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Einen Platz finden Migrationsgeschichten zwischen Roccavivara und Pratteln Herausgegeben von Ruedi Brassel-Moser und Jennifer Degen Einen_Platz_finden.indb 1 05.10.2010 19:07:06 Einen Platz finden Migrationsgeschichten zwischen Roccavivara und Pratteln Herausgegeben von Ruedi Brassel-Moser und Jennifer Degen Texte und Materialien zur Ausstellung «Einen Platz finden» im Museum im Bürgerhaus, Pratteln, 22. Oktober – 19. Dezember 2010 Edition Text und Media www.textundmedia.ch Impressum Herausgegeben von Ruedi Brassel-Moser und Jennifer Degen Autorinnen und Autoren Jennifer Degen Ruedi Brassel-Moser Monica De Vito Di Lisa Domenico Di Lisa Christine Ramseier Tobias Senn Kuratorium der Ausstellung «Einen Platz finden» Christine Ramseier Patronat Verein Kultur Pratteln Layout und Gestaltung Jürg Seiberth, www.seiberth.ch Druck Druckerei Bloch AG, Arlesheim Vertriebwww.textundmedia.ch © Für die einzelnen Beiträge und für die Fotos bei den AutorInnen und den FotografInnen © Für die Zusammenstellung: Edition Text und Media Edition Text und Media, Arlesheim 2010 ISBN 978-3-9521984-6-9 Einen_Platz_finden.indb 2-3 05.10.2010 19:07:08 Inhalt Grussworte6 Lettera del sindaco 7 Einen Platz finden, Vorwort 9 Andata e ritorno: von Roccavivara nach Pratteln 13 Hochkonjunktur der italienischen Einwanderung in die Schweiz 19 Die italienische Einwanderung in Pratteln 25 Einwanderung um 1900: die Familie Spaini 26 «La casa di Stohler» – das Stohler-Haus 28 Der Schmittiplatz: «Piazza Roccavivara» 33 Die Arbeit: «Si lavorava, si facevano i turni» 37 Italianità in Pratteln 43 Die Fussballmannschaft U.S. Molisana 47 Quellen- und Literaturverzeichnis 49 Bildnachweis, Autorenverzeichnis 50 Dank51 Einen_Platz_finden.indb 4-5 05.10.2010 19:07:13 Grussworte In Pratteln haben viele Einwanderer einen Platz gefunden, aus aller Herren Länder. Heute leben Menschen aus mehr als 90 Nationen in unserer Gemeinde. Roccavivara ist also bloss einer der vielen Herkunftsorte. Trotzdem haben die Beziehungen zwischen Roccavivara und Pratteln über die Jahre hinweg einen besonderen Stellenwert erhalten. Seit mehr als einem halben Jahrhundert haben sie Bestand. Bemerkenswert ist, dass sie sich über die Kontakte zwischen den ausgewanderten und den in Rocccavivara gebliebenen Menschen hinaus ausgeweitet haben. So sind in den letzten Jahren auch auf der offiziellen, behördlichen Ebene Verbindungen entstanden, zwischendurch etwas weniger, dann wieder intensiver. Die Beziehungen zwischen Roccavivara und Pratteln sind also nicht ganz einzigartig. Aber sie sind doch so ungewöhnlich, dass sie die Aufmerksamkeit verdienen, die ihnen durch die Ausstellung «Einen Platz finden» und durch die vorliegende Begleitpublikation nun zukommen. Denn sie zeigen: Integration kann glücken – eine Erfahrung, die für Pratteln besonders wertvoll ist. Beat Stingelin, Gemeindepräsident von Pratteln Lettera del sindaco Der Entscheid, eine Ausstellung über die Migration der Rocchesi einzurichten, stärkt die Beziehung, die durch den interkulturellen Austausch zwischen den Gemeinden Pratteln und Roccavivara entstanden ist. Möge sich diese Beziehung zu einer dauernden Gemeinschaft festigen. Im Namen der gesamten Gemeindeverwaltung und aller EinwohnerInnen von Roccavivara möchte ich der Gemeinde Pratteln meinen aufrichtigen Dank ausdrücken. Mit der Ausstellung wird den Rocchesi und ihrem Beitrag für die Gemeinde Pratteln eine bedeutende Anerkennung gezollt. Pratteln zeigt sich als Gemeinde, die sich diesem Teil unserer Geschichte öffnen konnte, unsere MitbürgerInnen aufnahm und integrierte. Als Gemeinde, der das Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften gelungen ist, während anderswo die ungleiche Herkunft, Religion, Sprache, Traditionen oder Kultur aufstossen oder gar fremdenfeindliche Haltungen aufkommen. Ein aufrichtiger Dank gebührt unseren ausgewanderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern, in Pratteln oder anderswo, die dank ihren Verzichten, ihrem Arbeitsfleiss, ihrem Einsatz, ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Ehrlichkeit, das Vertrauen und die Achtung der Gastgemeinde gewinnen konnten und dadurch der Gemeinde Roccavivara und letztlich auch unserer Heimat alle Ehre erwiesen haben. La città di Pratteln è stata per tanti emigranti il posto per un futuro migliore – emigranti di tutto il mondo. Oggi, nella nostra città, vivono persone provenienti da oltre 90 nationalità diverse. Quindi Roccavivara è solo un ulteriore paese di partenza. Ciononostante, in tutti questi anni, il rapporto tra il comune di Roccavivara e la città di Pratteln é evoluto in modo significativo e per ben più di mezzo secolo. Notevole è sicuramente che questo legane si sia esteso, oltre ai rapporti tra i rocchesi emigrati e non, anche alle autorità. Talvolta meno, talvolta più. Il legane tra il comune di Roccavivara e la città di Pratteln non è proprio singolare. Ma il legane è tanto insolito, da meritarsi l’attenzione ottenuta grazie alla mostra «Einen Platz finden» nonché dal catalogo della mostra qui presente che testimonia: L‘ integrazione può riuscire – un‘ esperienza particolarmente preziosa per la città di Pratteln. Beat Stingelin, sindaco di Pratteln La decisione di allestire una mostra sulla emigrazione rocchese rafforza il legame creatosi con gli scambi interculturali tra il comune di Pratteln e quello di Roccavivara. L’auspicio è che questo rapporto si consolidi e diventi sempre più legame tra comunità. A nome dell’amministrazione comunale e dell’intera cittadinanza di Roccavivara esprimo un sincero sentimento di gratitudine e di ringraziamento per il comune di Pratteln che, con la mostra, ha voluto tributare un importante riconoscimento al ruolo ed alla funzione svolta dai rocchesi emigrati in questa città. Una città che ha saputo aprirsi, accogliere ed integrare i nostri concittadini. Che riesce a far convivere le numerose comunità che ospita, diverse per origini, religione, lingua, tradizioni, cultura, mentre altrove emergono o riemergono rigurgiti ed atteggiamenti xenofobi. Un sincero ringraziamento rivolgo a tutti i nostri concittadini emigrati a Pratteln ed in ogni angolo del mondo, che con i loro sacrifici, la loro laboriosità, impegno, serietà, onestà, hanno saputo conquistarsi la fiducia e la stima delle comunità ospitanti, facendo onore a Roccavivara e all’Italia. Domenico Di Lisa, sindaco di Roccavivara Domenico Di Lisa, Gemeindepräsident von Roccavivara 6 Einen_Platz_finden.indb 6-7 7 05.10.2010 19:07:13 Einen Platz finden Vorwort von Ruedi Brassel-Moser Wer in die Fremde zieht, tut es meist nicht aus freien Stücken. Er sucht sich einen anderen Ort, weil in der Heimat ein Auskommen nicht mehr möglich scheint. Wer auszieht, um anderswo seinen Unterhalt und sein Glück zu suchen, mag nicht viel zu verlieren haben. Aber er lässt vieles zurück: Familie, Freunde, vertraute Plätze und den gewohnten Lebensrhythmus. Vertrieben von einer kargen, dürftigen, aber vertrauten Welt, getrieben vom Wunsch, für die Ihren, die Zurückgebliebenen und für sich selber eine bessere Zukunft zu erarbeiten, kommen die Ausgewanderten am neuen Ort an. Was aber finden sie dort vor? Wo und wie finden sie einen Platz zum Wohnen, Arbeiten und zum Leben? Machen sie diesen Platz jemandem streitig? Wie reagiert die neue Umwelt auf sie? Diesen Fragen gehen sowohl die Ausstellung «Einen Platz finden» im Bürgermuseum in Pratteln, als auch die vorliegende Begleitpublikation nach. Im Zentrum stehen das Dorf Roccavivara in der süditalienischen Provinz Campobasso und die Gemeinde Pratteln im Kanton Baselland. In den Focus rücken die Menschen in diesen beiden Gemeinden und die gegenseitigen Beziehungen, seit sich Mitte der 1950er Jahre die ersten Migranten aus Roccavivara in Pratteln niedergelassen haben. Aus dem kleinen süditalienischen Dorf sind seither über 300 Personen nach Pratteln oder in die nähere Umgebung eingewandert. Sie haben die Bindung zu ihrer Herkunft bewahrt, haben aber auch in der Emigration Wurzeln geschlagen und sind doch teilweise nach ihrem Arbeitsleben wieder in die alte Heimat zurückgekehrt. Das Bild des jungen Knaben in mediterranem Ambiente vor dem «Cinquecento» mit dem BL-Kennzeichen und dem 8 Einen_Platz_finden.indb 8-9 überdimensioniert erscheinenden Koffer auf dem Dach versinnbildlicht dieses Pendeln zwischen zwei Gemeinden und zwei Welten. Die engen Verbindungen zwischen Roccavivara und Pratteln, die daraus entstanden sind, haben Anlass gegeben, diese beiden Gemeinden – exemplarisch für die Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert zwischen der Schweiz und Italien – genauer zu untersuchen und in die Migrationsgeschichten zwischen Roccavivara und Pratteln hineinzuschauen. Dabei tun sich über diese Gemeinden hinaus zeittypische, aber auch überraschende Perspektiven auf gesellschaftliche Verhältnisse und persönliche Lebensgeschichten auf. Ans Tageslicht gebracht hat dieses oft verdrängte Stück Sozialgeschichte die Historikerin Jennifer Degen. In ihrer 2009 abgeschlossenen Lizentiatsarbeit an der Universität Basel hat sie dazu nicht einfach bloss trockene Daten und Zahlen zusammengetragen. In vielen Interviews mit Emigrantinnen und Emigranten aus Roccavivara hat sie sich vielmehr darum bemüht, den Innenansichten dieser Migrationserfahrungen auf die Spur zu kommen. So ist aus den Gesprächen mit den Vertretern und Vertreterinnen der ersten und der zweiten Migrationsgeneration ein lebendiges Bild dieser Geschichte entstanden. So lebendig und farbig, dass es schade gewesen wäre, diese Ergebnisse nicht einem breiteren Kreis vorzustellen. Dies soll nun geschehen in Form der Ausstellung «Einen Platz finden» und in der vorliegenden Begleitpublikation. Die von Jennifer Degen geführten Interviews stellen die wichtigste Quelle dafür dar. Daneben sind in weiteren Gesprächen und Recherchen neue Gesichtspunkte erarbeitet worden. Mit „Cinquecento“ und BL-Kennzeichen unterwegs zwischen zwei Gemeinden und zwei Welten. 9 05.10.2010 19:07:14 Dank An dieser Publikation und an der Ausstellung «Einen Platz finden» haben viele Menschen mitgewirkt: mit Beiträgen, mit Auskünften, mit Fotografien, mit Sponsorenbeiträgen und mit organisatorischer Unterstützung. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Besonders erfreulich an diesem Projekt ist es, dass es für die beiden Gemeinden zum Anlass wurde, die Verknüpfung ihrer Geschichten aufzuarbeiten und sich so eine Plattform zu schaffen für weitere Begegnungen – auf der Piazza oder auf dem Schmittiplatz. Im ersten, von Domenico Di Lisa, dem gegenwärtigen Bürgermeister von Roccavivara, zusammen mit den Historikerinnen Jennifer Degen und Monica De Vito Di Lisa verfassten Beitrag geht es um die Gründe, weshalb die Menschen den Süden in den Nachkriegsjahren Richtung Norden verliessen. Der thematische Bogen dieser Publikation reicht weiter über die Wohnungssuche, die Arbeitssituationen in Fabriken und auf Baustellen, bis zu den von Christine Ramseier vorgestellten Institutionen, die dazu beigetragen haben, auch dem fernen Schweizerland einen Hauch «Italianità» zu vermitteln. Eines muss vorab klar gestellt werden: Die italienische Einwanderung in Pratteln und Umgebung hat keineswegs erst Mitte der 1950er Jahre mit den Rocchesi begonnen. Sie reicht, wie die Ausführungen von Ruedi Brassel zeigen, vielmehr weit zurück bis ins 19. Jahrhundert. Diese Geschichte kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Als Beispiel dafür hat Christine Ramseier jedoch einen Exkurs über die Familie Spaini verfasst, deren erste Vertreter schon vor 1900 aus Norditalien eingewandert waren. Die Ausstellung widmet sich aber vornehmlich der Zeit der «Hochkonjunktur der italienischen Einwanderung in der Schweiz» nach dem Zweiten Weltkrieg – so der Titel des Beitrags von Tobias Senn. Die zunehmende Einwanderung aus dem Süden fiel in Pratteln zusammen mit einem rasanten Bevölkerungsanstieg. Kein Wunder, dass die Überfremdungsinitiativen von 1970, 1974 und später auch hier Wellen schlugen und bei den Gastarbeitern Angst vor der Rückweisung auslösten. Den Alltag prägten aber zunächst nicht die politischen Debatten, sondern die praktischen Probleme, die sich für die Migranten in einer fremden Kultur auftaten. Der Volkskundler Arnold Niederer schrieb dazu in den 1960er Jahren: «Auswanderung bedeutet immer Verlust der alten Geborgenheit, auch wenn es eine Geborgenheit in der Armut war.» (Niederer 1967, S. 4) Viele Aussagen in den Interviews bezeugen das Fehlen dieser Geborgenheit. Sie belegen aber auch, wie sich die Rocchesi in Pratteln immer wieder trafen, wie der eine Dorfbewohner einen anderen nachzog und dadurch erst eine Art «Kolonie» mit gemeinsamen Treffpunkten entstehen konnte. Dieses Phänomen kam auch andernorts vor. So wurde manch ein Platz in der Emigration zum Ersatz der heimischen Piazza. Oft war es ein Bahnhofplatz, der Ort, an dem man der Heimat – beziehungsweise dem Zug, der einen dorthin bringen konnte – buchstäblich am nächsten war. In Pratteln wurde aber auch der Schmittiplatz zu einem solchen Zentrum, von den Rocchesi liebevoll «Piazza Roccavivara» genannt. In dessen unmittelbarer Nähe 10 Einen_Platz_finden.indb 10-11 wohnten nicht wenige Rocchesi in der «Casa di Stohler», wie in den Beiträgen von Jennifer Degen zu erfahren ist. Dass es auf der adoptierten Piazza oft lebendiger und lauter zu- und herging, als es manchen Schweizern lieb war, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer in der Emigration einen Platz, ja seinen Platz finden musste, wurde mit vielen Schwierigkeiten und Konflikten konfrontiert. Die Suche nach dem Arbeitsplatz fiel in den Jahren der Hochkonjunktur nicht so schwer. Schwieriger wurde es aber, den Arbeitsplatz in Phasen der Rezession zu behalten oder ihn als Saisonnier im folgenden Jahr wieder zu bekommen. Mehr Probleme gab anfangs oft die Suche nach einem Schlafplatz oder dann nach einer eigenen Wohnung auf. Und die meisten Reibungsflächen entstanden, wenn der öffentliche Raum, die Piazza, mit mediterraner Mentalität und Lebendigkeit gefüllt wurde. «Gerade in Pratteln wurde mehrere Jahre lang das sprunghafte Ansteigen einer fremden Bevölkerung, die über das Wochenende in den Läden, im Tram und auf den Strassen geradezu beherrschend in Erscheinung trat, als bedrohliche Überfremdung empfunden», hielt Pfarrer Rudolf Hardmeier 1968 in der Prattler Heimatkunde fest. (Rudolf Hardmeier, 1968, S. 76f.) Die Geschichte der italienischen Arbeitsmigration im Allgemeinen und der Rocchesi in Pratteln im Speziellen zeigt trotz dieser Konflikte, dass Integration stattfinden kann. Ein spezielles Beispiel dafür ist die von Jennifer Degen präsentierte Geschichte des Fussballclubs U.S. Molisana, der einst auch Claudio Circhetta, dem späteren Fifa-Schiedsrichter und künftigen Chef des schweizerischen Schiedsrichterwesens, als Karriere-Ausgangspunkt gedient hat. Gerade weil die in der Schweiz lebenden Rocchesi heute integriert und teilweise eingebürgert sind, gerade weil viele der Zurückgekehrten den Bezug zu Pratteln weiter pflegen – assimiliert, völlig angepasst an die Schweiz von damals haben sie sich nicht. Sie haben aber – wie im Kapitel über die «Italianità» gezeigt wird – dazu beigetragen, sie zu verändern. Integration ist ein Prozess, der beide Seiten verändern kann, die an der Begegnung von Kulturen teilnehmen. Auch wenn im Fall der Rocchesi diese Integration weitgehend geglückt ist, sind wir nach wie vor mit Integrationsproblemen konfrontiert. Diese wurden aber auf die Begegnung mit anderen Kulturen verschoben. So berichtet Giulia Antenucci davon, wie schwierig es gewesen sei, als italienische Familie eine Wohnung zu mieten. Die Vermieter fragten: «Bist Du Italiener? Wenn ja: La casa non c‘è.» Später, erzählt sie, sei das den Italienern nicht mehr so ergangen, dafür aber den Türken und den Jugoslawen. Die Herausforderungen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und der Integration bleiben bestehen. Aber es gibt keine Alternative zu diesem Zusammenleben, auch wenn es oft anstrengend und belastend ist. Wie die vielfältigen Verbindungen zwischen Roccavivara und Pratteln zeigen, bringen diese Herausforderungen aber auch Farbe, Lebendigkeit und neue Horizonte ins Spiel. Links: Dabei – und doch etwas daneben: Junge Rocchesi an der Prattler Fasnacht, mit eigenem Wagen. Rechts: Zum Bahnhof und zurück: Sonntagsspaziergang an der Bahnhofstrasse. 