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Einen Platz finden
Migrationsgeschichten zwischen
Roccavivara und Pratteln
Herausgegeben von Ruedi Brassel-Moser und Jennifer Degen
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05.10.2010 19:07:06
Einen Platz finden
Migrationsgeschichten zwischen Roccavivara und Pratteln
Herausgegeben von Ruedi Brassel-Moser und Jennifer Degen
Texte und Materialien zur Ausstellung «Einen Platz finden»
im Museum im Bürgerhaus, Pratteln, 22. Oktober – 19. Dezember 2010
Edition Text und Media
www.textundmedia.ch
Impressum
Herausgegeben von
Ruedi Brassel-Moser
und Jennifer Degen
Autorinnen und Autoren
Jennifer Degen
Ruedi Brassel-Moser
Monica De Vito Di Lisa
Domenico Di Lisa
Christine Ramseier
Tobias Senn
Kuratorium der Ausstellung «Einen Platz finden» Christine Ramseier
Patronat Verein Kultur Pratteln
Layout und Gestaltung
Jürg Seiberth, www.seiberth.ch
Druck
Druckerei Bloch AG, Arlesheim
Vertriebwww.textundmedia.ch
© Für die einzelnen Beiträge und für die Fotos bei den AutorInnen und den FotografInnen
© Für die Zusammenstellung: Edition Text und Media
Edition Text und Media, Arlesheim 2010
ISBN 978-3-9521984-6-9
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05.10.2010 19:07:08
Inhalt
Grussworte6
Lettera del sindaco
7
Einen Platz finden, Vorwort
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Andata e ritorno: von Roccavivara nach Pratteln
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Hochkonjunktur der italienischen Einwanderung in die Schweiz
19
Die italienische Einwanderung in Pratteln
25
Einwanderung um 1900: die Familie Spaini 26
«La casa di Stohler» – das Stohler-Haus
28
Der Schmittiplatz: «Piazza Roccavivara»
33
Die Arbeit: «Si lavorava, si facevano i turni»
37
Italianità in Pratteln
43
Die Fussballmannschaft U.S. Molisana
47
Quellen- und Literaturverzeichnis
49
Bildnachweis, Autorenverzeichnis
50
Dank51
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Grussworte
In Pratteln haben viele Einwanderer einen Platz gefunden,
aus aller Herren Länder. Heute leben Menschen aus mehr
als 90 Nationen in unserer Gemeinde. Roccavivara ist also
bloss einer der vielen Herkunftsorte. Trotzdem haben die
Beziehungen zwischen Roccavivara und Pratteln über die
Jahre hinweg einen besonderen Stellenwert erhalten. Seit
mehr als einem halben Jahrhundert haben sie Bestand.
Bemerkenswert ist, dass sie sich über die Kontakte zwischen den ausgewanderten und den in Rocccavivara gebliebenen Menschen hinaus ausgeweitet haben. So sind in den
letzten Jahren auch auf der offiziellen, behördlichen Ebene
Verbindungen entstanden, zwischendurch etwas weniger,
dann wieder intensiver. Die Beziehungen zwischen Roccavivara und Pratteln sind also nicht ganz einzigartig. Aber sie
sind doch so ungewöhnlich, dass sie die Aufmerksamkeit
verdienen, die ihnen durch die Ausstellung «Einen Platz finden» und durch die vorliegende Begleitpublikation nun zukommen. Denn sie zeigen: Integration kann glücken – eine
Erfahrung, die für Pratteln besonders wertvoll ist.
Beat Stingelin, Gemeindepräsident von Pratteln
Lettera del sindaco
Der Entscheid, eine Ausstellung über die Migration der Rocchesi einzurichten, stärkt die Beziehung, die durch den interkulturellen Austausch zwischen den Gemeinden Pratteln
und Roccavivara entstanden ist. Möge sich diese Beziehung
zu einer dauernden Gemeinschaft festigen. Im Namen der
gesamten Gemeindeverwaltung und aller EinwohnerInnen
von Roccavivara möchte ich der Gemeinde Pratteln meinen
aufrichtigen Dank ausdrücken. Mit der Ausstellung wird den
Rocchesi und ihrem Beitrag für die Gemeinde Pratteln eine
bedeutende Anerkennung gezollt. Pratteln zeigt sich als
Gemeinde, die sich diesem Teil unserer Geschichte öffnen
konnte, unsere MitbürgerInnen aufnahm und integrierte.
Als Gemeinde, der das Zusammenleben unterschiedlicher
Gemeinschaften gelungen ist, während anderswo die ungleiche Herkunft, Religion, Sprache, Traditionen oder Kultur
aufstossen oder gar fremdenfeindliche Haltungen aufkommen. Ein aufrichtiger Dank gebührt unseren ausgewanderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern, in Pratteln oder
anderswo, die dank ihren Verzichten, ihrem Arbeitsfleiss,
ihrem Einsatz, ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Ehrlichkeit,
das Vertrauen und die Achtung der Gastgemeinde gewinnen konnten und dadurch der Gemeinde Roccavivara und
letztlich auch unserer Heimat alle Ehre erwiesen haben.
La città di Pratteln è stata per tanti emigranti il posto per
un futuro migliore – emigranti di tutto il mondo. Oggi, nella
nostra città, vivono persone provenienti da oltre 90 nationalità diverse. Quindi Roccavivara è solo un ulteriore paese
di partenza. Ciononostante, in tutti questi anni, il rapporto
tra il comune di Roccavivara e la città di Pratteln é evoluto
in modo significativo e per ben più di mezzo secolo.
Notevole è sicuramente che questo legane si sia esteso,
oltre ai rapporti tra i rocchesi emigrati e non, anche alle
autorità. Talvolta meno, talvolta più. Il legane tra il comune
di Roccavivara e la città di Pratteln non è proprio singolare. Ma il legane è tanto insolito, da meritarsi l’attenzione
ottenuta grazie alla mostra «Einen Platz finden» nonché
dal catalogo della mostra qui presente che testimonia:
L‘ integrazione può riuscire – un‘ esperienza particolarmente preziosa per la città di Pratteln.
Beat Stingelin, sindaco di Pratteln
La decisione di allestire una mostra sulla emigrazione
rocchese rafforza il legame creatosi con gli scambi interculturali tra il comune di Pratteln e quello di Roccavivara.
L’auspicio è che questo rapporto si consolidi e diventi sempre più legame tra comunità. A nome dell’amministrazione
comunale e dell’intera cittadinanza di Roccavivara esprimo
un sincero sentimento di gratitudine e di ringraziamento per
il comune di Pratteln che, con la mostra, ha voluto tributare un importante riconoscimento al ruolo ed alla funzione
svolta dai rocchesi emigrati in questa città. Una città che
ha saputo aprirsi, accogliere ed integrare i nostri concittadini. Che riesce a far convivere le numerose comunità che
ospita, diverse per origini, religione, lingua, tradizioni, cultura, mentre altrove emergono o riemergono rigurgiti ed
atteggiamenti xenofobi. Un sincero ringraziamento rivolgo
a tutti i nostri concittadini emigrati a Pratteln ed in ogni
angolo del mondo, che con i loro sacrifici, la loro laboriosità, impegno, serietà, onestà, hanno saputo conquistarsi la
fiducia e la stima delle comunità ospitanti, facendo onore a
Roccavivara e all’Italia.
Domenico Di Lisa, sindaco di Roccavivara
Domenico Di Lisa, Gemeindepräsident von Roccavivara
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Einen Platz finden
Vorwort von Ruedi Brassel-Moser
Wer in die Fremde zieht, tut es meist nicht aus freien Stücken. Er sucht sich einen anderen Ort, weil in der Heimat
ein Auskommen nicht mehr möglich scheint. Wer auszieht,
um anderswo seinen Unterhalt und sein Glück zu suchen,
mag nicht viel zu verlieren haben. Aber er lässt vieles zurück: Familie, Freunde, vertraute Plätze und den gewohnten
Lebensrhythmus.
Vertrieben von einer kargen, dürftigen, aber vertrauten
Welt, getrieben vom Wunsch, für die Ihren, die Zurückgebliebenen und für sich selber eine bessere Zukunft zu erarbeiten, kommen die Ausgewanderten am neuen Ort an. Was
aber finden sie dort vor? Wo und wie finden sie einen Platz
zum Wohnen, Arbeiten und zum Leben? Machen sie diesen
Platz jemandem streitig? Wie reagiert die neue Umwelt auf
sie?
Diesen Fragen gehen sowohl die Ausstellung «Einen Platz
finden» im Bürgermuseum in Pratteln, als auch die vorliegende Begleitpublikation nach. Im Zentrum stehen das Dorf
Roccavivara in der süditalienischen Provinz Campobasso
und die Gemeinde Pratteln im Kanton Baselland. In den Focus rücken die Menschen in diesen beiden Gemeinden und
die gegenseitigen Beziehungen, seit sich Mitte der 1950er
Jahre die ersten Migranten aus Roccavivara in Pratteln niedergelassen haben. Aus dem kleinen süditalienischen Dorf
sind seither über 300 Personen nach Pratteln oder in die
nähere Umgebung eingewandert. Sie haben die Bindung
zu ihrer Herkunft bewahrt, haben aber auch in der Emigration Wurzeln geschlagen und sind doch teilweise nach ihrem Arbeitsleben wieder in die alte Heimat zurückgekehrt.
Das Bild des jungen Knaben in mediterranem Ambiente
vor dem «Cinquecento» mit dem BL-Kennzeichen und dem
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überdimensioniert erscheinenden Koffer auf dem Dach versinnbildlicht dieses Pendeln zwischen zwei Gemeinden und
zwei Welten.
Die engen Verbindungen zwischen Roccavivara und Pratteln, die daraus entstanden sind, haben Anlass gegeben,
diese beiden Gemeinden – exemplarisch für die Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert zwischen der Schweiz und Italien
– genauer zu untersuchen und in die Migrationsgeschichten
zwischen Roccavivara und Pratteln hineinzuschauen. Dabei
tun sich über diese Gemeinden hinaus zeittypische, aber
auch überraschende Perspektiven auf gesellschaftliche Verhältnisse und persönliche Lebensgeschichten auf.
Ans Tageslicht gebracht hat dieses oft verdrängte Stück
Sozialgeschichte die Historikerin Jennifer Degen. In ihrer
2009 abgeschlossenen Lizentiatsarbeit an der Universität
Basel hat sie dazu nicht einfach bloss trockene Daten und
Zahlen zusammengetragen. In vielen Interviews mit Emigrantinnen und Emigranten aus Roccavivara hat sie sich
vielmehr darum bemüht, den Innenansichten dieser Migrationserfahrungen auf die Spur zu kommen. So ist aus den
Gesprächen mit den Vertretern und Vertreterinnen der ersten und der zweiten Migrationsgeneration ein lebendiges
Bild dieser Geschichte entstanden. So lebendig und farbig,
dass es schade gewesen wäre, diese Ergebnisse nicht einem
breiteren Kreis vorzustellen.
Dies soll nun geschehen in Form der Ausstellung «Einen
Platz finden» und in der vorliegenden Begleitpublikation.
Die von Jennifer Degen geführten Interviews stellen die
wichtigste Quelle dafür dar. Daneben sind in weiteren Gesprächen und Recherchen neue Gesichtspunkte erarbeitet
worden.
Mit „Cinquecento“ und
BL-Kennzeichen unterwegs
zwischen zwei Gemeinden und zwei Welten.
9
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Dank
An dieser Publikation und
an der Ausstellung «Einen
Platz finden» haben viele
Menschen mitgewirkt: mit
Beiträgen, mit Auskünften,
mit Fotografien, mit Sponsorenbeiträgen und mit
organisatorischer Unterstützung. Ihnen allen sei an dieser
Stelle ganz herzlich gedankt.
Besonders erfreulich an diesem
Projekt ist es, dass es für die
beiden Gemeinden zum Anlass
wurde, die Verknüpfung ihrer
Geschichten aufzuarbeiten
und sich so eine Plattform zu
schaffen für weitere Begegnungen – auf der Piazza oder
auf dem Schmittiplatz.
Im ersten, von Domenico Di Lisa, dem gegenwärtigen
Bürgermeister von Roccavivara, zusammen mit den Historikerinnen Jennifer Degen und Monica De Vito Di Lisa verfassten Beitrag geht es um die Gründe, weshalb die Menschen den Süden in den Nachkriegsjahren Richtung Norden
verliessen. Der thematische Bogen dieser Publikation reicht
weiter über die Wohnungssuche, die Arbeitssituationen in
Fabriken und auf Baustellen, bis zu den von Christine Ramseier vorgestellten Institutionen, die dazu beigetragen haben, auch dem fernen Schweizerland einen Hauch «Italianità» zu vermitteln.
Eines muss vorab klar gestellt werden: Die italienische
Einwanderung in Pratteln und Umgebung hat keineswegs
erst Mitte der 1950er Jahre mit den Rocchesi begonnen. Sie
reicht, wie die Ausführungen von Ruedi Brassel zeigen, vielmehr weit zurück bis ins 19. Jahrhundert. Diese Geschichte
kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Als
Beispiel dafür hat Christine Ramseier jedoch einen Exkurs
über die Familie Spaini verfasst, deren erste Vertreter schon
vor 1900 aus Norditalien eingewandert waren.
Die Ausstellung widmet sich aber vornehmlich der Zeit
der «Hochkonjunktur der italienischen Einwanderung in der
Schweiz» nach dem Zweiten Weltkrieg – so der Titel des
Beitrags von Tobias Senn. Die zunehmende Einwanderung
aus dem Süden fiel in Pratteln zusammen mit einem rasanten Bevölkerungsanstieg. Kein Wunder, dass die Überfremdungsinitiativen von 1970, 1974 und später auch hier
Wellen schlugen und bei den Gastarbeitern Angst vor der
Rückweisung auslösten.
Den Alltag prägten aber zunächst nicht die politischen
Debatten, sondern die praktischen Probleme, die sich für
die Migranten in einer fremden Kultur auftaten. Der Volkskundler Arnold Niederer schrieb dazu in den 1960er Jahren:
«Auswanderung bedeutet immer Verlust der alten Geborgenheit, auch wenn es eine Geborgenheit in der Armut
war.» (Niederer 1967, S. 4) Viele Aussagen in den Interviews
bezeugen das Fehlen dieser Geborgenheit. Sie belegen aber
auch, wie sich die Rocchesi in Pratteln immer wieder trafen,
wie der eine Dorfbewohner einen anderen nachzog und dadurch erst eine Art «Kolonie» mit gemeinsamen Treffpunkten entstehen konnte. Dieses Phänomen kam auch andernorts vor. So wurde manch ein Platz in der Emigration zum
Ersatz der heimischen Piazza. Oft war es ein Bahnhofplatz,
der Ort, an dem man der Heimat – beziehungsweise dem
Zug, der einen dorthin bringen konnte – buchstäblich am
nächsten war. In Pratteln wurde aber auch der Schmittiplatz
zu einem solchen Zentrum, von den Rocchesi liebevoll «Piazza Roccavivara» genannt. In dessen unmittelbarer Nähe
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wohnten nicht wenige Rocchesi in der «Casa di Stohler»,
wie in den Beiträgen von Jennifer Degen zu erfahren ist.
Dass es auf der adoptierten Piazza oft lebendiger und lauter
zu- und herging, als es manchen Schweizern lieb war, ist
nicht von der Hand zu weisen.
Wer in der Emigration einen Platz, ja seinen Platz finden
musste, wurde mit vielen Schwierigkeiten und Konflikten
konfrontiert. Die Suche nach dem Arbeitsplatz fiel in den
Jahren der Hochkonjunktur nicht so schwer. Schwieriger
wurde es aber, den Arbeitsplatz in Phasen der Rezession zu
behalten oder ihn als Saisonnier im folgenden Jahr wieder
zu bekommen. Mehr Probleme gab anfangs oft die Suche
nach einem Schlafplatz oder dann nach einer eigenen Wohnung auf. Und die meisten Reibungsflächen entstanden,
wenn der öffentliche Raum, die Piazza, mit mediterraner
Mentalität und Lebendigkeit gefüllt wurde. «Gerade in Pratteln wurde mehrere Jahre lang das sprunghafte Ansteigen
einer fremden Bevölkerung, die über das Wochenende in
den Läden, im Tram und auf den Strassen geradezu beherrschend in Erscheinung trat, als bedrohliche Überfremdung
empfunden», hielt Pfarrer Rudolf Hardmeier 1968 in der
Prattler Heimatkunde fest. (Rudolf Hardmeier, 1968, S. 76f.)
Die Geschichte der italienischen Arbeitsmigration im Allgemeinen und der Rocchesi in Pratteln im Speziellen zeigt
trotz dieser Konflikte, dass Integration stattfinden kann. Ein
spezielles Beispiel dafür ist die von Jennifer Degen präsentierte Geschichte des Fussballclubs U.S. Molisana, der einst
auch Claudio Circhetta, dem späteren Fifa-Schiedsrichter
und künftigen Chef des schweizerischen Schiedsrichterwesens, als Karriere-Ausgangspunkt gedient hat.
Gerade weil die in der Schweiz lebenden Rocchesi heute
integriert und teilweise eingebürgert sind, gerade weil viele
der Zurückgekehrten den Bezug zu Pratteln weiter pflegen –
assimiliert, völlig angepasst an die Schweiz von damals haben sie sich nicht. Sie haben aber – wie im Kapitel über die
«Italianità» gezeigt wird – dazu beigetragen, sie zu verändern. Integration ist ein Prozess, der beide Seiten verändern
kann, die an der Begegnung von Kulturen teilnehmen. Auch
wenn im Fall der Rocchesi diese Integration weitgehend
geglückt ist, sind wir nach wie vor mit Integrationsproblemen konfrontiert. Diese wurden aber auf die Begegnung mit
anderen Kulturen verschoben. So berichtet Giulia Antenucci
davon, wie schwierig es gewesen sei, als italienische Familie eine Wohnung zu mieten. Die Vermieter fragten: «Bist Du
Italiener? Wenn ja: La casa non c‘è.» Später, erzählt sie, sei
das den Italienern nicht mehr so ergangen, dafür aber den
Türken und den Jugoslawen.
