhmann (1994a: 399) 14 an
Ereignisse, d.h. an Operationen knüpft, liegt es nahe, das Schema 'Inklusion/Exklusion' auf die gegenwärtige Relevanzerachtung strukturell gekoppelter personaler Systeme zu beschränken, denn
'Person' und 'soziale Adresse' sind nichts anderes als Bezeichnungen für Systemstrukturen (Fuchs
2004, 129ff.; Luhmann 1991, 174) 15 .
Fuchs (2003, 28) geht diesen Weg, wenn er schreibt, dass das Schema Inklusion/Exklusion „an aktuelle (nur so mögliche) Koproduktion“ gebunden ist. Der Bezug auf lebende Menschen schliesse nicht
aus, das Schema Inklusion/Exklusion auch auf tote Menschen oder Menschen in der Zukunft anzuwenden, resp. die Inklusions-/Exklusionsmodi im entsprechenden Zeitraum zu untersuchen. In
Anlehnung an Luhmann (1994a: 515) kann man sagen, dass das Schema Inklusion/Exklusion nicht
13
In Anschluss an Stichweh (2000) (und in Übereinstimmung mit den Ausführungen zur Systemreferenz von Inklusion/Exklusion in Kap. 2) gehen wir davon aus, die Unterscheidung von Systemstruktur und Semantik dabei nicht wie bei
Luhmann (1998) auf die gesellschaftliche Perspektive beschränkt bleibt, sondern dass die Differenz in jedem System laufend reproduziert wird.
14
Die referierte Stelle lautet: "Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend."
15
So schreibt Luhmann an besagter Stelle: "Die Form Person dient ausschliesslich der Selbstorganisation des sozialen
Systems, der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer" und "Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen".
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
nur auf die aktuelle Gegenwart, sondern auch auf vergangene und zukünftige Gegenwarten angewendet werden kann – auf Gegenwarten also, für die eine Kopräsenz der Menschen oder Leute angenommen werden kann. Entscheidend für unser Thema ist die Limitierung des Inklusionsbegriffs
auf die Ebene der (zwangsläufig gegenwärtigen) Operativität und damit auf alle Konzepte, die auf
dieser operativen Ebene angesiedelt sind und die sich mit der Differenz von (sozialem) System und
(psychischer, körperlicher resp. 'personaler') Umwelt befassen. In andern Worten: Das Schema Inklusion/Exklusion bleibt in dieser Fassung auf die Beschreibung von operativen Phänomenen der
strukturellen Kopplung, der Interpenetration, der konditionierten Koproduktion 16 und der Differenz von Erleben und Handeln (Luhmann 1994a, 124f., 161f.) beschränkt. Alltagsnäher ausgedrückt bedeutet dies, dass ‚Inklusion‘ ausschliesslich in dem Moment stattfindet, in dem ein Mensch
als Person als relevant beobachtet wird. Das ist z.B. in einem Beratungsgespräch der Fall, in welches die Sozialarbeiterin und der Klient im Turnus inkludiert werden. Es erscheint aus dieser Perspektive mehr als plausibel, dass die reduzierte Inklusionsfähigkeit des Klienten in diesem Kontext
nur Thema ist und sich nicht auf die Inklusion im Beratungssystem auswirkt. Im Gegenteil: Durch
seine eingeschränkte Inklusionsfähigkeit wird dieser Mensch als Klient erst zu einer relevanten Person im System der Sozialen Arbeit. Die generell reduzierte Inklusionsfähigkeit wird also zur Voraussetzung für die Inklusion in die sozialarbeiterische Beratung.
Wenn wir den Blick auf die andere Seite der Inklusion richten, dann lassen sich auch die Konzepte
der 'bestimmten Exklusion' (im Gegensatz zur 'unbestimmten Exklusion') von Nassehi (2004, 337),
der 'Exklusion als Inklusion' (Stichweh, 2004, 357) oder der ‚expliziten Exklusion als exkludierende
Inklusion‘ (Farzin, 2006, 100) hinterfragen. Anders ausgedrückt: 'Exklusion' als operativer Begriff
kann immer nur die "nicht bezeichnete kommunikative Irrelevanz des Individuums" darstellen, "die
Art und Weise, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen nicht bezeichnet, also für irrelevant gehalten werden" (Göbel/Schmidt 1998, 95). Nach dem hier vorausgesetzten Verständnis
von Inklusion und Exklusion fallen diese Nicht-Inklusionen (bei Nassehi: 'unbestimmte Exklusionen'; bei Stichweh: 'Exklusionen als negationsfreies Geschehen') massenhaft an, da jeder Mensch in
jedem Moment nur in ganz wenigen Systemen als Person relevant, dafür aber in zahlreichen Systemen als Unperson, als Gesamtheit der aktuell ausgeschlossenen, aber auch möglichen Attributionen
(Fuchs, 2003, 31) gegenwärtig nicht relevant ist.
Mit der Formulierung, dass "die bestimmte Exklusion auf Operationen verweist, die die Ausschliessung zum Thema machen und die Teilnahme bestimmter Personen an der Interaktion ausschliessen",
bezieht sich Nassehi (2004, 337) nicht auf die Bestimmtheit der Gegenwart, sondern auf die Potentialität der Zukunft. Selbst die von Nassehi gebrachten Beispiele – die aktive 'Exklusion' einer Per-
16
Vgl. zu diesen Konzepten Luhmann (1994a, 286ff. und 1997, 92ff.) sowie Fuchs (2002a und 2003, 81ff.). An der einzigen Stelle, an welcher Luhmann in Soziale Systeme (1994a, 299) Bezug auf die Unterscheidung Inklusion/Exklusion
nimmt, tut der dies eindeutig mit diesem operativen Verständnis: "Interpenetration führt zur Inklusion insofern, als die
Komplexität der beitragenden Systeme von den aufnehmenden Systemen mitbenutzt wird. Sie führt aber auch zur Exklusion insofern, als eine Mehrzahl von interpenetrierenden Systemen, um dies zu ermöglichen, sich in ihrer Autopoiesis
voneinander unterscheiden müssen." Es gehe primär darum, "dass stärkere Interpenetration mehr Inklusion und mehr
(wechselseitige) Exklusion erfordert". Das daraus resultierende Problem werde durch die Individualisierung der Personen
gelöst.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
son durch Flüstern, Wegdrehen oder die unmittelbare Aufforderung zu verschwinden – sind aus
unserer Sicht ausschliesslich Inklusionen, weil durch sie eine Person als relevant markiert und auf
ein strukturell gekoppeltes System verwiesen wird. Die Beispiele stehen für Mitteilungen einer Information, die (operativ) verstanden werden kann und sei es nur durch ein hartnäckiges Nachfragen
oder die Weigerung wegzugehen. Exklusionen sind sie lediglich auf der Ebene der Potentialität –
dergestalt, dass sie künftige Inklusionen mit mehr oder weniger grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen. Dieser Zugriff auf die Zukunft ist jedoch nie operativ, sondern immer nur als Beobachtung (als Konstruktion) möglich – eine Konstruktion, die sich operativ bewähren kann, aber nicht
muss. Operativ gesehen ist die Exklusion wie erwähnt immer nur als Referenzwert möglich, als
Nicht-Inklusion, und nicht als Designationswert, der im Rahmen einer Beobachtung zu einer Bezeichnungsleistung führt. Das wiederum bedeutet, dass Exklusion – im Gegensatz zu Inklusion –
empirisch nicht fassbar ist.
In Hinblick auf Luhmanns Definition von Sinn (1994a, 111), lässt sich formulieren, dass durch diesen auf die Zukunft ausgerichteten Inklusionsbegriff die Differenz von Aktualität (der gegenwärtigen Inklusion) und Potentialität (der Horizont anderer, aktuell nicht gewählter
Inklusionsmöglichkeiten) zusammengezogen wird. 'Inklusion' kann auf diese Weise sowohl als Medium potentieller Inklusionen als auch als Form aktueller (operativer) Inklusion gesehen werden.
Wohlbesehen spricht nichts dagegen, die Medium/Form-Unterscheidung zur Reformulierung der
Begrifflichkeit rund um die Unterscheidung Inklusion/Exklusion zu nutzen; nachfolgend wird ein
solcher Vorschlag herausgearbeitet. Verwirrend ist lediglich, dass beide Seiten der Unterscheidung
mit dem gleichen Begriff bezeichnet werden: Form/Medium = Inklusion/Inklusion.
4. Adressabilität und andere Inklusionsmedien
Wir haben bis hierhin gesehen, dass im Rahmen der Beobachtungsoperation 'Inklusion' Menschen als
Personen adressiert und so für die Kommunikation auf der Sozialdimension von Sinn gegenwärtige
Relevanz erhalten. Wir haben auch gesehen, dass es in der systemtheoretischen Rezeption auch
Deutungen von 'Inklusion' gibt, welche die Relevanzmarkierung von Personen nicht nur auf die aktuelle Kommunikation beziehen, sondern auch auf künftige Kommunikationen. Bei diesen Deutungen erscheinen die Personen auf der Projektionsfläche der kommunikativen Operationen als
Themen, also auf der Sachdimension von Sinn und nicht auf der Sozialdimension. Ein wenig anders formuliert lässt sich sagen, dass es bei beiden Deutungen von 'Inklusion' zur Bezeichnung (Adressierung) von Menschen als Personen kommt, dass sich diese Adressierung aber bei der ersten
Version auf den aktuellen Kommunikationszusammenhang bezieht, während sie bei der zweiten
auf zukünftige Inklusionen ausgerichtet ist, resp. auf einen mehr oder weniger engen Horizont
künftiger Inklusionsmöglichkeiten.
Da ohne Frage beide Deutungen sinnvoll sind, ihre Bezeichnung mit einem Begriff jedoch verwirrend ist, schlagen wir vor, die Differenz von aktueller und potentieller Inklusion mit der Unterscheidung von Medium und Form zu beschreiben – Medium und Form verstanden mit Luhmann
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
(1997, 198) als lose (Medium) und strikte (Form) Kopplung von Elementen. 17 In andern Worten:
Im Rahmen der Reproduktion von sozialen Systemen fallen unablässig Bezeichnungsleistungen an,
und einige dieser Bezeichnungsleistungen beziehen sich auf Personen, die für Kommunikation gegenwärtig oder zukünftig als relevant erachtet werden. Der Vorschlag lautet nun, für die Bezeichnung der gegenwärtigen Relevanz-Erachtung von strukturell gekoppelten psychischen (und
körperlichen) Systemen den Begriff 'Inklusion' zu verwenden und für die Bezeichnung künftiger
(möglicher) Inklusionen einen Begriff zu wählen, der eher beim Medienbegriff, also bei 'lose gekoppelten Elementen' angesiedelt ist, etwa 'Inklusionsfähigkeit' oder 'Inklusionschancen' (der Gegenseite von 'Exklusionsgefahr'). Dabei ist mit Fuchs (2004, 25) zu beachten, "dass das Schema
Medium/Form ein komplett de-ontologierendes Schema ist", das immer auf den Beobachter (hier:
das beobachtende soziale System) zurückführt. Das bedeute, dass zwar zwischen Medium und
Formen unterschieden werden kann, dass aber durch die Bezeichnungsleistung immer nur Formen
markiert werden, "selbst dann, wenn es um das Medium geht". Das heisst, dass das Medium als
Medium empirisch nicht fassbar ist, sondern immer nur über seine Formen errechnet werden kann,
wobei die Formen ihre Aktualität selbst immer nur in Differenz zur Virtualität des Mediums gewinnen (Fuchs 2004, 28).
Wir können demnach formulieren, dass wir Inklusionen als Formen (Bezeichungsleistungen) von
sozialen Systemen verstehen, die in ihrer Operativität laufend verschwinden resp. durch neue Formen (Inklusionen) ersetzt werden und anhand derer (im Rahmen weiterer Beobachtungsoperationen) ein Medium der Inklusionsfähigkeit errechnet werden kann, welches die Potentialität künftiger
Inklusionen umschreibt. Die Unterscheidung von Inklusion (Form) und Inklusionsfähigkeit (Medium) entspricht aus dieser Sicht dem Medium Sinn, insofern sie sich aus der Differenz von aktuellen
Inklusionen vor dem Horizont potentieller Inklusionsmöglichkeiten erschliesst.
Es spricht nichts dagegen, die Unterscheidung von Form und Medium auch zur Reformulierung
von andern Begriffen zu nutzen, die mit der Form der Inklusion in Verbindung stehen. Eine Kandidatin dafür ist 'Adressabilität' (Fuchs 1997), die als Medium der Adressierung von Personen in unterschiedlichen sozialen Systemen gesehen werden kann. Die 'Adressierung' entspräche dann der
operativ erzeugten Form, die durch die Struktur der 'sozialen Adresse' ermöglicht wird. 18 Wird 'soziale Adresse' als 'polykontexturale Adresse' im Sinne von Fuchs (1997, 70) beschrieben, dann steht
der Begriff nicht mehr für eine (operativ aktualisierte) Struktur, sondern für eine Vielzahl von Möglichkeitsspielräumen, also ein Medium, das durch einen Beobachter errechnet wird. Der Begriff
'Person' wiederum entspricht formal der ersten Variante von 'sozialer Adresse' – einer Kommunikationsstruktur, welche (aus der Sicht eines Beobachters) die Inklusion von Menschen in das betref-
17
Luhmann bezieht sich dabei eher lose auf Heider (1926). Vgl. dazu auch Fuchs (2002b). Die Form der 'strikten Kopplung von Elementen' ist zu unterscheiden von der oben beschriebenen Form als (paradoxe) 'Einheit von zwei Seiten einer
Unterscheidung' wie sie auch bei der Unterscheidung von Form und Medium gegeben ist.
18
Struktur ist mit Fuchs (2004) strikt als operativer Begriff, als Selektion eines Möglichkeitsspielraumes zu verstehen, der
jedoch nicht in einem ontologischen Sinn besteht, sondern durch einen Beobachter errechnet wird. Dieser Operativität
wird der von Luhmann (1994a: 398) zur Umschreibung von Strukturen genutzte Erwartungsbegriff nicht gerecht, da er
eine Zeitdauer einführt, die in der Aktualität der Operation nicht gegeben ist.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
fende Kommunikationssystem regelt. Als Medium von 'Person' kann dann 'Unperson' im oben beschriebenen Sinn der 'Gesamtheit aller aktuell ausgeschlossenen, aber auch möglichen Attributionen' errechnet werden, aber auch andere Medien wie Mensch (Fuchs, 1994) oder Individualität, die
operativ durch Individualisierungsleistungen von sozialen Systemen Form gewinnt (Fuchs/Fuchs,
2005, 11).
Geht man von einer Unterscheidung Inklusion/Inklusionsfähigkeit aus, bedeutet dies, dass auf der
Formseite ein cross zum unmarked state der Exklusion (resp. Nicht-Inklusion) nicht möglich ist,
denn Exklusion im hier beschriebenen Sinn ist nicht formfähig. Genau genommen wäre von einer
doppelten Unterscheidung zu sprechen, die zu einem doppelten Re-entry führt: Inklusion/Exklusion/Inklusionsfähigkeit/Exklusionsgefahr.
