Zahltag

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Zahltag
Zahltag
Zahltag
Was sind die Ursachen der Finanzkrise? Warum wurde aus der Finanzkrise
die schwerste globale Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren? Warum ist die
wirtschaftliche Erholung in den USA trotz massivstem Einsatz von Geld- wie
Fiskalpolitik die schwächste der Nachkriegszeit? Und warum kommen die
meisten Eurostaaten nicht vom Fleck, verharren in Rezession und Stagnation
und weisen zugleich Höchststände an öffentlicher wie privater Verschuldung
und eine historisch einzigartig hohe Arbeitslosigkeit auf? Was läuft da falsch?
Was kann – wenn überhaupt – wirtschaftspolitisch getan werden?
Diese hochaktuellen und relevanten Fragen werden in einfacher und klarer
Sprache erläutert. Zugleich zeigt der Autor, dass die vielfältige und beharrliche
Negierung ökonomischer Prinzipien der Krise wie dem überwiegend
verunglückten Krisenmanagement zugrunde liegt.
Die 3. Auflage wurde durchgängig aktualisiert und wiederum erweitert.
So werden die wichtigsten Finanzmarktreformen wie „Basel III“, „Stress-Tests“
und „Bankenunion“ erläutert, vor allem aber wird der grundsätzlichen
Schuldenproblematik bzw. der „Schuldenfalle“ breiter Raum gegeben. Dabei
zeigt sich, dass das Kernproblem, nämlich jenes viel zu hoher öffentlicher wie
auch privater Schulden noch nicht ansatzweise angegangen wurde. Daher ist
es nicht überraschend, dass die meisten hoch entwickelten Ökonomien in einer
äußerst bedenklichen Stagnation verharren.
FERRY STOCKER
Zahltag
Prof. (FH) Mag. Dr. Ferry Stocker
Fachbereichsleiter für Volkswirtschaftslehre an
der Fachhochschule Wiener Neustadt, lehrt auch an
der Donau-Uni Krems, der Technischen Universität
Wien und an der Wirtschaftsuniversität Wien.
FERRY STOCKER
Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise
und ökonomische Prinzipien
ISBN 978-3-7089-1274-5
www.facultas.at
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
Ferry Stocker
Zahltag: Finanz-, Schuldenund Wirtschaftskrise
und ökonomische Prinzipien
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
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3. Auflage 2015
Copyright © 2015 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Universitätsverlag, 1050 Wien, Österreich
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der
Übersetzung, sind vorbehalten.
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Druck: Finidr, s.r.o., Č eský Tě šín
ISBN 978-3-7089-1274-5
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 3. Auflage . ...................................................................................................... 11
Vorwort zur 1. Auflage . ..................................................................................................... 11
1
Zwei simple Fragen zur Komplexität der Finanzkrise .............................................. 13
1.1 Die Logik des Carry Trades .............................................................................. 13
1.2 Existenzielle Gefährdung? ................................................................................ 14
2
Zwei menschliche Schwächen als Stärken der Finanzkrise ...................................... 18
3 Die Vorgeschichten zur Finanzkrise ..........................................................................
3.1 Manipulationen in Fernost: Chinas Wechselkurspolitik
und Japans Nullzinspolitik . .............................................................................
3.2 Versicherungen produzieren höheres Risiko, die staatliche das höchste .......
3.3 Regulierung „mit Schweizer Präzision“: Der Irrtum
von Basel ...........................................................................................................
3.4 Geld im Überfluss: Die falsche Geldpolitik der Zentralbanken .....................
21
23
28
36
43
4
Gold aus Schrott: Die neue Finanz-Alchemie . ......................................................... 51
4.1 Asset Backed Securities (ABS) ......................................................................... 52
4.2 „slice & dice“ ..................................................................................................... 55
5
Dubioses, gar Kriminelles? Ratingagenturen, Finanzberater und keine
persönliche Haftung! ..................................................................................................
5.1 Aufgaben und Geschäftsmodell der Geschäftsbanken ...................................
5.2 Direkte Finanzierung und Verbriefung ...........................................................
5.3 Im Sumpf moralischer Wagnisse .....................................................................
6
Endlich reich, ohne zu arbeiten: Der Immobilien- und Aktienboom .................... 78
6.1 Der Traum vom Eigenheim . ............................................................................ 78
6.2 Immobilien als Bankomaten ............................................................................ 81
7
Die Blase platzt … ......................................................................................................
7.1 Die dreifache Bremse . ......................................................................................
7.2 Die Schrecksekunde . ........................................................................................
7.3 Die Abwärtsspirale beginnt ..............................................................................
8
Die Abwärtsspirale kommt in Fahrt … und Buchhalter verstärken sie! ................ 96
8.1 Multiples Versagen . .......................................................................................... 96
8.2 „Fair“ oder „unfair value“? . ............................................................................. 99
8.3 Die Implosion der Bankbilanzen ................................................................... 102
9
Von der Finanz- zur Wirtschaftskrise .....................................................................
9.1 Die Dominosteine beginnen zu fallen … . ....................................................
9.2 Die Erschütterung der Arbeitshypothese: Der Fall von Lehman Brothers ..
9.3 Die Ansteckung der Realwirtschaft . ..............................................................
9.4 Erste Abfederungen ........................................................................................
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117
10 Die Politik kann helfen: Wirtschaftspolitische Prioritäten und Optionen .......... 120
10.1 Den Banken helfen? Und wenn ja, wie? . ....................................................... 121
10.1.1 Die Liquiditäts- und Insolvenzproblematik . ................................... 123
5
10.1.2 Aktiv- und passivseitige Lösungsvarianten ...................................... 126
10.2 Und was kostet das alles? ................................................................................ 132
10.3 Widerstände gegen eine rasche und solide Krisenbereinigung .................... 135
11 Die Politik kann schaden: Von der Immobilien- und
Kreditkrise zur Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise ..........................................
