Vorschau/Download - Wasser
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Vorschau/Download - Wasser
Nr. 7/2015 Unterwegs auf Festivals in Deutschland und Frankreich • Eb Davis, Marc Broussard, Richard Bargel & Dead Slow Stampede, Wu Tang Clan • Album des Monats: • Feuilleton: Interviews mit Jürgen Landt und Kai Pohl & Clemens Schittko • Mit Erzählungen von Constanze John und G.K. Chesterton 2 EDITORIAL IMPRESSUM Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin erscheint in der Regel monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 7/2015 Redaktionsschluss: 23.07.2015 Titelseite: Selwyn Birchwood (Foto: Janet Patience) links: Robert Cray (Karsten Spehr) rechts: Earl Thomas, Eb Davis (Fotos: Karsten Spehr), Richard Bargel (Raimund Nitzsche) REDAKTION: C he f r e d a k t e u r : R a i mu nd Nitzsche (V.i.S.d.P.) Redaktion: Mario Bollinger, Bernd Kreikmann, Matthias Schneider, Dave Watkins, Darren Weale Mitarbeiter dieser Ausgabe: Christopher Gottschalk, Iain Patience, Christophe Rascle, Karsten Spehr Die nächste Ausgabe erscheint am 28. August 2015. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 redaktion@wasser-prawda.de Anzeigenabteilung: marketing@wasser-prawda.de Wasser-Prawda | Juli 2015 I N H A LT 3 INHALT JULI 2015 3 4 Inhalt Editorial Musik 5 Dr. Feelgood & Feeling Good Good Good 7 Im Diner mit Ebylee „Eb“ Davis 11 Muddy Lebt in Lieberose 16 Impressionen beim Cognac Blues Passion 18 24. Bluesfest in Gaildorf 25 Richard Bargel28 Marc Broussard: Live und unter vollen Segeln 34 Wu Tang Clan: Die Hoffnung in der Zukunft 37 Blueskalender Platten 43 Lazer Lloyd – Lazer Lloyd 44 Rezensionen A bis Z Feuilleton 49 Jürgen Landt im Gespräch (2012) 52 Sophia Schröder Im Gespräch mit Kai Pohl und Clemens Schittko Sprachraum 56 Constanze John: Jeder muss sehen 58 C.K. Chesterton: Die Purpurfarbene Perücke 66 Die Vestalinnen 79 English Articles Wasser-Prawda | Juli 2015 4 EDITORIAL EDITORIAL VON MARIO BOLLINGER UND RAIMUND NITZSCHE Ein wesentlicher Teil der Wasser-Prawda-Redaktionsarbeit ist die Rezension von Musikproduktionen, also das Beschreiben einer CD nach erfolgter Produktion. Nur wenige Leser vermögen zu ahnen, wieviel Zeit und Aufwand hinter eine Musikproduktion steht. Musikpiraterie und Dumpingpreise auf dem Downloadmarkt tragen das ihre bei, dem Konsumenten vorzugaukeln, Musik sei einfach da, um auf das Smartphone für lau geladen und in minderer Qualität gehört zu werden. Um das Verständnis über die Wertigkeit dieser Produktionsarbeit etwas zu verbessern und den Musikverbrauchern den Arbeitsaufwand einer Musikproduktion nahezubringen, starten wir einen neue Reihe bei der Wasser-Prawda, die wir Werkstattberichte nennen. Angelehnt an die Arbeitsprotokolle einer Werkstatt in Tagebuchform werden wir Musikern die Gelegenheit geben, ihre Arbeit hier darzustellen. Um die Musikproduktionsarbeit so realistisch wie möglich zu zeigen, begleiten wir die Arbeit der Musiker durch das Posten von Zeitdokumenten wie Textfragmente, Notizschnipsel, Bilder, Videos oder Mitschnitte der täglichen Aufnahme- und Produktionsarbeit. Wir freuen uns auf diese enge Zusammenarbeit mit Musikern, die bereit sind, bereits im Vorfeld der CD-Veröffentlichungen etwas von ihren Geheimnissen preiszugeben. Den German Blues Award haben wir nicht bekommen - in der Medienkategorie hat die Sendung „On Stage“ das Deutschlandfunks das Rennen gemacht, für das in den letzten Jahren (jedenfalls dort, wo es um Blues ging) Leo Gehl verantwortlich war. Der hat den Preis ganz sicher verdient. Herzlichen Glückwunsch dazu - und einen schönen Ruhestand mit viel guter Musik! Womit ich allerdings nicht gerechnet hätte, ist das Editiorial in der aktuellen Ausgabe der „Bluesnews“. Offenbar hat die Redaktion unsere Glückwünsche in der April-Nummer falsch verstanden. Keinesfalls lag es in Wasser-Prawda | Juli 2015 unserer Absicht, dieses Magazin respektlos zu beschimpfen. Nur kam die Verwendung des Begriffs „Monopolist“ offenbar so an. Das tut mir wirklich Leid. Eigentlich hatte ich ihn als Kompliment gemeint: Hier hat eine Redaktion über einen langen Zeitraum es geschafft, zum fast alleinigen Maßstab zu werden. Da kann man nur seinen Hut ziehen. Auch kam der angedeutete Vorwurf eines schlechten Journalismus in unserem Beitrag überhaupt nicht vor. Es ging eigentlich um das Bedauern darüber, dass man mit einem vierteljährlich erscheinenden Blatt niemals so schnell reagieren kann wie etwa mit einem Monatsmagazin. Wobei man eines mal wieder sagen muss: Was die Wasser-Prawda und ihre vielen Autoren machen, funktioniert nur als Selbstausbeutung. Bis auf ein paar wenige Werbeaufträge, mit denen man Teile der Serverkosten abdecken kann, passiert hier alles ohne Geld: Technik, Recherchen und Interviews, Fotos, Schreiben und Layouten. Wie lange sich das noch durchhalten lässt, weiß ich wirklich nicht. Denn auch die anderen Nebenjobs als Journalist oder DJ, die mir in den letzten Jahren die Zeit gelassen haben, so ein Projekt zu verfolgen, lassen immer mehr nach. Und irgendwann sollte ich wohl doch auf meine alten Eltern hören, die meinen: Such Dir doch mal wieder einen richtigen Job! MUSIK 5 Willie Lee „Piano Red“ Perryman (Foto: Tony Paris Archives) DR . F E E LG OOD & FE E L I NG G O OD G OOD GOOD DARREN WEALES 16. BRIEFAUS DEM VEREINIGTEN KÖNIGREICH Letztlich hörte ich bei BBC Radio London eine DJ namens Jo Good. Ihr Familienname ließ einige Gedanken über Musik, sich gut zu fühlen und Musik, in der das Wort „good“ vorkommt, au auchen. Dr. Feelgood, und die Band nannte sich selbst nach ihm. Im Netz kann Eine nette Verbindung gibt es man Reds Song „Dr. Feelgood“ zwischen dem amerikanischen finden. Humoristen und Boogie-Pianisten In „Dr Feelgood“ nutzt Piano Red Piano Red (William Lee Perryman) frohgemut die Worte Good Good und der britischen Pub Rock Band Good als einen Refrain, daher der Dr. Feelgood. Red war bekannt als Titel des Briefes. Und so wie er Wasser-Prawda | Juli 2015 6 MUSIK die Wörter singt, legt das nicht die Verwendung von Kommas nahe. Und so werden sie auch hier nicht verwendet. Der Rekord für die Verwendung des Wortes „Good“ in einem Song aus der letzten Zeit geht an Mavis Staples, die letztens nicht nur in Glastonbury sondern auch im Clapham Grand gespielt hat. In einem Stück sang sie: „Good God Good God, Good Good Almighty, Good God“. Jools Holland sagte letztens in seiner Fernsehsendung „Later … with Jools Holland“, dass die Lieder des gestorbenen BB King ihn immer dazu gebracht haben, sich gut zu fühlen. Und Jo Good meinte in ihrer Sendung, dass Musik allgemein ihr ein gutes Gefühl verschaffe. Georgie Fame meinte letztens bei einem Autritt in Kent: „Der Blues muss nicht traurig sein“ und spielte weiter, damit sich das Publikum gut fühlen konnte. Das haben auch einige amerikanische Bands gemacht, die kürzlich im Vereinigten Königreich zu erleben waren. So war die Billy Walton Band aus New Jersey auf ausgiebiger Tour und ist das nächste Mal schon im Januar zu sehen. Auch Hamilton Loomis und andere wie Mud Morganfield und Debbie Band kommen entweder regelmäßig über den Teich geflogen oder sind noch immer hier unterwegs. Debbie ist es auf jeden Fall. Und sie ist eine gute, gute, gute, otimistische Blues-Lady. Debbie hat eine Menge für den Alabama Blues getan. Lil‘ Jimmy Reed ist ein weiterer Amerikaner, der während des Schreibens auf Tour ist. Es gibt so viele Wasser-Prawda | Juli 2015 Gute-Laune-Blues-Acts, die man sich anschauen kann. Wenn etwa mick Kolassa, der das irre Album „Mississippi Mick“ produziert hat, jemals nach Großbritannien kommen sollte, wird er den Leuten hier zu guter Laune verhelfen. Auch die britische Band Red Butler, die letztens gemeinsam mit Billy Walton tourte, ist fröhlich und optimistisch. Das konnte man spätestens bei einer Zugabe im Prince Albert in Brighton erleben, wo die beiden Bands gemeinsam auf einer kleinen Bühne durch die Gegend hüpften. Auch The Original Blues Brothers touren weiter hin und jeder, der schon mal Steve Cropper gehört hat, wie er die ersten Noten von „Soul Man“ spielt, kann verstehen, was das für ein Erlebnis sein kann. Auch The Royal Southern Brotherhood sind wieder unterwegs und produzieren einen reichhaltigen und geschmackvollen Sound-Gumbo. Klar, im Blues gibt es viele Bands, deren Gitarristen einem die Trommelfelle zerstören wollen und Solokünstler, die einen dazu bringen, in sein Bier zu weinen. Aber dazwischen gibt es Künstler, die ihre Aufgabe darin sehen, Dir die Last des Blues abzunehmen mit ihrem Auftritt, nicht sie noch schwerer zu machen. Viele kann man bei den zahlreichen Sendungen der Independend British Blues Broadcasters auf UKW, im Internetstream oder als Podcast entdecken. Also: Ab nach draußen und schaut Euch paar britische oder aus Übersee kommende Blueskünstler an und fühlt Euch einfach gut dabei! Schließlich muss der Blues nicht immer traurig sein, er kann auch dafür sorgen, dass Du Dich good good good fühlst. Debbie Bond & Shar Baby (Foto: Robin McDonald) INTERVIEW 7 IM DINER MIT EBYLEE „EB“ DAVIS TEXT: MARIO BOLLINGER, FOTOS: KARSTEN SPEHR Ebylee Davis war im Frühjahr dieses Jahres ein Telefongast der Radiosendung Crossroad Café bei 98eins. Doch die Technik im funk onierte an dem Abend nicht rich g, so dass das Gespräch recht kurz bleiben musste. Daher vereinbarte ich mit ihm ein Treffen bei meinem nächsten Aufenthalt in Berlin für ein ausführliches Gespräch Mit seiner Superband ist er viel vor allem im Berliner Raum unterwegs und spielt samt Hornsec on Soul und Blues. S lecht trafen wir uns in einem echt amerikanischen Dinerlokal zu guten Hamburgern. WP: Wie sprechen Dich die Leute an? Ebylee, Ee Be oder EB? Ebylee Davis: Eb! WP: Du bist Amerikaner. Was hast Du früher in USA gemacht? ED: Musik! Ich habe mit 9 Jahren schon in der Kirche bei einem Gospelchor gesungen. Mit 10 oder 11 habe ich dann den Blues entdeckt. Vorher hatte ich keine solche tiefgreifende Musik gehört. Ich hatte einen Nachbarn und er war immer auf der Terrasse gesessen und hat Blues gespielt und gesungen. Ich Wasser-Prawda | Juli 2015 8 INTERVIEW war immer total fasziniert von dieser Musik. Meine Eltern haben gesagt, dass ich von dieser Musik wegbleiben soll, weil es des Teufels Musik ist. WP: Deine Eltern waren religiös? ED: Sehr. Und dann habe ich mir gedacht, wie so eine vielversprechende Musik Teufelsmusik sein kann. Das habe ich nicht geglaubt. Und dann war ich war immer wieder da. Ich habe jede Möglichkeit genutzt, da zu sein, ohne dass es die Eltern wussten. Ich habe den Nachbarn gebeten, es mir zu zeigen. Er hat mir viel beigebracht. In der Schule habe ich dann mit einem Schulfreund eine kleine Band zusammengestellt und in der Schule gespielt. Jedes Woche und jedes Wochenende haben wir gespielt. WP: Und wann haben Dir Deine Eltern es dann erlaubt, Blues zu spielen? ED: Sie haben es nie erlaubt. Aber meine Mutter wusste, dass ich damit ein paar Dollar damit verdienen konnte. Sie war nicht glücklich darüber, aber sie hat aber auch nicht viel darüber geredet. Als wir dann später richtige Konzerte hatten, ist sie nie gekommen. Aber als sie meine erste Platte im Radio gehört hatte, war sie richtig stolz. Sie hat es nicht gesagt, aber man konnte es sehen und sie hat auch Nachbarn erzählt. Das Stück lief immer im Radio und das war mein Song. WP: Wann bist Du erstmals nach Berlin gekommen? ED: 1982 war ich zum ersten Mal in Deutschland, aber vorher war ich in London. Da habe ich jemand kennengelernt und sie hat gesagt, Wasser-Prawda | Juli 2015 dass es in Berlin eine Band namens Bayou Blues Band gibt und die war sehr gut und ziemlich bekannt. Diese Band brauchte einen guten Frontman. Ich bin dann gekommen und habe sofort angefangen. Ein paar Jahre später habe ich mit vier deutschen Musikern die erste Bluesband gegründet. Die hieß The Radio Kings. Dann haben wir einen kleinen Plattenvertrag bekommen. WP: Und dann hast Du entschieden, zu bleiben? ED: Es lief ziemlich gut. Dann habe ich für den Botschafter gespielt. Ich durfte vor dem Mauerfall mit Seminaren und Workshops in der DDR etwas von unserer Kultur zeigen. Konzerte spiele ich in USA. Das ist viel einfacher, hier zu sein, weil die Veranstaltungen in der Schweiz, Österreich oder auch Frankreich leicht erreichbar sind. Eine Tour in USA oder von USA aus kostet sehr viel Geld. Im Oktober spiele ich z.B. auf dem King Biscuit Festival in Arkansas. Das ist ein großes Festival über 3 Tage mit mehr als 70000 Tausend Besuchern. Ich spiele da regelmäßig seit fast 15 Jahren. Sie wechseln zwar jedes Jahr das Programm, aber es gibt ca. 6 oder 8 feste Standardbands, die immer wieder da sind und ich habe das Glück, dass ich einer der Standardbesetzung bin. Übermorgen bin ich dann in Chorzów Polen. WP: Das heißt, Du als amerikanischer Klassenfeind in der DDR Kulturarbeit leistest? ED: Ja, ich glaube, sie wollten zeigen, dass Amerika nicht der Feind ist und sich so mal eine andere Seite zeigen. Es war mein Glück, dass ich zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle war. Sie haben es nie gesagt, aber ich glaube, dass meine Hautfarbe eine große Rolle spielte. Natürlich war die DDR Propaganda so, dass die Schwarzen noch die Sklaven waren. WP: Hast Du in Deutschland immer als Musiker gearbeitet? ED: Ja, immer. Ich war als Kulturbotschafter auch in Russland WP: Als Soldat? ED: Ja, mit Uniform und Training. WP: Du bist nur hier im Norden unterwegs. Traust Du Dich nicht in den Süden? ED: Doch, ich spiele in November in Idar-Oberstein. WP: Das ist aber noch nicht der Wilde Süden? WP: Was war für Musiker wie ED Am Tag darauf sind wir in Dich in Deutschland anders als Chemnitz und vorher spielen wir in in USA? Osnabrück. ED: Das ist eine schwere Frage, weil WP: Deine Webseite ist da aber ich auch in Amerika arbeite. Ich nicht sehr aktuell. habe regelmäßig Auftritte auch in ED. Da muss ich auf meine Frau den USA. warten, dass sie es aktualisiert WP: Wo spielst Du mehr? WP: Aber da sind Postings von ED: 70% der Konzerte spiele ich 2008. Wie hältst Du Kontakt zu in Deutschland und 30% der INTERVIEW 9 Deinen Fans? ED: Mit Email und Facebook WP: Dürfen wir fragen, wie alt Du bist? ED: Ich bin 73. WP: Respekt, Du schaust nicht danach aus. ED: Ich muss es auch immer beweisen, weil die Leute es mir nicht glauben. WP: Wieviel Konzerte machst Du dann im Jahr? ED: So zwischen 80 und 100 Konzerte. Ich mache nicht alles mit, manchmal sage ich nein, weil ich auswählen kann. Ich habe mit dem schon lange auf meine Konzerte Blues angefangen, um nicht reich zu kam. Aber damals habe ich mehr werden. Keiner meiner Bekannten auf ältere Frauen geschaut. ist mit dem Blues reich. WP: Deine letzte CD von 2009 WP: War BB King reich? heißt „ The EB Davis Gospel ED: Nein, der war bestimmt nicht Quartett”. reich, aber er musste nicht hungern. ED: Nein, die neueste ist seit Wochen Buddy Guy ist reich. erhältlich und heißt „EBsolutely“ WP: Wie verdienst Du Dein Geld? WP: Ich habe sie nicht auf Deiner EP: Ich komponiere meine eigenen Webseite gefunden. Songs und schreibe auch für Andere. ED: Wenn Du im Internet suchst, Ansonsten mache ich nur Musik. musst Du auf meine Seite gehen. Ich habe mal für einen Mitarbeiter WP: Was findet man auf diese von „Herr der Ringe“ ein Stück CD? komponiert. ED: Es ist total gemischt aber es ist WP: Du bist mir Nina Davis Blues. Es ist eine Live-CD aus dem verheiratet, einer anerkannte A-Trane. Pianistin. Was war zuerst da, die WP: Würdest Du für so was ins Studio gehen? Liebe zur Musik oder zur Frau? ED: Ich habe sie durch die Musik ED: Ich bin gerade im Studio kennengelernt. Sie spielte in einer und arbeite unter dem Label Soul anderen Band und ich bin da mal Defender. Ich habe schon 3 CDs mit hingegangen. Es hat mich fasziniert, dem Label gemacht. dass eine weiße Frau eine solche WP: Warum geht’s Du jetzt ins Begeisterung für die schwarze Musik Studio oder warum nicht live? hat. Ich kam mit ihr ins Gespräch ED: Im Studio gibt es bestimmte und sie hat mit erzählt, dass sie Sachen, die kann man kontrollieren. Live fehlt manchmal die Kontrolle und man nicht mehr viel ändern. Was da ist, ist da. Man kann noch mal drüber spielen, aber meistens klappt das nicht. WP: Wenn Du im Studio bist, arbeitest Du dann kontinuierlich dran? ED: Wir hören das 40-50 mal an, machen Notizen und gehen wir wieder ins Studio und ändern die Dinge im Studio. Für eine gute CD steckt man viel Geld rein für Studio und Musiker und nicht zu vergessen: GEMA WP: Auch wenn es Deine Songs sind? ED: Auch dann! Es spielt keine Rolle. Es kommt nur auf die gespielte Zeit an. Es hat sie nicht interessiert, dass die meisten Songs von mir sind. WP: Wann kommt dieses Album raus? ED: ich weiß noch nicht, aber ich schätze so im Oktober oder November diesen Jahres. WP: Du hast es vorhin schon Wasser-Prawda | Juli 2015 10 INTERVIEW angesprochen. Warum bist Du in Osteuropa so populär? ED: Das wenn ich wüsste. Die Jazzclubs sind immer ausverkauft. Die Leute merken halt, wenn man sein Bestes gibt und ich hoffe, das bleibt noch ein paar Jahre. Da zum Interview die neueste CD EBsolutely gerade erschienen ist, möchte ich das Interview mit einer Rezension der CD beschließen. Eb Davis hat dazu ein Konzert im Berliner A-Trane aufgenommen. Als Musiker hat Eb Davis dabei gehabt: Nina T. Davis (piano/organ), Willie Pollock (sax), Jay ‚BowWow‘ Bailey (guitar), Ben Perkoff (Sax), Tom Blacksmith (bass), Lenjes ‚The Duke‘ Robinson (drums). Die CD ist eine Mischung aus Soul und Blues. Wegen der zwei Bläser ist die CD stark soullastig und auch deutlich geprägt durch Eb Davis melodiöse Stimme. Für meinen Geschmack ist es trotz der Beteuerung von Ed Davis, das es Wasser-Prawda | Juli 2015 Blues sei, mehr eine ansprechende Soul-CD geworden. Eb predigt weniger den Blues. Vielmehr singt er im Gospelsound seine Soulsongs. Ein live aufgenommenes Album ist zwar immer ein Glücksspiel, ob der Sound und die Stimmung gut eingefangen werden. Wenn es aufgenommen ist, dann kann man nicht viel nachträglich ändern. Aber in diesem Fall springt der Funke von Eb Davis schnell und leicht auf das Publikum des A-Trane über. Die CD enthält 17 Nummern, davon sind 9 Nummern mit der Beteiligung von Eb und Nina T. Davis entstanden. Bei den restlichen Nummern hat er sich bei anderen Autoren angelehnt. Wer Eb Davis im A-Trane verpasst hat, findet hier 100% Livestimmung. Mein Favorit, vor allem weil er von u.A. vom Botschafter des Blues Eb Davis mitkomponiert wurde, ist: „EBsolutely“ . Nomen est Omen. Auf Tour • • • • • • • 29.07. Cotton Club Hamburg (EB Davis, Nina T. Davis, Lenjes Robinson) 10.10. King Biscuit Blues Festival Helena. Arkansas (USA) (EB Davis, Nina T. Davis, Jay Bailey and Band) 21.10. Yorckschloesschen Berlin (EB Davis & The Superband) 06.11. 29. Idar-Obersteiner Bluesnacht (EB Davis & The Superband) 23.11. Britzer Mühle, Berlin Britz (The EB Davis Quartet) 25.12. EB‘s annual Birthday Bash 2015, Badenscher Hof Berlin (EB Davis & The Superband and special guests) MUSIK 11 Carolyn Wonderland MUDDY LEBT IN LI E B E R OS E DER ZWEITE TAG DES ERSTEN MUDDY LIVES FESTIVALS. TEXT UND FOTOS: KARSTEN SPEHR Ende Mai diesen Jahres gab es eine Premiere: die Agentur Muddy Lives um Bernd Schulte und sein en Partner Roberto Kuhnert von der Bluesini a ve Weißwasser inszenierten ein zweitägiges Blues Fes val unter gleichem Namen im wunderschönen Spreewald - in Lieberose auf der Waldbühne. Allein das Line up machte neugierig. Chilly Willy, Micke Bjorklof & Blues Strip, Kai Strauss Electric Blues und Johnny Mastro & Mamas Boy‘s am ersten Tag und am zweiten Tag und da war ich dann anwesend, standen Two Timer, Carolyn Wonderland, Jürgen Kerth sowie die Nick Moss Band und Mason Rack im Trio auf dem Programm. Ein tolles Gelände mit Campingplatz, Ferienhäusern und guter Versorgung – alles im Wald – das konnte sich sehen lassen. Vom ersten Tag erfuhr ich nur von einigen, das der ursprünglich aus Long Beach/ Kalifornien stammende und nun in New Orleans lebende Johnny Mastro & Mama‘s Boys erwartungsgemäß Wasser-Prawda | Juli 2015 12 MUSIK Jürgen & Stefan Kerth rechte Seite oben: Michael Ledbetter & Nick Fane. unten: Nick Moss & Patrick Seals eine mörderische Show abgezogen haben müssen. Irgendwann hatte ich die tief im Wald versteckte Bühne gefunden und die aus verschiedensten Himmelrichtungen angereisten Fans begannen sich bei etwas durchwachsenem Wetter (mal warm, mal kalt) in der Nähe der Bühne zu versammeln, denn pünktlich um 15 Uhr gab die junge Band Two Timer aus Polen den Auftakt für den zweiten Festivaltag. Die fünf Jungs aus dem Nachbarland, deren aktuelles Album „Two Timer“ 2014 in Polen aus besten Blues Album geadelt wurde, schlugen sich beachtlich mit rotzfrechem mundharmonikalastigem Wasser-Prawda | Juli 2015 Garagenblues der in die Beine ging und Spaß machte. Die ersten Fans ließen sich da auch nicht lange bitten, war es doch auch offensichtlich das besagter Johnny Mastro zu den Vorbildern der Jungs von Two Timer gehört. Nun folgte eine Frau, die mich eigentlich besonders interessierte, sie einmal live zu sehen: Carolyn Wonderland aus Austin Texas. Leider hatten wir da alle nicht so gute Karten, denn Frau Wonderland erschien ziemlich fertig und missmutig auf dem Gelände. Zu näheren Umständen kann ich nicht wirklich etwas sagen, unübersehbar war leider nur, das sie am liebsten gar nicht auftreten würde. Ein Glück das ich da nicht in der Haut des Veranstalters steckte! Schließlich betrat der Rotschopf deren Stimme gelegendlich etwas von der Joplin hat, doch die Bühne mit ihrem Trio Cole El-Saleh an den Keys und Rob Hooper an den Drums. Ansatzweise konnte man die eigentlichen Fähigkeiten der Multiinstrumentalistin erahnen, aber auch ihre Stimme war nicht in Höchstform. Leider! Sie gab schließlich einen vermutlich kleinen Querschnitt ihres Könnens in einer Mischung aus Delta-CountryMississippi-und Soul-Blues, Gospel und Funky Stuff, holte für zwei, drei Stücke auch die Lapsteel hervor MUSIK 13 Wasser-Prawda | Juli 2015 14 MUSIK und verließ dann aber nach einer knappen Stunde die Bühne wieder. Schade! Nun war der Mann aus Erfurt, den man gern auch als Urgestein der DDR-Blues-Rock-Szene betitelt, am Zug: Jürgen Kerth mit Stefan Kerth am Bass und Tony Natale am Schlagzeug. Die erste Viertelstunde seines Auftritts gestaltete sich arg nervig: der ostdeutsche Altmeister spielte zu lange und vollkommen übersteuert mit seiner Elektronik rum und ich wollte es eigentlich schon abhaken. Aber dann hatten sie sich plötzlich im Griff und es folgte ein wunderbarer mit vielen Improvisationen versehener Auftritt der Erfurter. Respekt, das machte Spaß und die Fans dankten es ihm mit reichlich Gehippel vor der Bühne. Irgendwann nach gefühlten zwei Stunden mussten die Veranstalter dann doch das Ende dieses guten Auftritts einleiten, denn es standen ja noch Nick Moss und Mason Rack auf dem Programm. Nick Moss das Schwergewicht des Chicago-Blues, der schon bei Buddy Scott und Jimmy Dawkins spielte und dem Willy Big Eyes Smith schließlich empfahl, vom Bass zur Lead-Gitarre zu wechseln, dessen Freund und Mentor ein Jimmy Rogers war, fand in dem charismatisch, stimmgewaltigen Sänger und Gitarristen Michael Ledbetter vor ein paar Jahren einen starken musikalischen Partner und so waren sie mit der Nick Moss Band am Start und ließen kaum Wünsche offen. Druckvoll aber auch ganz leise brillierte die Band mit feinstem Chicago-Blues, souligen Balladen Wasser-Prawda | Juli 2015 Mason Ruck. Rechte Seite: Jamie Roberts. und etwas Rock‘n Roll. Das riss mit! Der 46 jährige Moss selbst bediente mehr die bluesigen Songs und der für einige Jahre bei der Chicago Opera tätige Michael Ledbetter gab dem Konzert eher den souligen Anstrich der Motown-Legenden. Natürlich fehlte auch ein Tribut für den kürzlich verstorbenen B.B. King nicht. Alles in allem ein großartiger Auftritt einer Band, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte. Wieder einmal stellte sich kurz vor Mitternacht die Frage: Was sollte da noch kommen? Aufgrund der inzwischen doch relativ kühlen Temperaturen hatte ich schon überlegt, den langen Heimweg Richtung Sachsen anzutreten. Zum Glück tat ich es nicht! Mason Rack, den aus Brisbane stammenden Australier, eine Urgewald des Roots-BluesRock muss man gesehen und gehört haben. Sein Trio, zu dem Gitarristen und Sänger noch Jamie Roberts (bass/voc ) und Kristian Rousell (drums/voc) gehören, hängt die ganze Zeit am Starkstrom. Ruck passt in keine Schublade. Seine Stimme ist irgendwo zwischen Howlin Wolf und Tom Waits angesiedelt. Mit enormer Intensität schleudert er seine Musik zwischen Blues, Rock, Jazz und Gospel ins Publikum. Nachdem die Musiker während des Konzertes einmal sämtliche Instrumente getauscht hatten, endete der Auftritt in einer akrobatischen Percussions-Show: Die drei Musiker schlugen mit ihren Sticks auf alles ein, was ihnen in die Quere kam. Wow, was für ein gewaltiger Auftritt! Dieser gipfelte