Das Ei des Konstantin

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Das Ei des Konstantin
Stefanie Rausch
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Das Ei des Konstantin
Ich werde oft gefragt, warum ich Ornithologe, also Vogelkundler geworden bin.
Für manche scheint es schwierig zu sein, sich vorzustellen, dass ich mich mit so zerbrechlichen Wesen wie Vögeln beschäftige. Doch immer, wenn diese Frage kommt, erzähle ich
die Geschichte jenes Sommers, in dem ich die Bekanntschaft von
Don Pablo Pedro Juan Gonzales de la Manscha, kurz Pablo machen durfte.
Ich war gerade elf geworden und die Sommerferien hatten begonnen. Mein Zeugnis war
nicht sonderlich gut ausgefallen, aber es reichte für die Versetzung und zum Glück reichte
das auch meinen Eltern. Mein Vater war Zöllner am Hamburger Flughafen und in den
Ferien trieb ich mich dann auch häufig dort herum. Manchmal durfte ich meinen Vater
sogar in der Gepäckverladung besuchen, wo er und seine Kollegen nach Schmuggelgut
und anderen verdächtigen Waren fahndeten.
Es war an einem Freitag im Juli, als das Gepäck eines südamerikanischen Fliegers
durchsucht wurde. Und tatsächlich nahmen die Zollhunde eine Spur auf. Sie führten die
Beamten zu einem ziemlich ramponierten, weinroten Koffer. Unter einem doppelten Boden
fanden sie in zwei schmalen Schachteln sorgsam eingepackte Vogeleier. Der Besitzer des
Koffers wurde festgenommen. Neugierig schleuste ich mich in das Verhörzimmer ein, in
dem der Mann, die Beamten und ein Dolmetscher aufgeregt diskutierten.
Irgendwie purzelte in dem Durcheinander eine der Schachteln herunter und die Eier
kullerten auf dem Boden herum. Eines davon direkt vor meine Füße. Ohne nachzudenken
hob ich es auf, während die Männer im Raum die übrigen Eier zusammensuchten.
Natürlich wurde ich bei dieser Suchaktion entdeckt und flog in hohem Bogen raus, bevor
ich auch nur noch einmal überlegen konnte, ob ich meinen Fund herausrücken sollte oder
nicht. Da stand ich nun ziemlich verdattert vor der Tür und wusste nicht recht, was ich nun
tun sollte. Ich sah auf das Ei in meiner Hand. Es war viel größer, als ein Hühnerei und mit
einer bröckeligen, kalkweißen Außenschicht bedeckt. Schaute man jedoch genau hin, sah
man es unter den dünneren Stellen hellblau schimmern. Vorsichtig kratzte ich an dem Ei
und tatsächlich war es unter der ersten Schicht so durchdringend blau wie die Ozeane auf
meinem Leuchtglobus. Mein erster Gedanke war natürlich das Ei meiner Sammlung von
Steinen, Gräsern und anderem Strandgut hinzuzufügen. Doch dann fiel mir ein, was für einen riesigen Ärger es geben würde, wenn mein Vater es entdeckte. Das würde Hausarrest
bis an mein Lebensende bedeuten, schoss es mir durch den Kopf.
Da kam mir die rettende Idee, die, da war ich mir sicher, für alle das Beste war. Schnell
hüllte ich das Ei in mehrere Taschentücher, stopfte es vorsichtig in meine Jacke und machte mich auf den Weg zu meinem Onkel, der in dem Reihenhaus neben uns wohnte.
Mit dem Fahrrad war ich schnell da. Ich schlich mich über die Terrasse, an meinem schlafenden Onkel vorbei ins Haus und stieg auf den Dachboden. Dort hatte Onkel Günther
eine kleine Brieftaubenzucht, die er liebevoll seinen kleinen Flughafen nannte. Behutsam
nahm ich mein Ei heraus und ging damit zu Emmas Verschlag. Emma war die dienstäl-
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teste Brieftaube und brütete gerade ihren vermutlich letzten Wurf aus. Es waren nur zwei
Eier im Nest, stellte ich fest als ich Emma aufscheuchte, die nur unter großem Protest von
ihrem Gelege abrückte. Ich bettete mein Ei in das Nest und Emma begurrte es aufgeregt.