Die Herausforderungen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und der Integration bleiben bestehen. Aber
es gibt keine Alternative zu diesem Zusammenleben, auch
wenn es oft anstrengend und belastend ist. Wie die vielfältigen Verbindungen zwischen Roccavivara und Pratteln
zeigen, bringen diese Herausforderungen aber auch Farbe,
Lebendigkeit und neue Horizonte ins Spiel.
Links: Dabei – und doch
etwas daneben: Junge
Rocchesi an der Prattler
Fasnacht, mit eigenem
Wagen.
Rechts: Zum Bahnhof und
zurück: Sonntagsspaziergang
an der Bahnhofstrasse.
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Andata e ritorno:
von Roccavivara nach Pratteln
Von Jennifer Degen, Monica De Vito Di Lisa, Domenico Di Lisa
Die Reise in den Norden
Die Reise aus dem Süden Italiens in die Schweiz war für
die Rocchesi ein langer und beschwerlicher Weg. Erst
mussten sie es in einem kleinen, oft völlig überladenen
Auto in die 30 km entfernte Stadt Termoli schaffen,
oder sie mussten den Weg zu Fuss zurücklegen. Mit
ihren Habseligkeiten, zusammengeschnürt in einem
Schuhkarton oder einem alten Koffer, bestiegen sie
in Termoli den Zug Richtung Mailand. Die lange Zug‑
reise war für die Gastarbeiter eine Tortur – Cristofaro
Gianico erinnert sich:
«Non è come adesso, hai preso il bus a Pratteln e sei
sceso qui sotto. Prima dovevi fare, diciotto, diciannove
... quindici ore di treno – perché non è come adesso
che i treni camminano, allora andavano, nel ´57 a carbone e mo arrivavo a Milano, e poi da Milano andando
su, si andava con i treni elettrici.
Da qui partendo da Termoli, arrivando li, ci voleva su
24 ore. Era dura, poi all’impedi, che non … i treni andavano sempre così. Pieno pieno, io l’ho fatto per sei,
sette anni – sempre così. Sempre all’impiedi – non trovavo mai posto per farmi sedere 10 minuti. Se volevi
sederti, o sulla valigia o così. Non si poteva andare al
bagno, al bagno non si poteva andare, pieno di valigie.
È stato, come devo dire, una vita troppo brutta. Poi dal
´75 in poi si è cominciato un pò, come devo dire, ma
senno.»
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Der Zweite Weltkrieg hatte ganz Italien stark gezeichnet,
auch die Bewohner des Bergdorfes Roccavivara standen
nach dem Krieg vor dem Nichts. Sie waren in dem ländlichen Gebiet zwar von Bombenangriffen verschont geblieben, doch hatte der Krieg die ohnehin schon ärmlichen
Lebensumstände noch verschlimmert. Es gab in der Region Molise keinerlei Industrie, und um allenfalls Arbeit als
Taglöhner auf den Getreidefeldern
zu finden, mussten die Dorfbewohner zu Fuss oder mit dem Esel 40
Kilometer ins Unterland ziehen. Die
einzige Verdienstmöglichkeit im
Dorf war die Landwirtschaft und
die Menschen versuchten sich als
Kleinbauern über Wasser zu halten.
Sie verarbeiteten Oliven zu Öl oder
bauten auf kleinen, gepachteten
Landflächen Getreide an. Aufgrund
der wenig fruchtbaren Erde reichten
die Erträge jedoch nicht annähernd
aus, um den knapp 1700 Bewohnern
ein Auskommen zu bieten.
Das Leben in Roccavivara war nach Kriegsende entsprechend einfach und die Menschen hausten in ärmlichen Verhältnissen. Die Häuser waren weder mit Wasser noch mit
Elektrizität ausgestattet und sanitäre Einrichtungen waren
den wenigen wohlhabenden Bürgern vorbehalten. In den
renovationsbedürftigen Häusern wohnten die Familien oft
in einem einzigen Raum, und wer sich einen Esel oder eine
Ziege leisten konnte, hielt die Tiere in unmittelbarer Nähe
des Familienwohnraums. Anna Antenucci-Minni, 1935 als
zweites von sechs Kindern in Roccavivara zur Welt gekommen, erinnert sich, wie sie als Kind mit ihren fünf Geschwistern und den Eltern auf dem nur halb ausgebauten Dachboden schlief. Jeweils das jüngste Kind durfte bei der Mutter
liegen und die anderen schliefen alle zusammen am selben
Platz. Ihre Eltern heizten das Haus mit einem einzigen Kamin und bereiteten auf dem offenen Feuer die Mahlzeiten
zu. Es gab weder fliessendes Wasser noch ein WC im Haus,
und sie holten das Wasser mit einem Eimer am Brunnen.
Auch die Ernährung fiel in den Nachkriegsjahren sehr einfach und dürftig aus. Anna Antenucci-Minni erinnert sich,
wie die Nahrungsmittel knapp waren und ihre Mutter mit
dem Allernötigsten auskommen musste. Zum Frühstück gab
es für die Kinder ein paar wenige Peperoncini mit Öl oder
ein wenig Brot mit Olivenöl. Butter konnte sich die Familie
Non c‘era niente
Anna Antenucci-Minni: «Non
c‘era niente. Noi a Rocca ...
Mia mamma aveva la cucina
con la camera e una soffitta
fatta solo a metà, un‘altra
metà era vuota. E là dormivamo tutti quanti, sopra quella
... Eravamo sei fratelli e sorelle,
dormivamo tutti insieme.
Allora il più piccolo dormiva
con mia mamma. Non c‘era
niente, non c‘era acqua dentro
le case, non c‘era bagno, non
c‘era niente. Era tutto ...
proprio ... zero. Noi l‘acqua
dovevamo andare a prenderla
fuori col secchio che portavamo a casa. Si doveva fare
il fuoco a legna nel camino.
Prima si cucinava al fuoco,
tutto là – non c‘era niente.»
Warten am Bahnhof mit Koffern.
Roccavivara aus der Ferne.
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Peperoncini fritti
Anna Antenucci-Minni: «Si
aveva le cose più necessarie,
per esempio che mio padre
faceva l‘orto, si faceva la salsa,
si facevano tante cose. Noi per
esempio la mattina, la colazione faceva i peperoncini fritti
mia mamma, mi ricordo. Ma
non troppo, era poco. Anche
l‘olio era poco, un pochettino.
Pane e olio, così si facevano.
Non è che si vedeva il burro
a casa o pezzi di formaggio.
Sì, un pezzo di formaggio di
quelli che andavano a pascolar
le capre, le pecore. E con quel
formaggio che faceva da solo,
quello potevamo avere. Anche
sulla pasta. Ma altre cose
non c‘erano. Un po‘di carne,
forse due, tre volte all‘anno
noi, la mangiavamo. Di più
no, non c‘era. Qualche sera
mia mamma doveva dividere
«questo e a te, questo e un
piatto a te» e se si voleva
un‘altro piatto non ce n‘era
più. Si andava a dormire
leggero con – non ce n‘era.»
nicht leisten, und nur ganz selten gab es zu den Teigwaren
ein wenig Käse. Die Mutter musste mit den Nahrungsmitteln sparsam umgehen und sie wohl überlegt auf die acht
Familienmitglieder verteilen. Anna Antenucci-Minni erzählt,
es habe meist nur für eine kleine Portion gereicht und sie sei
manchmal mit leerem Magen zu Bett gegangen.
Obwohl in Roccavivara niemand Hunger leiden musste,
waren die Lebensbedingungen prekär. Den Familien fehlte es beispielsweise an Kleidern und Schuhen, und
im Krankheitsfall war eine medizinische Versorgung unmöglich zu bezahlen. In ihrem Heimatdorf sahen
die Menschen keine Perspektive, und
es musste Wege aus der Misere geben.
Einer dieser Wege war die Emigration. Ende der 1940er Jahre wanderten einige Familien nach Argentinien
und Australien aus, und allmählich
setzte auch die Emigration innerhalb
Europas ein. 1949 gingen Familienväter vereinzelt nach Belgien und
arbeiteten dort als Gastarbeiter in den Kohlebergwerken.
1955 verliess der erste Bürger aus Roccavivara die Heimat in
Richtung Schweiz. Wie viele andere hatten die Rocchesi davon gehört, dass die Industrie im Nachbarland Schweiz auf
Hochtouren lief und die Behörden unentwegt neue Arbeitskräfte anwarben. Zuerst in Norditalien, dann immer weiter
im Süden. So kam es, dass auch die Rocchesi in der Schweiz
ihr Glück versuchten. Die ersten planten, nur ein paar Jah-
re im Ausland zu arbeiten und ihren Familien mit dem Verdienst eine würdige Zukunft zu ermöglichen. Der 25-jährige
Vincenzo Rossi war der erste Bürger aus Roccavivara, der
1955 die 850 Kilometer lange, beschwerliche Reise ins Baselbiet auf sich nahm. Er fand in der Baselbieter Gemeinde
Allschwil eine erste Anstellung als landwirtschaftlicher Helfer. Ein Jahr nach ihm brachen auch andere junge Rocchesi
in die Schweiz auf und die wachsende Industriegemeinde
Pratteln sollte für viele zum Ziel ihrer Reise werden.
Der Schritt ins Ausland bedeutete für die jungen Männer
aus Roccavivara eine grosse Veränderung. In der Schweiz
waren sie meist als Saisonniers angestellt und lebten somit während neun Monaten des Jahres von ihren Familien
getrennt. Sie konnten ihre Frauen und Kinder nur während
des Sommers oder an Weihnachten sehen, wenn sie für
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drei Monate in die Heimat zurückkehrten. Für die Frauen in
Roccavivara bedeutete dies, dass sie ohne ihre Ehemänner
auskommen mussten. Zwar brachten diese einen Umschlag
voller Geld mit nach Hause, wenn sie zurückkehrten, doch
fehlten sie bei der Erziehung der Kinder. Zudem waren sich
die Ehepartner nach einer langen Zeit der Trennung oft
fremd geworden. Die Abwesenheit der Männer hatte auch
zur Folge, dass die Kinder zu ihren Vätern nur schwer eine
Beziehung aufbauen konnten. Nicola Di Blasio, Sohn eines
Gastarbeiters aus Roccavivara, erinnert sich, wie er seinen
Vater bei dessen Rückkehr für einen Fremden hielt. Als dieser nach neun Monaten endlich wieder vor der Türe stand,
klammerte sich der kleine Nicola an den Rockzipfel seiner
Mutter und fragte: Wer ist dieser Mann? Sein Vater habe
ihm mit Tränen in den Augen gegenüber gestanden und sich
wohl gefragt: Was ist das bloss für ein Leben?
Als Kind habe er dank der Erklärungen seiner Mutter verstanden, weshalb sein Vater nur so selten bei ihnen sein
konnte, und er habe ihn dafür geschätzt und respektiert.
Er gewöhnte sich während der Sommermonate an seinen
Vater, so dass der Abschied umso schmerzhafter war. Wenn
Nicola den zusammengeschnürten Karton im Gang stehen
sah und die Abreise nahte, setzte er
sich als kleiner Junge auf den Karton
und wollte seinen Vater am Fortgehen hindern.
Die Gastarbeiter sahen in der Fremde die Chance auf ein besseres Leben
und nahmen die seelischen und körperlichen Entbehrungen auf sich. Sie
wollten ihren Familien mit dem verdienten Geld eine würdige Zukunft
ermöglichen, und die Region Basel
erwies sich für dieses Vorhaben als
ideales Pflaster. Die wachsende Industrieregion hatte schon seit Ende
des Zweiten Weltkrieges Arbeiter aus
dem Norden Italiens beschäftigt und
rekrutierte fortwährend neue Arbeitskräfte.
In den Prattler Industriebetrieben fanden die Rocchesi
auch ohne Ausbildung leicht eine Stelle, und so kam es,
dass ein Arbeiter nach dem anderen aus Roccavivara nach
Pratteln emigrierte. Die ersten Rocchesi verhalfen den
Nachfolgenden zu einer Anstellung, bis 1960 waren gut an
die 30 Rocchesi im Alter von 18 bis 30 Jahren in Pratteln
anwesend. Die Emigranten waren meist Männer. Es gab nur
Rückkehr und
Abfahrt des Vaters
Nicola Di Blasio: «La prima
volta che mio padre ritornò,
non lo riconoscevo. Perché
come bambino piccolo, certo
non sai con il papa non ... –
allora mi prendevo alla gonna
della mamma e dico: Chi è
questo uomo? Immagina
mio padre che mi guardava
con due grossi lacrimoni per
dire: Che vita è questa!»
«Crescendo capivo da me i
sacrifici, e allora ho capito che
quell´uomo non era un semplice uomo, ma era mio padre.
Quindi meritava tutto il rispetto. E quindi, quando avevo
capito questo, quando si avvicinava il giorno della partenza,
vedevo lì questa valigietta
ancora di cartone, saltavo su
quella per non farlo partire.»
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vereinzelt Frauen, die während der ersten Migrationswelle
aus Roccavivara nach Pratteln kamen. Erst als 1964 die Bestimmungen über den Familiennachzug gelockert wurden,
folgten allmählich auch Frauen und Kinder.
Um 1970 setzte eine zweite Phase der Migration nach
Pratteln ein. Die Kinder und jüngeren Geschwister der ersten
Gastarbeiter kamen während der Sommerferien oder nach
dem Schulabschluss nach Pratteln, um dort ihr erstes Geld
zu verdienen. Oft blieben aber auch sie für mehrere Jahre,
so dass sich in Pratteln in den 1970er Jahren eine zweite
Migrationsgruppe von zirka 20 jungen Männern formierte.
Viele Gastarbeiter aus Roccavivara liessen sich mit ihren Familien längerfristig in Pratteln und Umgebung nieder und
kehrten erst nach ihrer Pensionierung in den 1980er Jahren
in die Heimat zurück. Mit ihrer Anwesenheit in Pratteln haben sie den Charakter der Gemeinde mitgeprägt, und einige
von ihnen sind auch in Pratteln und Umgebung geblieben.
Davon zeugt ein Blick ins Telefonbuch von Pratteln und
Muttenz – Familiennamen wie Antenucci, Sallustio, Di Lisa
oder Cicchillitti stammen unverkennbar aus Roccavivara.
Während ihrer Jahre in der Emigration hielten die Rocchesi den Kontakt in ihr Heimatdorf stets aufrecht, so dass ein
reger Austausch zwischen den beiden Gemeinden bestand.
Sie reisten so oft wie möglich mit dem Zug in die Heimat
zurück, und etwa ab dem Jahre 2000 verkehrte ein Bus, der
sie von der Prattler Autobahnraststätte «Windrose» direkt
nach Canneto ganz in die Nähe von Roccavivara brachte.
Dieser Bus verkehrt noch heute zweimal wöchentlich und
viele Rocchesi besuchen damit ihre Angehörigen in Italien
oder in der Schweiz.
Über die geographische Verbindung hinaus haben viele
Rocchesi eine starke emotionale Bindung zu Pratteln. Viele von ihnen haben den Grossteil ihres Lebens in Pratteln
verbracht und ihre Identitäten wurden in dieser Gemeinde
geformt. Die meisten sagen zudem, sie hätten es dank der
Zeit in Pratteln zu materiellem Wohlstand gebracht. Ganz
wichtig war dabei der Bau eines eigenen Hauses: «far si
casa» war das Ziel eines jeden Gastarbeiters. Pratteln hat
für die Rocchesi noch heute grosse Bedeutung, selbst wenn
längst nicht alle Dorfbewohner dorthin emigriert waren. Sie
waren durch Ehemänner, Väter, Geschwister oder Freunde
mit Pratteln verbunden und den meisten Dorfbewohnern
eröffnet sich beim Stichwort Pratteln eine ganze Palette an
Erinnerungen.
Seit einigen Jahren diskutieren die beiden Gemeinden die
Idee, den vielschichtigen Verbindungen, die über die Jahre
entstanden sind, mit einer Städtepartnerschaft offiziellen
Charakter zu verleihen. Es sind die Bestrebungen der Integrationskommissionen beider Gemeinden, die Dörfer und
ihre Bewohner auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene zu
vernetzen.
«Autoverlad» und «Schneemauern». Die Fahrt in den
Süden noch vor dem Bau
des Gotthardtunnels.
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Hochkonjunktur der italienischen
Einwanderung in die Schweiz
Von Tobias Senn
Expo 1964
«Wo bleibt der ‹Tag der
Fremdarbeiter›?» , fragt
der «Nebelspalter» vom 19.
August 1964: Die schweizerische Leistungsschau
blendete den Beitrag der
Gastarbeiter zum Wohlstand
des Landes weitgehend aus.
Zeichnung von Hans Moser.
Rechts: Zeichnung von Peter
Hürzeler aus dem «Nebelspalter» Nr. 16/1970.
Wirtschaftsboom und Einwanderung
Die drei Jahrzehnte zwischen 1945 und 1975 waren in der
Schweiz Jahrzehnte der italienischen Einwanderung im ganz
grossen Stil. Gleichzeitig wuchs die Schweizer Wirtschaft
zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Erdölkrise in bislang nicht gesehenem Ausmass. Im Gegensatz zu
den umliegenden Ländern war der
Produktionsapparat im Weltkrieg
intakt geblieben. Industrie und Bauwirtschaft benötigten zur Ausnützung der Nachkriegskonjunktur bloss
Arbeitskräfte. Diese konnten auf dem
völlig ausgetrockneten Schweizer
Arbeitsmarkt schon bald nicht mehr
gefunden werden. Die Schweizer Arbeitgeber versuchten daher gemeinsam mit den Arbeitsmarktbehörden,
Arbeiter und Arbeiterinnen in den traditionellen Rekrutierungsgebieten des
angrenzenden Auslandes zu rekrutieren, vor allem in Italien, wo grosse
Arbeitslosigkeit herrschte.