11 05.10.2010 19:07:19 Andata e ritorno: von Roccavivara nach Pratteln Von Jennifer Degen, Monica De Vito Di Lisa, Domenico Di Lisa Die Reise in den Norden Die Reise aus dem Süden Italiens in die Schweiz war für die Rocchesi ein langer und beschwerlicher Weg. Erst mussten sie es in einem kleinen, oft völlig überladenen Auto in die 30 km entfernte Stadt Termoli schaffen, oder sie mussten den Weg zu Fuss zurücklegen. Mit ihren Habseligkeiten, zusammengeschnürt in einem Schuhkarton oder einem alten Koffer, bestiegen sie in Termoli den Zug Richtung Mailand. Die lange Zug‑ reise war für die Gastarbeiter eine Tortur – Cristofaro Gianico erinnert sich: «Non è come adesso, hai preso il bus a Pratteln e sei sceso qui sotto. Prima dovevi fare, diciotto, diciannove ... quindici ore di treno – perché non è come adesso che i treni camminano, allora andavano, nel ´57 a carbone e mo arrivavo a Milano, e poi da Milano andando su, si andava con i treni elettrici. Da qui partendo da Termoli, arrivando li, ci voleva su 24 ore. Era dura, poi all’impedi, che non … i treni andavano sempre così. Pieno pieno, io l’ho fatto per sei, sette anni – sempre così. Sempre all’impiedi – non trovavo mai posto per farmi sedere 10 minuti. Se volevi sederti, o sulla valigia o così. Non si poteva andare al bagno, al bagno non si poteva andare, pieno di valigie. È stato, come devo dire, una vita troppo brutta. Poi dal ´75 in poi si è cominciato un pò, come devo dire, ma senno.» 12 Einen_Platz_finden.indb 12-13 Der Zweite Weltkrieg hatte ganz Italien stark gezeichnet, auch die Bewohner des Bergdorfes Roccavivara standen nach dem Krieg vor dem Nichts. Sie waren in dem ländlichen Gebiet zwar von Bombenangriffen verschont geblieben, doch hatte der Krieg die ohnehin schon ärmlichen Lebensumstände noch verschlimmert. Es gab in der Region Molise keinerlei Industrie, und um allenfalls Arbeit als Taglöhner auf den Getreidefeldern zu finden, mussten die Dorfbewohner zu Fuss oder mit dem Esel 40 Kilometer ins Unterland ziehen. Die einzige Verdienstmöglichkeit im Dorf war die Landwirtschaft und die Menschen versuchten sich als Kleinbauern über Wasser zu halten. Sie verarbeiteten Oliven zu Öl oder bauten auf kleinen, gepachteten Landflächen Getreide an. Aufgrund der wenig fruchtbaren Erde reichten die Erträge jedoch nicht annähernd aus, um den knapp 1700 Bewohnern ein Auskommen zu bieten. Das Leben in Roccavivara war nach Kriegsende entsprechend einfach und die Menschen hausten in ärmlichen Verhältnissen. Die Häuser waren weder mit Wasser noch mit Elektrizität ausgestattet und sanitäre Einrichtungen waren den wenigen wohlhabenden Bürgern vorbehalten. In den renovationsbedürftigen Häusern wohnten die Familien oft in einem einzigen Raum, und wer sich einen Esel oder eine Ziege leisten konnte, hielt die Tiere in unmittelbarer Nähe des Familienwohnraums. Anna Antenucci-Minni, 1935 als zweites von sechs Kindern in Roccavivara zur Welt gekommen, erinnert sich, wie sie als Kind mit ihren fünf Geschwistern und den Eltern auf dem nur halb ausgebauten Dachboden schlief. Jeweils das jüngste Kind durfte bei der Mutter liegen und die anderen schliefen alle zusammen am selben Platz. Ihre Eltern heizten das Haus mit einem einzigen Kamin und bereiteten auf dem offenen Feuer die Mahlzeiten zu. Es gab weder fliessendes Wasser noch ein WC im Haus, und sie holten das Wasser mit einem Eimer am Brunnen. Auch die Ernährung fiel in den Nachkriegsjahren sehr einfach und dürftig aus. Anna Antenucci-Minni erinnert sich, wie die Nahrungsmittel knapp waren und ihre Mutter mit dem Allernötigsten auskommen musste. Zum Frühstück gab es für die Kinder ein paar wenige Peperoncini mit Öl oder ein wenig Brot mit Olivenöl. Butter konnte sich die Familie Non c‘era niente Anna Antenucci-Minni: «Non c‘era niente. Noi a Rocca ... Mia mamma aveva la cucina con la camera e una soffitta fatta solo a metà, un‘altra metà era vuota. E là dormivamo tutti quanti, sopra quella ... Eravamo sei fratelli e sorelle, dormivamo tutti insieme. Allora il più piccolo dormiva con mia mamma. Non c‘era niente, non c‘era acqua dentro le case, non c‘era bagno, non c‘era niente. Era tutto ... proprio ... zero. Noi l‘acqua dovevamo andare a prenderla fuori col secchio che portavamo a casa. Si doveva fare il fuoco a legna nel camino. Prima si cucinava al fuoco, tutto là – non c‘era niente.» Warten am Bahnhof mit Koffern. Roccavivara aus der Ferne. 13 05.10.2010 19:07:34 Peperoncini fritti Anna Antenucci-Minni: «Si aveva le cose più necessarie, per esempio che mio padre faceva l‘orto, si faceva la salsa, si facevano tante cose. Noi per esempio la mattina, la colazione faceva i peperoncini fritti mia mamma, mi ricordo. Ma non troppo, era poco. Anche l‘olio era poco, un pochettino. Pane e olio, così si facevano. Non è che si vedeva il burro a casa o pezzi di formaggio. Sì, un pezzo di formaggio di quelli che andavano a pascolar le capre, le pecore. E con quel formaggio che faceva da solo, quello potevamo avere. Anche sulla pasta. Ma altre cose non c‘erano. Un po‘di carne, forse due, tre volte all‘anno noi, la mangiavamo. Di più no, non c‘era. Qualche sera mia mamma doveva dividere «questo e a te, questo e un piatto a te» e se si voleva un‘altro piatto non ce n‘era più. Si andava a dormire leggero con – non ce n‘era.» nicht leisten, und nur ganz selten gab es zu den Teigwaren ein wenig Käse. Die Mutter musste mit den Nahrungsmitteln sparsam umgehen und sie wohl überlegt auf die acht Familienmitglieder verteilen. Anna Antenucci-Minni erzählt, es habe meist nur für eine kleine Portion gereicht und sie sei manchmal mit leerem Magen zu Bett gegangen. Obwohl in Roccavivara niemand Hunger leiden musste, waren die Lebensbedingungen prekär. Den Familien fehlte es beispielsweise an Kleidern und Schuhen, und im Krankheitsfall war eine medizinische Versorgung unmöglich zu bezahlen. In ihrem Heimatdorf sahen die Menschen keine Perspektive, und es musste Wege aus der Misere geben. Einer dieser Wege war die Emigration. Ende der 1940er Jahre wanderten einige Familien nach Argentinien und Australien aus, und allmählich setzte auch die Emigration innerhalb Europas ein. 1949 gingen Familienväter vereinzelt nach Belgien und arbeiteten dort als Gastarbeiter in den Kohlebergwerken. 1955 verliess der erste Bürger aus Roccavivara die Heimat in Richtung Schweiz. Wie viele andere hatten die Rocchesi davon gehört, dass die Industrie im Nachbarland Schweiz auf Hochtouren lief und die Behörden unentwegt neue Arbeitskräfte anwarben. Zuerst in Norditalien, dann immer weiter im Süden. So kam es, dass auch die Rocchesi in der Schweiz ihr Glück versuchten. Die ersten planten, nur ein paar Jah- re im Ausland zu arbeiten und ihren Familien mit dem Verdienst eine würdige Zukunft zu ermöglichen. Der 25-jährige Vincenzo Rossi war der erste Bürger aus Roccavivara, der 1955 die 850 Kilometer lange, beschwerliche Reise ins Baselbiet auf sich nahm. Er fand in der Baselbieter Gemeinde Allschwil eine erste Anstellung als landwirtschaftlicher Helfer. Ein Jahr nach ihm brachen auch andere junge Rocchesi in die Schweiz auf und die wachsende Industriegemeinde Pratteln sollte für viele zum Ziel ihrer Reise werden. Der Schritt ins Ausland bedeutete für die jungen Männer aus Roccavivara eine grosse Veränderung. In der Schweiz waren sie meist als Saisonniers angestellt und lebten somit während neun Monaten des Jahres von ihren Familien getrennt. Sie konnten ihre Frauen und Kinder nur während des Sommers oder an Weihnachten sehen, wenn sie für 14 Einen_Platz_finden.indb 14-15 drei Monate in die Heimat zurückkehrten. Für die Frauen in Roccavivara bedeutete dies, dass sie ohne ihre Ehemänner auskommen mussten. Zwar brachten diese einen Umschlag voller Geld mit nach Hause, wenn sie zurückkehrten, doch fehlten sie bei der Erziehung der Kinder. Zudem waren sich die Ehepartner nach einer langen Zeit der Trennung oft fremd geworden. Die Abwesenheit der Männer hatte auch zur Folge, dass die Kinder zu ihren Vätern nur schwer eine Beziehung aufbauen konnten. Nicola Di Blasio, Sohn eines Gastarbeiters aus Roccavivara, erinnert sich, wie er seinen Vater bei dessen Rückkehr für einen Fremden hielt. Als dieser nach neun Monaten endlich wieder vor der Türe stand, klammerte sich der kleine Nicola an den Rockzipfel seiner Mutter und fragte: Wer ist dieser Mann? Sein Vater habe ihm mit Tränen in den Augen gegenüber gestanden und sich wohl gefragt: Was ist das bloss für ein Leben? Als Kind habe er dank der Erklärungen seiner Mutter verstanden, weshalb sein Vater nur so selten bei ihnen sein konnte, und er habe ihn dafür geschätzt und respektiert. Er gewöhnte sich während der Sommermonate an seinen Vater, so dass der Abschied umso schmerzhafter war. Wenn Nicola den zusammengeschnürten Karton im Gang stehen sah und die Abreise nahte, setzte er sich als kleiner Junge auf den Karton und wollte seinen Vater am Fortgehen hindern. Die Gastarbeiter sahen in der Fremde die Chance auf ein besseres Leben und nahmen die seelischen und körperlichen Entbehrungen auf sich. Sie wollten ihren Familien mit dem verdienten Geld eine würdige Zukunft ermöglichen, und die Region Basel erwies sich für dieses Vorhaben als ideales Pflaster. Die wachsende Industrieregion hatte schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges Arbeiter aus dem Norden Italiens beschäftigt und rekrutierte fortwährend neue Arbeitskräfte. In den Prattler Industriebetrieben fanden die Rocchesi auch ohne Ausbildung leicht eine Stelle, und so kam es, dass ein Arbeiter nach dem anderen aus Roccavivara nach Pratteln emigrierte. Die ersten Rocchesi verhalfen den Nachfolgenden zu einer Anstellung, bis 1960 waren gut an die 30 Rocchesi im Alter von 18 bis 30 Jahren in Pratteln anwesend. Die Emigranten waren meist Männer. Es gab nur Rückkehr und Abfahrt des Vaters Nicola Di Blasio: «La prima volta che mio padre ritornò, non lo riconoscevo. Perché come bambino piccolo, certo non sai con il papa non ... – allora mi prendevo alla gonna della mamma e dico: Chi è questo uomo? Immagina mio padre che mi guardava con due grossi lacrimoni per dire: Che vita è questa!» «Crescendo capivo da me i sacrifici, e allora ho capito che quell´uomo non era un semplice uomo, ma era mio padre. Quindi meritava tutto il rispetto. E quindi, quando avevo capito questo, quando si avvicinava il giorno della partenza, vedevo lì questa valigietta ancora di cartone, saltavo su quella per non farlo partire.» 15 05.10.2010 19:07:37 vereinzelt Frauen, die während der ersten Migrationswelle aus Roccavivara nach Pratteln kamen. Erst als 1964 die Bestimmungen über den Familiennachzug gelockert wurden, folgten allmählich auch Frauen und Kinder. Um 1970 setzte eine zweite Phase der Migration nach Pratteln ein. Die Kinder und jüngeren Geschwister der ersten Gastarbeiter kamen während der Sommerferien oder nach dem Schulabschluss nach Pratteln, um dort ihr erstes Geld zu verdienen. Oft blieben aber auch sie für mehrere Jahre, so dass sich in Pratteln in den 1970er Jahren eine zweite Migrationsgruppe von zirka 20 jungen Männern formierte. Viele Gastarbeiter aus Roccavivara liessen sich mit ihren Familien längerfristig in Pratteln und Umgebung nieder und kehrten erst nach ihrer Pensionierung in den 1980er Jahren in die Heimat zurück. Mit ihrer Anwesenheit in Pratteln haben sie den Charakter der Gemeinde mitgeprägt, und einige von ihnen sind auch in Pratteln und Umgebung geblieben. Davon zeugt ein Blick ins Telefonbuch von Pratteln und Muttenz – Familiennamen wie Antenucci, Sallustio, Di Lisa oder Cicchillitti stammen unverkennbar aus Roccavivara. Während ihrer Jahre in der Emigration hielten die Rocchesi den Kontakt in ihr Heimatdorf stets aufrecht, so dass ein reger Austausch zwischen den beiden Gemeinden bestand. Sie reisten so oft wie möglich mit dem Zug in die Heimat zurück, und etwa ab dem Jahre 2000 verkehrte ein Bus, der sie von der Prattler Autobahnraststätte «Windrose» direkt nach Canneto ganz in die Nähe von Roccavivara brachte. Dieser Bus verkehrt noch heute zweimal wöchentlich und viele Rocchesi besuchen damit ihre Angehörigen in Italien oder in der Schweiz. Über die geographische Verbindung hinaus haben viele Rocchesi eine starke emotionale Bindung zu Pratteln. Viele von ihnen haben den Grossteil ihres Lebens in Pratteln verbracht und ihre Identitäten wurden in dieser Gemeinde geformt. Die meisten sagen zudem, sie hätten es dank der Zeit in Pratteln zu materiellem Wohlstand gebracht. Ganz wichtig war dabei der Bau eines eigenen Hauses: «far si casa» war das Ziel eines jeden Gastarbeiters. Pratteln hat für die Rocchesi noch heute grosse Bedeutung, selbst wenn längst nicht alle Dorfbewohner dorthin emigriert waren. Sie waren durch Ehemänner, Väter, Geschwister oder Freunde mit Pratteln verbunden und den meisten Dorfbewohnern eröffnet sich beim Stichwort Pratteln eine ganze Palette an Erinnerungen. Seit einigen Jahren diskutieren die beiden Gemeinden die Idee, den vielschichtigen Verbindungen, die über die Jahre entstanden sind, mit einer Städtepartnerschaft offiziellen Charakter zu verleihen. Es sind die Bestrebungen der Integrationskommissionen beider Gemeinden, die Dörfer und ihre Bewohner auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene zu vernetzen. «Autoverlad» und «Schneemauern». Die Fahrt in den Süden noch vor dem Bau des Gotthardtunnels. 