dann schließlich in der dritten Zugabe, nachdem das tobende Publikum ihn am liebsten noch eine Stunde gehört hätte in einer unglaublichen eigenen Version des Led Zeppelin -Klassikers „Who Lotta Love“ - absolut irre. Wir dürfen also gespannt sein ob und wie es im Spreewald weitergeht. MUSIK 15 Wasser-Prawda | Juli 2015 16 MUSIK Selwyn Birchwood IMPR ESSIONEN B E I M COGNA C B LUES PA SSION 2015 TEXT: IAIN PATIENCE, FOTOS: JANET PATIENCE Cognac Blues Passions ist mit Leich gkeit eine der wich gsten jährlichen Bluesveranstaltungen in Frankreich. Viele meinen, es sei das wich gste Event des Landes. Dieses Jahr wurde die 22. Auflage des Fes vals in Jarnac mit einem mitreißenden Konzert des tollen jungen Bluesman Selwyn Birchwood und seiner Band aus den USA eröffnet. Wasser-Prawda | Juli 2015 Birchwood hat 2013 so ziemlich alles bei der International Blues Challenge in Memphis abgeräumt, als er den Albert Collins Award für Gitarristen ebenso einsackte wie den Preis für seine Band im Wettbewerb. Er stammt aus Florida, der Heimat der verstorbenen Legende Arthur Black. Aber die letzten paar Jahre hat er ziemlich ohne Unterbrechung auf Tour in den USA und Europa verbracht, wo die Läden ebenso wie auch sein Ruf jedes Mal immer größer wurden. Eingeführt in die Musik und unterrichtet wurde er von Sonny Rhodes. Und jetzt erntet er die Vorteile seines anwachsenden MUSIK 17 tollen zehnköpfigen Band mit Bläsern, Gitarre, zwei Keyboards, Schlagzeug - gespielt von Rodd Bland, dem Sohn des verstorbenen Bobby Blue Bland (ein Mann, von dem Clay mir gegenüber scherzhaft bemerkte, er sei im Tourbus zur Welt gekommen), Bass und dem selten zu sehenden Chor von drei Blues/SoulLadies war Clay einfach fantastisch. Er zeigte schlicht und einfach, dass Qualität von Erfahrung und der Leidenschaft für die Musik kommt. Es war einfach passend, dass sein Otis Clay Auftritt mit neuen und altbekannRufs, einen coolen, modernen Blues stürmische Applaus nach ihrem ten Soul- und Bluesnummern zu spielen unter anderem mit einem einstündigen Auftritt war mehr als den Abend beschloss. Als Zugabe tollen Plattenvertrag mit Alligator verdient. brachte er das mittlerweile riesige Records in Chicago. Zum Schluss der ersten Nacht betrat Publikum dazu, gemeinsam den Er bestätigt, dass sich die Dinge für eines der echten Schwergewichte der Gospel „Amen“ zu singen, der ihn sehr schnell verändert haben amerikanischen Szene die Bühne nahtlos in Steve Croppers Klassiker seit dem Erfolg bei der IBC und er und zeigte allen, wofür Jahre der „Dock of The Bay“ überging, damals genießt deutlich jede Minute, die er Erfahrung gut sind. Otis Clay mag ja ein Welthit für einen anderen Otis auf Tour ist, besonders seit er größere inzwischen schon in den 70ern sein, und der perfekte Abschluss für eine Festivals und vor mehr Publikum seine Stimma aber ist dynamisch, Nacht voller großartiger Musik. spielt. Sein Eröffnungsset beim kraftvoll und reinster Samt für die Cocgnac brachte ihm viele neue Seele. Begleitet von einer einfach Fans ein mit einer Mischung als Blues-Standards und Stücken seines hochgelobten aktuellen Albums „Don‘t Call No Ambulance“. Wie immer griff er zum Schluss des Gigs zu seiner kleinen Lap-Slide-Gitarre - zumindest für mich der beste Teil der Show. Birchwoods flammender Darbietung folgte die tolle kanadische Sängerin Shakura S‘Aida. Eine echte Lady mit einer bemerkenswerten Stimme, brachte sie ihr Programm vor einem ständig wachsenden Publikum zu gehör. Ihr glitzernder Glamour-Look lockte die Leute ebenso an wie ihre rauchig-jazzig-soulige Bluesstimme Shakura S‘Aida den Platz zum Kochen brachte. Der Wasser-Prawda | Juli 2015 18 MUSIK B EIM 24. BLUES FE S T I N GA I L D OR F TEXT UND FOTOS: KARSTEN SPEHR Am 3.und 4. Juli war es wieder soweit, das kleine schwäbische Fachwerkstädtchen Gaildorf im BadenWür embergischen Ländle mu ert zum 24. Mal - seit 1991 im Zweijahresrhythmus zu einem Mekka des Blues. Das Line up ließ wie immer ein großes Musikereignis erwarten und vor dem unglaublichen Engagement und Organisa onstalent der Kulturschmiede Gaildorf e.V. samt ihren vielen Helfer konnte man schon immer den Hut ziehen. Die im Vorfeld prophezeite Hitzewelle mit Temperaturen an die 40° traten schließlich auch ein, taten dem Zuspruch zum Festival aber kaum Abbruch, strömten doch wieder Tausende aus ganz Europa an die Kocherwiese um auf einem der größten und schönsten Blues Festivals Deutschlands trotz gleisender Temperaturen dem Zwölftakter und seinen artverwandten Spielarten zu frönen. Der Opener Tastenmann Bruce Katz und sein Trio (Chris Vitarello Wasser-Prawda | Juli 2015 - Gitarre und Ralph Rosen - Drums) hatten ein schweres Los gezogen und hätten es sicher anders verdient. Hielt sich die Menge trotz feinem swingendem Blues und einer virtuos agierenden Band insbesondere des Bandleader‘s Katz an seiner Hammond B3 doch lieber vor dem Zelt als vor der Bühne auf. Und ich stimme Farmer John vom Blues Road Radio vorbehaltlos zu, wenn er sinngemäß schreibt, dass der Band ein charismatischer stimmgewaltiger Sänger/in, der die Menge zu packen weiß, zu wesentlich mehr verdienter Aufmerksamkeit verhelfen könnte. Nun war es an Earl Thomas & The Royal Guard, den HitzeBann zu brechen und das Zelt an der Kocherwiese zum Rocken zu bringen. Ich glaube, eine bessere Herausforderung für den großartigen Soul-und Blues-Entertainer der ersten Garde kann es kaum geben. Mit seiner hervorragend agierenden Royal Guard, (einzig der großartige Drummer und Bandleader Pat Levett ist dabei eine feste Größe. Alle anderen waren wie so oft gewohnt neu besetzt: Matt White – guitar, Kevin Allwhite – bass, Joe Glossop hammond organ und es waren zwei Bläser Bob Dowell – trombone und Neil Waters – trumpet dabei, die den Sound noch fetter machten) und seiner unglaublichen Stimm- und Bühnenpräsenz brachte Earl Thomas Bridgeman Jr. das Zelt zum Toben. Mit großer musikalischer Vielfalt zwischen Blues, Soul aber auch Gospel- und Rock-Elementen und gefühlvollen Balladen sowie gekonnt aufgebautem Spannungsbogen mit wunderbaren Tempowechseln, weiß der heute in San Diego lebende Künstler, der schon Songs für Etta James, Solomon Burke oder Tom Jones schrieb, immer wieder das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Und da ist es egal, ob das in einem Club ist wie kürzlich in Chemnitz oder vor Tausenden in Gaildorf. Seine energiegeladene Performance ist eine Klasse für sich. Leider mußte er dann, trotz lautstark applaudierenden Publikums, relativ schnell die Bühne räumen, weil der einem „Rockzirkus“ ähnelnde aufgeblasene Tross um Herrn Cray hinter der Bühne drängelte und dann doch verhältnismäßig ewig für den Umbau brauchte, ehe Robert Cray die Bühne betrat. Bei dem 61jährigen aus Columbus/Georgia, der seine Scheiben millionenfach verkaufte, scheiden sich deutlich die Geister. Die einen bejubeln ihn frenetisch trotz gewohnt stoischem Auftritts und weichgespültem Soulsounds. Die anderen lehnen ihn komplett ab. Ich fühle mich bei ihm auch besonders hin und her gerissen, wohl wissend, dass er Ende der Achtziger Bluesgeschichte schrieb und ein hervorragender Musiker ist (auch hier gab es in der MUSIK 19 Earl Thomas (mit Schlagzeuger Pat Levett) Wasser-Prawda | Juli 2015 20 MUSIK Mud Morganfield erweckte mit seiner europäischen Begl eitband d e n Geist seines Vaters Muddy Waters zum Leben. Ähnlichkeiten in Aussehen und Stimme liegen hier eindeutig in der Familie. Wasser-Prawda | Juli 2015 MUSIK Besetzung Richard Cousins – bass, Les Falconer – drums und Dover Weinberg – keyboards handwerklich nichts zu deuteln!), ist mir sein Sound in den letzten Jahren viel zu soft und farblos, obwohl er im ziemlich langen zweiten Set deutlich härtere bluesigere Töne anschlug. Alles in allem nichts wesentlich Neues von Robert Cray dafür aber zuviel Primbamborium drumherum. Zum Schluß des ersten Abends dann Mud Morganfield, der älteste Sohn von Muddy Waters (McKinley Morganfield) mit einer hervorragend aufspielenden europäischen Band an der Seite. Als da wären: West Weston – harp, Ronni Buysack-Boysen – guitar, Ian Jennings - double bass, Mike Hellier – drums, Eric Ranzoni – keys. Eine Mugge die einfach Spaß macht, ist es doch der Sound eines Muddy Waters der da zum Besten gegeben wird, auch wenn es eigentlich ein klassischer Cover-Auftritt ist. Mud sieht seinem Vater nicht nur in gewissen Posen sehr ähnlich, auch stimmlich liegt er ziemlich nahe und die wohlbekannte Gestik des berühmten Papa‘s fehlt nicht, wenn auch letztere etwas zu oft bemüht wird. Nichts desto trotz trägt der imposant charismatisch wirkende Mud den Geist seines Dad‘s in sich und versteht ihn mit seiner virtuos spielenden Band auf die Masse zu übertragen, die trotz später Stunde und immer noch fast unerträglich herrschender Hitze mehrere Zugaben fordert um dann zufrieden den ersten Abend zu beschließen. Am Samstag geht es dann schon 17 Uhr mit der erst 26 jährigen aus Kansas City stammenden Samantha Fish los. Zur Zeit ist sie eine der angesagtesten Gitarristinnen in Sachen Bluesrock. Es ist keinesfalls frischer geworden, eher im Gegenteil. Aber die junge Lady, die spätestens seit ihrem Blues Caravan-Auftritt 2011 nicht nur in der Männerwelt zu einer Art Publikumsliebling aufgestiegen ist und sich seither spürbar weiterentwickelt hat, schafft es mit ihren beiden Mitstreitern Christopher Morgan Alexander am Bass und Go-Go Ray an den Drums - das Zelt schon zu so früher Stunde zu füllen und zu rocken. Es folgen der aus St. Louis stammende und in Texas lebende Mike Zito & The Wheel. Der seit seinem spektakulären Auftritt mit der Royal Southern Brotherhood vor zwei Jahren nun mit seiner eigenen Band auf der Gaildorfer Bühne die Zuhörer vielseitig mit feinstem Texas-Bluesrock gepaart mit leichten Country-Einflüssen zu überzeugen weiß. Zwischendurch holt er Samantha Fish zum Duett auf die Bühne, deren Produzent er im übrigen ist und verausgabt sich vor johlendem Publikum mit mehreren Zugaben fast völlig. Ein Auftritt der kaum Wünsche offen ließ. Nun sollte eine Frau folgen auf die ich persönlich schon lange gespannt war. Die erst 30 jährige Nikki Hill aus North Carolina gilt als Shootingstar der Roots-Rock‘n‘ Roll Szene. Innerhalb von nur drei Jahren katapultierte sie sich fast aus dem „Nichts“ mit ihrer Band (die sie selbst ihre Pirate Crew nennt) - Ehemann Matt Hill an der Gitarre, Ed Strohsahl am Bass und Charles Jones an den Drums - auf 21 die großen Festivals dieser Welt. Das ist geballte Energie mit einer rauhen erdigen Stimme (die in der Tat gelegentlich an die RockabillyQueen Wanda Jackson erinnert) in Gestalt einer bildhübschen jungen Sängerin. Nikki (in ihrer Heimat auch liebevoll „Southern Fireball“ genannt) und ihre Mitstreiter sind ein Donnerschlag (wie es so schön im Programmheft heißt). So war es dann auch – sehr cool, sexy und unglaublich energiegeladen rockte sie das Festzelt mit rauer erdiger Stimme, im Stil der Blues & Rockabilly-Shouter der 50er verbunden mit ihrer unglaublichen Stax-Soul Dynamik,(angelehnt an die namenhaften Soulkünstler des alten Stax-Labels aus Memphis das in den 60er und 70ern Maßstäbe für die Soulmusik setzte). Der treibende Sound von Matts Gitarre und Nikki‘s Stimme verschmolzen mit ihren beiden rhythmusgebenden Jungs. Strohsahl und Jones boten einen Sound wie er authentischer kaum sein kann. Spätestens hier fanden auch längst abtrünnig gewordene zurück zum Rock‘n Roll. Konnte es da noch einen drauf geben? Ja, denn jetzt war der aus Amarillo Texas stammende 2-MeterMann Sugaray Rayford der sich in seinem Song „Texas Bluesman“ seiner herrvorragenden aktuellen Scheibe „Southside“ folgerndermaßen selbst beschreibt: „..six foot tall, 300 pounds, ..black cadillac and I got four dolls...,I‘m a texas bluesman, baby...“, betrat mit seinem Sextett - Gino Matteo – guitar, Ralph Carter – bass, Lavell Jones – drums, Allan Walker – tenorsax, Wasser-Prawda | Juli 2015 22 MUSIK Wasser-Prawda | Juli 2015 MUSIK Christian Altehülshorst - trumpet sowie der kurzfristig aus Aachen eingesprungene junge Simon Oslender an den keyboards. Großes Kino von einem großen Mann mit einer großen Stimme mit unglaublicher Energie und Bewegungsfreudigkeit (die normale Europäer nur erblassen läßt) trotz gleißender Hitze. Spätestens nach dem zweiten Song stand Sugaray komplett vom Schweiß durchnässt auf der Bühne, was ihn aber in keinster Weise daran hinderte seine Show durchzuziehen während seine Crew dazu fett groovte. Es hieß Partytime! Hier bekam man das gesamte Programm von Mississippi über Chicago, Texas bis zu feinstem modernen Soul-Blues mittels urwüchsiger Energie und großem schwarzen Entertainment geboten. Kleine Bemerkung am Rande dieses phänomenalen Auftritts, der erst 17 jährige Simon Oslender wurde erst am Morgen für den ausgefallenen Keyboarder gebucht und schlug sich sehr beachtlich! Er hatte eigentlich einen Auftritt im Schloßgarten am Mittag mit den Özdemirs und kam so zu großen Ehren. Nach dieser gewaltigen Show und ordentlich Zugaben wurde das Zelt doch etwas leerer, denn was konnte jetzt noch kommen? Diese relativ undankbare Aufgabe nach Sugaray auftreten zu müssen fiel Tommy Castro & The Painkillerrs zu, der allerdings in seiner Heimat als einer der besten Liveacts gilt. Es brauchte zwar ein gewisse Zeit aber dann hatte Castro mit seiner angenehmen Mischung aus Blues, Rock und Soul die noch reichlich verbliebenen Nachtschwärmer im Griff. 23 links oben; Mike Zito & Jimmy Carpenter, links unten: Matt & Nikki Hill oben: Nikki Hill Unterstützend bat er für ein paar Titel Samantha Fish auf die Bühne, die sich wunderbar in die Band einfügte und später kamen noch Simon Oslender und Sugaray, die Tastenmann James Pace tatkräftig unterstützten, dazu. Castro und seine Mannen- Randy McDonald – bass, James Pace -keyboards und Bowen Brown – drums, boten letztendlich wunderbaren Gitarren-Blues, der alle Durchhaltenden ziemlich entspannt zu nächtlich heißer Stunde aus dem 24. Gaildorfer Bluesfest entließ und gespannte Vorfreude auf das 25. in zwei Jahren entstehen ließ. Alles in allem haben die Jungs und Mädels der Gaildorfer Kulturschmiede wieder mit viel Herzblut ein perfektes Festival hingelegt, wo es weder Hänger gab noch Wünsche offen ließ., um so erstaunlicher das ein solches Festival beim German Blues Award noch nie einen Preis bekommen hat. Wasser-Prawda | Juli 2015 24 MUSIK Sugaray Rayford & Band unten: Tommy Cast ro & Samantha Fisch Wasser-Prawda | Juli 2015 MUSIK 25 WITZ IG, ROMA NT I S CH U ND MIT DER G E WA LT E I NE R DUR CHGE HEND EN R I ND E R HE R D E 18. JULI: RICHARD BARGEL & DEAD SLOW STAMPEDE IN GREIFSWALD. TEXT UND FOTOS: RAIMUND NITZSCHE Die echten Geschichtenerzähler im Blues sind heute ziemlich selten geworden. Richard Bargel ist einer, ein Songschreiber, der in seinen Liedern seinen Blick auf die Welt, das Leben und den ganzen Rest schildert, mal e raurig, mal mit bi erbösem Humor, mal einfach nur ergreifend. Gemeinsam mit seiner Band Dead Slow Stampede (Geert Roelofs - dr,perc, Jo Didderen b und Fabio Ne ekoven - g, mand) spielte er Wasser-Prawda | Juli 2015 26 MUSIK am 18. Juli sein erstes Konzert in Greifswald. Auf dem Programm standen vor allem Stücke des aktuellen Albums „It‘s Crap!“. Aber auch ältere Songs des seit 45 Jahren aktiven Songwriters, Gitarristen, Schauspielers und Konzertveranstalters waren zu hören. Nur wer auf Stücke, die Bargel gemeinsam mit Klaus „Major“ Heuser aufgenommen hatte, gewartet hat, wurde etwas enttäuscht. Dead Slow Stampede sind überhaupt nicht die Band, um Wasser-Prawda | Juli 2015 irgendwelche Rockexzesse zu veranstalten. Was natürlich nicht heißt, dass diese Band nicht auch gehörige Power verbreiten kann. Wer sich auf einen ruhigen und besinnlichen Abend eingerichtet hatte, wurde überrascht: Diese Band entwickelt live eine Wucht, die zeitweise wirklich an eine durchgehende Rinderherde erinnern kann. Zwischen klassischem Blues, ein wenig Country oder Americana und manchmal sogar jazzigen Ausflügen haben diese vier Musiker eine Intensität entwickelt, die jedes Bluesrocktrio vor neid erblassen lässt. Das ist Blues, wie er sein sollte: Kraftvoll, zeitgemäß, persönlich und voller Energie! Wer sich fragt, wie so ein Ausna hmekünstler den Weg nach Greifswald fand: Gerhard Heims, seit mittler weile 25 Jahren mit seiner „Fundgrube“ als Schallplattenhändler in der Stadt und weit darüber hinaus bekannt und beliebt, hat für seine Stammkunden und Geschäftspartner ein großes Kontingent von Karten geordert. Und vor allem die waren es, die MUSIK 27 den Weg in die Brasserie Hermann Einen solchen Laden gibt es zwigefunden haben - und in der schen Berlin und Hamburg nicht Pause und hinterher sich über tolle noch mal. Vinylausgaben von Bargels Platten gefreut haben. Schade nur, dass Gerhard Heims mittlerweile daran denkt, in den Ruhestand zu gehen. rechts: Gerhard Heims, seit 25 Jahren Chef der „Fundgrube“, des besten Plattenladens zwischen Berlin und Hamburg. Wasser-Prawda | Juli 2015 28 MUSIK M AR C BROUSSA R D : LI V E U ND UNTER VOLLEN SEGELN TEXT: MARIO BOLLINGER. FOTOS: CHRISTOPHE RASCLE Am 25.6.15 gas erte Marc Broussard im Backstage Club in München. Wer regelmäßig unsere Ar kel liest, weiß, wie begeistert wir von ihm als Support von JJ Grey & Mofro waren. Aber zu Marc Broussard kommen wir gleich. Der Abend wurde von Ingo Wasser-Prawda | Juli 2015 Lechner eröffnet, der sich als 50% von Mighty Steel Leg Experience vorstellte. Lediglich mit seiner Gitarre und ohne seinem Bernhard präsentierte er akustischen Indiefolk. Mit eigenen Stücken, die sich irgendwo um Simon & Garfunkel herum einordnen lassen, konnte er das max. 40 Personen umfassende Publikum durchaus begeistern. Spätestens wenn das nächste Album im Spätsommer erscheint, werden wir wieder von Mighty Steel Leg Experience berichten. Dann aber trat Marc Broussard die Bühne. Seine Band besteht bis auf seinem Drummer aus gecasteten europäischen, in der Schweiz ansässigen Musikern. Wie wir beim Interview erfahren haben, hat diese Band nie vorher geprobt. Und Marc Broussard eröffnete gleich mit schweren Geschütz. Den Folksänger hat er zu Hause gelassen. Stattdessen präsentiert er sich von der bluesig rockigen Seite. Das erste Stück geht nahtlos in ‚Hey Joe‘ über gefolgt von MUSIK Stücken der älteren CDS wie ‚Save me‘. Wer seine letzte Live CD ‚Live at Full Sail University“ gehört hat, kennt die Art, wie Marx Broussard seine Songs präsentiert - Eine Geschichte vorab, persönlich und intim. Er erzählt, wie er beim Autofahren einer Radiosendung über einen verstorbenen bekannten Comedien zuhört. Er war so ergriffen, was ihn zu dem Song ‚ Man ain‘t supposed to cry‘ inspirierte. Aber das Beste ist immer wieder Marcs Stimme: Schreiend, weinend, melodiös und soulig. Wenn man die Augen schliesst, kann man sogar gelegentlich Stevie Wonder hören. Dann von der neuen Live CD ‚ Lonely night in Georgia‘. Marc Broussard geniert sich auch nicht, Cover Versionen wie ‚Lovely Day‘ zu spielen. Da geht er wohl mit seiner gecasteten Begleitband auf Nummer sicher. Zur Band gehören der aus Venedig stammende Bassist Mr PC oder Pierangelo Crescenzio, der Lausanner Keyboard Martin Chabloz und der aus Zürich stammende Gitarrist Cyrill Camenzind. Für mich allerdings ist das Rückgrat der Band Marcs Drummer Chat Gilmore. Er gibt die wichtigen Nuancen, um die Songs zu Marc Broussard Songs zu machen. Tempowechsel, Wechsel von R&B zu Reggae und zurück. Unter Berücksichtigung, dass es nur ca. 40 Besucher waren, hätte man den Abend als Probetermin 29 für eine Band abtun können, die sich noch nie getroffen hat. Aber weit gefehlt: Die Band präsentierte sich als kompakt, flexibel und routiniert. Marc variierte schon mal z.B. meinen Favoriten ‚‘Dyin‘ Man‘, wo man noch ein Stück über eine Improvisation anhängt. Die begeisterten Besucher bereiteten Marc Broussard noch einen schönen Abgang aus dem fast leeren Backstage Club, indem sie ihm noch 2 Zugaben abforderten. So spielte Marc Broussard noch ‚Blue Bird‘ und ‚Waiting in vain‘. Nach dem Konzert kam Marc Broussard noch zu uns, um die zwei Gewinner der Tickets persönlich zu begrüßen. Wasser-Prawda | Juli 2015 30 INTERVIEW L OUIS IA NA , BÄ RT E U ND FI NA NZ E N MARIO BOLLINGER IM GESPRÄCH MIT MARC BROUSSARD. FOTOS: CHRISTOPHE RASCLE Wie bereits berichtet gas erte Marc Broussard am 25.6.15 im Münchener Backstage Club. Marc Broussard stellte sich als professionell und kommerziell effek ver Musiker dar, der sehr bewusst Kosten kontrolliert und seine Mi el sehr geschickt einsetzt. Auch konnten wir in Wasser-Prawda | Juli 2015 Marc Broussard einen Musiker entdecken, der die Natur, die Kultur und Tradi onen von Louisiana respek ert. Wir trafen ihn, als er gerade im Backstagebereich seine Gitarre neu besaitete und sich durch das Interview überhaupt nicht stören hat lassen. WASSER-PRAWDA: Hallo Marc Broussard, herzlich willkommen in München. Was kennst Du schon von München? Marc Broussard: Ähm, nichts. Wir hatten aber letzten Abend ein leckeres italienisches Abendessen. WP: Das ist OK, wir sind ja quasi Norditalien. Hattest Du Gelegenheit, durch Bayern zu reisen und Dir was anzuschauen? Marc Broussard: Nein, wir sind direkt von Houston eingeflogen. Ich habe 4 Kinder und eine Frau zu Hause und die möchten mich immer so schnell wie möglich zurückhaben. Daher verschwende ich nicht INTERVIEW Deine Songs im Konzert ankündigst, kann man sehen, wie Du WP: Du kommst aus Louisiana. Dein Herz und Deine Seele Was ist das Beeindruckenste aus öffnest. Hast Du keiner Angst, zu Louisiana? viel aus Deinem privaten Leben MB: Ich glaube unsere Kultur ist das zu erzählen? Beeindruckenste. Das ist eine Kultur, MB: Nein, als Mensch bin ich ein welche älter als die Amerikanische offenes Buch. Ich war mein ganzes Verfassung ist. Meine Vorfahren Leben so. Ich habe nichts zu verstekamen ca. 1750 nach Louisiana cken und ich bin kein böser Junge. und der spanische und französische Es gibt also für mich kein Risiko, Einfluss ist immer noch sehr tief. mein Leben der Öffentlichkeit W P: Deine Vorfahren waren auszusetzen. französisch? WP: Ich habe JJ Grey gefragt, MP: Korrekt was er über Dich zu berichWP: Wie wichtig sind Louisiana ten weiß und er antwortete: „Er und seine Schönheit für Deine kennt alle Akkorde!“. Bist Du der Songs? Akkordspezialist und wie viele MB: Extrem wichtig. Das viele Reisen Akkorde kennst Du? hat mir eine hohe Wertschätzung MB lacht: Ich liebe JJ, er ist ein großüber das gegeben, wo ich herkomme. artiger Kerl. Ich weiß nicht, wie viele Wenn ich beim Schreiben beein- Akkorde ich kenne und ich weiß flusst bin, dann durch das, wo ich nicht, ob ich alle Akkordwechsel herkomme, beeinflusst: Ja, da ist sehr kenne. Mein Vater ist dafür verbeeinflussend. antwortlich. Er hat mir alle die WP: JJ Grey hat uns ebenfalls Akkordwechsel beigebracht. Er ist erzählt, dass er von der Natur und ein hochtalentierter Musiker und ist der Umgebung beeinflusst ist. Ist durch Jazz und Fusion beeinflusst. das typisch für Louisiana? WP: Deine letzten Alben gibt es MB: Ich glaube es ist mehr als alles nur also Download. Gibt es auch Andere eine Sache den Südens. Ich CDs in Hardware? kann es aber nicht genau sagen. MB: Ja, wir haben für die Tour James Taylor singt über Berkshires CDs dabei. Aber ich glaube, es ist und John Denver hat über Rocky ein totes Medium. CD-Verkäufe Mountain High gesungen. Es ist nehmen weltweit ab und außer bei also nicht endemisch eine Sache den Tourverkäufen machen CDs des Südens, aber als Mann des nicht mehr viel Sinn. Südens sind wir ein bisschen mehr sehr mit unseren Wurzeln verhaftet, W P: E s i s t a l s o De i ne weil diese Wurzeln einfach sehr weit Marketingtaktik, nur noch online zu verkaufen? zurückgehen. WP: Wenn man Deinen Songs MB: Absolut! Nach einiger Zeit zuhört und auch die Art, wie Du wird nichts mehr übrig bleiben. Alle Marktindikatoren zeigen auf viel Zeit an den Spielorten. 