"Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple".

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"Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple".
Heft 98
Juli 2013
(1923 – 2013)
Die Deutsche Akademie für
Kinder- und Jugendliteratur e. V.
wurde am 15. Mai 1976 in Würzburg gegründet. Ihre 14 Gründungsmitglieder kamen aus allen
Teilen der Bundesrepublik Deutschland. Alle beschäftigten sich seit Jahren mit der Förderung des
Kinder- und Jugendbuches.
Die Stadt Volkach am Main erklärte sich bereit, die Akademie in ihren Mauern aufzunehmen, sie
finanziell zu unterstützen und alljährlich einen Großen Preis zu stiften. Diese damals außergewöhnliche Symbiose hat sich bis heute bewährt.
Vordringliche Aufgabe der Akademie ist der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und praktischer
Bucharbeit und die ideelle sowie gemeinnützige Förderung der Kinder- und Jugendliteratur. Deswegen prämiert sie monatlich jeweils drei Neuerscheinungen aus den Bereichen Bilder-, Kinder-,
Jugend- und Sachbuch zum Buch des Monats; außerdem zeichnet sie seit März 2011 monatlich ein
Buch als Klima-Buchtipp aus und veranstaltet dazu Lesungen in Schulen. Sie verleiht jährlich den
Großen Preis der Akademie – gegenwärtiger Stifter ist die Märchen-Stiftung Walter Kahn – für
ein literarisches bzw. graphisches Gesamtwerk, den Volkacher Taler für herausragende wissenschaftliche, literaturpädagogische sowie publizistische Arbeiten im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur und – seit dem Jahr 2009 – auch einen Nachwuchspreis.
Die Zeitschrift der Akademie ist der Volkacher Bote, der neben Berichten aus der Akademie auch
Beiträge zu aktuellen Themen der Kinder- und Jugendliteratur bietet. Er erscheint zweimal im Jahr.
In jedem Frühjahr findet in Volkach eine Akademietagung statt; sie ist für alle gedacht, die sich
beruflich oder privat mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. Die Ergebnisse der Tagungen
werden in der Schriftenreihe der Deutschen Akademie publiziert. Im Laufe des Jahres führt die
Akademie – vielfach gemeinsam mit regionalen und überregionalen Kooperationspartnern – Autorenlesungen durch und veranstaltet Ausstellungen, Aktions- und Bildungstage rund um das Thema
Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund.
Wesentliche finanzielle Unterstützung erhält die Akademie – neben Spenden durch Mitglieder und
Freunde der Akademie – vor allem durch die Stadt Volkach, den Bezirk Unterfranken, die Bayerische Sparkassenstiftung, das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus sowie durch
das Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend.
Präsidium
Präsident: Prof. Dr. Dr. Kurt Franz (Regensburg)
Vizepräsident: Dr. Franz-Josef Payrhuber (Worms)
Vizepräsidentin: Dr. Claudia Maria Pecher (Frankfurt am Main)
Geschäftsstelle
Christina Maria Mayer, Schelfenhaus, Schelfengasse 1, 97332 Volkach
Fon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.de
Internet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjl
Redaktion des Volkacher Boten und verantwortlich für den Inhalt
Dr. Franz-Josef Payrhuber, Goldbergstraße 23, 67551 Worms
Fon 06241-33562, E-Mail franz.payrhuber@t-online.de
Prof. Dr. Kurt Franz, Stieglitzstraße 3, 93180 Deuerling
Fon 09498-1391, E-Mail kurtfranz@t-online.de
Editorial
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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
der Volkacher Bote erscheint zurzeit normalerweise nur in digitaler Form, was insgesamt recht positiv aufgenommen wird. Diesmal können wir dank einer großzügigen
Spende unseres früheren Boten-Redakteurs Günter Lange ein Heft auch in gedruckter
Form erscheinen lassen. Natürlich kann der Volkacher Bote gleichzeitig im Internet
abgerufen werden.
Der Anlass zur diesmaligen gedruckten Ausgabe liegt nicht zuletzt darin, dass die
Akademie in würdiger Form seines ehemaligen Mitglieds und des ersten BotenRedakteurs Otfried Preußler gedenken will. Das geschieht hier durch den sehr persönlichen Nachruf des Preußler-Spezialisten Günter Lange, aber auch durch seine Ausführungen zu Preußlers Werk Der kleine Wassermann. Außerdem erfahren Sie schon Näheres über die im Frühjahr 2014 stattfindende Tagung der Akademie zum Thema „Otfried Preußler und sein Werk“.
Leider ist noch zwei weiterer Verstorbener zu gedenken, die mit dem Großen Preis
der Akademie ausgezeichnet wurden: des Schweizer Schriftstellers Max Bolliger und
der Illustratorin Margret Rettich.
Die Beiträge des Heftes beschäftigen sich mit dem deutsch-französischen Verhältnis in Jugendbüchern, greifen das Werk Judith Kerrs anlässlich ihres 90. Geburtstages
auf und verfolgen die intertextuellen Spuren in Andreas Steinhöfels Krimis. Und natürlich erfahren Sie wieder viel über aktuelle Ausstellungen, über neue Bücher und über
Tätigkeiten der Akademie.
Viele von Ihnen sind in den vergangenen Jahren der Bitte nachgekommen, zum
Druck des Volkacher Boten mit einer Spende beizutragen. Es würde uns freuen, wenn
der Bote auch künftig in gedruckter Form erscheinen könnte. Dazu wäre es freilich am
günstigsten, wenn wir wieder einen großzügigen Sponsor fänden. Wir sind aber für
Spenden in jeder Höhe dankbar. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum auf
der hinteren Umschlagseite.
Gute Unterhaltung beim Lesen wünschen
Franz-Josef Payrhuber und Kurt Franz
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Editorial ......................................................................................................................
1
BEITRÄGE
Günter Lange
Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag im Spiegel
zweier aktueller Jugendromane ..................................................................................
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Othmar Hicking
Judith Kerr – Zu ihrem Leben, ihrem Werk und ihrer Bilderwelt. Retrospektive
auf Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf ..................................... 12
Günter Lange
Otfried Preußlers Der kleine Wassermann
Debüt und Abschluss eines großartigen Lebenswerkes ............................................. 16
Andreas Wicke
„Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple“
Intertextuelle Spuren in Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis ......................... 19
AUSSTELLUNGEN UND KATALOGE
Othmar Hicking
Ausstellungen und Kataloge zur Kinder- und Jugendliteratur 1/2013 ....................... 31
REZENSIONEN
Dietrich Grünewald
Tiere sind auch nur Menschen – bitterböse Kurzgeschichten .................................... 40
Rolf Koppe
Jesus von Nazareth. Zum gleichnamigen Jugendbuch von Alois Prinz .................... 42
3
Inhaltsverzeichnis
Franz-Josef Payrhuber
Aufgelesen – Ausgelesen 1/2013 ............................................................................... 45
Reiner Neubert
Erinnerungsorte. Land- und Dorfleben im Spiegel literarischer Zeugnisse
der DDR. Zu einer Studie von Barbara Schubert-Felmy ........................................... 53
Bernhard Meier
Kennst du die Brüder Grimm?
Zu einem Buch von Kurt Franz und Claudia Maria Pecher ....................................... 55
Kurt Franz
Volkskultur – anschaulich, unterhaltsam, informativ
Zu einem Buch von Albert Bichler ............................................................................ 57
Hans Gärtner
Wovon Autoren träumen
Ein „Lesebuch“ von Petra Hartmann und Monika Fuchs .......................................... 58
BERICHTE
Auszeichnungen ......................................................................................................... 60
Stefan Mayr
Klaus Marschall – Nun preisgekrönter Chef der Augsburger Puppenkiste ............... 61
Lesetüten-Aktionen .................................................................................................... 62
IN MEMORIAM
Günter Lange
Nachruf auf Otfried Preußler ..................................................................................... 63
Hans Gärtner
Er erzählte von Mose, Jesus und Franziskus
Vor 30 Jahren erhielt Max Bolliger (gest. am 10. Februar 2013) den
Katholischen Kinderbuchpreis ................................................................................... 68
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Inhaltsverzeichnis
Erich Jooß
Die Bilder und die Stille
Nachruf auf Max Bolliger .......................................................................................... 70
Kurt Franz
Margret Rettich ist tot ................................................................................................ 73
AUS DER AKADEMIE
Einladung zur Akademie-Tagung 2013: „Literaturentwicklung, Literaturkritik,
Literaturbehandlung“ ................................................................................................. 74
Vorankündigung Akademie-Tagung 2014: Otfried Preußler...................................... 76
Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon ................................................................. 77
Aufruf zur Fördernden Mitgliedschaft ....................................................................... 78
Impressum ................................................................................................................... 81
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
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GÜNTER LANGE
Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag
im Spiegel zweier aktueller Jugendromane
Am 22. Januar 1963 wurde der sogenannte „Elysée-Vertrag“ zwischen dem damaligen
Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten Charles de
Gaulle in Paris unterzeichnet. Dieser Vertrag sollte die ‚Erbfeindschaft’ zwischen beiden Staaten, die über Jahrhunderte bestanden hat und ihre schlimmsten Auswirkungen
in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fand, endgültig beenden und eine
freundschaftliche Zusammenarbeit auf allen Politikfeldern, regelmäßige Konsultationen beider Regierungen, Förderung eines Deutsch-Französischen Jugendwerks, Möglichkeiten von Städtepartnerschaften und einen Deutsch-Französischen Fonds für Kulturprogramme begründen. Dass 2012/2013 dieses Vertrages in Deutschland und Frankreich gedacht wird, macht deutlich, wie wichtig er für beide Völker und für Europa
geworden ist und auch in Zukunft noch sein wird. Welche grausamen Auswirkungen
die ‚Erbfeindschaft’ für beide Völker hatte, wird in zwei Jugendbüchern deutlich, die
zum Jubiläumsjahr 2012 des Vertrags erschienen sind: Gudrun Pausewang: Au revoir, bis nach dem Krieg und Inge Barth-Grözinger: Geliebte Berthe.