Es schien fast so, als ob diese liebenswürdige, alte Taubendame den Neuankömmling begrüßte. Schließlich rutschte sie wieder auf ihrer Brut zurecht, behielt aber eine ziemliche
Schlagseite, da mein Ei doch wesentlich größer war als ihre zwei. Zum Glück schlief mein
Onkel noch immer, als ich mich wieder davon machte. Ich kam gerade rechtzeitig zum
Abendessen nach Hause, um mir eine deftige Standpauke abzuholen, weil ich mich im Verhörraum versteckt hatte. Jede weitere Strafpredigt bog ich dadurch ab, dass ich sehr zur
Überraschung meiner Eltern anbot, Onkel Günthers Tauben und sein Aquarium während
seines Urlaubs zu hüten.
Ich nutzte die Zeit bis zu seiner Abreise, um in Lexika nach der Herkunft des Eis zu forschen. Nachdem Onkel Günthers, der das neue Ei nicht einmal bemerkt hatte, weg war
ging ich zweimal täglich auf seinen Dachboden, um die Vögel zu füttern und den Taubenschlag sauber zu machen. Nur widerwillig ließ mich Emma in das Nest schauen.
Es dauerte aber keine drei Tage, da hörte ich ein Tschilpen unter Emmas Bauch, die Tauben
waren geschlüpft und das Wunder passierte – auch in meinen Ei regte sich etwas. Emma und
ich starrten gebannt auf das Ei, das langsam anfing zu knacken und zu knarzen. Plötzlich tat
es einen Ruck und ein gezackter Blitz lief um das Ei. Durch diesen Riss in der Schale kam
erst ein Fuß, der aussah wie eine Schwimmflosse, dann kämpfte sich ein nackter, dunkelhäutiger Körper aus der Schale hervor. Ganz als wäre es ihr eigenes putzte Emma das Küken
und packte sich dann wieder wärmend auf die gesamte Brut.
Erst nach einer Woche ließ mich Emma das Küken wieder sehen, ich kam aus dem
Staunen gar nicht mehr heraus: Das Küken war weiß und voller puscheliger Daunen, so
dass es leicht gedrungen aussah. Es hatte große, kugelrunde Augen, seine Flügel und
Schwanzfedern waren noch winzig und seine Füße waren knallblau! Dann stellte es sich
auch noch vor! „Hola, ich bin Don Pablo Pedro Juan Gonzales de la Manscha – Pablo für
dich.“ Natürlich hatte er einen leichten spanischen Akzent, was sich sehr interessant
anhörte. „Ich heiße Konstantin“, sagte ich zu dem kleinen Vogel.
Ich wusste, dass junge Vögel von ihren Eltern mit Vorgekautem ernährt wurden und
eilte in Onkel Günthers Küche, um etwas Brot einzuweichen. Als ich Pablo jedoch damit
füttern wollte, schaute er mich nur angewidert an. „Weißt du denn nicht, dass wir Fischesser sind?!“, sagte er. Ich wurde rot und beeilte mich, in der Vorratskammer eine Dose
Thunfisch aufzutreiben. Davon aß Pablo auch, jedoch nicht ohne anzumerken, dass er das
nächste Mal frischen Fisch vorziehen würde. So fing ich an, mein gesamtes Taschengeld
für allerbesten Fisch auszugeben und meine Mutter dazu zu bewegen, möglichst viel Fisch
zu kochen.
Pablo indes, gedieh prächtig. Um ehrlich zu sein, ich hatte noch nie einen so dicken Jungvogel gesehen. Auf seinen blauen Füßen stolperte er über den Dachboden und verkündete,
dass er zur Gattung der Blaufußtölpel gehöre. Tatsächlich bewegte er sich derart ungeschickt, dass mir die Bezeichnung Tölpel durchaus angemessen schien. „Übrigens“, klärte
mich Pablo im Watscheln auf, „wir wurden von Seefahrern als Tölpel bezeichnet, weil wir
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gerne am Bug der Schiffe landen. Von dort aus kann man ganz prima nach Fischschwärmen Ausschau halten! Leider vergessen wir dabei manchmal die Seeleute, sodass sie uns
ganz leicht einfangen können. Deswegen halten sie uns ganz zu Unrecht für tolpatschig
und tölpelhaft! Du kannst aber auch den lateinischen Namen für Blaufußtölpel verwenden:
Sula nebouxii. Und wenn ich erst mal ein erwachsener Vogel bin, fliegen gelernt habe und
fast so groß sein werde wie du jetzt, wirst du vielleicht etwas mehr Respekt haben!“ Weiter
erzählte Pablo, dass er von den Galapagosinseln, aus einer sehr großen und angesehenen
Familie käme. Er gab damit an, wieviel Grund und Boden seiner Familie gehöre und dass
sie mit zu den wichtigsten Produzenten des Guanos, einem extrem guten Düngemittel
gehörten. Ständig ging das so weiter.