31 die digitale Revolution. WP: Ich liebe es, CDs aufzumachen, das Booklet zu lesen. MB: Ich genauso. Ich liebe das Kunstwerk und das Gefühl, etwas in den Händen zu halten. Ich lehne das nicht ab genau so wie ich Vinylplatten und daren Comeback mag. Ich werde auch weiterhin CDs machen, weil wir möchten, dass die Fans etwas mit nach Hause nehmen. WP: Ein deutscher CD Händler verkauft bereits mehr als 50% Vinyl. MB: Das ist überraschend! Auch Mascot-Provogue verkauft bereits sehr viel Vinyl. WP: Das Album “Live in Full Sail University” kam nach der DVD. Was war der Grund für eine Audioversion zur DVD? MB: Beide kamen zusammen, das Audio kam ohne weiteres Material. Wir wollten etwas Verkaufbares für Alle machen. Nicht jeder hat einen BlueRay-Player und nicht jeder mag ein Livekonzert anschauen. WP: Kommst Du öfters nach Europa oder Deutschland? MB: Absolut! WP: Wie oft warst Du schon hier? MB: Wir kommen seit ca. 7 Jahren. Wir haben unsere CDs wie z.B. „SOS“ bei einem holländischen Label untergebracht. Also habe ich in 2008 angefangen, rüber zu kommen. Danach ist es ein wenig eingeschlafen. Ich kann nicht mal sagen, warum das so passiert oder ob das Managmen nicht die gleichen Ziele hatte wie ich. Ich hatte immer den starken Wunsch, hier zu sein und Musik zu machen. Der Plan ist Wasser-Prawda | Juli 2015 32 INTERVIEW jetzt, so oft wie möglich zu kommen. WP: Dein Manager Doug hat mir sofort angeboten, ein Meet&Greet mit Fans zu machen. Ist das ein üblicher Weg für Dich, Fans zu treffen? MB: Ich habe überhaupt nichts dagegen, Fans so zu treffen und ich versuche mich, so verfügbar wie möglich zu machen. Ich komme gern nach der Show raus und hänge mit Fans ab. Ich liebe meine Fans und der erstaunlichste Aspekt von meinem Tun ist die Fähigkeit, mich mit den Menschen zu verbinden. Der Punkt hier ist, wie meine Musik ihr Leben beeinflusst. Das bestätigt mir, dass ich das tue, was man von mir erwartet. Der Vater, der mir bei einem Konzert erzählt, dass er jahrelang nicht mit seinem achtzehnjährigen Sohn zu Recht kam, bis er und sein Sohn eine Aufnahme von mir gemeinsam hörten. Oder der Typ in L.A., der 30 Tage im Koma lag, bis seiner Freundin ihm „Home“ von mir im Radio vorspielte. Das erfüllt meine Seele als Künstler und zeigt mir, wo ich bin und sein sollte. WP: Tedeschi Trucks führten JJ Grey als supporting act und Freunde von ihnen ein. JJ Grey erzählte von Dir als Freund und Mitglied der South East Mafia oder Southies. Was weist Du über Deinen Opener Ingo Lechner und Mighty Steel Leg Experience? MB: Ich habe keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass wir einen Supporting Act haben. W P: Warum haben so junge Männer wie Du so mächtige Wasser-Prawda | Juli 2015 Bärte? MB: Well… Für mich gibt es nur einen Grund: Meine Frau ist ein großer Fan meines Bartes. In den Augen meiner Frau ist das sexy und je länger er wird und so sexier werde ich ihn ihren Augen. WP: Let’em grow! MB: Yes. Let the f…. beard grow! PC und Cyril letzten November auf Tour für die SEAT Music Sessions in der Schweiz getroffen. Beide spielten in der Hausband. Als ich dann mit JJ wieder kam, hatte ich ein paar Soloshows . Ich habe PC angerufen, damit er ein paar Shows mit mir macht. Und dieses Mal hat er seinen Freund Martin Chabloz für die Keyboards mitgebracht. Und wenn WP: Stellst Du uns Deine Band wir am Samstag in Holland spielen, vor? nehme ich ein paar holländische MB: Klar. Wir haben hier aus Genf Musiker mit und in London nehme am Bass den aus Venedig stammende ich ein paar englische Musiker. Bassist Mr PC oder Pierangelo WP: Nimmst Du immer lokale Crescenzio. An den Tasten haben Musiker? wir aus Lausanne Martin Chabloz MB: Yes, Sir! Und das läuft erstaunund an der Gitarre Cyril Camenzind lich gut. Wir buchen immer die aus Zürich. besten Musiker der Gegend und WP: Und der letzte im Reigen? die Jungs kommen immer Bestens MB: Der Drummer ist Chet Gilmore vorbereitet, wenn Du die Besten aus New Orleans/Louisiana. Chet anheuerst. spielt mit mir seit 12 Jahren. WP: Gibt es da eine Probe vorher? WP: Wie kam es, dass Ihr zusam- WB: Das braucht es nicht. Wir menspielt? Ist das nur für die proben vielleicht mal einen Schluss Tour? oder kleine Teile der Songs, aber MB: Ja, nur für die Tour. Ich habe ich vertraue den Jungs, dass INTERVIEW 33 kann und mit 150 Shows und 500 Besuchern pro Konzert machen kannst, dann machst Du einen enormen Gewinn. Es kommt darauf an, wie hart Du arbeitest. Als wir mehrere Hunderttausend Dollar zur Verfügung hatten, haben wir Geld bei aufkommenden Problemen im Studio verbrannt. Als wir weniger Geld zur Verfügung hatten, wurden wir bei aufkommenden Problemen stattdessen kreativ. Daher bin ich überzeugt, dass ein finanzielles Kostenlimit eine gute Sache ist sowohl was die kreative wie auch die finanzielle Seite betrifft. Es kann sein, dass die Verdienste von den Musikanbietern sehr klein sind, aber es gibt wohl noch kein Modell, was sowohl den Künstlern wie auch den Musikanbietern gerecht wird. Wir können das hier jetzt nicht vertiefen, weil es eine komplett neue Geschichte wäre. Aber zusammenfassend kann man sagen, dass wir uns in eine Richtung bewegen, die Vorteile sowohl für den Musiker wie auch den Musikanbieter bringen muss. Ich bin sicher, dass man heute ein Album für 30000 Dollar produzieren kann. Das Geld muss bei den Musikern und bei einem guten Produzenten ausgeben werden. Das Geld darf nicht in Studios ausgeben werden. Wir sind in der digitalen Revolution, um Aufnahmen zu machen und da muss man keine Hunderttausende von Dollars ausgeben. sie vorbereitet sind und ihre über den Verkauf von Musik und Hausaufgaben gemacht haben. es gibt einen Grundtenor der Beschwerde, dass die Umsätze WP: Wir waren sehr beeindruckt, beim Musikvertrieb gering sind. dass Du als Solist nur mit einer Wie siehst Du das? Gitarre in der Hand die Show M B : I c h h a t t e m e h r e r e für JJ Grey&Mofro eröffnet hast. Plattenverträge in meiner Karriere. Machst Du solche Soloshows Einige waren sehr große Verträge öfters? über mehrere Hunderttausend MB: Nicht sehr oft. Ich habe das Dollars für ein Album. Der letzte früher gerne gemacht. In solchen Vertrag war verhältnismäßig klein Fällen ist es vor einem kleinen und der wahre Punkt hier ist folPublikum irgendwo in einem gender: Als ich 2008 oder 2009 Kellerlokal gewesen. 425000 Dollars für ein Album als WP: Wann machst Du Soloshows Produktionskosten ausgeben habe, und wann gehst Du mit einer haben wir das meiste Geld im Studio Band auf Tour? ausgeben. Bei dem letzten Album MB: Kommt wirklich auf die haben wir nur 40000 Dollar ausSituation an. Das hängt von den ver- geben und das hauptsächlich in die fügbaren Ressourcen ab. Geld spielt Musik gesteckt. Das meiste Geld eine Rolle. Ich möchte die Jungs hier wird also auf der Produzentenseite nicht fragen, umsonst oder für wenig ausgegeben. Wenn Du also das Geld spielen. Dann spiele ich lieber Album für “fast Nichts“ oder WP: Vielen Dank für das intersolo anstatt die Jungs mit einer mini- unter 30000 Dollars produzieren essante Interview und wir sehen malen Gage zu beleidigen. kannst und 15000 Alben verkaufen uns nach der Show für das WP: Wir reden viel mit nationa- kannst, wenn Du eine Fangemeinde Meet&Greet mit den beiden Fans. len und internationalen Bands hast, die man auf Tour abgrasen Wasser-Prawda | Juli 2015 34 MUSIK DIE H OFFNUNG LI E GT I M M E R IN DER ZUKUNFT 24. JUNI: DER WU TANG CLAN IN BERLIN. TEXT: CHRISTOPHER GOTTSCHALK. Kommt zusammen für ein besseres Morgen. Die Hoffnung liegt ja immer in der Zukun und dauert bei den sehr op mis schen Wasser-Prawda | Juli 2015 Zeitgenossen ewig an. Die Hoffnung und der Wu-Tang Clan – wer oder was hält sich sonst noch ewig? „Wu Tang Is Forever“ – so weiß man es seit 1997 in der gesamten HipHop-Welt. Nun ha e ich dieses Jahr die Chance eine meiner liebsten und von mir am meisten gehörten HipHop Acts live zu erleben. MUSIK Die legendären Mitglieder vom Wu-Tang Clan besuchten am 24.06.2015 die Hauptstadt Berlin. Offiziell kamen sie im Namen ihres neuen und wahrscheinlich letzten Albums „A Better Tomorrow“. Allerdings stellte sich heraus, dass das Beste an der A Better Tomorrow Tour ( insgesamt 5 Konzerte in Deutschland) die Abwesenheit jeglicher Tracks von ebendiesem Album ist. Das letzte Werk des Clans ist nicht schlecht. Es hat seine Höhepunkte in langsam dahintrabenden Beats, die durchsetzt sind mit den altbekannten Samples aus den Kung Fu Filmen der 70er Jahre und den Momenten, in denen Method Man und Ghostface Killah zeigen, dass sie musiktechnisch in all den Jahren nichts eingebüßt haben. An die rohe Energie des ersten Albums allerdings kam der Wu Tang Clan als Gruppe nie mehr heran. Und so schlägt man sich vor einem Konzert von Legenden mit der Sorge herum, ob die Helden der Jugend mit der voranschreitenden Zeit nicht doch etwas von ihrer Energie eingebüßt haben. Ob der kreative Funke noch zündet. Denn wer will schon Roger Waters solo hören, wenn es „Shine On You Crazy Diamond“ gibt? Als ich mit zwei Freunden beim Konzert ankam, fiel mir zuerst auf, dass der Clan noch immer Zugkraft hat. Es sind zwar keine 70.000 Leute, wie sie AC/DC am Tag danach ins Berliner Olympiastadion holten, aber immer noch genug um das 35 Konzert aus der Columbiahalle in die ARENA Berlin zu verlegen. Wobei man hier fragen sollte: warum? Zum einen scheint die ARENA nicht in der Lage zu sein, einen vernünftigen Sound herzustellen. In meiner akustischen Weltsicht sind Bässe und ein paar Höhen und sonst NICHTS kein gutes Klangerlebnis. Zum anderen lässt sich auf pure Gier schließen, wenn man bedenkt, dass in der ARENA mehr Tickets verkauft werden konnten, obwohl die Veranstalter den Fans eines vorher verschwiegen hatten: Der Wu-Tang Clan war nicht komplett in Deutschland. Dazu gleich mehr. Bei der Ankunft sah ich eine große Menge Menschen, die alle hauptsächlich schwarze Sachen trugen, aufgehellt von Ol Dirty Bastard Portraits oder dem ikonischen „W“ im Batman-Stil. Es war eine unerwartet gemischte Menge aus Männern und Frauen, den üblichen Verdächtigen – die Kopfnicker und Backpacker- , Punks, Hipster, die das W mit beiden Händen schon vor Wasser-Prawda | Juli 2015 36 MUSIK dem Konzert auf Facebook verewigen wollten und einer Person, dessen exzessives Nasenpiercing aus mehreren Ringen den Eindruck eines merkwürdigen Oberlippenbärtchens auslöste und alle diese Menschen tranken Bier, rauchten und warteten auf das Konzert von HipHopLegenden, die noch nicht Mythos, aber schon Teil der Mythologie sind. Dieses Geräusch der Schwerter und das amerikanische Gemurmel aus den fiktiven Shaolintempeln des Hongkongkinos der 70 Jahre eröffnete das Konzert. Es ist der unbestreitbare, im HipHop Gedächtnis festgenagelte Klangteppich der 36 Kammern der Shaolin. „All I Can Try Is My Wu Tang Style…. Bring The Motherfucking Ruckus“. Der Wu Tang Clan eröff nete das Konzert mit dem ersten Track ihres Debütalbums und gab danach „Da Mystery Of Shadowboxin“ zum Besten. Beide Tracks wurden von den Leuten um mich herum Wort für Wort mitgerappt und zelebriert. Man sah den Gesichtern an, dass das hier gerade ein großer Moment ist. Auf der Bühne standen Ghostface Wasser-Prawda | Juli 2015 mit, antwortete auf „Do You Like HipHop“ mit „Hell Yeah“ und stand mit Begeisterung da als Cappadonna mit einem fünfminütigen Acapella brillierte und hielt ihre Hände hoch als der Beatlesrefrain von „Come Together“ eingespielt wurde. Ein Wu Tang Clan Konzert lohnt sich. Wu Tang – HipHop ist eine Mischung aus Nostalgie und Aktualität, er bewältigt die Aufgabe, HipHop 42 Jahre nach seiner Geburt durchs Erwachsenendasein und in die Moderne zu führen. Der Abend bot weitere Tracks von GZA, U-God Killah, GZA, Inspektah Deck, und einen Überraschungsauftritt U-God, Masta Killa, Cappadonna und Freestyle von Jeru The Damaja. und Street Life. Nicht dabei waren Ich hoffe, dass die Crew aus Staten Method Man, Raekwon und RZA, Island noch viele Jahre auf der der Architekt des Clans. Für mich Bühne steht. hat das dem Abend nicht geschadet. Schande über den Veranstalter, der die Fans darüber im Dunkeln ließ und gleichzeitige Bewunderung an die restlichen Wu Tang Leute für diese Show. Die Jungs haben auch nach zwei Dekaden im Geschäft ihren Hunger nicht verloren und wollen performen bis die Klamotten vor Schweiß triefen. Das fordern sie auch von ihrem Publikum. Ghostface Killah forderte das Publikum auf, die verdammte „low Über den Autor energy“ zu beenden und mit der Christopher Gottschalk, 24 Jahre gleichen Energie zu feiern, die dann alt, ist momentan Student der von der Bühne zurück kommt. Mit Politikwissenschaft. Er ist ein Klassikern wie dem doppeldeuti- Anhänger der Literatur Hunter gen „Ice Cream“, dem basslastigen S. Thompsons und würde selbst „Daytona 500“, einer acapella einge- gerne Gonzo schreiben. leiteten Version des immer noch fri- Seine Interessen sind breit gefäschen „Wu Tang Clan Ain’t Nuthin chert: Was interessant ist, sollte Ta Fuck Wit“ und einer insgesamt aufgeschrieben werden. runden Mischung aus Clan- und Solosongs stieg die Energie dann auch. Die Menge schrie die Refrains B L U E S K A L E N D E R 37 BLUESKALENDER Zusammenstellung: Matthias Schneider (blueskalender. blogspot.de) 1928 1953 1957 Robert Cray 1946 1948 1969 01.08. Piano Slim aka Robert T. Smith* Robert Cray* Deitra Farr* 02.08. Inga Rumpf* Andy Fairweather Low* René Edmond Lutz* Rusty Wright* Internationaler Tag des Blues 03.08. 1915 1971 Mercy Dee Walton* Ronnie Shellist * Matthew Skoller * 1901 2003 2005 2014 Louis Armstrong* Big Al Dupree+ *1923 Little Milton+ Lynwood Slim+ 1947 1957 2003 Rick Derringer* Joe Hill Louis+ J.W. Warren+ 1900 1922 1949 1954 1973 2001 Willie Brown* Willie Nix* Lillian Boutté* Corey Stevens* Memphis Minnie+ Larry Adler+ 04.08. Inga Rumpf 05.08. Memphis Minnie 06.08. Memphis Minnie 38 BLUESKALENDER 07.08. 1937 1944 1957 1984 1984 1984 Magic Slim* Denny Freeman* Nuno Mindelis* Eddy Ghossein* Esther Phillips+ Harmonica Frank+ 08.08. Magic Slim 1910 1923 1953 1953 1955 1962 1967 Lucky Millinder* Jimmy Witherspoon* Tim Gaze* Lady Bianca* Caroline Aiken* Deak Harp* Erkan Özdemir* 1908 1947 1960 1963 2005 Robert Shaw* Trudy Lynn* Hart Wand+ Tony Spinner* Detroit Junior+ 09.08. 10.08. Jimmy Witherspoon 1947 1948 1948 1962 1992 Dellie Hoskie Jr.* Lucille Bogan+ Mick Clarke* Ras Smaila* Annisteen Allen+ 1887 1926 1966 1984 1989 Sam Collins* Eddie Tigner* Peg Leg Howell+ Percy Mayfield+ Sonny Thompson+ Nico Wayne Toussaint* 11.08. 12.08. 1920 1934 Percy Mayfield Percy Mayfield* Roy Gaines* B L U E S K A L E N D E R 39 1947 1969 1974 1997 2008 Albie Donnelly* Albert Castiglia* Pink Anderson+ Luther Allison+ Hosea Leavy+ 1919 1921 1943 1965 1971 Baby Boy Warren* Jimmy McCracklin* Geoff Muldaur* Jimi Bott* King Curtis+ 1937 1942 1957 1960 1984 1988 1990 Terry Evans* Son Seals* B.J. Sharp* Pat Thomas* Bobo Jenkins+ Roy Buchanan+ Lafayette Leake+ 13.08. 14.08. Luther Allison Roy Buchanan 1911 1942 1957 1958 1959 1961 1972 1995 1995 2009 1915 1923 1925 1935 1938 1951 1967 Erix Bibb 15.08. Buster Brown* Pete York* Hawk Levy* Big Bill Broonzy+ Paul Cox* Stick McGhee+ Baby Tate - Charles Henry Tate+ Jesse Thomas+ Erbie Bowser+ Jim Dickinson+ 16.08. Melvin „Lil‘ Son“ Jackson* Eddie Kirkland* Edna Hicks+ Bobby Mitchell* Robert Johnson+ Eric Bibb* Dan Pickett+ 40 BLUESKALENDER 1939 1943 1969 1984 1906 1928 17.08. Luther Allison* Dave „Snaker“ Ray* Woodstock Festival 15.-18.08.1969 Hammie Nixon+ 18.08. Curtis Jones* Barkin‘ Bill Smith* Steve Lury* Taylor Scott* Ronnie Keith Owens* 19.08. Luther Allison 1935 1939 1953 1953 1959 2013 2014 Earl Gaines* Ginger Baker* Lynwood Slim* Willie Love+ Blind Willie McTell+ Fritz Rau+ James Kinds+ Mel Melton* 1935 1944 1952 1971 2008 2008 J.J. Malone* Uncle John Turner* John Hiatt* Heike Matzer* Little Arthur Duncan+ Phil Guy+ Allen Vega* Jimi Barbiani* 1939 1951 1953 1963 1977 1981 James Burton* Bobby D. Benison* Doug James* Dave Specter* Matt Schofield* Amedee Frederick* 20.08. Ginger Baker 21.08. Matt Schofield B L U E S K A L E N D E R 41 1920 1922 1923 1931 1952 1978 1979 1987 22.08. John Lee Hooker* Sonny Thompson* Carolina Slim* Roscoe Shelton* Debbie Davies* Lillian Glinn+ John Lee Granderson+ Leonard „Baby Doo“ Caston+ 1924 1947 1953 1963 Wynona Carr* Mike Harvey* Orville Johnson* 1) Frank Plagge* 1905 1953 1964 1991 Arthur Crudup* Ron Holloway* Oteil Burbridge* Washboard Willie+ 23.08. John Lee Hooker 24.08. 1950 1976 1985 2000 25.08. Willy DeVille* Castro Coleman aka Mr. Sipp „The Mississippi Blues Child!“* Dani Wilde* Allen Woody+ Erin Harpe* Arthur Crudup 26.08. 1903 1943 1950 1994 Jimmy Rushing* Tadeusz Nalepa* Don Baker* Sebastian Kleene* 1926 1934 1954 1975 1990 Odie Payne* Joe Weaver* Martin Pyrker* Hop Wilson+ Stevie Ray Vaughan+ Mike Milligan* 27.08. Stevie Ray Vaughan 42 BLUESKALENDER 1903 1906 1937 1961 Dinah Washington 1924 1955 1976 2007 2011 1934 1999 2013 David Honeyboy Edwards Van Morrison 1907 1937 1938 1945 1945 1955 1962 2000 2009 28.08. Montana Taylor* +unknown Monkey Joe* +unknown James Wheeler* Tarry „Harmonica“ Bean* Shaun Booker* 29.08. Dinah Washington* Nelsen Adelard* Jimmy Reed+ Kip Anderson+ David Honeyboy Edwards+ 30.08. Luther „Snake Boy“ Johnson* Brewer Phillips+ John „Juke“ Logan+ 31.08. Dan Pickett* Bobby Parker* „Spider“ John Koerner* Bob Welch* Van Morrison* Kay Kay Greenwade* Joanna Connor* Saunders King+ Jesse Fortune+ Steve Edmonson* Michael Juan Nunez* A L B U M D E S M O N A T S 43 LAZER L L OYD – LAZER L L OYD ALBUM DES MONATS JULI 2015 Letztens brachte ein Songschreiber in einem Gespräch die Unterscheidung auf zwischen Party-Blues und dem Blues, der ein tiefes persönliches Anliegen des Musikers ist. Der seit den 90er Jahren in Israel ansässige Gitarrist und Songwriter Lazer Lloyd gehört zur zweiten Kategorie. Sein drittes Soloalbum lotet in 12 Songs die verschiedensten Lebens- und Leidenslagen aus. Doch die Musik ist kein depressiver Blues, der einen nur zum Heulen bringt, sondern es ist kraftvoller Blues, der der ursprünglichen Funktion einer heilenden Musik nahe kommt. “I’m a crazy Jew, rocking in the Holy Land,” singt Lloyd. “This is where I stand, this is part of God’s plan. Zeilen wie diese finden sich häufiger auf dem Album: Hier ist einer, der den Glauben wie selbstverständlich durch seine Musik weiterträgt. Hier ist jemand, dem betretene Blicke der ach so agnostisch-aufgeklärten Zuhörer nicht scheut: Blues ist nur dann wirklich echt, wenn man ihn mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren zelebriert. Wer sich hinter Floskeln und Klischees versteckt, wird es nie weiter bringen als zu einem PartyBlueser oder akademisch gebildeten Kopisten. Dieser Blues ist geistliche Musik ebenso wie persönliches Bekenntnis, ist Predigt ebenso wie Klage an Gott angesichts der Härten des Lebens. Einen großen Teil der Klage übernimmt bei Lloyd die rauh verzerrt kreischende Gitarre. Sie macht erst wirklich deutlich, was an brodelnden Gefühlen sich hinter der Oberfläche verbirgt: Die tiefe Depression, die einen im Bett festhält ebenso wie die Sehnsucht nach Freiheit, die Gewissheit, dass man im Leben niemals ohne Gott ist wie der Wille, anderen zu helfen, denen es ähnlich geht. Manche haben die spirituelle Kraft der Songs mit Alben etwa von Carlos Santana verglichen. Aber mir als Christen fallen dazu eher die Gospelbluesmen von damals bis heute, von Blind Willie Johnson und Son House bis hin zu Reverend Peyton oder Kelly Joe Phelps ein. Wobei Lloyd mit seiner rockenden E-Gitarre gleich noch die ganze Bluesgeschichte von Howlin Wolf bis hin zum psychedelischen Heavy-Blues-Rock von GravelRoad mit in die Mixtur einbringt. Und da wird selbst eine so bekannt und häufig gecoverte Nummer wie „Dock of the Bay“ zu einer Neuentdeckung: Wo Otis Redding und Steve Cropper vom Sound her sich an verspielten Nummern etwa der Beatles orientierten, macht Lloyd den eigentlichen Kern des Songs hör- und fühlbar: das Gefühl, einfach verdammt zu sein, seine Zeit zu verschwenden, weil man einfach nicht mehr weiter weiß. Intensiv, persönlich, und voller Spiritualität und Ehrlichkeit: Genau so muss Blues sein! Raimund Nitzsche Wasser-Prawda | Juli 2015 44 P L AT T E N REZENSIONEN A BIS Z Symbole 8 Ball Aitken – The New Normal 44 B Bey Paule Band – Not Going Away 44 D David Michael Miller – Same Soil 45 Deb Ryder – Let It Rain 45 K Kern Pratt – Broken Chains 46 S Samantha Fish – Wild Heart 46 W Wellbad – Judgement Day 46 Z Zoe Schwarz Blue Commotion – I’ll Be Yours Tonight. Live 46 Wasser-Prawda | Juni 2015 P L AT T E N dabei immer in der Gefahr stehen, Hoffnung und Mitgefühl zu verlieren. Früher nannte man Country auch den Blues des weißen Mannes. Und Aitken singt und schreibt heute genau solche Musik. Mal ist es mehr Blues, mal mehr Country - aber immer sind es großartige Songs! Eine große Empfehlung! Nathan Nörgel 8 Ball Aitken – The New Normal Aus dem Norden Australiens ist er mittlerweile umgezogen nach Nashville. Und dort entstand auch das aktuelle Album von 8 Ball Aitken namens „The New Normal“. Wobei diese Normalität auch für die fortschreitende Transformation des Songwriters vom Bluesman zum Countrymusiker stehen könnte. Im Video zur aktuellen Single „Shut The Front Door“ wird 8 Ball mit seiner Band von hübschen Pinup-Girls verprügelt. Und auch der Song selbst versprüht die Art von Humor, die man auch in Filmen von Tarantino oder Rodriguez finden kann. Doch das ist nicht das „Normale“ in seinen aktuellen Songs. 8 Ball Aitken singt heute auch über korrupte Politiker, Gebrauchtwagenhändlerinnen, über miese Jobs mit noch weniger Geld, über das Suchen und Finden von dem Ort, den man Zuhause nennen kann. Gerade hier merkt man den Liedern an, wo die Sympathien Aitkens liegen: Bei denen, die man in der heutigen Zeit gerne übersieht, bei den Menschen, die um ihr Überleben kämpfen müssen und Bey Paule Band – Not Going Away Bei dem Namen könnte man denken, die Band kommt aus Berlin. Weit gefehlt, denn die Band kommt aus Napa, Kalifornien und „Not Goin‘ Away“ ist bereits das dritte Album der Band. Die Bey Paule Band sind: Sänger Frank Bey, Gitarrist Anthony Paule, Paul Revelli (dr), Paul Olguin (b), Tony Lufrano (keyb) und die Hornsection mit Nacy Wrigt (sax), Mike Rinta (tb) und Tom Poole an der Trompete. Die Bluesmusik der Bey Paule Band steht auf vier Säulen. Als erstes muss man die charismatische Stimme von Frank Bey nennen. Das ist für mich die Hauptsäule der Band. Beachtenswert ist, dass sich die Band eine Bläsergruppe leistet. Die Kombination der Stimme von Frank Bey mit dieser Bläsergruppe sorgt 45 für den unverwechselbaren Sound der Truppe. Dann ist da noch Tony Lufrano an den Keyboards. Ob Pianoklänge („Right in Front of You“) oder feine Orgelklänge („Noel‘s Haze“), Tony Lufranon setzt Akzente und ist damit die dritte Säule der Band. Tja und dann ist da noch Anthony Paule an der Gitarre. Dieser ist sich nicht zu schade auch einmal nur Rhythmus mit dem Basser und dem Schlagzeuger zu machen, glänzt aber auch durch virtuoses Gitarrenspiel („Ballad of the Lover Man“), oder durch eine wunderbare Slide Guitar („This Party‘s Done“). Alles in allem ergibt die Mischung den bemerkenswerten Sound der Band, den man sich nicht entgehen lassen sollte. „Right in Front of You“ ist für mich der beste Titel dieses Albums gefolgt von „This Party‘s Done“ und “Don‘t Ask Me How I Feel“. Die Musik ist mal langsam, fast schon schnulzig („Next to My Heart“) und mal dynamisch („Kiss Me Like You Mean It“). Auch ein ziemlich kommerzieller Titel ala Tom Jones („Kiss Me Like You Mean It“) ist dabei. In „Someone You Use“ finde ich den Einsatz von Saxophon und Gitarre gelungen. „Noel‘s Haze“ ist fast schon jazzig, ich musste jedenfalls an New Orleans denken. Matthias Schneider Wasser-Prawda | Juni 2015 46 P L AT T E N am ehesten in Chicago vermuten. Aber eigentlich wohnt er im Staate New York. Sein Slide-Spiel wiederum kommt ohne Umweg aus der Kirche: das ist feinstes Sacred Steel Spiel, wie man es auch von Robert Randolph und anderen zu hören bekommt. Allerdings - und das macht „Same Soil“ zu einer echten Empfehlung: Miller und seine Band lassen sich einfach nicht auf einen bestimmten Stil festlegen. „Friend of Mine“ etwa David Michael Miller – Same ist eine durchaus jazzige Ballade mit Soil röhrendem Saxophon und jeder Schon mit seinem Solodebüt Menge Soul in der Stimme. Und bei „Poisons Sipped“ hatte Songwriter/ Stücken wie „Born To Loose“ wird Gitarrist David Michael Miller ein zünftiges Funk-Gewitter losgenachhaltig auf sich aufmerksam ge- treten, ohne jemals die Blueswurzeln macht. Auch sein zweites Album zu verraten. „Same Soil“ ist wieder eine abso- Ein absolut hochklassiges Album! lut empfehlenswerte Scheibe von Unbedingt anhören! starken Bluessongs mit deutlichen Nathan Nörgel Gospelwurzeln. Der ultimative Test für ein Album ist für mich, es unvorbereitet etwa Kunden in einem Laden vorzuspielen. Wenn sich dann die Köpfe unwillkürlich drehen oder gar Nachfragen danach kommen, wer da läuft und wo man dieses Album bekommen kann, dann ist die Musik nicht nur was für Genrespezialisten. „Same Soil“ hat diesen Test mit Bravour bestanden. Schon beim Opener „All The Blues To You“ und noch mehr bei der wundervol- Deb Ryder – Let It Rain len Slide-Nummer „Just Ride“ hat Sie wohnt in Kalifornien. Doch er die Hörer gepackt. Und wenn ihre erste Begegnung mit dem Blues dann bei „Got Them Blues“ Miller hatte Deb Ryder in Chicago. Und mit seiner Band das Tempo anzieht, so hört man in ihren Songs sowohl dann bleibt keiner mehr ruhig sit- das Erbe von Etta James als auch zen. That‘s the boogie! von Koko Taylor, sowohl den Blues Musikalisch könnte man Miller von B.B. King als auch den von Taj Wasser-Prawda | Juni 2015 Mahal. In den 70er Jahren eröffnete Deb Ryder regelmäßig Konzerte für Neil Young aber auch für Taj Mahal, Big Joe Turner oder Charlie Musselwhite. Vor allem die Bluesmusiker traten regelmäßig in The Topanga