Während Gudrun Pausewang die schwierige Liebesgeschichte zwischen einem
französischen Kriegsgefangenen und Hanni, der Tochter der Familie, bei der dieser
zwangsweise arbeiten muss, erzählt, entfaltet Inge Barth-Grözinger – historisch sehr
viel umfangreicher – die Lebensgeschichte von Berthe, einem Mädchen von der
schwäbischen Alb, vom Ende des Ersten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Durch Zufall begegnet sie in Straßburg der Liebe ihres Lebens, einem Franzosen. Aber
ihr Weg in die Ehe und das Zusammenleben mit ihm im französischen Elsass führt zu
Krisen und seelischen Verletzungen, auch im engsten Familienkreis, weil die alte ‚Erbfeindschaft’, die Folgen des Ersten Weltkriegs, der aufziehende Nationalsozialismus
und der Zweite Weltkrieg immer neuen Hass zwischen den Menschen beider Nationen
hervorbringen. Erst in der Zeit nach 1945 zeigen sich erste Ansätze, dass dieser Hass
mit viel Engagement und Verständnis überwunden werden kann; sie bilden quasi eine
Vorstufe des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages.
Über alte Fotoalben führt Gudrun Pausewang in ihrem Jugendbuch Au revoir, bis
nach dem Krieg in die Geschichte der Familie Hensel ein und stellt den Lesern deren
einzelne Mitglieder vor. Es ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Der Nationalsozialismus wirkt durch seine Politik und Organisationsformen auch in diese Familie hinein. Trotz der ablehnenden Haltung der Eltern und der Großmutter sind der zwanzigjährige Jürgen und der elfjährige Alfred nicht vor der Indoktrination der Partei und ihrer Organisationen gefeit und folglich von der Überlegenheit der Deutschen und der
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BEITRÄGE
‚Erbfeindschaft’ mit den Franzosen überzeugt. Als am 1. September 1939 der Zweite
Weltkrieg ausbricht, zieht Jürgen voller Begeisterung in den Krieg, und Alfred verfolgt
auf seinen Landkarten die Erfolge der deutschen Wehrmacht.
Als nach einem halben Jahr auch Vater Robert eingezogen wird, gerät die
Familie in Schwierigkeiten: der
Steinbruch, den der Vater betreibt,
muss geschlossen werden, und in der
Familie fehlen Vater und Sohn für
die schweren Arbeiten. Mutter, Oma
und die fünfzehnjährige Hanni müssen viele Dinge zusätzlich erledigen
und arbeiten am Rande der Erschöpfung. Erst nach dem Frankreichfeldzug bekommen sie einen französischen Kriegsgefangenen als Hilfe
zugeteilt. Philippe Garnier ist aber
erst 19 Jahre alt, das Arbeiten nicht
gewöhnt, da er Musik studiert hat,
und – vor allem – er versteht kein
Wort Deutsch. Die Behörden haben
strenge Bedingungen für den Umgang mit den Kriegsgefangenen erlassen: das Fraternisierungsverbot
und eine strikte Distanz zu den deutschen Familien. Natürlich ergeben
sich immer wieder Beziehungen
zwischen Kriegsgefangenen und
Deutschen, die seitens der Behörden
massive Strafen nach sich ziehen:
Die Kriegsgefangenen werden halb tot geprügelt und die deutschen Frauen kahl geschoren und als ‚Franzosenliebchen’ an den Pranger gestellt.
Philippe Garnier hat Glück gehabt, denn schon nach kurzer Zeit wird er wie ein
Familienmitglied behandelt. Alfred wehrt sich anfangs dagegen, aber als der Franzose
ihm verschiedentlich hilft, verändert sich seine Einstellung. Die Familie muss allerdings aufpassen, dass sie von den Soldaten der Wehrmacht, die die Gefangenen bewachen, bei ihren Verstößen gegen die Bestimmungen nicht erwischt wird.
Ein besonderes Problem ergibt sich, als deutlich wird, dass sich Philippe und Hanni
ineinander verliebt haben. Die Familie Hensel muss nun Maßnahmen ergreifen, um sie
vor den Behörden und den Soldaten zu beschützen. Da Philippe weiterhin bei der Familie arbeitet, bekommen die beiden jungen Leute von den Eltern in einem offenen
Gespräch die Auflage, dass sie nicht mehr miteinander sprechen und sich nicht allein
begegnen dürfen, was beiden ungeheuer schwer fällt. Zum Glück wird Philippe nach
kurzer Zeit an einen anderen Ort verlegt. Beide Liebende warten nun sehnsüchtig auf
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
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das Ende des Krieges, weil die Verbindung zwischen ihnen abgerissen ist. Eines Tages
findet Hanni durch Zufall im Klavierkasten eine Geheimbotschaft Philippes, die für
sie, Alfred und die Mutter bestimmt ist und ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft
wieder aufleben lässt. Aber Hitlers sinnloser Krieg und die Zerstörung Deutschlands
bringen Not, Tod und Elend über die Bevölkerung, so auch über die Familie Hensel.
Jürgen, der während des Krieges geheiratet hat, fällt ebenso wie der Vater. Albert, der
Jüngste, wird in den letzten Tagen des Krieges zum Volkssturm eingezogen, gerät in
eine Gruppe, die von einem fanatischen SS-Offizier geführt wird, der die Jungen ohne
jede Deckung auf den Gegner hetzt. Auf dem Schulhof ihres Gymnasiums werden sie
von einem feindlichen Maschinengewehr niedergemäht, wobei die Hälfte der Jungen
stirbt. Albert verliert beide Beine, wird depressiv und lässt niemanden mehr an sich
heran, auch seine Mutter und Oma nicht. An seinem 22. Geburtstag macht er seinem
Leben ein Ende und erschießt sich.
Hanni hat seit dem Ende des Krieges auf ein Lebenszeichen von Philippe gehofft,
mehrfach an dessen Mutter nach Paris geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Drei
Jahre nach dem Krieg bekommt sie über einen ehemaligen französischen Kriegsgefangenen die Nachricht, dass Philippe seit 1945 in Paris lebt und sein Studium beendet
hat. Sie macht sich auf den Weg zu ihm, aber das Wiedersehen bringt kein Happy End,
denn Philippe ist verheiratet und hat einen Sohn. Nur vierzehn Tage nach ihrer Rückkehr heiratet Hanni ihren Lehrerkollegen.
Das Jugendbuch besitzt zahlreiche autobiographische Anspielungen, denn die 1928
geborene Gudrun Pausewang wächst in den 1930er und 1940er Jahren in Wichstadt
(Böhmen) auf, erlebt die Auswirkungen des Nationalsozialismus und den Krieg unmittelbar mit. Sie und ihre Eltern sind allerdings – im Gegensatz zu den Hensels – begeisterte Nazis. Ihr Vater, der für die Rechte der deutschen Minderheiten kämpft und sich
in der Sudetendeutschen Partei engagiert, meldet sich 1943 freiwillig zum Kriegsdienst
und fällt im selben Jahr in Russland. Für Gudrun Pausewang ist – wie sie selbst sagt –
der 8. Mai 1945 kein Tag der Befreiung, sondern ein Tag der Niederlage gewesen. Erst
in der Nachkriegszeit gewinnt sie zum ,Dritten Reich’ und seinen Verbrechen ihre inzwischen bekannte und auch in diesem Jugendbuch überzeugende kritische Haltung.
Die Autorin schreibt also aus der unmittelbaren Anschauung und dem Erleben dieser schrecklichen Zeit. Daher gelingen ihr sowohl in der Personendarstellung als auch
in den Situationsschilderungen eindrucksvolle Bilder. Die Eltern von Hanni und vor allem die Großmutter sind in ihrer Sensibilität, aber auch in ihrer konsequenten Einstellung zu Krieg und Nationalsozialismus überzeugende Charaktere. In Hanni als Protagonistin spiegelt sich das ganze Geschehen. Ihre Liebe zu Philippe wird ausgesprochen
zurückhaltend dargestellt, wie es dem Bewusstsein einer Heranwachsenden in der damaligen Zeit angemessen ist.