11.1 Mangelnde Politikkoordination und Abstimmung
der Finanzaufsicht ..........................................................................................
11.2 Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage? .................................
11.3 „From bad to worse“ ......................................................................................
11.4 Der Fall (von) Griechenland und die Krise der Eurozone ...........................
141
141
143
146
154
12 Reformvorschläge für ein weniger krisenanfälliges Finanzsystem ....................... 176
13 Die Lektionen aus der Krise und die Relevanz ökonomischer Prinzipien ........... 190
Epilog . ............................................................................................................................... 195
Literaturhinweise ............................................................................................................. 197
Stichwort- und Namensverzeichnis ................................................................................ 205
6
Vorwort zur 3. Auflage
Die 3. Auflage präsentiert sich erneut überarbeitet, erweitert und aktualisiert. So
wurden u.a. zwei zusätzliche Boxen zu „Basel III“ und zur „Schuldenfalle“ eingefügt. Nunmehr wird in 20 Boxen versucht, grundsätzliche Fragen und Zusammenhänge einfach und verständlich zusammenzufassen, die Übersichten und
Abbildungen sollen das im Text Ausgeführte schematisch darlegen. Ich möchte
den Leser besonders auf den Epilog hinweisen, der nochmals die Grundhypothese dieses Buches herausstreicht, nämlich dass die Finanzkrise wie das Krisenmanagement auf allen Ebenen tiefe Abgründe des Denkens und Handelns offenbart,
die von Prinzipien wie Aufrichtigkeit, Offenheit und Verantwortlichkeit wenig
erkennen lassen.
Der Autor hofft, dass die inhaltlichen wie formalen Verbesserungen und Erweiterungen die Verständlichkeit des Textes weiter fördern. Vielen Lesern und
Studierenden, die ich an dieser Stelle nicht alle namentlich nennen kann, danke
ich für Korrekturen und Verbesserungsvorschläge. Besonderes bedanken möchte
ich mich bei Frau Nicole Lindner, die die 2. Auflage ebenso sorgfältig wie umfassend durchgegangen ist und daher ganz wesentlich zu den Verbesserungen in der
vorliegenden Auflage beigetragen hat.
Ferry Stocker, im Jänner 2015
Vorwort zur 1. Auflage
“America, from its inception, was a speculation.”
Aaron Sakolski
Krisen entstehen nicht über Nacht, Krisen entwickeln sich, haben ihre Vorgeschichte, ja ihre Vorgeschichten. Auslösende Momente werden gerne mit Ur­
sachen verwechselt. Die Ursachen von Finanz- und Wirtschaftskrisen liegen in
aller Regel einige Zeit zurück, liegen oft in den sogenannten „guten Zeiten“, in
Zeiten, in denen es uns gar nicht so bewusst war, dass es zu gut, zu leicht, zu einfach ging.
So war es auch diesmal. Die Ursachen der Finanzkrise, enorme Vermögenspreisblasen („asset price bubbles“) und ihr Platzen, liegen letztlich in der Miss­
achtung elementarer ökonomischer Prinzipien und in vormals nicht richtig
bewältigten Krisen: In der Reaktion der Zentralbanken auf das Platzen einer Vermögenspreisblase im Jahr 2000, der „New Economy Bubble“, in den Reaktionen
11
auf die Asienkrise von 1997/98, liegen in staatlichen Eingriffen auf Devisenmärkten, gemeint ist hier vor allem die chinesische Wechselkurspolitik, liegen in falschen Anreizstrukturen wie nicht zuletzt in menschlichen Schwächen, vielleicht
gar in Manipulationen großen Stils.
Denn diese Finanzkrise, die zur größten globalen Wirtschafts- und Politik­
krise seit der Großen Depression der 1930er-Jahre geworden ist, ist in ihrer Entstehungsgeschichte nichts Neues. Warum aber lernen wir aus unserer Geschichte
nicht, warum nicht aus unseren Fehlern?
Das vorliegende Buch will einen Beitrag zur Aufklärung leisten und dabei zugleich die Relevanz ökonomischer Prinzipien herausarbeiten. Auf der einen Seite sollen die durchaus komplexe Thematik und die wichtigsten diesbezüglichen
Zusammenhänge erläutert werden, soll gezeigt werden, wie es zu dieser enormen
Finanz- und Wirtschaftskrise kommen konnte. Auf der anderen Seite können gerade anhand der Finanz- und Wirtschaftskrise grundlegende ökonomische Einsichten sowie mikro- und makroökonomische Prinzipien, deren Verletzung zur
Krise geführt haben, herausgearbeitet und damit besser verstanden werden.
Dazu sind eine einfache, mitunter vielleicht etwas überzeichnende Sprache
wie auch Wiederholungen von nicht immer ganz einfachen Kausalketten notwendig. Wenn es dem Verständnis dienlich ist, ist es diesen Preis allemal wert.
Denn erkennen wir die Ursachen der Krise nicht und bewältigen sie also nicht
ursachengemäß, droht uns die nächste Krise, dann aber vielleicht noch um
Dimensionen größer als die gegenwärtige.
Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen haben mich beim Verfassen dieses Buchs
durch vielerlei Anregungen, Kritik und Verbesserungsvorschläge unterstützt. Besonders bedanken möchte ich mich bei Christian Anzur, Jörg Gessl­bauer, Nicole
Lindner, Barbara Krebs, Gabriele Schenk, Günter Jungbauer und Heinz Schenk.
Für die trotzdem verbleibenden Fehler ist der Autor allein verantwortlich.