Corral, dem Rockclub ihres Vaters auf. Denn Big Joe Turner organisierte dort einen wöchentlichen Bluesabend. Und wenn man dann noch weiß, dass auch Bob Hite von Canned Heat zu den regelmäßigen Gästen des Hauses gehörte, dann kann man sich vorstellen, was für eine hervorragende Schule das für eine junge Sängerin gewesen sein musste. Allerdings konnte mich nichts wirklich darauf vorbereiten, in ihr auch eine der herausragenden Songwriterinnen des Blues heutzutage zu finden: Ob sie drüber singt, ob sie sich an der Geliebten ihres Mannes rächen soll oder ob sie mit der Power einer Gospelpredigerin ihre Gemeinde auffordert, ihr Licht hoch zu halten, damit die Welt geheilt werden kann: Das sind Lieder, die zwar musikalisch und von den Themen her ganz dicht dran sind am Erbe des klassischen Blues. Doch mit der Ehrlichkeit, mit der persönlichen Verletzlichkeit, die sie in ihren Stücken zeigt, ist sie eben weit davon entfernt, lediglich ein weiterer Retro-Act zu sein, der Konzerte für ein nach rückwärtsgewandtes Publikum spielt. Nein, Deb Ryder ist eine Bluessängerin und Songwriterin im eigentlichen Wortsinn: Sie nimmt ihr Leben, ihre Wut und Trauer, ihre Hoffnung auch und macht daraus allgemeingültige Stücke, die beim Publikum P L AT T E N ebenso persönliche Erlebnisse ansprechen können. „Let It Rain“ ist für mich eines der überraschenden Fundstücke des Bluesjahres 2015. Es verdient eine dicke Empfehlung! Raimund Nitzsche hört zu den jungen Bluesmen, für die geografische oder stilistische Begrenzungen unwichtg sind, die die ganze Bandbreite der verschiedensten Spielweisen studiert haben und sie in ihren Sound integrieren können. Und da gehört der Soulblues (gern auch mit funkigen Untertönen) ebenso dazu wie klassischer Deltablues in akustischem Gewand. Highlights sind für mich das treibende „Soul Shake“ und „Greenville Mississippi Blues“ mit dem tollen Boogie-Piano von Eden Brent. Für Freunde der klassischen Bluessounds ist das eine echte Empfehlung! Nathan Nörgel Kern Pra – Broken Chains Als Kind wuchs Kern Pratt im Mississippidelta auf und hörte dort die ganze Bandbreite des Blues vom rauhen Sound von T Model Ford bis zúm Soulblues von Bobby Rush. Und schon mit 16 Jahren war er als Gitarrist schon so gut, dass er seine ersten Profiauftritte in Las Vegas bekam. Auf „Broken Chains“, einem Album mit eigenen Songs und Bluesklassikern präsentiert er sich als toller Gitarrist und als Sänger mit einer einprägsam rauchigen Stimme. Unterstützt wurde er bei den Aufnahmen unter anderem von Pianistin Eden Brent oder dem Resonatorspieler Wes Lee. Mal spielt Kern wie Albert Collins, mal konzentriert er sich ganz auf die akustische Gitarre, mal wird die Band von fetten Bläsern angetrieben, mal treibt ein Boogiepiano den Song nach vorn: Pratt ge- 47 Nein: die deftigen Riffgewitter des letzten Albums sind nicht mehr so im Vordergrund. Pech für die reinen Bluesrocker. Samantha Fish ist jetzt als Musikerin und Songschreiberin so erwachsen, dass sie von rockig treibenden Stücken bis hin zu sehnsuchtsvollen Balladen nahtlos hin und her wechseln kann. Man merkt ihr an, dass sie in den letzten Jahren viel mit Mike Zito, einem der profiliertesten Songschreiber für mich in der gegenwärtigen Szene, unterwegs war. Sie hat keine Angst davor, Verletzlichkeit und Schwäche ebenso zu zeigen wie Power und Direktheit. Das macht aus „Wild Heart“ ein wirklich tolles Album zwischen Blues, Bluesrock, souligen Anklängen und einem Schuss Americana. Reinhören, kaufen und gerne auch verschenken! Damit kann man auch Bluesneulinge erreichen. (ruf/in-akustik) Raimund Nitzsche Samantha Fish – Wild Heart Es ist ungeheuer spannend, die Entwicklung junger Musikerinnen und Musiker zu beobachten. Samantha Fish wurde von Thomas Ruf erstmals als eines der Girl With Guitars beim Blues Caravan hierzulande präsentiert. Und schon ihr Solodebüt „Runaway“ machte neugierig auf mehr. Mit „Black Wind Howling“ hatte sie sich hauptsächlich den heftig dreckigen Bluesrocksounds verschrieben. Album Nummer drei ist jetzt ihr bisheriges Meisterstück. Wellbad – Judgement Days Die einen hören die Zukunft des Blues aus deutschen Landen. Für andere ist die Hamburger Band Wellbad überhaupt kein Blues mehr. Für beide Sichtweisen kann man Wasser-Prawda | Juni 2015 48 P L AT T E N Belege auf dem zweiten Album der Band finden. Originell und eigenständig, waren zwei Worte, die Hörern bei der German Blues Challenge spontan einfielen. Aber auch: Diese Stimme nervt auf die Dauer. Und: Das ist eigentlich kein Blues mehr. Und tatsächlich sollte man die Warnung für Bluespolizisten aussprechen: Wellbad kann zu Wutausbrüchen führen, wenn man stur auf die heiligen zwölf Takte wartet. Wer aber auch Songwriter wie Tom Waits in der Nähe seiner Bluessammlung aufzubewahren, hat hier ein wirklich spannendes Album zu entdecken. Es ist düster, Liebespaare enden in einem Sarg für zwei, Gott ist vorübergehend außer Betrieb und überlässt das Gericht anderen. Kleine Schmerzen werden als Weckmittel empfohlen. Denn eigentlich ist kein Mensch in der Lage, eine gute Welt auszuhalten. Das sind Geschichten, auf die man sich erst mal einlassen muss, die aber auf Dauer eine düstere Schönheit offenbaren. Musikalisch geht es hier teils akustisch, teils elektrisch zu. Manchmal hört man in den Instrumenten noch die Bluesanklänge. Doch eigentlich sind Wellbad solche Kategorien egal: Der Song steht im Zentrum. Und die die wirklich immer wieder an Waits erinnernde Stimme, die mal knurrend leise ist, dann wieder wütend losbrüllt. „Judgement Days“ ist eine Empfehlung für Fans absolut eigenständiger und toller Songs. Wie diese allerdings bei der International Blues Challenge ankommen werWasser-Prawda | Juni 2015 nössischen Blues. Schwarz fordert „Let Me Sing The Blues“, erzählt von den Vorteilen von „Liberated Women“ oder singt Balladen, deren Gefühl nicht mal von ferne dem Kitschverdacht ausgesetzt sind. Faszinierend, wie bei dem Album selbst kleine Nuancen der Stimme und der Instrumente nachzuverfolgen sind: Hier sind Musiker am Werke, die sich auf der Bühne hörbar wohl fühlen, die sich gegenseitig Ideen zuspielen oder auf das Spiel ihrer Kollegen feinfühlig reagieren. Wer bei Blues nicht nur an Bluesrock Zoe Schwarz Blue Commo on denkt, wer auf banale Soloorgien – I’ll Be Yours Tonight. Live auch bei Live-Aufnahmen verzichSchon das vierte Album in eben- ten kann, der ist hier genau richsovielen Jahren hat die britische tig. „I‘ll Be Yours Tonight“ ist bisSängerin Zoe Schwarz mit ihrer lang eines der besten Live-Alben, die Band Blue Commotion 2015 veröf- 2015 in der Redaktion ankamen. fentlicht. Wobei die Live-Aufnahme Nathan Nörgel von „I‘ll Be Yours Tonight“ ursprünglich gar nicht geplant war. Mitgeschnitten wurde im November 2014 ein Auftritt beim „Tuesdaying Night Music Club“. Die ersten zwei Songs machen schon mal die Bandbreite deutlich, die nicht nur Schwarz als Sängerin sondern auch die tolle Band (Rob Koral - g, Peter Whittaker -org, Paul Robinson - dr, Si Genaro mharm, Ian Ellis - sax und Andy Urquhart - tp) drauf haben: Vom riffgetriebenen Bluesrock (Your Sun Shines Rain) bis hin zum jazzigen Blues (Fine & Mellow), bei dem Zoe Schwarz ihrem Vorbild Billie Holiday ein würdiges Denkmal setzt geht das Programm. Und egal in welchem Stil gerade musiziert wird: die von Schwarz gemeinsam mit Koral geschriebenen Songs sind wirkliche Kostbarkeiten im zeitgeden, wage ich nicht zu beurteilen. Raimund Nitzsche F E U I L LTO N 49 VOM W I E D E R F I N D E N D E R S PRA C HE . JÜ R GE N L A N D T IM GESPRÄCH (2012) Ende Juli/Anfang August erscheint nach „alles ist noch zu begreifen“ (2012) und „Letzter Stock im Feuer“ (2014) mit dem Hardcover „Als das Dasein sich verpfiff“ das nunmehr dri e Buch von Jürgen Landt im freiraum-verlag. 2012 habe ich mit dem 1983 aus der DDR ausgebürgerten Autoren über die DDR, die Sank onen, denen er unterworfen war, und seinen Roman „Sonnenküsser“ gesprochen. Von Erik Münnich. Foto: Ole Schwabe. ERIK MÜNNICH: Du bist in der DDR groß geworden, hattest einige Schwierigkeiten mit dem System … Ich habe mich immer eingeengt gefühlt und da ich auch nicht das Naturell hatte, mich anzupassen, bin ich natürlich schnell in Konflikte geraten. Und das war ja nicht nur das System im Großen, sondern auch im Kleinen – das fängt im Schulsystem an, im Elternhaus, im Mief der Kleinstadt. Es war eine unbeschreibliche Enge, die nur schwer zu ertragen war. Und eigentlich bin ich kein politischer Mensch. Wenn man im Leben seine Sensoren ständig lügen lässt und nur gezwungenermaßen empfängt, dann kommt man gar nicht daran vorbei, die Stimmung einzufangen in der Umgebung, in der man lebt. Und dann mit Anfang, Mitte 20 habe ich die ersten Texte geschrieben – die sich natürlich mit dieser Thematik in der DDR auseinandersetzten. Wenn einem das einfach unerträglich war, dann hatte man vielleicht dadurch einen Platz gefunden, da irgendetwas für sich abzulassen. ERIK MÜNNICH: Das Gefühl, eingeengt zu sein, ging bei dir schon ziemlich früh los … Ich habe so einen inneren Druck gehabt als Jugendlicher durch die stupiden Drangsalierungen, die von allen Seiten kamen. Ein anderer verletzt sich selbst und bei mir ging der Druck nach draußen. Dann habe ich mich regelrecht freigeschlagen. Das wurde dann als Rowdytum hingestellt. Und wenn man erst einmal drin war, kam man leider auch unter staatliche Kontrollmaßnahmen – ist den Ausweis losgeworden, hat den Paragraphen 48 gekriegt, Meldepflicht. Man durfte die Stadt nicht verlassen, nicht mit bestimmten Leuten verkehren. Das spitzte sich dann immer mehr zu. Hat die Sache nicht besser gemacht. Dann bin ich mit 17 oder so schon im Zuchthaus gewesen und wenn man danach wieder zur Schule gehen soll, da kann einem ein Staatsbürgerkundelehrer auch nichts mehr erzählen. Und vorher hatte man immer noch ein eingebläutes, komisches Bild gehabt, das die einem ja eingetrichtert haben von Anfang an – das ist die bessere Welt, sie kümmert sich um Menschen und was weiß ich, mal ganz profan ausgedrückt. Und wenn man so verklärt in den Strafvollzug der DDR kommt – danach war es gänzlich vorbei. Da hat man nochmal eine andere Welt in dem furchtbaren Staat spüren können. ERIK MÜNNICH: Musstest du als Schreibender Sanktionen fürchten und hast du auf vermeintliche Sanktionen hin – also Sanktionen, mit denen du gerechnet hast – dein Schreiben angepasst, eine Geheimsprache entwickelt, wie das andere gemacht haben, und Verstecke für deine Texte gesucht? Oder hast du einfach gesagt: Okay, ich setze mich hin und hau’ das jetzt rein? Wasser-Prawda | Juni 2015 50 F E U I L LTO N Ich habe anfänglich mit der Hand geschrieben – mit dem Stift. Irgendwann habe ich so eine Plastikschreibmaschine bekommen über Beziehungen aus Berlin – es war ja nicht möglich, einfach eine Schreibmaschine zu kaufen. Da gab es einen Durchschlagbogen und dann hatte man ein, zwei Abzüge, die oft kaum noch leserlich waren, die habe ich auch außer Haus geschaff t, weil dann zwischendurch auch mal eine Hausdurchsuchung war. Da wurde gesagt: Wir haben den Verdacht, dass Sie an irgendeinem Einbruch beteiligt waren. In Wirklichkeit war es ein Zuträger, der den Leuten gesagt hat, ich würde Gedichte schreiben, danach haben sie dann gesucht und dann anbei noch einen Schuhabdruck genommen – das war mir alles zu doll und zu blöd. Und ich hatte auch keine Lust, wirklich in den Knast zu gehen – das ist die Sache nicht wert gewesen, da gab es genug andere Anlässe, für die ich hätte wieder reingehen können. […] ERIK MÜNNICH: 1983 bist du ausgebürgert worden, vielmehr hast du dich ausbürgern lassen – wie kam es dazu? Ich habe ja in der dritten Haftzeit – ich war viereinhalb Monate in U-Haft – aus der Haft heraus einen Ausreiseantrag gestellt und dann hat der Anwalt gesagt: Ja, du kriegst eigentlich einen Freispruch vom Bezirksgericht, […] aber den kriegst du nicht, wenn dein Ausreiseantrag läuft, also den musst du schon zurückziehen. Dann habe ich den zurückgezogen, ich dachte: Naja, viereinhalb Monate in dem Wasser-Prawda | Juni 2015 Loch – dann zieh mal den Antrag zurück, den kannst du auch von draußen irgendwann wieder stellen. Und dann habe ich den Freispruch bekommen, aber wegen meiner politischen, moralischen Einstellung keine Haftentschädigung. Und dann draußen wieder – es wurde ja nicht besser für mich – habe ich wieder Ausreiseanträge gestellt und da wurde aber immer gesagt von der Abteilung Inneres: Keine Formulare, dem wird nie stattgegeben und nichts und gar nichts. Und irgendwann habe ich schon gedacht: Naja, das wird wohl so sein und so bleiben, aber nach ein paar Jahren ging einer der Anträge dann doch durch und ich musste innerhalb von zwölf Stunden die Deutsche Demokratische Republik, wie sie es immer ganz längs ausgesprochen haben, verlassen. An der Grenze habe ich dann zwei Frauen angesprochen, weil ich nicht zu Fuß rüber durfte, dann hätten sie mich wieder eingesperrt, und die haben gesagt: Na klar, wir nehmen Sie mit. Dann habe ich so eine Identitätskarte bekommen und dann gefragt: Na, wo fahren wir denn hin? Die sind nach Hamburg gefahren und dann bin ich halt mitgefahren. Wären die nach Bremen, Lübeck oder sonst wo hingefahren, wäre ich da gelandet. ERIK MÜNNICH: Gab es in der Zeit einen Bruch in deinem Schreiben? Ja, ich habe dann Type-Arts gemacht – ich habe die Typografien von der Erika benutzt und diese Bilder auf der Schreibmaschine gemacht. Vielleicht war ich auch zu der Zeit sprachlos und hatte dann aber trotzdem genug, um irgendetwas ausdrücken zu wollen. Ja, das Sprachrohr war mir da zu eng … ERIK MÜNNICH: Wann hast du deine Sprache wiedergefunden? 1985 dann wieder. Es hatte auch etwas mit der Ruhelosigkeit zu tun, man muss ja erstmal einen Raum F E U I L LTO N finden, wo man sich sammeln kann. Und wenn man zehn Monate ohne eigene Wohnung und nur mit seinem Wandergepäck ist, ist das schon schwierig. Und trotzdem möchte man irgendwo etwas machen, aber das ging nicht. ERIK MÜNNICH: Du bist nach der Wende zurück nach Greifswald, also in die Region, aus der du stammst … Ja, weil ich ja noch genug Verwandte und auch eine Tochter hier hatte. Und dann hatte ich nach diesen sechs, sieben Jahren, als ich hier in Stralsund ankam und meine Schwester mich abholte, auch wieder einen Kulturschock […] Wieder zuhause, wieder im Kinderzimmer gehockt bei den Eltern. Ich habe immer gedacht, es ging da ein bisschen vorwärts mit den Leuten – die waren genau auf demselben Level von damals, außer dass sie vielleicht auch ein bisschen gesagt haben: Toll, wir haben jetzt Kohl. Ansonsten war es dasselbe. Ich wollte in der Nacht da schon wieder weg, bloß ich kam nicht weg, ich hatte kein Auto, es gab kein Telefon, nichts. Da habe ich nur gesagt: Ich fahre hier nie wieder her. Irgendwann war ich dann doch immer wieder häufiger hier, weil ich viele Dinge mitbringen sollte für andere Leute. Ich war gerade mit einer Frau zusammen, die war richtig geschäftstüchtig, die hatte Läden auf der Reeperbahn, die hat mir das Auto voller Ware gepackt, die habe ich dann irgendwo abgeliefert und bin dann hier wieder versackt. Obwohl ich eine Wohnung bis 1998 noch in Hamburg hatte. ERIK MÜNNICH: Spielt für dich jetzt die Vergangenheit noch eine Rolle? Ja, vor allem irgendwie nach meinem Roman „Sonnenküsser“, da war ich nachher auch ziemlich platt, weil ich mich ja immer in der Rolle und der Entwicklung des Protagonisten, sprich des Kindes bis zum Jugendlichen, reinversetzen musste. Das bin ich ja gewesen, das ist ja total authentisch. Und da kamen natürlich die ganzen Dinge wieder hoch. Es ist ja nicht nur so, dass man das sieht, sondern man fühlt es ja auch. Dann musste ich eben immer auch so schreiben, wie der Sechsjährige das sieht oder wie ich es damals gesehen habe – sieben, acht, neun, zwölf Jahre alt – und nach dem Roman war ich platt wie ein Fahrradschlauch. ERIK MÜNNICH: Wie lange hast du daran gearbeitet an dem Roman? 22 Monate durchweg und 50 hat es dann insgesamt gebraucht, bis er erschienen ist, weil es noch Verzögerungen gab, da jemand vorgezogen wurde […]. Und nach einem halben Jahr sagte der Lektor dann, ich solle eine zweite Erzählperspektive einbauen, da hatte ich eigentlich schon abgeschlossen mit dem Ding. ERIK MÜNNICH: Rückblickend betrachtet, das gibt es ja bei vielen Menschen, dass sie die Vergangenheit entweder verklären oder verteufeln. Kannst du dich dazwischen einordnen? Weder verkläre noch verteufele ich etwas. Das war eine anstrengende Zeit. Und ich versuche das so rüberzubringen, wie es gewesen 51 ist, wie ich mich dort in dem Leben zurechtgefunden habe. Ich habe genug Themen, bei denen ich so hart am Graben schreibe und mich an Grenzen abarbeite – und die sind für mich wichtig, das macht das Leben aus. Alles wird ja irgendwo immer verdrängt und diesen Dingen widme ich mich – nicht, weil ich sage, ich will das tun, sondern ich muss es einfach. ERIK MÜNNICH: Aufgrund deiner Erfahrungen in der DDR, in Westdeutschland ab 1983 und nach der Wende hast du dich also dafür entschieden, politische Themen als Schriftsteller zu meiden? Ja, das war aber schon immer so für mich eigentlich. Aber solche Themen wurden mir immer aufgezwungen, weil ich da mitten drin lebe, eigentlich ist ja jeder abhängig von der Politik. Aber es gibt Systeme, da ist es aushaltbar. Und wenn ich die DDR als Vergleich sehe oder noch davor das Dritte Reich – dagegen ist das für mich jetzt sehr erträglich. Ich will auch nicht sagen, dass das eine gerechte Gesellschaft ist, das nicht – aber das ist nicht zu vergleichen mit dem anderen Scheiß, den ich durch habe. Und irgendwann wird man auch nicht jünger. Irgendwann ist das dann auch schon fast egal, dass man sich da irgendwo aus der Vergangenheit versucht, abzusetzen und zu lösen, aber das schaffst du ja so auch nicht wirklich. Und jetzt ist es für mich einfach nur noch wichtig, ein paar Jahre irgendwie durchzuhalten und die Dinge aufzuzeigen, die hier laufen. Clemens Schittko und Kai Pohl im Gespräch Wasser-Prawda | Juni 2015 52 F E U I L LTO N I N EINE R ZEIT D E R S TÄ ND I GE N U M ETI KE TTIE RU NG V ON D I NGE N. S O PH IA SC HRÖD E R I M GE S P R Ä CH M I T KAI POHL UND CLE M E NS S CHI T T KO Im September 2014 erschien die Anthologie „my degenera on. the very best of WHO IS WHO“ von Benedikt Maria Kramer, Robert Mießner, Kai Pohl, Clemens Schi ko u. a. Die ersten Texte des Bandes verfasste Kai Pohl bereits 2004 in der Auseinandersetzung mit literarischen Cut-up- und Montagetechniken, die teilweise auf Suchmaschinenergebnissen beruhten. Einige Jahre später erhielt Clemens Schi ko für sein Langgedicht „Who is who/is who or what“ einen Lyrikpreis. Andere befreundete Autoren schickten ihre Varia onen zum Thema. Sogar der Bund katholischer Dichter beteiligte sich – freilich ohne sein Wissen – an diesem Konvolut. Anlässlich der Lesung von Kai Pohl und Clemens Schi ko aus diesem Band im Literaturzentrum Vorpommern gaben beide radio 98eins ein Interview, das wir hier mit deren freundlicher Genehmigung veröffentlichen: wo die vier Köpfe der Bandmitglieder abgebildet sind, in gewisser Weise übernommen. Von daher war das schon ein bisschen beabsichtigt. Es ist eigentlich nicht viel tiefgründiger als eben diese Verballhornung dieses Plattentitels. SOPHIA SCHRÖDER: Muss ja nicht immer alles so tiefgründig sein, oder? Kai Pohl: Genau, finde ich auch. Schon Wolf Dieter Brinkmann hat gesagt: „Was hindert uns daran, an die Oberfläche der Dinge zurückzukehren?“ SOPHIA SCHRÖDER: Wenn Euch jetzt jemand danach fragt, worum es in eurem Werk geht und was der Antrieb war, das zu versammeln, das zu schreiben – was würdet ihr dann in ein paar knackigen Sätzen antworten? Clemens Schittko: Der Ausgang zu dieser Anthologie war auf jeden Fall ein Satz wie: „Raider heißt jetzt Twix.“ Das war halt eine ganz bekannte Werbung oder ein Slogan in den Neunzigerjahren – die Älteren kennen das vielleicht noch – und aus diesem Konstrukt A heißt jetzt B kann man sehr viel machen. Und da sich ja Sprache wirklich immer schneller heute verändert und Bezeichnungen auch, obwohl die Dinge an sich, die benannt werden, irgendwie doch gleich bleiben, war das für uns interessant, etwas zurückzugewinnen und SOPHIA SCHRÖDER: Als ich den Titel eures Bandes vielleicht zu zeigen, Moment, das kann einfach nicht so das erste Mal gehört habe und nicht wusste, worum umbenannt werden. Oder wenn, dann können wir es es geht, habe ich unweigerlich an The Who gedacht vielleicht noch mehr übertreiben. – ich dachte das wäre eine Band-Biografie. Ist diese Kai Pohl: Wir leben in einer Zeit der ständigen Umetikettierung von Dingen und im Grunde bleiben Assoziation beabsichtigt? Kai Pohl: Naja, es ist so, dass der Titel sich schon an die Dinge ja doch gleich – wie Clemens eben auch schon dem Compilation-Album „My Generation“ von The sagte. Also nur der Name ändert sich meistens, ständig Who orientiert. Wir haben dann auch dieses Cover, und viel zu oft. Dahinter steckt im Grunde zumindest Wasser-Prawda | Juni 2015 F E U I L LTO N die Andeutung, dass die Sprache nicht fix ist – wenn sich Begrifflichkeiten ändern, ändert sich ja meistens auch irgendwie der Sinn, der damit übertragen werden soll, obwohl das eben meistens gar nicht der Fall ist. Es ist also auch eine spielerische Annäherung an die Sprache, die einen im Alltag umgibt – was jetzt nicht unbedingt heißt, dass es eine Alltagssprache ist, sondern es sind eben alle möglichen Jargons, die vorkommen, und es gibt auch Überschneidungen zwischen den einzelnen Jargons oder eine irgendwie völlige Abgeschottetheit von bestimmten Sprechweisen oder Dialekten. Es wird sozusagen alles genommen als Material für diese merkwürdigen Umetikettierungen. Clemens Schittko: Vielleicht könnten wir jetzt mal Beispiele bringen: Früher hat man von Putzfrauen gesprochen, heute sagt man Raumpflegerin. Schaffner heißen jetzt Zugbegleiter und sowas. Aber letztlich ist ja der Beruf an sich gleich geblieben. Es wird dann irgendwie aufgewertet sprachlich, um den Leuten zu signalisieren: Aha, ihr macht ja was ganz Tolles, aber die, die in den Berufen arbeiten, die empfinden sich vielleicht gar nicht als Zugbegleiter oder Raumpfleger. Und das aufzudröseln, das war irgendwie unser Anliegen. Kai Pohl: Ja, mich hat das sogar auf einer noch viel banaleren Ebene interessiert. Zum Beispiel diese Geschichten wie Direktsaft oder Echtgold. Ich meine, wenn es Echtgold ist, was soll dann Gold sein? Durch diese zugespitzten Begrifflichkeiten wird ja im Grunde genommen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes umdeterminiert. Das heißt, Direktsaft ist heutzutage das, was früher Saft war, und das, was heute Saft ist, ist eigentlich kein Saft. Clemens Schittko: Uns ist auch aufgefallen – oder mir jetzt gerade –, dass Begriffe wie Verantwortung dann eben einfach nachgelassen haben in ihrer Kraft, zu wirken. Also heute spricht man dann halt von Eigenverantwortung. Einfach zu sagen, jemand trägt Verantwortung, ist schon zu wenig. Dann sagt man eben Eigenverantwortung. Da wird immer noch eins draufgesattelt und Sprache dadurch aufgerüstet, weil eben damit schon gar nicht mehr die Wirklichkeit erreicht wird. Das fanden wir durchaus interessant. SOPHIA SCHRÖDER: Dieses Phänomen, dass Sprache, die ja sowieso sehr dynamisch ist und immer 53 im Fluss und im Wandel, eine Gesellschaft reflektiert oder auch industrielle Phänomene … Habt ihr auch eine politische Meinung, die da irgendwie durchschimmern soll oder die euch am Herzen liegt? K ai Pohl: Das entscheidende Moment bei dieser Geschichte ist, glaube ich, dass eben viele Transformationen sich in Sprache reflektieren, also es sind ja gesellschaftliche Transformationen, die sich reflektieren. Plötzlich gibt es eine Computersprache, die es vor dreißig Jahren so gar nicht gab. Die gab es vielleicht damals unter Fachleuten. Das eigentliche Moment, was mich interessiert an diesen Geschichten – ob man es jetzt politisch nennen sollte, weiß ich gar nicht so genau –, ist, statt dieser ganzen merkwürdigen Scheinund Pseudosprachen eine echte, eine ernst gemeinte Transformation zumindest verbal erstmal anzupeilen – also Transformation von Zuständen oder unhaltbaren Zuständen, die sich eben in Sprache reflektieren. SOPHIA SCHRÖDER: Aber vieles ist ja auch ein Wasser-Prawda | Juni 2015 54 F E U I L LTO N Resultat von Werbesprache, von der wir ja auch zugedröhnt werden Tag für Tag. Es geht ja viel um Kaufen und Verkaufen, um Bewerben und Anpreisen usw. Und das spiegelt sich natürlich auch in der Sprache wider. Kai Pohl: Genau, im Grunde genommen ist dieses Schreiben in gewisser Weise ein Akt der Selbstbehauptung. Und in dem Falle eben mit der Aneignung dieser ganzen merkwürdigen, dröhnenden Werbe- und Propagandasprache. Wir lassen uns davon nicht überwältigen, sondern nehmen es als Material und bauen daraus was Eigenes. SOPHIA SCHRÖDER: Das Wort „bauen“ finde ich hier ganz passend, denn ihr habt Cut-up- und