Bereits seit den 1870er Jahren, der
Zeit des Baus des Gotthardtunnels,
und vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren
viele italienische Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen. In
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Zehntausende – die Rekrutierungsbemühungen hatten Erfolg. Dies
zeigt ein Beispiel aus dem Baselbiet, dem Wachstumskanton par excellence der Nachkriegszeit: Die eben erst 1945
errichtete Schindler Waggon AG in Pratteln – ein Sinnbild
für die rasante Industrialisierung und das kräftige Wirtschaftswachstum im Baselbiet in der Nachkriegszeit – konnte einen ihrer ersten Grossaufträge, die Reparatur im Krieg
beschädigter französischer Güterwaggons, nur dank dem
Beizug von mehr als hundert italienischen Waggonbau-Spezialisten bewältigen. Das Beispiel machte Schule: Das Baselbiet verdankte die in der gesamten
Nachkriegszeit schweizweit höchsten
Wachstumsraten bei Wirtschaft und
Bevölkerung zu entscheidendem Teil
der Zuwanderung aus Italien.
Zuwanderung ohne
Niederlassung
Um die seit Kriegsende immer stärker anwachsende Migration zu regeln, schlossen die Schweizer und
die italienische Regierung 1948 ein
Abkommen über die Rekrutierung
von Arbeitskräften. Die Schweizer
Behörden wollten damit den Schweizer Arbeitgebern das Rekrutieren von
Italienern und Italienerinnen ermöglichen, aber gleichzeitig die staatliche
Kontrolle der Auswahl der Arbeitskräfte nach beruflichen,
politischen und persönlichen Kriterien sicherstellen. Dabei
spielte der Antikommunismus eine wichtige Rolle, nicht erst
seit dem Beginn des Kalten Krieges, war er doch schon in
der Zwischenkriegszeit Hauptmotiv für die politische Prüfung einreisender Ausländer gewesen. Vor allen Dingen
aber wollten die Behörden der Einwanderung einen bloss
Vittoria Ceccon:
«Mamma mia, che paura!»
Vittoria Ceccon: «Oh, das war
schlimm, Schwarzenbach! Ich
war an der EPA, die ersten fünf
Jahre, in Sissach habe ich gearbeitet. Eh, ou schaffe, schaffe
wie verrückt, weil die Leute
haben gesagt: Ja, jetzt kommt
Schwarzenbach und schickt
die Italiener, die Ausländer
raus. Schaffe, schaffe, schaffe
wie verrückt, nicht einmal
aufs WC sind wir gegangen,
nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Keine fünf Minuten Pause.»
Jennifer Degen: «Also mussten
Sie soviel arbeiten oder ...»
Vittoria Ceccon: «Si aveva paura che Schwarzenbach parlasse
coi padroni delle fabbriche
che dopo dovevano mandare
fuori questi stranieri, no? E
Schwarzenbach era terribile,
perché aveva fatto proprio
... che voleva che andassero
fuori gli italiani, no. Mamma
mia, che paura! Tutti, tutti,
tutti spaventati a morte erano
di Schwarzenbach. E nessuno
stava a casa ammalato. Nessuno stava mai a casa ammalato,
perché si aveva troppo paura
con Schwarzenbach. E quello
è stato un periodo brutto, proprio brutto per gli stranieri.»
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Don Mario Slongo über
die Ängste vor der Überfremdungsinitiative 1974:
«Vor der Abstimmung lag eine
schwere psychische Belastung
über diesen Leuten. Sie haben
gespürt, dass sie plötzlich mit
ihrer Vergangenheit abbrechen
müssten. Sie sind gern hier, sie
verdienen gut, die Kinder sind
gut in den Schulen integriert
und jetzt heisst es plötzlich:
Koffern packen und an die
Grenze gehen, als ob sie Verbrecher gewesen wären. Und
das hat sie ungeheuer belastet.
Eine Frau aus dem Friaul – sie
kann sehr gut Deutsch – hat
mir vor der Abstimmung gesagt: Die Luft ist so verpestet,
dass wir nicht mehr wissen, ob
wir bleiben sollen, auch wenn
die Initiative nicht angenommen würde. Können wir das
noch weiter ertragen, uns als
Waren bezeichnen lassen, als
Ware, die nun raus muss, wo
wir doch auch Persönlichkeiten
sind und das Recht haben,
dass man unsere menschliche Würde respektiert.»
Don Mario Slongo war
Leiter des Centro Ricreativo in Pratteln.
Interview vom 21.10.1974
mit Radio Beromünster.
provisorischen, flexiblen und reversiblen Charakter verleihen. Deshalb wurde festgeschrieben, dass italienische Arbeiterinnen und Arbeiter erst nach zehn Jahren Aufenthalt
in der Schweiz eine Niederlassungsbewilligung erhalten
konnten. Das Abkommen mit Italien entsprach somit der
seit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung
der Ausländer (ANAG) von 1931 gültigen Konzeption einer
Schweizer Ausländerpolitik. «Unter dem Gesichtspunkt der
Überfremdungsabwehr», so der Bundesrat in der Botschaft
von 1924 zu diesem Gesetz, sei gegen Zuwanderer nur
dann nichts einzuwenden, wenn diese keine Niederlassung
beabsichtigten.
Zuwanderung ohne Niederlassung
– dieses Dogma schien die Schweizer
Ausländerpolitik nach dem Zweiten
Weltkrieg im «Rotationsmodell» verwirklichen zu können. Ausländische
«Gastarbeiter» erhielten Saison- oder
Jahresbewilligungen und durften sich
bloss temporär zum Arbeiten in der
Schweiz aufhalten. Integration war
nicht erwünscht, da die «Gastarbeiter» nach getaner Arbeit wieder ins
Heimatland zurückkehren und durch
neue «Gastarbeiter» ersetzt werden sollten – spätestens
bevor sie nach 10 Jahren Anspruch auf Niederlassung anmelden konnten. Die «Gastarbeiter» dienten als «Konjunkturpuffer» – eine ebenfalls vielsagende und noch unschönere Bezeichnung für die Italienerinnen und Italiener – für
den Schweizer Arbeitsmarkt. Solange die Wirtschaft gut lief,
sollten die «Konjunkturarbeiter» den Schweizer Unterneh-
men beim Ankurbeln der Wirtschaft helfen. Bei einem Konjunktureinbruch sollte ihre Zahl hingegen möglichst schnell
abgebaut werden können, indem die an eine Arbeitsstelle
gekoppelten Aufenthaltsbewilligungen von der Fremdenpolizei nicht mehr verlängert wurden.
Soweit die Theorie. In der Praxis der Hochkonjunktur der
1950er Jahre zeigte sich alsbald ganz anderes: anhaltendes Wachstum statt vorübergehende Konjunktur. Das Rotationsprinzip erwies sich als nicht praktikabel, weil die
Konjunktur stetig anstieg und der Arbeitskräftebedarf über
Jahre hinweg nur aus dem Ausland gedeckt werden konnte. Im Prinzip herrschte das Laisserfaire. Die Bedürfnisse des Schweizer
Arbeitsmarktes bestimmten über die
Ausländerzulassung. Unter generöser
Aufsicht durch das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA)
rekrutierte die Schweizer Wirtschaft
– vor allem die Industrie und die
Bauwirtschaft – so viele Italienerinnen und Italiener, wie sie brauchte;
anfangs vor allem in Norditalien, und
als dort die verfügbaren Arbeitskräfte
rar wurden, zunehmend im Süden. Ab
1958 erweiterten die Schweizer Unternehmen ihre Anwerbebestrebungen zudem auf Spanien, später auf Griechenland, die Türkei und Jugoslawien. Viele Italienerinnen und
Italiener lebten und arbeiteten über Jahre in der Schweiz,
ihre Saison- und Jahresaufenthaltsbewilligungen wurden
Jahr um Jahr verlängert, schliesslich erlangten sie Anspruch
auf Niederlassung und Familiennachzug, obwohl die we20
Einen_Platz_finden.indb 20-21
nigsten von ihnen bei ihrer ersten Einreise einen jahrelangen Verbleib in der Schweiz ins Auge gefasst hatten. Nicht
zuletzt die Arbeitgeber hatten ein Interesse, ihre eingearbeiteten Arbeiterinnen und Arbeiter weiterbeschäftigen zu
können und nicht jedes Jahr neue Leute einarbeiten zu müssen. Auch bei der Neurekrutierung bauten die Patrons auf
ihre bisherige Belegschaft und das System der Kettenmigration. Ende Saison baten sie ihre italienischen Arbeiterinnen
und Arbeiter, nach den Ferien weitere geeignete Leute von
zu Hause mitzubringen.
Gefahr der «Überfremdung»?
Aus der von den Schweizer Behörden
als temporär und im Umfang beschränkt
gedachten Einwanderung von italienischen Arbeiterinnen und Arbeitern ist
bereits Ende der 1950er Jahre ein unumkehrbares Phänomen und ein Politikum geworden. Italien verlangte 1961
von der Schweiz die Aushandlung eines
neuen Rekrutierungsabkommens. Dieses sollte den mittlerweile rund 400 000
in der Schweiz lebenden Landsleuten
verbesserte Aufenthaltsbedingungen in
der Schweiz garantieren: etwa einen längerfristig gesicherten Aufenthaltsstatus sowie einen vereinfachten Familiennachzug und Sozialversicherungsschutz. Diese Forderungen
Italiens entsprachen den damals in Europa entwickelten internationalen Richtlinien. Die Schweiz musste darauf eingehen, wenn sie im Werben um italienische Arbeiterinnen und
Arbeiter auf dem europäischen Arbeitsmarkt mithalten und
konkurrenzfähige Arbeits- und Lebensbedingungen bieten
wollte. Ansonsten riskierte sie den Verlust der für die Wirtschaft schlicht unentbehrlichen Arbeitskräfte. Innenpolitisch
wurde der Abschluss des neuen Abkommens mit Italien
1964 von der anfangs der 1960er Jahre sich formierenden
ausländerfeindlichen Überfremdungsbewegung als Kniefall
vor Italien gegeisselt und als Sinnbild für das generelle Versagen der Ausländerpolitik des Bundesrates gedeutet.
Damit wurde die Überfremdungsdiskussion neu entfacht,
die anfangs von den Gewerkschaften angestossen worden
war, aus Angst vor einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Schweizer Arbeiterinnen und Arbeiter und weil die
Wohnungsnot durch die Einwanderung verschärft wurde. Gegen
Ende der 1960er Jahre wurde diese
Auseinandersetzung durch die politische Rechte weiter angeheizt und
von James Schwarzenbach zu ihrem
Höhepunkt geführt. Mit seiner 1969
eingereichten Überfremdungsinitiative forderte der Rechtspopulist der
ersten Stunde nichts weniger als
die Reduktion des Ausländeranteils
in jedem Kanton der Schweiz auf 10 Prozent (ausgenommen wären Saisonarbeiter gewesen; im Kanton Genf wäre
eine Anteil von 25 Prozent erlaubt worden; 1970 betrug
der Ausländeranteil gesamtschweizerisch 17 Prozent). Dies
hätte für rund 200 000 Ausländerinnen und Ausländer – die
Hälfte davon aus Italien – die Ausweisung aus der Schweiz
bedeutet. Schwarzenbach konnte erfolgreich gegen Aus-
Angekommen im Bahnhof Basel SBB.
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«So wird es noch einige
Zeit dauern, bis die Einsicht
durchgebrochen ist, dass wir
einen wesentlichen Teil unserer
Wohlstandszunahme den
ausländischen Arbeitnehmern
zu verdanken haben und
unsere Volkswirtschaft auf die
Ausländer angewiesen ist.»
Dr. Felix Auer, späterer FDPNationalrat, am 17.1.1963
vor der Synode der Ev.-ref.
Kirche Basel-Landschaft.
länder Stimmung machen, weil er mit seiner Beschwörung
der Gefahr einer «Überfremdung» der Schweiz nicht nur
eine diffuse Fremdenangst in breiten Bevölkerungskreisen
ansprach, sondern auch an den zentralen Grundsatz der
Überfremdungsabwehr der Schweizer Ausländerpolitik anknüpfte. 1964 hatte der Bundesrat die Schweiz gar offiziell
als «überfremdet» bezeichnet und daher eine Beschränkung der Ausländerbeschäftigung zum politischen Ziel erklärt. Der Bundesrat spielte Schwarzenbach und der Überfremdungsbewegung nicht nur mit seinem Befund in die
Hände, sondern mehr noch mit der mangelhaften Umsetzung der formulierten Ziele. Die erlassenen Beschlüsse zur
Begrenzung der Ausländerbeschäftigung blieben nämlich
wirkungslos, weshalb Schwarzenbach der Regierung mangelnden Willen und Versagen in der Reduktion der Einwanderung vorwerfen konnte. Einen Erfolg Schwarzenbachs an
der Urne konnte der Bundesrat im Frühling 1970 letztlich
nur noch verhindern, indem er durch den Erlass einer neuen,
radikal griffigeren Begrenzungsverordnung unmittelbar vor
der Abstimmung Entgegenkommen signalisierte und somit
der Initiative Wind aus den Segeln nahm. Mit der Einführung der Globalplafonierung gelang es dem Bundesrat, ausländerpolitisches Vertrauen zurückgewinnen: Der Staat griff
erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg spürbar in den freien
Arbeitsmarkt ein, indem er ab 1970 jährlich Quoten für die
Ausländerzulassung festlegte und so den gewünschten
Rückgang der Zuwanderung von Arbeitskräften erreichte.
Trotz dieser für die Wirtschaft einschneidenden Massnahmen wuchs die in der Schweiz lebende ausländische Bevölkerung weiter an, vor allem dank dem Familiennachzug
sowie der zunehmenden Saisonnierbeschäftigung, welche
die Wirtschaft in Umgehung der Globalplafonierung forcierte. Ein Ende fand die seit dem Zweiten Weltkrieg anhaltende Einwanderungswelle und mit ihr die grosse Phase
der italienischen Einwanderung in die Schweiz erst 1975,
als die Schweiz von den wirtschaftlichen Folgen der Ölkrise
voll erfasst wurde. Mehr als 200 000 Ausländerinnen und
Ausländer verloren ihre Stelle und damit auch ihre Aufenthaltsberechtigung.
Arbeitskräfte gerufen – Menschen gekommen
Behörden und Bevölkerung der Schweiz taten sich lange
Zeit schwer damit, die Tatsache zu akzeptieren, dass die
ins Land geholten Italienerinnen und Italiener nicht bloss
die temporär verfügbaren und billigen Arbeitskräfte aus der
Theorie des Rotationsmodells waren, sondern als Mitbewohner über längere Zeit im Land lebten oder sich gar zur
Bleibe entschieden. Daher anerkannten die Schweizer Behörden in der Nachkriegszeit auch die vielfältigen italienischen Vereine in der Schweiz nicht als Interessenvertretungen der Immigrantinnen und Immigranten und gestanden
den italienischen Auslandorganisation keinen politischen
Einfluss zu. Die Illusion des Rotationsmodells verstellte
über Jahre den Blick auf die Realität und ermöglichte der
Schweiz den Glauben, sie sei kein Einwanderungsland und
müsse auch keine entsprechende Integrationspolitik führen.
Erst anfangs der 1960er Jahre begann ein langsames Abrücken von einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise,
die bestenfalls die Assimilation, aber keine Integration der
Migrationsbevölkerung ins Auge fasste. Vermehrt wurden
nun auch die sozialen, kulturellen und nicht zuletzt auch die
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Einen_Platz_finden.indb 22-23
staatspolitischen Konsequenzen der Zuwanderung wahrgenommen.
Angestossen durch die in der Öffentlichkeit kontrovers
kommentierten bilateralen Verhandlungen über das neue
Rekrutierungsabkommen mit Italien entstand eine breite
Diskussion über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der
Italienerinnen und Italiener in der Schweiz. Als prominentes
Beispiel dafür steht der Film «Siamo Italiani» von Alexander
J. Seiler, Rob Gnant und June Kovach, der das Leben von
Italienerinnen und Italienern in der Region Basel anfangs
der 1960er Jahre dokumentierte und der Einwanderung aus
Italien dadurch ein Gesicht und eine Stimme gab. Nachhaltig wirkte das Vorwort von Max Frisch in der 1965 erschienenen Begleitpublikation zu diesem Film. Dieses beginnt
mit dem legendären Satz: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich
in Gefahr: Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen
Menschen.» Bekräftigt wurde der migrationspolitische Bewusstseinswandel indirekt paradoxerweise auch durch die
Überfremdungsbewegung, indem sie die Zuwanderung
vehement thematisierte. Die Schwarzenbach-Abstimmung
stellte einen zentralen Katalysator für das Selbstverständnis
der Schweiz als Einwanderungsland dar. Im Abstimmungskampf unterlag Schwarzenbachs Vorstellung von Ausländern als Saisonarbeitern, denen – wegen den Auswirkungen
auf die ganze Gesellschaft – die Niederlassung und der Familiennachzug verwehrt werden sollten. Obsiegt hat in der
denkwürdigen Volksabstimmung das Bild einer Schweiz, zu
der die eingewanderten Italienerinnen und Italiener auch
als Menschen dazugehören. Ein Bild von bleibendem Wert.
Das Abstimmungsverhalten in Pratteln bei
Abstimmungen über Ausländerfragen seit 1970
Die Schwarzenbach-Initiative, die eine Limitierung des
Ausländeranteils an der Bevölkerung auf höchstens
10% verlangte, wurde in Pratteln etwas deutlicher
abgelehnt als in der gesamten Schweiz. Auch bei der
nächsten «Überfremdungsinitiative» (1974) senkte
Pratteln noch den nationalen Zustimmungsschnitt.
Seither aber lag bei den nationalen Abstimmungen,
die eine Abschliessung gegen Fremde verlangten, die
Zustimmung in Pratteln stets über dem Durchschnitt
von Kanton und Bund. Deutlich war dies der Fall bei
den späteren Überfremdungsinitiativen (1977, 1984
und 2000), aber auch bei den meisten Asylvorlagen.
Integrationsfreundliche Vorlagen wie die MitenandInitiative (1981), das Ausländergesetz von 1982 oder
Vorstösse für eine erleichterte Einbürgerung (1983 und
1994) hatten es in Pratteln denn auch meist überdurchschnittlich schwer.