16 Einen_Platz_finden.indb 16-17 17 05.10.2010 19:07:44 Hochkonjunktur der italienischen Einwanderung in die Schweiz Von Tobias Senn Expo 1964 «Wo bleibt der ‹Tag der Fremdarbeiter›?» , fragt der «Nebelspalter» vom 19. August 1964: Die schweizerische Leistungsschau blendete den Beitrag der Gastarbeiter zum Wohlstand des Landes weitgehend aus. Zeichnung von Hans Moser. Rechts: Zeichnung von Peter Hürzeler aus dem «Nebelspalter» Nr. 16/1970. Wirtschaftsboom und Einwanderung Die drei Jahrzehnte zwischen 1945 und 1975 waren in der Schweiz Jahrzehnte der italienischen Einwanderung im ganz grossen Stil. Gleichzeitig wuchs die Schweizer Wirtschaft zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Erdölkrise in bislang nicht gesehenem Ausmass. Im Gegensatz zu den umliegenden Ländern war der Produktionsapparat im Weltkrieg intakt geblieben. Industrie und Bauwirtschaft benötigten zur Ausnützung der Nachkriegskonjunktur bloss Arbeitskräfte. Diese konnten auf dem völlig ausgetrockneten Schweizer Arbeitsmarkt schon bald nicht mehr gefunden werden. Die Schweizer Arbeitgeber versuchten daher gemeinsam mit den Arbeitsmarktbehörden, Arbeiter und Arbeiterinnen in den traditionellen Rekrutierungsgebieten des angrenzenden Auslandes zu rekrutieren, vor allem in Italien, wo grosse Arbeitslosigkeit herrschte. Bereits seit den 1870er Jahren, der Zeit des Baus des Gotthardtunnels, und vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren viele italienische Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Zehntausende – die Rekrutierungsbemühungen hatten Erfolg. Dies zeigt ein Beispiel aus dem Baselbiet, dem Wachstumskanton par excellence der Nachkriegszeit: Die eben erst 1945 errichtete Schindler Waggon AG in Pratteln – ein Sinnbild für die rasante Industrialisierung und das kräftige Wirtschaftswachstum im Baselbiet in der Nachkriegszeit – konnte einen ihrer ersten Grossaufträge, die Reparatur im Krieg beschädigter französischer Güterwaggons, nur dank dem Beizug von mehr als hundert italienischen Waggonbau-Spezialisten bewältigen. Das Beispiel machte Schule: Das Baselbiet verdankte die in der gesamten Nachkriegszeit schweizweit höchsten Wachstumsraten bei Wirtschaft und Bevölkerung zu entscheidendem Teil der Zuwanderung aus Italien. Zuwanderung ohne Niederlassung Um die seit Kriegsende immer stärker anwachsende Migration zu regeln, schlossen die Schweizer und die italienische Regierung 1948 ein Abkommen über die Rekrutierung von Arbeitskräften. Die Schweizer Behörden wollten damit den Schweizer Arbeitgebern das Rekrutieren von Italienern und Italienerinnen ermöglichen, aber gleichzeitig die staatliche Kontrolle der Auswahl der Arbeitskräfte nach beruflichen, politischen und persönlichen Kriterien sicherstellen. Dabei spielte der Antikommunismus eine wichtige Rolle, nicht erst seit dem Beginn des Kalten Krieges, war er doch schon in der Zwischenkriegszeit Hauptmotiv für die politische Prüfung einreisender Ausländer gewesen. Vor allen Dingen aber wollten die Behörden der Einwanderung einen bloss Vittoria Ceccon: «Mamma mia, che paura!» Vittoria Ceccon: «Oh, das war schlimm, Schwarzenbach! Ich war an der EPA, die ersten fünf Jahre, in Sissach habe ich gearbeitet. Eh, ou schaffe, schaffe wie verrückt, weil die Leute haben gesagt: Ja, jetzt kommt Schwarzenbach und schickt die Italiener, die Ausländer raus. Schaffe, schaffe, schaffe wie verrückt, nicht einmal aufs WC sind wir gegangen, nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Keine fünf Minuten Pause.» Jennifer Degen: «Also mussten Sie soviel arbeiten oder ...» Vittoria Ceccon: «Si aveva paura che Schwarzenbach parlasse coi padroni delle fabbriche che dopo dovevano mandare fuori questi stranieri, no? E Schwarzenbach era terribile, perché aveva fatto proprio ... che voleva che andassero fuori gli italiani, no. Mamma mia, che paura! Tutti, tutti, tutti spaventati a morte erano di Schwarzenbach. E nessuno stava a casa ammalato. Nessuno stava mai a casa ammalato, perché si aveva troppo paura con Schwarzenbach. E quello è stato un periodo brutto, proprio brutto per gli stranieri.» 19 Einen_Platz_finden.indb 18-19 05.10.2010 19:07:45 Don Mario Slongo über die Ängste vor der Überfremdungsinitiative 1974: «Vor der Abstimmung lag eine schwere psychische Belastung über diesen Leuten. Sie haben gespürt, dass sie plötzlich mit ihrer Vergangenheit abbrechen müssten. Sie sind gern hier, sie verdienen gut, die Kinder sind gut in den Schulen integriert und jetzt heisst es plötzlich: Koffern packen und an die Grenze gehen, als ob sie Verbrecher gewesen wären. Und das hat sie ungeheuer belastet. Eine Frau aus dem Friaul – sie kann sehr gut Deutsch – hat mir vor der Abstimmung gesagt: Die Luft ist so verpestet, dass wir nicht mehr wissen, ob wir bleiben sollen, auch wenn die Initiative nicht angenommen würde. Können wir das noch weiter ertragen, uns als Waren bezeichnen lassen, als Ware, die nun raus muss, wo wir doch auch Persönlichkeiten sind und das Recht haben, dass man unsere menschliche Würde respektiert.» Don Mario Slongo war Leiter des Centro Ricreativo in Pratteln. Interview vom 21.10.1974 mit Radio Beromünster. provisorischen, flexiblen und reversiblen Charakter verleihen. Deshalb wurde festgeschrieben, dass italienische Arbeiterinnen und Arbeiter erst nach zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz eine Niederlassungsbewilligung erhalten konnten. Das Abkommen mit Italien entsprach somit der seit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) von 1931 gültigen Konzeption einer Schweizer Ausländerpolitik. «Unter dem Gesichtspunkt der Überfremdungsabwehr», so der Bundesrat in der Botschaft von 1924 zu diesem Gesetz, sei gegen Zuwanderer nur dann nichts einzuwenden, wenn diese keine Niederlassung beabsichtigten. Zuwanderung ohne Niederlassung – dieses Dogma schien die Schweizer Ausländerpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg im «Rotationsmodell» verwirklichen zu können. Ausländische «Gastarbeiter» erhielten Saison- oder Jahresbewilligungen und durften sich bloss temporär zum Arbeiten in der Schweiz aufhalten. Integration war nicht erwünscht, da die «Gastarbeiter» nach getaner Arbeit wieder ins Heimatland zurückkehren und durch neue «Gastarbeiter» ersetzt werden sollten – spätestens bevor sie nach 10 Jahren Anspruch auf Niederlassung anmelden konnten. Die «Gastarbeiter» dienten als «Konjunkturpuffer» – eine ebenfalls vielsagende und noch unschönere Bezeichnung für die Italienerinnen und Italiener – für den Schweizer Arbeitsmarkt. Solange die Wirtschaft gut lief, sollten die «Konjunkturarbeiter» den Schweizer Unterneh- men beim Ankurbeln der Wirtschaft helfen. Bei einem Konjunktureinbruch sollte ihre Zahl hingegen möglichst schnell abgebaut werden können, indem die an eine Arbeitsstelle gekoppelten Aufenthaltsbewilligungen von der Fremdenpolizei nicht mehr verlängert wurden. Soweit die Theorie. In der Praxis der Hochkonjunktur der 1950er Jahre zeigte sich alsbald ganz anderes: anhaltendes Wachstum statt vorübergehende Konjunktur. Das Rotationsprinzip erwies sich als nicht praktikabel, weil die Konjunktur stetig anstieg und der Arbeitskräftebedarf über Jahre hinweg nur aus dem Ausland gedeckt werden konnte. Im Prinzip herrschte das Laisserfaire. Die Bedürfnisse des Schweizer Arbeitsmarktes bestimmten über die Ausländerzulassung. Unter generöser Aufsicht durch das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) rekrutierte die Schweizer Wirtschaft – vor allem die Industrie und die Bauwirtschaft – so viele Italienerinnen und Italiener, wie sie brauchte; anfangs vor allem in Norditalien, und als dort die verfügbaren Arbeitskräfte rar wurden, zunehmend im Süden. Ab 1958 erweiterten die Schweizer Unternehmen ihre Anwerbebestrebungen zudem auf Spanien, später auf Griechenland, die Türkei und Jugoslawien. Viele Italienerinnen und Italiener lebten und arbeiteten über Jahre in der Schweiz, ihre Saison- und Jahresaufenthaltsbewilligungen wurden Jahr um Jahr verlängert, schliesslich erlangten sie Anspruch auf Niederlassung und Familiennachzug, obwohl die we20 Einen_Platz_finden.indb 20-21 nigsten von ihnen bei ihrer ersten Einreise einen jahrelangen Verbleib in der Schweiz ins Auge gefasst hatten. Nicht zuletzt die Arbeitgeber hatten ein Interesse, ihre eingearbeiteten Arbeiterinnen und Arbeiter weiterbeschäftigen zu können und nicht jedes Jahr neue Leute einarbeiten zu müssen. Auch bei der Neurekrutierung bauten die Patrons auf ihre bisherige Belegschaft und das System der Kettenmigration. Ende Saison baten sie ihre italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter, nach den Ferien weitere geeignete Leute von zu Hause mitzubringen. Gefahr der «Überfremdung»? Aus der von den Schweizer Behörden als temporär und im Umfang beschränkt gedachten Einwanderung von italienischen Arbeiterinnen und Arbeitern ist bereits Ende der 1950er Jahre ein unumkehrbares Phänomen und ein Politikum geworden. Italien verlangte 1961 von der Schweiz die Aushandlung eines neuen Rekrutierungsabkommens. Dieses sollte den mittlerweile rund 400 000 in der Schweiz lebenden Landsleuten verbesserte Aufenthaltsbedingungen in der Schweiz garantieren: etwa einen längerfristig gesicherten Aufenthaltsstatus sowie einen vereinfachten Familiennachzug und Sozialversicherungsschutz. Diese Forderungen Italiens entsprachen den damals in Europa entwickelten internationalen Richtlinien. Die Schweiz musste darauf eingehen, wenn sie im Werben um italienische Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem europäischen Arbeitsmarkt mithalten und konkurrenzfähige Arbeits- und Lebensbedingungen bieten wollte. Ansonsten riskierte sie den Verlust der für die Wirtschaft schlicht unentbehrlichen Arbeitskräfte. Innenpolitisch wurde der Abschluss des neuen Abkommens mit Italien 1964 von der anfangs der 1960er Jahre sich formierenden ausländerfeindlichen Überfremdungsbewegung als Kniefall vor Italien gegeisselt und als Sinnbild für das generelle Versagen der Ausländerpolitik des Bundesrates gedeutet. Damit wurde die Überfremdungsdiskussion neu entfacht, die anfangs von den Gewerkschaften angestossen worden war, aus Angst vor einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Schweizer Arbeiterinnen und Arbeiter und weil die Wohnungsnot durch die Einwanderung verschärft wurde. Gegen Ende der 1960er Jahre wurde diese Auseinandersetzung durch die politische Rechte weiter angeheizt und von James Schwarzenbach zu ihrem Höhepunkt geführt. Mit seiner 1969 eingereichten Überfremdungsinitiative forderte der Rechtspopulist der ersten Stunde nichts weniger als die Reduktion des Ausländeranteils in jedem Kanton der Schweiz auf 10 Prozent (ausgenommen wären Saisonarbeiter gewesen; im Kanton Genf wäre eine Anteil von 25 Prozent erlaubt worden; 1970 betrug der Ausländeranteil gesamtschweizerisch 17 Prozent). Dies hätte für rund 200 000 Ausländerinnen und Ausländer – die Hälfte davon aus Italien – die Ausweisung aus der Schweiz bedeutet. Schwarzenbach konnte erfolgreich gegen Aus- Angekommen im Bahnhof Basel SBB. 21 05.10.2010 19:07:46 «So wird es noch einige Zeit dauern, bis die Einsicht durchgebrochen ist, dass wir einen wesentlichen Teil unserer Wohlstandszunahme den ausländischen Arbeitnehmern zu verdanken haben und unsere Volkswirtschaft auf die Ausländer angewiesen ist.» Dr. Felix Auer, späterer FDPNationalrat, am 17.1.1963 vor der Synode der Ev.-ref. Kirche Basel-Landschaft. länder Stimmung machen, weil er mit seiner Beschwörung der Gefahr einer «Überfremdung» der Schweiz nicht nur eine diffuse Fremdenangst in breiten Bevölkerungskreisen ansprach, sondern auch an den zentralen Grundsatz der Überfremdungsabwehr der Schweizer Ausländerpolitik anknüpfte. 1964 hatte der Bundesrat die Schweiz gar offiziell als «überfremdet» bezeichnet und daher eine Beschränkung der Ausländerbeschäftigung zum politischen Ziel erklärt. Der Bundesrat spielte Schwarzenbach und der Überfremdungsbewegung nicht nur mit seinem Befund in die Hände, sondern mehr noch mit der mangelhaften Umsetzung der formulierten Ziele. Die erlassenen Beschlüsse zur Begrenzung der Ausländerbeschäftigung blieben nämlich wirkungslos, weshalb Schwarzenbach der Regierung mangelnden Willen und Versagen in der Reduktion der Einwanderung vorwerfen konnte. Einen Erfolg Schwarzenbachs an der Urne konnte der Bundesrat im Frühling 1970 letztlich nur noch verhindern, indem er durch den Erlass einer neuen, radikal griffigeren Begrenzungsverordnung unmittelbar vor der Abstimmung Entgegenkommen signalisierte und somit der Initiative Wind aus den Segeln nahm. Mit der Einführung der Globalplafonierung gelang es dem Bundesrat, ausländerpolitisches Vertrauen zurückgewinnen: Der Staat griff erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg spürbar in den freien Arbeitsmarkt ein, indem er ab 1970 jährlich Quoten für die Ausländerzulassung festlegte und so den gewünschten Rückgang der Zuwanderung von Arbeitskräften erreichte. Trotz dieser für die Wirtschaft einschneidenden Massnahmen wuchs die in der Schweiz lebende ausländische Bevölkerung weiter an, vor allem dank dem Familiennachzug sowie der zunehmenden Saisonnierbeschäftigung, welche die Wirtschaft in Umgehung der Globalplafonierung forcierte. Ein Ende fand die seit dem Zweiten Weltkrieg anhaltende Einwanderungswelle und mit ihr die grosse Phase der italienischen Einwanderung in die Schweiz erst 1975, als die Schweiz von den wirtschaftlichen Folgen der Ölkrise voll erfasst wurde. Mehr als 200 000 Ausländerinnen und Ausländer verloren ihre Stelle und damit auch ihre Aufenthaltsberechtigung. Arbeitskräfte gerufen – Menschen gekommen Behörden und Bevölkerung der Schweiz taten sich lange Zeit schwer damit, die Tatsache zu akzeptieren, dass die ins Land geholten Italienerinnen und Italiener nicht bloss die temporär verfügbaren und billigen Arbeitskräfte aus der Theorie des Rotationsmodells waren, sondern als Mitbewohner über längere Zeit im Land lebten oder sich gar zur Bleibe entschieden. Daher anerkannten die Schweizer Behörden in der Nachkriegszeit auch die vielfältigen italienischen Vereine in der Schweiz nicht als Interessenvertretungen der Immigrantinnen und Immigranten und gestanden den italienischen Auslandorganisation keinen politischen Einfluss zu. Die Illusion des Rotationsmodells verstellte über Jahre den Blick auf die Realität und ermöglichte der Schweiz den Glauben, sie sei kein Einwanderungsland und müsse auch keine entsprechende Integrationspolitik führen. Erst anfangs der 1960er Jahre begann ein langsames Abrücken von einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die bestenfalls die Assimilation, aber keine Integration der Migrationsbevölkerung ins Auge fasste. Vermehrt wurden nun auch die sozialen, kulturellen und nicht zuletzt auch die 22 Einen_Platz_finden.indb 22-23 staatspolitischen Konsequenzen der Zuwanderung wahrgenommen. Angestossen durch die in der Öffentlichkeit kontrovers kommentierten bilateralen Verhandlungen über das neue Rekrutierungsabkommen mit Italien entstand eine breite Diskussion über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Italienerinnen und Italiener in der Schweiz. Als prominentes Beispiel dafür steht der Film «Siamo Italiani» von Alexander J. Seiler, Rob Gnant und June Kovach, der das Leben von Italienerinnen und Italienern in der Region Basel anfangs der 1960er Jahre dokumentierte und der Einwanderung aus Italien dadurch ein Gesicht und eine Stimme gab. Nachhaltig wirkte das Vorwort von Max Frisch in der 1965 erschienenen Begleitpublikation zu diesem Film. Dieses beginnt mit dem legendären Satz: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Bekräftigt wurde der migrationspolitische Bewusstseinswandel indirekt paradoxerweise auch durch die Überfremdungsbewegung, indem sie die Zuwanderung vehement thematisierte. Die Schwarzenbach-Abstimmung stellte einen zentralen Katalysator für das Selbstverständnis der Schweiz als Einwanderungsland dar. Im Abstimmungskampf unterlag Schwarzenbachs Vorstellung von Ausländern als Saisonarbeitern, denen – wegen den Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft – die Niederlassung und der Familiennachzug verwehrt werden sollten. Obsiegt hat in der denkwürdigen Volksabstimmung das Bild einer Schweiz, zu der die eingewanderten Italienerinnen und Italiener auch als Menschen dazugehören. Ein Bild von bleibendem Wert. Das Abstimmungsverhalten in Pratteln bei Abstimmungen über Ausländerfragen seit 1970 Die Schwarzenbach-Initiative, die eine Limitierung des Ausländeranteils an der Bevölkerung auf höchstens 10% verlangte, wurde in Pratteln etwas deutlicher abgelehnt als in der gesamten Schweiz. Auch bei der nächsten «Überfremdungsinitiative» (1974) senkte Pratteln noch den nationalen Zustimmungsschnitt. Seither aber lag bei den nationalen Abstimmungen, die eine Abschliessung gegen Fremde verlangten, die Zustimmung in Pratteln stets über dem Durchschnitt von Kanton und Bund. Deutlich war dies der Fall bei den späteren Überfremdungsinitiativen (1977, 1984 und 2000), aber auch bei den meisten Asylvorlagen. Integrationsfreundliche Vorlagen wie die MitenandInitiative (1981), das Ausländergesetz von 1982 oder Vorstösse für eine erleichterte Einbürgerung (1983 und 1994) hatten es in Pratteln denn auch meist überdurchschnittlich schwer. Volksabstimmung vom 7.6.1970 über die Schwarzenbach-Initiative: JaNein Schweiz 46% 54% Baselland 39,5% 60,5% Pratteln 44,1% 55,9% Plakat gegen die Überfremdungsinitiative 1974. 