Gudrun Pausewang wählt für ihren Jugendroman eine personale Erzählsituation;
das Geschehen wird aus der Sicht von Hanni dargestellt, und nur an ganz wenigen Stellen gestattet die Autorin den Lesern einen Blick ins „Innere“ von Hanni (erlebte Rede), und zwar dort, wo es um ihre Liebe zu Philippe geht. Als von Hannis Eltern das
Verbot der Kontaktaufnahme zwischen den beiden Liebenden ausgesprochen worden
ist, folgt eine Passage mit Innensicht, die sehr beeindruckend ist:
BEITRÄGE
8
In dieser Nacht tat Hanni kein
Auge zu. Immer und immer wieder überdachte sie ihre und Philippes Lage. Wenn es so war, dass
man ihnen die Liebe ansah, war
eine Trennung bis zum Frieden
die beste Lösung. Sie war grausam, gewiss. Aber so eine bittere
Erfahrung wie Christel und Antoine durchzustehen, würde noch
grausamer sein. Wer weiß, was
sie mit Philippe anstellen würden.
Sie weinte ins Kopfkissen, als
sie an die Trennung dachte. Nicht
einmal schreiben durften sie sich!
Ihnen blieb nichts anderes übrig,
als zu warten und zu hoffen auf
ein baldiges Kriegsende.
So konnte Liebe also auch
sein. Ganz anders, als Hanni sie
sich in ihren Kinderjahren vorgestellt hatte. Als sie noch glaubte,
dass man, wenn man sehr, sehr
verliebt und dementsprechend
glücklich ist, über den Regenbogen gehen kann, ohne abzustürzen … (S. 188)
Ansonsten bleibt die Darstellung Pausewangs auf der Ebene der Handlung und Fakten
angesiedelt; dadurch wirkt sie oft holzschnittartig, was auch durch die kurzen, knappen
Sätze bedingt ist. Gudrun Pausewang enthält sich in ihrem Erzählen – und das macht
das Jugendbuch zu einem wahren Leseerlebnis – jeglicher Deutung bzw. Interpretation.
Der Leser ist lediglich Beobachter der Szenerie, die ihn aber zu einer eigenen Stellungnahme herausfordert. Gudrun Pausewang sagt zur Intention ihrer Jugendbücher:
Ich will ihn [den Leser] herausfordern, aufrütteln, beunruhigen, damit er sich entschließt, etwas zu tun gegen die Gefahr. Im übrigen gehe ich mit Happy-Ends immer
sehr sparsam um. Im Leben sind sie auch nicht so üppig gesät. (Pausewang, zit. in: Mikota 2009, S. 6)
Ganz anders als Gudrun Pausewangs Buch ist Inge Barth-Grözingers sehr umfangreicher Roman Geliebte Berthe angelegt. Er umfasst den Zeitraum vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre; er erzählt die Geschichte eines jungen armen
Mädchens von der Schwäbischen Alb, das 1922 mit 18 Jahren ihr Elternhaus verlässt,
nach Stuttgart geht, um bei Bosch zu arbeiten, aber weil sie dort unzufrieden ist, einem
liebenswerten Professor der Romanistik den Haushalt führt, von ihm in das Französische und in die Lyrik von Arthur Rimbaud eingeführt wird. So wird ihre Liebe für alles
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
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Französische geweckt; und Rimbauds Lyrik begleitet sie ein Leben lang, denn sie hat –
obwohl sie anfangs als ein naives Mädchen erscheint – ihre Seele irgendwie berührt.
Nach dem Hitler-Putsch 1923 begeht der Professor aus Verzweiflung über die politische
Situation in Deutschland Selbstmord. Berthe1 nimmt eine Stelle als Kindermädchen in
Gengenbach, nahe der französischen Grenze, an. Am 14. Juli 1925, am französischen
Nationalfeiertag, unternehmen Berthe und ihre Freunde eine Reise nach Straßburg, um
sich zu amüsieren. Dort begegnet sie dem jungen Drucker Armand. Ihre Liebe auf den
ersten Blick hat schicksalhafte Folgen für beide, obwohl sie sich erst Jahre später wiedersehen können. Armand kehrt nach Südfrankreich zurück, wo sein Vater eine kleine Druckerei besitzt, und Berthe nach Gengenbach. Sehnsuchtsvolle Briefe wechseln hin und
her, die den beiden Liebenden aber keine Zukunftsperspektive eröffnen.
Berthe ergreift schließlich die Initiative und geht nach Marseille, denn sie hat jetzt
plötzlich zwei Männer, die sie suchen muss: Ihren Bruder Georg, der sich nach dem
Ersten Weltkrieg den Kommunisten angeschlossen hat, um für den Frieden zu kämpfen, der aber deswegen in Deutschland von den Rechten und Nationalisten verfolgt
wird und nach Marseille, später nach Spanien geflohen ist, und ihren Geliebten Armand, der es wegen des Deutschenhasses seiner Mutter nicht wagen kann, eine deutsche Frau ins Haus zu holen, zumal ihr ältester Sohn im Ersten Weltkrieg gefallen ist.
Von diesem Zeitpunkt an bekommt der Roman einen doppelten Spannungsbogen: Findet sie ihren Bruder? Und: Was wird aus der Beziehung zu Armand? Aber in Frankreich erlebt Berthe neben den Freundlichkeiten, die sie auf Grund ihrer Persönlichkeit
erfährt, auch immer wieder Ablehnung, zumal sie mit ihren roten Haaren leicht als
Deutsche identifiziert wird.
Dank ihrer Hartnäckigkeit gelingt es ihr, Armand endlich dazu zu bewegen, nach
Marseille zu kommen und sie abzuholen. Hier erleben sie ihre erste Liebesnacht. Als
die beiden aber in Armands Heimatdorf Villeneuve ankommen, schlägt Berthe der
blanke Hass entgegen. Im Lokal wird sie nicht bedient, ebenso wenig in den Geschäften. Da sie wegen der Selbstmorddrohung von Armands Mutter nicht in dessen Elternhaus wohnen können, finden sie eine kleine Wohnung bei Armands Freund Henri
Duchamps und dessen Frau Madeleine. Deren Haus und der Fußsteig davor werden
von dem Zeitpunkt ihres Einzugs an fortlaufend mit dem Schimpfwort „boche“ und
anderen abwertenden Parolen beschmiert, gegen die sie sich nicht wehren können. Nur
Madeleine wird nach anfänglichem Zögern zu Berthes bester Freundin und hilft ihr, wo
sie nur kann. Mit ihrer Hilfe überwindet Berthe langsam viele der Vorurteile, obwohl
sie nicht gänzlich verschwinden.
Die Integration Berthes schreitet voran, als dem Ehepaar nacheinander drei Kinder
geboren werden. Armands Vater ist glücklich über seine Enkelkinder, aber seine Mutter
beharrt konsequent auf ihrer Einstellung.
Als der Zweite Weltkrieg beginnt, flammt auch der alte Hass auf Berthe und alles
Deutsche wieder auf. Sogar ihr eigener Sohn Pierre, der von seiner Großmutter massiv
beeinflusst worden ist, wendet sich gegen seine Mutter. Armand, seine Freunde und
1
Die Protagonistin heißt eigentlich Bertha; ihr Name wird aber in dem Roman mehr und mehr
zu Berthe französisiert.
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BEITRÄGE
Pierre schließen sich nach der Niederlage Frankreichs der Résistance an. Die Druckerei
wird zu einem Zentrum des Widerstands. Als schließlich der Krieg zu Ende ist, kann
der Frieden nur ganz langsam die tiefen Wunden heilen. Berthes Bruder macht Karriere
in der DDR, was ihr gar nicht gefällt. Bevor sie ihn besuchen können, stirbt Armand,
aber die Familie blüht weiter – im Mittelpunkt Berthe. Ihr Sohn Pierre übernimmt die
Druckerei vom Vater, ihre Tochter Anne wird Ärztin, ihr jüngster, 1940 geborener Sohn
Henri, ein Rotschopf wie seine Mutter, hat auch ihre Liebe zur Sprache und zur Lyrik
geerbt. Er ist der Künstler der Familie, schreibt Gedichte in französischer und deutscher Sprache und studiert in Straßburg deutsche Literatur.
1963 schließen de Gaulle und Adenauer den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag und beenden damit die alte „Erbfeindschaft“; 1965 bekommt Berthe bei einem
Festakt der Gemeinde Villeneuve eine neu gestiftete Medaille der Stadt für ihre Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft überreicht. Damit schließt sich der
bewegende Lebenskreis von Berthe mit all seinen Höhen und Tiefen.
Der umfangreiche Roman bekommt seine Struktur durch die Lyrik von Rimbaud.