Montagetechniken verwendet. Könnt ihr dazu vielleicht etwas sagen? Clemens Schittko: Ich sehe als vorherrschendes Prinzip eine Art Aufzählstil. Das sind serielle Texte, Aufzählungen, wie sie als Reihungsstil auch schon im Expressionismus bekannt geworden sind. Eben wie beim ganz bekannten Gedicht „Weltende“ von Jakob von Hoddis. Da werden ja eben ganz normale Hauptsätze behauptet. Aber Cut-up kommt als Weiterentwicklung natürlich auch darin vor. Man kann gerade über Google sich seine Sätze zurechtbasteln oder eben dann den Werbesprech wieder leicht verändern – etwas runter nehmen, etwas mehr drauf packen und das hintertreiben. Kai Pohl: Ich muss schon sagen, dass zumindest die Ursprünge der Texte, die jetzt in diesem Buch erschienen sind, schon so eine Art Cut-up waren. Obwohl heute der Begriff ja auch für viele Leute immer noch recht schwammig daherkommt. Man kann sich viel darunter vorstellen. Ich subsummiere darunter verschiedenste Formen der Montagetechnik. In der Musik findet man das schon viel länger. Da gibt es das Sampling und das Remixen. Und diese Sachen kann man natürlich auch in oder mit der Sprache machen, weil man eben die digitalen Medien hat, die das ja in gewisser Weise unterstützen. Wenn sie nicht gerade abstürzen … SOPHIA SCHRÖDER: Ihr habt den Band zusammen mit vier weiteren Autoren geschrieben, sozusagen in Kollektivarbeit. Wie kam es dazu und was war der Anreiz? Kai Pohl: Die ersten Texte sind mehr oder weniger – wie Texte eben entstehen – sporadisch entstanden, für sich genommen. Es war nicht die Absicht dahinter, dass daraus mal irgendwann ein Zyklus wird. Dass es dann doch dazu kam, lag daran, dass Clemens halt irgendwann diese ersten Who-is-Who-Texte zu Gesicht bekam, in welcher Form auch immer, und daraus dann selber einen sehr langen Text als Replik geschrieben hat – „who is who/is who or what“, für den er den lauter niemand preis für politische lyrik bekommen hat. Das war auf jeden Fall erstmal so ein Schlagabtausch auf textlicher Ebene zwischen Clemens und mir. Und später haben wir dann andere Autoren gefragt, ob sie nicht auch etwas dazu beisteuern wollen und so kam es dann letztendlich zu diesem Konvolut von Texten. SOPHIA SCHRÖDER: Wenn man das jetzt mal ein bisschen platter formulieren würde, diese Montagetechniken, die teilweise, wie ihr auch selber sagt, auf Suchmaschinenergebnissen beruhen – das hat ja auch viel von Recycling irgendwie, also Reproduktion von bereits Vorhandenem. Inwiefern SOPHIA SCHRÖDER: In diesem Zusammenhang würde mich mal interessieren, wie ist das mit dem Text „Advent statt Event“ vom Bund katholischer Dichter – wie ist der da reingeraten? Kai Pohl: Den habe ich bei einer Webrecherche, also nicht ganz zufällig, nach sozusagen artverwandten Wasser-Prawda | Juni 2015 ist es möglich, da noch seine persönliche Note reinzubringen in den Text? Clemens Schittko: Eigentlich relativ einfach. Man kann eben große Firmen wie BMW, VW, Coca Cola usw. mit gewissen Personen koppeln, die wir privat nur kennen. Wir sagen dann: Ne, BMW ist gar nicht so bekannt, wir sagen jetzt XY, der unser Freund ist, der steht auf der gleichen Ebene … Das einfach so zu koppeln und dann entsteht da was Neues – und diese Hierarchie, die es vielleicht gibt, dass jetzt Coca Cola bekannt ist, die wird halt von uns nicht anerkannt. Kai Pohl: Die persönliche Note entsteht ja schon dadurch, dass man letztendlich – woher auch immer man sein Material, das sprachliche Material, bezieht – immer irgendwie interessensgeleitet ist. Man hat eigene Erfahrungen, Erlebnisse, die dazu führen, dass eben bestimmte Dinge einen mehr ansprechen als andere. Und dadurch entsteht die persönliche Färbung. F E U I L LTO N Texten gefunden – da ist der mir aufgefallen und dann dachte ich, wenn man schon sowas macht, dann sollte der irgendwie Bestandteil dieser Sammlung sein, weil der auf jeden Fall sehr interessant ist. Er ist nur leider sozusagen unter „No Name“ – man weiß nicht genau, wer der Autor ist. Clemens Schittko: Und das ist auch so ein Prinzip des Bandes – wir machen sehr viel NamedroppingGeschichten, wir erwähnen Namen oder legen denen Zitate in den Mund, die sie nie gesagt haben. Und es gibt auch einige Vorwörter oder Motti von Leuten, die auch gar nicht wissen, dass sie da mit einem Motto erwähnt werden. SOPHIA SCHRÖDER: Ist die ganze Geschichte für Euch mehr ein Spiel, ist der Ernst so ein bisschen hinten angestellt? Kai Pohl: Das Spiel muss Spaß machen. Man kann ja nicht wirklich in einem ernsten Modus ernst sein. Also, man sollte es schon ernst meinen, aber man kann trotzdem spielerisch rangehen. SOPHIA SCHRÖDER: Man sollte nicht in einem ernsten Modus ernst sein … Kai Pohl: Genau, sondern im spielerischen Modus den Ernst anpeilen vielleicht. Das Lesen der Texte soll ja auch Spaß machen, obwohl das jetzt nicht heißt, dass es jetzt irgendwie öde Unterhaltungsliteratur sein soll. Darum geht es natürlich auch nicht, aber es ist auch nicht der bittere Ernst. SOPHIA SCHRÖDER: Habt ihr euch den Band mal vollständig von vorne nach hinten durchgelesen? Clemens Schittko: Ich nicht. Ich habe ja schon Schwierigkeiten gehabt, meinen eigenen 40-Seiten-Text komplett in einem Stück zu lesen, weil man nach zehn, fünfzehn Seiten verrückt wird. Man muss zumindest absetzen, weil man so zugeballert ist von den ganzen Aufzählungen, dass man erstmal Ruhe braucht. 55 mich zumindest, ich kann jetzt ja nicht für Clemens sprechen – bei mir eher eine Art Montieren. In dem Falle würde ich aber wirklich nicht „schreiben“ sagen, sondern eher montieren. Der Künstler-Ingenieur eben, wie das in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts in den Avantgarden gebräuchlich war. Das Vortragen der Texte selber, also quasi der Ergebnisse, ist schon etwas ganz anderes und man kann mit dem Publikum schon wirklich Spaß daran haben. Und ich habe das Buch auch noch nicht komplett von vorne bis hinten durchgelesen. Das ist aber letztendlich auch das Elend desjenigen, der die Texte alle schon kennt. Warum soll man Texte, die man schon kennt, dann nochmal von vorne bis hinten durchlesen? SOPHIA SCHRÖDER: Ich habe jetzt die Worte „Ingenieur“, „Montage“, „bauen“ usw. gehört. Ist das Ganze vielleicht mehr Handwerk als Dichtung? Clemens Schittko: Zumindest ging es mir beim Schreiben auch darum, das Handwerk offenzulegen. Dass man zeigt, dass eigentlich ein Text immer gebaut ist aus Sprache. Mir geht es bei sogenannten realistischen Texten, die einfach nur erzählen wollen, irgendeine Handlung erzählen wollen, oft so, dass ihre Gemachtheit verschleiern. Und das will ich dann auch schon offenlegen. Ich denke, Kai geht es auch so. Kai Pohl: Ja, letztendlich geht das ja zurück auf die Komplexität des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Man denkt immer, das Gehirn braucht man, um sich die Welt bewusst zu machen. Im Grunde genommen ist das Gehirn ja nur ein großer Filter des Vergessens. Also, wenn man alle Eindrücke, die man im Moment aufnimmt, wirklich präsent hätte, würde man sofort verrückt werden. Und eigentlich sind diese Who-is-WhoTexte ein bisschen die Erinnerung daran, was eben noch alles da ist, was man eben sonst nicht wüsste oder sonst nicht wahrnehmen würde, weil man es eben gerade durch den Filter ausblendet. Und ich hoffe, dass man da dann nicht verrückt wird, wenn man es liest. SOPHIA SCHRÖDER: Genau darauf wollte ich nämlich hinaus. Ist es für euch anstrengender, die Texte zu schreiben oder sie selber zu lesen beziehungsweise laut vorzulesen? Kai Pohl: Ich glaube, das Schreiben ist ja eigentlich kein Schreiben in dem Sinne, sondern es ist eher – also für Wasser-Prawda | Juni 2015 56 SPRACHRAUM JEDER MUSS SE HE N VON CONSTANZE JOHN Constanze John, Jahrgang 1959, schreibe „spielerisch und gleichzei g knapp und lakonisch, fast nachtwandlerisch möchte man sagen, mit Humor und Ironie, ohne jede nervenaufreibende Besessenheit vom realis schen Detail, eine schnellbewegliche, dynamische Prosa“, sagte der Leipziger Lyriker und Übersetzer Roland Erb über ihre Texte. Und weiter: „Sie deutet nur an, wenn es um Ursachen und Hintergründe geht, sie betreibt keine ausdrückliche Gesellscha sanalyse, sie beschwört skurrile, ja groteske Situa onen in höchst eindrucksvollen Erzähltexten voller überraschender Wendungen, die mitunter surreal anmuten […].“ Im Herbst erscheint ihr Buch „Blaue Zimmer“ im freiraum-verlag.. Der Band versammelt Prosa und Lyrik, die in den Jahren zwischen 1983 und 2014 entstanden sind. Einige dieser Texte wurden bereits einer Öffentlichkeit vorgestellt. Dazu gehört auch „Jeder muss sehen“, den wir hier vorab veröffentlichen. Wasser-Prawda | Juni 2015 „Jeder muss sehen, wo er bleibt“, spricht es neuerdings in der Stadt. Wie aus einem Munde. Anna und Marie bleiben. Und während sie immer nur bleiben, wechseln die Winde, wie die großen Zwänge sich drehen. Anna und Marie bleiben weiter – in der Stadt der vereinzelten Häuser. Und das Meer rauscht auf althergebrachte Weise. Und der Wind schlägt sich durch Lücken und um Ecken. Seltsam, so die Stadt wie aus einem Munde spricht, klingt es nach Wahrheit. Und Anna prüft den Satz, sagt auch, was jeder sagt, und fühlt sich gleich älter als ihr Name. Aber da ist auch Marie. Und die macht sie wieder jung. Weil es mit jedem großen Muss so eine Sache sei. Und Anna erinnert sich, dunkel, wieder, da sie beide doch schon an die siebzig Jahre an diesem Leben sind. SPRACHRAUM 57 Anna und Marie gehen längst schräg gegen den Wind. Ihre Hände stecken tief in ihren Taschen. Jeder muss sehen. „Sieh nur“, sagt Anna. „Sieh nur, diese jungen Männer!“ Und Marie schaut vom Weg zu den jungen Männern mit den kahlen Köpfen auf. Sie kommen ihnen entgegen. Sie tragen festgeschnürte Stiefel. Einer fängt an. Am Ende brüllen alle. Vielleicht, dass sie einfach nur brüllen. Vielleicht, dass sie keine Worte mehr haben. Anna und Marie verstehen sie nicht. Die jungen Männer kommen ihnen trotzdem näher. Die Frauen sind alt genug, ihnen nicht mehr ausweichen zu können. In Erwartung schweigen alle. Nur der eine brüllt noch, dessen Stiefel gegen den Müllkübel tritt. Anna und Marie sehen noch sehr gut. Nichts verschwemmt ihnen mehr den Blick. Anna und Marie sehen schon das Meer. Die Wellen schlagen hoch. Doch die breite Mauer der Mole liegt höher. Die beiden Frauen nehmen diesen letzten Weg über die Mauer, da die Mole selbst schon unterm Wasser liegt. Sie balancieren wie Kinder, während das Wetter zunehmend heftig geschieht. Jeder ihrer Schritte nach vorn verliert an Verstand. Sie gehen immer weiter. Schräg und bestimmt gehen sie auf die Spitze der Landzunge zu. „Das Meer ist schon zu riechen. Die Luft schmeckt nach Salz.“ Anna und Marie holen das Brot aus den Taschen. Sie füttern das Meer, die Fische oder die Schwäne, die bei anderem Wetter wieder zu dieser Stelle sein müssten. Anna und Marie müssen immer sehen, wo sie bleiben. Anna und Marie füttern blind die Wellen. Und das geht Sie gehen und die Männer mit den kahlen Köpfen lassen gut so. sie auch bleiben. Aber das geht nur so lange gut, bis der Wind unerwartet Ein Martinshorn tönt. umschlägt. Anna verliert ihr Gleichgewicht und tritt ins Der Himmel wird grau wie das Meer. Wasser. Das Meer ist schon … Als ob das Wasser Balken Spaziergänger schlagen sich weiter durch diesen einen hätte. Und sie ruft nach Hilfe, als ob ihr da noch einer Sonntag und schweigen nicht selten. helfen könnte. Für Anna und Marie ist Sonntag wie Montag. Sie gehen täglich, das Meer zu füttern. So regelmäßig, wie andere Jeder muss sehen, wo er bleibt. Aber Marie bleibt bei ihren Hund füttern oder ihr Kind. der Anna, was da auch kommen mag. Und die Männer „Das Meer ist schon zu hören.“ mit den kahlen Köpfen treten die Tür zum Stadtcafé ein. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Anna bleibt bei Marie. Und die Frau mit den noch gottvoll glänzenden Augen Da sind sie sich eins. Und beide bleiben in der zu ver- hebt den Kopf, um an der Tür zu läuten, die sich nicht gessenden Stadt. Wer da auch kommen mag. noch einmal für sie öffnen wird. Und es ist vier Uhr und fünfzehn Minuten, und der Fremde weiß nicht mehr, Da kommt aus der Kirche eine einzelne Frau mit gott- wie er das Geld weiter ausgeben kann, das er am Montag voll glänzenden Augen. Und während sie sich das Tuch aufs Neue verdienen wird. bindet, senkt sie den Kopf, um dann langsam in einen Und immer mal wieder tauchen Anna und Marie aus ihrer nächsten Träume zu gehen. dem Wasser auf. Sie rufen nach der Hilfe, die nicht Da kommt ein Fremder aus dem Stadtcafé. Einer der kommt und ziehen sich dann in die Tiefe. Fremden ist es mit den genauen Armbanduhren und den geputzten Schuhen. Es ist vier Uhr. Dort in der Tiefe ist es vorerst feucht und kalt, aber helle, ausgewaschene Steine sind zu sehen, und die ersten „Das Meer ist schon zu sehen.“ kleinen Fische … Wasser sprüht durch den Wind und den Frauen ins (1995) Gesicht. Dort liegen die tiefsten Falten, und das Wasser fließt ab wie ungewollte Tränen. Jeder muss sehen. Wasser-Prawda | Juni 2015 58 SPRACHRAUM D IE PURPURFA RB E NE P E R Ü CK E VON GILBERT KEITH CHESTERTON Herr Edward Nutt, der rührige Chefredakteur der Zeitung »The Daily Reformer«, saß an seinem Schreibtisch, las Briefe und korrigierte Bürstenabzüge, begleitet von den heiteren Klängen einer Schreibmaschine, die von einer kraftvollen jungen Dame bearbeitet wurde. Er war ein etwas beleibter, blonder Mann in Hemdsärmeln; seine Bewegungen waren energisch, sein Mund entschlossen und sein Ton gebieterisch; doch seine runden, beinahe kindlich blauen Augen sahen verwirrt, ja oft sogar ängstlich in die Welt, was mit seinem sonstigen Gesichtsausdruck in heftigem Widerspruch stand. Dieser Eindruck war auch nicht ganz irreführend. Denn man konnte von ihm, wie von beinahe allen Journalisten, mit vollem Recht sagen, daß seine gewöhnliche Gemütsverfassung die einer ununterbrochenen Angst war: Angst vor Verleumdungsklagen, Angst vor entgangenen Sensationen, Angst vor Druckfehlern, Angst vor Entlassung. Sein Leben war eine Reihe von aufreibenden Kompromissen zwischen dem Eigentümer der Zeitung, einem senilen Seifensieder mit drei unausrottbaren fixen Ideen im Kopf, und dem sehr tüchtigen Stab von Mitarbeitern, den er sich zur Führung der Zeitung gesammelt hatte; einige davon waren wirklich erfahrene und ausgezeichnete Leute, die sogar, was noch schlimmer war, einen aufrichtigen Enthusiasmus für die politische Überzeugung des Blattes hatten. Ein Brief von einem dieser Männer lag in diesem Augenblick vor ihm und – so entschlossen und schnell er sonst in seinen Handlungen war – jetzt schien er beinahe zu zögern, bevor er den Brief öffnete. Er nahm statt dessen einen kurzen Bürstenabzug zur Hand, überflog ihn mit blauen Augen und einem blauen Bleistift, änderte das Wort »Unzucht« in »Ungehörigkeit« um und das Wort »Jude« in »Ausländer«, läutete dann und schickte die Korrektur in die Druckerei hinauf. Hierauf riß er mit etwas nachdenklicheren Blicken den Brief eines seiner hervorragenderen Mitarbeiter auf; der Poststempel war von Devonshire, und der Brief lautete folgendermaßen: »Lieber Nutt, da ich sehe, daß Sie Spuk- und Geistergeschichten bringen, wie wärs mit einem Artikel Wasser-Prawda | Juni 2015 über jene Aff äre der Eyres von Exmoor oder, wie die alten Weiber hier sagen: ›Das Teufelsohr der Eyres‹? Das Haupt der Familie ist, wie Sie wissen, der Herzog von Exmoor; er ist einer der wenigen wirklich alten, steifen Tory-Aristokraten, die wir noch haben, ein verkrusteter, alter wirklicher Tyrann, und es läge so richtig auf unserer Linie, mit ihm Streit anzufangen. Ich glaube, ich bin auf der Spur einer Geschichte, die Staub aufwirbeln wird. Natürlich glaube ich nicht an die alte Legende von James I., und was Sie anbelangt, so glauben Sie ja überhaupt an nichts, nicht einmal an den Journalismus. Die Legende handelt, wie Sie sich wohl erinnern werden, von jenem dunkelsten Stückchen der englischen Geschichte, der Vergiftung Overburys durch diese behexte Schlange Frances Howard und dem ganz unerklärlichen, geheimnisvollen Schrecken, der den König zwang, den Mördern zu verzeihen. Es wurden da noch eine Menge durch Zeugenaussagen beglaubigte Hexereien mit der Geschichte in Zusammenhang gebracht, und man erzählte sich, daß ein Diener, der während einer Unterredung zwischen dem König und Carr am Schlüsselloch gehorcht hatte, die Wahrheit erfuhr; doch das Geheimnis, das der Mann erlauschte, war so entsetzlich, daß sein Ohr zu riesenhafter und monströser Gestalt anwuchs. Und wenn man ihn auch mit Ländereien und mit Gold überschütten mußte und ihn zum Ahnen eines Herzogsgeschlechtes machte, so ist das durch Zauberkraft geformte Ohr doch in der Familie geblieben. Nun, Sie glauben nicht an Zauberei, und wenn Sie es täten, so könnten Sie es nicht als Manuskript verwenden. Wenn in Ihrem Büro ein Wunder geschähe, so müßten Sie es vertuschen, jetzt, da so viele Bischöfe Agnostiker sind. Aber das gehört nicht zur Sache. Tatsache ist, daß mit dem Exmoor und seiner Familie wirklich etwas Merkwürdiges los ist; irgend etwas ganz Natürliches wahrscheinlich, aber etwas ganz Abnormes. Und das Ohr spielt irgendeine Rolle dabei, glaube ich; entweder als Symbol oder als Täuschung oder als Mißgestalt oder Verkrüppelung oder sonst etwas. Es gibt auch noch eine andere Legende, die besagt, daß die Kavaliere kurz nach James I. anfingen, das Haar lang zu tragen, nur um das Ohr des ersten Lords von Exmoor zu bedecken. Das ist sicherlich auch nur Einbildung. Der Grund, warum ich Ihnen das erzähle, ist der: ich SPRACHRAUM halte es für einen Fehler, wenn wir die Aristokratie immer nur um ihres Champagners und ihrer Diamanten willen angreifen. Die meisten Leute bewundern die vornehme Gesellschaft darum, weil es ihr so gut geht; und ich glaube, wir ergeben uns zu früh, wenn wir zugeben, daß die Aristokratie auch nur die Aristokraten glücklich gemacht hat. Ich schlage eine Reihe von Artikeln vor, in denen dargelegt wird, wie trübselig, wie unmenschlich, ja wie geradezu diabolisch auch nur der Hauch der Atmosphäre einiger dieser großen Häuser ist. Es gibt eine Menge von Beispielen, aber man könnte kaum mit einem besseren beginnen als mit dem Ohr der Eyres. Ende der Woche hoff e ich Ihnen die Wahrheit über diese Sache mitteilen zu können. Mit besten Grüßen Ihr ergebener Francis Finn.« Herr Nutt starrte auf seinen linken Stiefel und überlegte einen Augenblick lang; dann rief er mit starker, lauter und vollkommen lebloser Stimme, in der eine Silbe wie die andere klang: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen Sie einen Brief für Herrn Finn auf. ›Lieber Finn, ich glaube, es wird gehen. Das Manuskript müßte Samstag mit der zweiten Post hier sein. Ihr E. Nutt.‹« Diese vollendete Epistel sprach er so aus, als bestünde sie aus einem einzigen Wort, und Fräulein Barlow ratterte sie nieder, als bestünde sie aus einem einzigen Wort. Dann nahm er einen anderen kleinen Bürstenabzug und einen blauen Bleistift zur Hand und machte aus dem Wort »übernatürlich« ein »wunderbar« und änderte den Ausdruck »niederreißen« in »Einhalt tun«. Mit derlei nützlichen und heiteren Arbeiten verbrachte Herr Nutt seine Zeit, bis ihn der darauffolgende Samstag an demselben Schreibtisch, wo er demselben Schreibmaschinenfräulein diktierte und denselben blauen Bleistift benützte, vor der ersten Teillieferung der Enthüllungen des Herrn Finn sitzen fand. Der Anfang war ein gesundes Stück zermalmender Schmähungen über die üblen Geheimnisse der Fürsten und die in den höchsten Kreisen der Gesellschaft herrschende Verrottung. Der Artikel war, obwohl wuchtig und temperamentvoll, in tadellosem Englisch geschrieben. Doch der Chefredakteur hatte, wie gewöhnlich, jemand anderem die Aufgabe zugewiesen, diese Einleitung in einzelne überschriftartige Sätze zu zerstückeln, die etwas würziger klangen, wie »Verbrechen und Verdienst«, »Adel und Angst«, »Ohr und Orden« oder »Die Eyres und ihr Eigentum« und so weiter in 59 hundert glücklichen Wendungen. Dann folgte die Legende des Ohrs, ausgemalt nach dem Inhalt von Finns erstem Brief, und dann der Bericht seiner späteren Entdeckungen, wie folgt: »Ich weiß, das Wesen des Journalismus besteht darin, das Ende einer Geschichte an den Anfang zu stellen und das eine Überschrift zu nennen. Ich weiß, Journalismus besteht zum größten Teil darin, zu sagen: ›Tod des Lord Jones‹, und zwar zu Leuten, die niemals wußten, daß Lord Jones gelebt hat. Ihr augenblicklicher Mitarbeiter ist jedoch der Meinung, daß dies, wie viele andere journalistische Gewohnheiten, schlechter Journalismus ist und daß der ›Daily Reformer‹ ein besseres Beispiel in derlei Dingen geben sollte. Ich unternehme es daher, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich Schritt für Schritt zugetragen hat. Ich werde die wirklichen Namen der Personen nennen, die gewiß bereit wären, meine Aussage zu bezeugen. Was nun die Überschriften und die sensationellen Ankündigungen anbelangt – so werden diese erst zum Schluß kommen. Ich schritt einen öffentlichen Weg entlang, der durch einen privaten Obstgarten in Devonshire führte und ganz den Anschein erweckte, zu einem guten Devonshire-Apfelwein hinzuführen, als ich plötzlich schon vor einem ebensolchen Ort stand. Es war ein langes, niedriges Wirtshaus oder eigentlich ein Häuschen und zwei Schuppen; das Stroh ihrer Dächer sah aus wie bräunlichgraues Haar aus irgendwelcher vorsintflutlichen Zeit. Vor der Türe war ein Schild, wonach das Wirtshaus ›Zum blauen Drachen‹ hieß, und unter dem Schild stand einer jener langen Bauerntische, die früher vor den meisten guten, freien englischen Wirtshäusern zu stehen pflegten, bevor Abstinenzler und Bierbrauer miteinander die Freiheit zerstörten. Und an diesem Tisch saßen drei Herren, die vor hundert Jahren hätten leben können. Jetzt, da ich sie näher kenne, ist es nicht schwer, die Eindrücke zu entwirren; aber gerade damals sahen sie wie drei leibhaftige Gespenster aus. Die dominierende Gestalt – dominierend, weil der Mann nach allen drei Dimensionen hin der größte war, und auch, weil er in der Mitte des langen Tisches gerade mir gegenübersaß – war ein großer, dicker Mann, ganz schwarz gekleidet, mit einem runden, apoplektischen Gesicht und kahler, bekümmerter Stirne. Als ich ihn genauer ansah, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was eigentlich diesen Eindruck des Altertümlichen an ihm erwecke, ausgenommen der altmodische Schnitt seiner weißen, priesterlichen Krawatte und die querlaufenden Falten über seiner hohen Stirne. Noch schwerer zu definieren war der Eindruck in bezug auf den Mann am rechten Tischende, der, offen gestanden, Wasser-Prawda | Juni 2015 60 SPRACHRAUM ein ganz alltäglich aussehender Mensch war, wie man ihn stündlich allüberall sehen kann, mit einem runden, braunhaarigen Kopf und einer runden Stumpfnase, doch war auch er in kirchliches Schwarz gekleidet. Erst als ich seinen breiten, geschwungenen Hut auf dem Tisch neben ihm liegen sah, wurde es mir klar, warum er in mir die Vorstellung von etwas Altertümlichem erweckt hatte. Er war ein römischkatholischer Priester. Vielleicht hatte der dritte Mann am anderen Ende des Tisches eigentlich mehr damit zu tun als alle übrigen, obwohl er in physischer Hinsicht schmächtiger und in seiner Kleidung unauffälliger war. Seine hageren Glieder steckten in enganliegenden grauen Ärmeln und Hosenbeinen, oder besser gesagt, sie waren hineingezwängt; er hatte ein langes, adlerartiges Gesicht, welches irgendwie darum noch melancholischer aussah, weil seine hohlwangigen Züge von einem Kragen und Halstuch umschlossen waren, wie sie von vergangenen Geschlechtern getragen wurden, und sein Haar hatte einen trüben, rötlichen Schimmer, der im Verein mit seinem gelben Gesicht mehr purpurn als rot wirkte. Die zwar nicht auffallende, aber doch ungewöhnliche Farbe war um so bemerkenswerter, als sein Haarwuchs beinahe unnatürlich gesund war und er das Haar lang und lockig trug. Doch wenn ich recht überlege, rührte mein erster Eindruck des Altmodischen wohl hauptsächlich von den hohen, altmodischen Weingläsern her, die neben einigen Zitronen und langen Pfeifen auf dem Tisch standen. Da es anscheinend ein öffentliches Wirtshaus war, mußte ich als abgehärteter Reporter nicht erst viel von meiner Unverschämtheit zusammenraffen, um an dem langen Tisch Platz zu nehmen und ein Glas Apfelwein zu bestellen. Der große Mann in Schwarz schien sehr gelehrt, insbesondere in bezug auf die lokalen Altertümer; der kleine Mann in Schwarz überraschte mich, obwohl er weit weniger sprach, durch sein noch größeres Wissen, so daß wir uns bald ganz gut miteinander unterhielten. Doch der dritte Mann, der alte Herr mit der engen Hose, schien ein wenig unnahbar und hochmütig, bis ich auf das Thema des Herzogs von Exmoor und seiner Ahnen zu sprechen kam. Es kam mir so vor, als brächte dieses Thema die beiden anderen ein wenig in Verlegenheit, doch jedenfalls brach es in sehr erfolgreicher Weise bei eben diesem Dritten den Bann des Schweigens. Er sprach zurückhaltend und mit dem Gehaben eines ungemein wohlerzogenen Herrn, paff te von Zeit zu Zeit an seiner langen Pfeife und erzählte mir einige der entsetzlichsten Geschichten, die ich je in meinem Leben gehört habe: wie einer der Eyres in früheren Zeiten einmal seinen eigenen Vater erhängt und ein anderer seine Frau, an einen Wagen gebunden, durchs Dorf hatte schleifen lassen; Wasser-Prawda | Juni 2015 wie ein anderer wieder eine Kirche angezündet hatte, die voller Kinder war, und so weiter. Einige von diesen Geschichten sind wirklich nicht zur Veröffentlichung geeignet. So zum Beispiel die Geschichte von der scharlachroten Nonne oder die abscheuliche Geschichte von dem gefleckten Hund, oder das Geschehnis im Steinbruch. Und diese ganze rote Sündenliste kam in beinahe geziertem Ton von seinen schmalen, vornehmen Lippen, während er dasaß und den Wein in kleinen Schlückchen aus dem hohen, dünnen Glase schlürfte. Ich sah wohl, daß der große Mann mir gegenüber sich bemühte, ihn womöglich zu unterbrechen. Doch augenscheinlich hatte er zu großen Respekt vor dem alten Herrn und wagte es nicht, plötzlich einzufallen. Auch der kleine Priester am anderen Ende des Tisches, obwohl er von ähnlichen Gefühlen der Angst oder Verlegenheit frei zu sein schien, blickte unverwandt auf den Tisch und hörte der Erzählung scheinbar mit großem Unbehagen zu – was ja begreiflich war. ›Sie scheinen‹, sagte ich zu dem Erzähler, ›dem Geschlecht der Exmoor nicht sehr wohlgesinnt zu sein?