Ferry Stocker, im Juli 2009
12
„Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen
und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.“
Sir Karl Popper
1 Zwei simple Fragen zur Komplexität
der Finanzkrise
Die Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise ist in der Tat komplex. Auch die
meisten „Experten“ wurden von dieser Krise und ihren Dimensionen völlig
überrascht und sind sich oft uneins. Wie soll da „Otto Normalverbraucher“ noch
durchblicken? Das scheint ein ganz allgemeines Charakteristikum der Volkswirtschaftslehre zu sein: Die Zusammenhänge erscheinen äußerst komplex und sie
sind es auch. Und doch: Hat man sie einmal durchschaut, dann erscheinen sie
äußerst klar und simpel! Und so ist es auch bei der Finanz- und Schuldenkrise und ihren Ursachen. Zwei simple Fragen und ihre Beantwortung können die
Komplexität der Krisen sehr stark reduzieren und Sie leicht erkennen lassen, was
zu ihnen geführt hat.
1.1 Die Logik des Carry Trades
Zur ersten Frage, die auf den ersten Blick hypothetisch erscheint, es aber nicht ist:
1. Was würden Sie tun, wenn man Ihnen zinsenloses Geld, also einen zinsenlosen
Kredit, anbietet?
Denken Sie einmal einen Moment lang darüber nach! „Wie viel“ würden Sie nehmen? Man muss nicht lange nachdenken, um die richtige Antwort auf diese Frage
geben zu können! Sie lautet: „Soviel man eben nur bekommen kann …“ denn
selbst, wenn man das Geld nur zu einem Prozent oder gar nur zu einem halben
Prozent anlegen könnte, so wären das bei € 1 Mio. immerhin € 10.000,– oder
€ 5.000,– einfach verdientes Geld im Jahr.
In den „goldenen Jahren“ vor dem Ausbruch der Finanzkrise war es sehr
leicht, Geld, Kredit zu bekommen. Zwar nicht zinsenlos, aber zu sehr geringen
Zinsen. Das galt für kleine und große Kreditnehmer gleichermaßen: Wie beliebt
war es, insbesondere in Österreich, mit einem fast zinsenlosen Yen- oder Schweizer Franken-Kredit seinen Hausbau zu finanzieren! Und was Hunderttausende
Hausbauer machten, das machten natürlich auch Finanzexperten und Spekulanten – freilich im großen, im extrem großen Stil.
Was beide, der „kleine Hausbauer“ und der „große Immobilienspekulant“
oder „Investor“, hier konkret machten, nennt man Carry Trade, in Bezug auf
13
den japanischen Yen, den Yen-Carry-Trade. Man nahm also das billige Geld, den
billigen Kredit, soviel man eben bekommen konnte. Das war zwar nicht völlig
zinsenlos, aber – und das war ein Charakteristikum der Jahre vor dem Ausbruch
der Finanzkrise – zu sehr günstigen Konditionen möglich. Wenn man es nur geringfügig höher – um wenige Basispunkte (ein Basispunkt ist ein 100stel eines
Prozentpunkts) höher – anlegen konnte, gilt: Je mehr Kredit man aufnimmt, je
größere Volumina man bewegt („je größer das Rad, das man dreht“), desto lukrativer wird es.
Es war damit der Anreiz gegeben, möglichst große Summen zu bewegen:
Wenn man statt € 1 Mio. das Spielchen mit € 100 Mio. spielen und die € 100 Mio.
„bloß“ um 80 Basispunkte (= 0,8 %) höher anlegen kann als man darauf Zinsen
bezahlt, dann macht das schon satte € 800.000,–. Wie gesagt, in den Jahren vor
dem Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise war Geld, also Kredit, sehr leicht
zu bekommen und so begannen sich viele Akteure, vor allem Banken immer mehr
zu verschulden.
Man nennt diese Logik, durch Aufnahme von Schulden, durch die Ausweitung des Fremdkapitals, die Rendite auf das Eigenkapital zu erhöhen, Leverage
bzw. den Leverage-Effekt.1 Die Verschuldung kann also die Rendite des Eigenkapitals deutlich erhöhen, ist aber auch riskant, wie riskant, hat man durch den
Ausbruch der Finanzkrise gesehen. All das wird gleich genauer erklärt werden.
1.2 Existenzielle Gefährdung?
Und nun zur zweiten Frage:
2. Unter welcher Bedingung sind Sie persönlich durch eine Finanzkrise, durch einen abrupten und drastischen Verfall der Preise von Vermögensgütern („assets“),
existentiell gefährdet?
Der Wert Ihrer Veranlagungen, Ihres Depots ist im Zuge der Finanzkrise mit Sicherheit gefallen – vielleicht auf die Hälfte oder gar auf noch weniger! Die globalen Verluste durch die Kurseinbrüche auf den Weltbörsen werden für das Jahr
2008 auf unvorstellbare US-$ 32.000 Mrd. geschätzt – dagegen nehmen sich die
Verluste bei Hypothekenkrediten fragwürdiger Schuldner in den USA, die sogenannten Subprime-Verluste, in Höhe von US-$ 1.300 Mrd. relativ bescheiden
aus.2
Die Begriffe „Leverage“ und „Leverage-Effekt“ sind auch im deutschen Sprachraum sehr gebräuchlich. Im Deutschen heißt das etwas altbacken „Hebelwirkung“ bzw. spricht man vom „Hebel“ bzw.
auch vom „Kredithebel“.
2
Siehe International Monetary Fund 2009a.