23 05.10.2010 19:07:58 Die italienische Einwanderung in Pratteln Von Ruedi Brassel-Moser Kein Wort Deutsch ‹Italiener frächi Cheibe, frässe villi Brot, Mässer in de Ranze stegge, sin die Cheibe tot.› Gut, wir haben uns zusammengerauft und mit einigen schloss ich auch Freundschaft.» Um die Wohnungsnot zu lindern, wurden Baracken aufgestellt, wie hier auf dem Areal der Buss AG um 1950. Schon in früheren Jahrhunderten haben Eingewanderte in Pratteln ihren Platz gefunden. Und Prattler sind ausgezogen, um anderswo ihr Glück und ihren Platz zu finden. Die Gründe für diese Wanderungen waren ähnlich: meist Armut und Arbeit, aber auch Ausbildung und sozialer Aufstieg und manchmal auch Abenteuer. Vor allem im 19. Jahrhundert wanderten viele nach Amerika aus; einige aber auch nach Osteuropa. Mit der Industrialisierung, die im Gebiet der Schweizerhalle bereits 1837 nach der Entdeckung der Salzvorräte einsetzte, kam aber eine neue Dynamik auf. Es entstanden neue Arbeitsplätze, die Bevölkerung nahm zu. In den 1880er Jahren wurden dann auch in Dorfnähe erste Fabrikationsgebäude erstellt und um die Wende zum 20. Jahrhundert erlebte Pratteln einen eigentlichen Bau- und Industrialisierungsboom. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden Fabriken der Firmen Buss, Henkel, Brodtbeck, Rohner und Häring sowie das Zentrallager des Verbands Schweizerischer Konsumgenossenschaften. Die Bevölkerung Prattelns verdoppelte sich zwischen 1870 und 1910 von 1600 Personen auf 3200. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der aus dem Ausland stammenden Einwohner von 70 Personen auf über 500 um mehr als das Siebenfache zu. Insbesondere im Baugewerbe, aber auch in den Fabriken wurde schon damals auf Arbeitskräfte aus Italien zurückgegriffen. Darunter scheint es auch einen später aus zweifelhaftem Grund prominent gewordenen Bauarbeiter und Gewerkschafter gegeben zu haben. Jedenfalls wird überliefert, dass der spätere «Duce», Benito Mussolini, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Pratteln beim Bau der «Klemmi» am Schmittiplatz mitgewirkt habe (Heimatkunde 2003, S. 144). Eine für Prat- teln nachhaltigere Tätigkeit Bevölkerungsentwicklung in Pratteln seit 1870 entfalteten seit den 1890er 16000 Jahren zwei andere italieni14000 sche Einwanderer, die Brü12000 der Gilardo und Ludovico 10000 Spaini. In dem von ihnen 8000 1906 gegründeten Bauge6000 schäft waren zu den besten 4000 Zeiten bis zu 500 Arbeiter 2000 angestellt. Der grösste Teil 0 1870 1900 1910 1920 1930 1941 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 davon stammte ebenfalls Einwohner Ausländer aus Italien. Der Ausländeranteil betrug 1910 in Pratteln mehr als 15%. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg sank er dann auf etwa einen Zehntel der Gesamtbevölkerung, während des Zweiten Weltkriegs gar auf etwa 5%. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm dann der Ausländeranteil in Pratteln sprunghaft zu. 1950 noch bei 6,7% stieg er bis 1970 auf 27%. Etwa zwei Drittel dieser Ausländer stammten in den 1960er Jahren aus Italien. Der zwischenzeitlich höchste Stand wurde 1974 mit 29% erreicht. Wegen der Rückwanderung aufgrund der Wirtschaftskrise sank Neue Sorgen in den 1960er der Ausländeranteil merklich und übertraf erst anfangs der Jahren: Die Geburtenrate der 1990er Jahre wieder die Marke von 1974. Allerdings hat Immigrantinnen stieg. Bei den sich mittlerweile die Zusammensetzung der ausländischen Schweizerinnen begann der Pillenknick zu greifen. In der Bevölkerung verändert. Zwar ist Italien auch 2010 nach wie Legende des Nebelspalters vor das am besten vertretene Herkunftsland, stellt aber nicht vom 22. April 1964 heisst mehr zwei Drittel, sondern «nur» noch etwa einen Fünftel al- es: «Aus der Bevölkerungsstatistik des Kantons Baseller Eingewanderten in Pratteln. Die Einwohner ausländischer Landschaft: Bei rund einem Herkunft machten im Jahr 2010 mit 5730 Personen 37,4% Viertel aller Geburten handelt es sich um Ausländer.» der Gesamtbevölkerung aus. Bevvölkerungszahl Paolo Puccetti, 1948 als Neunjähriger aus der Gegend von Florenz nach Pratteln eingewandert, über seine Schulzeit: «Ich kam gleich in die vierte Klasse zu Herrn Gruber ins Münchackerschulhaus. Herr Gruber konnte ein bisschen Italienisch, ich aber verstand kein Wort Deutsch. Ich weiss nicht mehr, wie ich Deutsch gelernt habe. Wahrscheinlich ziemlich rasch, denn ich wollte dabei sein. Es war aber hart, denn ich war für die anderen Kinder fremd. Zum Beispiel trug ich im Sommer kurze Hosen, richtig kurze Hosen, wogegen die der anderen Buben bis zu den Knien oder sogar unter die Knie reichten. Natürlich wurde ich ausgelacht. Auch später in der 6. und 7. Klasse bei Herrn Urban kam es öfters zu Schlägereien. Man war als Italiener der Sautschingg, d’Tschinggalamore oder der Maistiger. Ich bekam auch den Spruch zu hören: 25 Einen_Platz_finden.indb 24-25 05.10.2010 19:08:00 Einwanderung um 1900: die Familie Spaini Von Christine Ramseier «Die Familie meines Mannes ist aus Ponte Cremenaga im Varese eingewandert. Ich selber bin Tessinerin», erzählt Luciana Spaini, die Frau von Giannino Spaini. «Es hat alles klein angefangen, nämlich mit den Gebrüdern Gilardo und Giuseppe Spaini, die als junge Burschen kurz vor 1900 zusammen in Deutschland arbeiten wollten. Auf der Durchfahrt im Zug sahen sie in Pratteln beim Bahnhof eine grosse Baustelle – und flugs entschieden sie: Wo eine grosse Baustelle ist, gibt es sicher Arbeit! – und stiegen aus.» Ein paar Jahre arbeiteten die Brüder als Handlanger. Mit dem jüngsten Bruder, Ludovico, gründete Gilardo Spaini 1906 dann bei der Krummeneich ein eigenes Geschäft. Aber das Einkommen war knapp und so betrieben sie auch einen kleinen Laden mit italienischen Produkten. Als das Baugeschäft wuchs, verlegten sie es an die Salinenstrasse 56. Auf diesem Gelände standen zeitweilig zwei bis drei Baracken als Unterkunft für die angestellten Gastarbeiter. Aufsehen erregten im Dorf die beiden fünfstöckigen, langen Blockbauten mit Flachdach an der Bahnhofstrasse, Ecke St. Jakobstrasse. Als sie in den 1930er Jahren errichtet wur- 26 Einen_Platz_finden.indb 26-27 den, war die einhellige Meinung der Dorfbevölkerung: «Viel zu gross». An der Fasnacht wurde darüber gespottet. Vor ein paar Jahren sind die respektablen Bauten aber in das vom Kanton erstellte Inventar der schützenswerten Bauten aufgenommen worden. 1954, nach dem Tod seines Vaters Gilardo, übernahm Giannino Spaini die Leitung des Geschäfts und führte es mit seinem Bruder Elio und dem Onkel Ludovico weiter. Luciana Spaini erinnert sich: «Damals hatten wir noch keine eigenen Lastwagen. Für grosse Transporte mieteten wir Pferdefuhrwerke.» An der Hauptstrasse 71 baute die Firma 1964/65 zwei Blockbauten, die mit einer öffentlichen Cantina ver- bunden waren. Im vorderen Block wohnten die Poliere mit ihren Familien, im hinteren Block in 4-5 Bettzimmern Saisonniers. «Zuerst kamen die Arbeiter aus Norditalien, Bergamo, der Lombardei, dem Friaul, dem Veneto und der Romangna, wunderbare Arbeiter», wie Luciana Spaini betont. «Später fuhr mein Mann immer weiter nach Süden, zuletzt bis nach Sizilien, um Arbeiter anstellen zu können.» Nach dem Tod der Brüder Elio und Giannino Spaini wurde das Baugeschäft aufgelöst. Das Büro Immobilien L. und G. Spaini verwaltet heute die noch nicht verkauften Immobilien. Italienische und schweizerische Arbeiter beim Ausbau der Persilwerke der Henkel AG durch die Firma Spaini 1929. Gilardo und Pasqualina Spaini um 1910 in Luino. Pass von Gilardo Spaini. Moderne Blockwohnungen an der Bahnhofstrasse und der St. Jakobstrasse, gebaut von den Gebrüdern Spaini 1932. 27 05.10.2010 19:08:15 Der Schmittiplatz: «Piazza Roccavivara» Von Jennifer Degen Im Zentrum des Prattler Dorfkerns, zwischen dem Schloss und der Kirche, liegt der «Schmittiplatz». Dieser Platz wurde für die Gastarbeiter aus Roccavivara zu einem bedeutsamen Ort; er war ihr Treffpunkt, auf dem sie sich nach der Arbeit und an Sonntagen die Zeit vertrieben. Stehend oder auf einer Mauer sitzend plauderten und debattierten sie stundenlang und erzählten sich Neuigkeiten aus der Heimat. An Sonntagen kamen Rocchesi aus der ganzen Region Basel auf dem Schmittiplatz zusammen und er entwickelte sich zum Ersatz der heimischen Piazza. Noch heute ist der Schmittiplatz allen Bewohnern aus Roccavivara ein Begriff. Fällt das Stichwort Pratteln, so sprechen alle wie selbstverständlich vom Schmittiplatz. Selbst die Kinder und Grosskinder der Gastarbeiter kennen den Schmittiplatz, er scheint für sie zum Inbegriff der Emigration in die Schweiz geworden zu sein. Pasquale Minni, der 1960 nach Pratteln kam, berichtet, dass sie den Schmittiplatz in «Piazza Roccavivara» umbenannt hätten. Er erinnert sich an das lebhafte Treiben auf dem Dorfplatz, der wichtig gewesen sei, weil kaum jemand ein Telefon gehabt habe. Man habe man sich auf der Piazza erzählen können, was in Roccavivara so vor sich ging. Der Schmittiplatz diente als Informationsplattform für Neuigkeiten aus der Heimat. Zu einer Zeit, in der die Kommunikationsmittel noch sehr beschränkt waren, war der mündliche Austausch sehr wichtig. Briefe kamen oft erst 28 Einen_Platz_finden.indb 28-29 nach Wochen an und ein Telefonat in die Heimat kostete verhältnismässig viel Geld. Viele Gastarbeiter der ersten Generation waren zudem auf die mündlichen Informationen angewiesen, denn sie konnten oft weder lesen noch schreiben. Durch den Austausch mit anderen Emigranten waren sie nicht ganz vom Geschehen in ihrem Heimatdorf abgeschnitten und fühlten sich ihrer Heimat und ihren Familien ein kleines Stück näher. Der Schmittiplatz war zudem ein Ort, an dem sich die Rocchesi in einer familiären Gemeinschaft aufgehoben fühlten. Die meisten Gastarbeiter aus Roccavivara waren als Saisonniers in Pratteln und mussten nach 9 Monaten für 3 Monate nach Italien zurückkehren. Der Saisonnier-Status erlaubte es ihnen nicht, ihre Familien in die Schweiz zu bringen, und so lebten die Männer von ihren Familien getrennt. Aus ihrer Heimat waren sie jedoch daran gewöhnt, eng in die Familiengemeinschaft eingebunden zu sein. Dies war mit ein Grund, weshalb sie auf dem Schmittiplatz eine Art Ersatzfamilie suchten. Mario Antenucci, der in den 1960er Jahren als eines der wenigen Gastarbeiterkinder in Pratteln war, erinnert sich an seine Kindheit auf dem Schmittiplatz: «Das habe ich heute immer noch vor mir: Ich als kleiner Junge bin von einem Schoss zum andern gereicht worden. Darum habe ich wahrscheinlich diese Beziehung ... zum Dorf und den älteren Leuten im Dorf.» Laura Antenucci: Pasquale Minni über die «Piazza Roccavivara» in Pratteln: Jennifer Degen: «E poi vi siete trovati al Schmittiplatz?» Pasquale Minni: «Sì, Schmittplatz, quella era la piazza, noi l‘avevamo intitolata ‹Piazza Roccavivara›.» Degen: (lacht) Minni: «Sì, perché la, la domenica mattina, pure chi stava a Muttenz o a Rheinfelden, si ritrovavano, facevamo tante di quelle chiacchierate in mezza ai gruppi così con i paesani che stavano là.» Degen: «Dunque sono venuti da dappertutto?» Minni: «Sì sì sì sì sì, Schmittiplatz la chiamavamo ‹Piazza Roccavivara›. Sì sì.» Degen: «E trovarsi in piazza e chiacchierare era importante per voi?» Minni: «Sì, perché si raccontava magari qualcuno aveva telefonato alla famiglia e si raccontava quello che facevano al paese e qui in Italia. Si racconta tante di quelle cose magari è pure necessario sapere perché così si sta lontano. Prima non è che si telefonava tanto spesso perché costava Der Schmittiplatz vor der Umgestaltung in den 1980er Jahren. 