Bei ihrem Romanistik-Professor lernt Berthe Das Pierrot-Lied kennen, ein Liebeslied,
das sie ihr Leben lang begleiten wird und dessen Verse, neben Versen aus anderen Gedichten Rimbauds, zu Kapitelüberschriften und damit zu Leitmotiven des Romans
werden, denn auch in der Handlung spielen sie immer wieder eine beziehungsreiche
Rolle. Nur wenige Kapitelüberschriften – am Anfang und am Schluss – verweisen auf
das Land Frankreich oder den historischen Kontext.
Eine zweite Leitmotivkette wird durch das Märchen Das kalte Herz von Wilhelm
Hauff gebildet, das im Schwarzwald zu einer Zeit spielt, da die Bewohner noch an
Waldgeister glaubten. Dieses Märchen, das Berthe ihren Kindern oft vorliest, wird zum
Symbol für den Hass gegen alles Deutsche bei ihrem ältesten Sohn Pierre, aber zum
Symbol der Zuneigung zu allem Deutschen bei Berthes jüngstem Sohn.
Die Autorin Inge Barth-Grözinger – das hat sie schon in ihren früheren Jugendbüchern bewiesen – hat sich in die historischen Kontexte ihrer Romane intensiv eingearbeitet, so dass sie die eigentliche Handlung bruchlos und überzeugend aus dem Historischen heraus entwickeln kann. Die Fülle der Personen bildet ein buntes Gemisch verschiedener Charaktere, die die jeweilige Epoche glaubwürdig repräsentieren. Trotzdem
steht Berthe immer im Mittelpunkt. In ihr und ihrem Bewusstsein spiegelt sich das
ganze Geschehen. Hinzu kommt, dass die Autorin als studierte Deutschlehrerin Wichtiges aus der Literatur gelernt und in ihre eigene Literatur integriert hat. Sie kennt ‚ihren’ Fontane genau und weiß von ihm, dass man einen ganzen Roman zentral von den
Gesprächen her gestalten kann. Fontane hat das beispielhaft in Effi Briest gezeigt, und
Inge Barth-Grözinger übernimmt in ihrem Roman gekonnt diese Technik. In den Gesprächen zwischen einzelnen Personen, wie z.B. dem zwischen Berthe und dem Professor, kann die bisherige Lebensgeschichte Berthes zwanglos ausgebreitet werden. Es
muss zudem nicht chronologisch erzählt werden; Zeitsprünge sind möglich, Früheres
kann nachgeholt oder Späteres vorausschauend angedeutet oder dargestellt werden.
Der Roman wirkt auf diese Weise lebendiger, zumal die Personen durch ihre Gesprächsbeiträge individualisiert und charakterisiert werden.
Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag
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Im Nachwort ihres Romans erklärt Inge Barth-Grözinger, dass es für die Geschichte
der Berthe ein Vorbild gab, das sie noch persönlich kennengelernt hat:
Ihr gilt mein erster und größter Dank, vor allem für ihren Mut und ihre Kraft, die sie befähigten, eine außergewöhnlich Liebes- und Lebensgeschichte zu meistern. Die Freundschaft
zwischen dem deutschen und dem französischen Volk ist heute selbstverständlich, und erscheint dennoch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen, vielfältigen Geschichte wie ein
Wunder. Menschen wie Bertha und Armand haben mit ihrer Liebe und ihrer Beharrlichkeit
das Fundament für jene Entwicklung gelegt, die vor nunmehr fünfzig Jahren in Reims begann. (S. 408, unpaginiert)
Primärliteratur
Barth-Grözinger, Inge: Geliebte Berthe. Stuttgart, Wien: Thienemann 2012.
Pausewang, Gudrun: Au revoir, bis nach dem Krieg. Hildesheim: Gerstenberg 2012.
Sekundärliteratur
Hoenig, Verena: Fraternisierung. Gudrun Pausewangs Roman über eine Liebe 1940. In:
Süddeutsche Zeitung v. 8.2.2013, S. 15.
Lange, Günter: Inge Barth-Grözinger. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, FranzJosef (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur – Ein Lexikon. Meitingen: Corian
1995ff. (43. Erg.-Lfg. Oktober 2011, S. 1-25).
Mikota, Jana (unter Mitarbeit von Günter Lange): Gudrun Pausewang. In: Franz,
Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.). Kinder- und Jugendliteratur
– Ein Lexikon. Meitingen: Corian 1995ff. (37. Erg.-Lfg. Okt. 2009, S. 1–53).
Osteroth, Reinhard: Wie liebt man im Krieg? Zwei historische Jugendromane erzählen
von zwei Paaren, die im Schatten beider Weltkriege für ihre Beziehung kämpfen.
In: DIE ZEIT v. 17.1.2013, S. 38 (Neben Geliebte Berthe wird in diesem Artikel
der Roman Das Karussell von Klaus Kordon rezensiert.)
Inge Barth-Grözinger stellt ihrem Roman eine Widmung voran, in der sie „mit
großer Wertschätzung“ Jean Egens und „seines wunderbaren Romans Die Linden
von Lauterbach“ gedenkt, der eine andere deutsch-französische Lebensgeschichte
erzählt.
„Dieser autobiographische und zugleich humorvolle Roman wurde in Frankreich
in wenigen Wochen 100 000mal verkauft. Aus der Perspektive eines Kindes, das
nie recht weiß, welcher Nation es sich zugehörig fühlen soll, erzählt der Elsässer
Jean Egen, geboren 1920, die bewegte Geschichte einer Provinz und die Wechselfälle einer Familie zwischen Frankreich und Deutschland.“ (Umschlagtext)
Jean Egen: Die Linden von Lauterbach. Eine deutsch-französische Lebensgeschichte. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 20. Aufl. 2012. 8,99 €.
BEITRÄGE
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OTHMAR HICKING
Judith Kerr
Zu ihrem Leben, ihrem Werk und ihrer Bilderwelt
Retrospektive auf Burg Wissem – Bilderbuchmuseum
der Stadt Troisdorf
Aus Anlass des 40jährigen Erscheinens von When Hitler stole Pink Rabbit (1971; dt.
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl 1973) führte Ute Wegmann, Redakteurin beim
Deutschlandfunk Köln, im Sommer 2011 mit Judith Kerr in deren Haus in Barnes/England ein längeres Interview, in dem sie u.a. auch über das Zeichnen und die Wort-BildVerbindung sprachen. Zum Zeichnen sagte Judith Kerr:
So ist es, wenn man Zeichnerin ist. Es ist gar nicht das Zeichnen, es ist das Sehen. Im
Kopf zeichnet man die ganze Zeit eigentlich. Man geht herum und sieht die Welt und
dann, in your head, you rearrange things. Und das ist natürlich an obsession. Wenn man
eine Arbeit hat, die man liebt, dann ist das ein Riesenglück und eine Riesenhilfe dagegen, wenn man Unglück hat. Es ist wahrscheinlich so, wie für andere Menschen die
Religion. Es ist etwas außerhalb von einem selbst, was wichtiger ist, als alles andere.
Und zur Wort-Bild-Verbindung sagte Judith Kerr:
Wenn man nämlich einen Reim sucht […] das bringt einen auf Wege, die man nie
gegangen wäre. A crocodile and a kangaroo sat off on a bicycle made for two. Das war
wegen des Reims. Ich habe mich richtig darüber gefreut, das hätte man sonst doch nie
geschrieben. Aber als es dazu kam, das zu zeichnen, da dachte ich: What fool wrote
this? – das war wirklich nicht leicht [ …].
Die Autorin und Illustratorin Judith Kerr, Tochter des berühmten Theater- und Literaturkritikers Alfred Kerr (1867–1948) und der Komponistin Julia Kerr, geb. Weismann
(1898–1965), wird am 14.06.1923 in Berlin geboren. Der Bruder Michael, der später in
England ein anerkannter Richter wurde, war zwei Jahre zuvor, im März 1921, zur Welt
gekommen. Die Familie Kerr ist gut situiert, wohnt in einer Villa im vornehmen
Berliner Stadtteil Grunewald und genießt hohes Ansehen, auch über Deutschland
hinaus. Obwohl jüdischer Herkunft, praktizieren die Kerrs ihre Religion nicht –
durchaus üblich im Deutschland jener Jahre. Die glücklichen und behüteten Jahre der
Kindheit, die die Kerr-Kinder in Berlin verleben, enden Anfang 1933 abrupt. Zunächst
muss Alfred Kerr, seit langem erklärter und entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, Deutschland über Nacht verlassen. Im Februar 1933 flieht er nach Prag. Ehefrau
Julia und die beiden Kinder Judith und Michael verlassen ihre Heimat Berlin im März
1933 und flüchten in die Schweiz nach Lugano, wo Alfred Kerr wieder zu ihnen stößt.