1
14
Wenn also Ihre Finanzveranlagungen nur mehr die Hälfte ihres ursprünglichen Wertes ausmachen, dann ist das ein großer Verlust, keine Frage! Aber eine
existenzielle Bedrohung für Sie persönlich ist das alleine noch nicht! Nehmen wir an,
dass der Wert Ihres Hauses dramatisch gefallen sei – vielleicht um 30 %, vielleicht
gar um 50 %. Ein großer Verlust! Aber eine existenzielle Bedrohung? Nein! Wenn
Sie nicht verkaufen müssen, wenn Sie zuwarten können, wer weiß, vielleicht erholen sich die Immobilienpreise wieder? Wenn Sie aber Vermögensgüter, z.B. Aktien
auf Kredit gekauft haben, oder Ihr Haus mit einem Kredit finanziert haben, der
jetzt höher ist als der Marktwert Ihres Hauses, dann haben Sie in der Tat ein ernstes Problem. Fallen die Preise der Vermögensgüter nämlich drastisch, so schmelzen auch die Sicherheiten für Ihre Kredite im Fall einer Kreditfinanzierung weg.
Sie sind nur dann existenziell von einem starken Verfall der Preise von Vermögensgütern betroffen, wenn Sie diese (übermäßig) mit Kredit finanziert haben.
Haben Sie Aktien mit einem Teil Ihrer Ersparnisse gekauft, so haben Sie infolge
des Fallens der Aktienkurse einen Verlust gemacht. Nicht sehr erfreulich! Aber
das bedroht Sie in aller Regel nicht in Ihrer Existenz.3 Haben Sie aber für den Kauf
der Aktien Kredite aufgenommen (weil das so günstig war und ja jeder dieses
Geschäft, diese Art von Carry Trade, gemacht hat), dann haben Sie ein ernsthaftes
Problem – dann sind Sie in der Tat existenziell bedroht.
Haben Sie Ihr Haus übermäßig mit Krediten finanziert und belastet, so
kommt es jetzt „nur“ darauf an, dass Sie imstande sind und bleiben, diesen Kredit ordnungsgemäß zu bedienen, d.h. zumindest die Zinsen zu bezahlen. Dann
sollte die Bank „still halten“, auch wenn der Wert Ihres Hauses unter dem des aufgenommenen Kredits liegt. Andernfalls sind Sie so gut wie erledigt. Denn wenn
die Bank, der Kreditgeber, angesichts der Verschlechterung Ihrer Lage den Kredit
nicht verlängert oder fällig stellt, dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die
Vermögensgüter zu verkaufen und mit dem Erlös den Kredit abzudecken. Aber
was passiert, wenn der Erlös dazu bei weitem nicht ausreicht oder sich das Haus
überhaupt nicht verkaufen lässt, weil so viele in ähnlicher Lage sind wie Sie und
Vermögensgüter verkaufen müssen, um Schulden abzubauen?
Schulden abbauen nennt man „Deleveraging“. Das mag im Einzelfall durch
den Verkauf von Vermögensgütern gelingen, ist indes im Aggregat schwer bis
unmöglich: Denn wenn alle ihre Schulden abbauen wollen und daher alle Vermögensgüter verkaufen wollen, dann fallen die Preise der Vermögensgüter. Und
sie fallen sehr stark! Der Erlös deckt dann nur mehr einen Teil der Kredite. Und
dann ist’s vorbei! Möglicherweise nicht nur mit Ihnen und anderen, die ebenso
durch (übermäßige) Schuldenaufnahme Vermögensgüter gekauft haben (in der
Erwartung freilich, dass diese immer weiter steigen), sondern auch mit anderen,
die im Sog des Zusammenbruchs Gefahr laufen, mitgerissen zu werden. Das kann
die Bank sein, die Ihnen und vielen anderen die Kredite gegeben hat, schlussend3
Selbst wenn umfangreicher Aktienbesitz Teil der Pensionsvorsorge ist, so ist eben nur ein Teil der
Vorsorge im Wert gefallen. Und schließlich können sich ja auch die Aktienkurse wieder erholen.
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lich die Einleger der Bank, die gehört haben, dass die Bank viele faule Kredite
ausstehen hat.
Die Bank, bei der wir unsere Ersparnisse haben, ist in Schwierigkeiten? Da
wollen wir doch sicherheitshalber unsere Einlagen zurück und heben sie ab. Ein
Bank Run droht. Die Bank kann aber allen Einlegern ihr Geld nicht zurückgeben,
weil sie das Geld nicht hat. Sie hat das Geld ja verliehen und nur einen Teil, einen
äußerst geringen Teil der Einlagen als Liquiditätsreserve verfügbar. Ein „Run“ auf
die Bank, auf jede Bank, muss (ohne externe Hilfe) zu ihrer Zahlungsunfähigkeit, zur Illiquidität, führen – möglicherweise das Ende dieser Bank und vielleicht
auch noch anderer Banken, die mit dieser pleitegegangenen Bank in Geschäftsbeziehung standen.
Zusammengefasst: Gibt es die Möglichkeit, günstig Kredit zu bekommen, also
Geld aufzunehmen, so werden viele diese Möglichkeit nutzen, sie werden ihre
Verschuldung erhöhen. Insoweit es ihnen gelingt, durch die Veranlagung des
aufgenommenen Geldes einen höheren Ertrag zu erwirtschaften, nutzen sie den
Leverage-Effekt, der die Rendite, also die Verzinsung des Eigenkapitals deutlich
erhöhen kann. Hier winken tolle Gewinnchancen. Das gilt für Hausbauer im
Kleinen wie für Finanzanleger und Spekulanten im Großen. Doch Vorsicht: Es
gibt auch zwei Risiken: Nämlich, dass die günstige Finanzierungsquelle unvermutet austrocknet4, es also nicht mehr so leicht ist, Kredit zu bekommen und
die Kreditzinsen (deutlich) steigen. Und andererseits, dass der Ertrag der Veranlagung fällt bzw. ausbleibt und damit auch der Wert des Vermögensgutes fällt.