29 05.10.2010 19:08:27 il telefono. Si scrivevano le lettere – le lettere magari ci sono delle volte che passava un mese pure finché ritornava la risposta di questa lettera. Tanto tempo che tu non avevi contatto con la famiglia. E allora era bello se ci vedavamo e si raccontava. Magari l‘amico aveva avuto la lettera il giorno prima o io avevo avuto la lettera e stavo informato di qualche cosa. Sì, si raccontava tante di queste storiette così come si comportano in paese.» Enzo Ferrara über den Treffpunkt Schmittiplatz in den 1980er Jahren: «A me mancavano gli amici proprio. La fortuna che ho avuto dopo è che sapendo che questa Wehr stava vicino a Basilea. Tutti i weekend, quindi venerdì sera, terminavo di lavorare e andavo a Pratteln. Perché Pratteln per me era Roccavivara. Io andavo a Pratteln tutti i weekend. O con la macchina di un amico mio perché non potevo guidare. Oppure andavo in treno senza problemi. Per me era proprio ...e lì quando andavo a Pratteln, per me, stavo a Roccavivara perché c‘erano tantissimi Rocchesi. Molti amici proprio e i miei coetani. Magari hanno «Er war halt der Einzige.» Mario Antenucci: «Im Dorf kennt mich jeder Ältere, denn ich war einfach der Mario, der halt der Einzige war. Jeder hat an sein Kind gedacht und mich verwöhnt dazumal.» Die Arbeiter fanden in Mario einen Ersatz für ihre eigenen Kinder, die sie selbst nicht aufwachsen sahen. Die Nähe, die sich die Arbeiter auf dem Schmittiplatz gegenseitig gaben, gab ihnen zumindest ein Stück des emotionalen Rückhalts, den sie sonst in der Familie gefunden hätten. Die Prattler Piazza Portella Die Art des Zusammentreffens auf dem Schmittiplatz hatte grosse Ähnlichkeit mit den Treffen auf der Piazza Portella in Roccavivara. Auf der Piazza Portella, die in dem steilen Bergdorf zuoberst zwischen den Häusern liegt, fanden sich die Dorfbewohner zu spontanen Plauderrunden ein. Noch heute gehört es zum Charakter des Dorfes, dass sich Alt und Jung dort treffen und sich besonders die älteren Dorfbewohner mit Kartenspielen wie Briscola oder Scopa und mit Plaudern die Zeit vertreiben. Das ungezwungene Beisammenstehen auf dem Schmittiplatz gab den Gastarbeitern folglich ein wenig das Gefühl von Hei- mat. Entsprechend tauften sie den Schmittiplatz «Piazza Portella» oder «Piazza Roccavivara». In den 1960er Jahren richteten die Rocchesi in einer Baubaracke am Rande des Schmittiplatzes gar ein kleines Beizli ein. In der sogenannten «Barracca», die ihnen von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurde, schenkten sie an den Abenden und am Wochenende Getränke aus. Sie führten das kleine Lokal in Eigenregie und spielten Briscola und diskutierten oft bis spät abends. Die spanischen Gastarbeiter hatten ebenfalls eine Barracca auf dem Prattler Dorfplatz und die Versammlungen der zahlreichen Gastarbeiter blieben in Pratteln nicht unbemerkt. Der Dorfplatz galt als lauter, umtriebiger Treffpunkt der italienischen und spanischen 30 Einen_Platz_finden.indb 30-31 Gastarbeiter und es kam wegen Lärmklagen hin und wieder zu Konflikten. So erzählt Cristofaro Gianico , man habe nicht gross «bordello» machen können, sonst sei die Polizei gekommen. Der Bedarf, solchen Konflikten vorzubeugen und entsprechende Regeln aufzustellen, schlug sich denn auch im Prattler Polizeireglement von 1977 nieder. Darin hiess es: «Spielen im Freien, wie Boccia, Minigolf usw. sind von 09.00 bis 22.00 Uhr gestattet, sofern niemand gestört wird.» Der Schmittiplatz blieb für die Rocchesi über Jahre und Generationen hinweg ein zentraler Ort. Wie ihre Väter oder älteren Brüder trafen sich auch die Rocchesi der zweiten Generation in den 1970er und 1980er Jahren auf dem Schmittiplatz. Mario Antenucci beispielsweise, der als kleines Kind den Arbeitern auf dem Platz Freude bereitet hatte, kehrte später selbst an diesen Ort zurück. Während einer schwierigen Phase seines Lebens, in der er sich als 15-Jähriger mit seinen Eltern zerstritten hatte und alleine lebte, suchte er den Zusammenhalt mit den anderen jungen Rocchesi auf dem Schmittiplatz. Ähnlich wie die Gastarbeiter der ersten Generation erlebte auch er die Nähe zu seinen Landsleuten als eine Art Ersatzfamilie. Selbst in den 1980er Jahren war der Schmittiplatz noch immer der Treffpunkt schlechthin. Auch Enzo Ferrara, der 1980 als einer der letzten Rocchesi in die Region Basel emigrierte, misst dem Platz eine grosse Bedeutung bei. Er arbeitete im deutschen Wehr nahe der Schweizer Grenze und kam jeweils an den Wochenenden nach Pratteln. Ihm fehlten in der Emigration vor allem die Freunde aus dem Dorf. Er sieht es als Glück, dass die Stadt Wehr nahe bei Basel lag, so dass er über das Wochenende seine Freun- de besuchen konnte. So sei er jeden Freitagabend nach Feierabend nach Pratteln gefahren und habe das ganze Wochenende mit den Kollegen aus Roccavivara verbracht. Er wartete am Sonntagabend jeweils den letzten Zug ab und reiste erst um Mitternacht wieder nach Deutschland zurück. Manchmal verpasste er den Zug auch und machte sich erst am Montagmorgen wieder auf den Rückweg. fatto scuola giù e poi sono tornati su per lavorare. Quindi, diciamo che psicologicamente stavo già un pò meglio. Non mi interessava che dovevo lavorare una settimana. Era proprio importante che proprio poi il venerdì la sera il weekend andavo (a Pratteln). E ci stavo fino all‘ultima ora. Se c‘era il treno a mezzanotte a Basilea, alle undici e mezzo andavo. Non andavo mai prima. Qualche volta sono anche andato il giorno dopo, ho perso il treno, sì (lacht). E quindi tornavo spesso di là appunto di questa voglia di stare in mezzo ai miei conpaesani. Mi sentivo a mio agio, stavo benissimo.» Schnappschüsse auf dem Schmittiplatz. 31 05.10.2010 19:08:30 «La casa di Stohler» – das Stohler-Haus Von Jennifer Degen Cristofaro Gianico über die engen Wohnverhältnisse im Stohler-Haus «Eh ... lì, il letto era di dieci persone. Poi la maggior parte dicevo a lui proprio Otti ‹a me mi deve dare una piccola cameretta›. Per starci solo. Dice Stohler: ‹Ma, eh›. Dico io: ‹Perché io faccio questi turni. Quando si tornava, chi tornava, chi si alzava, io non dormo poi la notte.› Dice lui: ‹Se riesco te la voglio dare.› Poi veramente me l‘ha data, ha cercato lui di farmi qualcosa.» Degen: «Il signor Stohler?» Gianico: «Sì sì, sempre da Stohler. Io non sono mai andato via da lì.» Degen: «Ma il signor Stohler ha cercato (questa camera?)» Gianico: «Sempre dentro di quella casa. Sempre dentro casa sua. Che poi lui aveva due figli maschi e la figlia donna. E lui mi ha detto: ‹Mò, cerco un modo di mettere i due maschi assieme. Così è fatto.›» Das Stohler-Haus am Schmittiplatz in den 1950er Jahren. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitsmigration in die Schweiz einen Aufschwung erlebte, schnellten die Einwohnerzahlen auch in Pratteln in die Höhe. Noch im Jahre 1941 wohnten in Pratteln 5142 Personen. Im Jahre 1950 waren es bereits 6863 und zehn Jahre später 9492 Personen. Der Bevölkerungszuwachs war enorm und entsprechend fehlte es in der wachsenden Industriegemeinde an Wohnraum. Die Gastarbeiter fanden oft keine günstigen Wohnungen und mussten auf Massenunterkünfte ausweichen oder bei Bauernfamilien ein einzelnes Zimmer mieten. Sie waren auf billige Unterkünfte angewiesen, denn sie kamen als mittellose Arbeiter mit dem Ziel, möglichst viel Geld nach Hause zu schicken. Eine Wohnmöglichkeit für die Gastarbeiter aus Roccavivara war das Stohler-Haus in Pratteln. «La casa di Stohler», wie die Emigranten es noch heute nennen, war eine Massenunterkunft an der Hauptstrasse 30 beim Schmittiplatz. Unmittelbar neben ihrem Wohnhaus, im Dachstock oberhalb des Pferdestalls, vermietete das Ehepaar Gottfried und Ilse Stohler Betten an die Zuwanderer. Die Unterkunft kostete einen Franken pro Tag und viele der Zuwanderer aus Roccavivara gingen nach ihrer Ankunft automatisch ins Stohler-Haus. Sie fanden dort einfach eine erste Bleibe, so dass sich das Stohler-Haus ab 1956 zum Treffpunkt der Rocchesi entwickelte. «Uno tirava l‘altro» – der eine zog den anderen nach sich – sagen die Rocchesi. Die Vermieterin Ilse Stohler erinnert sich, wie zu Spitzenzeiten bis zu 30 Männer in dem Haus lebten. «Also wenn ich mich recht erinnere, waren einmal 30 Mann hier. Aber nicht immer. Aber sie haben immer wieder einen mitgebracht oder zwei, jedes Mal. Und mein Mann hat dann immer geschimpft und gesagt: ‹Ja Männer ...›» Jennifer Degen: «Und dann kam einfach immer wieder einer?» Stohler: «Ja eben, das war ja der Fluch. Dann haben sie wieder einen mitgebracht oder zwei (lacht) und was willst du dann machen? Die waren da, die konntest du ja nicht heimjagen (lacht).» Das Stohler-Haus hatte schon vor der Migrationsbewegung aus Roccavivara anderen italienischen Gastarbeitern als Unterkunft gedient. Ab 1956 war es jedoch fast ausschliesslich von jungen Zuwanderern aus Roccavivara bewohnt. Die ehemaligen Gastarbeiter nennen es deshalb rückblickend liebevoll «Hotel Roccavivara». Mit dem Komfort eines Hotels hatte die Massenunterkunft im Stohler-Haus hingegen nichts gemeinsam. Die Arbeiter lebten auf engstem Raum in sehr einfachen Verhältnissen. Mario Antenucci, der als Kind eines Gastarbeiters in den 1960er Jahren in Pratteln lebte, und dessen Vater oft im Stohler-Haus verkehrte, erinnert sich: «Dort hatte es Betten, wo Leute aufgestanden sind, zur Schicht gegangen sind, und andere, die heimgekommen 32 Einen_Platz_finden.indb 32-33 sind und die haben sich das Bett geteilt. Es war einfach ein wenig brutal, aber man hat nichts anderes bekommen.» Auch alltägliche Verrichtungen wie Waschen und Kochen erfolgten unter einfachsten Bedingungen. Bis zu zehn Personen benutzten gleichzeitig die angeblich zwei auf zwei Meter grosse Küche. Dort kochten sie einfache Mahlzeiten auf einem Gasherd, den sie mit 20-Rappen-Stücken bedienten. Ihre Kleidung wuschen sie in öffentlichen Waschsalons, eine Duschgelegenheit oder ein Badezimmer gab es in dem Haus keine. Die Arbeiter duschten in den öffentlichen Duschen der Schulen oder nach der Arbeit in der Fabrik. Die engen Wohnverhältnisse bereiteten den Bewohnern besonders wegen der fehlenden Privatsphäre Probleme. Cristofaro Gianico , der 1965 als 29-Jähriger nach Pratteln kam und während elf Jahren im Stohler-Haus lebte, erinnert sich an die Schwierigkeiten. Er schildert die Unruhe, die bei zehn Personen pro Zimmer aufkam. Die einen Arbeiter kehrten von ihrer Schicht zurück und machten Lärm, während andere im selben Raum zu schlafen versuchten. So konnte er sich zwischen der Schichtarbeit in der Fabrik kaum erholen und bat den Vermieter Gottfried Stohler um ein Einzelzimmer. Dieser stellte ihm nach einer Weile eines der Kinderzimmer zur Verfügung, nachdem er seine beiden Söhne zusammen in einem Zimmer einquartiert hatte. Beim Einzelzimmer für Cristofaro Gianico dürfte es sich um ein Privileg für einen Arbeiter gehandelt haben, der über lange Jahre bei den Stohlers gewohnt hat. Für alle Bewohner wäre eine solche Lösung aus Platzgründen gar nicht möglich gewesen. In der Regel war der Aufenthalt im Stohler-Haus keine dauerhafte Lösung. Die meisten Rocchesi nutzten die Unterkunft als erste Anlaufstelle und zogen später zu Ver- wandten, die in der Region bereits eine Wohnung gefunden hatten. Oft kamen sie im Anschluss an das Stohler-Haus auch bei Bauern oder Privatpersonen unter, die als Nebenverdienst einzelne Zimmer an Gastarbeiter vermieteten. Für die neu eingewanderten Rocchesi scheint das StohlerHaus trotz der prekären Wohnverhältnisse einen emotionalen Wert erhalten zu haben. Die Nähe zu ihren Landsleuten erleichterte den Neuankömmlingen den Start in der Fremde. Sie konnten sich auf Italienisch und sogar in ihrem Dialekt unterhalten, sie bewegten sich in einem vertrauten Umfeld und konnten sich nach der Arbeit gemeinsam die Zeit vertreiben. Frau Stohler erinnert sich gut an die Arbeiter aus Roccavivara: «Sie sind von der Arbeit nach Hause gekommen. Dann haben sie sich gewaschen und sind zusammengesessen und haben gesungen oder haben dies oder jenes getan. Und das Bier hat mein Mann dann noch vom Ziegelhof bestellt, weil sie die Bierflaschen immer im Konsum geholt haben und wir dann die Flaschen wieder entsorgen mussten. Und dann haben wir uns gesagt: Wenn die schon so Bier trinken wol- Die prekären Wohnverhältnisse der Gastarbeiter sorgen auch für Schlagzeilen wie hier im «Blick» in einem Bericht über eine Allschwiler GastarbeiterUnterkunft im Juni 1962. 33 05.10.2010 19:08:32 Wie Ilse Stohler nach Pratteln kam Wie die Rocchesi hat auch Ilse Stohler die Ankunft in der Fremde als einschneidenden Moment erlebt. 1955 kam sie mit einer wohlhabenden Frau aus Bayern als Kindermädchen nach Pratteln. Ihre Ankunft in Pratteln blieb ihr bis ins hohe Alter unvergessen: «Dann hiess es, ja in der Schweiz hat es ja schöne Berge und so. Und das hatte es dort auch, ich war im Oberbayrischen, das war eine schöne Gegend. Dann kamen wir da über Rheinfelden rein mit dem Auto. Das war am Vormittag, wir hatten da übernachtet am Bodensee, und dann kamen wir die Rheinstrasse hinunter hier nach Pratteln. Und da habe ich gedacht: ‹Läck doch mir am Tschoope› (lacht). Überall Kamine, und Berge ... – na ja (lacht lange). Und dann haben wir da noch so eine – das war Anfang November, da war es dazu auch noch so tristes Klima, da haben wir noch so einen Bauern überholt, der da mit Pferden gefahren ist. Der hatte so eine komische Pudelmütze an, wo so eine Kordel runter gehangen ist. Und einen Stumpen im Maul. Und das hat mich len, dann soll die Brauerei uns das liefern. Und dann hat Ziegelhof uns einen Bierkasten hingestellt. Wir haben das Bier günstig gegeben, aber so hatten wir doch etwas davon – nicht nur die Sauerei. Und eben, sie sassen gerne zusammen und haben gesungen und gemacht ...» Durch die Zusammenkünfte im Stohler-Haus entstand für die Rocchesi in der Fremde ein wenig das Gefühl von Heimat. Sie konnten sich in gewohnter Manier treffen, was nicht immer ohne Konflikte mit den Vermietern über die Bühne ging. Die Familie Stohler lebte in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Gastarbeitern, und Gottfried Stohler – so erinnert sich seine Frau – musste abends ab und zu für Ruhe sorgen. Insgesamt schildert sie das Zusammenleben aber als friedlich. Im Gespräch mit der unterdessen verstorbenen Ilse Stohler ist deutlich geworden, weshalb sie für die Situation der Gastarbeiter ein besonderes Verständnis hatte. Ihre eigene Lebensgeschichte war von Migration geprägt und weist Parallelen auf zu den Lebensgeschichten der Emigranten aus Roccavivara. Deshalb sei sie hier in kurzen Ausschnitten beleuchtet. Ilse Stohler, Jahrgang 1929, ist in Schlesien, im heutigen Polen, in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Diese floh gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wie viele andere vor den russischen Truppen Richtung Westen. Nach einer langen, gefährlichen Flucht musste sie als 16-jähriges Mädchen die letzte Etappe ihrer Flucht in die amerikanische Besatzungszone ohne ihre Eltern antreten. Unterwegs mit ihrem älteren Cousin erfuhr sie, wie lebenswichtig es war, bei fremden Menschen Unterschlupf zu finden. Ilse Stohler schildert den Weg über die Grenze von der russischen zur amerikanischen Besatzungszone: «Dann sind wir gut über die Grenze gekommen, man musste zuerst einen bezahlen, der einen in die Nähe der Grenze bringt. Das war damals auch schon Trumpf. Und dann das letzte Stück musste man alleine gehen. Da hat er gesagt: Dort ist ein Bach, da müsst ihr im Dunkeln schauen, ob ihr eine Zigarette brennen seht oder was. Eben, da müsst ihr selber schauen. Und dann sind wir gut durchgekommen, dann waren wir drüben und sind im Wald gelaufen und so weiter. Und dann kamen wir in ein Städtchen und dort war ein Restaurant und da sind wir rein gegangen und haben gefragt, ob man da übernachten könne und so. Und dann hat der gesagt: ‹Ich darf euch nicht nehmen, bei uns ist alles mit amerikanischem Militär belegt und die, die kommen, werden alle abgefangen und müssen wieder zurück, weil das so nicht mehr weiter geht. Die kommen zu Tausenden. Und wenn ich Sie hier übernachten lasse, dann kommt das aus und sie nehmen mir die Lizenz weg zum Wirten.› 34 Einen_Platz_finden.indb 34-35 Und nachher hat er dann wahrscheinlich doch gedacht ... und hat gesagt: ‹Also, ich mach euch die Besenkammer auf und geb euch da ein paar Decken und rührt euch nicht. Wenn ihr etwas machen müsst, dort steht ein Eimer. Aber nicht rauskommen, weil bei mir verkehren immerzu amerikanische Soldaten.