Form/Medium-Unterscheidungen wie Inklusion/Inklusionsfähigkeit, Adressierung/Adressabilität,
Person/Unperson, Individualisierung/Individualität resp. andere mögliche Kombinationen wie
Person/Mensch, Inklusion/Adressabilität oder Adressierung/Individualität sind wie erwähnt an der
Schnittstelle von sozialen und personalen (psychischen) Systemen anzusiedeln – Systemen, die im
Modus der Interpenetration, also unter der Bedingung konditionierter Koproduktion (Luhmann
1994a, 268ff.; Fuchs 2004, 89ff.) operieren. Das bedeutet, dass die Beobachtung der Operation 'Inklusion' und des Mediums 'Inklusionsfähigeit' ('Adressabilität') unterschiedlich ausfällt – je nachdem, ob die Perspektive des Individuums (resp. seines psychischen Systems) eingenommen wird,
oder die des sozialen Systems, in welchem die Inklusion erfolgt oder in Zukunft erfolgen soll. Da
das psychische System (wie jedes System) nur innerhalb seiner Grenzen operieren kann, es sich bei
'Inklusion' aber um eine genuin soziale Operation handelt, ergibt sich auf der operativen Ebene die
Asymmetrie, dass 'Inklusion' durch Adressierung (Fremdreferenz) im Kommunikationssystem einen operativen Anschluss (Selbstreferenz) bedingt, während die Beobachtung dieser Adressierung
im psychischem System immer fremdreferentiellen Charakter hat. Bei der Beobachtung des Mediums Adressabilität ist das insofern anders, als das Medium sowohl im sozialen als auch im psychischen System lediglich auf der Ebene der Beobachtung (der Fremdreferenz, der Konstruktion)
errechenbar ist. Aber auch hier bleibt eine Asymmetrie bestehen, denn das soziale System kann die
Bedingungen der Möglichkeit für die Adressierung von Personen aktiv beeinflussen – bei Interaktionen z.B. durch räumliche Absonderung, bei Organisationen durch die Formulierung von Mitgliedschaftsbedingungen oder bei Funktionssystemen durch den binären Code –, während das
Individuum nur versuchen kann, diese sozialen Inklusionsbedingungen 'von aussen' zu verändern
oder seiner Identität (seiner Selbstbeschreibung) zu sozialer Akzeptanz zu verhelfen, indem es sich
weiterbildet, besonders fein anzieht, Fremdsprachen lernt oder in seiner körperlichen Umwelt Fett absaugen lässt. Aber auch diese Modifikationen der individuellen Signatur (Fuchs 2003) garantieren keine
Inklusion in Kommunikationssysteme, da die Kommunikation die Inklusionsbedingungen selbst aktualisiert, also selbst bestimmt, wer unter welchen Bedingungen inkludiert wird und wer nicht.
Nehmen wir zum Abschluss dieser reichlich vertrakt wirkenden Überlegungen das Beispiel des
Diversity Management zur Erläuterung (vgl. Hafen/Gretler Heusser 2008). Diversity Management
entspricht aus der hier verhandelten Perspektive einem Programm, mit welchem eine Organisation
(z.B. eine Grossbank) ihre Inklusionsbedingungen in einer ganz bestimmten Weise zu verändern
trachtet. Das Programm soll garantieren, dass Stellen und Aufträge an die Mitarbeitenden aus-
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
schliesslich in Hinblick auf das Adressenkriterium ‚Leistungsfähigkeit‘ vergeben werden. Andere
Faktoren der sozialen Adresse wie das Geschlecht, das Aussehen, das Alter, die Nationalität etc.
sollen in Zukunft keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle für die Inklusion der Mitarbeitenden spielen. Wie die Inklusion schliesslich auf der operativen Ebene ausfällt (also ob das
Diversity Management-Programm auch Wirkung zeigt), das wird erst die Zukunft zeigen. Aus der
Perspektive des Individuums verbessern oder verschlechtern sich in diesem Fall die Inklusionsmöglichkeiten. Für die weiblichen Mitarbeitenden erhöhen sich z.B. die Chancen, für Führungspositionen gewählt zu werden; für die Männer verschlechtern sie sich im gleichen Ausmass.
5. Schlussfolgerungen
Welche Schlüsse lassen sich nun aus diesen Ausführungen für die Nutzung der Unterscheidung Inklusion/Exklusion zur Beschreibung von sozialen Phänomenen wie Ungleichheit ableiten? Vorerst
lässt sich in Hinblick auf dieses Beispiel zusammenfassend formulieren, dass die Ungleichheit von
Menschen oder Individuen aus der Sicht der soziologischen Systemtheorie in enger Verbindung mit
der Inklusion dieser Individuen (als Personen) in soziale Systeme zusammenhängt. Wir haben in
dieser Hinsicht dafür plädiert, das Schema Inklusion/Exklusion nicht auf die Gesellschaft und ihre
Funktionssysteme zu beschränken, sondern es auf alle Systemformen anzuwenden inkl. derer, die
weder im Kontext von Organisationen noch im Kontext von Funktionssystemen operieren.
Im Weiteren geht es beim Konstrukt 'Ungleichheit' weniger um Inklusion im operativen Verständnis als um Adressabilität resp. Inklusionsfähigkeit im Sinne dessen, was hier als Medium bezeichnet
wurde, welches Möglichkeitsspielräume für künftige Inklusionen eröffnet. In andern Worten: ‚Ungleichheit’ bezieht sich auf die Ungleichheit von Inklusionschancen in soziale Systeme resp. die ungleiche Gefahr, aus relevanten Kommunikationsprozessen ausgeschlossen zu bleiben. 19 Da ein
Medium nie direkt beobachtet, sondern nur anhand seiner Formen errechnet werden kann, bleibt
die Ungleichheitsforschung darauf limitiert, Inklusionen von Personen zu beobachten und sie in
Korrelation zu Faktoren des Mediums, also der Adressabilität zu stellen. Burzan/Schimank (2004,
213) sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass es darum gehe, den "Ist-Zustand der Inklusion zu vermessen", wobei es auf der Ebene der Operativität keinen ‚Ist-Zustand’ zu vermessen gibt,
da Operativität immer prozesshaft ist. Weiter ist zu beachten, dass ‚Inklusion’ wie jede Operation
selbst nicht beobachtbar ist, sondern immer über die entsprechende Zuschreibungsleistung auf der
Ebene der Beobachtung, was erneut darauf hin weist, dass ‚Realität’ immer beobachter-spezifische
Realität ist.
Die Faktoren, in Hinblick auf die eine solche empirie-geleitete Beobachtung erfolgen kann, sind
vielfältig: Geschlecht, Bildungsnachweise, Hautfarbe, Aussehen, Einkommen, Herkunft, soziales
Kapital im Sinne von Bourdieu ('Beziehungen'), Kleidung, Sprachwahl sind nur einige von beinahe
19
Auf dieser Ebene spricht Kronauer (2010, 50) von Exklusion als biographischem Prozess.
87
Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
zahllosen Aspekten, welche die Inklusion von Personen in unterschiedlichen soziale Systeme 20 in
unterschiedlichem Ausmass und mit unterschiedlichen Wechselwirkungen beeinflussen 21 . Die Vielfalt der inklusionsfördernden und -hemmenden Faktoren, die unermessliche Varianz der Wechselwirkungen und die Bandbreite der Systemreferenzen deuten auf die Komplexität solcher
Forschungsvorhaben hin. Sie geben auch einen Hinweis darauf, dass die Methoden der empirischen
Sozialforschung genau so wenig wie die theorie-geleitete Beobachtung einen Zugang zur Realität
ermöglichen, sondern lediglich eine ganz spezifische, streng kontrollierte Annäherung in der Form
statistischer Wahrscheinlichkeiten.
Wird die Adressabilität von Individuen als Medium der Inklusion verstanden, ergibt sich eine doppelte Forschungsperspektive, durch welche das Medium spezifiziert wird: die Perspektive bestimmter sozialer Systeme oder Systemtypen (z.B. Wirtschaftsunternehmen), welche ihre
Inklusionsbedingungen als Kombination von Inklusionsfaktoren gestalten 22 , und die Perspektive
von individuellen Inklusionsprofilen (Burzan/Schimank 2004), welche die Inklusion von Menschen
in bestimmten sozialen Systemen begünstigen oder erschweren. Aus der Optik der Ungleichheitsforschung besteht die Schwierigkeit dann darin, die Parameter für die Inklusionsbedingungen resp.
für die Inklusionsprofile zu bestimmen. Welches sind z.B. die Faktoren, welche die Inklusion von
jungen Menschen in Lehrbetriebe beeinflussen – die Schulnoten, die ethnische Zugehörigkeit, das
Geschlecht, die Berufe der Eltern, die Ausdrucksfähigkeit, die Art des Auftretens im Bewerbungsgespräch etc.? Je nach Befund, kann sich die soziale und psychische Umwelt auf diese Bedingungen
einrichten – die Politik etwa, indem sie die Aufnahme von 'behinderten' Jugendlichen in eine Lehre
finanziell unterstützt resp. gesetzlich einfordert, oder das Individuum, indem es lernt, wie man Bewerbungen schreibt oder wie man in einem Bewerbungsgespräch am besten auftritt. Da keine Gewähr dafür besteht, dass in einem konkreten Betrieb wirklich die vermuteten
Inklusionsbedingungen aktualisiert werden oder vielleicht ganz andere (z.B. das Aussehen der Bewerberin oder der Umstand, dass der Personalchef ihren Vater persönlich kennt), verlaufen diese
Bemühungen auch bei detaillierten Angaben über die Inklusionsbedingungen eines sozialen Systems resp. das geforderte Inklusionsprofil der Individuen unter der Bedingung der einer nie vollständig zu beseitigenden Unsicherheit. Dazu kommt, dass die Inklusion von Personen in Systeme
nicht nur vom Inklusionsprofil und den Inklusionsbedingungen abhängt, sondern von zahlreichen,
sich laufend verändernden Voraussetzungen im betreffenden System resp. in dessen Umwelt. Wenn
z.B. die Zahl der verfügbaren Lehrstellen kontinuierlich reduziert wird, dann garantiert die schulische Trimmung der Inklusionsprofile der Jugendlichen auf die Bedürfnisse der Wirtschaftsunter-
20
Bei jedem Versuch, die Inklusionsfähigkeit zu erfassen, ist es entscheidend, dass die Systemreferenz klar definiert wird.
Das Adressenmerkmal ‚Ausländer’ oder ‚Albaner’ beeinflusst die Inklusionschancen in eine Kirche anders, als die Inklusionsmöglichkeiten in das politische System oder in eine Arbeitsorganisation. Wir kommen gleich darauf zurück.
21 Es handelt sich bei diesen Faktoren explizit um soziale Strukturen. Das bedeutet, dass es auch bei der Hautfarbe oder
dem Aussehen nicht um Materielles geht, sondern um die kommunikative Symbolik dieser Umweltfaktoren.
22
Dabei unterscheidet sich die operative Umsetzung dieser Inklusionsbedingungen oft in erheblichem Mass von ihrer
Beschreibung im System. Ein Ziel der Ungleichheitsforschung kann es dann sein, auf diese Differenz zwischen Systemstruktur und Semantik hinzuweisen.
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Journal der dgssa
Beitrag: Inklusion und soziale Ungleichheit
nehmen keine zusätzlichen Lehrstellen, sondern sorgt lediglich für eine andere Verteilung der Inklusionschancen.
Die Soziale Arbeit wiederum hat zwei Möglichkeiten, die Inklusionsfähigkeit ihrer Klientinnen und
Klienten zu verbessern. Auf der einen Seite kann sie versuchen, die individuelle Adressabilität eines
Klienten im Rahmen eines Arbeitsintegrationsprogramms dadurch zu verbessern, dass ihm Fortbildungen bezahlt werden und er Unterstützung beim Verfassen von Bewerbungen erhält; auf der andern Seite kann sie Arbeit gebende Organisationen suchen, die unter bestimmten Bedingungen
bereit sind, schwierig vermittelbare Personen zu inkludieren. Selbstverständlich kann dieser doppelseitige Ansatz der Individuums- und der Sozialsystem-Orientierung nicht nur im Rahmen der Arbeitsintegration oder der Sozialberatung erfolgen, sondern auch präventiv – etwa im Rahmen der
offenen Jugendarbeit, die Jugendliche schon während der Schulzeit, dabei unterstützt, ihre Inklusionsfähigkeit für den Arbeitsmarkt zu verbessern.
Die Exklusion behält bei alledem ihre Bedeutung als Referenzwert. Da sie nicht formfähig ist, ja da
es nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis keine 'Operation' der Exklusion gibt, kann Exklusion immer nur als ausbleibende Inklusion d.h. über einen längeren Zeitraum hinweg gemessen werden. Diese Perspektive legt den Schluss nahe, dass die Systemtheorie als theoretische Grundlage
empirischer Ungleichheitsforschung an Anschlussfähigkeit gewinnen kann, wenn sie Ungleichheitsforschung weniger als Exklusionsforschung denn als Erforschung von (sozialen) Inklusionsbedingungen und (individuellen) Inklusionsmöglichkeiten betreibt. Eine Schärferstellung der Inklusions/Exklusionsunterscheidung wäre zudem nicht nur für die Ungleichheitsforschung dienlich, sondern
für alle Forschungsbereiche, die sich mit der Beteiligung von ‚Menschen’ an sozialen Prozessen
resp. mit der konditionierten Koproduktion von sozialen, psychischen und neurobiologischen Systemen befassen.
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Autorenhinweis
Prof. Dr. Martin Hafen, Sozialarbeit und Soziologe, Dozent an der Hochschule Luzern - Soziale
Arbeit, Verantwortlicher Kompetenzzentrum Prävention und Gesundheitsförderung. Der Autor
nutzt die soziologische Systemtheorie intensiv zur Beschreibung von professionellen Handlungsfeldern wie der Prävention, der Schulsozialarbeit, der Frühen Förderung oder der Nachhaltigen Entwicklung. Kontakt: martin.hafen@hslu.ch
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Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Einige Thesen aus systemtheoretischer Sicht
Helmut Lambers
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Frage untersucht, inwieweit Luhmann’sche Gesellschaftstheorie trotz
ihrer notwendig normativen Blindheit für die Bestimmung des Aufgabenfeldes Sozialer Arbeit genutzt werden kann. Antworten werden in zweierlei Hinsicht gegeben: Erstens zeigt die systemtheoretische Reflexion realistische Begrenzungen in der Kontaktaufnahme der Sozialen Arbeit zur
Gesellschaft auf. Zweitens werden dennoch operative Möglichkeiten auf allen gesellschaftlichen
Ebenen deutlich: der Interaktions-, der Organisations- und der gesellschaftlichen Funktionsebenen.
Abstract
In this article the question is examined, how Luhmann's sociological systems theory which is
necessarily normative blind can be used for determining the role of social work in society at all.
Answers are provided in two ways. First, the system-theoretical reflection shows realistic limitations
of contact between social work and society. Second, operational opportunities can be identified for
all places of a functionally differentiated society: the interaction-system, the organizational-system
and the systems of functional communication.