Dann gibt es saftige Verluste. Verluste zu tragen ist eine Aufgabe des Eigenkapitals. Nur, davon hat man, wenn man sich stark verschuldet hat, eben sehr bzw. zu
wenig. Sobald die Verluste das Eigenkapital aufgezehrt haben, ist man insolvent,
überschuldet. Das versucht man freilich tunlichst zu vermeiden. Man versucht in
dieser Situation, Schulden abzubauen – die Leverage zu reduzieren. Dementsprechend heißt das auch Deleveraging. Man verkauft also schnell die Veranlagungen,
die Assets, die man mit den Krediten angeschafft hat. Man verkauft also zum Beispiel schnell Aktien oder Häuser bzw. man versucht, Vermögensgüter abzustoßen
(was unter Umständen gar nicht bzw. nur zu sehr schlechten Preisen gelingen
kann). Man nennt dies „Notverkauf“ – „fire sale“. In dieser misslichen Lage sind
aber mehr und mehr Anleger, die alle ihre Anlagen verkaufen wollen. Die Konsequenz ist evident: Die Preise der Anlagen, von Aktien und Häusern zum Beispiel,
verfallen, verfallen immer schneller. Der Versuch, die Leverage abzubauen, das
Deleveraging, scheitert, ja dreht sich ins Gegenteil um, denn der Wert der Ver4
Gerade Banken haben sich jahrelang am Geldmarkt kurzfristig finanziert, eben weil das so günstig
war und das kurzfristig aufgenommene Geld längerfristig angelegt. Sie haben also vor allem auch
diesen speziellen Carry Trade zwischen kurzfristigen Krediten und langfristigen Veranlagungen
betrieben. Im Zuge der Finanzkrise wurde die Refinanzierung am Geldmarkt plötzlich unmöglich
und die Banken standen vor enormen Liquiditätsproblemen.
16
anlagungen fällt und fällt, die Kredite, die man seinerzeit aufgenommen hat, um
diese Anlagegüter zu kaufen, bleiben aber ihrer Höhe nach unverändert: Die Verschuldung explodiert, die Schulden übersteigen den Wert der Vermögensgüter,
die Insolvenz, die Pleite ist da.
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„Die Banken handelten also nicht vorsätzlich, wohl aber basierte ihr Tun auf Ignoranz
und Nachahmung temporär erfolgreicher Verhaltensweisen anderer,
wie sie im Wirtschaftsleben, ja im Leben überhaupt, üblich sind.“
Hans-Werner Sinn
2 Zwei menschliche Schwächen als Stärken
der Finanzkrise
Die beiden einfachen Fragen und deren Beantwortung erklären sehr gut, wie es
zur Finanzkrise kam: „Billiges Geld“ verlockte viele dazu, zu viel Schulden zu
machen, den viel versprechenden Leverage-Effekt zu nutzen. Solange die günstigen Finanzierungen verfügbar sind und solange die Preise der damit angeschafften Vermögensgüter steigen und steigen, ist das eine „idiotensichere“ Form, um
rasch zu Geld, zu viel Geld zu kommen.5 Freilich, wie erwähnt, nicht ohne Risiko.
Denn stets gilt: Winken höhere Gewinne bzw. Gewinnchancen, so steigt auch das
Risiko!
Zwei menschliche Schwächen kommen noch hinzu und haben (auch) in der
Finanzkrise eine große Rolle gespielt:
1. Die eine Schwäche ist die Macht der Gewohnheit: Mit der Zeit kann uns etwas
so vertraut, also richtig bzw. normal erscheinen, sodass das größte Unrecht
nicht mehr als Unrecht, die größte Amoralität nicht mehr amoralisch und
der größte Widersinn nicht mehr unlogisch erscheinen. Beispiel gefällig? Dass
Preise, insbesondere die von Vermögensgütern, immer und immer weiter
steigen müssten, diese Vorstellung war bzw. ist sehr weit verbreitet, doch aus
ökonomischer Sicht durch nichts zu begründen. Aber die Aktienkurse steigen
und steigen, sie steigen seit Jahren, ebenso wie die Immobilienpreise, und
das seit Jahren. Also schließt man irrigerweise daraus, dass die Preise dieser
Vermögensgüter immer nur steigen können. Und wenn man das glaubt – und
man beginnt es zu glauben, wenn man es über Jahre hinweg sieht bzw. nichts
anderes kennt, dann ist man doch dumm, wenn man da nicht mitmacht,
davon nicht auch profitiert. Zum Beispiel einen Kredit aufnimmt und ein
Vermögensgut erwirbt, das doch nur im Preis steigen kann! Auch diese
Ansicht, eine sehr weit verbreitete Ansicht, hat schon etwas mit Faulheit des
Denkens, mit einem Mangel an kritischem Denken und Hinterfragen zu tun.
2. Die zweite menschliche Schwäche ist eben gerade das: Der Mangel an
eigenständigem und kritischem Denken, der sich auch in dem nahezu blinden
5
Wobei es auf den Märkten für Vermögensgüter zu selbst verstärkenden Effekten kommt: Indem
die günstigen Finanzierungsmöglichkeiten mehr und mehr genutzt werden, steigt auch die Nachfrage nach Vermögensgütern. Deren Preise steigen daher auch (immer stärker), was einerseits den
Wert der Sicherheiten für die Kredite weiter erhöht, andererseits die kreditfinanzierten Aktivitäten
umso rentabler macht.
18
Vertrauen in „Experten“ zeigt. Wer – selbst und gerade unter den „Experten“,
insbesondere den Volkswirten, deren Beitrag zu der Finanzkrise in der Tat
beachtlich ist – hat den Mut besessen, kritisch zu fragen, wie die neuen
Anlageinstrumente, die Finanzmarktinnovationen in Form der sogenannten
„strukturierten Produkte“, die gleich erklärt werden, tatsächlich funktionieren?