Volksabstimmung vom
7.6.1970 über die Schwarzenbach-Initiative:
JaNein
Schweiz
46%
54%
Baselland 39,5% 60,5%
Pratteln
44,1% 55,9%
Plakat gegen die Überfremdungsinitiative 1974.
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05.10.2010 19:07:58
Die italienische Einwanderung in Pratteln
Von Ruedi Brassel-Moser
Kein Wort Deutsch
‹Italiener frächi Cheibe,
frässe villi Brot,
Mässer in de Ranze stegge,
sin die Cheibe tot.›
Gut, wir haben uns zusammengerauft und mit einigen schloss ich auch Freundschaft.»
Um die Wohnungsnot zu lindern, wurden Baracken aufgestellt, wie hier auf
dem Areal der Buss AG um 1950.
Schon in früheren Jahrhunderten haben Eingewanderte in
Pratteln ihren Platz gefunden. Und Prattler sind ausgezogen, um anderswo ihr Glück und ihren Platz zu finden. Die
Gründe für diese Wanderungen waren ähnlich: meist Armut
und Arbeit, aber auch Ausbildung und sozialer Aufstieg und
manchmal auch Abenteuer. Vor allem im 19. Jahrhundert
wanderten viele nach Amerika aus; einige aber auch nach
Osteuropa.
Mit der Industrialisierung, die im Gebiet der Schweizerhalle bereits 1837 nach der Entdeckung der Salzvorräte
einsetzte, kam aber eine neue Dynamik auf. Es entstanden
neue Arbeitsplätze, die Bevölkerung nahm zu. In den 1880er
Jahren wurden dann auch in Dorfnähe erste Fabrikationsgebäude erstellt und um die Wende zum 20. Jahrhundert
erlebte Pratteln einen eigentlichen Bau- und Industrialisierungsboom. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden
Fabriken der Firmen Buss, Henkel, Brodtbeck, Rohner und
Häring sowie das Zentrallager des Verbands Schweizerischer Konsumgenossenschaften. Die Bevölkerung Prattelns
verdoppelte sich zwischen 1870 und 1910 von 1600 Personen auf 3200. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der aus
dem Ausland stammenden Einwohner von 70 Personen auf
über 500 um mehr als das Siebenfache zu. Insbesondere im
Baugewerbe, aber auch in den Fabriken wurde schon damals auf Arbeitskräfte aus Italien zurückgegriffen. Darunter
scheint es auch einen später aus zweifelhaftem Grund prominent gewordenen Bauarbeiter und Gewerkschafter gegeben zu haben. Jedenfalls wird überliefert, dass der spätere
«Duce», Benito Mussolini, zu Beginn des 20. Jahrhunderts
in Pratteln beim Bau der «Klemmi» am Schmittiplatz mitgewirkt habe (Heimatkunde 2003, S. 144). Eine für Prat-
teln nachhaltigere Tätigkeit
Bevölkerungsentwicklung in Pratteln seit 1870
entfalteten seit den 1890er
16000
Jahren zwei andere italieni14000
sche Einwanderer, die Brü12000
der Gilardo und Ludovico
10000
Spaini. In dem von ihnen
8000
1906 gegründeten Bauge6000
schäft waren zu den besten
4000
Zeiten bis zu 500 Arbeiter
2000
angestellt. Der grösste Teil
0
1870
1900
1910
1920
1930
1941
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
davon stammte ebenfalls
Einwohner
Ausländer
aus Italien.
Der Ausländeranteil betrug 1910 in Pratteln mehr als 15%.
Bedingt durch den Ersten Weltkrieg sank er dann auf etwa
einen Zehntel der Gesamtbevölkerung, während des Zweiten
Weltkriegs gar auf etwa 5%.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm dann der Ausländeranteil in Pratteln sprunghaft zu. 1950 noch bei 6,7% stieg
er bis 1970 auf 27%. Etwa zwei Drittel dieser Ausländer
stammten in den 1960er Jahren aus Italien. Der zwischenzeitlich höchste Stand wurde 1974 mit 29% erreicht. Wegen der Rückwanderung aufgrund der Wirtschaftskrise sank Neue Sorgen in den 1960er
der Ausländeranteil merklich und übertraf erst anfangs der Jahren: Die Geburtenrate der
1990er Jahre wieder die Marke von 1974. Allerdings hat Immigrantinnen stieg. Bei den
sich mittlerweile die Zusammensetzung der ausländischen Schweizerinnen begann der
Pillenknick zu greifen. In der
Bevölkerung verändert. Zwar ist Italien auch 2010 nach wie Legende des Nebelspalters
vor das am besten vertretene Herkunftsland, stellt aber nicht vom 22. April 1964 heisst
mehr zwei Drittel, sondern «nur» noch etwa einen Fünftel al- es: «Aus der Bevölkerungsstatistik des Kantons Baseller Eingewanderten in Pratteln. Die Einwohner ausländischer
Landschaft: Bei rund einem
Herkunft machten im Jahr 2010 mit 5730 Personen 37,4% Viertel aller Geburten handelt
es sich um Ausländer.»
der Gesamtbevölkerung aus.
Bevvölkerungszahl
Paolo Puccetti, 1948 als Neunjähriger aus der Gegend
von Florenz nach Pratteln eingewandert, über seine
Schulzeit:
«Ich kam gleich in die vierte Klasse zu Herrn Gruber
ins Münchackerschulhaus. Herr Gruber konnte ein bisschen Italienisch, ich aber verstand kein Wort Deutsch.
Ich weiss nicht mehr, wie ich Deutsch gelernt habe.
Wahrscheinlich ziemlich rasch, denn ich wollte dabei
sein. Es war aber hart, denn ich war für die anderen
Kinder fremd. Zum Beispiel trug ich im Sommer kurze
Hosen, richtig kurze Hosen, wogegen die der anderen Buben bis zu den Knien oder sogar unter die Knie
reichten. Natürlich wurde ich ausgelacht. Auch später
in der 6. und 7. Klasse bei Herrn Urban kam es öfters zu
Schlägereien. Man war als Italiener der Sautschingg,
d’Tschinggalamore oder der Maistiger. Ich bekam auch
den Spruch zu hören:
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05.10.2010 19:08:00
Einwanderung um 1900: die Familie Spaini
Von Christine Ramseier
«Die Familie meines Mannes ist aus Ponte Cremenaga im
Varese eingewandert. Ich selber bin Tessinerin», erzählt
Luciana Spaini, die Frau von Giannino Spaini. «Es hat alles klein angefangen, nämlich mit den Gebrüdern Gilardo
und Giuseppe Spaini, die als junge Burschen kurz vor 1900
zusammen in Deutschland arbeiten wollten. Auf der Durchfahrt im Zug sahen sie in Pratteln beim Bahnhof eine grosse
Baustelle – und flugs entschieden sie: Wo eine grosse Baustelle ist, gibt es sicher Arbeit! – und stiegen aus.»
Ein paar Jahre arbeiteten die Brüder als Handlanger. Mit
dem jüngsten Bruder, Ludovico, gründete Gilardo Spaini
1906 dann bei der Krummeneich ein eigenes Geschäft. Aber
das Einkommen war knapp und so betrieben sie auch einen
kleinen Laden mit italienischen Produkten. Als das Baugeschäft wuchs, verlegten sie es an die Salinenstrasse 56. Auf
diesem Gelände standen zeitweilig zwei bis drei Baracken
als Unterkunft für die angestellten Gastarbeiter.
Aufsehen erregten im Dorf die beiden fünfstöckigen, langen Blockbauten mit Flachdach an der Bahnhofstrasse, Ecke
St. Jakobstrasse. Als sie in den 1930er Jahren errichtet wur-
26
Einen_Platz_finden.indb 26-27
den, war die einhellige Meinung der Dorfbevölkerung: «Viel
zu gross». An der Fasnacht wurde darüber gespottet. Vor
ein paar Jahren sind die respektablen Bauten aber in das
vom Kanton erstellte Inventar der schützenswerten Bauten
aufgenommen worden.
1954, nach dem Tod seines Vaters Gilardo, übernahm
Giannino Spaini die Leitung des Geschäfts und führte es mit
seinem Bruder Elio und dem Onkel Ludovico weiter. Luciana
Spaini erinnert sich: «Damals hatten wir noch keine eigenen
Lastwagen. Für grosse Transporte mieteten wir Pferdefuhrwerke.» An der Hauptstrasse 71 baute die Firma 1964/65
zwei Blockbauten, die mit einer öffentlichen Cantina ver-
bunden waren. Im vorderen Block wohnten die Poliere mit
ihren Familien, im hinteren Block in 4-5 Bettzimmern Saisonniers. «Zuerst kamen die Arbeiter aus Norditalien, Bergamo, der Lombardei, dem Friaul, dem Veneto und der Romangna, wunderbare Arbeiter», wie Luciana Spaini betont.
«Später fuhr mein Mann immer weiter nach Süden, zuletzt
bis nach Sizilien, um Arbeiter anstellen zu können.»
Nach dem Tod der Brüder Elio und Giannino Spaini wurde
das Baugeschäft aufgelöst. Das Büro Immobilien L. und G.
Spaini verwaltet heute die noch nicht verkauften Immobilien.
Italienische und schweizerische
Arbeiter beim Ausbau der
Persilwerke der Henkel AG
durch die Firma Spaini 1929.
Gilardo und Pasqualina
Spaini um 1910 in Luino.
Pass von Gilardo Spaini.
Moderne Blockwohnungen an
der Bahnhofstrasse und der
St. Jakobstrasse, gebaut von
den Gebrüdern Spaini 1932.
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05.10.2010 19:08:15
Der Schmittiplatz:
«Piazza Roccavivara»
Von Jennifer Degen
Im Zentrum des Prattler Dorfkerns, zwischen dem Schloss
und der Kirche, liegt der «Schmittiplatz». Dieser Platz wurde
für die Gastarbeiter aus Roccavivara zu einem bedeutsamen
Ort; er war ihr Treffpunkt, auf dem sie sich nach der Arbeit
und an Sonntagen die Zeit vertrieben. Stehend oder auf einer
Mauer sitzend plauderten und debattierten sie stundenlang
und erzählten sich Neuigkeiten aus der Heimat. An Sonntagen kamen Rocchesi aus der ganzen Region Basel auf dem
Schmittiplatz zusammen und er entwickelte sich zum Ersatz
der heimischen Piazza. Noch heute ist der Schmittiplatz allen Bewohnern aus Roccavivara ein Begriff. Fällt das Stichwort Pratteln, so sprechen alle wie selbstverständlich vom
Schmittiplatz. Selbst die Kinder
und Grosskinder der Gastarbeiter kennen den Schmittiplatz,
er scheint für sie zum Inbegriff
der Emigration in die Schweiz
geworden zu sein. Pasquale
Minni, der 1960 nach Pratteln
kam, berichtet, dass sie den
Schmittiplatz in «Piazza Roccavivara» umbenannt hätten.
Er erinnert sich an das lebhafte
Treiben auf dem Dorfplatz, der
wichtig gewesen sei, weil kaum jemand ein Telefon gehabt
habe. Man habe man sich auf der Piazza erzählen können,
was in Roccavivara so vor sich ging.
Der Schmittiplatz diente als Informationsplattform für
Neuigkeiten aus der Heimat. Zu einer Zeit, in der die Kommunikationsmittel noch sehr beschränkt waren, war der
mündliche Austausch sehr wichtig. Briefe kamen oft erst
28
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nach Wochen an und ein Telefonat in die Heimat kostete
verhältnismässig viel Geld. Viele Gastarbeiter der ersten Generation waren zudem auf die mündlichen Informationen
angewiesen, denn sie konnten oft weder lesen noch schreiben. Durch den Austausch mit anderen Emigranten waren
sie nicht ganz vom Geschehen in ihrem Heimatdorf abgeschnitten und fühlten sich ihrer Heimat und ihren Familien
ein kleines Stück näher.
Der Schmittiplatz war zudem ein Ort, an dem sich die Rocchesi in einer familiären Gemeinschaft aufgehoben fühlten.
Die meisten Gastarbeiter aus Roccavivara waren als Saisonniers in Pratteln und mussten nach 9 Monaten für 3 Monate nach Italien zurückkehren.
Der Saisonnier-Status erlaubte es ihnen nicht, ihre Familien in die Schweiz zu bringen,
und so lebten die Männer von
ihren Familien getrennt. Aus
ihrer Heimat waren sie jedoch
daran gewöhnt, eng in die
Familiengemeinschaft eingebunden zu sein. Dies war mit
ein Grund, weshalb sie auf
dem Schmittiplatz eine Art
Ersatzfamilie suchten. Mario Antenucci, der in den 1960er
Jahren als eines der wenigen Gastarbeiterkinder in Pratteln
war, erinnert sich an seine Kindheit auf dem Schmittiplatz:
«Das habe ich heute immer noch vor mir: Ich als kleiner
Junge bin von einem Schoss zum andern gereicht worden.
Darum habe ich wahrscheinlich diese Beziehung ... zum
Dorf und den älteren Leuten im Dorf.» Laura Antenucci:
Pasquale Minni über
die «Piazza Roccavivara» in Pratteln:
Jennifer Degen: «E poi vi siete
trovati al Schmittiplatz?»
Pasquale Minni: «Sì, Schmittplatz, quella era la piazza,
noi l‘avevamo intitolata
‹Piazza Roccavivara›.»
Degen: (lacht)
Minni: «Sì, perché la, la
domenica mattina, pure chi
stava a Muttenz o a Rheinfelden, si ritrovavano, facevamo
tante di quelle chiacchierate
in mezza ai gruppi così con
i paesani che stavano là.»
Degen: «Dunque sono
venuti da dappertutto?»
Minni: «Sì sì sì sì sì, Schmittiplatz la chiamavamo ‹Piazza Roccavivara›. Sì sì.»
Degen: «E trovarsi in
piazza e chiacchierare era
importante per voi?»
Minni: «Sì, perché si raccontava magari qualcuno aveva
telefonato alla famiglia e si
raccontava quello che facevano al paese e qui in Italia. Si
racconta tante di quelle cose
magari è pure necessario sapere perché così si sta lontano.
Prima non è che si telefonava
tanto spesso perché costava
Der Schmittiplatz vor der Umgestaltung in den 1980er Jahren.
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05.10.2010 19:08:27
il telefono. Si scrivevano le
lettere – le lettere magari ci
sono delle volte che passava
un mese pure finché ritornava
la risposta di questa lettera.
Tanto tempo che tu non avevi
contatto con la famiglia. E
allora era bello se ci vedavamo e si raccontava. Magari
l‘amico aveva avuto la lettera il
giorno prima o io avevo avuto
la lettera e stavo informato di
qualche cosa. Sì, si raccontava
tante di queste storiette così
come si comportano in paese.»
Enzo Ferrara über den
Treffpunkt Schmittiplatz
in den 1980er Jahren:
«A me mancavano gli amici
proprio. La fortuna che ho
avuto dopo è che sapendo
che questa Wehr stava vicino
a Basilea. Tutti i weekend,
quindi venerdì sera, terminavo
di lavorare e andavo a Pratteln.
Perché Pratteln per me era
Roccavivara. Io andavo a
Pratteln tutti i weekend. O con
la macchina di un amico mio
perché non potevo guidare.
Oppure andavo in treno senza
problemi. Per me era proprio
...e lì quando andavo a Pratteln, per me, stavo a Roccavivara perché c‘erano tantissimi
Rocchesi. Molti amici proprio
e i miei coetani. Magari hanno
«Er war halt der Einzige.» Mario Antenucci: «Im Dorf kennt
mich jeder Ältere, denn ich war einfach der Mario, der halt
der Einzige war. Jeder hat an sein Kind gedacht und mich
verwöhnt dazumal.»
Die Arbeiter fanden in Mario einen Ersatz für ihre eigenen
Kinder, die sie selbst nicht aufwachsen sahen. Die Nähe, die
sich die Arbeiter auf dem Schmittiplatz gegenseitig gaben,
gab ihnen zumindest ein Stück des emotionalen Rückhalts,
den sie sonst in der Familie gefunden hätten.
Die Prattler Piazza Portella
Die Art des Zusammentreffens auf dem Schmittiplatz hatte
grosse Ähnlichkeit mit den Treffen auf der Piazza Portella
in Roccavivara. Auf der Piazza Portella, die in dem steilen
Bergdorf zuoberst zwischen
den Häusern liegt, fanden
sich die Dorfbewohner zu
spontanen
Plauderrunden
ein. Noch heute gehört es
zum Charakter des Dorfes,
dass sich Alt und Jung dort
treffen und sich besonders
die älteren Dorfbewohner mit
Kartenspielen wie Briscola
oder Scopa und mit Plaudern
die Zeit vertreiben. Das ungezwungene Beisammenstehen
auf dem Schmittiplatz gab
den Gastarbeitern folglich ein
wenig das Gefühl von Hei-
mat. Entsprechend tauften sie den Schmittiplatz «Piazza
Portella» oder «Piazza Roccavivara».
In den 1960er Jahren richteten die Rocchesi in einer Baubaracke am Rande des Schmittiplatzes gar ein kleines Beizli
ein. In der sogenannten «Barracca», die ihnen von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurde, schenkten sie an den
Abenden und am Wochenende Getränke aus. Sie führten
das kleine Lokal in Eigenregie und spielten Briscola und diskutierten oft bis spät abends. Die spanischen Gastarbeiter
hatten ebenfalls eine Barracca auf dem Prattler Dorfplatz
und die Versammlungen der zahlreichen Gastarbeiter blieben in Pratteln nicht unbemerkt. Der Dorfplatz galt als lauter, umtriebiger Treffpunkt der italienischen und spanischen
30
Einen_Platz_finden.indb 30-31
Gastarbeiter und es kam wegen Lärmklagen hin und wieder zu Konflikten. So erzählt Cristofaro Gianico , man habe
nicht gross «bordello» machen können, sonst sei die Polizei
gekommen. Der Bedarf, solchen Konflikten vorzubeugen
und entsprechende Regeln aufzustellen, schlug sich denn
auch im Prattler Polizeireglement von 1977 nieder. Darin
hiess es: «Spielen im Freien, wie Boccia, Minigolf usw. sind
von 09.00 bis 22.00 Uhr gestattet, sofern niemand gestört
wird.»