‹ Er sah mich einen Augenblick lang an, den Mund anfangs noch zu liebenswürdigem Lächeln verzogen, doch bald wurden seine Lippen bleich und schmal. Dann plötzlich zerschlug er seine Pfeife und sein Glas auf dem Tisch und erhob sich – das wahre Bild des vollendeten Edelmannes im aufflammenden Zorn eines Unholdes. ›Diese Herren‹, rief er, ›werden Ihnen sagen, ob ich Grund habe, dies Geschlecht zu lieben. Der Fluch der alten Eyres lag schwer über diesem Lande, und viele hatten darunter zu leiden. Sie wissen, daß keiner von ihnen so sehr darunter zu leiden hatte wie ich!‹ Und damit zertrat er einen herabgefallenen Splitter des zerbrochenen Weinglases mit dem Absatz, während er im grünen Zwielicht der flimmernden Apfelbäume davonschritt. ›Das ist ein merkwürdiger alter Herr‹, sagte ich zu den beiden anderen. ›Wissen Sie vielleicht, was die Familie der Exmoor ihm angetan hat? Wer ist er?‹ Der große Mann in Schwarz starrte mich mit der bestürzten Miene eines erschreckten Stieres an; er schien es anfangs gar nicht zu begreifen. Dann endlich sagte er: ›Wissen Sie nicht, wer er ist?‹ Ich versicherte, keine Ahnung zu haben, worauf abermals ein Schweigen eintrat. Dann sagte der kleine Priester, SPRACHRAUM immer noch auf den Tisch starrend: ›Das ist der Herzog von Exmoor.‹ Hierauf, bevor ich mich noch sammeln konnte, fügte er ebenso ruhig, doch in einem Tonfall, als wolle er die Dinge nun in Ordnung bringen, hinzu: ›Mein Freund hier ist Dr. Mull, Bibliothekar des Herzogs. Mein Name ist Brown.‹ ›Aber‹, stammelte ich, ›wenn das der Herzog ist, warum verdammt er die alten Herzöge so sehr?‹ ›Er scheint wirklich der Meinung zu sein‹, antwortete der Priester namens Brown, ›daß sie ihm einen Fluch hinterlassen haben.‹ Dann fügte er anscheinend zusammenhanglos hinzu: ›Darum trägt er auch eine Perücke.‹ Es dauerte einige Augenblicke, bevor der Sinn dieser Worte in mir aufzudämmern begann. ›Sie meinen doch nicht jenes Märchen von dem Ohr?‹ fragte ich. ›Ich habe natürlich davon gehört, aber es kann doch nur eine abergläubische Geschichte sein, die aus einer viel einfacheren Tatsache entstanden ist. Ich habe manches Mal daran gedacht, ob es nicht irgendeine phantastische Version einer jener Verstümmlungsgeschichten ist. Man pflegte doch im sechzehnten Jahrhundert den Verbrechern oft ein Ohr abzuhauen.‹ ›Ich glaube nicht, daß es das war‹, antwortete der kleine Mann nachdenklich, ›doch widerspricht es weder dem Naturgesetz noch der gewöhnlichen wissenschaftlichen Erfahrung, daß irgendeine Deformation in einer Familie häufig wiederkehrt – und zum Beispiel ein Ohr größer ist als das andere.‹ Der große Bibliothekar hatte seine große kahle Stirn in seine großen roten Hände gelegt wie einer, der sich bemüht, ernstlich seine Pflicht zu erwägen. ›Nein‹, stöhnte er endlich, ›Sie tun dem Mann eigentlich unrecht. Ich habe keine Ursache, ihn zu verteidigen, verstehen Sie mich wohl, und auch keine Verpflichtungen ihm gegenüber. Er war gegen mich, ebenso wie gegen alle anderen Leute, immer ein richtiger Tyrann. Glauben Sie nur ja nicht einfach darum, weil Sie ihn hier sitzen sahen, daß er nicht im übelsten Sinn des Wortes ein großer Herr sei. Er würde einen Menschen eine Meile weit herbeiholen, um an einer Glocke zu läuten, die eine Elle weit entfernt ist – wenn er damit einen anderen Mann aus einer drei Meilen weiten Entfernung herbeirufen könnte, um sich eine Zündholzschachtel bringen zu lassen, die drei Ellen weit liegt. Er braucht einen Diener, der seinen Spazierstock trägt; einen Kammerdiener, um sich sein Opernglas halten zu lassen ...‹ ›Aber keinen Bedienten, der seine Kleider bürstet‹, warf der 61 Priester in seltsam trockenem Tone ein, ›denn sonst würde dieser Bediente auch die Perücke bürsten wollen.‹ Der Bibliothekar wendete sich dem Priester zu und schien meine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben. Er war sehr erregt und wohl ein wenig vom Wein erhitzt. ›Ich weiß nicht, woher Sie es wissen, Pater Brown‹, sagte er, ›aber Sie haben recht. Er läßt die ganze Welt alles für sich tun – mit einer Ausnahme: ihm beim Ankleiden behilflich zu sein. Das muß in einer Einsamkeit geschehen, die einer Einöde gleichkommt. Jeder wird ohne Zeugnis aus dem Hause gejagt, der auch nur in der Nähe der Tür zu seinem Ankleidezimmer angetroffen wird.‹ ›Scheint ein lustiger alter Kauz zu sein‹, bemerkte ich. ›Nein‹, erwiderte Dr. Mull ganz schlicht. ›Und das eben meinte ich, als ich sagte, Sie täten ihm unrecht. Meine Herren, der Herzog empfindet wirklich all diesen Groll über den alten Fluch, so wie er es eben zeigte. Mit aufrichtiger Scham und ungeheucheltem Schrecken verbirgt er unter dieser purpurfarbenen Perücke irgend etwas, dessen Anblick seiner Meinung nach jeden Sterblichen vernichten müßte. Ich weiß, daß es so ist. Und ich weiß auch, daß es keine gewöhnliche, natürliche Verunstaltung ist wie zum Beispiel die Verstümmelung eines Verbrechers oder die vererbte Mißgestaltung eines Körperteils. Ich weiß, daß es schlimmer ist als all dies, ich weiß es von dem Augenzeugen einer Szene, die kein Mensch erfunden haben konnte, wo ein stärkerer Mann als irgendeiner von uns versucht hatte, dem Geheimnis zu trotzen und davor zu Tode erschrocken ist.‹ Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Mull fuhr – meine Anwesenheit gänzlich vergessend – aus der Höhlung seiner Hände hervor zu sprechen fort. ›Ich sage es Ihnen unverhohlen, Pater Brown, weil es eigentlich mehr den Herzog verteidigen heißt als ihn verraten. Haben Sie je von jener Zeit gehört, da er beinahe alle seine Güter verlor?‹ Der Priester schüttelte den Kopf, und der Bibliothekar fuhr fort, seine Geschichte zu erzählen, wie er sie von seinem Amtsvorgänger gehört hatte, seinem Vorgesetzten und Lehrer, dem er vorbehaltlos zu vertrauen schien. Bis zu einem gewissen Punkt war es die gewöhnliche Geschichte des Vermögensverfalls einer großen Familie, die Geschichte des Advokaten einer großen Familie. Doch dieser Advokat war klug genug, wenn man so sagen darf, auf ehrliche Weise zu betrügen. Anstatt anvertrautes Gut anzutasten, machte er sich die Nachlässigkeit des Herzogs zunutze und versetzte die Familie in eine finanzielle Zwangslage; so daß es für den Herzog notwendig werden mochte, den Advokaten die Besitztümer tatsächlich übernehmen zu lassen. Wasser-Prawda | Juni 2015 62 SPRACHRAUM Der Advokat hieß Isaak Green, doch der Herzog nannte ihn Eliesa, wahrscheinlich im Hinblick auf die Tatsache, daß er, obwohl sicherlich nicht älter als dreißig, vollständig kahl war. Er war sehr schnell aus sehr schmutzigen Verhältnissen emporgewachsen, Spion und Denunziant gewesen und dann Wucherer; aber als Rechtsfreund der Eyres war er klug genug, nach außen hin korrekt zu bleiben, bis er soweit war, den entscheidenden Schlag zu führen. Dies geschah eines Tages beim Abendessen; und der damalige Bibliothekar erzählte, er werde niemals das Bild vergessen, wie der kleine Advokat vor den Lampenschirmen und Weinkaraffen mit ruhigem Lächeln dem großen Gutsherrn vorschlug, den Besitz mit ihm zu teilen. Die Folge war jedenfalls nicht zu übersehen; denn der Herzog schlug, ohne ein Wort zu sagen, mit einem plötzlichen Ruck dem kleinen Advokaten eine Weinflasche an den kahlen Kopf, genau so, wie wir es ihn eben hier im Obstgarten haben tun sehen, als er das Glas auf dem Tisch zerschlug. Eine große, dreieckige Wunde blieb am Schädel des Advokaten zurück, seine Augen wurden trübe, doch nicht sein Lächeln. Er erhob sich taumelnd und schlug zurück, wie solche Leute zurückzuschlagen pflegen. ›Ich bin froh, daß es so gekommen ist‹, sagte er, ›denn jetzt kann ich den ganzen Besitz nehmen. Ich werde ihn von Gesetzes wegen bekommen.‹ Exmoor soll aschfahl gewesen sein, nur seine Augen funkelten. ›Das Gesetz wird Ihnen den Besitz zusprechen‹, sagte er, ›aber Sie werden ihn nicht nehmen ... Warum nicht? Nun, weil das für mich der Jüngste Tag wäre; und wenn Sie ihn nehmen, so nehme ich meine Perücke ab ... Sehen Sie, Sie erbärmlicher, gerupfter Vogel, jeder kann Ihren kahlen Schädel sehen. Aber niemand wird je den meinen schauen und weiterleben!‹ Nun, Sie mögen sagen, was Sie wollen, und darüber denken, was Sie wollen. Mull beschwört feierlich die Tatsache, daß der Advokat, nachdem er eine Weile lang verzweifelt die geballten Fäuste in der Luft geschüttelt hatte, einfach aus dem Zimmer hinausrannte und nie mehr wieder in der ganzen Umgebung auftauchte. Und seither wurde Exmoor, der Zauberer und der Hexenmeister, mehr gefürchtet als vorher der Gutsherr und der Beamte. Doktor Mull erzählte wohl die ganze Geschichte mit etwas übertrieben theatralischen Bewegungen und mit einer Leidenschaft, die ich zumindest für parteilich hielt. Ich war mir der Möglichkeit wohl bewußt, daß das Ganze die Übertreibung einer alten Aufschneiderei und eines überlieferten Geschwätzes sei. Doch ehe ich diese erste Hälfte meiner Entdeckungen beschließe, halte ich es für meine Pflicht, Wasser-Prawda | Juni 2015 zu berichten, daß meine ersten beiden Nachforschungen diese Erzählung bestätigt haben. Ich erfuhr von einem alten Apotheker im Dorfe, daß einmal des Nachts ein kahlköpfiger Mann, der sich Green nannte, im Frack zu ihm gekommen war, um sich eine dreieckige Wunde auf der Stirne mit einem Pflaster schließen zu lassen. Und ich fand aus alten Zeitungen und Gerichtsdokumenten, daß ein gewisser Green einmal ein gerichtliches Verfahren gegen den Herzog von Exmoor angestrengt oder zumindest in die Wege geleitet hatte.« Herr Nutt, Chefredakteur des »Daily Reformer«, schrieb einige im höchsten Grade unangemessene Worte an die Spitze des Manuskriptes und einige im höchsten Grade geheimnisvolle Zeichen an den Rand desselben, dann rief er mit derselben lauten, monotonen Stimme wie sonst zu Fräulein Barlow hinüber: »Bitte, nehmen Sie einen Brief an Herrn Finn auf. ›Lieber Finn, Ihr Manuskript wird gehen, aber ich mußte einige Überschriften dazusetzen lassen; auch würde unser Publikum niemals einen römischen Priester in der Geschichte dulden – man darf die Vorstadt nicht aus dem Auge verlieren. Ich habe einen Spiritisten namens Brown aus ihm gemacht. Ihr E. Nutt.‹« Einen oder zwei Tage später befand sich derselbe rührige und kritische Redakteur mit immer runder und runder werdenden blauen Augen bei der Überprüfung der zweiten Teilsendung von Herrn Finns Schauergeschichte aus der höchsten Gesellschaft. Sie begann mit den Worten: »Ich habe eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Allerdings ist es ganz etwas anderes, als was ich mir vorgestellt habe, aber es wird das Publikum noch weit mehr in Erstaunen setzen, als ich gedacht hatte. Ich wage ohne allzu große Eitelkeit zu behaupten, daß man die Worte, die ich hier schreibe, in ganz Europa und sicherlich in ganz Amerika und in allen Kolonien lesen wird. Und doch erfuhr ich alles, was ich zu erzählen habe, noch bevor ich jenen unscheinbaren hölzernen Tisch in jenem Apfelbaumgarten verließ. Ich verdanke alles jenem kleinen Priester Brown. Das ist ein ganz ungewöhnlicher Mensch. Der große Bibliothekar hatte den Tisch verlassen, vielleicht ein wenig beschämt wegen seiner Geschwätzigkeit, vielleicht auch beunruhigt ob des Zorns, in dem sein geheimnisvoller Herr verschwunden war. Jedenfalls folgte er schweren Schrittes den Spuren des Herzogs und entschwand zwischen den Bäumen. Pater Brown hatte eine der auf dem Tisch liegenden Zitronen SPRACHRAUM zur Hand genommen und besah sie mit merkwürdigem Vergnügen. ›Was für eine wunderschöne Farbe so eine Zitrone hat!‹ sagte er. ›Der Herzog hat etwas an sich, was mir nicht gefällt: die Farbe seiner Perücke.‹ ›Ich glaube, ich verstehe Sie nicht recht‹, antwortete ich. ›Er muß wohl seinen guten Grund haben, warum er seine Ohren bedecken will wie König Midas‹, fuhr der Priester in einem heiteren, schlichten Ton fort, der mich unter den gegebenen Umständen als ein wenig oberflächlich berührte. ›Ich kann mir gut vorstellen, daß es hübscher ist, seine Ohren mit Haaren zu bedecken als mit Messingplättchen oder Lederlappen. Aber wenn er Haare verwendet, warum will er dann nicht, daß es wie Haar aussieht? Es hat noch niemals auf der ganzen Welt Haare von dieser Farbe gegeben. Es sieht eher aus wie eine Abendwolke, die bei Sonnenuntergang durch die Bäume schimmert. Warum versteckt er den Familienfluch nicht geschickter, wenn er sich dessen wirklich so sehr schämt? Darum, weil er sich dessen nicht schämt. Er ist sogar stolz darauf.‹ ›Es ist eine häßliche Perücke, auf die man nicht stolz zu sein brauchte – und eine häßliche Geschichte‹, sagte ich. ›Überlegen Sie einmal‹, sagte der merkwürdige kleine Mann, ›wie Sie selbst über derlei Dinge denken. Ich nehme an, Sie sind nicht mehr versnobt und nicht angekränkelter als wir anderen; aber haben Sie nicht irgendwie das Gefühl, daß es eigentlich eine ganz feine Sache ist, einen echten alten Familienfluch zu besitzen? Würden Sie sich dessen schämen, oder wären Sie nicht eher ein wenig stolz darauf, wenn der Erbe aller Schrecken der Glamis Sie seinen Freund hieße oder wenn Byrons Familie Ihnen allein die üblen Abenteuer ihres Geschlechtes anvertraut hätte? Seien Sie nicht zu streng mit den Aristokraten, wenn ihre Köpfe ebenso schwach sind, wie die unseren es sein würden, und sie bezüglich ihrer eigenen Sorgen und Kümmernisse Snobs sind.‹ ›Bei Gott!‹ rief ich, ›das ist wirklich wahr. In der Familie meiner Mutter gab es einen Geist, und wenn ich es mir ehrlich überlege, so hat mich das in mancher trüben Stunde getröstet.‹ ›Und denken Sie nur‹, fuhr er fort, ›was für ein Strom von Blut und Gift bereitwillig von seinen schmalen Lippen drang, sowie Sie nur seine Ahnen erwähnten! Warum sollte er jedem Fremden gleich jene Schreckenskammern zeigen, wenn er nicht stolz auf sie wäre? Er verbirgt weder seine Perücke noch sein Blut, noch den Familienfluch, noch die 63 Verbrechen seiner Familie – aber ...‹ Die Stimme des kleinen Mannes veränderte sich so plötzlich, seine Hände krampften sich so schnell zusammen, und seine Augen blitzten auf einmal so eulenhaft rund und leuchtend auf, daß das Ganze wie eine kleine Explosion am Tische wirkte. ›Aber‹, schloß er, ›er verbirgt wirklich das Geheimnis seiner Toilette.‹ Es paßte irgendwie zu dem Schauer, der meine erregten Nerven ergriffen hatte, daß der Herzog in diesem Augenblick wieder unter den flimmernden Bäumen auftauchte. Er kam mit leisen Schritten und seinem abendrotfarbenen Haar in Gesellschaft des Bibliothekars um die Ecke des Hauses. Ehe er in Hörweite gelangte, hatte Pater Brown noch vollkommen ruhig und erwägend hinzugefügt: ›Warum verbirgt er das wirkliche Geheimnis mit dieser purpurfarbenen Perücke? Weil es nicht solcherart ist, wie wir vermuten.‹ Der Herzog kam näher und nahm mit der ganzen ihm angeborenen Würde seinen Platz am Tische wieder ein. Der Bibliothekar tanzte vor lauter Verlegenheit wie ein großer Bär auf den Hinterbeinen. Der Herzog wendete sich mit tiefem Ernst an den Priester. ›Pater Brown‹, sagte er, ›wie mir Doktor Mull mitteilt, sind Sie hergekommen, um irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Ich will nicht vorgeben, daß ich die Religion meiner Väter hochhalte. Doch um ihretwillen und um der früheren Tage willen, da wir einander schon begegneten, bin ich gerne bereit, Sie anzuhören. Aber ich nehme an, es wird Ihnen lieber sein, wenn dies privat geschähe.‹ Alles, was ich noch von einem Gentleman in mir habe, hieß mich aufstehen und den Tisch verlassen. Doch alles, was ich von einem Journalisten in mir hatte, hieß mich bleiben. Noch ehe dieser Augenblick des Schwankens entschieden war, hatte der Priester eine Bewegung gemacht, die mich zurückhielt. ›Wenn Euer Gnaden meine eigentliche Bitte erfüllen wollten‹, sagte er, ›oder wenn ich das Recht hätte, einen Rat zu erteilen, so würde ich darauf dringen, daß so viele Leute wie nur irgend möglich anwesend sein sollten. Ich habe in dieser ganzen Gegend Hunderte von Leuten gefunden, sogar unter meiner eigenen Gemeinde, deren ganzes Denken vergiftet wird von diesem Bann, den zu brechen ich Sie beschwöre. Ich wollte, wir könnten ganz Devonshire hier haben, um zuzusehen, wenn Sie es tun.‹ ›Wenn ich was tue?‹ fragte der Herzog mit emporgezogenen Augenbrauen. Wasser-Prawda | Juni 2015 64 SPRACHRAUM ›Wenn Sie die Perücke herunternehmen‹, sagte Pater Brown. Das Gesicht des Herzogs blieb unverändert, aber der gläserne, stiere Blick, mit dem er den Bittsteller ansah, gab seinem Gesicht einen so entsetzlichen Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor an einem Menschen gesehen hatte. Ich sah, wie die langen Beine des Bibliothekars unter ihm zu schwanken anfingen gleich den Schatten von Zweigen über einem Teich; und ich konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß in der herrschenden Stille die Bäume ringsumher sich langsam mit Teufeln an Stelle von Vögeln füllten. ›Ich will Sie verschonen‹, sagte der Herzog schließlich mit dem Tonfalle übermenschlichen Mitleides. ›Ich weigere mich. Gäbe ich Ihnen den schwächsten Wink all jener Last des Entsetzens, die ich allein zu tragen habe, so lägen Sie jammernd zu meinen Füßen und schrien, daß Sie nicht mehr wissen wollten. Ich will Sie mit diesem Wink verschonen. Sie sollen den ersten Buchstaben dessen nicht entziffern, was auf dem Altar des unbekannten Gottes geschrieben steht!‹ ›Ich kenne den unbekannten Gott‹, sagte der kleine Priester mit der unbewußten Gebärde einer unbedingten Sicherheit, die wie ein granitner Turm emporragt. ›Ich kenne seinen Namen, er heißt Satan. Der wahre Gott war aus Fleisch und Blut geschaffen und lebte in unserer Mitten. Und ich sage Ihnen, wo immer Sie Menschen finden, die bloß von einem Geheimnis beherrscht werden, so können Sie sicher sein, daß es das Geheimnis des Bösen und der Sünde ist. Wenn Ihnen der Teufel sagt, daß etwas zu schrecklich sei, um geschaut zu werden, so schauen Sie es an! Wenn er sagt, daß es zu schrecklich sei, um gehört zu werden, so hören Sie es an! Wenn Sie etwas für unerträglich halten, so ertragen Sie es! Ich beschwöre Euer Gnaden, diesem Nachtmahr jetzt ein Ende zu machen, gleich hier an dem Tische.‹ ›Wenn ich es täte‹, sagte der Herzog mit leiser Stimme, ›so würden Sie und all Ihr Glaube und all das, wodurch allein Sie leben, als erstes zunichte. Es würde einen Augenblick lang das große Nichts über Sie kommen, bevor Sie stürben.‹ ›Das Kreuz Christi stehe zwischen mir und irgendwelchem Übel‹, sagte Pater Brown. ›Nehmen Sie Ihre Perücke ab!‹ Ich beugte mich in unbeherrschbarer Erregung weit über den Tisch. Während ich diesem Wortgefecht lauschte, war ein halber Gedanke in mir erwacht. ›Euer Gnaden‹, rief ich, ›Sie bluffen. Nehmen Sie die Perücke ab, oder ich reiße sie herunter!‹ Wasser-Prawda | Juni 2015 Ich glaube, man kann mich wegen Überfalls belangen, aber ich bin sehr froh, daß ich es getan habe. Als er mit derselben steinernen Stimme wiederholte: ›Ich weigere mich‹, da sprang ich einfach auf ihn los. Drei lange Sekunden lang wehrte er sich, als hülfe ihm die ganze Hölle, doch ich beugte seinen Kopf so weit zurück, bis die Haarmütze abfiel. Ich gebe zu, daß ich während des Ringens die Augen schloß, als die Perücke herunterfiel. Ein Schrei des Doktor Mull, der in diesem Augenblick auch neben dem Herzog stand, erweckte mich. Doktor Mulls Kopf war zusammen mit dem meinen über den kahlen Schädel des Herzogs gebeugt. Dann wurde das Schweigen plötzlich durch den Ausruf des Bibliothekars unterbrochen: ›Was soll das bedeuten? Ja, der Mann hatte doch nichts zu verbergen. Seine Ohren sind genau so wie die aller anderen Menschen!‹ ›Gewiß‹, sagte Pater Brown, ›das war es, was er zu verbergen hatte.‹ Der Priester ging geradewegs auf den Herzog zu, doch blickte er seltsamerweise gar nicht nach seinen Ohren. Er starrte mit beinahe komischem Ernst auf seine kahle Stirn. Dann deutete er auf eine dreieckige, längst verheilte, doch noch wahrnehmbare Narbe und sagte höflich: ›Herr Green, glaube ich, und er hat also doch den ganzen Besitz bekommen.‹ Und jetzt will ich den Lesern des ›Daily Reformer‹ sagen, was ich an der ganzen Geschichte für das Merkwürdigste halte. Diese Verwandlungsszene, die Ihnen so verworren und purpurfarben wie ein persisches Märchen vorkommen wird, war von allem Anfang an – bis auf meinen regelrechten Überfall – streng gesetzmäßig und rechtlich. Dieser Mann mit der wunderlichen Narbe und den gewöhnlichen Ohren ist kein Betrüger. Obwohl er in einem gewissen Sinn eines anderen Mannes Perücke trägt und vorgibt, eines anderen Mannes Ohr zu besitzen, so hat er doch nicht eines anderen Mannes Adelstitel gestohlen. Er ist tatsächlich der einzige Herzog von Exmoor, den es gibt. Es ist folgendes geschehen: Der alte Herzog hatte wirklich ein leicht verunstaltetes Ohr, was wirklich mehr oder weniger in der Familie erblich war. Er war in dieser Beziehung etwas angekränkelt, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er diese körperliche Mißbildung als eine Art Fluch anrief in jener heftigen, zweifellos vorgefallenen Szene, in der er Green die Flasche an den Kopf warf. Doch der Streit endete ganz anders. Green bestand auf seiner Forderung und bekam den Besitz; der enteignete Edelmann erschoß sich und starb ohne Nachkommen. Nach einem angemessenen Zeitablauf ließ unsere schöne englische SPRACHRAUM 65 Regierung den ›erloschenen‹ Adelstitel der Exmoor wieder erneuern und verlieh ihn, wie gewöhnlich, dem bedeutendsten Mann, dem Mann, dem die Besitztümer der alten Exmoors gehörten. Dieser Mann machte sich die alte Familienlegende zunutze – wahrscheinlich beneidete und bewunderte er in seinem versnobten Herzen die Leute wirklich darum. Und so zittern Tausende von armen englischen Leuten vor einem geheimnisvollen Oberhaupt mit einem Ahnenschicksal und einem Diadem von Sündensternen – während sie in Wirklichkeit vor einem Schurken aus der Gosse zittern, der erst Winkeladvokat und vor noch kaum zwölf Jahren ein Pfandleiher war. Dieser Fall erscheint mir ungemein bezeichnend für den wirklichen Stand unserer Aristokratie, wie sie heute ist und wie sie immer sein wird bis zu dem Tage, da Gott uns tapferere Männer schickt.« Herr Nutt legte das Manuskript beiseite und rief mit ungewöhnlicher Strenge: »Fräulein Barlow, bitte, nehmen Sie einen Brief an Herrn Finn auf. ›Lieber Finn, Sie müssen verrückt sein; auf so etwas können wir uns nicht einlassen. Ich wollte Vampire und die schlechte alte Zeit und die Aristokratie Hand in Hand mit dem Aberglauben. Das hat man gern. Aber es muß Ihnen doch klar sein, daß die Exmoors uns das nie verzeihen würden. Und was würden unsere Leute dann sagen, möcht ich nur wissen? Ja, Sir Simon ist einer der besten Freunde der Exmoors; und es wäre der Ruin jenes Vetters der Eyres, der für uns in Bradford arbeitet. Außerdem war der alte Seifensieder unglücklich genug, daß er im vergangenen Jahr keinen Adelstitel bekommen konnte; er würde mich telegrafisch hinauswerfen lassen, wenn ich es ihm mit solchen Verrücktheiten für diesmal verdürbe. Und was wäre mit Duff ey? Der schreibt einige klingende Artikel für uns über »Die Fußstapfen der Normannen«. Und wie kann er über die Normannen schreiben, wenn der Mann ein Advokat ist? So seien Sie doch bitte vernünftig! Ihr E. Nutt.