1. Vorbemerkung
„Es gibt in der Gesellschaft keine gute Gesellschaft, … an die man sich wenden könnte“ 1 , so zumindest Niklas Luhmann in gewohnt nüchternem Auftritt. Wenn sich Gesellschaft in modernen
Zeiten nicht mehr selber erreichen kann, wie kann es dann Soziale Arbeit? „So produziert die Gesellschaft im Sozialpädagogen einen ihrer heftigsten Kritiker“ 2 schrieb Klaus Mollenhauer 1964 in
seiner Einführung in die Sozialpädagogik. Soziale Arbeit entwickelt demnach immer eine Vorstellung darüber, was in Gesellschaft nicht gut läuft, was sich in ihr und wie sie sich selbst als Gesellschaft ändern muss. So zumindest das Diktum Mollenhauers, der als einer der ersten modernen
Theorieproduzenten Sozialer Arbeit die Sozialpädagogik aus der Einseitigkeit von Nothilfe herausholen und Sozialpädagogik nicht allein als Bereichspädagogik verstanden wissen wollte. Dass die
Gesellschaft ihre eigenen heftigsten Kritiker selber produziert, scheint aber eher Wunsch als Gewissheit zu sein. Dieser Eindruck drängt sich nicht unbedingt für die Theoriebildung Sozialer Arbeit auf, umso mehr aber, wenn wir Mollenhauers Diktum auf ihre konkrete Handlungspraxis
beziehen. Es besteht offensichtlich ein Bruch zwischen dem, was sich die Sozialpädagogik in ihrer
1
2
Luhmann 1998, S. 802. Vgl. auch S. 866ff.
Mollenhauer 1964, S. 21.
93
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
nach Mollenhauer einsetzenden Theorieproduktion auf die Fahnen, sozusagen damit auch den
Praktikern ins Stammbuch schreibt und dem, was konkret in der Praxis davon vollzogen wird. Zumindest erwecken die massenmedial vermittelten Sozialpädagogen mit ihren unterhaltungsgerechten Einblicken in Schuldnerberatungen, Streetwork, Familienberatungen und Jugendgewalt ein
anderes Bild: hier geht es um gesellschaftliche Anpassung, nicht um „heftigste Kritiker“. 3 Nun mag
diese Feststellung nicht repräsentativ und daher unwissenschaftlich sein. Zudem wird in dem von
mir kritisierten Kontext nur ein Bild Sozialer Arbeit beleuchtet, das sich Massenmedien von ihr machen, demnach nicht das abbilden, was man sonst noch so beobachten könnte. Empirischwissenschaftlich gestützte Argumentationsbasen zum gesellschaftlich bezogenen Kritikverhalten
praktizierender Sozialer Arbeit fehlen hingegen auch. Ungeachtet dieser Wissenslücke bleibt die
Frage legitim, wie Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit nicht nur als Disziplin, sondern als Profession zu einer gesellschaftlich relevanten Kritikhaltung kommen kann. Ob eine theoriegeleitete Reflexion – welcher Herkunft auch immer – diesen Prozess tatsächlich befördern kann und wird, ist
damit nicht gesagt. Aber welcher Theorie kann diese Wirkung nachgewiesen werden? Sie kann allenfalls von sich behaupten, dass sie den Anspruch derartiger Wirkung an sich und ihre Adressaten
stellt, und das bereits für Politik halten.
Eine Theorieanbindung, der man gemeinhin Politikfähigkeit abspricht, ist die systemtheoretischkonstruktivistische. Die Grenzen, gar die Untauglichkeit des Konstruktivismus in der Soziologie,
wurden bereits Ende der 1990er Jahre heftig diskutiert, Kritik und Ablehnung werden bis heute positioniert. Weil sozialevolutiv, holistisch und nicht-normativ fundiert, wird systemtheoretischkonstruktivistische Theorie für die Bezugnahme sozialpädagogischer/sozialarbeiterischer Theoriereflexion als machtblind und zynisch empfunden. 4 Und schlimmer noch: Konstruktivismus, zumindest der Luhmann’schen Lesart, erledigt den Subjektbegriff und ersetzt ihn durch
„Selbstreferenz“. Der Mensch – gedacht als subjekthafte Ganzheit – kommt nach Luhmann in modernen Gesellschaften und folglich in seiner Gesellschaftstheorie nicht mehr vor, eine inhumane
Theorie eben. Zudem: Luhmanns Theorie sei halt „zu mimetisch geraten“ 5 und daher kaum eine
Hilfestellung für die kritische Reflexion von Gesellschaft und dem, was sich aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger darunter vorstellen sollten. Und so wundert es nicht, dass Luhmann’sche Theoriebildung mittlerweile in bestimmten Kompendien der Soziologie - und damit ihren Studierenden im knackig vorgetragenen Lehrbuchstil als „obskur“, „autistisch“, als „intellektuelle Mode“, eben
„Luhmanie“ vorgestellt wird; eine Theorie halt, deren Instrumente der Selbstbeobachtung „nur
noch ihr eigenes Rauschen anzeigen.“ 6
Nun ist es nicht Anliegen dieses Beitrages, sich mit Luhmannkritik allgemein und auch nicht im
Kontext Sozialer Arbeit speziell auseinanderzusetzen. Dies ist, besonders auch im Kontext der
3
Man denke etwa an Medienfiguren wie Katharina Saalfrank (Super-Nanny), Peter Zwegat (Schuldenmanager), Thomas
Sonnenburg (Streetworker) oder Fadi Saad (Quartiersmanager).
4
Siehe hierzu Berger 1996, S. 231-245 und Narr 1996, S. 246-257. Vgl. auch May 2000. Vgl. Staub-Bernasconi, 2000,
S. 225–241. Vgl. Obrecht/Zwicky 2002, S. 483-498.
5
Narr 1996, S. 257.
6
Labels allesamt von Vester 2010, S. 90, 92, 102 und 108.
94
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Machtthematik, an anderer Stelle bereits konstruktiv geschehen. 7 In diesem Beitrag möchte ich der
Frage nachgehen, inwieweit Luhmann’sche Gesellschaftstheorie im Kontext systemtheoretischkonstruktivistischer Reflexionszugänge Sozialer Arbeit herangezogen werden kann. Wenngleich
Luhmann aus seiner Gesellschaftstheorie keine normativen Schlüsse zieht (ziehen kann), bleibt
festzustellen, dass seine Theoriebildung als ein der modernen Gesellschaft vorgehaltener Spiegel
gelesen werden kann, der sich so gewendet durchaus für kritische Einsichten nutzen lässt. Das trifft
meines Erachtens besonders für die Disziplin Soziale Arbeit zu, der es als Handlungswissenschaft
schwer fallen muss, eine klare Trennlinie zwischen Disziplin und Profession zu ziehen.
Meine Überlegungen zur Nutzung Luhmann’scher Theoriebildung für die Eingangsfrage „Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?“ lege ich in drei Schritten dar: Als erstes gehe ich der Frage nach,
was Gesellschaft ist. Zugegeben, eine Luhmann untypische Frage. Luhmann war nicht an WASFragen interessiert, also etwa die Frage: „Was ist Gesellschaft, was soll Gesellschaft sein?“ Luhmann war nach eigener Auskunft - „wenn schon Konstruktivist“ - ein operativer Konstruktivist,
und er hielt die Beantwortung von WAS-Fragen wissenschaftlich zumindest für unmöglich. „Die
Welt enthält keine Information, die Welt ist, wie sie ist“ 8 . Damit ist er bei der WIE-Frage. Wie operiert Gesellschaft? Wie gelingt es Gesellschaft trotz vorherrschendem Chaos so etwas wie soziale
Ordnung zu bilden? Über die Frage, wie Gesellschaft operiert, gibt Luhmann Antworten dazu, was
als Gesellschaft beobachtet wird, und das verhält sich nicht mono-, sondern ausgesprochen
polykontextural. Doch dazu später. Mit dem Stichwort der Polykontexturalität sind wir beim zweiten Schritt dieses Beitrages. Unsere Themenfrage: „Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?“ wird
zunächst in ihren Begrenzungen deutlich. Das hört sich erst einmal nicht gut an, denn Soziale Arbeit hat sich als eine kulturelle Veranstaltung etabliert, der es nicht darum geht, Verhältnisse hinzunehmen, wie sie sind, sondern möglichst so auf sie einzuwirken, dass sie sich zu einem Besseren
wenden, Grenzen also zu verändern. Dennoch muss dieser Begrenzungsschritt getan werden, denn
theoretische Annäherungen an einen Gegenstand sind gut beraten, nicht dogmatisch und borniert
zu verfahren. Schließlich ist auch die Beobachtung zu machen, dass soziale Organisationen - entgegen dem ideellen Anspruch ihrer Theorielieferanten - sich eher mit der „Problembeseitigung“ als
mit der Bearbeitung der „Problemverursachung“ beschäftigen. 9 Die Grenzen und Fallstricke der
Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse mittels Sozialer Arbeit zu reflektieren und wenn möglich zu antizipieren, sollte nicht schaden. Ich werde versuchen, dem in drei Beobachtungspunkten
nachzugehen. Nachdem hiermit – vielleicht nicht ausreichend, aber doch in einigen Grundzügen –
Gefahren der Selbsttäuschung begegnet wurden, komme ich zu einem dritten und letzten Schritt:
den Möglichkeiten. Ich werde diese in vier Thesen vorstellen. Dass es sich dabei nicht um einen
großen Wurf handelt, auch viel Bekanntes dabei ist, versteht sich von selbst. So soll es hier auch darum gehen, aufzuzeigen, dass die Reflexion gesellschafts- und disziplintheoretischer Zusammen-
7
Vgl. z.B. Kraus 2002 und Kraus/Krieger 2007. Vgl. auch Luhmann 2003.
Von Foerster 2008, S. 98. In gleicher Weise formuliert Luhmann: „Welt kann … nur als Objektgesamtheit bezeichnet
werden. Sie ist so, wie sie ist.“ (Luhmann 1998, S. 897).
9
Vgl. Luhmann 1973, S. 21–43.
8
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Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
hänge Sozialer Arbeit auch aus der Perspektive konstruktivistischer Systemtheorie gewinnbringend
ist. Deutlich wird dann auch, dass sich mit Sozialer Arbeit immer Gesellschaft vollzieht, ob sie nun
auf konkretes Verhalten Einzelner, den funktionalen Über- oder strukturellen Unterbau zielt.
2. Was ist Gesellschaft? Ein essayistischer Einstieg
Gesellschaft ist, alltagstheoretisch betrachtet, zunächst ein sehr unspezifischer Begriff, was allein
sein semantisch flexibler Gebrauch vor Augen führt: man kann z.B. jemandem „Gesellschaft“ leisten oder über „Gesellschaft“ trefflich räsonieren. Margaret Thatcher, die „eiserne Lady“ in der Galerie britischer Premiers, lieferte zum zweiten Fall ein bemerkenswertes Beispiel: „There’s no such
thing as society.” 10 Man erkennt hier die Nachteile empiristischer Sichtweisen. Was man nicht eindeutig empirisch fassen/messen kann, gibt es nicht. Für den von der Lady avisierten politischen
Kontext bringt es hingegen Vorteile, bedeutet es doch: Man kann sich sozialpolitisch enthaltsam
zeigen und Geld anders ausgeben. Eine rechtliche Sicht der Dinge wird auf eine andere Weise konkret: Gesellschaft ist demnach ein rein zweckgerichteter, förmlicher Zusammenschluss von Personen, oder staatsrechtlich gewendet: die Summe der einem Staat angehörenden Bürgerinnen und
Bürger. Staatsangehörigkeit ist demnach das Inklusionsmerkmal für eine Bürgergesellschaft. Alle
Anderen, die sich dort aufhalten (z.B. Asylbewerber), sind demnach Nicht-Bürger. Es lässt sich ahnen, dass wir mit (staats)rechtlicher Bestimmung dessen, was Gesellschaft ist, nicht auskommen
ohne bereits per definitionem zu exkludieren. So richten wir den Blick auf die Soziologie; wissenschaftliche Selbstbeschreibung von Gesellschaft ist ihr Gegenstand. Dazu eine kursive, bewusst anspruchslos gehaltene Zusammenfassung der Beobachtungen aus Soziologie und
(Sozial)Philosophie. Vorab sei mit Luhmann darauf verwiesen, dass in der Soziologie allgemein Gesellschaft bezeichnet wird als „… das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens.
Über weitere einschränkende Merkmale besteht (hingegen h.l.) kein Einverständnis.“ 11
Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist Gesellschaft die Summe der Beziehungen und der Verhältnisse unter den Individuen, die sich gemäß der Verhältnisse einer Dialektik, zunächst vom Orient (= These) zur Antike (= Antithese) bis zum Christentum (= Synthese), entwickelt hat. Karl
Marx kommt zu einem anderen dialektischen Schema: Sklavenhaltergesellschaft – feudale Gesellschaft – kapitalistische – kommunistische Gesellschaft. Alle vier Stufen sind von der Dialektik der
Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bestimmt. Neu geschaffene Produktionsverhältnisse
sind jeweils als Zwischensynthesen entstanden und führen in die letzte Stufe: die klassenlose Gesellschaft (Synthesis). Für Emile Durkheim ist Gesellschaft ein eigenständiges „Wesen“ mit einer
eigenen Form von „Bewusstsein“ in Gestalt von „kollektiven Repräsentationen“ bzw. eines „Kollektivbewusstseins“. Gesellschaft ist nicht bloß die Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System (=„synthese sui generis“). Ferdinand Tönnies endlich
differenziert zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft: Gemeinschaft als Form individueller, emo-
10
11
Schmidt/Stern 2010, S. 212.
Luhmann zit. in Fuchs-Heinritz/Barlösius 2007, S. 233f.
96
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Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
tional gebundener Beziehungen und Gesellschaft als zweckrationale Nutzung von Beziehungen für
Individualinteressen und damit Form eines rationalen Zusammenschlusses von Menschen, letztlich
eine „Tauschgesellschaft“. Max Weber baut auf Tönnies auf und spricht von Vergesellschaftung in
Form von Klassen, Ethnien und Geschlechtern sowie Vergemeinschaftung als Formen von Emotions- und Traditionsbildungen mit zunehmender „Entzauberung der Welt“. Georg Simmel schließlich bringt die soziale Differenzierung und die darin eingebettete Rolle des Geldes – es wird zu
einer Art Gott – als ein evolutionäres Gesetz von Gesellschaftsentwicklung ein. Und auch Norbert
Elias denkt Gesellschaft weder isoliert vom Individuum noch von vorstrukturierter Ganzheit aus,
sondern von den dynamischen Beziehungen, die beide Seiten in einem Prozess der Ausbildung von
Figurationen bilden. Sein Versuch, der Erklärungsnot vom „Teil und Ganzen“ zu entgehen, wendet
sich gegen Talcott Parsons Strukturfunktionalismus. Für Parsons – Luhmann studierte bei ihm –
bildet sich Gesellschaft heraus, wenn mittels bestimmter Strukturen und Funktionen gemeinsame
Bedürfnisse von Menschen erfüllt werden können. Pierre Bourdieu macht es kurz: Er hält Gesellschaft nicht für völlig erklärbar. Er spricht vom Habitus sozialer Klassen und reflektiert die
Habitusbildung als symbolisches, kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital, das in Wechselwirkung untereinander zu Änderungen in den Macht- und Kapitalverhältnissen führt. Für den Liberalen Ralf Dahrendorf ist Gesellschaft die totale Institution, die uns alle umfängt. Michel Foucault
analysiert – dialektikfeindlich – Gesellschaft als etwas, das gar nichts anderes sein kann als „Disziplinargesellschaft“. Jürgen Habermas schließlich kennzeichnet moderne Gesellschaften als die Trennung von „Lebenswelt“ und „System“. Sozialevolutiv gesehen haben sich symbolische und
materielle gesellschaftliche Reproduktion zu selbständigen, autonomen Handlungssphären entkoppelt. Auf der einen Seite begegnen wir der Lebenswelt. Dieser kommt logisch und genetisch die
primäre Bedeutung zu. Auf der anderen Seite dann die freigesetzten funktionalen Systeme, vornehmlich Wirtschaft (marktregulierte Ökonomie) und Politik (bürokratischer Verwaltungsstaat).