Der Schmittiplatz blieb für die Rocchesi über Jahre und
Generationen hinweg ein zentraler Ort. Wie ihre Väter oder
älteren Brüder trafen sich auch die Rocchesi der zweiten Generation in den 1970er und 1980er Jahren auf dem Schmittiplatz. Mario Antenucci beispielsweise, der als kleines Kind
den Arbeitern auf dem Platz Freude bereitet hatte, kehrte
später selbst an diesen Ort zurück. Während einer schwierigen Phase seines Lebens, in der er sich als 15-Jähriger mit
seinen Eltern zerstritten hatte und alleine lebte, suchte er
den Zusammenhalt mit den anderen jungen Rocchesi auf
dem Schmittiplatz. Ähnlich wie die Gastarbeiter der ersten
Generation erlebte auch er die Nähe zu seinen Landsleuten
als eine Art Ersatzfamilie.
Selbst in den 1980er Jahren war der Schmittiplatz noch
immer der Treffpunkt schlechthin. Auch Enzo Ferrara, der
1980 als einer der letzten Rocchesi in die Region Basel emigrierte, misst dem Platz eine grosse Bedeutung bei. Er arbeitete im deutschen Wehr nahe der Schweizer Grenze und
kam jeweils an den Wochenenden nach Pratteln.
Ihm fehlten in der Emigration vor allem die Freunde aus
dem Dorf. Er sieht es als Glück, dass die Stadt Wehr nahe
bei Basel lag, so dass er über das Wochenende seine Freun-
de besuchen konnte. So sei er jeden Freitagabend nach Feierabend nach Pratteln gefahren und habe das ganze Wochenende mit den Kollegen aus Roccavivara verbracht. Er
wartete am Sonntagabend jeweils den letzten Zug ab und
reiste erst um Mitternacht wieder nach Deutschland zurück.
Manchmal verpasste er den Zug auch und machte sich erst
am Montagmorgen wieder auf den Rückweg.
fatto scuola giù e poi sono
tornati su per lavorare. Quindi,
diciamo che psicologicamente
stavo già un pò meglio. Non
mi interessava che dovevo
lavorare una settimana.
Era proprio importante che
proprio poi il venerdì la sera il
weekend andavo (a Pratteln). E
ci stavo fino all‘ultima ora. Se
c‘era il treno a mezzanotte a
Basilea, alle undici e mezzo andavo. Non andavo mai prima.
Qualche volta sono anche andato il giorno dopo, ho perso
il treno, sì (lacht). E quindi tornavo spesso di là appunto di
questa voglia di stare in mezzo
ai miei conpaesani. Mi sentivo
a mio agio, stavo benissimo.»
Schnappschüsse auf
dem Schmittiplatz.
31
05.10.2010 19:08:30
«La casa di Stohler» – das Stohler-Haus
Von Jennifer Degen
Cristofaro Gianico über
die engen Wohnverhältnisse im Stohler-Haus
«Eh ... lì, il letto era di dieci
persone. Poi la maggior
parte dicevo a lui proprio
Otti ‹a me mi deve dare
una piccola cameretta›. Per
starci solo. Dice Stohler: ‹Ma,
eh›. Dico io: ‹Perché io
faccio questi turni. Quando si tornava, chi
tornava, chi si alzava, io non
dormo poi la notte.› Dice lui:
‹Se riesco te la voglio dare.›
Poi veramente me l‘ha data, ha
cercato lui di farmi qualcosa.»
Degen: «Il signor Stohler?»
Gianico: «Sì sì, sempre
da Stohler. Io non sono
mai andato via da lì.»
Degen: «Ma il signor Stohler
ha cercato (questa camera?)»
Gianico: «Sempre dentro di
quella casa. Sempre dentro
casa sua. Che poi lui aveva due
figli maschi e la figlia donna.
E lui mi ha detto: ‹Mò, cerco
un modo di mettere i due
maschi assieme. Così è fatto.›»
Das Stohler-Haus am Schmittiplatz in den 1950er Jahren.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitsmigration in die
Schweiz einen Aufschwung erlebte, schnellten die Einwohnerzahlen auch in Pratteln in die Höhe. Noch im Jahre 1941
wohnten in Pratteln 5142 Personen. Im Jahre 1950 waren
es bereits 6863 und zehn Jahre später 9492 Personen. Der
Bevölkerungszuwachs war enorm und entsprechend fehlte
es in der wachsenden Industriegemeinde an Wohnraum.
Die Gastarbeiter fanden oft keine günstigen Wohnungen und
mussten auf Massenunterkünfte ausweichen oder bei Bauernfamilien ein einzelnes Zimmer
mieten. Sie waren auf billige
Unterkünfte angewiesen, denn
sie kamen als mittellose Arbeiter mit dem Ziel, möglichst viel
Geld nach Hause zu schicken.
Eine Wohnmöglichkeit für die
Gastarbeiter aus Roccavivara
war das Stohler-Haus in Pratteln. «La casa di Stohler», wie die Emigranten es noch heute nennen, war eine Massenunterkunft an der Hauptstrasse
30 beim Schmittiplatz. Unmittelbar neben ihrem Wohnhaus,
im Dachstock oberhalb des Pferdestalls, vermietete das
Ehepaar Gottfried und Ilse Stohler Betten an die Zuwanderer. Die Unterkunft kostete einen Franken pro Tag und viele
der Zuwanderer aus Roccavivara gingen nach ihrer Ankunft
automatisch ins Stohler-Haus. Sie fanden dort einfach eine
erste Bleibe, so dass sich das Stohler-Haus ab 1956 zum
Treffpunkt der Rocchesi entwickelte. «Uno tirava l‘altro» –
der eine zog den anderen nach sich – sagen die Rocchesi.
Die Vermieterin Ilse Stohler erinnert sich, wie zu Spitzenzeiten bis zu 30 Männer in dem Haus lebten.
«Also wenn ich mich recht erinnere, waren einmal 30
Mann hier. Aber nicht immer. Aber sie haben immer wieder
einen mitgebracht oder zwei, jedes Mal. Und mein Mann
hat dann immer geschimpft und gesagt: ‹Ja Männer ...›»
Jennifer Degen: «Und dann kam einfach immer wieder
einer?»
Stohler: «Ja eben, das war ja der
Fluch. Dann haben sie wieder einen
mitgebracht oder zwei (lacht) und
was willst du dann machen? Die
waren da, die konntest du ja nicht
heimjagen (lacht).»
Das Stohler-Haus hatte schon
vor der Migrationsbewegung aus
Roccavivara anderen italienischen
Gastarbeitern als Unterkunft gedient. Ab 1956 war es jedoch fast
ausschliesslich von jungen Zuwanderern aus Roccavivara bewohnt. Die ehemaligen Gastarbeiter nennen es deshalb rückblickend liebevoll «Hotel
Roccavivara».
Mit dem Komfort eines Hotels hatte die Massenunterkunft im Stohler-Haus hingegen nichts gemeinsam. Die Arbeiter lebten auf engstem Raum in sehr einfachen Verhältnissen. Mario Antenucci, der als Kind eines Gastarbeiters in
den 1960er Jahren in Pratteln lebte, und dessen Vater oft im
Stohler-Haus verkehrte, erinnert sich:
«Dort hatte es Betten, wo Leute aufgestanden sind, zur
Schicht gegangen sind, und andere, die heimgekommen
32
Einen_Platz_finden.indb 32-33
sind und die haben sich das Bett geteilt. Es war einfach ein
wenig brutal, aber man hat nichts anderes bekommen.»
Auch alltägliche Verrichtungen wie Waschen und Kochen
erfolgten unter einfachsten Bedingungen. Bis zu zehn Personen benutzten gleichzeitig die angeblich zwei auf zwei
Meter grosse Küche. Dort kochten sie einfache Mahlzeiten
auf einem Gasherd, den sie mit 20-Rappen-Stücken bedienten. Ihre Kleidung wuschen sie in öffentlichen Waschsalons,
eine Duschgelegenheit oder ein Badezimmer gab es in dem
Haus keine. Die Arbeiter duschten in den öffentlichen Duschen der Schulen oder nach der Arbeit in der Fabrik.
Die engen Wohnverhältnisse bereiteten den Bewohnern
besonders wegen der fehlenden Privatsphäre Probleme. Cristofaro Gianico , der 1965 als 29-Jähriger nach Pratteln kam
und während elf Jahren im Stohler-Haus lebte, erinnert sich
an die Schwierigkeiten. Er schildert die Unruhe, die bei zehn
Personen pro Zimmer aufkam. Die einen Arbeiter kehrten
von ihrer Schicht zurück und machten Lärm, während andere im selben Raum zu schlafen versuchten. So konnte er sich
zwischen der Schichtarbeit in der Fabrik kaum erholen und
bat den Vermieter Gottfried Stohler um ein Einzelzimmer.
Dieser stellte ihm nach einer Weile eines der Kinderzimmer
zur Verfügung, nachdem er seine beiden Söhne zusammen
in einem Zimmer einquartiert hatte. Beim Einzelzimmer für
Cristofaro Gianico dürfte es sich um ein Privileg für einen
Arbeiter gehandelt haben, der über lange Jahre bei den
Stohlers gewohnt hat. Für alle Bewohner wäre eine solche
Lösung aus Platzgründen gar nicht möglich gewesen.
In der Regel war der Aufenthalt im Stohler-Haus keine
dauerhafte Lösung. Die meisten Rocchesi nutzten die Unterkunft als erste Anlaufstelle und zogen später zu Ver-
wandten, die in der Region bereits eine Wohnung gefunden
hatten. Oft kamen sie im Anschluss an das Stohler-Haus
auch bei Bauern oder Privatpersonen unter, die als Nebenverdienst einzelne Zimmer an Gastarbeiter vermieteten.
Für die neu eingewanderten Rocchesi scheint das StohlerHaus trotz der prekären Wohnverhältnisse einen emotionalen Wert erhalten zu haben. Die Nähe zu ihren Landsleuten
erleichterte den Neuankömmlingen den Start in der Fremde.
Sie konnten sich auf Italienisch und sogar in ihrem Dialekt
unterhalten, sie bewegten sich in einem vertrauten Umfeld
und konnten sich nach der Arbeit gemeinsam die Zeit vertreiben. Frau Stohler erinnert sich gut an die Arbeiter aus
Roccavivara:
«Sie sind von der Arbeit nach Hause gekommen. Dann
haben sie sich gewaschen und sind zusammengesessen und
haben gesungen oder haben dies oder jenes getan. Und das
Bier hat mein Mann dann noch vom Ziegelhof bestellt, weil
sie die Bierflaschen immer im Konsum geholt haben und
wir dann die Flaschen wieder entsorgen mussten. Und dann
haben wir uns gesagt: Wenn die schon so Bier trinken wol-
Die prekären Wohnverhältnisse
der Gastarbeiter sorgen auch
für Schlagzeilen wie hier im
«Blick» in einem Bericht über
eine Allschwiler GastarbeiterUnterkunft im Juni 1962.
33
05.10.2010 19:08:32
Wie Ilse Stohler
nach Pratteln kam
Wie die Rocchesi hat auch
Ilse Stohler die Ankunft in der
Fremde als einschneidenden
Moment erlebt. 1955 kam sie
mit einer wohlhabenden Frau
aus Bayern als Kindermädchen
nach Pratteln. Ihre Ankunft
in Pratteln blieb ihr bis ins
hohe Alter unvergessen:
«Dann hiess es, ja in der
Schweiz hat es ja schöne Berge
und so. Und das hatte es dort
auch, ich war im Oberbayrischen, das war eine schöne
Gegend. Dann kamen wir da
über Rheinfelden rein mit dem
Auto. Das war am Vormittag,
wir hatten da übernachtet am
Bodensee, und dann kamen
wir die Rheinstrasse hinunter
hier nach Pratteln. Und da
habe ich gedacht: ‹Läck doch
mir am Tschoope› (lacht).
Überall Kamine, und Berge ...
– na ja (lacht lange). Und dann
haben wir da noch so eine –
das war Anfang November,
da war es dazu auch noch
so tristes Klima, da haben
wir noch so einen Bauern
überholt, der da mit Pferden
gefahren ist. Der hatte so eine
komische Pudelmütze an, wo
so eine Kordel runter gehangen ist. Und einen Stumpen
im Maul. Und das hat mich
len, dann soll die Brauerei uns das liefern. Und dann hat
Ziegelhof uns einen Bierkasten hingestellt. Wir haben das
Bier günstig gegeben, aber so hatten wir doch etwas davon
– nicht nur die Sauerei. Und eben, sie sassen gerne zusammen und haben gesungen und gemacht ...»
Durch die Zusammenkünfte im Stohler-Haus entstand
für die Rocchesi in der Fremde ein wenig das Gefühl von
Heimat. Sie konnten sich in gewohnter Manier treffen,
was nicht immer ohne Konflikte mit den Vermietern über
die Bühne ging. Die Familie Stohler lebte in unmittelbarer
Nachbarschaft mit den Gastarbeitern, und Gottfried Stohler
– so erinnert sich seine Frau
– musste abends ab und zu
für Ruhe sorgen. Insgesamt
schildert sie das Zusammenleben aber als friedlich. Im
Gespräch mit der unterdessen verstorbenen Ilse Stohler
ist deutlich geworden, weshalb sie für die Situation der
Gastarbeiter ein besonderes
Verständnis hatte. Ihre eigene Lebensgeschichte war von
Migration geprägt und weist
Parallelen auf zu den Lebensgeschichten der Emigranten
aus Roccavivara. Deshalb sei sie hier in kurzen Ausschnitten
beleuchtet.
Ilse Stohler, Jahrgang 1929, ist in Schlesien, im heutigen
Polen, in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Diese floh gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wie viele andere vor den
russischen Truppen Richtung Westen. Nach einer langen,
gefährlichen Flucht musste sie als 16-jähriges Mädchen die
letzte Etappe ihrer Flucht in die amerikanische Besatzungszone ohne ihre Eltern antreten. Unterwegs mit ihrem älteren Cousin erfuhr sie, wie lebenswichtig es war, bei fremden
Menschen Unterschlupf zu finden. Ilse Stohler schildert den
Weg über die Grenze von der russischen zur amerikanischen
Besatzungszone:
«Dann sind wir gut über die Grenze gekommen, man
musste zuerst einen bezahlen, der einen in die Nähe der
Grenze bringt. Das war damals auch schon Trumpf. Und
dann das letzte Stück musste man alleine gehen. Da hat
er gesagt: Dort ist ein Bach,
da müsst ihr im Dunkeln
schauen, ob ihr eine Zigarette brennen seht oder was.
Eben, da müsst ihr selber
schauen. Und dann sind wir
gut durchgekommen, dann
waren wir drüben und sind
im Wald gelaufen und so weiter. Und dann kamen wir in
ein Städtchen und dort war
ein Restaurant und da sind
wir rein gegangen und haben
gefragt, ob man da übernachten könne und so. Und dann
hat der gesagt: ‹Ich darf euch nicht nehmen, bei uns ist alles
mit amerikanischem Militär belegt und die, die kommen,
werden alle abgefangen und müssen wieder zurück, weil
das so nicht mehr weiter geht. Die kommen zu Tausenden.
Und wenn ich Sie hier übernachten lasse, dann kommt das
aus und sie nehmen mir die Lizenz weg zum Wirten.›
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Einen_Platz_finden.indb 34-35
Und nachher hat er dann wahrscheinlich doch gedacht
... und hat gesagt: ‹Also, ich mach euch die Besenkammer
auf und geb euch da ein paar Decken und rührt euch nicht.
Wenn ihr etwas machen müsst, dort steht ein Eimer. Aber
nicht rauskommen, weil bei mir verkehren immerzu amerikanische Soldaten.›»
Trotz des Risikos, das Wirtepatent zu
verlieren, versteckte sie der Wirt in der
Besenkammer. Ohne seine Hilfe wäre
die Flucht mit grosser Wahrscheinlichkeit missglückt. In den ausführlichen
Schilderungen ihrer Flucht erzählt Ilse
Stohler immer wieder von Momenten,
in denen sie auf die Hilfe fremder Menschen zählen konnte. Ebenso hatte
ihre eigene Familie anderen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt, als sie noch
auf dem Bauernhof in Schlesien gelebt
hatte. Ilse Stohler wusste demnach
aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, auf fremde Hilfe angewiesen zu
sein und sich unter schwierigsten Bedingungen durchzuschlagen.
Die Situation der Gastarbeiter aus
Roccaivara lässt sich nicht mit der
Bedrohung vergleichen, die Ilse Stohler während und nach
dem Krieg erlebt hatte. Dennoch kannten sowohl die Rocchesi als auch sie das Gefühl, von zu Hause losziehen zu
müssen, ohne zu wissen, was sie in der Fremde erwarten
würde.
Ilse Stohler hatte sich ähnlich wie die Emigranten aus
Roccavivara in Pratteln fremd gefühlt
und hatte später aufgrund ihrer Lebensgeschichte wohl ein Gespür für
die Nöte dieser Menschen. Gewiss war
es nicht so, dass sie und ihr Mann die
Massenunterkunft aus reinem Mitgefühl vermieteten. Es spielten dabei
auch wirtschaftliche Überlegungen
mit, worauf Frau Stohler im Gespräch
auch hinweist. Sie sagt, sie hätten damit nebst der Sattlerei ihres Mannes
einen willkommenen Zusatzverdienst
gehabt. Es seien auch für sie keine goldenen Zeiten gewesen. Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Ilse Stohler vermag jedoch aufzuzeigen, dass
ihre eigene Migrationsgeschichte sie
sensibel machte für die Situation der
Gastarbeiter.
auch nochmals so ‹möge›,
weil (lacht laut) die bayrischen,
die haben doch so schöne
Hüte auf, verstehst du, und
sind so ein wenig ... Da habe
ich gedacht: ‹Lago mio.› Ich
war hinten im Auto und habe
gedacht: ‹nein, nein – nie!›»
Gottfried Stohler in seiner Sattler-Werkstatt,
Mitte der 80er Jahre.