‹« Während Fräulein Barlow den Brief lustig herunterratterte, knüllte Nutt das Manuskript zusammen und warf es in den Papierkorb, doch erst, nachdem er ganz mechanisch und nur infolge der Macht der Gewohnheit das Wort »Gott« in »die Umstände« korrigiert hatte. Wasser-Prawda | Juni 2015 66 SPRACHRAUM DIE VESTALINNEN Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1. Von Robert KraŌ 26. DAS ZEICHEN DES MEISTERS Nick Sharp saß in einer Stube des Quartiers und blätterte in einem Notizbuch. Bald schrieb er etwas nieder, bald strich er etwas aus. »Stimmt nicht,« murmelte er unwillig. »Seit der Liebelei mit diesem verfluchten Weib bin ich ganz konfus geworden.« Es klopfte an der Thür. »Herein!« rief Sharp und dachte nach. »Ist es Sir Williams, so kann er hierbleiben, ist es ein anderer, so schmeiße ich ihn hinaus.« Marquis Chaushilm trat ins Zimmer. Der Detektiv schaute wieder in sein Buch. »Guten Morgen, Steuermann, ist Kapitän Hoffmann hier?« fragte der junge Herzog den Detektiv, welcher allgemein als zweiter Steuermann des ›Blitz‹ galt. »Sehen Sie einmal da unter der Kommode nach,« brummte der Gefragte, der wegen seiner furchtbaren Grobheit berühmt geworden war. »Ich wollte dem Kapitän nur das Neueste erzählen,« fuhr aber der redselige Marquis unbeirrt fort. »Wissen Sie es schon, daß Abudahm erzählt hat, wenn ihm das Leben versprochen wird, so wolle er ein Geständnis von der größten Wichtigkeit machen?« »Ist mir ganz egal.« Der Detektiv fuhr zu rechnen fort. »Ich möchte aber gern erfahren, was das eigentlich Wasser-Prawda | Juni 2015 ist. Bedenken Sie einmal, er sagt, er könne durch ein Geständnis Tausenden von Europäern das Leben retten.« »Dann mal los!« »Jede Stunde wird das Schreiben vom britischen Gouvernement erwartet, welches ihm das Leben zusichert, wenn seine Aussagen wirklich sehr wichtig sind.« »So.« »Wir sind alle gespannt, wie –« »Wie ein Regenschirm,« unterbrach ihn der Detektiv und klappte das Buch mit einer Heftigkeit zu, daß der Herzog zusammenfuhr. »Meine Sprechstunde ist aus, Herr Marquis!« »Aber Herr Steuermann –« »Kein Wort weiter, meine Sprechzeit ist vorüber!« Der Detektiv stand auf und öffnete die Thür. »Bitte,« sagte er mit einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung. Das ging dem jungen Herzog doch über die Schnur. »Ihre Grobheit ist denn doch etwas zu arg,« brauste er auf. »Ich bin der Marquis von Chaushilm, Sohn des Herzogs von Chaushilm, und wer sind denn Sie, daß Sie so mit mir zu sprechen wagen?« »Ich bin der Steuermann Claus Uhlenhorst, zweiter Sohn des Kaisers von China,« konnte der Herzog noch hören, dann befand er sich schon auf dem Korridor, und die Thür fiel hinter ihm ins Schloß. SPRACHRAUM Chaushilm stand noch stumm vor Staunen mit ausgespreizten Fingern da, als sich die Thür wieder öffnete, und der Steuermann in wunderbar freundlichem Tone sagte: »Lieber Herzog Chaushilm, ich bitte Sie, wenn Sie Sir Williams sehen, so sagen Sie ihm doch, er möchte einmal zu mir kommen. Ich bitte sehr darum!« »So,« brummte der Detektiv und setzte sich wieder, »den wäre ich los. Weiter fehlte nichts, als daß mich der erste Beste hier mit seinem Schwatzen belästigen könnte. Hm, was mag denn dieser Abel oder Adam oder wie er heißt, eigentlich für ein furchtbares Geheimnis ausplaudern wollen? Na, werde es bald genug erfahren. Weiß Gott, da kommt wirklich Charles, der Herzog hat ihn also doch gerufen. Ja, mit Speck fängt man Mäuse.« »Wissen Sie schon das Neueste, Uhlenhorst?« Mit dieser Frage kam Charles in das Zimmer gestürzt. »Ja,« antwortete der Gefragte und zog eine entsetzlich schmutzige Tabakspfeife aus der Tasche. »Was heißt das?« »Ich habe keinen Tabak mehr.« Lachend reichte ihm der Baronet seinen gefüllten Beutel. Dann fuhr er ernst fort: »Unser Fakir ist aus seiner Zelle entsprungen.« »Was kostet von dem das Pfund?« fragte der Detektiv und stopfte die Pfeife. »Fünfzig Pfund Sterling, wer ihn lebendig einliefert. Er wird von Abudahm als der Mörder Majubas bezeichnet.« »Fünfzig Pfund Sterling kostet dieser Tabak, das ist ein bißchen viel, Williams,« meinte der Detektiv. »Zum Teufel mit Ihrem Tabak!« rief Charles. »Ich spreche von dem Fakir und Majuba.« »Zum Teufel mit allen Fiakern und Majoren, ich spreche aber von Tabak. Sie rauchen eine gute, doch viel zu leichte Sorte.« »Himmel und Hölle!« Charles sprang erregt auf. »Wollen Sie mich vielleicht foppen, dann ist unsere Freundschaft aus! Hören Sie doch nur, unser Fakir ist entsprungen!« »Nun fluchen Sie einmal etwas lauter und passen Sie auf, der Flüchtling kommt gleich wieder.« sagte der Detektiv und lehnte sich bequem in einen Stuhl. »Denken Sie denn etwa, ich fahre nun gleich in die 67 Stiefeln, bürste den Hut ab, binde einen Shlips um und renne wie ein Wilder hinterher?« Charles kratzte sich bedenklich hinter dem einen Ohr. Es war nicht das erste Mal, daß ihm der Detektiv eine Lehre gab. Jetzt war er schon wieder seinem Grundsatz: ›Weinen hilft nichts!‹ untreu geworden. »Wie schön hätte das geklungen, mein lieber Williams,« fuhr der Detektiv fort, »wenn Sie hübsch langsam zu mir ins Zimmer gekommen wären und gesagt hätten, ›Guten Morgen, Herr Uhlenhorst, der Fakir ist fort, trinken Sie in der Kantine ein Glas Bier mit mir?‹ Na, schadet nichts, Williams, ich werde Sie schon noch zu einem brauchbaren Menschen ausbilden.« »Es wird aber die höchste Zeit,« seufzte Charles, »ich werde mit jedem Tage älter.« »Sagen Sie einmal, Williams, wie geht es Miß Thomson?« »Danke, ausgezeichnet! Ich habe gesehen, wie sie heute morgen zum Frühstück, vier Butterbrote, zwei Scheiben Schinken, drei Scheiben Wurst und drei Eier gegessen hat.« »Alles aufgegessen?« »Nun, die Schalen nicht mit. Interessieren Sie sich dafür oder fühlen Sie Brotneid?« »Hm, Sir Williams, wenn Sie einmal so einen Stellvertreter brauchen, Sie wissen schon, wie ich es meine, dann können Sie mich engagieren. Ich mache es billiger als alle anderen.« »So etwas verbitte ich mir, Herr Uhlenhorst,« rief Charles, aber durchaus nicht aufgebracht. »Und wie geht es dem jungen Werden? Das Kerlchen hat mir Respekt eingeflößt. Alle Wetter noch einmal, wie er den Rajah Dingsda so von der Mauer herunter holte, obwohl er kaum selbst auf den Beinen stehen konnte, das lasse ich mir gefallen. Ein sehr nützlicher Mensch! Wie geht‘s ihm?« »Es macht sich, er erholt sich sichtlich.« »Und Miß Rosa?« »Die erholt sich neben ihm.« »Und Lucille?« »Die ist eine Seligkeit und Wonne.« »Hinkt Ihr Pferd noch?« »Nicht mehr so sehr.« »Essen Sie lieber Weinbeeren oder Kokosnüsse?« Wasser-Prawda | Juni 2015 68 SPRACHRAUM Charles sprang vom Stuhle auf. »Nun ist es aber genug!« rief er. »Denken Sie vielleicht, ich lasse mich von Ihnen zum Narren halten? Ich bin weder ein Adreßbuch, noch ein Fragenautomat.« »Nun, nun,« beruhigte ihn lächelnd der Detektiv, »sehen Sie, wenn ich über etwas nachdenken will, und es kommt jemand zu mir, der mich mit Redereien quält, so stört mich das ungemein; wenn ich aber Fragen stellen kann, deren Antworten ich nicht anzuhören brauche, so stört mich das durchaus nicht.« »Ich danke sehr für diese Schmeichelei, aber warum in der Welt haben Sie denn da Chaushilm gebeten, mich zu Ihnen zu rufen?« »Warum?« fragte der Detektiv erstaunt. »Das war doch gleich meine erste Frage. Ich wollte eine Pfeife Tabak von Ihnen haben.« Da wurde die Thür aufgerissen, und Chaushilm stürzte ins Zimmer. »Meine Herren,« rief er atemlos, »Abudahm ist ermordet in seiner Zelle gefunden worden. Ein Offizier hat ihn noch gesprochen, gerade als das Schreiben vom Gouvernement eingetroffen ist, und als er nach fünf Minuten wieder in die Zelle trat, um dem Abudahm diese Mitteilung zu machen, war er tot, er hat einen Dolchstich ins Herz bekommen.« »Wer?« fragte der Detektiv. »Abudahm. Das Merkwürdigste aber ist, daß er an der Stirn einen sonderbaren Stempel aufgedrückt bekommen hat.« Der Detektiv hatte schon den Hut in der Hand. »Ich muß gehen, sonst tragen sie heute noch ganz Sabbulpore fort und mich dazu. Vorwärts, meine Herren, ich will zuschließen!« Ohne weiteres schob er die Herren zur Thür hinaus und schloß ab. – – Eine Viertelstunde später schritt Charles durch den Garten des Quartiers, als er den Detektiv sich entgegenkommen sah, der unter dem Arm einen in Papier gewickelten Gegenstand trug. »Halloh, Mister Uhlenhorst, was wollen Sie hier?« »Nach dem Quartier. Kommen Sie mit?« »Nein, ich warte auf jemanden.« »So, na dann amüsieren Sie sich gut!« Der Detektiv wollte gehen. Wasser-Prawda | Juni 2015 »Was haben Sie denn da eigentlich?« fragte ihn Charles. »Das sieht ja fast wie eine Kegelkugel aus.« »Ist auch eine, ich will heute abend in meiner Stube Kegel schieben.« »Aber hier kommt ja Blut heraus?« fragte Charles mißtrauisch. »Ja,« meinte der Detektiv kaltblütig, »sie ist noch nicht ganz ausgetrocknet.« Damit ließ er die Hülle fallen und hielt dem erschrocken zurückfahrenden Baronet das noch blutende Haupt des ermordeten Abudahm an den Haaren hin. »Sharp,« stammelte Charles, »wozu denn das?« »Ich interessiere mich für anatomische Präparate. Im übrigen, mein lieber Williams, wenn in einigen Minuten der Ruf erschallen sollte, daß dem Abudahm der Kopf gestohlen worden ist, so brauchen Sie nicht gleich meinen Namen zu nennen. Sie verstehen mich doch, nicht wahr?« »Natürlich, ich weiß von nichts. Wenn Ihnen nun aber ein anderer als ich begegnet wäre und hätte Sie nach dem Inhalte des Pakets gefragt? Das herauströpfelnde Blut deutet auf nichts Gutes.« Der Detektiv lächelte. »Was Nick Sharp nicht sehen lassen will, das sieht niemand,« sagte er und ging. In seinem Zimmer angekommen, schloß er sorgfältig die Thür ab und verhängte das Schlüsselloch mit einem Tuch, dann zog er sich die Jacke aus, streifte die Hemdsärmel auf und schälte den abgeschnittenen Kopf mit einer Vorsicht aus der Hülle, als wäre derselbe ein rohes Ei. Lange betrachtete er das kleine Siegel, das auf dessen Stirn eingebrannt war. Es stellte einen Galgen vor, um welchen herum die Worte ›Tod dem Verräter‹ standen. »Nick Sharp,« sagte er endlich zu sich, »du bist einmal ein großer Esel gewesen. Diese Evelyn, die gar nicht so schwer zum Geständnis zu bringen war, hätte dir viel mehr von der Bedeutung dieses Siegels erzählen können. Aber nein, du bist damit zufrieden, daß sie Dir etwas über Lucille und die Gefangenen gesteht. Wer denkt auch gleich an alles, und ich fand überdies unter ihren Briefschaften nichts Verdächtiges. Also Abudahm und der Fakir gehörten auch mit dazu; merkwürdig, hier in Indien! Dieser Fakir war neuengagiert SPRACHRAUM als Bursche von Oberst Walton, in der That aber vom Rajah angestellt, um den Obersten zu beobachten. Doch der Fakir hatte diesen Posten nur nebenbei angenommen, um wieder Abudahm zu beobachten, weil von diesem Verrat gefürchtet wurde. Von wem hatte aber 69 letzterer einen Auftrag bekommen? Denn daß dies so ist, bin ich sicher, sein Streit mit dem Rajah verriet es. War derselbe eingeweiht oder nicht, war es Evelyn? Wer ist der Fakir, der jetzt seine Fesseln zum zweiten Male abstreift und einen Plaudernden zum Schweigen Wasser-Prawda | Juni 2015 70 SPRACHRAUM bringt? Ein undurchdringlicher Schleier verhüllt noch das Ganze; vielleicht, daß dieses Siegel mir ein Schlüssel zu manchem Geheimnis wird!« Er legte den abgeschnittenen Kopf auf den Tisch und zog unter dem Bett einen Koffer hervor, dem er Papier und Instrumente entnahm. Dann fing er an, den eingebrannten Stempel auf das genaueste abzuzeichnen; fortwährend maß er mit dem Zirkel die Stärke, die Entfernung der Buchstaben, bis er den Stempel vor sich auf dem Papier zu seiner vollständigen Zufriedenheit wiedergegeben hatte. »So,« sagte er endlich, »heute noch werde ich die Zeichnung in Kupfer ätzen.« Er wickelte den Kopf Abudahms wieder ein und verbarg ihn so geschickt am eigenen Körper, daß an ihm nichts Auffallendes zu sehen war. Nachdem er sich dem Koffer ein Ledertäschchen, wie das Besteck eines Arztes aussehend, entnommen hatte, ging er auf den Hof. Langsam, die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er nach einem kleinen Gebäude, vor dessen Thür ein englischer Soldat mit geschultertem Gewehr auf- und abging. In diesem Häuschen lag die Leiche des ermordeten Abudahm. »Ein langweiliger Posten, was?« redete der Detektiv den Soldaten an. »So jemanden zu bewachen, der doch nicht ausreißen kann.« »Es ist der Dienst. Ob ich nun hier verwendet werde oder wo anders, ist mir gleichgiltig,« war die Antwort; »lieber ist mir aber schon, wenn ich in dem freundlichen Quartierhof sein kann, als zwischen den Festungsmauern.« »Und dann sehen Sie immer fremde Gesichter, denn Abudahm wird wohl von vielen besucht?« »Es ist nicht so schlimm, die Offiziere, wie die Gäste scheinen andere Dinge im Kopfe zu haben.« »So? Wie viele sind denn zum Beispiel da gewesen, seit ich mir den Kerl angesehen habe?« »Wie viele?« sagte der Soldat nachdenkend. »Auch nicht ein einziger.« »Hm. hm.« Der Detektiv nahm die Pfeife zwischen die Lippen und griff in die Tasche. »Da habe ich vorhin meine silberne Streichholzbüchse drin liegen lassen, ich kann doch wohl noch einmal Wasser-Prawda | Juni 2015 hineingehen?« »Gewiß,« antwortete der Soldat. Der Detektiv ging hinein und kam nach fünf Minuten wieder heraus. »Ich habe sie höllisch lange suchen müssen,« sagte er, »sie war unter einen Schrank gefallen, und ich konnte sie nicht finden.« In diesem Augenblicke kam Charles um die Ecke des Hauses gegangen. »Sie hier, Mister Uhlenhorst? Ich wollte mir eben einmal den Abudahm ansehen. Kommen Sie mit?« »Meinetwegen,« sagte der Detektiv und schickte sich an, abermals in das Haus zu treten. »Sharp,« flüsterte Charles, als sie durch den kleinen schmucklosen Raum schritten, in welchem die Bahre mit dem Leichnam stand, »bis jetzt ist noch nichts laut geworden.« »Was denn?« fragte der Detektiv unschuldig. »Die Geschichte mit dem Kopf.« »Mit welchem Kopf denn, mein lieber Williams? Sprechen Sie doch deutlicher!« Sie standen jetzt beide vor dem mit einem Tuche bedeckten Leichnam. Charles faßte das Tuch an einem Zipfel und schlug es zurück. Sein erster Blick fiel auf das fahle Antlitz des Toten. »Was!« sagte Charles und prallte förmlich zurück, »der Kerl hat ja einen Kopf!« »Nun ja,« lächelte der Detektiv kalt, »haben Sie Abudahm vielleicht jemals ohne Kopf herumlaufen sehen?« Charles faßte die Haare des Schädels und zog daran, er untersuchte den Hals, aber er konnte nichts finden, was daran erinnerte, daß er vor einer halben Stunde den abgeschnittenen Kopf in den Händen des Detektiven gesehen hatte. Kopfschüttelnd wendete er sich ab. »Der Teufel mag wissen, wie das zugeht,« sagte er beim Hinausgehen, »ich kann es mir nicht erklären.« Beide promenierten zusammen in den schattigen Gängen des Haines. »Haben Sie schon mit Bestimmtheit erfahren, wann die Gäste von hier aufbrechen?« fragte der Detektiv. »Einige Tage werden wohl noch vergehen. Die Wunden müssen doch erst etwas heilen, ehe die Gäste eine längere Reise zu Pferd machen können!« SPRACHRAUM »Wohin soll‘s denn gehen?« »Habe keine Ahnung! Das machen die Damen unter sich aus.« »Und die Herren rennen dann hinterher! Schönes Vergnügen das!« »Wenns Ihnen nicht paßt, so kommen Sie eben nicht mit. Aber sagen Sie mal, um Gottes willen, mein lieber Uhlenhorst, wie haben Sie das eigentlich angefangen, den Kopf Abudahms abzuschneiden und ihn dann wieder so aufzusetzen, daß selbst meine vorzüglichen Augen keine Spur eines Schnittes feststellen konnten?« »Taschenspielerkunststückchen, weiter nichts,« schmunzelte der Detektiv. »Es wird mir ordentlich unheimlich in Ihrer Nähe,« meinte Charles. »Nächstens könnten Sie mir schließlich auch einmal in aller Freundschaft den Kopf abschneiden, und ihn dann wieder anleimen.« »Unsinn,« brummte der Detektiv, »ich muß jetzt gehen, auf Wiedersehen heute abend! Erst geben Sie mir aber noch eine Pfeife Tabak.« »Sehr gern! Haben Sie keinen mehr bei sich?« Charles reichte ihm den Beutel. »Er ist mir ausgegangen, und der, den man hier in der Kantine zu kaufen bekommt, schmeckt mir nicht. Nur der Ihrige ist nach meinem Geschmack.« Der Detektiv stopfte sich sorgsam seine Pfeife. »So nehmen Sie sich eine Hand voll heraus,« meinte Charles, »ich habe genug mitgenommen.« »O, ich danke,« entgegnete der Detektiv, schnürte den Beutel wieder zu und gab ihn zurück; »wenn ich keinen Tabak mehr auftreiben kann, komme ich zu Ihnen. Thanks, Sir Williams, auf Wiedersehen!« Der Detektiv ging. Charles schlenderte noch etwas in‘s Gebüsch hinein und warf sich unter einem schattigen Baum in das weiche Gras. »Sharp hat eigentlich recht,« sagte er nach einer Weile zu sich, die Ellbogen auf den Boden gestützt und den Kopf in die Hände legend, »es ist ein rechter Unsinn, so immer hinter dem Mädchen herzulaufen, mir wird die Sache auch bald über. Ich werde einmal mit Sharp darüber sprechen, ob es nicht geht, daß ich auf eigene Faust die ganze Mädchengesellschaft auseinandersprenge, und mit Gewalt eins davon wegführe, das mir am liebsten 71 ist. Dann mögen sie meinetwegen weiterreisen, ich gehe nach England, wo es jetzt schon hübsch kühl ist, setze mich mit meiner Frau vor das offene Kaminfeuer und lasse mir von ihr Indianergeschichten vorlesen – viel gemütlicher, als wenn man selbst mitmacht.« Sinnend blickte er vor sich hin. »Ein komischer Mensch, dieser Detektiv!« fuhr er dann in seinem Selbstgespräche fort. »Einmal ist er grob wie Bohnenstroh, nimmt jemandem, wenn er rauchen will und nichts hat, einfach die Pfeife aus dem Munde und paff t selbst weiter, und dann ist er so bescheiden, daß er nicht einmal eine Handvoll Tabak nehmen will. Als ob es mir auf ein paar Pfund ankäme.« Er holte die Pfeife und den Tabaksbeutel hervor, um zu rauchen. Langsam griff er in den letzteren, doch plötzlich nahmen seine Züge einen verblüff ten Ausdruck an; er sah in den Beutel. »Jetzt hat mir der Kerl ein Taschentuch hineingestopft.« Er zog dasselbe heraus. »Da schlag‘ aber doch Gott den Teufel tot!« rief er. »Das ist auch noch dazu mein eigenes.« Er drehte den Beutel um und schüttelte ihn in die leere Hand aus. »Und mir hat er auch nicht ein Krümelchen Tabak übrig gelassen. Ein verfluchter Kerl, dieser Detektiv!« 27. Eine Gauklervorstellung. Schellenbesetzte Tamburins rasselten; dumpfe Trommeltöne erschollen, und gellende Männerstimmen luden ein, der Vorstellung beizuwohnen. Die Gäste eines Hotels in Madras, welche im Garten den Abend verbrachten, verließen ihre Stühle und strömten einem freien Rasenplatze zu, auf welchem eine Gesellschaft von indischen Gauklern und Schlangenbeschwörern Anstalten traf, sich mit Erlaubnis des Hotelsbesitzers den Gästen zu produzieren. In der Mitte des Platzes stand ein kleiner, mit Leinwand überzogener Wagen, aus welchem die Gaukler die zu ihren Vorführungen notwendigen Gerätschaften auspackten. Die Männer waren fast nackt; nur ein Tuch wand sich um ihre Hüften, sodaß die Zuschauer die muskulös gebauten und doch zugleich geschmeidigen Gestalten bewundern konnten. Einige zogen unter der Plane des Wagens Körbe aus Rohrgeflecht, Kästen und Wasser-Prawda | Juni 2015 72 SPRACHRAUM allerhand kleine Gegenstände hervor und bauten sie in einem Halbkreis auf, während andere rings am Boden hockten und mit Tamburins und langen, dünnleibigen Trommeln eine sehr unmelodische Musik erzeugten, um durch dieselbe die Aufmerksamkeit der Gäste zu erregen. Von einer langen Tafel erhoben sich die Herren und Damen, welche sich bis jetzt unter heiteren Gesprächen die Zeit vertrieben hatten, und näherten sich der Gesellschaft der Gaukler. »Geben Sie acht, Miß Petersen,« sagte ein junger Herr zu einer Dame, »Sie werden einer Zaubervorstellung beiwohnen, wie sie eine solche für alles Gold der Welt weder in Europa, noch in Amerika von einem Professor der Magie vorgeführt bekommen können. Gaukler treiben sich zwar in ganz Indien umher, aber die aus der Gegend von Madras sind die berühmtesten; sie gleichen selbst den Schlangen, welche sie abrichten. »Wenn dies eine ebensolche Vorstellung wird, wie ich sie schon einmal mit ansah, so werden Sie wunderbare Dinge zu sehen bekommen.« »Und Sie, Miß Thomson,« bemerkte ein Herr zu einer anderen Dame, »geben Sie acht, daß der Zauberer nicht etwas in seinen Rockärmel verschwinden läßt und es mir dann aus der Nase holt.« Die Dame lachte laut auf, denn jene braunen Burschen dort waren nicht einmal im Besitze eines Hemdes, in dem sie etwas verbergen konnten. Bald hatte sich um die Gaukler ein großer Kreis von Zuschauern gebildet; die Musikanten hörten einen Augenblick in der Bearbeitung ihrer greulichen Instrumente auf und begannen dann wieder mit großer Gewalt, bis sie plötzlich mit einem mißtönenden Akkord kurz abbrachen. In die Mitte des Kreises trat ein Mann, der in jeder Hand eine Holzplatte hielt. Der kleine, wunderbar zierliche und doch muskulöse Indier, der überhaupt während der ganzen Vorstellung den Erklärer machte, setzte in fließendem Englisch auseinander, daß er mit einer Anziehungskraft ausgestattet sei, der zufolge alle hölzernen Gegenstände an ihm haften blieben, wenn er es wolle; den Beweis werde er an diesen beiden Holzplatten liefern. »Alte Sachen,« meinte Charles, betrachtete aber ebenso wie die anderen eine der Platten. Sie waren ziemlich groß, die eine Seite rauh, die andere aber spiegelglatt Wasser-Prawda | Juni 2015 und poliert. Der Indier ließ seine Fußsohlen besichtigen, um zu zeigen, daß er keinen klebrigen Stoff daran habe. Dann legte er die Platten auf den Boden, trat darauf und begann unter den Klängen der Trommeln und Tamburins einen grotesken Tanz, ohne daß sich die Tafeln dabei gehoben hätten, da aber klatschte er in die Hände, und wie durch Zauber blieben die Holzplatten plötzlich an den nackten Füßen hängen. Er sprang meterhoch, stampfte auf, überschlug sich, nichts konnte ihre Lage verändern. Ja, er ließ sich sogar von seinen Gefährten festhalten und die Zuschauer an den Tafeln ziehen – sie waren wie an die Füße genagelt. Er ging nach der Mitte des Platzes zurück, hob ein Bein hoch, klatschte in die Hände, und das Holz fiel wieder vom Fuße ab, dann ebenso das andere. Kurz, er konnte nach Belieben die Platten an die Sohlen heften und wieder fallen lassen. »Wie geht das zu?« fragte Ellen den Lord Harrlington. »Es ist dies die Produktion, welche jede Vorstelluug einleitet, ebenso wie der Zauberkünstler bei uns zuerst seine Handschuhe verschwinden läßt. Der Indier dort, kann seine Fußballen hohl machen, dadurch wird, wenn er auf den glatten Hölzern steht, ein luftleerer Raum erzeugt, und die Platten bleiben haften.« Der Gaukler ging nach den Körben, um sich zu seiner nächsten Produktion vorzubereiten, und zwei andere füllten die Zwischenpause mit ihren Leistungen aus. Auf die Schulter eines Mannes von riesigen Umrissen stellte sich ein kleinerer von schmächtiger Gestalt, und beide begannen ein Spiel mit vierundzwanzig kupfernen Kugeln, welche sie in der Luft allerlei Figuren beschreiben ließen. Dann stellte sich der Oberste auf, den Kopf seines lebendigen Piedestals, dasselbe beugte sich mehr und mehr, während jener nach unten glitt, bis er selbst auf dem Kopfe stand und der Kleine auf jenes Füßen; das alles geschah, ohne das Kugelspiel dabei zu unterbrechen. Ebenso richtete sich der Große wieder auf, und der Kleine stellte sich mit dem Kopfe auf den des Partners, ohne sich dabei mit den Händen festzuhalten, denn diese mußten unausgesetzt die vierundzwanzig Kugeln treiben. Ein Bravorufen belohnte diese fabelhafte Geschicklichkeit. Jetzt kam der erste Indier wieder mit einem irdenen SPRACHRAUM 73 Wasser-Prawda | Juni 2015 74 SPRACHRAUM Krug, den er von Hand zu Hand wandern ließ, damit sich alle überzeugten, daß es nur ein ganz gewöhnlicher, gebrannter Lehmtopf sei. Als er ihn zurückbekam, bog er sofort den Kopf zur Seite und goß sich aus demselben Topf, der völlig leer gewesen war, Wasser erst in das eine Ohr, dann in das andere und spie es durch den Mund wieder aus. Er kehrte den Topf um, setzte ihn wieder anf die Erde und murmelte einen Spruch, und siehe da, er konnte abermals einen Wasserschwall ausgießen. Dann schüttete er vor den Augen der Zuschauer aus einem anderen Topf Wasser in den ersteren, nahm diesen auf, stülpte ihn um – aber kein Tropfen floß heraus. Er zerschlug den Topf und ließ die völlig trockenen Scherben herumgehen. »Können Sie dies erklären?« fragte Ellen. »Nein,« entgegnete Harrlington, »ich habe es wohl öfters schon gesehen, weiß aber nicht, welcher Handgriffe sich der Gaukler dabei bedient.« Der Indier ging nach dem Wagen und kam mit einem hohen Korb zurück, hinter sich einen alten, entsetzlich mageren Hund am Stricke ziehend. Er stülpte den Korb über den Hund, welcher ganz von demselben bedeckt wurde, murmelte einen Spruch, und sofort ertönte das helle Quieken eines Schweines. Als er den Korb emporhob, war an Stelle des Hundes ein Ferkel sichtbar. Rufe der Verwunderung brachen unter den Zuschauern aus, denen dieses Kunststück neu war. Diejenigen, welche schon längere Zeit in Indien lebten, hatten es wohl bereits gesehen, aber erklären konnte es niemand, denn diese indischen Gaukler verraten ihre Geheimnisse um keinen Preis. »Passen Sie auf, Miß Thomson,« meinte Charles zu seiner Nachbarin, »das nächste Mal erscheint das Ferkel gebraten.