Judith Kerr
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Noch 1933 werden die Kerrs von den Nazis ausgebürgert und enteignet. Die Familie ist
nun staatenlos und ihrer kompletten Besitztümer beraubt, bis auf das wenige, was sie
auf die Flucht mitnehmen konnten. Anna, das alter ego von Judith Kerr in ihrem Roman Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, erinnert sich an diesen ruchlosen Diebstahl
wie folgt:
Anna versuchte, es sich vorzustellen. Das Klavier war weg … die Vorhänge im
Esszimmer mit dem Blumenmuster … ihr Bett … alle Spielsachen, auch das rosa
Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vor
Jahren ausgefallen –, und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten
stellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen, rosa, so weich und vertraut
gewesen.
Von der Schweiz aus emigriert die Familie, ständig unter drückender Geldnot leidend
und sich finanziell nur durch Gelegenheitsarbeiten mühsam erhaltend, unter vielen
Entbehrungen und Nöten über Paris in Frankreich und Oostende in Belgien Anfang
März 1936 schließlich nach London. England wird für die Kerrs nun zur neuen und
zweiten Heimat, 1947 erhalten alle Familienmitglieder den britischen Pass.
Für Judith Kerr beginnt nach dem Krieg eine Zeit großer Veränderungen und
Entwicklungen. Ab 1946 studiert sie für drei Jahre an der Londoner Central School of
Arts and Crafts Malen und Zeichnen, arbeitet anschließend freiberuflich als Zeichenlehrerin und tritt 1954 eine Lektoratsstelle beim englischen Rundfunksender BBC an,
wo sie u.a. auch eigene Drehbücher schreibt. Beim BBC lernt Judith Kerr den Autor
Thomas Nigel Kneale (gest. 2006) kennen. Beide heiraten schon im Mai 1954, 1958
und 1960 werden Tochter Tacy und Sohn Matthew geboren. Die Kerr-Kneale-Familie
verlässt London und bezieht im südlichen Londoner Vorort Barnes ein Reihenhaus, in
dem Judith Kerr bis heute und nun schon über 50 Jahre lebt.
Zugunsten der Erziehung der Kinder gibt sie das Malen und Zeichnen zunächst auf
und widmet sich diesem erst wieder, als Tochter und Sohn die Schule besuchen. 1968
erscheint ihr erstes Bilderbuch The Tiger who came to Tea (dt. Ein Tiger kommt zum
Tee, Ravensburger 1979). Dieses gilt bis heute als eines der beliebtesten englischen
Bilderbücher aller Zeiten, verkaufte sich weltweit millionenfach und wurde 2012 bei
Knesebeck neu aufgelegt. 1970 folgte mit Mog, the forgetful Cat (dt. Mog, der vergeßliche Kater, Ravensburger 1970) das erste von insgesamt 17 Mog-Bilderbüchern,
die bis zum letzten Band 2001, in dem Mog stirbt, erschienen und, autobiografisch
fiktionalisiert, kleine und große Geschichten um den Kater Mog, unverkennbar
Hauskater-Mitglied der Familie Kerr-Kneale, erzählen. Elf davon wurden ins Deutsche
übersetzt und sämtlich im Ravensburger Buchverlag veröffentlicht. Neben den MogBänden veröffentlichte Judith Kerr zwischen 1992 und 2010 bei HarperCollins in
London noch einige wenige weitere Bilderbücher, die bislang jedoch ebenso wenig in
deutscher Übersetzung erschienen wie ihre beiden letzten illustrierten Bücher My
Henry (2011), eine surreal-traumhaft anmutende Hommage und Liebeserklärung an
ihren verstorbenen Ehemann, und The Great Granny Gang (2012), eine Geschichte
über eine Gruppe älterer Damen, die tatkräftig eine Bande junger Diebe in die Flucht
schlägt.
14
BEITRÄGE
In dem Interview, das Ute Wegmann 2011 mit Judith Kerr in Barnes führte, betont
Judith Kerr, sie sei primär Zeichnerin, nicht Schriftstellerin. In Deutschland ist Judith
Kerr aber trotz ihrer Bilderbücher und internationalen Anerkennung in der Bilderbuchszene weniger als Illustratorin, denn als Autorin bekannt und berühmt und zwar für ihre
autobiografisch gefärbte Roman-Trilogie über die Flucht einer jüdischen Berliner Familie aus Nazi-Deutschland 1933, deren Schicksal und Erlebnisse während des Exils in
England und des Zweiten Weltkrieges bis hinein in die familiären Ereignisse der Nachkriegszeit und frühen 1950er Jahre. Der erste Band der Trilogie, die aus der Perspektive eines neunjährigen Mädchens für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde, erschien 1971 in England unter dem Titel When Hitler stole Pink Rabbit und ist gleichzeitig der bekannteste. Die deutsche Übersetzung Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
kam 1973 bei Ravensburger heraus, erhielt 1974 den Deutschen Jugendbuchpreis,
verkaufte sich millionenfach und ist bis heute auch als Schullektüre präsent und weit
verbreitet. 1975 erschien der zweite Band Warten bis der Frieden kommt (Auswahlliste
Buxtehuder Bulle 1975; Auswahlliste Deutscher Jugendbuchpreis 1976) und 1978 der
dritte Teil Eine Art Familientreffen, beide ebenfalls bei Ravensburger. Die deutsche
Übersetzung aller drei Bände besorgte Annemarie Böll, Ehefrau von Heinrich Böll.
Anlässlich des 90. Geburtstages von Judith Kerr am 14.06.2013 initiierte und
kuratierte Ute Wegmann die erste und längst überfällige Retrospektive zu Leben und
Werk von Judith Kerr in Deutschland. Diese wurde unter dem Titel Das rosa
Kaninchen, Mog und die anderen – Die Bilderwelt der Judith Kerr als einziger
deutscher Station im Troisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem gezeigt (05.05.13 –
16.06.13). Zu sehen waren mehr als 40 sorgfältig ausgewählte Originalillustrationen
von Judith Kerr, die repräsentativ das Gesamtwerk und alle Schaffensperioden von den
frühen und ersten Bilderbüchern bis hin zu den letzten Werken der 2010er Jahre
abdeckten. Die Originale stellte das nationale britische Archiv Seven Stories in
Newcastle-upon-Tyne, das auch den Vorlass von Judith Kerr verwaltet, als Leihgaben
zur Verfügung. Ergänzt wurden die ausgestellten Illustrationen um erhalten gebliebene
Dokumente, Unterlagen, Bilder und Briefe aus dem Leben der Familie Kerr, die vom
Alfred-Kerr-Archiv in Berlin leihweise überlassen wurden. Der attraktiven authentischen Vermittlung dienten zudem mehrere Audio-Stationen, an denen die Ausstellungsbesucher das von Ute Wegmann im Jahr 2011 mit Judith Kerr geführte Interview
im Originalton hören und selbst die Ausführungen und Stimme der trotz Hochaltrigkeit
jung gebliebenen Künstlerin erleben konnten.
Beleitend zur verdienstvollen Ausstellung erschien ein informativer Katalog, der
mit freundlicher Unterstützung durch den deutschen „Hausverlag“ von Judith Kerr,
dem Ravensburger Buchverlag, ermöglicht wurde. Im Anschluss an das einleitende
Vorwort (Pauline Liesen) portraitiert Ute Wegmann, die auch die lebendige und von
ihrer persönlichen Begegnung mit Judith Kerr getragene Rede zur Eröffnung der
Ausstellung hielt, das bewegte Leben und reiche Werk von Judith Kerr und berichtet in
einem zweiten Beitrag von ihrem Besuch bei der Künstlerin in Barnes im Sommer
2011. Deutlich wird, dass bei Judith Kerr in ganz besonderer Weise Leben und Werk
immer eng verschränkt sind, das eigene Leben die primäre künstlerische Inspirationsquelle für das Werk und das Werk ohne das gelebte Leben nicht vorstellbar ist.
Judith Kerr
15
Friedbert Stohner, Redaktionsleiter bei Ravensburger, würdigt die herausragende
Bedeutung, die Als Hitler das rosa Kaninchen stahl für die Entwicklung einer neuen,
ernsthafteren KJL in Deutschland insgesamt und spezifisch zum Thema Nationalsozialismus hatte; dieses war bis dahin in der deutschsprachigen KJL trotz der Bücher von
Lisa Tetzner und Hans Peter Richter in Schule und Bevölkerung nach wie vor weitestgehend ausgeblendet.
Jens Thiele schließlich ordnet in seinem Beitrag die frühen Bilderbücher von Judith
Kerr ein in das Bilderbuchschaffen der damaligen Zeit und analysiert vergleichend
bildnerische, stilistische, motivische und thematische Aspekte. Er kommt zu dem
Schluss, dass die Illustrationen von Judith Kerr noch in der eher traditionellen Konvention stehen, ihre Texte jedoch verschiedentlich durch den Wechsel zur Innenperspektive des Kindes bereits den Weg in die Moderne weisen und stellt fest: „Dieser
Widerspruch macht ihre frühen Bilderbücher für die Bilderbuchforschung heute besonders interessant.“
Der reich farbig bebilderte und angesichts des weitgehenden Fehlens aktueller
Fachliteratur zu Judith Kerr besonders hilfreiche und verdienstvolle Katalog schließt
mit Zeittafel zu relevanten Ereignissen aus dem Leben von Judith Kerr und ihrer
Familie sowie mit chronologisch geordneter Auswahlbibliographie der Werke von
Judith Kerr in englischer und deutscher Erstausgabe.