Diese machen der Lebenswelt schwer zu schaffen. Habermas stellt entsprechend fest, dass der gesellschaftliche Differenzierungsprozess zu einer „Kolonialisierung“ der „Lebenswelt“ durch die
„Systemwelt“ geführt hat. Diese damit angerichteten neuen Wege in eine andere Moderne beschreibt Ulrich Beck dann als „Risikogesellschaft“, als eine Gesellschaft der „riskanten Chancen.“
Axel Honneth schließlich, der prominenteste unter den Weiterdenkern Habermas’scher Theorie,
sucht mit Hilfe Hegel’scher Anerkennungstheorie weit beachtete Lösungen für das, was moderne
Gesellschaften zunichte machen: die Missachtung der Menschenwürde. Dabei geht es ihm zwar
auch, aber im Ergebnis weniger, um die von Habermas favorisierte konsensuale Sicherung moralischer Freiheit mittels gesetzlicher Kodierungen von politischer und sozialer Gleichheit, als vielmehr
um die Ermöglichung gelingender Selbstbeziehungen.
Dieser hier nicht vollständige, sicher holzschnittartige, aber vielleicht ausreichend kursive Blick in
die Soziologie/Philosophie 12 zeigt auf, dass dort keine Eindeutigkeit zu erwarten ist; eher die Gewissheit, dass die Perspektiven stark auseinanderdriften, und man kann sich des Eindruckes nicht
12
Vgl. im Überblick auch Schwietring 2011.
97
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
erwehren, dass irgendwie alle Recht haben – zumindest jeder auf seine Weise. Nun ist die Erwartung, Eindeutigkeit von der Wissenschaft zu erhalten – und da wären wir wieder bei Luhmann –
sowohl legitim als auch naiv. Legitim, weil Wissenschaft sich selbst dem Wahrheitsanspruch verpflichtet fühlt (sonst gäbe es sie ja nicht), naiv, weil die Erwartung, Distanz zum Gegenstand in Erkenntnisgewinn transformieren zu können, die Tatsache ignoriert, dass Gesellschaft ein
„polykontexturales System“ ist. Das heißt: Jede Beobachtung von Gesellschaft – auch die 3. Ordnung (Wissenschaft) – ist selber derart in ihr verwickelt, dass keine neutrale, objektive Sicht der
Dinge möglich wird. Die Zeit „monokontextureller Beschreibungen“ ist lange vorbei, dennoch
muss Wissenschaft so auftreten, als gäbe es diese Zeit noch. 13 Wenn sich Luhmann aber nun so
entspannt in dieser Frage zurücklehnt, wäre es interessant zu erfahren: Was ist seine Beobachtung
von Gesellschaft?
Der frühe Luhmann spricht noch von einem Gesellschaftsbegriff als Fall konformen bzw. abweichenden Verhaltens, das in Bezug auf Normen und Werte festgelegt ist und eine entsprechende
Differenzierung von Erwartungen und Reaktionen vorhält. 14 Das ist noch relativ strukturfunktional gedacht. Der spätere funktional-strukturalistische Luhmann bietet eine verblüffend einfache Definition von Gesellschaft: Demnach ist Gesellschaft alles, was durch Kommunikation füreinander erreichbar ist. Gesellschaft ist nicht an national-staatliche Grenzen gebunden, sondern
theoretisch die Weltgesellschaft (mediale Kommunikation). 15 Aber: „Kommunikation ist unwahrscheinlich“ 16 und positiv gewendet ist Gesellschaft – wie Luhmann es im Kontext von Erziehung
darlegte – ein selbst erzeugter Glaube:
„Gesellschaft ist zumindest eines: die Bedingung der Reproduktion des Glaubens an Erziehung und damit
immer auch: des Glaubens an die Verbesserungsfähigkeit der jeweils praktizierten Erziehung. Sie stellt damit
die Möglichkeit bereit, Energien und Motive zu investieren." 17
Die Reproduktion des Glaubens an Erziehung/Bildung allein reicht nun auch nach Luhmann nicht,
um Gesellschaft zu beschreiben. Neben Erziehung hat Gesellschaft weitere Orte der Problembearbeitung ausdifferenziert, wie z.B. Religion, Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Protestbewegung, Familie, Intimbeziehung usw. Demnach könnte man im Sinne
Luhmanns generalisiert ausdrücken: Gesellschaft ist die Bedingung der Reproduktion des Glaubens
an symbolisch generalisierbare Kommunikation (Medien) und damit immer auch: des Glaubens an
die Verbesserungsfähigkeit der jeweils praktizierten Problembearbeitungen. Sie stellt damit die
Möglichkeit bereit, Energien und Motive zu investieren. Gesellschaft vollzieht sich also in ihren
Funktionsebenen und darin zueinander als Konkurrenz von selbst produzierten Beobachtungsgewissheiten.
13
Vgl. Luhmann 1998, S. 36f.
Vgl. Luhmann 1975.
15
Vgl. Luhmann 1987.
16
A.a.O., S. 217.
17
Luhmann 2002, S. 199.
14
98
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Zusammengefasst: Gesellschaft ist alle füreinander erreichbare Kommunikation in sich symbolisch
generalisierbarer, medial schließender Kommunikation. Das verweist auf die Unwahrscheinlichkeit
oder besser: Begrenztheit und – positiv gewendet – auf die Möglichkeit von Kommunikation zugleich. Zunächst zu den Begrenzungen:
3. Begrenzungen von Wirklichkeitskonstruktionen
Meine Beobachtungspunkte zu den Begrenzungen einer Bezugnahme Sozialer Arbeit auf Gesellschaft lauten:
1. Die Gesellschaft ist keine Adresse.
2. Wahrheitsproduktion ist hochkontingent.
3. Wohlfahrt ist die Frage, Sozialstaat die Antwort.
3.1 Die Gesellschaft ist keine Adresse
Moderne Gesellschaft ist als ein polykontextural, hyperkomplex und heterarchisch ausdifferenziertes soziales System beobachtbar. 18 Polykontexturalität bezeichnet die Tatsache, dass die Gesellschaft nicht mehr einheitlich (monokontextural) beschrieben werden kann. Die Beschreibungen
von Komplexitätsanstieg gesellschaftlicher Entwicklung in der Linie: Stammesgesellschaft–
Ständegesellschaft–Klassengesellschaft ist noch relativ monokontextural möglich. Auf Gesellschaften der Moderne stößt diese Anwendung schnell an Grenzen. Und sollte man geneigt sein, die gerade gezeichnete sozialevolutive Linie von Stammesgesellschaft – Ständegesellschaft –
Klassengesellschaft um den Begriff ‚Zivilgesellschaft’ zu aktualisieren, drängt sich schnell Gewissheit auf, dass damit die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft nicht hinreichend erfasst ist.
Vielfältige Beobachtungsperspektiven sind möglich. Ständige Neubeschreibung bereits vorliegender
Beschreibungen (Beobachtungen) erzeugen nicht mehr deckungsgleiche Sichtweisen. Die Zunahme
der Beobachtungsmöglichkeit von Beobachtung und die Beobachtung, dass diese Beobachtung
auch systematisch beobachtbar ist (Wissenschaft) zeigt die grundsätzliche Selbstreferenzialität bei
steigender Systemreferenz moderner Gesellschaften nur allzu deutlich. 19 Eine Vielzahl von Selbstbeschreibungen stehen heute neben- und gegeneinander: Industriegesellschaft, Klassengesellschaft,
Massengesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Erwerbsgesellschaft, Freizeitgesellschaft, Konsumgesellschaft, Zivilgesellschaft, Risikogesellschaft, Überflussgesellschaft, Wegwerfgesellschaft, Ellenbogengesellschaft und, wer mag, ergänze diese Liste um seine eigenen Beschreibungen. Hans
Thiersch würde heute sicher auch noch die Beobachtung von „Therapiegesellschaft“ als zutreffend
bezeichnen 20 und die Netzwerkforschung den Begriff „Netzwerkgesellschaft“ 21 beisteuern. Netz-
18
Vgl. Luhmann 1998, S. 312f und 891f.
Vgl. zusammenfassend Lambers 2010, S. 30f, S. 37f und S. 103 f.
20
Thiersch 1987, S. 40.
21
Tacke 2011, S. 113.
19
99
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
werk-, Informations-, Medien- und Wissensgesellschaft wiederum sind aus systemtheoretischer
Sicht interessante Bezeichnungen. Die Verschiedenheit von Beschreibungen kennzeichnet moderne
– resp. spätmoderne (postmoderne?) – Gesellschaften. Das führt nicht zu mehr Intersubjektivität,
sondern zu unterschiedlichen Selbstbeschreibungen desselben Systems und, wie manch altverdienter Soziologe sodann genervt feststellt: „Mit jedem Wechsel der Systemreferenz wechselt auch die
Umwelt. Für jedes System stellt sich »die« Gesellschaft anders dar.“ 22 Und jede Beschreibung löst
ihrerseits Gegenbeschreibungen aus. 23
Und damit nicht genug: zur Polykontexturalität gesellt sich Hyperkomplexität. Soziale Systeme sind
hyperkomplex, da sie sich an ihrer eigenen Systemkomplexität orientieren müssen. Der rationale
Umgang mit der eigenen Systemkomplexität produziert zwangsläufig neue Systemkomplexität. Soziale Systeme lassen sich nicht erwartungssicher rational durchplanen. „Systemplanung selbst erzeugt zwangsläufig Hyperkomplexität.“ 24 Ein System, dass sich als System plant und beschreibt,
plant auch seine eigenen Effekte mit ein (z.B.: Budgetplanung erzeugt überzogene Bedarfsmeldungen, die wiederum reflexiv mit eingeplant werden). Jede Bemühung um Ausgleich setzt sich aber
selbst wiederum eigener Beobachtung aus, d.h.: auch die Beobachtung der Beobachtung wird beobachtbar. Ein Ausstieg aus dieser selbstreferenziellen Zirkularität des Beobachtens und Bezeichnens ist nicht möglich. Hinzu kommt drittens: die Hierarchien geraten durcheinander.
Polykontextuale, hyperkomplexe Gesellschaften entwickeln heterarchische Strukturen. Dezentrierte
Gesellschaftsordnung – im Gegensatz zu zentralistischer Ordnung und Beschreibung von Gesellschaft – ist ein Phänomen, das besonders in Organisationen sichtbar wird. Der Wechsel von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung kennzeichnet den Übergang zu funktionaler Differenzierung,
der Ausdifferenzierung in eine Vielzahl ungleichartiger, aber gleichwertiger/-rangiger Teilsysteme,
von denen keines das Ganze der Gesellschaft repräsentiert. Heterarchie in Organisationen wiederum bedeutet die Möglichkeit (nicht die Gewissheit) des Machtausgleiches und der Selbststeuerung,
Selbstbestimmung auf allen Ebenen der Organisation (bottom-up-Prozesse). Heterarchie löst nicht
Hierarchie ab, ist vielmehr ihr Komplement. Eine Entwicklung, deren Komplexität durch zunehmende Vernetzungen auf allen Systemebenen zunimmt.
Im Ergebnis bedeutet das: Moderne Gesellschaften (funktional ausdifferenzierte und zunehmend
heterotrop 25 vernetzte) erreichen sich selbst nicht mehr. Die Gesellschaft gibt es nicht. Sie verfügt
über keine Zentralinstanz, die vorgibt, was Gesellschaft sei, wie sie zu sein und zu werden hat. Und
gäbe es diese Instanz, würde sich massenhaft Bewusstsein nicht dauerhaft (!) zu einer solchen Gesellschaft generieren lassen, die einer vorgedachten Zentralvorstellung entsprechen wird. Moderne
Gesellschaft ist eine Gesellschaft „ohne Zentrum und ohne Spitze.“ 26 Die Frage des „Wir“ entsteht
22
Berger 1996, S. 231.
Vgl. Luhmann 1998, S. 893.
24
Luhmann 1987, S.637.
25
Baecker in Hagen 2009, S. 140.
26
Luhmann 1980, S. 72f.
23
100
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
als Frage einzelner Funktionssysteme und als politische Figur in einer Konkurrenz von differenten
Macht- und Wahrheitsinteressen. So gerät Wissen über Gesellschaft zu hochkontingenter Kommunikation, die nicht zwingend auf Konsens ausgelegt ist. Gesellschaft als sinnlich erfahrbare Dimension geht verloren. Ersatzweise ist gesellschaftliche Identität nur durch Abstraktion, in der
Erfassung von Grundwerten, erreichbar. Gesellschaft wird durch ihre Organisationsform, dem Verfassungsstaat, erst wieder erkennbar. Als sinnlich erfahrbare Komponenten von Gesellschaft hingegen bieten sich nur noch ihre sozialen Adressen an, die die Orte gesellschaftlicher
Problembearbeitung vorhalten. Die soziale Adresse Sozialer Arbeit ist also nicht die Gesellschaft.
Gesellschaft hat keine Adresse. An ihre Stelle tritt eine Vielzahl sozialer Adressen: die relativ autonomen, funktionalen Ausdifferenzierungen, wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion,
Erziehung und Bildung, Gesundheit usw. Gesellschaft ist mithin als „die Gesellschaft der Gesellschaft“ 27 beobachtbar. Deren Komplexität und damit auch Risiken, das kommt erschwerend hinzu,
steigen durch Netzwerkbildungen weiter an. Der Gewinn von Wissen über gesellschaftliche Komplexitätsentwicklung und ihre Bearbeitung (Steuerung) scheint daher für Soziale Arbeit unentbehrlicher denn je.
3.2 Wahrheitsproduktion ist hochkontingent
Es gibt zahlreiche Versuche, wissenschaftlich zu begründen, was wissenschaftliches Wissen ist, wie
es zustande kommt und in unterschiedliche Arten zu klassifizieren ist. Eine der ältesten Klassifikationen stammt von Max Scheler. Er unterschied Wissen auf den Ebenen der Entwicklung von Person, Welt und Wissenschaft. 28 Etwas anschaulicher differenziert Mittelstraß zwischen Handlungs-,
Orientierungs- und Verfügungswissen als miteinander verschränkte Wissenskategorien. 29 Andere
Klassifikationen fassen Handlungswissen und Verfügungswissen zusammen und ergänzen das Wissensmodell um das Interaktions- und Identitätswissen. 30
Wissensmodelle sind an Bestimmung von Realität und Erkenntnis und daraus abgeleiteter Wahrheit
gebunden. Aus konstruktivistischer Sicht bedeutet die Bestimmung von Realität:
• Es gibt keine vom Beobachter unabhängige soziale Realität.
• Es gibt kein singuläres, alle gesellschaftlichen Teilbereiche strukturierendes Grundprinzip.
• Die soziale Welt besteht abhängig davon, wie man sie denkt.