« Der Indier bedeckte wieder das Ferkel, ein quiekendes Zetergeschrei ward unter dem Korbe hörbar, und als sich derselbe hob, lag das Schweinchen mit durchschnittener Kehle da. Man sah, wie aus dem Halse noch das rauchende Blut floß. »Ach so,« sagte Charles, »ehe man es bratet, muß es ja erst totgemacht werden.« »Aber wie kommt das nur?« fragte Miß Thomson ihren Begleiter. »Kann denn dieser Mann wirklich zaubern?« Wasser-Prawda | Juni 2015 »Ich weiß es, aber ich sage es Ihnen nicht,« entgegnete Charles, »sonst zaubern Sie mir auch meinen Tabak aus der Tasche.« Miß Thomson verstand ihn nicht, sie fragte ihn auch nicht weiter, denn schon stülpte der Gaukler abermals den Korb über das tote Ferkel, hob ihn alsbald, und der magere Hund stand wieder lebendig da. »Meine Herrschaften,« sagte der Inder, »diese bisher gezeigten Kunststücke werden Sie auch von anderen Gauklern gesehen haben, aber nicht das, was ich Ihnen jetzt vorführen werde. Ich, meine Diener, wir alle sind in der glücklichen Lage, keiner Speise mehr zu bedürfen, denn dieser Zauberkorb macht alle Nahrung überflüssig. Wir legen uns einfach darunter, und stehen wir nach einer Minute wieder auf, so ist selbst der hungrigste Magen bis zum Platzen gefüllt mit den leckersten Sachen. Da ich jetzt keinen Hunger habe, werde ich die Zauberkraft des Korbes an diesem Hunde beweisen.« »Thut ihm auch sehr nötig,« brummte Lord Hastings, der um Haupteslänge unter den Zuschauern hervorragte. Der Gaukler hob den Korb empor, und ein allgemeines Erstaunen bemächtigte sich der Zusehenden. Der Hund stand noch da, es war unbedingt derselbe, aber er war jetzt rund wie eine Kugel. »Warum steckt er denn nicht seinen Gaul einmal darunter, dem könnte so eine Kur auch nichts schaden,« meinte Hastings, welcher der einzige war, den dieses Kunststück nicht in Extase versetzte, und wies nach dem klappernden Wagenpferd des Indiers. »Das geht nicht unter den Korb,« entgegnete Charles, »sonst könnten Sie sich auch ‚mal drunter setzen und sich einen Kopf kleiner machen lassen.« Beim nächsten Ueberdecken schrumpfte der Hund zu seiner ursprünglichen Gestalt zusammen. Jetzt brachte der vorige starke Hindu einen sargähnlichen Korb und setzte ihn in die Mitte des Kreises. Dann wurde der Mann von seinem Meister an Händen und Füßen gebunden, in ein engmaschiges Netz gewickelt und in den Korb gelegt, der ihn eben aufnehmen konnte. Nachdem der kleine Indier den Deckel geschlossen hatte, erzählte er der Gesellschaft, daß dieser Mann ein großer Verbrecher sei, der unbedingt sterben müsse, nahm einen Säbel und führte einen Hieb nach dem Korbe aus, stach auch noch einige Male tief hinein. Sofort quoll ein roter Strom von SPRACHRAUM Blut hervor. »Lebet wohl, ich bin unschuldig getötet worden!« rief eine Stimme aus den Lüften. Unwillkürlich richteten sich aller Augen nach oben. »Seine Seele ist entflohen, nun wollen wir den toten Körper begraben,« sagte der Indier und öff nete den Korbdeckel. Da aber sprang munter und unversehrt, der Banden ledig, der Mann heraus. Das Netz lag aufgewickelt in einer Ecke des Korbes, ebenso die Stricke. Wie sich dieser große Mensch, der gerade in den Behälter hineinging, nicht nur freimachen, sondern auch noch dem Säbelhiebe und den Stichen ausweichen konnte, war allen ein Rätsel. Charles fühlte sich leise am Arme berührt. Er drehte sich um und schaute in das treuherzige Gesicht von Claus Uhlenhorst, der, ebenso wie Kapitän Hoffmann, sich der Gesellschaft angeschlossen hatte. »Nun kann ich mir erklären, wie sich unser Fakir zweimal befreit hat,« flüsterte der verkleidete Detektiv, »bei diesen Gauklern gehe ich noch einmal in die Lehre.« »In etwas sind Sie denselben doch über,« entgegnete Charles ebenso leise. »In was?« »Im Stehlen.« »Hoho,« lachte der Detektive, »ich kann auch noch verschiedenes andere, was mir niemand nachmacht.« »Köpfe abschneiden und wieder anleimen.« »Seien Sie stille, sonst schneide ich den Ihren ab und setze ihn nicht wieder drauf.« Er entfernte sich und mischte sich unter die Zuschauer, welche die Gegenstände des Zauberers untersuchten. »Wann fängt denn nun die Schlangenbeschwörung an?« fragte Ellen. »Die Sonne will schon untergehen.« »Diese Vorstellung wird stets bis zuletzt aufgehoben,« erklärte Harrlington, »die Schlangen werden erst dazu vorbereitet.« »Wie das?« »Diese Gaukler verwenden bei den Schlangentänzen die Brillenschlange, das giftigste Reptil Indiens. Um nun doch einmal sicher zu gehen, reizen sie vor der Vorstellung die Tiere heftig, bis diese vor Wut zu wiederholten Malen in einen vorgehaltenen Lappen beißen, und so erst das Gift ausspritzen.« »Ich glaubte, man bräche ihnen überhaupt die 75 Giftzähne aus.« »Nur denen, welche bei Kunststücken angegriffen werden. Aber geschickte Gaukler, wie dieser einer zu sein scheint, unterlassen auch dies und lassen die Schlangen, welche tanzen sollen, nur einmal vorher in ein Tuch beißen. Je wagehalsiger er mit den giftigen Tieren umgeht, desto größer ist der Ruhm des Schlangenbändigers, und darnach strebt er, wie jeder andere Mensch.« »Ein gefährliches Handwerk,« meinte Ellen. Der Gaukler gab noch einige seiner Kunststücke zum besten: er ließ aus einer enghalsigen Steinflasche, in der kaum ein Huhn Platz hatte, zwölf Tauben herausfliegen, warf drei Kugeln in die Luft, welche spurlos verschwanden und erst auf Kommando auf einen bestimmten Ort des Platzes niedergesaust kamen, u.s.w. alles Sachen, wie man sie in den Häfen Vorderindiens täglich ausgeführt sehen kann. Welche wunderbare Geschicklichkeit der indische Jongleur im Balancieren besitzt, mag nur ein Beispiel zeigen. Er setzt eine lange Leiter senkrecht auf den Boden, ohne sie irgendwo zu stützen, klettert hinauf, stellt sich auf die oberste Sprosse und beginnt ein Kugelspiel, wobei er also außer sich selbst noch die Leiter im Gleichgewicht zu erhalten hat. Ein Kunststück erregte bei den Zuschauern sowohl Bewunderung, wie Grausen. Der größte Hindu nahm eine Bambusstange, an deren vorderem Ende ein sehr schweres, spitzes Stahlstück mit Widerhaken lose aufgesetzt war, und schleuderte diese Lanze mit riesiger Kraft in die Luft. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, drehte sie sich um, die Stahlspitze löste sich ab und sauste mit ungeheurer Schnelligkeit nach unten, während das Bambusrohr langsam nachgeschwirrt kam. Der Indier verfolgte den Lauf der Lanze, stellte sich einige Schritte weiter nach rechts und senkte sofort, als die Spitze abfiel, den Kopf zu Boden. Im nächsten Augenblick stürzte das Stahlstück herab und riß ihm ein kleines Stück Zeug aus dem Turban. Nur um einen einzigen Zoll sollte er sich geirrt haben, und der Stahl wäre ihm durch den Kopf geschlagen, aber diese Gaukler berechnen die Flugbahn des Geschosses mit einer solchen Kaltblütigkeit und Sicherheit, daß man nie von einem Unglücksfall hört. Wasser-Prawda | Juni 2015 76 SPRACHRAUM Endlich wurden die Vorbereitungen zum Schlangentanz getroffen. Einige der Leute trugen einen zugedeckten Korb in die Mitte des Kreises und hielten den Deckel zu, während der kleine Indier in kurzen Worten die Gefährlichkeit der Brillenschlange schilderte, und zwar ohne Uebertreibung. Ein Biß von ihr, sagte er, tötet den Menschen innerhalb einer, den stärksten Ochsen in zwei Minuten, kleinere Tiere in einigen Sekunden, und zwar ist er absolut tödlich; denn selten einmal gelingt es, den Gebissenen, in dessen Blut das Gift bereits übergegangen ist, zu retten. Allerdings besitzen die Eingeborenen Indiens Mittel, um den Biß der Brillenschlange, wie sie sagen, unschädlich zu machen, hauptsächlich Kräuter; wirken diese aber nicht, so schieben sie die Schuld nicht dem Mittel, sondern bösen Geistern zu, welche die Rettung dieses Menschen nicht haben wollen. Eines der besten derartigen Mittel ist der Schlangenstein, ein poröser Stein, der an die Bißwunde gelegt wird und das noch nicht tief eingedrungene Gift aussaugt und eine Gegenwirkung auf dieses ausübt. Diese Schlangensteine sind aber äußerst selten. Der Besitzer eines solchen hütet ihn wie einen Schatz, und daher werden von den Schlangenbeschwörern andere Steine als echte verkauft, welche sich zwar auch an der Wunde festsaugen, ohne aber eine Vergiftung abzuwenden. Nur der Schlangenbeschwörer selbst kann den echten Schlangenstein von einer Imitation unterscheiden. Jetzt setzte sich der Indier mit gekreuzten Beinen auf den Boden nieder und begann auf einer Art Dudelsackpfeife eine eintönige, schwermütige Weise zu spielen. Nach einigen Minuten fi ng der Deckel des Korbes an, sich zu bewegen, er klappte mehrmals auf und nieder, bis zuletzt der kleine Kopf einer Brillenschlange mit den funkelnden Augen herauslugte. Immer weiter kroch sie heraus, der schildartige Hals wurde sichtbar, dann folgte der ganze Körper, bis sie endlich völlig aus dem Korbe war, und nun, die Augen unverwandt auf den Spielenden gerichtet, die gespaltene Zunge in fortwährend spielender Bewegung haltend, auf den Mann zukroch. Ihr folgten nach und nach fünf der einen bis einundeinenhalben Meter langen Tiere. Als sich alle um den Gaukler geschart hatten, begann dieser plötzlich eine raschere Melodie zu spielen und Wasser-Prawda | Juni 2015 wiegte sich taktmäßig hin und her. Sofort richteten sich die Schlangen hoch empor, bis sie auf den umgebogenen Schwänzen standen, bliesen den Hals bis zur vollen Weite auf und ahmten, den Blick immer starr auf die Augen des Indiers gerichtet, dessen Bewegungen nach, das heißt, sie wiegten sich ebenso hin und her. Nach einiger Zeit erklang wieder eine klagende Melodie, die Schlangen sanken zusammen; die Dudelsackpfeife gab sonderbar lockende Töne von sich, und die Tiere näherten sich dem Indier, krochen an seinem Körper empor, schlangen sich um seine Arme, um seinen Hals, schmiegten zärtlich den Kopf an die spielende Hand, an das Gesicht und bezüngelten es. »Ein grauenerregendes Schauspiel,« sagte Miß Thomson. »Ich bin froh, daß mein Vater mich nicht als Schlangenbändiger hat lernen lassen,« meinte Charles, »ich wäre wahrhaftig aus der Lehre gelaufen. Viel lieber wäre es mir, wenn ... SPRACHRAUM »Was ist denn das?« unterbrach er sich plötzlich. »Was krabbelt mir denn zwischen den Beinen herum?« Er bückte sich, um das Ding näher zu betrachten, da stieß die Dame neben ihm einen schwachen Wehruf aus, und Charles schrie vor Entsetzen laut auf – an ihrer Hand hing ein meterlanges Reptil, eine Brillenschlange. Ein furchtbares Gedränge entstand, die Zuschauer stoben auseinander, der Ruf: »Eine Schlange ist entschlüpft!« jagte sie, wie von Furien gepeitscht, davon, die Indier sprangen nach der Stelle, woher der Schrei kam, und hemmten so die Fliehenden, während der Schlangenbändiger sich erst von den Schlangen freimachen mußte. Ellen war die erste, welche den Unglücksplatz erreichte. Da lag ihre Freundin auf dem Rücken, das Gesicht und die Lippen schon blau und die Augen gläsern. Neben ihr kniete Charles und saugte mit aller Kraft an der Wunde, um das Gift zu entfernen, während er noch mit der Hand den Hals der Schlange gepackt hielt, die sich mit krampfhaften Bewegungen um seinen Arm wand. Ratlos blickte Ellen den herbeieilenden Harrlington an, der im Laufen das Messer aufklappte, aber ehe er noch die Stelle erreichte, sprang schon ein junger Indier hinzu, ergriff die Schlange beim Schwanze und riß sie Charles mit einem Rucke aus der Hand. Sausend flog das Reptil durch die Luft und lag mit zerschmettertem Kopf auf der Erde. »Es ist zu spät!« schrie Harrlington. »Wo ist der Bändiger?« Der junge Indier, der eben die Schlange getötet, drängte Charles mit Gewalt von dem Mädchen weg. »Was willst du thun?« rief Charles außer sich, als er wie ein Kind zur Seite geschoben wurde. Er sprang auf und schien Lust zu haben, den Hindu zu Boden zu schlagen, der ruhig in ein am Gürtel hängendes Täschchen griff. »Laßt ihn,« sagte aber der Gaukler, der seine Schlangen im Korbe untergebracht hatte und jetzt herzukam, »nur er kann helfen; das Mädchen wird gerettet.« Der fremde Indier, der nicht zu der Gesellschaft des Gauklers gehörte, nahm einen kleinen Stein aus dem Täschchen und legte ihn an die Wunde der Hand, wo er sofort hängen blieb und sich immer mehr anschloß. Atemlos harrten die Umstehenden des Ergebnisses. »Zwei Minuten sind vorbei,« sagte Harrlington leise, »und der Tod ist noch nicht eingetreten.« 77 Der Indier schüttelte lächelnd das Haupt. »Die Miß wird nicht sterben,« sagte er mit scharfer Betonung. Noch war keine Minute verstrichen, als die blaue Farbe im Gesicht einer fahlen Blässe Platz machte; der erst fast gar nicht mehr fühlbare Puls fing wieder an zu schlagen, und die Brust hob und senkte sich wieder gleichmäßig. Mit einem Male fiel der Stein von selbst ab und wurde von seinem Besitzer aufgehoben und wieder eingesteckt. »Sie kann selbst nach Hause gehen,« sagte der Indier, »aber mein Stein hätte nicht mehr geholfen, wenn nicht dieser gleich das Gift ausgesaugt hätte.« Er wies dabei auf Charles. Während die Herren und Damen das völlige Erwachen des Mädchens aus ihrer Betäubung abwarteten, wendete sich der junge Indier an den Gaukler, der mit zerknirschter Miene zugeschaut hatte. »War die Schlange eine der deinigen?« fragte er ihn. »Sie war es,« erwiderte der Gaukler ganz bestürzt. »Ist sie aus deinem Korbe entwischt?« »Nein, aus einem Korbe mit Schlangen, die nicht gebraucht wurden.« »Wer sollte diese beobachten?« »Der Mann ist geflohen?« »Wer war es?« Der Gaukler schwieg, sichtlich verlegen. »Wer war es, kennst du ihn nicht?« »Nein, es war ein fremder Hindu,« stammelte der Gaukler endlich. »Wie?« fuhr der junge Inder auf. »Du hast einen Fremden angenommen? Kennst du meine Befehle nicht? Lieferst du ihn mir bis morgen Mitternacht nicht aus, so triff t dich seine Strafe.« Er wendete sich kurz ab und ging. Ellen hatte die Unterhaltung, welche auf indisch geführt worden war, nicht verstanden, aber das befehlende Auftreten des jungen Hindu war ihr aufgefallen. Sie blickte der graziösen Gestalt, die mit elastischen Schritten davonging, so lange nach, bis sie dieselbe aus den Augen verlor. »Wer war das?« fragte sie den Gaukler, welcher dem noch immer liegenden Mädchen etwas Branntwein einflößte. »Mukthar heißt er.« antwortete er kurz. Wasser-Prawda | Juni 2015 78 SPRACHRAUM »Mukthar, der Schlangenkönig?« rief Ellen erstaunt. Der Hindu hielt plötzlich in seiner Beschäftigung inne und blickte überrascht auf. »Woher kennst du ihn?« fragte er. »So ist er es wirklich? Schade, daß ich ihn nicht gleich gesprochen habe. Doch nein, besser so,« fügte sie nachdenklich hinzu. »Er ist nicht der König der Gaukler selbst, sondern nur dessen Sohn,« sagte der Hindu und setzte seine Bemühungen um Miß Thomson fort. Bald kam ein Wagen, nm das fast wiederhergestellte, aber noch schwache Mädchen, das nicht sprechen konnte, nach dem Hotel zu bringen, wohin Ellen es begleiten wollte. Ehe sie in den Wagen stieg, drehte sie sich um, gab Charles die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen vorläufig im Namen von Miß Thomson für Ihre Hilfe. Wenn Sie nicht die Geistesgegenwart und Thatkraft gehabt hätten, so würden wir jetzt –« Sie brach schnell ab und stieg ein. »Geistesgegenwart? Thatkraft?« wiederholte Charles, als der Wagen davonfuhr. »Lord Hastings, schreiben Sie das auf, und lernen Sie das auswendig, damit Sie mich nicht mehr einen unnützen Menschen nennen! Zum Teufel, Uhlenhorst,« fuhr er den neben ihm stehenden Steuermann an, der seiner Pfeife dicke Dampfwolken entlockte, »Sie rauchen ja einen ganz pestilenzialisch stinkenden Tabak.« Und Charles mußte sich mehrmals mit dem Tuche über die Augen fahren. »Meine Herren,« nahm Lord Harrlington das Wort, »Miß Petersen ladet uns zu morgen früh ein, mit den Damen einen Ritt zu Pferd in die Gegend von Madras zu machen,« »Hm, hm,« brummte Hastings, »wieder so ein Jagdausflug mit Geparden? Zum zweiten Male lasse ich mich nicht gefangen nehmen, auch bade ich mich nicht gern in Kleidern.« »Es soll nicht weit sein, etwa eine Stunde zu Pferd. Miß Petersen scheint ein Geheimnis daraus zu machen.« »Na ja,« meinte aber der mißtrauische Hastings, »gerade wie damals. Erst sahen wir zu, wie gejagt wurde, dann jagten wir, und schließlich wurden wir selbst gejagt?« »Esel!« bemerkte Charles. »Wir schließen uns an und nehmen zur Vorsicht Badehosen mit. Was mag Wasser-Prawda | Juni 2015 indessen Miß Ellen vorhaben?« wandte er sich fragend an Uhlenhorst. »Sie schleppt doch immer ein Mädchen mit sich ‚rum, das damals Herr Hoffmann zugleich mit Lucille nachbrachte, nicht wahr?« antwortete der Gefragte. »Ja,« sagte Charles,»und was ist mit diesem?« »Das soll gewiß abgeladen werden.« »Ach so, das könnte allerdings sein. Aber ich finde, lieber Uhlenhorst, Sie haben eine wunderbar zarte Ausdrucksweise: rumschleppen und abladen – wirklich sehr schön!« »Und ich finde, Sir Williams,« entgegnete der Detektiv, »Sie lecken immerwährend mit der Zunge die Lippen ab. Schmeckt das Schlangengift so gut?« Charles konnte ein leichtes Erröten nicht unterdrücken. »Na, na, Sie brauchen nicht gleich rot zu werden,« sagte der Detektiv trocken, »ich bin früher auch einmal jung gewesen.« »Sie,« rief Charles entrüstet. »Wie alt sind Sie denn eigentlich? Fünfundzwanzig Jahre, he?« »Das auszurechnen ist ein schwieriges Kunststück. Neulich war ich vierzig Jahre alt, dann wieder dreißig, ungefähr fünfunddreißig, das macht allein schon hundertundfünf Jahre.« »Nun hören Sie aber auf,« unterbrach Charles den Detektiven, der heute gerade recht gut aufgelegt war. »Uebrigens schulden Sie mir noch für den Tabak, den sie mir gestohlen haben,« »Dafür war doch ein Taschentuch im Beutel.« »Das war ja mein eigenes.« »Na, glauben Sie etwa, ich werde Ihnen meines hineinstopfen? Sie können den Tabak von den hundert Pfund abziehen, die Sie mir für die Wette schulden.« »An« rief Charles und kratzte sich hinter den Ohren, »an die habe ich gar nicht mehr gedacht.« »Oder bezahlen Sie hier einmal ein Glas Bier, das ist mir ebenso lieb,« meinte der Detektiv und schleppte Charles in eine Restauration. »Finden Sie nicht auch,« sagte der Detektiv, als beide am Tisch saßen, »daß dieser Gaukler ein recht dummer Kerl war?« »Wieso?« »Wenn ich so einen Topf hätte, der immer voll bleibt, wenn ich nur einmal etwas hineingieße, dann hätte ich ihn doch nicht mit Wasser, sondern mit Bier gefüllt.« ENGLISH 79 Willie Lee „Piano Red“ Perryman (Foto: Tony Paris Archives) D R . F E E LG OOD & FE E LI NG GOOD GOOD GOOD DARREN WEALES 16TH LETTER FROM THE UK Lately I’ve gotten into listening to a BBC Radio London DJ named Jo Good. Her surname sparked off some thoughts about music and feeling good and where the word good crops up. One lovely connection is between Piano Red, the American humourist and Blues-boogie pianist and British Pub Rock band, Dr Feelgood. Red was known as Dr Feelgood, and the band named them- selves after him. Hear his song Dr Feel-good here. Johnny Kidd and the Pirates covered the song too – listen here. In that song Dr Feel-good, Piano Red cheerfully uses the words Good Good Good as a refrain, hence the choice of blog title. The way he sings the words doesn’t suggest the use of commas, so they’re not used here. The record for use of the word good in a Wasser-Prawda | Juni 2015 80 ENGLISH song recently must go to American Mavis Staples, who recently played both Glastonbury and the Clapham Grand. In one of her vocally supercharged she sings ‘Good God, Good God, Good God Almighty, Good God’. Jools Holland recently said on his Later… with Jools Holland TV show that the late BB King’s songs always made him feel good. Jo Good herself on her show referred to music making her feel good. Georgie Fame on a recent appearance in Kent said “The Blues doesn’t have to be miserable” and proceeded to make the audience feel good. A series of American bands have been in the UK lately making British listeners feel good. The Billy Walton Band from New Jersey toured extensively and departed until January, as did Hamilton Loomis, but others, like Mud Morganfield and Debbie Bond are either popping across the Atlantic with some frequency or still touring. Debbie certainly is, and she is a good good good, upbeat Blues lady. Her tour continues at time of writing and we came across her tour press release. Debbie has done a lot for Alabama Blues so it is good to feature. Lil’ Jimmy Reed is another American touring at time of writing. There are so many feelgood Blues acts to see. If American Mick Kolassa, who produced a stonking album named Mississippi Mick, ever comes to the UK, he’ll make people feel good. British act Red Wasser-Prawda | Juni 2015 Butler, who recently toured with Billy Walton, are bright and upbeat. Seeing the two acts bounce up and down together on a small stage for an encore at the Prince Albert in Brighton recently certainly showed that. The Original Blues Brothers Band still tours, and anyone has heard Steve Cropper hit the opening notes of Soul Man will understand what a blast they can be. The Royal Southern Brotherhood, also on tour now, produce a gumbo of sound, rich and tasty. Those are a few examples. Certainly, the Blues has many a band with guitarists who like to flay the ears, and solo guitar folk capable of making you weep into your beer, but in between there is an array of performers who exist to take away your personal load of Blues, not add to them. Many appear on the numerous shows of the Independent British Broadcasters Association on FM, inter- net stream and podcast – here. So, get out and see some live British of overseas touring Blues performers, and feel good. After all, the Blues doesn’t have to be miserable. It can make you feel good good good. Debbie Bond & Shar Baby (Foto: Robin McDonald) ENGLISH 81 Selwyn Birchwood CO GNA C BLUE S PA S S I ON 2015 BY IAIN PATIENCE, PICTURES BY JANET PATIENCE Cognac Blues Passions is easily one of France‘s most important annual blues events. In many eyes, the premiere event in the country. This year, the 22nd, the legendary, late Arthur Blake, Birchwood has spent the past few years almost constantly on the road with a storming in the USA and Europe with the venues growing bigger, like his repuset from leading tation, each time. Introduced to the young US bluesman music and coached and nurtured by Sonny Rhodes, he is now reaping the Selwyn Birchwood benefits of a growing reputation for delivering cool, modern sassy blues and his band. Birchwood pretty well swept the and a rewarding recording deal with board back in 2013 at the IBA in Chicago‘s Alligator Records. Memphis where he picked up the He confirms that things have moved Albert Collings Guitarist award fast for him since his IBA success as well as a band award for his and is clearly loving every minute efforts. From Florida, the home of of his time on the road, now playing opened at Jarnac Wasser-Prawda | Juni 2015 82 ENGLISH should close the show after a lengthy set of both new and old, standard soul-blues material. For an encore he had the by now huge crowd singing alongside him with the gospel track ‚Amen‘ segueing seamlessly into Steve Cropper‘s solid-gold classic ‚Dock Of The Bay‘ - a formidable hit for another great Otis back in the day and the perfect closer to a night of great music. Otis Clay bigger festivals and larger crowds. His opening set at Cognac introduced him to many new fans with a range of blues standards together with an emphasis on his highly regarded current release ‚Don‘t Call No Ambulance‘. As usual, he reached for his small laptop slide guitar to close the gig - probably the finest part of his show, for me at least. Folowing Bichwood‘s blazing heels came a very fine Canadian singer Shakura S‘Aida. A classy lady with a voice to match, she strutted her stuff to an ever-increasing crowd. Her glitzy, glamourous look appealing to most, her soulful, jazzy, smokey-blues voice ripped the place up, gaining her a well-deserved avalanche of applause at the close of her hot, steamy hour-long set. To close the night, one of the USA‘s true heavy hitters took to the stage and showed everyone what years of experience brings to the table. Otis Clay may be in his seventies these days but his voice remains vibrant, strong and pure soul-velvet. Backed by a simply superb ten-piece band including Horns, Guitar, two sets of Wasser-Prawda | Juni 2015 Keys , Drums - here played by Rodd Bland, son of the late Bobby Blue Bland (a guy Otis joked to me ‚who was born on the tour bus!) - Bass and that old, now seldom seen, scorching blues/soul-lady chorus - provided by his three ‚soul-girls‘, Clay was truly marvellous. He showed simply and expertly how quality comes from experience and a passion for the music. It was only fitting that Clay Shakura S‘Aida