Zum Schluss des vorliegend Beitrages nochmals ein Zitat aus dem Interview von
Ute Wegmann mit Judith Kerr aus dem Jahr 2011:
Das tägliche Zeichnen ist auch heute noch selbstverständlich für Judith Kerr. Von ihrem
Arbeitsplatz im ersten Stock kann sie aus dem Fenster schauen, nach draußen, wo etwas
passiert, das ist wichtig für sie. Aber die Eiche vor dem Haus ist enorm gewachsen, nimmt
das Licht und überhaupt, lächelt sie, nehmen sich die Bäume ganz schön viel Raum. Die
Bäume sind über das Kneale’sche Haus gewachsen, viel Zeit ist vergangen. „Ich bin
glücklich, das hätte ich noch sagen sollen“, stellt sie zum Schluss fest. Und man spürt,
dass ihr das sehr wichtig ist, weil sich so der Wunsch ihres Vaters Alfred Kerr erfüllt.
Denn: in seinem letzten Brief an die Tochter schrieb er: „Du musst glücklich werden. Tu es!“
Zum Können seiner Tochter Judith hatte Alfred Kerr, wie Ute Wegmann in ihrem
Katalogbeitrag berichtet, schon früh festgestellt: „Du HAST Talent!“ Daran besteht
sicher kein Zweifel, aber es bleibt nicht bei der Begabung von Judith Kerr fürs Malen
und Zeichnen, die sich bei ihr schon im jungen Mädchenalter zeigt – Judith Kerr macht
auch etwas aus sich und ihrem Talent. Ihr erfülltes Leben und ihr international breit
anerkanntes schriftstellerisches und illustratives Werk sind dafür nicht nur eindrucksvoller und bester Beleg, sondern verleihen ihr auch einen herausragenden, festen und
bleibenden Platz in der KJL der Zeit nach 1960.
Literatur
Liesen, Pauline/Linsmann, Maria (Hrsg.): Das rosa Kaninchen, Mog und die anderen.
Die Bilderwelt der Judith Kerr. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Bilderbuchmuseum Burg Wissem der Stadt Troisdorf v. 05.05.13 – 16.06.13. Troisdorf:
Bilderbuchmuseum Burg Wissem 2013 [56 S., zahlr. s/w u. farb. Abb., brosch., 18,- €].
16
BEITRÄGE
GÜNTER LANGE
Otfried Preußlers Der kleine Wassermann
Debüt und Abschluss eines großartigen Lebenswerks
Dass Otfried Preußler mit einem Buch über einen kleinen Wassermann in der Kinderliteratur debütierte, ist bei Kenntnis seiner Biographie kein Wunder, denn er hatte in seiner Kindheit von seiner Großmutter Dora, von seinem Vater, einem Lehrer und Volkskundler, und von den Bauern, Köhlern und Waldarbeitern auf den Wanderungen mit
seinem Vater durch das Isergebirge viele Geschichten von Hexen, Geistern und Spukgestalten gehört und natürlich auch von Wassermännern:
Überall waren sie anzutreffen; in jedem der goldbraunen Bäche, in jedem Teich und in
jedem Moortümpel hauste einer, nicht selten mit seiner ganzen Familie, gesegnet mit
weit verzweigter Verwandtschaft, mit Freunden, Bekannten und Nachbarsleuten (Preußler: Glück gehabt, kleiner Wassermann. In: Preußler 2010, S.100).
Von solchen Wassermännern hatte Otfried Preußler seinen Töchtern erzählt und sie in
der vertrauten Umgebung, im nahen Mühlenweiher, angesiedelt. Seine Kinder waren
von diesen Geschichten so begeistert, dass
sie den Vater jeden Abend drängten, ihnen
eine neue Geschichte von dem kleinen
Wassermann zu erzählen. Daraus entstand
das gleichnamige Kinderbuch, mit dem Otfried Preußler 1956 debütierte.
Der kleine Wassermann ist eine märchenhaft phantastische Geschichte, denn
die Wassermannfamilie lebt wie eine Menschenfamilie, aber am Grunde des Mühlenweihers. Den Wassermannjungen hatten
die kleinen Leserinnen und Leser von Anfang an ihr Herz geschlossen, denn er ist
ein neugieriger Junge, der die Grenze zwischen Wassermann- und Menschenwelt
gern überschreitet; er nimmt voller Staunen
die Menschenwelt wahr und wundert sich
zwar über vieles, trotzdem sind die Unterschiede zwischen den beiden Welten nicht
so gravierend. Die Menschenwelt entpuppt
sich für den kleinen Wassermann als
„Spiegelwelt“ (Gerhard Haas) seiner eigenen Unterwasserwelt.
Otfried Preußlers Der kleine Wassermann
17
Der kleine Wassermann wurde für den Autor zu einem großen Erfolg. 1957 erhielt das
Buch von der Jury des Deutschen Jugendbuchpreises einen Sonderpreis für Text und Illustration:
Uns beiden, dem Fräulein Gebhardt [der Illustratorin] und mir, hat der Preis einen
mächtigen Auftrieb für unsere weitere Arbeit gegeben. Und nicht nur uns beiden! Auftrieb bekam auch der kleine Wassermann selbst – und zwar genau so viel, wie er
brauchte, um die zweite Auflage zu erreichen (Preußler: Glück gehabt, kleiner Wassermann. In: Preußler 2010, S. 104 f).
Dieser Erfolg lässt sich am besten an den Verkaufszahlen von 1957 bis heute ablesen:
Das Buch wurde nach Auskunft des Thienemann Verlags in Deutschland über 2,3 Millionen mal, weltweit über 2.5 Millionen mal verkauft und in mehr als 30 Sprachen
übersetzt. Vom kleinen Wassermann gibt es eine Schulausgabe und Kopiervorlagen für
den Unterricht. Man kann mit dem kleinen Wassermann zudem Englisch und Französisch lernen, und es existieren mehrere Hörspielfassungen. Zusammenfassend kann
man sagen: Dieses Buch verdient mit Fug und Recht die Bezeichnung „Klassiker der
Kinder- und Jugendliteratur“.
Bis 2011 sind alle Kinderbücher von Otfried Preußler in ihrer textlichen Substanz
unberührt geblieben. Einzig das Kinderbuch vom kleinen Wassermann erfuhr in jenem
Jahr eine Fortsetzung in Form eines Bilderbuchs: Der kleine Wassermann. Frühling im
Mühlenweiher. Erzählt wurde es von Otfried Preußler und seiner Tochter Regine Stigloher, illustriert von Daniel Napp (vgl. meine Rezension im Volkacher Boten 2011,
Heft 94, S. 43–46).
Nun ist eine Fortsetzung erschienen: Der kleine Wassermann. Sommerfest im Mühlenweiher. Es ist das letzte Werk aus der Feder von Otfried Preußler. Das Bilderbuch
erschien am 8. Februar 2013 bei Thienemann – zehn Tage, bevor der Autor in Prien am
Chiemsee verstarb. Insofern sind die Geschichten vom kleinen Wassermann zu einem
würdigen Rahmen für Otfried Preußlers kinderliterarisches Lebenswerk geworden.
Nach dem Frühling im Mühlenweiher folgt nun das Bilderbuch zum ‚Sommer’.
Seine Handlung ist geprägt von zwei Erzählsträngen: auf der einen Seite geht es um
das Sommerfest im Mühlenweiher, wie es der Untertitel schon andeutet. Das Bilderbuch endet mit einem großen Fest, weil die Mutter des kleinen Wassermanns endlich
von einer längeren Reise zurückgekehrt ist. Für ihn ist es das größte und schönste Fest,
das er bisher erlebt hat.
Der zweite Erzählstrang gilt den Abenteuern des kleinen Wassermanns, die auch
dieses Mal von den Auseinandersetzungen mit dem Müller handeln. Um seinen
Freund, den Karpfen Cyprinus, vor den badenden Menschen im Mühlenweiher zu
schützen, die seine Ruhe stören, beschließt der kleine Wassermann, den Badesteg, den
der Müller gebaut hat, abzusägen. Dabei wird er natürlich erwischt, kann aber unter
Verlust seiner schönen roten Zipfelmütze entkommen. Diese Niederlage lässt ihn wilde
Rachepläne schmieden, die aber nicht in die Tat umgesetzt werden müssen, da seine
Mutter dem kleinen Wassermann eine neue Mütze von ihrer Reise mitgebracht hat.
Leider löst sich auf diese Weise der Konflikt zwischen dem Müller und dem kleinen
Wassermann geradezu von selbst; ich denke, dass sich die Kinder über die eine oder
18
BEITRÄGE
andere lustige oder spannende Episode in dem Konflikt zwischen den beiden Kontrahenten sehr gefreut hätten, zumal sich der kleine Wassermann schon eine ganze Reihe
von Streichen ausgedacht hat.