›» Trotz des Risikos, das Wirtepatent zu verlieren, versteckte sie der Wirt in der Besenkammer. Ohne seine Hilfe wäre die Flucht mit grosser Wahrscheinlichkeit missglückt. In den ausführlichen Schilderungen ihrer Flucht erzählt Ilse Stohler immer wieder von Momenten, in denen sie auf die Hilfe fremder Menschen zählen konnte. Ebenso hatte ihre eigene Familie anderen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt, als sie noch auf dem Bauernhof in Schlesien gelebt hatte. Ilse Stohler wusste demnach aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein und sich unter schwierigsten Bedingungen durchzuschlagen. Die Situation der Gastarbeiter aus Roccaivara lässt sich nicht mit der Bedrohung vergleichen, die Ilse Stohler während und nach dem Krieg erlebt hatte. Dennoch kannten sowohl die Rocchesi als auch sie das Gefühl, von zu Hause losziehen zu müssen, ohne zu wissen, was sie in der Fremde erwarten würde. Ilse Stohler hatte sich ähnlich wie die Emigranten aus Roccavivara in Pratteln fremd gefühlt und hatte später aufgrund ihrer Lebensgeschichte wohl ein Gespür für die Nöte dieser Menschen. Gewiss war es nicht so, dass sie und ihr Mann die Massenunterkunft aus reinem Mitgefühl vermieteten. Es spielten dabei auch wirtschaftliche Überlegungen mit, worauf Frau Stohler im Gespräch auch hinweist. Sie sagt, sie hätten damit nebst der Sattlerei ihres Mannes einen willkommenen Zusatzverdienst gehabt. Es seien auch für sie keine goldenen Zeiten gewesen. Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Ilse Stohler vermag jedoch aufzuzeigen, dass ihre eigene Migrationsgeschichte sie sensibel machte für die Situation der Gastarbeiter. auch nochmals so ‹möge›, weil (lacht laut) die bayrischen, die haben doch so schöne Hüte auf, verstehst du, und sind so ein wenig ... Da habe ich gedacht: ‹Lago mio.› Ich war hinten im Auto und habe gedacht: ‹nein, nein – nie!›» Gottfried Stohler in seiner Sattler-Werkstatt, Mitte der 80er Jahre. Ilse Stohler im Jahre 1972. 35 06.10.2010 10:21:25 Die Arbeit: «Si lavorava, si facevano i turni» Von Jennifer Degen Giulia Antenucci: «Avevo nostalgia della mia terra.» Fotos Seiten 36 bis 39: Arbeiten in der Verzinkerei Pratteln. Giulia Antenucci ist 1948 in Roccavivara geboren und im Dorf aufgewachsen. Sie gehörte schon zu jener Generation, der nach der Primarschule eine Ausbildung offen stand. Sie absolvierte eine Schneiderlehre und heiratete mit 21 Jahren Armando Minni, den sie seit der Kindheit in Roccavivara kannte. Armando war sieben Jahre zuvor in die Schweiz emigriert und nach der Heirat ging Giulia mit ihm nach Muttenz. 1970 und 1971 bekamen sie zwei Kinder und die junge Familie fand in Muttenz eine kleine Wohnung. 1974 zogen sie ins Prattler Längi-Quartier, das in den Jahren zuvor entstanden war. Der Wechsel von der familiären Gemeinschaft in Roccavivara nach Pratteln fiel Giulia Antenucci sehr schwer. Viel schwerer als ihrem Mann, wie sie im Gespräch mehrmals betont. Er war durch seine Arbeit bei der Firma Jauslin & Sohn in Muttenz gut vernetzt, lebte sich schnell ein und lernte gut Deutsch. Sie hingegen blieb mit den Kindern vorerst zu Hause und fühlte sich oft einsam. Sie sprach kaum Deutsch und lernte die Sprache erst ein wenig, als sie in der Teigwarenfabrik Dalang mit Schweizerinnen zusammenarbeitete. Auch durch den Schuleintritt der Kinder kam sie vermehrt mit Schweizern in Kontakt, so dass sie sich allmählich ein wenig heimischer fühlte. Dennoch hatte sie stets Sehnsucht nach der Heimat: «Avevo nostalgia della mia terra.» Giulia erzählt von schwierigen Momenten ihrer Migration, beispielsweise von der Wohnungssuche. Die Vermieter hätten sich gegenüber Italienern oft abweisend verhalten. Wenn sie sich für eine Wohnung bewarben, endete die Bewerbung meist dann, wenn die Vermieter von ihrer Nationalität erfuhren. «Poi ci dava fastidio quando tu andavi a cercare casa e ti dicevano ‹sei italiano? Sei straniero?› E allora ti dicevano ‹no, la casa non c‘è›. Questo anche era brutto, specialmente se il blocco era di una famiglia privata. Che se era di un‘agenzia, allora ... E allora quello ti dicevano ‹ti richiamo per la casa› e ti dicevano: ‹Sei straniero? Sei Italiano?› Dici ‹sì, allora ti farò sapere.› Però se telefonava lo Svizzero dopo, davano la casa allo Svizzero.» Mit dem Bau des Längiquartiers in Pratteln habe sich die Wohnsituation anfangs der Siebzigerjahre stark verbessert. Dort lebten Giulia und Armando mit ihren Kindern unter vielen anderen Italienern. Sie blieben dort, bis sie 1994 nach Roccavivara zurückkehrten. 36 Einen_Platz_finden.indb 36-37 Die Suche nach einem besseren Leben bedeutete für die Gastarbeiter die Suche nach Arbeit. In der Schweiz, und im Falle der Rocchesi insbesondere in Pratteln, war die Situation auf dem Arbeitsmarkt günstig. Obwohl viele Auswanderer nur über eine minimale Schulbildung verfügten – die meisten von ihnen konnten in Roccavivara nur die Primarschule besuchen – fanden sie in Pratteln und Umgebung leicht eine Arbeitsstelle. Ihre ersten Anstellungen hatten die Rocchesi in der Landwirtschaft. Wenig später wechselten sie wenn möglich in die Prattler Industriebetriebe, denn die Arbeit in der Fabrik war wesentlich besser bezahlt als die Arbeit in der Landwirtschaft. Im stark industrialisierten Pratteln gab es gleich mehrere Betriebe, die unentwegt Arbeitskräfte anwarben. Dazu zählten die Pneuherstellung bei Firestone, die chemische Fabrik Rohner AG, die Maschinenfabrik Buss AG, die Henkel-Fabrik oder auch die Waggonwerke Schindler. Darüber hinaus suchten auch kleinere Firmen nach Arbeitskräften, so zum Beispiel die Verzinkerei Pratteln, die heutige Galvaswiss AG. Zwischen ca. 1956 und 1965 fanden sehr viele Arbeiter aus Roccavivara in der Verzinkerei eine Stelle, so dass sie zum Anziehungspunkt für viele Neuankömmlinge wurde. Ähnlich wie im Stohler-Haus und auf dem Schmittiplatz trafen sie dort auf ihre Landsleute und konnten sich auch ohne Deutschkenntnisse einarbeiten und sich im Dialekt unterhalten. Die Gastarbeiter aus Roccavivara waren mehrheitlich in der Metallindustrie tätig und entsprachen damit nicht dem Bild vom Saisonnier auf dem Bau, das vielen Menschen noch heute präsent ist. Die Verzinkerei war ihr Hauptbetrieb, daneben arbeiteten sie auch in der Metallum AG, der Rohrbogen AG, der Firestone oder der Rohner AG. Ebenso waren einige Rocchesi in den Chemischen Werken Schweizerhalle tätig oder arbeiteten für die Flachdach-Firmen Tecton und Jauslin & Sohn in Muttenz. Verglichen mit den Tätigkeiten in ihrer Heimat bedeutete die Arbeit in Pratteln für die Rocchesi eine grosse Umstellung. In Roccavivara hatten sie auf dem Feld an der frischen Luft gearbeitet und konnten die Arbeit entsprechend ihrem eigenen Rhythmus gestalten. In Pratteln hingegen arbeiteten sie in geschlossenen, lärmigen Fabriken und wurden vom Schichtbetrieb diktiert. Cristofaro Gianico war von 1965 bis 1972 in der Verzinkerei angestellt und erinnert sich sehr genau an den Tagesablauf: Die erste Schicht begann um 6 Uhr «I saffa in Fabric und macca Stuc für Stuc» Zeile aus dem Lied «I bi e Italiano» aus dem LALIBU der 1960er Jahre. Cristofaro Gianico über die Arbeit in der Verzinkerei: «E lì si lavorava, si facevano i turni. Si cominciava alle sei la mattina , cioè … alle sei il primo turno, dalle sei alle due, dalle due alle dieci e dalle dieci alle sei la mattina.» 37 05.10.2010 19:08:37 Antonio Di Lisa und die schweizerische Präzision: «La precisione, io non volevo fare come dicono loro. Perché se questa ‹Wand› sta qui e io facevo così (will einen Gegenstand an die Wand anlehnen), dicevano ‹No! Stop! Nid! Ewäg drmit!› E io dico: ‹O sta qui, o sta qui› – dicono loro ‹Nei – do! Nid qua.› Prendo il martello, vado all‘officina a prendere il martello, o la tenaglia o i chiodi. Quando tu vai al magazzino a prendere una cosa, devi riportarlo indietro. Devi scrivere: tu prendi il trapano – Bohrmaschine – musst du unterschriibe, nochhär wenn du nid retour, du muesch bezahle.» morgens und dauerte bis 14 Uhr. Danach kamen die Arbeiter der zweiten Schicht, die bis 22 Uhr nachts arbeiteten, und zum Schluss kam die dritte Schicht. Sie dauerte von 22 Uhr bis 6 Uhr in der Früh. So lief die Produktion in der Verzinkerei Tag und Nacht auf Hochtouren. Die Arbeiter aus Roccavivara mussten sich nicht nur an den Schichtbetrieb gewöhnen, sondern auch an die Arbeitsweise. Antonio Di Lisa betont, die Schweizer Arbeitgeber hätten nach einer ihm zuvor unbekannten Präzision verlangt. Seine Vorgesetzten wiesen ihn zurecht, wenn er den Besen nach Gebrauch nicht an den exakt selben Ort zurückstellte. Oder sie verlangten, dass sich die Arbeiter in einer Liste einschrieben, wenn sie Werkzeuge aus dem Magazin holten. Antonio Di Lisa erzählt mit einem Lachen, er habe die ersten paar Tage unter den strengen Regeln gelitten. Die Schweizerische Präzision schien ihm allzu pingelig und er fühlte sich schikaniert. Allmählich gewöhnte er sich jedoch daran und spricht er heute lobend von der Schweizer Präzision und Pünktlichkeit. An ihren Arbeitsstellen in der Prattler Industrie verrichteten die Rocchesi anstrengende und ungesunde Arbeiten. Als ungelernte Arbeitskräfte gelangten sie meist nur an Stellen, die schweren körperlichen Einsatz erforderten. Pasquale Minni beispielsweise arbeitete in der Verzinkerei an den Säurebädern und musste die Eisenteile vor dem Verzinken von Hand in die Bäder heben. Die Eisenkonstruktionen waren schwer und es gab noch keine Kräne, welche die Arbeit erleichtert hätten. Zudem waren die Arbeiten nicht ungefährlich, wie die Schilderungen eines Schweizer Mitarbeiters zeigen. Leo Galliker, der in der Verzinkerei als Chauffeur angestellt war und die Produktion ebenfalls kannte, beschreibt die Arbeit an den Bädern als schmutzig und ungesund. Es sei beim Verzinken oft zu Unfällen gekommen: «Manchmal gab es einen Knall und das Rohr hat es verjagt. Das ist ein paar Mal vorgekommen, da gab es manchmal Unfälle. Das hat geklöpft und gespritzt und wenn so etwas passiert ist, dann hat es manchmal Leute getroffen. Zu dieser Zeit, vor 40 Jahren, hatten sie noch selten Schutzmasken oder so etwas (lacht), nicht einmal eine Brille.» Cristofaro Gianico, der über lange Jahre in der Verzinkerei gearbeitet hatte, ist besonders der Zinkofen als gefährlich und besonders heiss in Erinnerung geblieben. Rückblickend spricht er von Temperaturen von 2500 Grad, was bei einer tatsächlichen Ofentemperatur von 400 bis 500 Grad stark übertrieben ist. Seine Einschätzung zeigt jedoch, dass er die Arbeit als sehr unangenehm und gefährlich empfunden haben muss. Er hat noch heute Narben an Armen und Händen von den Verbrennungen an den Zinköfen. Eine weitere Schwierigkeit beim Verrichten der täglichen Arbeit war die Sprache. Doch für viele Eingewanderte stand 38 Einen_Platz_finden.indb 38-39 der Spracherwerb am Anfang nicht im Vordergrund, denn sie hatten nicht die Absicht, für längere Zeit in der Schweiz zu bleiben. Sie wollten lediglich genügend Geld verdienen, um möglichst bald zu ihren Familien in die Heimat zurückkehren zu können. So führt Mario Di Lisa aus, er habe gedacht, er brauche kein Deutsch zu lernen, weil er ja ohnehin im nächsten Jahr zurückgehe. Er blieb aber in der Region, bis heute. Im Verlauf der Jahre habe er dann gemerkt: «Erst wenn du die Sprache beherrschst, dann bist du ein Mensch.» Deutsch zu lernen erschien oft auch dort als unnötiger Aufwand, wo die Verständigung in der eigenen Sprache möglich war, nicht zuletzt auf dem Bau. Aber auch in der Verzinkerei konnten sich die Arbeiter mit minimalen Deutschkenntnissen durchschlagen. Die meisten Arbeiter waren italienischsprachig und erklärten sich die Arbeitsvorgänge gegenseitig. Bei komplizierteren Sachverhalten, wie beispielsweise dem Ausfüllen von Personalblättern, war die Personalchefin der Verzinkerei, Frau Mazzotta, zur Stelle. Sie sprach Italienisch und Deutsch und konnte übersetzen, wenn die Situation es verlangte. Pasquale Minni erwähnt sie im Gespräch als sehr wichtige Ansprechperson. Zusammen mit einem Verantwortlichen der Firma Schindler organisierte sie auch Deutsch- und Italienischkurse für die Belegschaften, um die gegenseitige Verständigung zu fördern. Die Kurse fanden je- doch nach Feierabend auf freiwilliger Basis statt, so dass sie aufgrund der ohnehin schon hohen Arbeitsbelastung sehr schlecht besucht waren. In einem Betrieb wie der Verzinkerei fanden sich die Rocchesi auch mit geringen Deutschkenntnissen zurecht. Sobald sie jedoch unter Deutschsprachigen arbeiteten, waren sie bald sehr isoliert, wie die Biografie von Anna AntenucciMinni zeigt. Sie war mit einer der ersten Einwanderergruppen 1957 in die Region Basel gekommen und hatte eine Anstellung bei einer Familie in Möhlin als Haushälterin gefunden. Sie konnte nur per Zeichensprache mit der Familie kommunizieren und lernte von den fünf Kindern im Alltag allmählich ein paar Worte Deutsch. Sie war jedoch weit davon entfernt, mit jemandem ein Gespräch führen zu können, und litt sehr stark unter ihrer sprachlichen Isolation. Sie fühlte sich derart einsam, dass sie nach ein paar Monaten erkrankte. Ihre Situation verbesserte sich erst, als sie die Stelle wechselte und in einem Restaurant in Magden arbeitete, in dem auch Italiener verkehrten. Jahre später lernte sie ein wenig Deutsch, als ihre Kinder in Muttenz zur Schule gingen und sie mit deutschsprachigen Müttern anderer Kinder in Kontakt kam. Für die Frauen war die sprachliche Situation besonders schwierig. Solange sie zu Hause die Kinder betreuten und selbst nicht berufstätig waren, war meist erst der Schulein- 39 05.10.2010 19:08:40 Armando Minni: Vom Hilfsarbeiter zum Bauleiter «Allora l’idraulico l’ho imparato là, i primi tre anni che sono stato là come – ripeto – ho fatto l’apprendistato. Cioè, durante quell’ apprendistato facevo Handlanger. E poi hanno visto che mi comportavo bene. Mi aiutavano a conoscere i disegni, cioè, mi hanno aiutato tanto, tanto, tanto proprio. E dopo tre anni e mezzo ho cominciato la mia strada da Bauleiter, pure io.» tritt der Kinder der Moment, in dem sie mit der deutschen Sprache in Kontakt kamen. Durch die eigenen Kinder und deren Schulkameraden lernten sie bruchstückhaft Deutsch. Die berufstätigen Männer hingegen waren meist stärker mit der deutschen Sprache konfrontiert, so dass sie – wenn auch lückenhaft – über bessere Deutschkenntnisse verfügten als ihre Frauen. Giulia Antenucci-Minni beispielweise, die ihrem Mann Armando Minni 1969 in die Schweiz folgte und hier die Kinder aufzog, war zu Beginn mehr oder weniger isoliert. Ihr Mann war an seinem Arbeitsort in der Firma Jauslin & Sohn von Schweizern umgeben, lernte von ihnen die nötigen Ausdrücke kennen, so dass sich sein Wortschatz allmählich erweiterte und er sich gut auf Deutsch verständigen konnte. Seine Deutschkenntnisse waren zudem die Voraussetzung dafür, dass er später in der Firma aufsteigen konnte, was ihm sehr viel bedeutete. Für die meisten Rocchesi hatte die Arbeit in der Emigration einen hohen Stellenwert. Durch gute Leistung fanden sie beim Arbeitgeber Anerkennung, bekamen mehr Verantwortung und konnten sich trotz fehlender Ausbildung in der Praxis Fachwissen aneignen. Dies ermöglichte den beruflichen Aufstieg, wie es das Beispiel von Armando Minni zeigt. 