Für die Bestimmung von Erkenntnis gefolgert: Erkenntnis ist beobachtungsabhängig bzw. Beobachtung, die nur das sieht, was sie sieht (Beobachtung 1. Ordnung, traditionell als:
Sein/Nichtsein). In der traditionellen Philosophie und Logik hingegen besteht zur Modalität von
‚Sein’ die Möglichkeit von ‚Nichtsein’. Die Möglichkeit von Nichtsein schließt der systemtheoreti-
27
Luhmann 1998.
Scheler 1980 (1926).
29
Vgl. Mittelstraß 1989, S. 19f und 1998.
30
Vgl. Schrader 2003, S. 228–253.
28
101
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
sche Konstruktivismus jedoch aus, da sich Nichtsein nicht beobachten lässt. Stattdessen gilt das
Kontingenztheorem: die wechselseitige Unbestimmbarkeit der Systembeziehungen. Jede Beobachtung markiert einen Raum (marked space) und lässt dabei immer Raum unmarkiert (unmarked space),
produziert einen blinden Fleck. Um den blinden Fleck der Beobachtung beobachtungsfähig zu machen, bedarf es einer weiteren Unterscheidung auf der Ebene der Beobachtung 2. Ordnung, die
wiederum Unmarkiertes hinterlässt. Eine Letztunterscheidung aller Unterscheidung ist nicht möglich, da es einen Letztbeobachter aller Beobachtungen nicht geben kann. Allumfassende Erkenntnis
ist somit nicht möglich und damit auch der Anspruch verfehlt, Wirklichkeit als objektive Realität zu
erfassen. So gesehen bietet sich der Konstruktivismus als eine Alternative zu den bestehenden Erkenntnistheorien an. Für Wahrheit als wissenschaftliches Wissen muss dann gefolgert werden: Die
Unterscheidung „wahr/unwahr“ ist das Ergebnis von beobachtungsabhängigen Aussagen und
Codes, die Anschlusskommunikation ermöglichen. Der Code findet Anwendung in entsprechenden
Programmen (Theorien, Forschung). Wissenschaftliches Wissen ist ein Konstrukt der an Kommunikation im wissenschaftlichen System beteiligten Personen (psychischen Systeme). Also: alles nur
Erfindung? Luhmann hält diese gedankliche Konsequenz für nicht hinreichend genug, um erklären
zu können, welche Operationen diesen „Erfindungen“ zugrunde liegen und soziale Ordnungsbildung möglich machen. So kritisiert er am radikalen Konstruktivismus, dass dieser „… seine Hausaufgaben noch nicht ausreichend erfüllt hat“ 31 . Luhmann begnügt sich nicht mit der Feststellung,
dass die Erkenntnis von Welt letztlich ein Produkt unserer Einbildung, mithin „Erfindung“ (Heinz
von Foerster) sei. Er bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Eine Realität, in der dem Menschen zwar
nichts anderes übrig bleibt, als zu beobachten, wie Realität konstruiert wird, aber immerhin eine
Realität.
„Der operative Konstruktivismus bezweifelt keineswegs, dass es eine Umwelt gibt. Sonst hätte ja auch der Begriff der Systemgrenze, der voraussetzt, dass es eine andere Seite gibt, keinen Sinn. Die These des operativen
Konstruktivismus führt also nicht zu einem ‚Weltverlust', sie bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Aber sie
setzt die Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus. Also als unerreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beobachter zu beobachten, wie sie Realität konstruieren.“ 32
Am radikalen Konstruktivismus kritisiert Luhmann schließlich, dass diese sich erkenntnistheoretisch nicht als Gesellschaftstheorie reflektiert, mithin die „zeitlichen und sozialen Bedingungen, die
das Beobachten des Unbeobachtbaren“ 33 erst möglich macht, außer Acht lässt.
Die Rede von der Beobachtung von Realitätskonstruktionen bedeutet für die Soziale Arbeit: Sie
muss Wissen über die operativen Zusammenhänge dieser Konstruktionen erwerben. Hier liegen die
Chancen von Wissen im Erschließen von Möglichkeiten und gleichzeitig die Risiken im Nichterrei-
31
Luhmann 1992, S. 521.
Luhmann 1996, S. 18f.
33
Luhmann 1992, S. 522.
32
102
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
chen der richtigen und im Erreichen der riskanten Möglichkeiten. Diese Paradoxie ist nicht spezifisch für Soziale Arbeit, sondern spezifisch für jedes Beobachten und Bezeichnen von Realität und
ihre Kommunikation. Hinzu kommt: Der in Interaktionsform zugängliche Erfahrungsausschnitt
von Gesellschaft deckt nur noch ein Minimum des verfügbaren und auch notwendigen Wissens ab,
um sich in modernen Gesellschaften einigermaßen zurechtzufinden. Was der Mensch weiß, vermittelt er über Sprache, Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien,
kurz: über Kommunikation, die sich nur stets selektiv, interessengeleitet und hochkontingent begegnen kann. Für unsere eingangs benannten Wissensmodelle bedeutete das: Verfügungswissen
und Orientierungswissen im Sinne ontologischer Gewissheiten sind aus Sicht des operativen Konstruktivismus nicht herstellbar. Sie gelten als wissenschaftliche Konstrukte. Aber deswegen sind sie
nicht wertlos. Sie ‚leiden’ nur unter der Einschränkung, dass Konsensfähigkeit sehr unwahrscheinlich ist. Zum Thema ‚wissenschaftliches Handlungswissen’ hingegen schlug Luhmann vor, generell
von anwendungsorientierter statt von angewandter Wissenschaft zu sprechen. 34 Damit soll der Beobachtung Rechnung getragen werden, dass eine vollständige Abbildung der Realität im Sinne zugrunde liegender Gesetzmäßigkeiten auch auf der Handlungsebene nicht gelingen kann. Da Soziale
Arbeit eine Handlungswissenschaft ist, ist dieser Hinweis schon bedeutsam für ihr Grundverständnis. Wissenschaftliches Wissen, das der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft zur Verfügung
steht, ist also niemals Technologiewissen oder, wenn es denn so verstanden wird, niemals Wissen
im Sinne ewiger Gewissheit und Gültigkeit. Luhmanns Frage, die er an die Pädagogik richtete, ist
für die Soziale Arbeit 1:1 übertragbar:
„Wie stellt sich das Erziehungssystem (in unserem Fall das Hilfesystem der Sozialen Arbeit, H.L.) in seinen
Interaktionen und seinen Organisationen und in seinem Professionsbewusstsein auf die Tatsache ein, dass es die
angestrebten Effekte nicht quasi gesetzesförmig bewirken, also auch nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit
kontrollieren kann?“ 35
Theorie Sozialer Arbeit kann nicht technologisches Instruktionswissen bereitstellen, das der Sozialen Arbeit zum direkten Transfer in die Praxis zur Verfügung stünde. Auch der Gegenstand Sozialer Arbeit entzieht sich dieser technischen Handhabung. Egal, wie wir ihn definieren wollen (soziale
Probleme, Lebensweltorientierung, Lebensbewältigung, Förderung der Subjektentwicklung usw.); es
bleibt immer die Schwierigkeit, dass dieser Gegenstand an Kommunikation – verstanden als Ausdruck des gesamten Erlebens und Handelns – gebunden ist. Komplexität, Selbstreferenzialität, Selektivität und Kontingenz sind Merkmale von Wissensproduktion mit Wahrheitsansprüchen, die als
Wahrheitsanwendungen unbekannte Folgerisiken niemals ausschließen können. Deswegen sind z.B.
die Einrichtung eines Heroin-Spritzenraumes, die Einleitung der Fremdunterbringung bei Kindeswohlgefährdung, die Anregung einer gesetzlichen Betreuung, die zeitweilige Zwangsunterbringung
von Personen mit selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten usw. nicht zu unterlassen, nur: Das
Problem ist damit nicht gelöst; es taucht vielmehr neu auf, stellt sich anders dar und muss dadurch
34
35
Vgl. Luhmann 1992, S. 640ff.
Luhmann/Schorr 1988, S. 61. Vgl. auch dies.1982, S. 5–40 und 1996 sowie Luhmann 2002.
103
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
weiter bearbeitet werden. Diese mikrosoziologischen Beispiele zeigen, dass Vorstellungen von abschließenden Problemlösungen Illusion sind. Es geht immer nur und immerhin um Verbesserungen
vormals schlechter erlebter Einstufungen und das mit nicht immer bekannten Folgerisiken. Wenn
man Probleme lösen könnte, wären es keine Probleme. Was sich lösen lässt, sind Aufgaben. Diese
treten aber immer nur als nie abschließbarer Katalog von Aspekten eines Problems auf.
Auf makrosoziologischer Ebene kommt man zu keinem anderen Ergebnis. Die Idee des Wohlfahrtsstaates war angetreten, die soziale Frage auf Dauer zu beantworten. Dass diese Idee als Anspruch zu misslingen droht, führt zu meiner dritten These.
3.3 Wohlfahrt ist die Frage, Sozialstaat ist die Antwort
Luhmann hat sich kritisch mit der Wohlfahrtsidee und dem Begriff ‚Wohlfahrtsstaat’ auseinandergesetzt. 36 Er unterscheidet zwischen Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat. Die Idee des Wohlfahrtsstaates strebt die Inklusion aller Bürgerinnen und Bürger in Gesellschaft mittels politischer
Regulierungen an. Der Sozialstaat hingegen folgt dem Bemühen um Vermeidung von Exklusion
mittels rechtlicher Regulierungen (Sozialgesetze) und Sozialarbeit. 37 Luhmann stellt sich die Frage,
ob die Einigungsformel „Wohlfahrtsstaat“ ihren Anspruch als überzeugender „politischer Text“
erfüllen kann. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Politik stets Gefahr läuft, sich mit der Wohlfahrtsidee zu überheben. Letztlich ist Politik ein Funktionssystem unter anderen, das nicht die
Funktion von Generalinklusion für alle Funktionssysteme übernehmen kann. Dies widerspräche
auch der Beobachtung funktionaler Differenzierung und den Inklusions- und Exklusionsverhältnissen der jeweiligen Funktionssysteme. Luhmann weist auf einen strukturellen Widerspruch von
Wohlfahrtsstaaten hin. Einerseits erstrebt ein Wohlfahrtsstaat „die Inklusion der Gesamtbevölkerung in das politische System der Gesellschaft“ 38 , andererseits ist die Politik zur Erhaltung des
Wohlfahrtsstaates von einer erfolgreich operierenden Wirtschaft abhängig, womit sie „eigene Erfolge nur dadurch erreichen kann, dass sie mehr und mehr Ressourcen der wirtschaftlichen Kalkulation entzieht“ 39 . Entsprechend ist die Politik auf Instrumente der Rechtsdogmatik
(Verfassungsgericht) angewiesen, um die Entwicklung der Wohlfahrt weiter möglich zu machen
und zu sichern. 40
Luhmann hatte bereits in früheren Jahren zwei weitere Argumente angeführt, die zeigen, dass Folgeprobleme funktionaler Differenzierung nicht allein mit dem Begriff des Wohlfahrtsstaates gelöst
werden können. Zum einen sind dies die globalen ökologischen Probleme sowie die generell nicht
steuerbare politische Loyalität von Menschen in modernen Gesellschaften. 41 Insgesamt lässt sich
feststellen, dass die Wohlfahrtsidee in Abhängigkeit der Autopoiesis von Politik, Wirtschaft und
36
Luhmann 1981; Luhmann 2002b, S. 139, 215, 248, 364, 422ff und 427f und Luhmann 2005, S. 108-120.
Vgl. Luhmann 2002b, S. 423 (siehe auch Fußnote 23, ebd.).
38
A.a.O., S. 423.
39
Luhmann 1998, S. 490.
40
A.a.O., S. 1087.
41
Vgl. Luhmann 1981, S. 9f.
37
104
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
von Personen steht. Mit der Wohlfahrtsidee wird Politik zum „Letztadressat für alle ungelöst bleibenden Probleme“ 42 , ohne über die hierfür erforderlichen Mittel zur Einlösung dieses Anspruchs
verfügen zu können. Luhmann war – was gelegentlich so gesehen wird 43 – kein Gegner des Wohlfahrtsstaates. In seiner Analyse der politischen Theorie im Wohlfahrtsstaat zeigt er auf, dass der
Wohlfahrtsstaat ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gewinnen muss, wenn Politik nicht in einen
Zustand der permanenten Selbstüberforderung gelangen soll und der Wohlfahrtstaat Wirkungen
einer Formel für einen überzeugenden „politischen Text“ letztlich auch von „Weltgesellschaft“ weiterhin entfalten kann. 44
So wie jedes Funktionssystem der Illusion unterliegt – praktisch sich selbst und anderen ‚weis machen’ möchte – das Ganze beobachten zu können, gerät es in eine Situation permanenter Selbstüberforderung. Damit ist ein Stichwort gegeben, was auch der Sozialen Arbeit in der schon üblich
gewordenen Kritik ihrer „Allzuständigkeit“ zu denken geben sollte. Gleichwohl kehrt die Vermeidung von Allzuständigkeit unweigerlich auf der operativen Ebene zurück. Soziale Arbeit wird sich
in fast allen gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen aufhalten müssen. Diese Paradoxie eröffnet Möglichkeiten. Doch dazu später. Abschließend muss man mit Luhmann festhalten:
„Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung wird zwar die Differenzierungsform der
Gesellschaft geändert, keineswegs aber soziale Schichtung beseitigt. Nach wie vor gibt es immense Unterschiede
zwischen reich und arm, und nach wie vor wirken diese Unterschiede sich auf Lebensformen und auf Zugang
zu Sozialchancen aus.“ 45
Man kann es also weiterhin Wohlfahrtstaat nennen, heraus kommt jedoch die Organisation von Sozialstaat mit dem ständigen Ringen um geeignete Zweck-Mittel-Relationen. Dass diese Kommunikation auf Dauer gestellt sein muss, hat mit der Einführung der Ewigkeitsklausel
(Sozialstaatsklausel, Artikel 20 GG) in unserer Verfassung einen historisch nachhaltigen Hintergrund. Die Idee der „Sozialen Gerechtigkeit“ ist hier dem Staat als permanente Selbstirritation und
damit zur Dauerkommunikation aufgegeben. Außerhalb der systemtheoretischen Begriffssprache
kann man Soziale Arbeit auch als einen Umsetzungsbeitrag zur „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit“ (§ 1 SGB I) bezeichnen. Ein Beitrag, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Hieraus ergeben sich Grenzen, aber auch Chancen der Sozialen Arbeit.
Zusammenfassung der drei Beobachtungen:
Aus den Beobachtungspunkten erhalten wir im Ergebnis drei Begrenzungen von Gesellschaft in
der Wahrnehmung dessen, was ihre Erreichbarkeit generell ausmacht:
42
A.a.O., S. 155.
Vgl. Staub-Bernasconi 1995, S. 15.
44
Vgl. Luhmann 1981, S. 143-158.
45
Luhmann 1998, S. 772.
43
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Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
a) Moderne Gesellschaft erreicht sich selbst nicht mehr. Sie ‚zerfällt’ durch funktionale Ausdifferenzierungsprozesse in eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Systeme und Netzwerkbildungen.
b) Wahrheitsproduktion im Wissen über Gesellschaft ist selbstreferenziell und hochkomplex,
erreicht sich nur selektiv und produziert sich hochkontingent.
c) Staatliche Wohlfahrt unterliegt der Gefahr der Selbsttäuschung und dem Anspruch der Allzuständigkeit von Politik.