Besondere Freude werden die Kinder an den opulenten, phantasievollen Bildern
von Daniel Napp haben, der auch schon das ‚Frühlingsbuch’ gestaltet hat. Er hat sich
intensiv mit den Geschichten vom kleinen Wassermann auseinandergesetzt und sich an
den Originalbildern von Winnie Gebhardt-Gaylor orientiert, so dass der Wiedererkennungswert für die Kinder enorm groß ist und kein Bruch in ihrer Rezeption entsteht.
Zugleich ist aber auch etwas Neues entstanden, denn die großflächigen Bilder stecken
voller humorvoller Einzelheiten, die es zu entdecken gilt. Sie erzählen neben der Geschichte vom kleinen Wassermann zahllose andere Geschichten, die die Kinder anhand
der Einzelheiten entdecken und erzählen können, z.B. von den vier kleinen Fröschen,
die fast auf jedem Bild zu sehen sind, weil sie die Abenteuer des kleinen Wassermanns
aktiv begleiten, oder vom jungen Biber Bockert, von den Vögeln und den Mäusen, die
sich durch die anderen Tiere gestört fühlen, oder vom Schneckenrennen.
Dieses Bilderbuch vom kleinen Wassermann wird seine nachhaltige Wirkung bei
den Kindern entfalten, die Erinnerungen an das Kinderbuch von 1956 wiederbeleben
und hoffentlich einen Anstoß zur erneuten Lektüre geben. So bleiben diese liebenswerte Gestalt und ihr Erfinder lebendig.
Literatur
Preußler, Otfried/Stigloher, Regine: Der kleine Wassermann. Sommerfest im Mühlenweiher. Mit Bildern von Daniel Napp. Stuttgart, Wien: Thienemann 2013. 32 Seiten; ISBN 978 3 522 43746 2; 12,95 €.
Preußler, Otfried/Stigloher, Regine: Der kleine Wassermann. Frühling im Mühlenweiher. Mit Bildern von Daniel Napp. Stuttgart, Wien: Thienemann 2011. 32 Seiten;
ISBN 978 3 522 43678 6; 12,95 €.
Preußler, Otfried: Der kleine Wassermann. Mit Zeichnungen von Winnie Gayler. Stuttgart: Thienemann 1956.
Lange, Günter: Otfried Preußler: Neues vom kleinen Wassermann. In: Volkacher Bote
2011, H. 94, S. 43–46.
Hotzenplotz modern
Bei den Thurn und Taxis-Schlossfestspielen war am Sonntag, 14. Juli 2013,
Kindertag. Dabei bot die Compagnie Showcase Beat Le Mot aus Berlin eine Räuber
Hotzenplotz-Inszenierung – oder eher Performance – besonderer Art, geprägt von magischer Zauberei, von begeisternder Reggae-Beat-Musik und atemlosen VideoVerfolgungsjagden. Bei dieser spielerischen Vermittlung verschiedener Theatertechniken blieb die Figur des Erzählers immer sichtbar und das Geschehen wurde
zwischen Schauspielern und Zuschauern geradezu interaktiv rekonstruiert. Nicht
unbegründet handelt es sich um eine mit dem Preis des Goetheinstituts ausgezeichnet
Inszenierung.
KF
Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
19
ANDREAS WICKE
„Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie
Miss Marple“
Intertextuelle Spuren in Andreas Steinhöfels
Rico, Oskar …-Krimis
Rico liebt es, im Fernsehen
Krimis zu schauen, dabei präferiert er die frühen MissMarple-Filme mit Margaret
Rutherford. Sein Freund Oskar hingegen bevorzugt Sherlock Holmes und spricht Rico
bisweilen mit „mein lieber
Watson“ an. Gemeinsam
schauen die beiden Kinderdetektive aber auch Jonathan
Demmes Das Schweigen der
Lämmer, während Herr van
Scherten, der großväterliche
Freund Ricos und Oskars, von Andreas Steinhöfel bei der Lesung an der Uni Kassel
Edgar Allan Poes Der ver- (Foto: Caroline Rothenbusch)
schwundene Brief erzählt.
Vielfältige intertextuelle Spuren durchziehen Andreas Steinhöfels Romane Rico, Oskar
und die Tieferschatten (2008), Rico, Oskar und das Herzgebreche (2009) sowie Rico,
Oskar und der Diebstahlstein (2011),1 neben Anspielungen auf Kriminalliteratur2,
1
2
Aus den drei Rico, Oskar …-Romanen Andreas Steinhöfels wird im Text mit folgenden
Siglen plus Seitenzahl zitiert: (T) Rico, Oskar und die Tieferschatten. Hamburg: Carlsen
2008. (H) Rico, Oskar und das Herzgebreche. Hamburg: Carlsen 2009. (D) Rico, Oskar und
der Diebstahlstein. Hamburg: Carlsen 2011. Die Gattungsbezeichnung Kriminalroman (synonym auch Krimi) wird im vorliegenden Aufsatz als Oberbegriff verwendet, der den Detektivroman einschließt. Vgl. etwa Nusser, Peter:
Der Kriminalroman. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 1992, S. 1 f. oder Suerbaum, Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1984, S. 14. Es gibt sicher
Gründe dafür, Kriminalromane und -geschichten als Genre, nicht als Gattung aufzufassen,
mit Blick auf die hier verwendete Forschungsliteratur wird jedoch der Begriff der Gattung
verwendet. 20
BEITRÄGE
Kriminalfilme sowie weitere literarische und filmische Werke stehen auch solche auf
philosophische, mythologische und biblische Texte.3 „Alles rein in die Suppe“,4 so
kommentiert Steinhöfel sein spielerisches Verständnis von Intertextualität; ihm mache
es Spaß, die diversen Anspielungen in seinen Texten zu verstecken, die Leserinnen und
Leser müssen diese Spuren aber nicht zwingend erkennen, um die Romane verstehen
und genießen zu können.5
Gérard Genette konzediert im Rahmen seiner Palimpsesttheorie, dass es sich bei intertextuell geprägten Werken um eine „Literatur der ‚Belesenheit‘“ handle, gleichwohl
unterstreicht auch er den vergnüglichen Aspekt und spricht von einer Mischung aus
„Scharfsinn und Spieltrieb“. „Liebt man die Texte wirklich“, lautet sein Resümee, „so
muß man von Zeit zu Zeit den Wunsch verspüren, (mindestens) zwei gleichzeitig zu
lieben.“6 Ulrich Suerbaum kommt in seinen Anmerkungen zum Zusammenhang von
Kriminalliteratur und Intertextualität darüber hinaus zu dem Schluss, das intertextuelle
Spiel sei „nicht nur Selbstzweck“, sondern bringe „einen besseren Krimi“ hervor und
sei bei „eingefahrenen Gattungen […] eines der wirksamsten Mittel der Erneuerung.“7
Diese These soll mit Blick auf die Kinderkrimis Andreas Steinhöfels hier untersucht
werden. Dabei geht es sowohl um Einzeltext- als auch Systemreferenzen, sowohl um
parodistische als auch selbstreflexive Aspekte, außerdem wird die Frage nach der
Funktion der Zitate, Anspielungen und Montagen diskutiert.
Intertextualität im Kriminalroman
„Es gibt in der Literatur keine Figuren und Muster, deren Zitierung so klar erkennbar
wäre und bei denen der Leser Prätext und Verarbeitung so deutlich gegeneinanderhalten kann wie die der Detektivgeschichte“,8 konstatiert Ulrich Suerbaum und betont,
3
4
5
6
7
8
Zu den intertextuellen Verweisen auf Homers Odyssee vgl. Wicke, Andreas: „Zeiten ändern
sich, Menschen ändern sich, Meinungen ändern sich“. Familie in Andreas Steinhöfels „Rico,
Oskar …“-Trilogie. In: interjuli (2012) 2, S. 39–58, hier S. 50–53. Wiederholt wurde außerdem auf die intertextuellen Parallelen zwischen Rico, Oskar und die Tieferschatten und Erich
Kästners Emil und die Detektive hingewiesen, vgl. zuletzt Schwahl, Markus: Polyphone Helden. Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. In: kjl&m (2012) 3, S.