Wer hat genauer geschaut, wie die Modelle gebaut sind, wo die Risiken liegen,
wo die Schwachstellen, was im worst case passieren kann? Man hat mitgetan
und mitkassiert. Und man hat sich geschämt, sein Unwissen kundzutun,
einfach einmal in einer Sitzung zu sagen: „Ich versteh’ das nicht! Wer kann
mir das erklären?“ Dafür muss man und müssen wir alle sehr teuer bezahlen
und realisieren: Der König ist nackt!
Dass eigenes und kritisches Denken nicht weit verbreitet ist, zeigt auch das
Phänomen des Herdentriebs bzw. des Herdenverhaltens. Hier tut man „einfach
das“, was die anderen auch tun. Das wird schon richtig sein. So viele können
ja gar nicht irren – meint man! Der Herdentrieb ist eine besondere Form
der sozialen Ansteckung. Und sich ihm zu widersetzen ist nicht leicht. Denn
wer will Außenseiter sein und vor allem dann, wenn sich das Mittun an
allgemein verbreiteten Praktiken besonders lohnt? Wie eben ein in (billiger)
Fremdwährung aufgenommener Kredit für das eigene Haus oder, noch besser,
gleich für ein paar andere Immobilien auch!
Zusammenfassend: Die „Macht der Gewohnheit“, im vorliegenden Fall die Vorstellung, dass es mit der Wirtschaft immer nur bergauf gehen kann und die Preise von Vermögensgütern „immer steigen müssen“, gepaart mit einem Mangel an
kritischem Denken und mutigem Hinterfragen haben die überwiegende Mehrheit der Akteure, einerlei ob Anleger, (Finanz-)Manager, Politiker, Zentralbanker,
Regulatoren, Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt Ökonomen zunehmend in einer falschen Sicherheit gewogen.6 Diese „Sicherheit“ hat die Akteure immer risikofreudiger, ja unvernünftig und blind gegenüber den sich aufbauenden Risiken
werden lassen. Genau das hat dazu geführt, dass viele – auch viele „ausgewiesene
Experten“ – anderen „ausgewiesenen Experten“, die komplexe und vermeintlich
sichere Finanzprodukte mit höheren Renditen angeboten haben, auf den Leim
gegangen sind.
6
Der US-amerikanische Ökonom Robert J. Shiller spricht in diesem Zusammenhang von einer Art
„intellektueller Ansteckung“, von „social contagion of boom thinking“. Siehe Shiller 2008, S. 41.
19
Box 1: Ein einfaches Beispiel zum Leverage-Effekt
Ein privater Investor, ausgestattet mit einem Eigenkapital von US-$ 50.000,–, stellt
folgende Überlegung an: Er will ein Haus im Wert von US-$ 250.000,– kaufen. Er nimmt
also einen Kredit in Höhe von US-$ 200.000,– zu einem Zinssatz von 5 % auf. Damit
ist die Immobilie zu 20 % eigen- und zu 80 % fremdfinanziert. Der Leverage-Faktor
beträgt hier 1 : 4, d.h. für einen Dollar Eigenkapital werden 4 Dollar Fremdkapital
aufgenommen. Wenn nun der Marktpreis des Hauses während eines Jahres um 10 %
auf US-$ 275.000,– steigt, und der Investor die Immobilie wieder verkauft, dann hat er –
unter Vernachlässigung von Transaktionskosten – folgenden Gewinn gemacht:
Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis
der Immobilie
Zinskosten (5 % von US-$ 200.000,–)
Gewinn ohne Transaktionskosten US-$ 25.000,–
US-$ 10.000,–
US-$ 15.000,–
Er hat damit sein in dieser Transaktion eingesetztes Eigenkapital in Höhe von US-$
50.000,– auf US-$ 65.000,– erhöht und eine Rendite bezogen auf das Eigenkapital,
man spricht hier auch vom Return on Equity, oder kurz von RoE, in Höhe von 30 %
erwirtschaftet. Es zeigt sich, wie durch die Aufnahme von Fremdkapital die Rentabilität
des Eigenkapitals deutlich erhöht werden kann.
Doch dieses Spiel lässt sich weiter ausreizen. Angenommen, der Investor setzt
bei dieser Transaktion nur mehr 10 % Eigenkapital, also nur mehr US-$ 25.000,– pro
Hauskauf ein. Mit dem anfänglichen Spielkapital (Eigenkapital) von US-$ 50.000,– kann
er das Geschäft mit zwei Häusern durchführen. Der Leverage-Faktor steigt auf 1 : 9, d.h.
für einen Dollar Eigenkapital werden 9 Dollar Fremdkapital aufgenommen.
Pro Haus mit einem Kaufpreis in Höhe von US-$ 250.000,– ergibt sich, wieder unter
der Annahme eines Anstiegs der Hauspreise um 10 % folgender Gewinn:
Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis
der Immobilie Zinskosten (5 % von US-$ 225.000,–) US-$ 25.000,–
US-$ 11.250,–
Gewinn ohne Transaktionskosten US-$ 13.750,–
Diesen Gewinn in Höhe von US-$ 13.750,– macht der Investor pro Haus. Da er zwei
Häuser gekauft und verkauft hat, macht sein gesamter Gewinn, wiederum ohne
Berücksichtigung von Transaktionskosten, nunmehr US-$ 27.500,– aus. Dieser Gewinn,
bezogen auf das eingesetzte Eigenkapital in Höhe von US-$ 50.000,–, bedeutet
nunmehr eine Rendite von 55 %.