Auf dem Hintergrund dieser Begrenzungen können wir nun positiv nach den gesellschaftlichen
Möglichkeiten Sozialer Arbeit fragen: Die Frage liegt nahe: „Was tun, Herr Luhmann?“ 46
4. Gestaltung von Möglichkeitskonstruktionen
Im Folgenden soll geprüft werden, welche reflexiven Einsichten die Systemtheorie der Sozialen Arbeit mit Blick auf ihre Gestaltungsmöglichkeiten bieten kann. Ich gehe dieser Frage anhand der drei
von Luhmann herausgearbeiteten Formen sozialer Systeme nach:
• Soziale Arbeit als Interaktionsystem,
• Soziale Arbeit als Organisationssystem und
• Soziale Arbeit in den gesellschaftlichen Funktionssystemen.
Gesellschaft vollzieht sich auf allen ‚Ebenen’ sozialer Systeme. Für Soziale Arbeit bedeutet das, dass
sie immer zwar nicht die Gesellschaft, aber doch Gesellschaft in ihren interaktiven, organisationalen
und funktionalen Bezügen erreicht. Entlang der Dreiteilung Interaktion, Organisation, gesellschaftliche Funktionssysteme lassen sich nun Vorschläge reflektieren, die Anschlusskommunikation
(wertfrei) im Sinne von Hilfekommunikation (und dies auf allen drei Ebenen) freisetzen könnten.
Quer zur funktionalen Differenzierung von Gesellschaft müsste man die in spätmoderner Gesellschaft zu beobachtende Ausdifferenzierung von Netzwerkbildungen einbeziehen. 47 Der damit verbundenen thematischen Weite von Netzwerktheorien kann man an dieser Stelle jedoch nicht
gerecht werden. Ich beschränke mich daher auf systemtheoretische Argumentationen.
Meine vier Thesen zu den Möglichkeiten:
1. Soziale Arbeit kann das Individualisierungsdilemma erkennen (Interaktionsebene)
2. Soziale Arbeit kann den Steuerungsmythos überwinden (Organisationsebene)
3. Soziale Arbeit kann ihre operativen Kopplungen optimieren (Funktionsebene)
4. Soziale Arbeit kann Einmischungen bewirken!
46
47
Hagen 2009.
Vgl. Bommes/Tacke 2011.
106
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
4.1 Individualisierungsdilemma erkennen
„Das Dilemma besteht … darin, dass die spätmodernen Gesellschaften nur noch eine Sozialform
kenne, nämlich die des Individuums, möglichst in der Form der Subjektivität – die zugleich sozial
schon beansprucht sein soll. Ihr Grundmechanismus besteht also in einer systematischen Desintegration der Beteiligten. In der sozialen Normalform der Individualität, die von früh an aufgezwungen
und in den Figuren gedeutet wird, die mit dem „Selbst“ spielen, dementiert Gesellschaft in aller Paradoxie sich selbst.“ 48 Diese Analyse kommt nicht etwa aus der Feder eines Systemtheoretikers,
sondern aus der des Subjekttheoretikers Michael Winkler. Winkler paraphrasiert damit das Ergebnis
Luhmann’scher Analyse zur Exklusionsindividualität. 49 Funktionale Differenzierung bedeutet für
den Einzelnen einerseits eine Zunahme von Wahlmöglichkeiten, z.B. die Entwicklung der eigenen
Individualität nach bestimmten Karrieremustern auszurichten; sie bedeutet andererseits aber auch
eine Zunahme von Erwartungsunsicherheit und Risiken des Scheiterns.
Individualisierungskonzepte werden insbesondere durch radikal-konstruktivistische und auch modernisierungstheoretische Fundierungen Sozialer Arbeit reaktualisiert. Das ist nicht folgenlos. Mit
dem Einzug des radikal-konstruktivistischen, systemischen Ansatzes in der Sozialen Arbeit einerseits und mit der subjekttheoretischen Botschaft der „riskanten Chancen“ moderner Gesellschaft
(Beck) wird die Sicht auf das Subjekt (und damit auch auf seine angeblichen Möglichkeiten) meines
Erachtens etwas „überstrapaziert“. Und so fürchtete auch der Subjekttheoretiker Winkler im Kontext der neuen Bildungsbegeisterung innerhalb der Sozialen Arbeit (dort der Kinder- und Jugendhilfe), dass eine zunehmende Individualisierung von Misslingen und Schuld solch gut gemeinter
Individualisierungskonzepte die zwingende Folge sein würde. 50 Wenn nun Subjektmodalität individualisierend gedacht wird und nicht als Exklusionsindividualität, scheint meines Erachtens eine
Überstrapazierung modaler Subjektentwicklung naheliegend zu sein. Luhmanns Theorie hilft meines Erachtens da reflexionstheoretisch weiter. Sie reflektiert die Aktualisierung von Möglichkeiten
nicht allein als Folge von Kommunikationskompetenzen Einzelner, sondern abhängig von den teilsystemspezifischen Bedingungen von Inklusion und Exklusion moderner Gesellschaften. Das
nehmen radikal-konstruktivistische Zugänge kaum in den Blick, und subjekttheoretische Zugänge
kommen über eine beschriebene Ambivalenz „riskanter Chancen“ für das Subjekt nicht hinaus. 51
Die Reflexion von Kompetenz und ihre Förderung – ein modernes Thema – als
„Inkompetenzkompensationskompetenz“ 52 zu reflektieren, wirft da meines Erachtens ein realistischeres Bild auf die selbstreferenziell herstellbaren Möglichkeiten und vor allem: ihre Steuerung.
Inkompetenzkompensationskompetenz meint: Unvermögen zu minimieren, statt dem Glauben an
Beherrschbarkeit aufzusitzen. Diese Perspektive schärft den Blick für Möglichkeiten, die durch
Kompetenzerwerb erwartet werden ohne gleichzeitig Perfektionserwartungen aufzusitzen. Damit
48
Winkler 2006, S. 62.
Vgl. Luhmann 1993, S. 160. Vgl. weiterführend Hillebrandt 1999.
50
Vgl. Winkler 2000, S. 595-620.
51
Vgl. Beck 1986 und Beck/Beck-Gernsheim 1994.
52
Luhmann 1981, S. 74.
49
107
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
kommen wir zu meiner zweiten These, hier besonders im Kontext von Organisation, sozusagen das
Haus der Sozialen Arbeit. Die These zielt naheliegend auf die Generierung von Hilfekommunikation in Organisationen und ihre Steuerungsmöglichkeiten ab:
4.2 Steuerungsmythos überwinden
Steuerungsinteressen werden insbesondere durch dienstleistungstheoretische und evidenztheoretische
Begründungen Sozialer Arbeit reaktualisiert (vgl. Case und Care Management). Mein Einwand ist, dass
mit der Überbetonung von Steuerungsmöglichkeiten, von Effektivität und Effizienz gerade das verdrängt wird, was Hilfekommunikation ausmacht: ihre Möglichkeit des Scheiterns, besonders auch
die Möglichkeit ihres erfolgreichen Scheiterns. Organisationen, die Hilfe organisieren, sind überwiegend zweckprogrammiert, d.h.: sie müssen über die Mittel entscheiden, die geeignet erscheinen,
den angestrebten Zweck auch erfüllen zu können. So sind z.B. zur Sicherung des Kindeswohls
(Zweck) die rechtlichen und erzieherischen Bedarfe (Mittel) festzulegen. Die Mittel hierfür können
sehr unterschiedlich ausfallen. Das Gleiche gilt für Wohlfahrtsverbände, die abwägen müssen, welche Mittel zur Erfüllung ihres Satzungszweckes geeignet erscheinen. Wohlfahrtsorganisationen sind
unentwegt zu einer Auseinandersetzung mit den unsicheren Zweck-Mittel-Relationen gezwungen.
Diese hohe Kontingenz erfordert ständige Selektionsleistungen und die Bereitschaft und Akzeptanz, Scheitern zu können. Organisationskommunikation ist Entscheidungshandeln. Entscheidung
ist das spezifische Mittel von Organisationen, sich zu organisieren. Damit stellt sich das Problem
von Organisation als doppeltes Problem: von Entscheidungen und der Kommunikation von Entscheidungen. Das Problem von Entscheidung wird zum Problem der Kontextsteuerung, da direkte
Steuerung von Organisationen nicht möglich ist und damit nur die Beeinflussung von Kontexten
und Prozessen übrig bleibt. Ein an den Interaktionsthemen der Anspruchsgruppen ausgerichtetes
Managementmodell (Stakeholderansatz) bietet hierfür einen Orientierungsrahmen auf drei Ebenen:
der Systemgestaltung, -entwicklung und -steuerung. 53
Aber: Was meinen und suggerieren wir (in Ausbildung gegenüber Studierenden, in Forschung gegenüber Wissenschaftlern, in Politik gegenüber Machtvertretungen, in der konkreten Sozialen Arbeit gegenüber ihren Adressaten), wenn wir von ‚Fallsteuerung’, ‚Assessment’‚ ‚Monitoring’,
Evaluation’, ‚Effektivität’, ‚Effizienz’, ‚corporate identity’, corporate design’ usw. sprechen? Welche
Erwartungen sind dabei im Blick? Ist produktives Scheitern da noch möglich, gar erwünscht? Aus
systemtheoretischer Perspektive ist Scheitern sicher erwartbar, aus dem gedanklichen sozial- und
fachpolitischen Mainstream wird es hingegen verdrängt. Die Steuerungsidee der ‚Neuen Steuerung’
suggeriert zielgenaue Möglichkeiten und Mittel dazu. Dass diese in der Regel nicht in Evidenz
überführbar sind, hingegen riskante Kontingenzen und Folgerisiken mit sich führen, verschleiert
die Steuerungsmetapher und wird dadurch schnell zur Ideologie und zu ihrem eigenen blinden
Fleck. Soziale Systeme steuern sich selber. Sie sind in ihrem Sinn bekanntlich irritierbar und indirekt
zu eigenen Umlenkungsversuchen anregbar. Soziale Arbeit als organisiertes Interaktionssystem regt
53
Vgl. Rüegg-Stürm 2003.
108
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
durch konstruktive Sinnirritation zur Entwicklung von alternativen, sinnverändernden Einstellungen und Verhaltensweisen an. Klient und Sozialarbeiter treten in ein Verhältnis der Ko-Produktion
von Hilfe. Der nicht immer vermeidbare Gebrauch von Eingriffsnormen erfordert zudem die
Konvertierung von ‚Kontrolle’ in ‚Hilfe’, um Anschlusskommunikation im Sinne gemeinsam produzierter Veränderung möglich zu machen. Dazu braucht ‚Gesellschaft’ einen Ort. Diesen Ort
ständiger Selbstirritation kann sie mit Sozialer Arbeit aufrechterhalten. Der Ort ist auf der Ebene
von Interaktion – und im Sinne dauergestellter Kommunikationswahrscheinlichkeit – auf der Ebene von Organisation angesiedelt.
Ein weiteres Problem führt uns auf die Funktionsebene Sozialer Arbeit: die Spezifik ihres Handelns, die unspezifisch bleiben muss. Organisationshandeln ist im gesellschaftlich funktionalen
Kontext an eindeutige Codes und der sie anwendenden Entscheidungsprogramme gebunden. Hier
wird es schwierig für die Soziale Arbeit. Im Vergleich zu Medizin, Recht oder Wirtschaft ist „Fürsorge“, „Bewältigungshilfe“, „Befähigung“ – wie auch immer man in Sozialer Arbeit
generalisierbares Handeln als Fremdsorge um Eigenprobleme des Menschen bezeichnen mag 54 –
relativ unspezifisch. D.h.: ein eindeutiger Code, der Sozialer Arbeit angibt, wann ein Fall von Hilfe
und ein Fall von Nichthilfe vorliegt, ist generalisierbar nicht vorhanden. Organisationen Sozialer
Arbeit verschaffen sich – neben den im Rechtssystem codierten Kriterien (siehe SGB I-XII) selbst
die Freiheit zur Bestimmung von Hilfsbedürftigkeit und die Festlegung von Kriterien für Hilfe oder
Nichthilfe. 55 Der damit in Verbindung stehende theoretische Diskurs zur Frage: „Ist Soziale Arbeit
ein eigenständiges gesellschaftliches Funktionssystem?“ ist bis heute nicht abgeschlossen. 56 Und
damit haben wir die dritte Ebene erreicht: die gesellschaftlichen Funktionssysteme. Aus Platzgründen werde ich den Diskurs um die Codierung Sozialer Arbeit hier nicht weiter behandeln. Er brächte zudem hier nichts Praktisches hervor.
4.3 Operative Kopplungen optimieren
Soziale Arbeit ist in einer Reihe gesellschaftlicher Funktionssysteme eingelagert. Nachfolgende Beispiele vermitteln – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einen kleinen Eindruck von der Vielzahl
struktureller Kopplungsbeziehungen. Sie sind auf der Organisationsebene beobachtbar in der Wirtschaft (z.B. Betriebssozialarbeit, arbeitsweltorientierte Soziale Arbeit, Personalentwicklung), dem
Recht (z.B. Jugendgerichtshilfe, Straffälligenhilfe, Gefängnissozialarbeit, Bewährungshilfe, Insolvenzberatung), der Gesundheit (z.B. Krankenhaussozialdienst, klinische Sozialarbeit, Gesundheitspädagogik, Sozialpsychiatrie), der Kunst und Kultur (z.B. Theaterpädagogik, Erlebnispädagogik),
den Medien (z.B. Fachzeitschriften, Straßenzeitungen), der Religion (z.B. pfarr- und kirchengemeindliche Sozialarbeit, Gemeindecaritas), dem Sport (z.B. Sport- und Freizeitpädagogik in
54
Hillebrandt 1999, S. 99-104 („Der Mensch als Gegenstand der Sorge“, ebd.).
Vgl. Bommes/Scherr 2000, S. 111.
56
Vgl. Lambers 2010, S. 200 u. 202f.
55
109
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Sportvereinen, Fanprojektarbeit) und der Politik (z.B. Fachverbände, Wohlfahrtsausschüsse), aber
auch: Politikfelder mitbesetzen, z.B. Gesetzgebungsverfahren. Auch auf den Ebenen von Bildung
und Erziehung tritt Soziale Arbeit immer mehr auf (z.B. Schulsozialarbeit, Jugendbildung, Vorschulerziehung, Familienzentren). Soziale Arbeit bekommt auf diese Weise einen zunehmend lebensweltlich repräsentierten Bezug zu allen Orten gesellschaftlicher Sozialisation. In diesen Prozess
der Normalisierung reiht sich die mit Bezug auf das Funktionssystem Familie exklusionsvermeidende und inklusionsvermittelnde Funktion Sozialer Arbeit durch Angebote, wie z.B. Familienberatung, Erziehungsberatung, Betreuungshelfer, Tagespflege und sozialpädagogische Familienhilfe,
Entwicklung von Familienzentren, immer mehr ein.