Eines Tages, ich hatte morgens wohl vergessen, die Dachbodenluke zu schließen, erwischte ich Pablo vor der Abendfütterung, wie er in dem Aquarium meines Onkels nach
den Zierfischen angelte. Er musste sich vom Dachboden gestohlen haben und ich konnte
mir lebhaft vorstellen, mit was für einem Holterdiepolter Pablo die Treppe hinuntergeschlittert war, zielsicher die Wohnung untersucht hatte, um schließlich im Aquarium zu
enden. Ich ließ die eingewickelteten Fischstäbchen, die ich mir bei meinem Abendessen
verkniffen hatte, fallen und versuchte Pablo aus dem Wasser zu ziehen, während er gerade
einem panisch flüchtendem Guppy hinterherschnappte. Beim nächsten Anlauf schaffte ich
es, Pablo unter mächtigen Wasserspritzern, aus dem Aquarium zu zerren, riss den Guppy
aus seinem Schnabel, der froh war, in das Aquarium zurückzukehren. Dann kümmerte ich
mich um Pablo, der pitschnass und kein bisschen schuldbewusst auf den Wohnzimmerboden tropfte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn trocken zu föhnen. Natürlich wurden
Pablos Federn dadurch noch puscheliger, er sah aus, wie ein aufgeplatztes Daunenkissen
mit blauen Füßen.
Entsprechend laut zeterte Pablo, als er sich im Spiegel sah und anstatt über sein Vergehen
beschämt zu sein, hielt er mir eine Ansprache wie hungrig er sei, dass ich ihn vernachlässigen würde, wie langweilig und viel zu klein es hier sei, und überhaupt, dass auf den
Galapagos alles größer, toller, schöner, weiter wäre. Da hatte ich es satt und beschloss,
Pablo an die Alster, einen großen Fluss in der Mitte Hamburgs, mitzunehmen, um ihm
einmal zu zeigen, wie groß meine Heimatstadt ist!
Pablo war total aus dem Häuschen, als ich ihn in einer Einkaufstasche versteckt aus dem
Haus schaffte und in meinem Fahrradkorb verstaute. Neugierig schaute er sich um und
genoss die schnelle Fahrt durch den Stadtpark. Ich ahnte nicht, wie anstrengend die Fahrt
werden würde. Das erste laute Spektakel veranstaltete Pablo schon, als er in der Hand
eines Passanten ein Fischbrötchen entdeckte, auf das er sich stürzen wollte.
Als Nächstes kletterte er aus der Tasche und setzte sich auf den Rand des Fahrradkorbes.
Es folgten mehrere akrobatische Blaufußtölpeleinlagen, die ich kaum ausbalancieren
konnte. Dann mussten wir auch noch an einer roten Ampel halten, direkt neben dem
Fischgeschäft „Böttger“, und Pablo machte einen derartigen Aufstand, dass die Leute
empört aufsahen. Es wurde gerade noch rechtzeitig grün, bevor Pablo mich dazu nötigen
konnte, ihm ein riesiges Rotbarschfilet zu kaufen.
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Endlich an der Alster angekommen, hob ich Pablo aus dem Korb. Sofort hatte er die Enten
am Ufer entdeckt und stolperte in seiner unbedarften Weise auf sie zu. Einige der Enten
zogen gerade ihren Nachwuchs auf. Pablo wackelte vor den Entenküken herum, indem er
sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, machte ein Riesengezeter und erhielt ein Riesengegacker zurück. Ich schaute dem Treiben eine Weile zu. Doch zu meinem
Erstaunen zogen die Enten recht schnell wieder ab und Don Pablo kam mit hängendem
Kopf zu mir zurück. Er tat mir so Leid und ich versuchte ihn zu trösten. Schon auf dem
Nachhauseweg merkte ich, dass Pablo nicht mehr derselbe war. „Fisch Böttger“ war ihm
plötzlich egal und er versteckte sich in der Tasche, statt sich den Wind wieder durch seine
hellen Flaumfedern blasen zu lassen. Von da an wurde Pablo mit jedem Tag trauriger. Er
verkroch sich in seiner Kiste auf dem Dachboden und wollte von Ausflügen nichts mehr
hören. Emma ließ er nicht an sich heran. Nicht mal das Sushi, das ich von meinem letzten
zusammengekratzten Geld gekauft hatte, wollte er probieren. Pablo magerte immer mehr
ab. Ich war verzweifelt und wünschte mir meinen dicken, alten Angeber zurück.