Ilse Stohler im Jahre 1972.
35
06.10.2010 10:21:25
Die Arbeit:
«Si lavorava, si facevano i turni»
Von Jennifer Degen
Giulia Antenucci:
«Avevo nostalgia della mia terra.»
Fotos Seiten 36 bis 39: Arbeiten in der Verzinkerei Pratteln.
Giulia Antenucci ist 1948 in Roccavivara geboren und
im Dorf aufgewachsen. Sie gehörte schon zu jener
Generation, der nach der Primarschule eine Ausbildung offen stand. Sie absolvierte eine Schneiderlehre
und heiratete mit 21 Jahren Armando Minni, den sie
seit der Kindheit in Roccavivara kannte. Armando war
sieben Jahre zuvor in die Schweiz emigriert und nach
der Heirat ging Giulia mit ihm nach Muttenz. 1970 und
1971 bekamen sie zwei Kinder und die junge Familie
fand in Muttenz eine kleine Wohnung. 1974 zogen sie
ins Prattler Längi-Quartier, das in den Jahren zuvor entstanden war.
Der Wechsel von der familiären Gemeinschaft in
Roccavivara nach Pratteln fiel Giulia Antenucci sehr
schwer. Viel schwerer als ihrem Mann, wie sie im Gespräch mehrmals betont. Er war durch seine Arbeit bei
der Firma Jauslin & Sohn in Muttenz gut vernetzt, lebte
sich schnell ein und lernte gut Deutsch. Sie hingegen
blieb mit den Kindern vorerst zu Hause und fühlte sich
oft einsam. Sie sprach kaum Deutsch und lernte die
Sprache erst ein wenig, als sie in der Teigwarenfabrik
Dalang mit Schweizerinnen zusammenarbeitete. Auch
durch den Schuleintritt der Kinder kam sie vermehrt
mit Schweizern in Kontakt, so dass sie sich allmählich
ein wenig heimischer fühlte. Dennoch hatte sie stets
Sehnsucht nach der Heimat: «Avevo nostalgia della
mia terra.»
Giulia erzählt von schwierigen Momenten ihrer Migration, beispielsweise von der Wohnungssuche. Die
Vermieter hätten sich gegenüber Italienern oft abweisend verhalten. Wenn sie sich für eine Wohnung bewarben, endete die Bewerbung meist dann, wenn die
Vermieter von ihrer Nationalität erfuhren.
«Poi ci dava fastidio quando tu andavi a cercare casa
e ti dicevano ‹sei italiano? Sei straniero?› E allora ti
dicevano ‹no, la casa non c‘è›. Questo anche era brutto,
specialmente se il blocco era di una famiglia privata.
Che se era di un‘agenzia, allora ... E allora quello ti
dicevano ‹ti richiamo per la casa› e ti dicevano: ‹Sei
straniero? Sei Italiano?› Dici ‹sì, allora ti farò sapere.›
Però se telefonava lo Svizzero dopo, davano la casa allo
Svizzero.»
Mit dem Bau des Längiquartiers in Pratteln habe sich
die Wohnsituation anfangs der Siebzigerjahre stark verbessert. Dort lebten Giulia und Armando mit ihren Kindern unter vielen anderen Italienern. Sie blieben dort,
bis sie 1994 nach Roccavivara zurückkehrten.
36
Einen_Platz_finden.indb 36-37
Die Suche nach einem besseren Leben bedeutete für die
Gastarbeiter die Suche nach Arbeit. In der Schweiz, und im
Falle der Rocchesi insbesondere in Pratteln, war die Situation auf dem Arbeitsmarkt günstig. Obwohl viele Auswanderer nur über eine minimale Schulbildung verfügten – die
meisten von ihnen konnten in Roccavivara nur die Primarschule besuchen – fanden sie
in Pratteln und Umgebung
leicht eine Arbeitsstelle. Ihre
ersten Anstellungen hatten
die Rocchesi in der Landwirtschaft. Wenig später wechselten sie wenn möglich in
die Prattler Industriebetriebe,
denn die Arbeit in der Fabrik
war wesentlich besser bezahlt
als die Arbeit in der Landwirtschaft. Im stark industrialisierten Pratteln gab es gleich
mehrere Betriebe, die unentwegt Arbeitskräfte anwarben.
Dazu zählten die Pneuherstellung bei Firestone, die chemische Fabrik Rohner AG, die
Maschinenfabrik Buss AG, die Henkel-Fabrik oder auch die
Waggonwerke Schindler. Darüber hinaus suchten auch kleinere Firmen nach Arbeitskräften, so zum Beispiel die Verzinkerei Pratteln, die heutige Galvaswiss AG. Zwischen ca.
1956 und 1965 fanden sehr viele Arbeiter aus Roccavivara
in der Verzinkerei eine Stelle, so dass sie zum Anziehungspunkt für viele Neuankömmlinge wurde. Ähnlich wie im
Stohler-Haus und auf dem Schmittiplatz trafen sie dort auf
ihre Landsleute und konnten sich auch ohne Deutschkenntnisse einarbeiten und sich im Dialekt unterhalten.
Die Gastarbeiter aus Roccavivara waren mehrheitlich in
der Metallindustrie tätig und entsprachen damit nicht dem
Bild vom Saisonnier auf dem Bau, das vielen Menschen
noch heute präsent ist. Die
Verzinkerei war ihr Hauptbetrieb, daneben arbeiteten sie
auch in der Metallum AG, der
Rohrbogen AG, der Firestone
oder der Rohner AG. Ebenso
waren einige Rocchesi in den
Chemischen Werken Schweizerhalle tätig oder arbeiteten für die Flachdach-Firmen
Tecton und Jauslin & Sohn in
Muttenz.
Verglichen mit den Tätigkeiten
in ihrer Heimat bedeutete die
Arbeit in Pratteln für die Rocchesi eine grosse Umstellung.
In Roccavivara hatten sie auf
dem Feld an der frischen Luft
gearbeitet und konnten die Arbeit entsprechend ihrem eigenen Rhythmus gestalten. In Pratteln hingegen arbeiteten
sie in geschlossenen, lärmigen Fabriken und wurden vom
Schichtbetrieb diktiert. Cristofaro Gianico war von 1965 bis
1972 in der Verzinkerei angestellt und erinnert sich sehr genau an den Tagesablauf: Die erste Schicht begann um 6 Uhr
«I saffa in Fabric und
macca Stuc für Stuc»
Zeile aus dem Lied
«I bi e Italiano» aus dem
LALIBU der 1960er Jahre.
Cristofaro Gianico über die
Arbeit in der Verzinkerei:
«E lì si lavorava, si facevano
i turni. Si cominciava alle sei
la mattina , cioè … alle sei
il primo turno, dalle sei alle
due, dalle due alle dieci e dalle
dieci alle sei la mattina.»
37
05.10.2010 19:08:37
Antonio Di Lisa und die
schweizerische Präzision:
«La precisione, io non volevo
fare come dicono loro. Perché
se questa ‹Wand› sta qui
e io facevo così (will einen
Gegenstand an die Wand anlehnen), dicevano ‹No! Stop!
Nid! Ewäg drmit!› E io dico:
‹O sta qui, o sta qui› – dicono
loro ‹Nei – do! Nid qua.›
Prendo il martello, vado
all‘officina a prendere il martello, o la tenaglia o i chiodi.
Quando tu vai al magazzino
a prendere una cosa, devi riportarlo indietro. Devi scrivere:
tu prendi il trapano – Bohrmaschine – musst du unterschriibe, nochhär wenn du nid
retour, du muesch bezahle.»
morgens und dauerte bis 14 Uhr. Danach kamen die Arbeiter der zweiten Schicht, die bis 22 Uhr nachts arbeiteten,
und zum Schluss kam die dritte Schicht. Sie dauerte von
22 Uhr bis 6 Uhr in der Früh. So lief die Produktion in der
Verzinkerei Tag und Nacht auf Hochtouren.
Die Arbeiter aus Roccavivara mussten sich nicht nur an
den Schichtbetrieb gewöhnen, sondern
auch an die Arbeitsweise. Antonio Di
Lisa betont, die Schweizer Arbeitgeber
hätten nach einer ihm zuvor unbekannten Präzision verlangt.
Seine Vorgesetzten wiesen ihn zurecht, wenn er den Besen nach Gebrauch nicht an den exakt selben Ort
zurückstellte. Oder sie verlangten, dass
sich die Arbeiter in einer Liste einschrieben, wenn sie Werkzeuge aus dem Magazin holten. Antonio Di Lisa erzählt
mit einem Lachen, er habe die ersten
paar Tage unter den strengen Regeln
gelitten. Die Schweizerische Präzision
schien ihm allzu pingelig und er fühlte
sich schikaniert. Allmählich gewöhnte
er sich jedoch daran und spricht er heute lobend von der Schweizer Präzision und Pünktlichkeit.
An ihren Arbeitsstellen in der Prattler Industrie verrichteten die Rocchesi anstrengende und ungesunde Arbeiten. Als
ungelernte Arbeitskräfte gelangten sie meist nur an Stellen,
die schweren körperlichen Einsatz erforderten. Pasquale
Minni beispielsweise arbeitete in der Verzinkerei an den
Säurebädern und musste die Eisenteile vor dem Verzinken
von Hand in die Bäder heben. Die Eisenkonstruktionen waren schwer und es gab noch keine Kräne, welche die Arbeit
erleichtert hätten. Zudem waren die Arbeiten nicht ungefährlich, wie die Schilderungen eines Schweizer Mitarbeiters zeigen. Leo Galliker, der in der Verzinkerei als Chauffeur angestellt war und die Produktion ebenfalls kannte,
beschreibt die Arbeit an den Bädern als
schmutzig und ungesund. Es sei beim
Verzinken oft zu Unfällen gekommen:
«Manchmal gab es einen Knall und
das Rohr hat es verjagt. Das ist ein paar
Mal vorgekommen, da gab es manchmal Unfälle. Das hat geklöpft und gespritzt und wenn so etwas passiert ist,
dann hat es manchmal Leute getroffen.
Zu dieser Zeit, vor 40 Jahren, hatten
sie noch selten Schutzmasken oder so
etwas (lacht), nicht einmal eine Brille.»
Cristofaro Gianico, der über lange
Jahre in der Verzinkerei gearbeitet hatte, ist besonders der Zinkofen als gefährlich und besonders heiss in Erinnerung geblieben. Rückblickend spricht er
von Temperaturen von 2500 Grad, was
bei einer tatsächlichen Ofentemperatur von 400 bis 500
Grad stark übertrieben ist. Seine Einschätzung zeigt jedoch,
dass er die Arbeit als sehr unangenehm und gefährlich empfunden haben muss. Er hat noch heute Narben an Armen
und Händen von den Verbrennungen an den Zinköfen.
Eine weitere Schwierigkeit beim Verrichten der täglichen
Arbeit war die Sprache. Doch für viele Eingewanderte stand
38
Einen_Platz_finden.indb 38-39
der Spracherwerb am Anfang nicht im Vordergrund, denn
sie hatten nicht die Absicht, für längere Zeit in der Schweiz
zu bleiben. Sie wollten lediglich genügend Geld verdienen,
um möglichst bald zu ihren Familien in die Heimat zurückkehren zu können. So führt Mario Di Lisa aus, er habe gedacht, er brauche kein Deutsch zu lernen, weil er ja ohnehin
im nächsten Jahr zurückgehe. Er blieb aber in der Region,
bis heute. Im Verlauf der Jahre habe er dann gemerkt: «Erst
wenn du die Sprache beherrschst, dann bist du ein Mensch.»
Deutsch zu lernen erschien
oft auch dort als unnötiger Aufwand, wo die Verständigung in
der eigenen Sprache möglich
war, nicht zuletzt auf dem Bau.
Aber auch in der Verzinkerei
konnten sich die Arbeiter mit
minimalen
Deutschkenntnissen durchschlagen. Die meisten
Arbeiter waren italienischsprachig und erklärten sich die Arbeitsvorgänge gegenseitig. Bei
komplizierteren Sachverhalten,
wie beispielsweise dem Ausfüllen von Personalblättern, war die Personalchefin der Verzinkerei, Frau Mazzotta, zur Stelle. Sie sprach Italienisch
und Deutsch und konnte übersetzen, wenn die Situation
es verlangte. Pasquale Minni erwähnt sie im Gespräch als
sehr wichtige Ansprechperson. Zusammen mit einem Verantwortlichen der Firma Schindler organisierte sie auch
Deutsch- und Italienischkurse für die Belegschaften, um die
gegenseitige Verständigung zu fördern. Die Kurse fanden je-
doch nach Feierabend auf freiwilliger Basis statt, so dass sie
aufgrund der ohnehin schon hohen Arbeitsbelastung sehr
schlecht besucht waren.
In einem Betrieb wie der Verzinkerei fanden sich die Rocchesi auch mit geringen Deutschkenntnissen zurecht. Sobald sie jedoch unter Deutschsprachigen arbeiteten, waren
sie bald sehr isoliert, wie die Biografie von Anna AntenucciMinni zeigt. Sie war mit einer der ersten Einwanderergruppen 1957 in die Region Basel gekommen und hatte eine
Anstellung bei einer Familie in
Möhlin als Haushälterin gefunden. Sie konnte nur per Zeichensprache mit der Familie kommunizieren und lernte von den fünf
Kindern im Alltag allmählich ein
paar Worte Deutsch. Sie war jedoch weit davon entfernt, mit
jemandem ein Gespräch führen
zu können, und litt sehr stark
unter ihrer sprachlichen Isolation. Sie fühlte sich derart einsam,
dass sie nach ein paar Monaten
erkrankte. Ihre Situation verbesserte sich erst, als sie die Stelle wechselte und in einem
Restaurant in Magden arbeitete, in dem auch Italiener verkehrten. Jahre später lernte sie ein wenig Deutsch, als ihre
Kinder in Muttenz zur Schule gingen und sie mit deutschsprachigen Müttern anderer Kinder in Kontakt kam.
Für die Frauen war die sprachliche Situation besonders
schwierig. Solange sie zu Hause die Kinder betreuten und
selbst nicht berufstätig waren, war meist erst der Schulein-
39
05.10.2010 19:08:40
Armando Minni: Vom
Hilfsarbeiter zum Bauleiter
«Allora l’idraulico l’ho imparato là, i primi tre anni che sono
stato là come – ripeto – ho
fatto l’apprendistato. Cioè,
durante quell’ apprendistato
facevo Handlanger. E poi
hanno visto che mi comportavo bene. Mi aiutavano a
conoscere i disegni, cioè, mi
hanno aiutato tanto, tanto,
tanto proprio. E dopo tre anni
e mezzo ho cominciato la mia
strada da Bauleiter, pure io.»
tritt der Kinder der Moment, in dem sie mit der deutschen
Sprache in Kontakt kamen. Durch die eigenen Kinder und
deren Schulkameraden lernten sie bruchstückhaft Deutsch.
Die berufstätigen Männer hingegen waren meist stärker
mit der deutschen Sprache konfrontiert, so dass sie – wenn
auch lückenhaft – über bessere Deutschkenntnisse verfügten als ihre Frauen. Giulia Antenucci-Minni beispielweise,
die ihrem Mann Armando Minni 1969 in die Schweiz folgte
und hier die Kinder aufzog, war zu Beginn mehr oder weniger isoliert. Ihr Mann war an seinem Arbeitsort in der Firma
Jauslin & Sohn von Schweizern umgeben, lernte von ihnen
die nötigen Ausdrücke kennen, so dass sich sein Wortschatz
allmählich erweiterte und er sich gut auf Deutsch verständigen konnte. Seine Deutschkenntnisse waren zudem die
Voraussetzung dafür, dass er später in der Firma
aufsteigen konnte, was ihm sehr viel bedeutete.
Für die meisten Rocchesi hatte die Arbeit in der
Emigration einen hohen Stellenwert. Durch gute
Leistung fanden sie beim Arbeitgeber Anerkennung, bekamen mehr Verantwortung und konnten
sich trotz fehlender Ausbildung in der Praxis Fachwissen aneignen. Dies ermöglichte den beruflichen
Aufstieg, wie es das Beispiel von Armando Minni
zeigt.
1962 kam er in die Schweiz und arbeitete zuerst
als Fabrikarbeiter in der Teigwarenfabrik Dalang in
Muttenz. Dann ging er für eine Weile nach Deutschland, bevor er 1966 bei Jauslin & Sohn Sanitärinstallationen in Muttenz eine Stelle als Handlanger
antrat. Als Hilfskraft schaute er sich während
dreier Jahre bei den Kollegen die Arbeitstechniken
ab. Diese empfanden ihn als angenehmen Mitarbeiter und
brachten ihm in einer Art inoffiziellen Lehre allmählich die
nötigen Kenntnisse bei. Nach dreieinhalb Jahren hatte sich
Armando Minni so gut eingearbeitet, dass er selbst zum
Bauleiter aufsteigen konnte. Er erzählt mit grossem Stolz
von seinem beruflichen Aufstieg und ist den Kollegen noch
heute dankbar für die Unterstützung.
Auf den Baustellen der Ciba-Geigy beispielsweise hätten
die Ingenieure oft explizit nach ihm verlangt und ihm grossen Respekt entgegengebracht. Voller Genugtuung erzählt
Armando Minni, wie sein Chef einen Grossauftrag nur dank
ihm an Land ziehen konnte. Beim Neubau der Bank Sarasin
in Basel habe der Auftraggeber zu Kurt Jauslin gesagt: «Te
lo do se mi mandi Minni» – «ich gebe dir den Auftrag, wenn
du mir Minni schickst.» Wie das Beispiel von Armando Minni deutlich macht, war die Arbeit in der Schweiz für die
Rocchesi nicht nur eine Möglichkeit, um Geld zu verdienen.
Sie liess oft ein Band zu Mitarbeitern und Vorgesetzten entstehen und verhalf den Gastarbeitern zu Wertschätzung, zu
einer gewissen Integration und manchmal auch zu sozialem
Aufstieg.