1962 kam er in die Schweiz und arbeitete zuerst als Fabrikarbeiter in der Teigwarenfabrik Dalang in Muttenz. Dann ging er für eine Weile nach Deutschland, bevor er 1966 bei Jauslin & Sohn Sanitärinstallationen in Muttenz eine Stelle als Handlanger antrat. Als Hilfskraft schaute er sich während dreier Jahre bei den Kollegen die Arbeitstechniken ab. Diese empfanden ihn als angenehmen Mitarbeiter und brachten ihm in einer Art inoffiziellen Lehre allmählich die nötigen Kenntnisse bei. Nach dreieinhalb Jahren hatte sich Armando Minni so gut eingearbeitet, dass er selbst zum Bauleiter aufsteigen konnte. Er erzählt mit grossem Stolz von seinem beruflichen Aufstieg und ist den Kollegen noch heute dankbar für die Unterstützung. Auf den Baustellen der Ciba-Geigy beispielsweise hätten die Ingenieure oft explizit nach ihm verlangt und ihm grossen Respekt entgegengebracht. Voller Genugtuung erzählt Armando Minni, wie sein Chef einen Grossauftrag nur dank ihm an Land ziehen konnte. Beim Neubau der Bank Sarasin in Basel habe der Auftraggeber zu Kurt Jauslin gesagt: «Te lo do se mi mandi Minni» – «ich gebe dir den Auftrag, wenn du mir Minni schickst.» Wie das Beispiel von Armando Minni deutlich macht, war die Arbeit in der Schweiz für die Rocchesi nicht nur eine Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Sie liess oft ein Band zu Mitarbeitern und Vorgesetzten entstehen und verhalf den Gastarbeitern zu Wertschätzung, zu einer gewissen Integration und manchmal auch zu sozialem Aufstieg. 40 Einen_Platz_finden.indb 40-41 Antonio Di Lisa: «Una nazione che funziona.» Antonio Di Lisa kam im Juni 1958 20-jährig in die Schweiz. Wie für die ersten Gastarbeiter aus Roccavivara üblich, trat er zuerst eine Stelle bei einem Bauern an, in Kaiseraugst. Nach sieben Monaten wechselte er auf den Bau in Rheinfelden und fand im Oktober 1959 dann eine Stelle in der Verzinkerei Pratteln. 1964 heiratete er in Roccavivara und verbrachte abwechslungsweise einige Zeit in der Heimat und in Pratteln. 1965 zog er definitiv nach Pratteln und hatte diverse Anstellungen bei der Metallum AG, der Firma Firestone und der Firma Brodtbeck. Von 1983 bis 2003 arbeitete er in der Rohrbogen-Fabrik. Antonio Di Lisa lebte die meiste Zeit ohne seine Frau in Pratteln. 1966 kam sie zwar zu ihm in die Schweiz, doch weil ihre Eltern krank waren und sie ein Kind erwartete, kehrte sie nach einem Jahr in die Heimat zurück. Er sagt, seine Vermieterin, Frau Siegrist, habe ihn damals gewarnt, ja keine anderen Frauen in die Wohnung mitzubringen. Sie habe jeden seiner Schritte mitbekommen und ein wachsames Auge auf ihn gehabt. Die Wohnung in ihrem Haus hatte er nur auf Empfehlung seines Arbeitgebers bekommen. Er erinnert sich, wie zwischen ihm und der Vermieterin allmählich ein freundschaftliches Verhältnis entstand. Wenn er beispielsweise Sauce für die Spaghetti kochte, sei sie manchmal in die Küche gekommen und habe in den Topf geschaut. Er solle doch ein paar Spaghetti mehr kochen, habe sie gesagt, sie möchte auch gerne mitessen. «Poi questa signora, dove abitavo io, Frau Siegrist, quando io cucinavo lei veniva nella cucina: ‹Oh, guet schmecke!› Veniva a vedere sulla pentola e diceva: ‹Oh, das isch guet.› E mi ha detto una volta: ‹Metti un po‘di maccaroni in più che mangiamo insieme.› Questa signora, lei è brava, he.» Wie die meisten Rocchesi hatte auch Antonio Di Lisa nicht die Absicht, für längere Zeit in Pratteln zu bleiben. Jedes Jahr, erzählt er lachend, sei er stets ein weiteres Jahr geblieben. Und so sind aus einem Jahr 40 Jahre geworden. Nach seiner Pensionierung kehrte er 2003 nach Roccavivara zurück. Es fiel ihm nicht leicht, sich in Italien wieder einzuleben. Er vermisst die schweizerische Präzision und Pünktlichkeit und betont im Gespräch mehrmals, die Schweiz sei für ihn ein einmaliges Land. Ein Land, das funktioniere. Er würde jederzeit zurückkehren: «Per me, la Svizzera è stata una cosa particolare, una nazione che funziona.» 41 05.10.2010 19:08:44 Traumland Italien – Traumland Schweiz ? Von Christine Ramseier Giannino Spaini präsentiert das «2. Festival Cantabimbi d‘Italia» in Pratteln 1969. Italien galt nördlich der Alpen schon lange als die Verkörperung des Südens und der damit assoziierten Romantik. «Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt und die bleiche Sichel des Mondes blinkt, ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, und sie legen in weitem Bogen die Netze aus ...» sang Rudi Schuricke 1949. Man träumte vom immerwährenden Sonnenschein über blauen Buchten und Sandstränden, schwärmte von singenden Gondolieri in den Kanälen Venedigs, von der kleinen Trattoria und dem Wein. Italien war ein Sehnsuchtsort. Sänger wie Vico Torriani, Peter Kraus, Roy Black, Al Bano Carrisi oder Paola liessen die Caprifischer mit immer neuen Interpretationen aufleben. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit machte es immer mehr Leuten möglich, diese Traumwelt wirklich aufzusuchen. In den 50er Jahren vergnügte sich in den Sommerferien jeweils eine ganze Kolonie von Prattlern an den Stränden von Rimini und Cesenatico. Auf dem Mercato genoss man das Markten um Ledertaschen und Gürtel oder um Schuhe und Hüte. Und zurück zu Hause legte man die mitgebrachte Single mit dem Sommerhit auf den Plattenteller. Rocco Granata sang sich mit «Marina, Marina ...» in die Schweizerherzen, 1958 Domenico Modugno mit «Nel blu dipinto di blu ...»,1968 war es Bobby Solo mit «Una lacrima sul viso ...». In den gleichen Jahren war aus diesem Traumland Italien die Einwanderung der Gastarbeiter nach Norden im Gange. Auch sie wurde besungen. 1962 vertrat Conny Froebess mit dem Lied «Zwei kleine Italiener ...» Deutschland erfolgreich am Concours Eurovision in Luxemburg. Dieser Schlager wurde auch in der Schweiz ein Hit. Darin singt Conny Froebess: «Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein,/doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein./Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli,/von Tina und Marina, die warten schon lang auf sie./Zwei kleine Italiener, die sind so allein./Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein,/doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein ...» Diese umgekehrte Perspektive, jene der emigrierten Italiener in einem mehr oder weniger gastfreundlichen Gastland schlug sich in den 1960er Jahren in der Schweiz auch im Lied «Italiano» nieder, das fast jedes Kind aus dem LALIBU, dem Lagerliederbuch der Schweiz kannte: «I bin en Italiano und spile guet Piano, i saffa in Fabric und macca Stuc für Stuc. O mia bella cara Margherita, wohne dir gerade visavia, bringe dir en cline Stendelio, oi cum e bisseli abe oder solli ufe co?» In denselben Jahren präsentierte der Kabarettist Alfred Rasser, der aufkommenden Fremdenfeindlichkeit gegenüber kritisch eingestellt, ein Lied, das einen traurigen Italiener zeigt, dem es nicht gelingt, in der Schweiz Fuss zu fassen und der vor seiner Rückreise steht: «Ciao, ciao Svizzera, addio bel Helvetia. Landeli in eini Pracht, wie von eini Gärtner gmacht. Industriee, Landwirtschaft – tutti quanti fabelhaft. Alles, alles perfetto. Numme eins nid: Popolo. Ciao, ciao Svizzera – muess i leider jetze go.» 42 Einen_Platz_finden.indb 42-43 Italianità in Pratteln Von Christine Ramseier In Pratteln hielten in den Jahren der Hochkonjunktur nicht nur Italiener und Italienerinnen Einzug, sondern auch ein immer spürbarer werdender Hauch von «Italianità». Und das nicht nur in den Ferienprospekten und Fotoalben, auf den Plattentellern, sondern zum Beispiel auch im Kino. So flimmerten im 1948 erbauten Kino Iris in Pratteln auch italienische Filme über die Leinwand. Sie erreichten das einheimische Publikum ebenso wie das italienische, liefen die Filme doch mit Untertiteln. Meisterhafte Regisseure wie Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino Visconti, Federico Fellini oder Vittorio De Sica erzählten in einer realistischen Bildsprache die berührenden Schicksale der kleinen Leute. Am durchschlagendsten war der Einbruch der Italianità aber wahrscheinlich im kulinarischen Bereich. Allmählich veränderte sich in den hiesigen Lebensmittelläden das Angebot an Lebensmitteln. Zwischen Tomaten und Bohnen entdeckte die Schweizerin Peperoni (wie kocht man die?), Zucchetti (das sind doch keine Gurken?) oder Melanzane. Spaghetti mit Sugo aus der Konservendose wurde ein schnelles Mittagessen. Statt Gruyère konnte man Parmigiano darüberreiben, neben dem Sonnenblumenöl stand nun auch Olivenöl im Gestell, es gesellte sich der Mozzarella zu den Tomaten: so erweiterte sich die Speisekarte stetig. Die ersten Pizzerien fassten Fuss, man konnte im Café nicht nur einen Espresso bestellen, sondern auch einen Cappuccino und plötzlich gabs als Dessert bei jeder Einladung Tiramisù. Und manche meinen augenzwinkernd, es gebe heute in Pratteln fast keine Beiz mehr, die keine Pizzeria ist. Centro Ricreativo Italiano Wie war es mit der Italianità der Einwanderer bestellt, wie konnten sie diese leben? Die Gastarbeiter wohnten meistens in Untermiete oder häufiger noch in Mehrbettzimmern ohne Privatsphäre. In der Freizeit trafen sie sich am Bahnhof oder auf dem Schmittiplatz. Dadurch fielen die jungen Männer auf und erweckten oft Unmut. «Sie standen am Bahnhof herum, sassen im Wartsaal und schwatzten, redeten halt laut und störten», erinnert sich Frau Luciana Spaini. Don Mario Slongo, der 1961 von der römischkatholischen Landeskirche Baselland als erster Seelsorger der Missione Cattolica Italiana eingesetzt wurde, gründete mit einer Gruppe Gastarbeiter den Verein Centro Ricreativo Italiano di Pratteln. Der Name war Programm. Unterstützt wurde der Verein von der Regionalgruppe für Gastarbeiter Pratteln-Augst, welcher Delegierte der ansässigen Industrie, wie Coop, Rohner, Schindler und Säurefabrik sowie der Gemeinde angehörten. Bereits 1962 konnte am Gallenweg auf einem Grundstück der Brauerei Ziegelhof das «Centro Ricreativo Italiano», ein Freizeitzentrum mit grossem Saal und Küche gebaut werden. «Das Centro erfüllte zwei Funktionen», erklärt Fritz Zimmermann, ehemaliges Mitglied der Regionalgruppe für Gastarbeiter und später in der Nachfolge von Giannino Spaini Präsident des Asilo. «Am Tag diente das Centro als Asilo für 50 bis 60 Kinder und am Abend ab 18.30 Uhr bis 23 Uhr und am Wochenende war es für die Erwachsenen geöffnet. Die Gäste konnten hier in vertrauter Gesellschaft ein Glas trinken, eine Pizza essen, diskutieren, Karten spielen.» Wöchentlich kamen da gut und gern 1000 Personen zusammen. Reinhard Urban fasst 1968 in der Heimatkunde Sonntage und Festtage: Sonntagsspaziergänge und das Festessen bei der Gründung der «Associazione Mamme» mit viel Dorfprominenz. 43 05.10.2010 19:08:51 «2. Festival Cantabimbi d‘Italia» in Pratteln 1969. Linolschnitt von Karollus zur Eröffnung der «Casa Evangelica Italiana» auf dem Schmittiplatz im Prattler Anzeiger vom 19. März 1965. Im Sonntagskleid an der Vereinshausstrasse. Osterfeier im Asilo 1996. von Pratteln zusammen, wie in gewissen Zeitabständen Filmvorführungen, Musik- und Gesangsabende stattfanden. Eine Theatergruppe von 40 Gastarbeitern führte in der Karwoche ein vielbeachtetes Passionsspiel auf. Monatlich wurden Bücher ausgestellt, welche die Leute kaufen konnten. Vor hohen Festtagen oder vor den Ferien besorgte ein Mitglied des Vorstandes die Reisefahrkarten und Platzreservationen, ein anderes Mitglied regelte im Büro für Sozialfürsorge des Centro anstehende Passfragen mit dem Konsulat. Fussballclub und Bocciaclub bewegten die Gastarbeiter zum Mitmachen und auch ein Briefmarkenklub war hier tätig. Mit Hilfe des Ausländerdienstes oder des Konsulates wurden Sprachkurse, Säuglingskurse oder auch etwa Nähkurse durchgeführt. Luciana Spaini zeigt auf ein Foto in ihrem Album: «Hier feiert die Associazione Mamme, der Mütterverein, im Centro ein Fest.» Frau Spaini hat den Verein gegründet und 30 Jahre präsidiert, mit dem Ziel, die Frauen mit der hiesigen Kultur und Geschichte vertraut zu machen. «Jedes Jahr sind wir an einen typischen Ort in der Schweiz gefahren, um an Ort und Stelle etwas über die Bedeutung des Ortes zu erfahren. Meistens hat das Essen die Frauen allerdings mehr interessiert. Sie damit zufrieden zu stellen, war aber auch nicht immer einfach, denn Pasta war nie richtig zubereitet und Kartoffeln mochte man nicht, so sind wir mit der Zeit bei Spätzli gelandet, Spätzli und Schnitzel. Oder wir haben in Basel und Umgebung Museen besucht.» Beim Weiterblättern fährt sie fort: «Den Versuch, Frauen, die nicht lesen und schreiben konnten, darin zu unterrichten, habe ich aufgeben müssen. Es war zu schwer, zu spät für diese Frauen.» Eine Doppelseite mit Fotos von einem Kinderfest öffnet sich. «Ja, das sind die Kinder des Asilo», begeistert sich Frau Spaini, «grosse Feste haben wir gefeiert, auch Cantabimbi, Gesangsfeste nach dem Vorbild von San Remo. Aber da haben Mütter hinter der Bühne Streit bekommen, mein Kind singt besser als deines und so, dann haben wir das nicht mehr gemacht.» Dieser Einblick in die Tätigkeiten im Centro zeigt, dass hier viele Verbindungen geknüpft wurden, man hat zusammen gefeiert und sich gegenseitig bei der Bewältigung von anfallenden Problemen geholfen. Auch die Arbeit der jeweiligen Padri der Missione Cattolica wirkte stabilisierend auf die bunt gemischte Gemeinschaft der Gastarbeiter. Fritz Zimmermann sagt: «Als Spanier und Portugiesen einzuwandern begannen, stand das Centro auch ihnen offen. Es wurde über Pratteln hinaus von der ganzen Region frequentiert. Nach einem Brand anfangs der 1990er Jahre wurde das Centro wieder aufgebaut. Die Gruppe der Benützer wurde jedoch immer kleiner, so dass das Centro Ricreativo Italiano als Institution aufgelöst und das Gebäude 1993 an die Brauerei Ziegelhof abgegeben wurde.» 44 Einen_Platz_finden.indb 44-45 Casa Evangelica Italiana Auch die evangelischen Gastarbeiter suchten einen Versammlungsraum. Es bildete sich der «Gruppo Evangelico Italiano di Pratteln», der 1965 von der Gemeinde eine Wohnbaracke hinter der alten Schule am Schmittiplatz erhielt. Sie wurde zur «Casa Evangelica Italiana» umgebaut. Auch hier erfuhr die Gemeinschaft die Hilfe der Behörden, der kirchlichen Instanzen, der Industrie und privater Personen. Jeden Abend lief nun ein Clubbetrieb, an den Wochenenden waren die Räume überfüllt. Man spielte Karten, konnte Fernsehen, sogar eine Bibliothek mit ca. 300 Büchern stand zur Verfügung. Für Deutschschweizer wurden Italienischkurse und für Italiener Deutschkurse angeboten, Anlässe mit Musik und Theater wurden durchgeführt. Den Kontakt zwischen der ref. Kirchgemeinde Pratteln-Augst zu den Benützern der Casa Evangelica hielt Pfr. Rudolf Hardmeier, in Verbindung mit Pfr. Liborio Naso von der Basler Waldensergemeinde, später auch mit Paulo Decaro von der Schweizerischen Bibelgesellschaft. Durch den regelmässigen Kontakt mit den Benützern konnten diese Seelsorger wertvolle soziale Hilfe leisten. Zwischen der Casa Evangelica und dem katholischen Centro Ricreativo bestanden aber kaum Kontakte. Asilo Ein riesiges Problem war die Kinderbetreuung beim Familiennachzug, denn viele Frauen arbeiteten ebenfalls ausser Haus. Von Anfang an wurde deshalb im Centro ein «Asilo» für Kinder betrieben. Aber auch die Politik spielte bisweilen hinein. Als die kommunistische Colonia Libera versuchte, die Leitung an sich zu reissen, wurde das Asilo der römisch-katholischen Kirchgemeinde unterstellt. Die römische Kurie schickte drei bis vier Ordensschwestern, die von 6 bis 18 Uhr bis zu 60 Kinder vom Kleinkind bis ins Primarschulalter betreuten. Frau Spaini schildert: «Der Arbeitstag der Schwestern begann aber schon um 5 Uhr, denn zuerst mussten sie den Saal putzen, vieles wurde am Abend liegen gelassen, und erst die Toiletten ...! Die Luft im Saal war am Morgen dick zum Abschneiden vom Zigarren- und Zigarettenrauch. Die kleineren Kinder hielten den Mittagsschlaf auf der Bühne. Dieser Zustand war unhaltbar.» Der Nachfolger von Don Slongo, Padre Pinto, drängte auf eine Lösung. Unter Gemeindepräsident Walter Kohler schenkte die Gemeinde dem Asilo einen Schulpavillon aus der Längi und Giannino und Luciana Spaini stellten ihr privates Bauland an der Mayenfelserstrasse zur Verfügung und bauten dort den Pavillon auf. Später erhielten sie als Austausch von der Gemeinde ein Grundstück mit einer Liegenschaft an der Wartenbergstrasse, in der die Ordensschwestern wohnen konnten. Fritz Zimmermann: «Das Asilo blieb chronisch überbelegt, die Schwestern arbeiteten immer noch 12 Stunden am Tag und auch am Wochenende waren sie beschäftigt, zu einem Lohn von 200 bis 300 Franken. Sie haben Ungeheures geleistet und haben die Arbeit trotzdem gerne gemacht.» Turbulente Zeiten haben das Asilo umgekrempelt. Heute wird in den gleichen Räumlichkeiten das Kindertagesheim «Rotchäppli» mit neuen Strukturen geführt. 