Auch die Tatsache, dass der Zeitpunkt, an dem Onkel Günther aus dem Urlaub kam, näherrückte, machte es nicht gerade leichter. Inzwischen war Pablo bedrohlich dünn geworden
und sprach andauernd von zu Hause. Mir war klar, dass ich etwas unternehmen musste
und so beschloss ich, mich meinem Onkel anzuvertrauen.
Endlich war es so weit, meine Eltern und ich holten meinen Onkel vom Bahnhof ab. Im
Auto erzählten sie ihm, wie toll ich seine Tauben gefüttert hatte und wie gerne ich plötzlich
Fisch aß. Bestimmt bin ich knallrot geworden. Ich blieb dann noch bei Onkel Günther und
beichtete ihm die ganze Geschichte.
Er sagte kein Wort, nahm mich nur bei der Hand und stieg mit mir zum Dachboden hinauf. Pablo saß in einer Obstkiste mit meinem alten Kissen, Gras und Hölzern. Mein Onkel
ging zu ihm rüber und sagte: „Tschilp, krächz“. „Hola“, fiepte Pablo. Den Rest konnte ich
nicht verstehen, da ich etwas abseits stand. „Hm, ein klassischer Fall von Heimweh“, sagte
Onkel Günther schließlich. „Pablo muss dringend zu seiner Familie zurück.
Du kannst dir ja wahrscheinlich vorstellen, dass du auch nicht gerne auf Dauer von zu Hause,
deinen Eltern und Freunden weg wärst.“ Ich nickte schuldbewusst. „Jetzt verstehst du ja
sicherlich, warum es falsch war, das Ei zu behalten, genauso falsch, wie von dem Mann,
es überhaupt herzubringen. Das ist quasi eine Entführung. Und auch wenn du alles Mögliche getan hast, um Pablo zu helfen, brauchen wir jetzt jemanden, der ihn zurückbringt.
Ich kenne da einen Ornithologen, das ist ein Vogelkundler, vielleicht hat der eine Idee. Und
deine Eltern müssen natürlich auch alles erfahren.“
Er rief den Ornithologen und meinen Vater an.
Zum Glück hatte der Vogelkundler Zeit und kam noch am selben Tag, zusammen mit
meinem Vater. Letzterer sah mich nur drohend an, doch im Moment warteten alle erst mal
die Meinung des Ornithologen ab. Der untersuchte Pablo und betonte immer wieder, wie
erstaunt er sei, dass ich Pablo überhaupt durchgebracht hatte. Schließlich telefonierte
er mehrmals und trieb zu unser aller Erleichterung ein Forschungsschiff auf, dass Pablo
schon am nächsten Tag mit auf die Galapagos nehmen sollte! Mein Vater erlaubte mir, die
letzte Nacht bei meinem Onkel und Pablo zu verbringen.
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Am nächsten Tag durfte ich noch mit zum Schiff, um mich von Pablo zu verabschieden.
Pablo wurde vom Kapitän ganz herzlich begrüßt. Er nahm ihn am Flügel und begleitete ihn
auf Deck. Das war ein furchtbar trauriger Moment. Doch als ich Pablo so an Deck, auf den
Bug zustolpern sah und er mit seinem Flügel winkte, wusste ich, dass es die einzig richtige
Entscheidung war.
Nach dem Auslaufen des Schiffs trat ich meinen mehrwöchigen Hausarrest an.
Die Zeit wurde mir trotzdem nicht lang, ich wälzte Onkel Günthers Bücher über Vögel und
manchmal kam auch Otto, der Ornithologe zu Besuch, um mir Lesefutter mitzubringen.
Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft zu Otto, Vögeln und Tieren im Allgemeinen
und zu Blaufußtölpeln im Besonderen.
Nach der Schule begann ich ein Biologiestudium und mit einundzwanzig erfüllte ich mir einen ganz besonderen Wunsch. Ich fuhr auf einem Schiff Richtung Galapagos und besuchte
Pablos Heimat. Als wir vor den Inseln kreuzten flog ein riesiger, eleganter Vogel über das
Schiff und landete auf Deck. Es war ein wunderschöner Blaufußtölpel.
Don Pablo stattete mir einen standesgemäßen Besuch ab. „Hola!“, sagte ich.
„Tschilp, krächz!“, antwortete Pablo.