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Antonio Di Lisa: «Una nazione che funziona.»
Antonio Di Lisa kam im Juni 1958 20-jährig in die
Schweiz. Wie für die ersten Gastarbeiter aus Roccavivara üblich, trat er zuerst eine Stelle bei einem Bauern
an, in Kaiseraugst. Nach sieben Monaten wechselte
er auf den Bau in Rheinfelden und fand im Oktober
1959 dann eine Stelle in der Verzinkerei Pratteln. 1964
heiratete er in Roccavivara und verbrachte abwechslungsweise einige Zeit in der Heimat und in Pratteln.
1965 zog er definitiv nach Pratteln und hatte diverse
Anstellungen bei der Metallum AG, der Firma Firestone
und der Firma Brodtbeck. Von 1983 bis 2003 arbeitete
er in der Rohrbogen-Fabrik.
Antonio Di Lisa lebte die meiste Zeit ohne seine Frau
in Pratteln. 1966 kam sie zwar zu ihm in die Schweiz,
doch weil ihre Eltern krank waren und sie ein Kind erwartete, kehrte sie nach einem Jahr in die Heimat zurück. Er sagt, seine Vermieterin, Frau Siegrist, habe ihn
damals gewarnt, ja keine anderen Frauen in die Wohnung mitzubringen. Sie habe jeden seiner Schritte mitbekommen und ein wachsames Auge auf ihn gehabt.
Die Wohnung in ihrem Haus hatte er nur auf Empfehlung seines Arbeitgebers bekommen. Er erinnert
sich, wie zwischen ihm und der Vermieterin allmählich
ein freundschaftliches Verhältnis entstand. Wenn er
beispielsweise Sauce für die Spaghetti kochte, sei sie
manchmal in die Küche gekommen und habe in den
Topf geschaut. Er solle doch ein paar Spaghetti mehr
kochen, habe sie gesagt, sie möchte auch gerne mitessen.
«Poi questa signora, dove abitavo io, Frau Siegrist,
quando io cucinavo lei veniva nella cucina: ‹Oh, guet
schmecke!› Veniva a vedere sulla pentola e diceva:
‹Oh, das isch guet.› E mi ha detto una volta: ‹Metti un
po‘di maccaroni in più che mangiamo insieme.› Questa
signora, lei è brava, he.»
Wie die meisten Rocchesi hatte auch Antonio Di
Lisa nicht die Absicht, für längere Zeit in Pratteln zu
bleiben. Jedes Jahr, erzählt er lachend, sei er stets ein
weiteres Jahr geblieben. Und so sind aus einem Jahr
40 Jahre geworden. Nach seiner Pensionierung kehrte er 2003 nach Roccavivara zurück. Es fiel ihm nicht
leicht, sich in Italien wieder einzuleben. Er vermisst die
schweizerische Präzision und Pünktlichkeit und betont
im Gespräch mehrmals, die Schweiz sei für ihn ein einmaliges Land. Ein Land, das funktioniere. Er würde jederzeit zurückkehren: «Per me, la Svizzera è stata una
cosa particolare, una nazione che funziona.»
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05.10.2010 19:08:44
Traumland Italien –
Traumland Schweiz ?
Von Christine Ramseier
Giannino Spaini präsentiert
das «2. Festival Cantabimbi
d‘Italia» in Pratteln 1969.
Italien galt nördlich der Alpen
schon lange als die Verkörperung
des Südens und der damit assoziierten Romantik. «Wenn bei Capri
die rote Sonne im Meer versinkt
und die bleiche Sichel des Mondes blinkt, ziehn die Fischer mit
ihren Booten aufs Meer hinaus,
und sie legen in weitem Bogen die Netze aus ...» sang Rudi
Schuricke 1949. Man träumte vom
immerwährenden Sonnenschein
über blauen Buchten und Sandstränden, schwärmte von singenden Gondolieri in den Kanälen
Venedigs, von der kleinen Trattoria
und dem Wein. Italien war ein Sehnsuchtsort. Sänger
wie Vico Torriani, Peter Kraus, Roy Black, Al Bano Carrisi oder Paola liessen die Caprifischer mit immer neuen
Interpretationen aufleben.
Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit machte es
immer mehr Leuten möglich, diese Traumwelt wirklich
aufzusuchen. In den 50er Jahren vergnügte sich in den
Sommerferien jeweils eine ganze Kolonie von Prattlern
an den Stränden von Rimini und Cesenatico. Auf dem
Mercato genoss man das Markten um Ledertaschen
und Gürtel oder um Schuhe und Hüte. Und zurück zu
Hause legte man die mitgebrachte Single mit dem
Sommerhit auf den Plattenteller. Rocco Granata sang
sich mit «Marina, Marina ...» in die Schweizerherzen,
1958 Domenico Modugno mit «Nel blu dipinto di
blu ...»,1968 war es Bobby Solo mit «Una lacrima sul
viso ...».
In den gleichen Jahren war aus diesem Traumland Italien die Einwanderung der Gastarbeiter nach Norden
im Gange. Auch sie wurde besungen. 1962 vertrat Conny Froebess mit dem Lied «Zwei kleine Italiener ...»
Deutschland erfolgreich am Concours Eurovision in Luxemburg. Dieser Schlager wurde auch in der Schweiz ein
Hit. Darin singt Conny Froebess:
«Eine Reise in den Süden ist für andre schick
und fein,/doch zwei kleine Italiener möchten
gern zuhause sein./Zwei kleine Italiener, die
träumen von Napoli,/von Tina und Marina, die
warten schon lang auf sie./Zwei kleine Italiener, die sind so allein./Eine Reise in den Süden
ist für andre schick und fein,/doch zwei kleine
Italiener möchten gern zuhause sein ...»
Diese umgekehrte Perspektive, jene der emigrierten
Italiener in einem mehr oder weniger gastfreundlichen Gastland schlug sich in den 1960er Jahren in
der Schweiz auch im Lied «Italiano» nieder, das fast
jedes Kind aus dem LALIBU, dem Lagerliederbuch der
Schweiz kannte:
«I bin en Italiano und spile guet Piano,
i saffa in Fabric und macca Stuc für Stuc.
O mia bella cara Margherita,
wohne dir gerade visavia,
bringe dir en cline Stendelio,
oi cum e bisseli abe oder solli ufe co?»
In denselben Jahren präsentierte der Kabarettist Alfred
Rasser, der aufkommenden Fremdenfeindlichkeit gegenüber kritisch eingestellt, ein Lied, das einen traurigen Italiener zeigt, dem es nicht gelingt, in der Schweiz
Fuss zu fassen und der vor seiner Rückreise steht:
«Ciao, ciao Svizzera, addio bel Helvetia.
Landeli in eini Pracht, wie von eini Gärtner gmacht.
Industriee, Landwirtschaft – tutti quanti fabelhaft.
Alles, alles perfetto. Numme eins nid: Popolo.
Ciao, ciao Svizzera – muess i leider jetze go.»
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Italianità in Pratteln
Von Christine Ramseier
In Pratteln hielten in den Jahren der Hochkonjunktur nicht
nur Italiener und Italienerinnen Einzug, sondern auch ein
immer spürbarer werdender Hauch von «Italianità». Und
das nicht nur in den Ferienprospekten und Fotoalben, auf
den Plattentellern, sondern zum Beispiel auch im Kino. So
flimmerten im 1948 erbauten Kino Iris in Pratteln auch italienische Filme über die Leinwand. Sie erreichten das einheimische Publikum ebenso wie das italienische, liefen die
Filme doch mit Untertiteln. Meisterhafte Regisseure wie
Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino Visconti, Federico
Fellini oder Vittorio De Sica erzählten in einer realistischen
Bildsprache die berührenden Schicksale der kleinen Leute.
Am durchschlagendsten war der Einbruch der Italianità
aber wahrscheinlich im kulinarischen Bereich. Allmählich
veränderte sich in den hiesigen Lebensmittelläden das Angebot an Lebensmitteln. Zwischen Tomaten und Bohnen
entdeckte die Schweizerin Peperoni (wie kocht man die?),
Zucchetti (das sind doch keine Gurken?) oder Melanzane. Spaghetti mit Sugo aus der Konservendose wurde ein
schnelles Mittagessen. Statt Gruyère konnte man Parmigiano darüberreiben, neben dem Sonnenblumenöl stand nun
auch Olivenöl im Gestell, es gesellte sich der Mozzarella zu
den Tomaten: so erweiterte sich die Speisekarte stetig. Die
ersten Pizzerien fassten Fuss, man konnte im Café nicht nur
einen Espresso bestellen, sondern auch einen Cappuccino
und plötzlich gabs als Dessert bei jeder Einladung Tiramisù.
Und manche meinen augenzwinkernd, es gebe heute in
Pratteln fast keine Beiz mehr, die keine Pizzeria ist.
Centro Ricreativo Italiano
Wie war es mit der Italianità der Einwanderer bestellt, wie
konnten sie diese leben? Die Gastarbeiter wohnten meistens in Untermiete oder häufiger noch in Mehrbettzimmern
ohne Privatsphäre. In der Freizeit trafen sie sich am Bahnhof oder auf dem Schmittiplatz. Dadurch fielen die jungen Männer auf und erweckten oft Unmut. «Sie standen
am Bahnhof herum, sassen im Wartsaal und schwatzten,
redeten halt laut und störten», erinnert sich Frau Luciana Spaini. Don Mario Slongo, der 1961 von der römischkatholischen Landeskirche Baselland als erster Seelsorger
der Missione Cattolica Italiana eingesetzt wurde, gründete
mit einer Gruppe Gastarbeiter den Verein Centro Ricreativo
Italiano di Pratteln. Der Name war Programm. Unterstützt
wurde der Verein von der Regionalgruppe für Gastarbeiter
Pratteln-Augst, welcher Delegierte der ansässigen Industrie, wie Coop, Rohner, Schindler und Säurefabrik sowie der
Gemeinde angehörten. Bereits 1962 konnte am Gallenweg
auf einem Grundstück der Brauerei Ziegelhof das «Centro
Ricreativo Italiano», ein Freizeitzentrum mit grossem Saal
und Küche gebaut werden.
«Das Centro erfüllte zwei Funktionen», erklärt Fritz Zimmermann, ehemaliges Mitglied der Regionalgruppe für
Gastarbeiter und später in der Nachfolge von Giannino
Spaini Präsident des Asilo. «Am Tag diente das Centro als
Asilo für 50 bis 60 Kinder und am Abend ab 18.30 Uhr bis
23 Uhr und am Wochenende war es für die Erwachsenen
geöffnet. Die Gäste konnten hier in vertrauter Gesellschaft
ein Glas trinken, eine Pizza essen, diskutieren, Karten spielen.» Wöchentlich kamen da gut und gern 1000 Personen
zusammen. Reinhard Urban fasst 1968 in der Heimatkunde
Sonntage und Festtage:
Sonntagsspaziergänge und das
Festessen bei der Gründung
der «Associazione Mamme»
mit viel Dorfprominenz.
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05.10.2010 19:08:51
«2. Festival Cantabimbi
d‘Italia» in Pratteln 1969.
Linolschnitt von Karollus
zur Eröffnung der «Casa
Evangelica Italiana» auf dem
Schmittiplatz im Prattler
Anzeiger vom 19. März 1965.
Im Sonntagskleid an der
Vereinshausstrasse.
Osterfeier im Asilo 1996.
von Pratteln zusammen,
wie in gewissen Zeitabständen Filmvorführungen, Musik- und Gesangsabende stattfanden. Eine
Theatergruppe von 40
Gastarbeitern führte in
der Karwoche ein vielbeachtetes Passionsspiel auf.
Monatlich wurden Bücher
ausgestellt, welche die
Leute kaufen konnten. Vor
hohen Festtagen oder vor
den Ferien besorgte ein
Mitglied des Vorstandes
die Reisefahrkarten und Platzreservationen, ein anderes
Mitglied regelte im Büro für Sozialfürsorge des Centro anstehende Passfragen mit dem Konsulat. Fussballclub und
Bocciaclub bewegten die Gastarbeiter zum Mitmachen und
auch ein Briefmarkenklub war hier tätig. Mit Hilfe des Ausländerdienstes oder des Konsulates wurden Sprachkurse,
Säuglingskurse oder auch etwa Nähkurse durchgeführt.
Luciana Spaini zeigt auf ein Foto in ihrem Album: «Hier
feiert die Associazione Mamme, der Mütterverein, im Centro ein Fest.» Frau Spaini hat den Verein gegründet und 30
Jahre präsidiert, mit dem Ziel, die Frauen mit der hiesigen
Kultur und Geschichte vertraut zu machen. «Jedes Jahr
sind wir an einen typischen Ort in der Schweiz gefahren,
um an Ort und Stelle etwas über die Bedeutung des Ortes
zu erfahren. Meistens hat das Essen die Frauen allerdings
mehr interessiert. Sie damit zufrieden zu stellen, war aber
auch nicht immer einfach, denn Pasta war nie richtig zubereitet und Kartoffeln mochte man nicht, so sind wir mit
der Zeit bei Spätzli gelandet, Spätzli und Schnitzel. Oder
wir haben in Basel und Umgebung Museen besucht.» Beim
Weiterblättern fährt sie fort: «Den Versuch, Frauen, die nicht
lesen und schreiben konnten, darin zu unterrichten, habe
ich aufgeben müssen. Es war zu schwer, zu spät für diese
Frauen.» Eine Doppelseite mit Fotos von einem Kinderfest
öffnet sich. «Ja, das sind die Kinder des Asilo», begeistert
sich Frau Spaini, «grosse Feste haben wir gefeiert, auch
Cantabimbi, Gesangsfeste nach dem Vorbild von San Remo.
Aber da haben Mütter hinter der Bühne Streit bekommen,
mein Kind singt besser als deines und so, dann haben wir
das nicht mehr gemacht.»
Dieser Einblick in die Tätigkeiten im Centro zeigt, dass
hier viele Verbindungen geknüpft wurden, man hat zusammen gefeiert und sich gegenseitig bei der Bewältigung
von anfallenden Problemen geholfen. Auch die Arbeit der
jeweiligen Padri der Missione Cattolica wirkte stabilisierend
auf die bunt gemischte Gemeinschaft der Gastarbeiter. Fritz
Zimmermann sagt: «Als Spanier und Portugiesen einzuwandern begannen, stand das Centro auch ihnen offen. Es wurde über Pratteln hinaus von der ganzen Region frequentiert.
Nach einem Brand anfangs der 1990er Jahre wurde das
Centro wieder aufgebaut. Die Gruppe der Benützer wurde
jedoch immer kleiner, so dass das Centro Ricreativo Italiano
als Institution aufgelöst und das Gebäude 1993 an die Brauerei Ziegelhof abgegeben wurde.»
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Casa Evangelica Italiana
Auch die evangelischen Gastarbeiter suchten einen Versammlungsraum. Es bildete sich der «Gruppo Evangelico Italiano di Pratteln», der 1965 von der Gemeinde eine
Wohnbaracke hinter der alten Schule am Schmittiplatz erhielt. Sie wurde zur «Casa Evangelica Italiana» umgebaut.
Auch hier erfuhr die Gemeinschaft die Hilfe der Behörden,
der kirchlichen Instanzen, der Industrie und privater Personen. Jeden Abend lief nun ein Clubbetrieb, an den Wochenenden waren die Räume überfüllt. Man spielte Karten,
konnte Fernsehen, sogar eine Bibliothek mit ca. 300 Büchern stand zur Verfügung. Für Deutschschweizer wurden
Italienischkurse und für Italiener Deutschkurse angeboten,
Anlässe mit Musik und Theater wurden durchgeführt. Den
Kontakt zwischen der ref. Kirchgemeinde Pratteln-Augst zu
den Benützern der Casa Evangelica hielt Pfr. Rudolf Hardmeier, in Verbindung mit Pfr. Liborio Naso von der Basler
Waldensergemeinde, später auch mit Paulo Decaro von der
Schweizerischen Bibelgesellschaft. Durch den regelmässigen Kontakt mit den Benützern konnten diese Seelsorger
wertvolle soziale Hilfe leisten. Zwischen der Casa Evangelica und dem katholischen Centro Ricreativo bestanden aber
kaum Kontakte.
Asilo
Ein riesiges Problem war die Kinderbetreuung beim Familiennachzug, denn viele Frauen arbeiteten ebenfalls
ausser Haus. Von Anfang an wurde deshalb im Centro ein
«Asilo» für Kinder betrieben. Aber auch die Politik spielte
bisweilen hinein. Als die kommunistische Colonia Libera
versuchte, die Leitung an sich zu reissen, wurde das Asilo
der römisch-katholischen Kirchgemeinde unterstellt. Die römische Kurie schickte drei bis vier
Ordensschwestern, die von 6
bis 18 Uhr bis zu 60 Kinder vom
Kleinkind bis ins Primarschulalter
betreuten. Frau Spaini schildert:
«Der Arbeitstag der Schwestern
begann aber schon um 5 Uhr, denn zuerst mussten sie den
Saal putzen, vieles wurde am Abend liegen gelassen, und
erst die Toiletten ...! Die Luft im Saal war am Morgen dick
zum Abschneiden vom Zigarren- und Zigarettenrauch. Die
kleineren Kinder hielten den Mittagsschlaf auf der Bühne.
Dieser Zustand war unhaltbar.»
Der Nachfolger von Don Slongo, Padre Pinto, drängte
auf eine Lösung. Unter Gemeindepräsident Walter Kohler
schenkte die Gemeinde dem Asilo einen Schulpavillon aus
der Längi und Giannino und Luciana Spaini stellten ihr privates Bauland an der Mayenfelserstrasse zur Verfügung und
bauten dort den Pavillon auf. Später erhielten sie als Austausch von der Gemeinde ein Grundstück mit einer Liegenschaft an der Wartenbergstrasse, in der die Ordensschwestern wohnen konnten. Fritz Zimmermann: «Das Asilo blieb
chronisch überbelegt, die Schwestern arbeiteten immer
noch 12 Stunden am Tag und auch am Wochenende waren
sie beschäftigt, zu einem Lohn von 200 bis 300 Franken. Sie
haben Ungeheures geleistet und haben die Arbeit trotzdem
gerne gemacht.» Turbulente Zeiten haben das Asilo umgekrempelt. Heute wird in den gleichen Räumlichkeiten das
Kindertagesheim «Rotchäppli» mit neuen Strukturen geführt.