45 05.10.2010 19:08:59 Die Fussballmannschaft U.S. Molisana von Jennifer Degen Circhetta Nach den Pionierjahren kamen um 1970 allmählich die Söhne und jüngeren Brüder der ersten Arbeiter aus Roccavivara nach Pratteln. Nach dem Schulabschluss in Italien wollten auch sie in Pratteln ihr erstes Geld verdienen. Für sie gestaltete sich die Emigration schon ein wenig einfacher. Sie fanden in Pratteln ein soziales Netzwerk an Bekannten und Verwandten aus dem Dorf vor und konnten sich dank deren Erfahrungen einfacher an die schweizerische Lebensweise gewöhnen. Aber auch sie fühlten sich oft fremd, denn sie sprachen kein Deutsch und konnten mit anderen Jungen aus Pratteln kaum Kontakte knüpfen. Zudem waren sie in einem kleinen, ländlichen Bergdorf aufgewachsen und mussten sich erst an das Leben in der wachsenden Industriegemeinde gewöhnen. Die jungen Rocchesi bildeten einen engen sozialen Kreis. Ähnlich wie einst ihre Väter trafen auch sie sich regelmässig und verbrachten die freie Zeit vor allem mit Fussballspielen. In ihrer Heimat war der Fussball die Freizeitbeschäftigung schlechthin – die kleine Gemeinde Roccavivara hatte in den 1960er und 70er Jahren sogar zwei eigenständige Fussballmannschaften. In Pratteln blieben die jungen Rocchesi ihrer Leidenschaft treu und spielten zu Beginn der 1970er Jahre zunächst in lockerer, unorganisierter Form auf dem Sportplatz Hexmatt in Pratteln oder im deutschen Inzlingen nahe der Schweizer Grenze. 1973 entstand aus dem plauschhaften «Tschüttele» unter Freunden ein eigener Fussballverein: Die jungen Rocchesi gründeten – mit Bezug auf ihre Herkunftsregion Molise – die Fussballmannschaft U.S. Molisana und spielten als Untersektion des Vereins «Internazionale» in der regionalen Meisterschaft mit. Die U.S. Molisana bestand in den 46 47 Anfangsjahren fast ausschliesslich aus jungen Männern aus dem Dorf. Es erfüllte sie mit Stolz, als Vertreter ihrer Region, ja ihres Heimatdorfes, auf dem Fussballplatz aufzulaufen und in der regionalen Meisterschaft mitzuspielen. Es kam für sie nicht in Frage, sich in eine der bestehenden italienischen Mannschaften wie Bottecchia oder Rossoneri einzugliedern. Sie wollten vielmehr eine eigene Mannschaft stellen. Gründungsmitglied Mario Di Lisa erinnert sich: «Diese italienischen Vereine waren überfüllt. Zu der Zeit sind so viele Leute gekommen. Und dann haben wir damals angefangen – wir wollten für uns sein, nur die aus Roccavivara. Nicht, weil wir die anderen nicht wollten, aber es waren genug Junge da. Verwandte, Cousins und diese und jene.» Die Fussballmannschaft vereinte die jungen Rocchesi und war für sie «ein Grund mehr zum Zusammensein», um es in den Worten von Mario Di Lisa zu sagen. Die Emigranten der zweiten Generation beurteilen die U.S. Molisana als wichtigen Fixpunkt ihrer Emigration. So wie der Schmittiplatz oder das Stohler-Haus die erste Generation vereint hatte, vermittelte die U.S. Molisana den jungen Rocchesi ein Gefühl von Heimat. Die Mannschaftsmitglieder trafen sich auf der Prattler Hexmatt zwei bis viermal wöchentlich zum Training und begannen nach einigen Jahren, auch eigene Turniere zu organisieren. Ab dem Jahre 1983 veranstalteten sie jährlich ein grosses Turnier auf der Hexmatt, welches der feierliche Höhepunkt des Fussballjahres war. Die erhaltenen Turnierhefte dokumentieren ein- bis zweitägige Fussballturniere, an denen bis zu 24 Mannschaften aus der Region teilnahmen. Schiedsrichter Claudio Circhetta im Einsatz in der «Axpo Super League». Dabei traten sowohl Schweizer Mannschaften als auch italienische Mannschaften gegeneinander an. Die Turniere waren nebst dem sportlichen auch ein gesellschaftliches Ereignis. An den Abenden fanden Lottospiele und Tanzvorführungen der Trachtengruppe «La Gioconda» statt, in der Frauen aus Roccavivara mittanzten. Die Feste besuchten Angehörige, Freunde, Mitglieder anderer italienischer Fussballvereine und mit den Jahren auch Schweizer Bekannte. Mario Di Lisa erinnert sich an ein Turnier in den 1980er Jahren, das innerhalb von drei Tagen 7500 Besucher zählte und an dem rund 100 Helfer mitwirkten. Die U.S. Molisana half den jungen Rocchesi, sich in der Schweiz wohl zu fühlen und sich über den Fussball mit Schweizern und anderen Zuwanderern zu vernetzen. Dies zeigte sich auch an der Zusammensetzung der Mannschaft: Sie entwickelte sich von einem geschlossenen Kreis von Rocchesi zu einer multikulturellen Truppe. In der U.S. Molisana spielten Schweizer und Italiener zusammen, und auch spätere Einwanderer aus Afrika und dem Balkan. Die Begeisterung für den Fussball schuf den Boden dafür, dass sich sowohl Italiener und Schweizer, wie auch andere Migrationsgruppen begegneten – zuerst auf dem Fussballplatz, und allmählich darüber hinaus. Auch der FIFA-Schiedsrichter Claudio Circhetta aus Muttenz spielte in den 1980er Jahren in der U.S. Molisana mit. Er erinnert sich an eine multikulturelle Mannschaft: «Das war bunt durchmischt. Da waren Schweizer, Chilenen, Italiener ..., also wirklich Mutikulti. Das war das Schö- ne: In einer italienischen Mannschaft dabei zu sein, wo Multikulti dabei war, aber alle haben sich integriert gefühlt. Wir hatten auch Albaner, das war auch ein Schritt zur Integration – es war wirklich toll.» Claudio Circhetta hat in der U.S. Molisana einen aussergewöhnlich starken Zusammenhalt erlebt. Er sagt, er habe auch in anderen italienischen Mannschaften der Region gespielt, aber eine derart familiäre Atmosphäre habe er nur in der U.S. Molisana gefunden. «Der Unterschied zu normalen Vereinen war wirklich der Zusammenhalt, das Familiäre. Man ist wirklich nach jedem Training am Donnerstag oder Freitag anschliessend ins Clubhaus gegangen, hat zusammen gegessen, und ist von dort aus gemeinsam ausgegangen. An die Spiele kamen auch alle zuschauen, sie brachten ihre Familien, und man hatte auch an den Wochenenden den Kontakt zu den Familien, zu den Eltern. Es waren wirklich super Jahre.» Er erinnert sich sehr gerne an die Jahre mit der U.S. Molisana und sagt, durch ein Mitglied dieser Mannschaft sei er auch zur Schiedsrichterei gekommen. Sein Bekannter Tonino Minni aus Roccavivara war selbst Schiedsrichter der U.S. Molisana und holte ihn in den 1980er Jahren in die Mannschaft. «Tonino Minni war offizieller Schiedsrichter und hat als Schiedsrichter der U.S. Molisana gezählt. Ich bin mit ihm auf den Fussballplatz mitgegangen, am Morgen, und habe geschaut wie er das macht. Das hat mich damals so fasziniert, und so bin ich eigentlich Schiedsrichter geworden.» 48 Einen_Platz_finden.indb 48-49 Interview-Quellen Allen Interviewpartnern und Intervierpartnerinnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt für die Bereitschaft, Auskunft zu geben, und für die Unterstützung dieses Ausstellungs- und Katalog-Projekts! Anna Antenucci-Minni, geführt von Jennifer Degen am 25. Februar 2009 in Muttenz. Mario Antenucci, geführt am 22. Dezember 2008 in Sisseln. Angelo Berardini und Ennio Marra, geführt von Jennifer Degen am 5. November 2009 in Pratteln. Domenico Berardini, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara. Vittoria und Christina Ceccon, geführt von Jennifer Degen am 11. Dezember 2008 in Pratteln. Claudio Circhetta, geführt von Jennifer Degen am 27. Juli 2010 in Muttenz. Nicola Di Blasio, geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara. Antonio Di Lisa, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara. Mario Di Lisa, geführt von Jennifer Degen am 17. November 2008 in Basel. Enzo Ferrara, geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara. Leo Galliker, geführt von Jennifer Degen am 15. Januar 2009 in Pratteln. Cristofaro Gianico , geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara. Armando Minni & Giulia Antenucci, geführt von Jennifer Degen am 7. Dezember 2008 in Roccavivara. Pasquale Minni, geführt von Jennifer Degen am 7. Dezember 2008 in Roccavivara. Paolo Puccetti geführt von Christine Ramseier am 19. August 2010 in Pratteln. Vincenzo Rossi, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara. Luciana Spaini, geführt von Christine Ramseier am 17. Mai 2010 in Pratteln. Ilse Stohler, geführt vom Jennifer Degen am 27. November und 27. Dezember 2008 in Pratteln. Fritz Zimmermann, geführt von Christine Ramseier am 27. Mai 2010 in Pratteln. Weitere Quellen Auer, Felix: Die ausländischen Arbeitnehmer, ihre volkswirtschaftliche Bedeutung und die Aufgabe der Kirche, Auszug aus dem Protokoll der Synode der Ev.-ref. Kirche Basel-Landschaft vom 17.1.1963, Separatdruck. Basler Woche, Nr. 41, 8.10.1971: Schindler Waggon AG, Pratteln. Dossier «Italiener-Betreuung», im Archiv der Ev.-ref. Kirchgemeinde Pratteln-Augst. Diverse Zeitungsausschnitte aus den Jahren 1946–1951, in: Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel: Magazin SWA Sign. H+I Bg 65: Schindler AG – Pratteln/Luzern. Dokumentensammlung. Zeitungsausschnitte). LALIBU. Lagerliederbuch, Reformierte Jugend Baselland, Liestal 1960er Jahre. Nebelspalter, Schweizerische humoristisch-satirische Wochenschrift, div. Jahrgänge. Prattler Anzeiger, div. Jahrgänge. Rasser, Alfred: Buona sera, in: 30 Jahre Alfred Rasser, (Langspielplatte, ex libris1964). Literatur Ballmer, Adolf: Die gewerbliche und industrielle Gütererzeugung im Wandel der Zeiten, in: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Kantons Basel-Landschaft, Basellandschaftliche Kantonalbank (Hrsg.), Liestal 1964, S. 89-240. Brassel-Moser, Ruedi: Pratteln im Spiegel kantonaler und eidgenössischer Abstimmungen, Heimatkunde Pratteln, Liestal 2003, S. 262-269. Braun, Rudolf: Sozio-kulturelle Probleme der Eingliederung italienischer Arbeitskräfte in der Schweiz, Zürich 1970. Buomberger, Thomas: Kampf gegen unerwünschte Fremde. Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich 2004. Casagrande, Giovanni; Halter, Ernst: Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz, Zürich 2003. Cerutti, Mauro: La politique migratoire de la Suisse 1945-1970, in: Cattacin, Sandro; Mahnig, Hans (Hrsg.): Histoire de la politique de migration, d’asile et d’intégration en Suisse depuis 1948, Zürich 2005, S. 89-134. Degen, Jennifer: Die Gastarbeiter aus Roccavivara in Pratteln, Lizentiatsarbeit am Historischen Seminar der Universität Basel, Basel 2009. Gees, Thomas: Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik, 1947-1974, Zürich 2006. Hardmeier, Rudolf, Die Fremdarbeiter, in: A. Leupin, Heimatkunde von Pratteln, Liestal 1968, S. 76f. Haug, Werner: «...und es kamen Menschen», Ausländerpolitik und Fremdarbeit in der Schweiz 1914-1980, Basel 1980. Heimatkunde Pratteln 2003, Hrsg. E. Honegger, F. Knöpfel et al., Liestal 2003. 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Senn, Tobias: Migrationspolitik der Baselbieter Regierung um 1970 – im Geist der Selbständigkeit unter vollzugsföderalistischen Zwängen: Schweizer Migrationspolitik im föderalistischen Spannungsfeld von Bund und Kantonen: das Fallbeispiel Kanton Basel-Landschaft 1970, in: Baselbieter Heimatblätter 1971, 2006, S. 129-160. 49 05.10.2010 19:09:45 Bildnachweise Mario Antenucci, Sisseln: S. 32 oben 2.v.r., 35, 46 Astrid und Hans Brügger, Muttenz: S.15 Jennifer Degen, Basel: S. 4 oben, 13, 14 Antonio Di Lisa, Roccavivara: S. 32 oben ganz links, 32 links Mitte, 32 unten rechts Maurizio Di Lisa, Möhlin: Titelseite, S. 3, 8, 37, 43, 45 Mitte, 46 Heimatkunde Pratteln 1968: S. 36 Felix Jehle, Ettingen: S. 4 unten Maria Marini, Pratteln: S. 39 Muttenzer Anzeiger: S. 40 Nebelspalter: S. 18, 19, 25 Prattler Anzeiger: S. 45 oben, 51 oben rechts Paolo Puccetti, Pratteln: S. 16, 17, 24, 43 oben reftools gmbh, Dürnten: S. 48 Ines Salomone, Vada (Li): S. 11, 32 oben 2. v. l., 38, 41 Luciana Spaini, Pratteln: S. 26, 27, 42, 43 unten, 44, 45 unten Staatsarchiv Basel-Stadt: S. 12, 20, 21 Giuseppe Tufilli, Vada (Li): S. 10, 32 oben rechts, 32 unten links, 34 Brigitte Wuhrmann-Stohler, Pratteln: S. 28, 30, 31 Autorinnen und Autoren Ruedi Brassel-Moser, 1955, Dr. phil., Historiker, Landrat BL und Gemeinderat Pratteln, wohnt in Pratteln. Monica De Vito Di Lisa, 1973, B.A., Historikerin, Leiterin Stabsdienste Gemeinde Arlesheim, wohnt in Möhlin. Domenico Di Lisa, 1955, lic. phil. in Geologie, Dozent am Liceo Scientifico (Campobasso) und Sindaco von Roccavivara, wohnt in Roccavivara. Jennifer Degen, 1982, lic. phiI., Historikerin und Journalistin, wohnt in Basel. Christine Ramseier, 1945, pens. Lehrerin, Kuratorin des Museums im Bürgerhaus Pratteln, wohnt in Pratteln. Tobias Senn, 1974, lic. phil., Historiker und Lehrer am Gymnasium Oberwil, wohnt in Basel. Dank Unser Dank geht zunächst an alle, die uns in Interviews Auskunft gegeben haben. Ihre Namen finden sich im Verzeichnis der Interview-Quellen. Ausserdem sind wir den folgenden Personen und Institutionen für ihre Unterstützung des Ausstellungs- und Katalog-Projekts zu grossem Dank verpflichtet: Franco Antenucci, Roccavivara Claudio Circhetta, Muttenz Nicoletta Di Blasio und Familie, Roccavivara Domenico Di Lisa, sindaco di Roccavivara Maurizio Di Lisa, Möhlin Enzo Ferrara, Roccavivara Galvaswiss AG, Pratteln Fredy Heller, Basel Stephan Musfeld, Pantheon Muttenz Roberto Portone, Pratteln Jürg Seiberth, Edition Text und Media, Arlesheim Helga Seiberth, Arlesheim Thomas Schneider, Schneider Electronic, Pratteln Beat Stingelin, Gemeindepräsident von Pratteln Ursula Wälti, Gemeinde Pratteln Andrea Stohler, Gemeinde Pratteln Ilse Stohler † und Brigitte Wuhrmann-Stohler, Pratteln Gemeinde Pratteln und Commune di Roccavivara 50 Einen_Platz_finden.indb 50-51 05.10.2010 19:09:54 www.textundmedia.ch Edition Text und Media, Arlesheim 2010 ISBN 978-3-9521984-6-9 Einen_Platz_finden.indb 52 05.10.2010 19:09:58