Kurzum: Je größer die Schulden, je höher die Leverage, desto höher ist die Rendite
auf das eingesetzte Kapital. In den USA war es vor dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr
2007 keine Seltenheit, Immobilien mit 100 % und mehr ihres aktuellen Verkehrswerts zu
beleihen, also einen Hauskauf zu 100 % fremd zu finanzieren, also ohne irgendeinen
Finanzierungsbeitrag seitens des Schuldners. Steigen und das ist der zentrale Punkt, die
Hauspreise um 10 %, so macht ein „Vermögensloser“ bei Zugrundelegung der obigen
Zahlen US-$ 12.500,– Gewinn.7 Und das nahezu ohne jegliches Risiko, weil in den USA
bei den meisten Hypothekenkrediten der Kreditnehmer nicht persönlich, sondern nur
mit der Immobilie haftet. Steigen also die Immobilienpreise nicht oder fallen sie sogar,
dann wird dieser Kredit zum Problem der Bank, die ihn vergeben hat und sie muss sich
dann auch um die Verwertung der Immobilie kümmern.
7
Eine Rendite lässt sich in diesem Fall nicht berechnen, weil das Eigenkapital ja null ist.
20
“The farther back you can look,
the farther forward you are likely to see.”
Winston Churchill
3 Die Vorgeschichten zur Finanzkrise
Erstaunlich ist, dass nahezu jede Krise in der Wahrnehmung der Menschen einen
deutlichen Überraschungscharakter hat. Die Krise kommt unerwartet. Kaum jemand rechnet mit einer Krise. In der Fachliteratur in der Zeit vor dem Ausbruch
der Krise im Jahr 2008, also nach dem Platzen der „New Economy-Blase“ im Jahr
2000, ebenso wie in der Diskussion der Finanzexperten und der Ökonomen gab
es – mit wenigen Ausnahmen8 – kaum Hinweise für das kommende Desaster,
schon gar nicht auf seine Dimension. Vielmehr war die weltwirtschaftliche Lage
einzigartig dynamisch – mit Wachstumsraten, die die Weltwirtschaft seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gemäß Internationalem Währungsfonds (IWF)
wuchs die Weltwirtschaft in den Jahren 2003–2007 um ca. 4,5 % pro Jahr. Hunderte Millionen von Menschen weltweit entkamen der Armut (definiert durch
ein Einkommen von weniger als einem US-$ pro Tag) und Hunderte zusätzliche
Multimillionäre und einige Milliardäre verlängerten diesbezügliche Listen des
US-Wirtschaftsmagazins Forbes. Auch entstand eine neue große und einkommensstarke Mittelklasse in den sogenannten „Aufstrebenden Volkswirtschaften“,
auch „Schwellenländer“ bzw. „Emerging Economies“ genannt, den Transformationsökonomien des ehemaligen Ostens und vor allem im boomenden, und auf
die Strategie „Exportüberschuss“ setzenden Staaten in Fernost, allen voran in
China.
Die Globalisierung, die weltweiten Liberalisierungen im Güterhandel und im
Austausch von Dienstleistungen sowie im Bereich der Finanzmärkte, ihrerseits
getrieben durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, wurde und wird zu Recht als Ursache dieses weltweiten Wachstumsschubs
gesehen. Hinzu kommt, dass in dieser Zeit globaler wirtschaftlicher Dynamik
auch die Inflationsraten weltweit zurückgingen und moderat blieben: Nicht nur
starkes Wirtschaftswachstum, damit auch Wachstum von Beschäftigung und
Einkommen, waren ein globales Phänomen, auch monetäre Stabilität, also gerin-
8
Dazu zählt z.B. der bekannte US-Ökonom Nouriel Roubini, der wegen seiner pessimistischen
Prognosen während der Boomphase auch „Mr. Doom“, also „Herr Untergang“ genannt wurde.
Aber auch der ehemalige Chef-Ökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF) und derzeitige Zentralbankchef Indiens Raghuram G. Rajan wie auch der bekannte Kolumnist der Financial
Times John Plender zählen zu denjenigen prominenten Ökonomen, die schon viele Jahre vor dem
Ausbruch der Finanzkrise in den USA vor deutlichen Fehlentwicklungen im Finanzsystem und
dem sich abzeichnenden Desaster warnten. Siehe Rajan 2006 und 2010 und Plender 2003 und
2006.
21
ge und relativ stabile Inflationsraten in immer mehr Ländern der Welt. Deshalb
sprach man von „Great Moderation“.9
Doch gerade in dieser ruhigen See, auf der das Schiff „Weltwirtschaft“ elegant
dahinsegelte, braute sich das Unheil zusammen. Gerade bei ruhiger See, raschem
und problemlosem Fortkommen, wurden viele Akteure leichtfertig. Nicht dass
die Kapitäne die Brücke verlassen hätten, aber sie und ihr Team wurden unachtsam und übermütig.10 Das gilt für Wirtschaftspolitiker, insbesondere die Geldpolitiker, also die Zentralbanker, wie für viele Ökonomen und Wirtschaftsbosse
gleichermaßen, insbesondere freilich für Banker und Finanzmanager. Mit der
Zeit nahmen sie nämlich die ruhige See und rasche Fahrt für normal an: Die Umsätze stiegen, die Gewinne noch mehr. Auch die Beschäftigung stieg und – wenngleich nur bescheiden – stiegen die Löhne der breiten Bevölkerungsschichten.
Dabei hatte das Schiff „Weltwirtschaft“ schon Anzeichen einer Schlagseite.
Durchkämmt man die Literatur in der Zeit vor der Krise, so ist eine zentrale Problematik der Weltwirtschaft seit langem erkannt, nämlich das seit 2002 ständig
wachsende und mit an die 6 % des US-Bruttoinlandsprodukts enorme Handelsund Leistungsbilanzdefizit der USA11, dessen Dimension und Hartnäckigkeit zunehmend Zweifel an seiner Finanzierbarkeit aufkommen ließen12 und das als das
globale Ungleichgewicht schlechthin immer wieder diskutiert wurde.