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05.10.2010 19:08:59
Die Fussballmannschaft U.S. Molisana
von Jennifer Degen
Circhetta
Nach den Pionierjahren kamen um 1970 allmählich die Söhne und jüngeren Brüder der ersten Arbeiter aus Roccavivara
nach Pratteln. Nach dem Schulabschluss in Italien wollten
auch sie in Pratteln ihr erstes Geld verdienen. Für sie gestaltete sich die Emigration schon ein wenig einfacher. Sie
fanden in Pratteln ein soziales Netzwerk an Bekannten und
Verwandten aus dem Dorf vor und konnten sich dank deren
Erfahrungen einfacher an die schweizerische Lebensweise
gewöhnen. Aber auch sie fühlten sich oft fremd, denn sie
sprachen kein Deutsch und konnten mit anderen Jungen aus
Pratteln kaum Kontakte knüpfen. Zudem waren sie in einem
kleinen, ländlichen Bergdorf aufgewachsen und mussten
sich erst an das Leben in der wachsenden Industriegemeinde gewöhnen.
Die jungen Rocchesi bildeten einen engen sozialen Kreis.
Ähnlich wie einst ihre Väter trafen auch sie sich regelmässig
und verbrachten die freie Zeit vor allem mit Fussballspielen.
In ihrer Heimat war der Fussball die Freizeitbeschäftigung
schlechthin – die kleine Gemeinde Roccavivara hatte in den
1960er und 70er Jahren sogar zwei eigenständige Fussballmannschaften. In Pratteln blieben die jungen Rocchesi ihrer
Leidenschaft treu und spielten zu Beginn der 1970er Jahre
zunächst in lockerer, unorganisierter Form auf dem Sportplatz Hexmatt in Pratteln oder im deutschen Inzlingen nahe
der Schweizer Grenze.
1973 entstand aus dem plauschhaften «Tschüttele» unter
Freunden ein eigener Fussballverein: Die jungen Rocchesi
gründeten – mit Bezug auf ihre Herkunftsregion Molise
– die Fussballmannschaft U.S. Molisana und spielten als
Untersektion des Vereins «Internazionale» in der regionalen Meisterschaft mit. Die U.S. Molisana bestand in den
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Anfangsjahren fast ausschliesslich aus jungen Männern
aus dem Dorf. Es erfüllte sie mit Stolz, als Vertreter ihrer
Region, ja ihres Heimatdorfes, auf dem Fussballplatz aufzulaufen und in der regionalen Meisterschaft mitzuspielen.
Es kam für sie nicht in Frage, sich in eine der bestehenden
italienischen Mannschaften wie Bottecchia oder Rossoneri
einzugliedern. Sie wollten vielmehr eine eigene Mannschaft
stellen.
Gründungsmitglied Mario Di Lisa erinnert sich:
«Diese italienischen Vereine waren überfüllt. Zu der Zeit
sind so viele Leute gekommen. Und dann haben wir damals
angefangen – wir wollten für uns sein, nur die aus Roccavivara. Nicht, weil wir die anderen nicht wollten, aber es waren
genug Junge da. Verwandte, Cousins und diese und jene.»
Die Fussballmannschaft vereinte die jungen Rocchesi und
war für sie «ein Grund mehr zum Zusammensein», um es in
den Worten von Mario Di Lisa zu sagen. Die Emigranten der
zweiten Generation beurteilen die U.S. Molisana als wichtigen Fixpunkt ihrer Emigration. So wie der Schmittiplatz oder
das Stohler-Haus die erste Generation vereint hatte, vermittelte die U.S. Molisana den jungen Rocchesi ein Gefühl von
Heimat.
Die Mannschaftsmitglieder trafen sich auf der Prattler
Hexmatt zwei bis viermal wöchentlich zum Training und begannen nach einigen Jahren, auch eigene Turniere zu organisieren. Ab dem Jahre 1983 veranstalteten sie jährlich ein
grosses Turnier auf der Hexmatt, welches der feierliche Höhepunkt des Fussballjahres war. Die erhaltenen Turnierhefte dokumentieren ein- bis zweitägige Fussballturniere, an
denen bis zu 24 Mannschaften aus der Region teilnahmen.
Schiedsrichter Claudio
Circhetta im Einsatz in der
«Axpo Super League».
Dabei traten sowohl Schweizer Mannschaften als auch italienische Mannschaften gegeneinander an. Die Turniere waren
nebst dem sportlichen auch ein gesellschaftliches
Ereignis. An den Abenden fanden Lottospiele und Tanzvorführungen der Trachtengruppe «La Gioconda» statt, in
der Frauen aus Roccavivara mittanzten. Die Feste besuchten
Angehörige, Freunde, Mitglieder anderer italienischer Fussballvereine und mit den Jahren auch Schweizer Bekannte.
Mario Di Lisa erinnert sich an ein Turnier in den 1980er Jahren, das innerhalb von drei Tagen 7500 Besucher zählte und
an dem rund 100 Helfer mitwirkten.
Die U.S. Molisana half den jungen Rocchesi, sich in der
Schweiz wohl zu fühlen und sich über den Fussball mit
Schweizern und anderen Zuwanderern zu vernetzen. Dies
zeigte sich auch an der Zusammensetzung der Mannschaft:
Sie entwickelte sich von einem geschlossenen Kreis von
Rocchesi zu einer multikulturellen Truppe. In der U.S. Molisana spielten Schweizer und Italiener zusammen, und
auch spätere Einwanderer aus Afrika und dem Balkan. Die
Begeisterung für den Fussball schuf den Boden dafür, dass
sich sowohl Italiener und Schweizer, wie auch andere Migrationsgruppen begegneten – zuerst auf dem Fussballplatz,
und allmählich darüber hinaus.
Auch der FIFA-Schiedsrichter Claudio Circhetta aus Muttenz spielte in den 1980er Jahren in der U.S. Molisana mit.
Er erinnert sich an eine multikulturelle Mannschaft:
«Das war bunt durchmischt. Da waren Schweizer, Chilenen, Italiener ..., also wirklich Mutikulti. Das war das Schö-
ne: In einer italienischen Mannschaft
dabei zu sein, wo Multikulti dabei war,
aber alle haben sich integriert gefühlt. Wir
hatten auch Albaner, das war auch ein Schritt zur
Integration – es war wirklich toll.»
Claudio Circhetta hat in der U.S. Molisana einen aussergewöhnlich starken Zusammenhalt erlebt. Er sagt, er habe
auch in anderen italienischen Mannschaften der Region gespielt, aber eine derart familiäre Atmosphäre habe er nur in
der U.S. Molisana gefunden.
«Der Unterschied zu normalen Vereinen war wirklich der
Zusammenhalt, das Familiäre. Man ist wirklich nach jedem
Training am Donnerstag oder Freitag anschliessend ins
Clubhaus gegangen, hat zusammen gegessen, und ist von
dort aus gemeinsam ausgegangen. An die Spiele kamen
auch alle zuschauen, sie brachten ihre Familien, und man
hatte auch an den Wochenenden den Kontakt zu den Familien, zu den Eltern. Es waren wirklich super Jahre.»
Er erinnert sich sehr gerne an die Jahre mit der U.S. Molisana und sagt, durch ein Mitglied dieser Mannschaft sei er
auch zur Schiedsrichterei gekommen. Sein Bekannter Tonino Minni aus Roccavivara war selbst Schiedsrichter der U.S.
Molisana und holte ihn in den 1980er Jahren in die Mannschaft.
«Tonino Minni war offizieller Schiedsrichter und hat als
Schiedsrichter der U.S. Molisana gezählt. Ich bin mit ihm auf
den Fussballplatz mitgegangen, am Morgen, und habe geschaut wie er das macht. Das hat mich damals so fasziniert,
und so bin ich eigentlich Schiedsrichter geworden.»
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Interview-Quellen
Allen Interviewpartnern und Intervierpartnerinnen sei an dieser Stelle
ganz herzlich gedankt für die Bereitschaft, Auskunft zu geben, und für
die Unterstützung dieses Ausstellungs- und Katalog-Projekts!
Anna Antenucci-Minni, geführt von Jennifer Degen am 25. Februar 2009 in Muttenz.
Mario Antenucci, geführt am 22. Dezember 2008 in Sisseln.
Angelo Berardini und Ennio Marra, geführt von Jennifer Degen
am 5. November 2009 in Pratteln.
Domenico Berardini, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara.
Vittoria und Christina Ceccon, geführt von Jennifer Degen am 11. Dezember 2008 in Pratteln.
Claudio Circhetta, geführt von Jennifer Degen am 27. Juli 2010 in Muttenz.
Nicola Di Blasio, geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara.
Antonio Di Lisa, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara.
Mario Di Lisa, geführt von Jennifer Degen am 17. November 2008 in Basel.
Enzo Ferrara, geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara.
Leo Galliker, geführt von Jennifer Degen am 15. Januar 2009 in Pratteln.
Cristofaro Gianico , geführt von Jennifer Degen am 9. Dezember 2008 in Roccavivara.
Armando Minni & Giulia Antenucci, geführt von Jennifer Degen
am 7. Dezember 2008 in Roccavivara.
Pasquale Minni, geführt von Jennifer Degen am 7. Dezember 2008 in Roccavivara.
Paolo Puccetti geführt von Christine Ramseier am 19. August 2010 in Pratteln.
Vincenzo Rossi, geführt von Jennifer Degen am 8. Dezember 2008 in Roccavivara.
Luciana Spaini, geführt von Christine Ramseier am 17. Mai 2010 in Pratteln.
Ilse Stohler, geführt vom Jennifer Degen am 27. November
und 27. Dezember 2008 in Pratteln.
Fritz Zimmermann, geführt von Christine Ramseier am 27. Mai 2010 in Pratteln.
Weitere Quellen
Auer, Felix: Die ausländischen Arbeitnehmer, ihre volkswirtschaftliche Bedeutung und die Aufgabe der Kirche, Auszug aus dem Protokoll der Synode
der Ev.-ref. Kirche Basel-Landschaft vom 17.1.1963, Separatdruck.
Basler Woche, Nr. 41, 8.10.1971: Schindler Waggon AG, Pratteln.
Dossier «Italiener-Betreuung», im Archiv der Ev.-ref. Kirchgemeinde Pratteln-Augst.
Diverse Zeitungsausschnitte aus den Jahren 1946–1951, in: Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel: Magazin SWA Sign. H+I Bg 65: Schindler
AG – Pratteln/Luzern. Dokumentensammlung. Zeitungsausschnitte).
LALIBU. Lagerliederbuch, Reformierte Jugend Baselland, Liestal 1960er Jahre.
Nebelspalter, Schweizerische humoristisch-satirische Wochenschrift, div. Jahrgänge.
Prattler Anzeiger, div. Jahrgänge.
Rasser, Alfred: Buona sera, in: 30 Jahre Alfred Rasser, (Langspielplatte, ex libris1964).
Literatur
Ballmer, Adolf: Die gewerbliche und industrielle Gütererzeugung im Wandel der Zeiten, in: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Kantons Basel-Landschaft,
Basellandschaftliche Kantonalbank (Hrsg.), Liestal 1964, S. 89-240.
Brassel-Moser, Ruedi: Pratteln im Spiegel kantonaler und eidgenössischer Abstimmungen, Heimatkunde Pratteln, Liestal 2003, S. 262-269.
Braun, Rudolf: Sozio-kulturelle Probleme der Eingliederung italienischer Arbeitskräfte in der Schweiz, Zürich 1970.
Buomberger, Thomas: Kampf gegen unerwünschte Fremde. Von James
Schwarzenbach bis Christoph Blocher, Zürich 2004.
Casagrande, Giovanni; Halter, Ernst: Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz, Zürich 2003.
Cerutti, Mauro: La politique migratoire de la Suisse 1945-1970, in: Cattacin, Sandro; Mahnig, Hans (Hrsg.): Histoire de la politique de migration,
d’asile et d’intégration en Suisse depuis 1948, Zürich 2005, S. 89-134.
Degen, Jennifer: Die Gastarbeiter aus Roccavivara in Pratteln, Lizentiatsarbeit am Historischen Seminar der Universität Basel, Basel 2009.
Gees, Thomas: Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik, 1947-1974, Zürich 2006.
Hardmeier, Rudolf, Die Fremdarbeiter, in: A. Leupin, Heimatkunde von Pratteln, Liestal 1968, S. 76f.
Haug, Werner: «...und es kamen Menschen», Ausländerpolitik und
Fremdarbeit in der Schweiz 1914-1980, Basel 1980.
Heimatkunde Pratteln 2003, Hrsg. E. Honegger, F. Knöpfel et al., Liestal 2003.
Hirt, Matthias: Die Schweizerische Bundesverwaltung im Umgang mit der Arbeitsmigration. Sozial-, kultur- und staatspolitische Aspekte. 1960 bis 1972. Saarbrücken 2009.
Leupin, Alexander: Heimatkunde von Pratteln, Liestal 1968. S. 67.
Mahnig, Hans; Piguet, Etienne: Die Immigrationspolitik der Schweiz von 1948
bis 1998: Entwicklung und Auswirkungen, in: Wicker, Hans-Rudolf; Fibbi, Rosita; Haug, Werner: Migration und die Schweiz, Zürich 2003, S. 65-108.
Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft, 6 Bände, Liestal 2001.
Niederer, Arnold: Unsere Fremdarbeiter, volkskundlich betrachtet, Zürich 1967.
Piguet, Etienne: Einwanderungsland Schweiz. Fünf Jahrzehnte halb geöffnete Grenzen, Bern 2006.
Seiler, Alexander J.: Siamo italiani: die Italiener: Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz, Zürich 1965.
Seiler, Alexander J. et al.: «Siamo italiani. Die Italiener.» 1964, (Film).
Senn, Tobias: Migrationspolitik der Baselbieter Regierung um 1970 – im Geist der Selbständigkeit unter vollzugsföderalistischen Zwängen: Schweizer Migrationspolitik
im föderalistischen Spannungsfeld von Bund und Kantonen: das Fallbeispiel Kanton
Basel-Landschaft 1970, in: Baselbieter Heimatblätter 1971, 2006, S. 129-160.
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Bildnachweise
Mario Antenucci, Sisseln: S. 32 oben 2.v.r., 35, 46
Astrid und Hans Brügger, Muttenz: S.15
Jennifer Degen, Basel: S. 4 oben, 13, 14
Antonio Di Lisa, Roccavivara: S. 32 oben ganz
links, 32 links Mitte, 32 unten rechts
Maurizio Di Lisa, Möhlin:
Titelseite, S. 3, 8, 37, 43, 45 Mitte, 46
Heimatkunde Pratteln 1968: S. 36
Felix Jehle, Ettingen: S. 4 unten
Maria Marini, Pratteln: S. 39
Muttenzer Anzeiger: S. 40
Nebelspalter: S. 18, 19, 25
Prattler Anzeiger: S. 45 oben, 51 oben rechts
Paolo Puccetti, Pratteln: S. 16, 17, 24, 43 oben
reftools gmbh, Dürnten: S. 48
Ines Salomone, Vada (Li): S. 11, 32 oben 2. v. l., 38, 41
Luciana Spaini, Pratteln: S. 26, 27, 42,
43 unten, 44, 45 unten
Staatsarchiv Basel-Stadt: S. 12, 20, 21
Giuseppe Tufilli, Vada (Li): S. 10, 32 oben
rechts, 32 unten links, 34
Brigitte Wuhrmann-Stohler, Pratteln: S. 28, 30, 31
Autorinnen und Autoren
Ruedi Brassel-Moser, 1955, Dr. phil., Historiker,
Landrat BL und Gemeinderat Pratteln, wohnt in Pratteln.
Monica De Vito Di Lisa, 1973, B.A., Historikerin, Leiterin
Stabsdienste Gemeinde Arlesheim, wohnt in Möhlin.
Domenico Di Lisa, 1955, lic. phil. in Geologie,
Dozent am Liceo Scientifico (Campobasso) und
Sindaco von Roccavivara, wohnt in Roccavivara.
Jennifer Degen, 1982, lic. phiI., Historikerin
und Journalistin, wohnt in Basel.
Christine Ramseier, 1945, pens. Lehrerin, Kuratorin des
Museums im Bürgerhaus Pratteln, wohnt in Pratteln.
Tobias Senn, 1974, lic. phil., Historiker und Lehrer
am Gymnasium Oberwil, wohnt in Basel.
Dank
Unser Dank geht zunächst an alle, die uns in Interviews Auskunft gegeben haben. Ihre Namen finden sich im Verzeichnis der Interview-Quellen. Ausserdem
sind wir den folgenden Personen und Institutionen für ihre Unterstützung des Ausstellungs- und Katalog-Projekts zu grossem Dank verpflichtet:
Franco Antenucci, Roccavivara
Claudio Circhetta, Muttenz
Nicoletta Di Blasio und Familie, Roccavivara
Domenico Di Lisa, sindaco di Roccavivara
Maurizio Di Lisa, Möhlin
Enzo Ferrara, Roccavivara
Galvaswiss AG, Pratteln
Fredy Heller, Basel
Stephan Musfeld, Pantheon Muttenz
Roberto Portone, Pratteln
Jürg Seiberth, Edition Text und Media, Arlesheim
Helga Seiberth, Arlesheim
Thomas Schneider, Schneider Electronic, Pratteln
Beat Stingelin, Gemeindepräsident von Pratteln
Ursula Wälti, Gemeinde Pratteln
Andrea Stohler, Gemeinde Pratteln
Ilse Stohler † und Brigitte Wuhrmann-Stohler, Pratteln
Gemeinde Pratteln und Commune di Roccavivara
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www.textundmedia.ch
Edition Text und Media, Arlesheim 2010
ISBN 978-3-9521984-6-9
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