Gesellschaftliche Funktionssysteme (Sinnsysteme) sind von Interaktions- und Organisationssystemen nur sehr begrenzt erreichbar. Soziale Arbeit als Interaktion und Organisation fungiert hier jedoch umso mehr als Sensor für die Probleme gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion. Diese
Beobachtungen bringt Soziale Arbeit als Aufklärungsthemen in die Mikroebene ein (z.B. Deutung
von Lebensplänen, Aufklärung über prekäre Folgen usw.). Erst auf der Makroebene können diese
Beobachtungen in den Organisationen Sozialer Arbeit zu regulativen, werturteilsgebundenen Ideen
umformuliert und in Richtung gesellschaftlicher Funktionssysteme (z.B. Politik, Wirtschaft, Recht)
kommuniziert werden. Aber: Wir wissen immer noch zu wenig über die strukturellen Kopplungsverhältnisse. Ohne Not scheint sich Soziale Arbeit nur allzu leicht im Code des Anderen bewegen
zu wollen und darin auch Gefahr zu laufen, zu scheitern. Forschungsbedarf über die operativen
Kopplungsbeziehungen und ihre Optimierungen ist weiterhin angezeigt. 57
Die Bewegung im Anderen bringt mich zur vierten und letzten These. Sie betrifft die Einbindung
Sozialer Arbeit in den politischen Kontext, womit nicht allein der etablierte gemeint ist.
4.4 Einmischen
Soziale Arbeit wird gesellschaftlich als Beitrag zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit in Anspruch
genommen. Da dies zunächst eine Leerformel ist, kann sie gefüllt werden. Luhmanns Gesellschaftstheorie wird hierzu keine operativen Antworten geben können. Sie muss sozusagen schon aus rein
erkenntniskritischer Sicht auf wissenschaftsgestützte Nomologien verzichten. Geradewohl kann sie
einen klaren Blick auf das Problem nehmen: die Verschärfung der Differenz von Interaktions- und
Gesellschaftssystemen:
„Das Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft macht die Rationalitätsfrage dringlicher – und zugleich unlösbarer“. Es „ … fehlt ein gesellschaftliches Subsystem für die Wahrnehmung von Umweltinterdependenzen. Ein solches kann es bei funktionaler Differenzierung nicht geben, denn das hieße, dass die
Gesellschaft selbst in der Gesellschaft nochmals vorkommt.“ 58 „Die Frage kann allenfalls sein, ob es möglich
ist, Funktionssysteme dazu zu bringen, die von ihnen praktizierte Differenz von System und Umwelt als Ein-
57
58
Vgl. Sommerfeld 2000.
Luhmann 1987, S. 645.
110
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
heit zu reflektieren. Das hieße: Distanz zu sich selbst zu gewinnen.“ 59 „Es bleibt wohl nur die Möglichkeit,
das Problem mit der nötigen Schärfe zu formulieren, die funktionssystemspezifischen Umweltorientierungen zu
verbessern und die gesellschaftsinternen Rückbelastungen und Problemverschiebungen mit mehr Transparenz
und Kontrollierbarkeit auszustatten.“ 60
Allenfalls erreichbar scheint demnach, dass die Funktionssysteme die von ihnen selbst verursachten
Schäden wieder zu Gesicht bekommen. 61 Jedoch:
„In der Form von Hilfe werden heute nicht mehr Probleme von gesamtgesellschaftlichem Rang gelöst, sondern
Probleme in Teilsystemen der Gesellschaft. Damit ist ein einheitliches Muster, eine religiöse oder moralische
Formel entbehrlich geworden.“ 62
Diese Luhmann’sche Analyse beschreibt den Wandel der Formen des Helfens im Kontext funktionaler Ausdifferenzierung von Gesellschaft. Die Rede vom „entbehrlich sein“ beschreibt hingegen
lediglich, dass einheitliche Muster (Reziprozität sowie später Religion und Moral) in einer funktional
differenzierten Gesellschaft nicht mehr greifen, Organisationen und Programme, der Vergleich von
Tatbestand und Programm, getreten sind. Offen bleibt hingegen, ob funktionale Ausdifferenzierung nicht gerade dazu führt, den Bedarf nach „einheitlichen Mustern“ zu reaktualisieren, denn: auf
dem Weg zu einer funktional differenzierten Weltgesellschaft wächst das Heer ihrer Verlierer an.
Die gesellschaftlichen Funktionssysteme bringen sich sozusagen selbst um ein Inklusionspotenzial,
auf das sie zur eigenen Aufrechterhaltung letztlich angewiesen sind. Der Wohlfahrtsstaat und seine
tragenden Säulen erodieren zunehmend mit den Risiken einer funktional differenzierten Gesellschaft durch massenhafte Produktion von Exklusionsindividualität. Eine Beobachtung im Übrigen,
die in der Ökonomie seit langem zur selbstauferlegten Beschäftigung mit Diversity-Ansätzen in
Profit-Unternehmen zur Aufrechterhaltung von Konkurrenzfähigkeit geführt hat. 63
Aktivierung und Selbstbeteiligung der Bürger, Ökonomisierung und Monetarisierung der Programme und Organisationen in den Feldern Soziales, Gesundheit und Bildung stehen auf den Fahnen des Umbaus dieses Sozialstaates. Es ist offensichtlich, dass der Gesellschaft, wenn auch nicht
die Rückkehr in eine Klassengesellschaft, so doch eine schärfere Konturierung sozialer Ungleichheit
droht (Prekarisierung). Dies zu ‚Beobachten’ ist sicher Sache Sozialer Arbeit, aber für sich genommen zu wenig. Soziale Arbeit muss sich vergegenwärtigen: Alle Formen des Helfens „ … arbeiten
an der Beseitigung von Problemfällen, die sich aus der Verwirklichung der vorherrschenden Strukturen und Verteilungsmuster immer neu ergeben“ 64 . Die Änderung der Strukturen, die die Verhinderung von „Problemfällen“ bewirken kann, bearbeitet Soziale Arbeit hingegen nicht. Das heißt
nicht, dass Soziale Arbeit keine präventiven Aufgaben übernehmen und auf politisches Engagement
59
A.a.O., S. 599.
A.a.O., S. 645.
61
Vgl. a.a.O., 645.
62
Luhmann 1973, S. 36f.
63
Vgl. Aretz/Hansen 2002, S. 8.
64
A.a.O., S. 35.
60
111
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
verzichten kann. Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung sind nicht nur auf problemlösungsorientierte, sondern auch auf präventive Programme und sozialpolitisches Engagement Sozialer Arbeit angewiesen. Prävention und Sozialpolitik tragen zum Abbau gesellschaftlicher Exklusion
bei, sie lösen hingegen keine grundsätzlichen gesellschaftlichen Strukturfragen. Die systemtheoretisch klar analysierbare Stellung Sozialer Arbeit als „Problembearbeitungsorganisation“ führt zu
dem logischen Schluss, dass die Grenzen von Hilfekommunikation eng gesteckt sind. Sie findet
dort ihr Ende, wo Organisationen erkennen, dass sie nicht (nur) an den Problemen, sondern an den
Problemursachen arbeiten müssten. Das unterliegt jedoch nicht ihrer Funktionslogik und man muss
nicht darauf warten, dass Organisationen dies in ihre Funktionslogik einbauen würden. Sie würden
es nur tun, wenn es für das eigene Überleben eine Bedeutung hätte. Organisationskommunikation
ist nicht anschlussfähig außerhalb der eigenen Systemgrenzen. Hilfekommunikation findet an dieser
Stelle ihr Ende. Der Abbruch von Hilfekommunikation muss in Kauf genommen werden oder sich
Anschlusswege außerhalb der Funktionslogik eines Organisationssystems suchen. Historisch betrachtet waren das immer die sozialen Bewegungen. Soziale Arbeit muss sozusagen ihre eigene Systemgrenze überschreiten, um Hilfekommunikation anschlussfähig zu halten. Ihr bleiben am Ende
nur die Politik und die sozialen Bewegungen, die Gesellschaft anzeigen, wo etwas nicht rund läuft.
Soziale Arbeit als Potenzial der Selbst- und Fremdirritation komplexer Systeme zu nutzen ist ein
Weg, der die Exklusionsmechanismen der Problementsorgung funktionaler Differenzierung nicht
abschalten, ihnen aber entgegenwirken kann. Exklusionsindividualität ist auf personale Inklusion in
die gesellschaftlichen Funktionssysteme angewiesen. Sozialer Arbeit bleibt in ihrer Leistungsrolle
nur die Aufrechterhaltung anschlussfähiger Hilfekommunikation nach innen (Klientel) und nach
außen (Funktionssysteme) durch die Strategie gesellschaftlicher Einmischung. Hierbei segelt sie eng
im Windschatten sozialer Bewegungen. Soziale Arbeit kann nicht selbst die Funktion von Politik
(und sozialer Bewegungen) ersetzen, funktionale Teilsysteme sind nicht substituierbar und können
überdies jeweils für sich nicht gesellschaftliche Gesamtstruktur herstellen. Daher wird es in der Sozialen Arbeit „nur“ um die Verringerung humaner Folgeprobleme funktionaler Differenzierung gehen können, nicht aber um die Beseitigung struktureller Folgen funktionaler Differenzierung.
Soziale Arbeit ist Teilhabe an der Verbesserung sozialer, und das heißt politischer, wirtschaftlicher,
rechtlicher, gesundheitlicher sowie erziehungs- und bildungsbezogener Verhältnisse.
Und hier ist zu beobachten: Es sind auch die Reaktionen Einzelner und ganzer Gruppen auf kulturelle Entwicklungen als „das Unbehagen in der Kultur“ 65 , wie es Sigmund Freud einmal ausgedrückt
hat, dass sich artikuliert und seine Ausdrucksformen klassischerweise in sozialen Bewegungen formiert. Soziale Bewegungen bewegen mehr in den Köpfen der Regierenden, als man gemeinhin
vermuten mag. Das zeigt schon ihre Geschichte. Ob Jugendbewegung, Arbeiterbewegung, Umweltbewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung usw.; letztlich prägten und prägen ihre Inhalte
und Ideen auch solch öffentliches Bewusstsein, was in Politik rückwirkt.
Die Autopoiesis des Helfens zeigt, dass professionelle Soziale Arbeit besonders in der Zeit ihrer
Gründerjahre im Windschatten sozialer und politischer Bewegungen segelte, und das mit mehr oder
65
Freud 1979.
112
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
weniger großem Erfolg. 66 Die Sozialpädagogische Bewegung, die an der Jugendbewegung und
Frauenbewegung anknüpfte, konnte die Sozialpädagogik der Weimarer Zeit beflügeln und zur
Etablierung des RJWG (später JWG und KJHG) beitragen. Der Gedanke liegt nahe, dass diese in
der Tendenz verloren gegangene Kopplungsbeziehung stärker in den Blick geraten kann. Dabei
geht es darum, die operative Kopplungsbeziehung zu den gesellschaftlichen Teilsystemen um
Kommunikationsanschlüsse zu erweitern, die quer zu den ausdifferenzierten gesellschaftlichen
Funktionssystemen stattfinden: die sozialen Bewegungen. Sie zeigen an, was in Gesellschaft nicht
gut läuft. Beteiligt sich Soziale Arbeit hieran nicht, verliert sie an Glaubwürdigkeit. Dass sich Soziale
Arbeit beteiligen muss, liegt in der Funktionslogik funktionaler Differenzierung begründet. Diese
führt die Produktion von Exklusionsindividualität vor Augen, bedrängt sozusagen Soziale Arbeit –
seit ihren historischen Anfängen – das Soziale in Gesellschaft einzufordern. Soziale Arbeit kann
und muss strukturelle Kopplungen mit sozialen Bewegungen, Politik, Recht, Ökonomie usw. eingehen, allein schon, um ihren eigenen Widersprüchen etwas entgegensetzen zu können. Gleichwohl
werden alle gesellschaftlichen Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Recht, Medien, Religion, Familie usw.) nach Regeln suchen müssen, um dem Phänomen von Exklusionsindividualität Zugänge
von Teilhabemöglichkeiten innerhalb der Funktionslogik ihrer jeweils eigenen gesellschaftlichen
Problembearbeitungsebenen zu verschaffen. Luhmann setzt in seiner Theorie – und das kann man
kritisch sehen – auf Autopoiesis und die Funktionsfähigkeit der von ihr hervorgebrachten binären
Codierung. Ihnen zumindest gibt er den Vorrang vor Versuchen der Systemsteuerung. Diese sozialevolutive Sicht der Dinge täuscht sich ein wenig darüber hinweg, dass Codes nicht stets ‚rundlaufen’. Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit lassen sich für viele gesellschaftliche Funktionssysteme anführen, hier besonders zu nennen: die Politik, die Religion, die Wirtschaft, die Wissenschaft,
die Massenmedien und die Bildung. Luhmann sprach sich gegen Interventionen in soziale Systeme
aus, solange ihre Codes funktionieren; erst wenn diese korrumpiert werden war für ihn das Einbringen von ‚Moral’ angezeigt. 67 Dass Codes nicht stets ‚rundlaufen’, ‚wissen’ soziale Systeme als
ihre Fähigkeit zum re-entry. Den Einbau von oben angesprochenen Regeln zum Abbau von Exklusionsindividualität integrieren soziale Systeme in dem Maße, wie sie diese zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionslogik zu erkennen vermögen. Und hier scheint der „Hase begraben“ zu sein. Es geht
dabei schließlich um den Einbau von Dissidenz in den eigenen Reihen. Hier scheint mir eine Chance Sozialer Arbeit zu liegen. Gesellschaftliche Funktionssysteme und die ihr zuarbeitenden Organisationssysteme benötigen für die Rolle des Dissidenten – nicht ausschließlich, aber auch – Soziale
Arbeit. Schließlich: Was nutzt einem Sozialstaat ein Wohlfahrtssystem, das zunehmend als Ausfallbürge teilsystemischer Exklusionsfolgen in Anspruch genommen wird, der darin gegebenen Leistungsrolle stellvertretender Inklusion aber immer weniger gerecht werden kann, mithin überfordert
wird? Soziale Arbeit wird bei der Bearbeitung solcher Fragen nicht umhin kommen, den Funktions-
66
Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Heimreform der Jugendhilfe in den 1968er Jahren. Sie war stark von der Studentenund Jugendbewegung inspiriert (vgl. Schmutz u.a. 2000, S. 67f). Ähnliches gilt für die Psychiatriereform und die Antipsychiatriebewegung. Soziale Bewegungen haben immer wieder Impulse für die Soziale Arbeit in wissenschaftlichen, politischen und rechtlichen Wirkungskontexten gesetzt. Vgl. hierzu Wagner 2009.
67
Interview mit Niklas Luhmann (Bardmann/Lamprecht 1999).
113
Journal der dgssa
Beitrag: Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
systemen die von ihnen selbst verursachten Schäden wieder zu Gesicht zu bringen. Andernfalls
müsste sie die Voraussetzungen von Chancen der Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung ihrer eigenen Beobachtungsfähigkeit entziehen, als ihren eigenen blinden Fleck unentdeckt
und unbearbeitet halten – wie sollte das gehen? Soziale Arbeit kann hingegen in diesem Beobachtungsbemühen – dem Aufdecken blinder Flecken von Gesellschaft der Gesellschaft – weder als
Disziplin noch als Praxis eine prominente oder gar exklusive Rolle einnehmen, jedoch eine chancenreiche und damit für alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche wertvoll flankierende Funktion
anbieten.