Vereinfacht gesprochen, produzierten und produzieren die Amerikaner deutlich weniger als sie selbst konsumieren. Wenn sie also weniger produzieren als
sie konsumieren, dann muss der Rest von anderswo kommen, vom Ausland in
Form von Importen in die USA. Die USA waren und sind auch nach der Krise durch ihr enormes Leistungsbilanzdefizit die „Weltkonjunkturlokomotive“, der
US-Konsument gewissermaßen der „consumer of last resort“. Irgendwo müssen
sich aber zu diesem Defizit korrespondierende Überschüsse im Außenhandel einiger Länder ergeben. Das größte dieser Länder war und ist China. Weitere große
Überschussländer sind Deutschland, Japan und die erdölexportierenden Staaten
des Nahen Ostens.
Den Defizitländern, allen voran freilich den USA, stehen also notwendigerweise Überschussländer gegenüber. Die sich hier stellende Frage ist eine, die in der
Ökonomik immer wieder auftaucht. Es ist die Frage, „was was bestimmt“, also die
Frage der Kausalität: Ist der übermäßige Konsum in den USA, der die Produktion
in den USA übersteigt, ursächlich für die US-Leistungsbilanzdefizite? Das ist die
Der Gouverneur der Bank von England, Mervyn King, prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „NICE decade“. „NICE“ steht hier für „non-inflationary continous expansion“.
10
Dass Stabilität zu Instabilität führt, ist nicht nur ein instruktives Beispiel für die unbeabsichtigten
Folgewirkungen, die es in der Ökonomie immer wieder gibt, dieser auch als Minsky-Effekt bezeichnete Zusammenhang hat sich gerade in der enormen Dimension der Finanzkrise, die einer
langen Phase monetärer Stabilität und hohen Wachstums folgte, drastisch gezeigt. Siehe dazu den
Exkurs: Die Instabilitätshypothese von Hyman P. Minsky am Ende des 6. Kapitels.
11
Siehe Internationaler Währungsfonds (IWF): Economic Outlook Database, Stand: July 2009.
12
Das kumulierte Leistungsbilanzdefizit der USA von 1999 bis einschließlich 2007 beläuft sich auf
US-$ 4,6 Trillionen, d.s. ca. 35 % des US-Bruttoinlandsprodukts. Siehe BIS 2009, S. 5.
9
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„pull-Version“. Oder gilt anders herum, dass das übermäßige Sparen, insbesondere in China, zu einem dortigen Leistungsbilanzüberschuss führt, der erst als
eine weitere Folge das US-Leistungsbilanzdefizit nach sich zieht, also dieses verursacht? Das ist die „push-Version“.
Das ist zumindest die Argumentation von Alan Greenspan und Ben Bernanke, des ehemaligen und ehemals berühmten und des ihm nachfolgenden Zentralbankchefs der USA, die dafür sogar einen eigenen Begriff geprägt haben: Die
„global savings glut“. Dieser globale Sparüberschuss, der sich interessanterweise überwiegend in Entwicklungsländern (und nicht in hoch-entwickelten und
damit auch reichen Industriestaaten) einstellte, suchte in der Tat nach Veranlagungsmöglichkeiten. Und dafür bot sich der höchst-entwickelte Finanzmarkt der
Welt, also der der USA, an. Dieser übernahm die Aufgabe, diese weltwirtschaftlichen Sparüberschüsse zu „rezyklieren“, indem er sie in immer größerem Umfang
als Kredite an Hausbauer mit immer geringerer Bonität vermittelte. Für immer
mehr amerikanische Familien wurde, nicht zuletzt infolge des großen Sparangebots von außerhalb der USA und vermittelt durch Finanzmarktinnovationen in
den USA, ein Hauskredit besonders günstig und damit auch immer mehr nachgefragt.13 Gemäß dieser Überlegungen liegen realwirtschaftliche Ungleichgewichte
der Finanzkrise zugrunde. Was dabei aber nicht übersehen werden darf, ist, dass
diese Ungleichgewichte selbst durch wesentliche Staatseingriffe bedingt sind bzw.
verschärft werden. Doch der Reihe nach …
3.1 Manipulationen in Fernost: Chinas Wechselkurspolitik und Japans
Nullzinspolitik
Schon vor Jahren schrieb das angesehene britische Wochenmagazin „The Economist“, dass in China die Löhne, die Preise, insbesondere die Rohstoffpreise und
die Zinsen, bestimmt werden. Gemeint waren dabei, wie bei den Rohstoffpreisen, die weltweiten Löhne, die weltweiten Preise und die weltweiten Zinsen. Damit
wollte der Economist wohl zum Ausdruck bringen, wie wichtig China mittlerweile
für die Weltwirtschaft geworden war.14 Die Rolle Chinas im Zusammenhang mit
der Finanzkrise unterstreicht diese Bedeutung erneut, wenngleich darüber in den
Diskussionen wenig zu hören oder zu lesen ist. Wie ist das zu erklären?
Siehe dazu insbesondere auch Rajan 2010, der eine weitere Ursache der Finanzkrise in massiven Verteilungsproblemen in den USA ortet. Gerade die unteren Einkommensschichten hatten
kaum an der allgemeinen Prosperitätsphase partizipieren können. Um ihren Konsum dennoch zu
steigern, bot man ihnen die Möglichkeit günstiger Kredite für den Erwerb eines Eigenheims an.
Der daraufhin einsetzende Immobilienboom führte zu stark steigenden Preisen und legte damit
wiederum die Grundlage für eine stark steigende Verschuldung zur Finanzierung von Konsumaktivitäten. Diese Entwicklung war vor allem auch politisch gewünscht und wurde sowohl von
Republikanern wie Demokraten stark betrieben.
14
Tatsächlich machte Chinas Output am Weltoutput insgesamt, dem Welt-Bruttosozialprodukt, gemessen zu Kaufkraftparitäten, 2007 11 % und 2014 bereits fast 16 % aus – Tendenz weiter steigend.
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