Schlussbemerkung
Die Fähigkeit zur Selbstirritation von Gesellschaft ist konstitutiv für Soziale Arbeit. Luhmann’sche
Gesellschaftstheorie bietet wissenschaftlichen Disziplinen, so auch der Sozialen Arbeit, kein Potenzial gesellschaftskritischer Orientierung. Vielmehr stellt sie einen theoretischen Bezugsrahmen für
die Entwicklung selbst- und systemreflexiver Einsichten bereit. Dies ist nach meinem bescheidenden Verständnis vom Menschenmöglichen schon eine Form von gesellschaftskritischer Haltung. So
kann aus systemtheoretischer Perspektive zumindest gefragt werden, ob Soziale Arbeit ihre Chancen zur Bespiegelung von Exklusionsindividualität (Thesen 1 und 4) in ihren operativen Kopplungsbeziehungen (These 3) und politisierbaren Möglichkeiten (These 4) eigentlich ausreichend
nutzt. Weiterhin kann gefragt werden, was mit solcher Sozialen Arbeit geschehen wird, die sich
dem Selbstanspruch und der Erwartung von Steuerung aussetzen will (These 2). Die Theorie Sozialer Systeme bietet, auf ihren Nutzen für die Soziale Arbeit befragt, eine reflexionstheoretische
Grundlage; mehr nicht, aber auch nicht weniger.
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118
Journal der dgssa
Tagungsbericht
Der Fachtag der dgssa am 16. Juli 2011 in Jena: beobachtet
Tagungsbericht
Brigitta Michel-Schwartze
„Diskurse verlangen nach Diskurs-gelegenheiten, nach Orten und Zeit-punkten, zu denen „Kognition“ verteilt
werden kann“ (Karin Knorr Cetina 2002, S. 245).
1.
Zur Tagung als Ort Kognitionsverteilung
Tagungen können als formale Diskursgelegenheiten im von Knorr Cetina benannten Sinne beobachtet werden. Tagungen gelten als gute wissenschaftliche Traditionen zur Einrichtung von Diskursräumen zwecks interaktiver Weiterentwicklung der Kognitionen und damit des kollektiven
Bewusstseins einer Disziplin. Die steigende Zahl an Publikationen kann den Bedarf an Kommunikation innerhalb einer Wissenschaft nicht decken. Auch fein vernetzte Diskurszirkel wie die Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit benötigen unmittelbare personale Verständigungen, um durch
„strukturelle Kopplung“ (Maturana/Varela 1987) jene Austauschprozesse zu pflegen, die das Überleben und die Weiterentwicklung der spezifischen wissenschaftlichen Gemeinschaft ermöglichen.
(Die Funktionalität einer terminlichen und lokalen Kombination des Fachtages mit der Mitgliederversammlung soll hier nicht thematisiert werden. Sie steht außerhalb des hier beschriebenen Beobachtungsfokus´).
Am Ort des Austauschs von Kognition fungieren die Körper der WissenschaftlerInnen als „Informationsverarbeitungsinstrumente“ (Knorr Cetina 2002) zu epistemologischer Wahrheitsfindung,
soweit die systemische Theorie und die „Wirklichkeit des Konstruktivismus´“ (Fischer 1998) auf
generalisierte Wahrheit rekurrieren. Zwar vertritt die oben zitierte Wissenschaftssoziologin aufgrund ihrer Beobachtungen die Einschätzung: „Wenn man auf Face-to-face-Kontakte und Inspektionen insistiert, misstraut man dem eigenen Denken zugunsten der eigenen Sinne bei der
Identifikation und Prozessierung der relevanten Information“ (Knorr Cetina 2002: 142). Doch bezieht ihre Aussage sich auf die Naturwissenschaften. Darüber hinaus wissen wir als Beobachtende
der Beobachterin, dass auch alles ganz anders sein könnte.
2.
Verständnis / Selbstreflexion der Berichtenden
Die Autorin eines Berichts (im Folgenden: Beobachterin) über die Tagung bzw. den Fachtag der
dgssa kann diese Aufgabe nicht aus der Perspektive einer Teilnehmerin an einer wissenschaftlichen
Tradition wahrnehmen. Zwar hat sie auch im vorfeyerabendlichen Sinn des Begriffes an der Tagung teilgenommen. Doch das naive Selbstverständnis als Teilnehmerin an einer (wenngleich wissenschaftlichen)Tradition hätte im Sinne Feyerabends das ebenso naive Verständnis von
Objektivität des Beobachtungsfokus´ zur Konsequenz, was aber mit dem selbstreferentiellen Bewusstsein der Beobachterin nicht zu vereinbaren gewesen wäre. So geht dem Bericht auch die
119
Journal der dgssa
Tagungsbericht
Selbstreflexität voraus, an dem Fachtag teilgenommen zu haben, ohne als Teilnehmerin „objektiv“
berichten zu können.
Der Bericht (als Re-Konstruktion) beinhaltet nun im Sinne des Konstruktivismus´ auch den Versuch, das akritische Verständnis einer Teilnehmerinnenrolle als „vorübergehende Hilfskonstruktionen für ordentliches Denken und wirkungsvolles Handeln“ (Feyerabend 1981) zu überspringen im
Bewusstsein, das Gehirn habe im Verlauf der Tagung nicht mit der Umwelt interagiert, sondern
autopoietisch rekonstruktierend die externen Eindrücke aus internen Zuständen erarbeitet (vgl.
v.Foerster 1985).
Die im Folgenden vorgestellten Referenzszenarien sind aus der Perspektive dreier Beobachtungsfokusse entstanden. Die Auswahl des jeweiligen Fokus´, das sei vorausgeschickt, verdankt sich einem
konzessiven Motiv (Teilnahme trotz des Zeitpunktes der Tagung) und zwei kausalen Motiven (Teilnahme wegen der Inhalte und wegen des erwartbaren informellen Austauschs.
3.
Beobachtungsfokusse und Beobachtungen: Interessegeleitetheit
Wie angedeutet, teilte sich die Beobachtung der Beobachterin in ein konzessives Motiv, das von
zwei kausal motivierten Interessen dominiert wurde. Ohne diese Interessendominanz hätte eine
Teilnahme nicht stattgefunden. Die Einräumung eines Gegengrundes gegenüber dem unkomfortablen Zeitpunkt des Fachtages verdankt sich mithin hoher Erwartungen an a) die Inhalte und b)
die Funktion der Tagung als informellem Diskursrahmen. Auf diese Interessenlage sei deshalb verwiesen, weil die Erwartung bekanntlich die Wahrnehmung ergo Beobachtung determiniert. Aus der
„Ordnung der Blicke“ (Reich 1998) auf die Tagung ergeben sich drei Beobachtungsfokusse: a) Zeit,
b) Inhalt und c) Raum für ungeplante Diskursgelegenheiten.
3.1
Beobachtungsfokus Zeitpunkt und Zeitrahmen
Statt physikalischer oder philosophischer Konstruktionen von Zeit werden hier, wie angedeutet, Interesse geleitete Beobachtungen auf der Basis subjektiver Erfahrungen und Erwartungen bezüglich
zweier Zeitschemata thematisiert: erstens eine saisonorientierte und zweitens eine ablauforientierte
Beobachtung:
In saisonorientierter Beobachtung wirkte der für den Fachtag gewählte Zeitpunkt ungewöhnlich
und risikofreudig. Zwar bildet die vorlesungsfreie Zeit einen passenden und üblichen Rahmen für
Tagungen, doch wird im Allgemeinen die Phase nach den Sommerferien im Monat September für
formale Diskursanlässe angestrebt. Diese Terminkonvention beruht vermutlich auf der Prämisse,
dass der Beginn der vorlesungsfreien Zeit mit allgemeiner Ermüdung und Aufbrüchen in den Urlaub gefüllt ist, was das Interesse an einem intensiven fachlichen Diskurs unter physischer Anwesenheit an einem vorgegebenen Ort senkt. Der von der dgssa gewählte Zeitpunkt schien daher
unattraktiv und mit dem Risiko geringer Teilnahme behaftet. Die Beobachterin erlebte den Termin
als ungünstig gelagert, war aber aufgrund ihrer Interessenlage zu Konzessionen bereit (s.o.).
Unter dieser Vorbedingung beobachtete und bewertete sie die Anzahl der teilnehmenden Personen
als beträchtlich. Nun ist schwer einzuschätzen, wie groß die Zahl der Interessenten im September
gewesen wäre. Gemessen an den Erwartungen (nicht nur der Beobachterin) wurde die Inanspruch-
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nahme der Tagungsangebote als erfreulich hoch eingeschätzt. Diese intersubjektive Bewertung verdankt sich einer kurzen, unsystematischen empirischen Studie vor Ort.
Für die ablauforientierte Beobachtung können wiederum Erwartungen, aber auch Erfahrungswerte zur Einschätzung des Zeitrahmens herangezogen werden. Auf der Basis von Erfahrungen strukturell vergleichbarer Veranstaltungen wurden Zeitverzögerungen bei den einzelnen Sequenzen der
Tagung erwartet, die zu weiteren Verlängerungen und zur Ausdehnung des Zeitrahmens führen
würden. Damit einher gehend wäre auch ein Ausfall einzelner Angebote erwartbar gewesen. Doch
in ebenfalls überraschender Weise konnte ein akkurates und zugleich friedlich wirkendes Zeitregime
beobachtet werden. Kognitionsübermittlungsabfolgen wie Vorträge, diskursgesteuerte Sequenzen
wie Workshops, aber auch Pausen begannen und endeten zum vorgesehenen Zeitpunkt. Der Zeitrahmen wurde gut genutzt, aber weder überlastet noch gestreckt.
Eine Ausnahme bildete die Mitgliederversammlung am Abend, aber diese fand nach dem offiziellen
Ende des Fachtages statt und lag außerhalb des Beobachtungsfokus´ .
3.2
Inhalte und Kognitionseffekte
Die „Kognitionsverteilung“ (Knorr Cetina) der Tagung verlief nach dem bewährten Muster einer
sequentiellen Struktur: Vorträge analysierten und konkretisierten das Thema des Fachtages. Das war
aus der Perspektive der Beobachterin nicht trivial, sondern nötig, schien ihr doch die Themenüberschrift nach dem systemtheoretischen Prinzip gestaltet, dass alles mit allem zusammenhänge. Die
Deutung von Begriffen und Bindestrichen des Tagungsthemas sowie die Umdeutung und
Reformulierung der „Bindestriche zu Bögen“ (Tilly Miller) lieferten die erforderlichen Kognitionen,
wobei hier offen bleiben muss, in wie weit die selbstreferentielle Rezeption der Beobachterin der
Intention der Vortragenden folgte und in wie weit autopoietische Sinngebungen zu einer Ausdehnung der Kognition nach innen geführt haben. Sukzessive Entropieverringerung war die erwünschte Konsequenz. Erkenntnisträger und Erkenntnisträgerinnen (hervorzuheben wäre hier Veronika
Tacke mit ihren Erkenntnissen über Systeme und Netzwerke) rekonstruierten in ihren Vorträgen
Systeme und Netzwerke aus jeweiligen Forschungsperspektiven. Das geneigte Publikum konnte
von den dargebotenen Wissensbeständen in synergenter Weise profitieren. Die Beobachterin bemerkte, dass in dem Geflecht von Sinngebungen Schnittpunkte zwischen den epistemischen Subjekten hergestellt werden konnten.
Eine weitere relevante Sequenz wurde in Workshops vollzogen, in denen bis dato erschlossene
strukturelle epistemologische Sinnkategorien dank direkter und indirekter Anschlussfähigkeit um
pragmatische Kategorien erweitert werden konnten. Auch in dieser Sequenz war Wissenstransfer zu
weiterem Erkenntnisgewinn beobachtbar – eine Beobachtung, die nicht einsam blieb, sondern in
kurzen Befragungen weiterer Teilnehmender verifiziert werden konnte.
121
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3.3
Informeller Diskurs
Der nicht formalisierte Austausch von Kognition nach einem festgesetzten und strukturierten Treffen hat als „meeting after the meeting“ einen hohen Stellenwert. Informationen, Erkenntnisse und
Visitenkarten, ersatzweise Mailadressen werden ausgetauscht, Namen (bis dato von Publikationen
bekannt) bekommen Gesichter und Stimmen, der Gesichtskreis erweitert sich erneut. Neue Namen, sogleich personalisiert, bereichern das interne Personenverzeichnis. Tagungsveranstalter sind
verpflichtet und bestrebt, hierfür einen geeigneten Diskursrahmen bereit zu stellen. Die Auswahlkriterien für den Ort des Geschehens differieren selten: Gelegenheiten des ungestörten Austausches
in einem umschlossenen Raum sind Grundbedingungen und sollten Möglichkeiten angemessener
Versorgung beinhalten. Das Tagungssystem wissenschaftlicher Bewusstseine bedarf bei aller operativen Geschlossenheit informationeller Energie durch Kognition, das Tagungssystem der wissenschaftlichen Körper als Informationsverarbeitungsinstrumente (s. Ziff. 1) bedarf anderer Stoffe zur
Energieerhaltung. Priorität hat jedoch der Rahmen. Kognitionsaustausch geht vor kulinarischem
Erleben. So wird und wurde auch hier im informationstheoretischen wie im thermodynamischen
Sinne Entropie reduziert. Die Beobachterin glaubte auch das Entstehen dissipativer Strukturen beobachtet zu haben, die über den Kontakt- und Kognitionsgewinn der Betreffenden hinaus das Potenzial haben, dem Wissenschaftssystem einen Mehrwert zu ermöglichen.
Fazit
Die Standards der epistemischen Kultur wurden durch den Fachtag der dgssa voll erfüllt. Die Tagung dürfte in emergenter Weise individuell wie kollektiv einen wissenschaftlichen Mehrwert erbracht haben.
Literatur:
Bateson, Gregory (1985): Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und
epistemologische Perspektiven. stw 571. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Berger, P. L. ; Luckman, T. (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine
Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main : Fischer.
Feyerabend, P. (1981): Erkenntnis für freie Menschen. – veränd. Ausg. – Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Fischer, H.R. (21998): Die Wirklichkeit des Konstruktivismus: zur Auseinandersetzung um ein
neues Paradigma. Heidelberg: Carl Auer Verlag.
Foerster, H. von (1985): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. – In:WATZLAWICK, P. (1985): a. a.
O., S. 39–60.
Knorr Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen: ein Vergleich naturwissenschaftlicher
Wissensformen. stw 1594. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Lutterer, W. (2002): Die Ordnung des Beobachters: die Luhmannsche Systemtheorie aus der
Perspektive systemischer Theorie. In: Sociologica Internationalis, 40. Band, Heft 1, S. 5 – 33.
Maturana, H. R.; Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis : Die biologischen Wurzeln des
menschlichen Erkennens. – Bern [u. a.]: Scherz.
Reich, K. (1998): Die Ordnung der Blicke: Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus.
Band 1: Beobachtung und die Unschärfen der Erkenntnis.Neuwied, Kriftel und Berlin:
Luchterhand.
Watzlawick, P. (Hrsg.) (1985): Die erfundene Wirklichkeit: Wie wissen wir, was wir zu wissen
glauben? / Beiträge zum Konstruktivismus. – München; Zürich: Piper.
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www.dgssa.de
ISSN 2192-5429