64–68, hier S. 64. Andreas Steinhöfel hingegen kritisiert, „dass man alle Detektivgeschichten,
die in Berlin spielen, gleich mit Kästner vergleicht.“ (Steinhöfel, Andreas: „Mir geht das auf
die Nerven“. Interview mit Roswitha Budeus-Budde. In: Süddeutsche Zeitung vom
17.5.2010.) Steinhöfel, Andreas: Peter Pan, grün und blau – Zum Einfluss von Außen / Hoffentlich ins
Herz – Zum Einfluss von Innen / Machen Sie mal einen Punkt – Zum Einfluss vom Rand. In:
Poetikvorlesung zur Kinder- und Jugendliteratur 2009–2011. Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg. Hrsg. v. Ute Dettmar und Mareile Oetken. Oldenburg: BIS-Verlag 2012, S. 121–
207, hier S. 145. Vgl. ebd., S. 189. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer und
Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 533 f. Suerbaum, Ulrich: Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred
Pfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 58–77, hier S. 76 f. Ebd. Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
21
dass Gattungen sich häufig über Formen der Zitation konstituieren, dass sie Intertextualität „als Mittel der Stiftung und Markierung von Gruppen- und Reihenzusammenhängen einsetzen.“9 Seine Untersuchung nimmt die Detektivgeschichte als exemplarisches Beispiel und betont die intertextuelle Prägung der Dupin-Erzählungen Edgar Allan Poes sowie der – sich bereits auf Poe beziehenden – Sherlock-Holmes-Geschichten
Arthur Conan Doyles. Hat sich eine Gattung konsolidiert, „genügen schwächere intertextuelle Markierungen, um das Einzelwerk hinreichend deutlich […] zu situieren.“10
Mit Blick auf aktuelle Kriminalliteratur kann es freilich nicht mehr darum gehen, die
Gattung zu konstituieren, dennoch wird das intertextuelle Spiel hier mit großem Raffinement fortgesetzt.11 Für den neueren bzw. postmodernen Kriminalroman geht Suerbaum exemplarisch auf Umberto Ecos Der Name der Rose ein, wo es u. a. deutlich
markierte Anspielungen auf die Texte Arthur Conan Doyles gibt.12
Insgesamt ist Sherlock Holmes sicher der Popstar unter den literarischen Detektivfiguren; schon zu Lebzeiten seines Erfinders ist er so populär, dass der Autor den bereits verstorbenen Detektiv auf Wunsch des Publikums noch einmal zum Leben erwecken muss. Seine Berühmtheit hat darüber hinaus bewirkt, dass es die ursprünglich fiktive Adresse 221b Baker Street mittlerweile in London „wirklich“ gibt und man das
Haus des Detektivs als Museum besuchen kann. Diese Prominenz führt dazu, dass
auch die Kriminalliteratur von intertextuellen Spuren auf ihren detektivischen Stammvater durchzogen ist. Zwar könnte man vermuten, dass dies eher die Erwachsenenliteratur betrifft, weil zum Verfolgen intertextueller Spuren eine Belesenheit nötig ist, die
junge Leser nur bedingt aufbringen können,13 doch finden sich auch in Kinderkrimis
erstaunlich vielfältige und häufige Beispiele. Immerhin ist Sherlock Holmes bei Kindern so bekannt, dass Sherlock Humbug in der „Sesamstraße“ ganz selbstverständlich
auf dieses Vorbild anspielen kann. Aber bereits Astrid Lindgrens Kinderkriminalklassiker Kalle Blomquist – Meisterdetektiv beginnt mit einer parodistischen Wunschfantasie des Protagonisten, die auf Holmes verweist, kurz darauf werden Kalles literarische
Vorbilder ausdrücklich genannt: „Sherlock Holmes, Asbjörn Krag, Hercule Poirot,
Lord Peter Wimsey, Karl Blomquist! Er schnalzte mit der Zunge. Und er, Kalle Blomquist, hatte die Absicht, der Beste von allen zu werden.“14
Dass Sherlock Holmes auch bei Kindern schon bekannt ist, obwohl Doyles Geschichten und Romane nicht unbedingt von Kindern gelesen werden, liegt zum Beispiel an seiner medialen Omnipräsenz in immer neuen Verfilmungen und Hörspielen
bzw. -büchern. Außerdem existieren Kinderkrimis, die intertextuell mit der Figur des
9
Ebd., S. 73. Ebd. 11
Vgl. zuletzt etwa Braito-Indra, Claudia: „Jetzt ist schon wieder was passiert.“ Intertextualität
in den Brenner-Kriminalromanen von Wolf Haas. Marburg: Tectum Verlag 2012. 12
Vgl. Eco, Umberto: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. Übers. v. Burkhart Kroeber. 8. Aufl.
München: dtv 1987, S. 34. 13
Vgl. zur didaktischen Diskussion Wicke, Andreas: „Scharfsinn und Spieltrieb“. Intertextueller Literaturunterricht am Beispiel von Paul Maars Eine Woche voller Samstage. In: Literatur
im Unterricht (2013) 1, S. 1–14, hier S. 1–4.
14
Lindgren, Astrid: Kalle Blomquist. Übers. v. Cäcilie Heinig und Karl Kurt Peters. Hamburg:
Oetinger 1996, S. 10. 10
22
BEITRÄGE
Londoner Detektivs spielen: etwa Tracy Macks und Michael Citrins vier Bände Sherlock Holmes & die Baker-Street-Bande, die Romane der Sherlock-Holmes-Academy
von Holly Watson (i. e. Anja Wagner) oder Andreas Schlüters Krimis um den Berliner
Kurierdienst Rattenzahn, in denen die Ratte Doktor Watson heißt. An der Grenze von
der Kinder- zur Jugendliteratur sind die Echo Falls-Bände von Peter Abrahams15 sowie
die Abenteuer des Young Sherlock Holmes von Andrew Lane zu nennen. Aber auch
Justus Jonas, der erste Detektiv der populären Reihe Die drei ???, ist an das Vorbild
Sherlock Holmes’ angelehnt und in Die drei ??? und der Super-Papagei führen sieben
zum Teil intertextuell codierte Botschaften zur Lösung des Falles, eine davon auch
über die Figur Sherlock Holmes’.16 Man kann also davon ausgehen, dass Kinder im intendierten Lesealter der Rico, Oskar …-Romane bereits wissen, wer Sherlock Holmes
und Doktor Watson sind. Agatha Christies Detektivin Jane Marple hingegen ist zwar
die bekannteste Frau in diesem Beruf und wird an Bekanntheit nur von Sherlock Holmes übertroffen,17 dennoch gibt es in der Kinderliteratur kaum Anspielungen auf sie; in
der Sherlock-Holmes-Academy hat sie immerhin einen kleinen „Auftritt“ als Spürhund
namens „Miss Maple“.18
Intertextualität in Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Trilogie
Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Romane lassen sich durchaus als Krimis rezipieren: In jedem Band lösen die beiden Freunde einen Fall und es finden sich klassische
Strukturelemente wie Täter, Opfer, Ermittler, Verdächtige, Indizien, falsche Fährten
etc. Während jedoch in Steinhöfels Beschützer der Diebe die Krimi-Handlung noch
stärker im Vordergrund steht, trifft das auf die Romane mit Rico und Oskar nur eingeschränkt zu. Keiner der drei Bände folgt dem klassischen Schema, nach dem ein Kriminalroman mit dem Mord bzw. einem Verbrechen beginnt, dann die Ermittlung einsetzt, die schließlich mit der Aufklärung des Falles den Roman beendet. Viel wichtiger
sind Steinhöfel das soziale Milieu seiner Figuren sowie deren psychologische Disposition und Entwicklung. Während die gattungsspezifischen Merkmale des Krimis im
Laufe der Trilogie immer schwächer werden, wächst allerdings die Bedeutung des intertextuellen Spiels, in dessen Zentrum deutlich markiert die Texte bzw. Filme um
Sherlock Holmes und Miss Marple stehen.19
15
Vgl. Schotte, Marcus und Wiggers, Laura: Sherlock Holmes lebt! Intertextualität im Kriminalroman für Kinder und Jugendliche. In: interjuli (2012) 1, S. 66–85, hier S. 72–80. 16
Vgl. Hitchcock, Alfred: Die drei ??? und der Super-Papagei. Erzählt v. Robert Arthur. Übers.
v. Leonore Puschert. 7. Aufl. Stuttgart: Franckh 1979, S. 114. 17
Vgl. Shaw, Marion und Vanacker, Sabine: Miss Marple auf der Spur. Übers. v. Uta Angerer
und Ursula Wulfekamp. Hamburg: Argument-Verlag 1994, S. 102. 18
Vgl. Watson, Holly: Die Sherlock-Holmes-Academy. Karos, Chaos & knifflige Fälle. Stuttgart: Planet Girl 2012, S. 62. 19
Vgl. zur Markierung Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred
Pfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 31–47, zur intertextuellen Intensität und
Komplexität Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen,
Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen:
Max Niemeyer Verlag 1985, S. 1–30, hier S. 25–30. Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
23
Beleuchtet man Rico und Oskar vor der Folie dieser beiden klassischen Ermittlerduos,
lassen sich jeweils deutliche Bezüge erkennen. Beim Vergleich der beiden Jungen mit
Holmes und Watson ist die Verteilung klar: Oskar als hochbegabtes Kind hat sein literarisches Vorbild in Sherlock Holmes, der von Watson als „die vollkommenste Denkund Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat“,20 bezeichnet wird; auch über
Oskar sagt Rico, er sei „mehr der rationale Typ“ (H 33). Darüber hinaus verbindet die
beiden die Liebe zu charakteristischen Kopfbedeckungen: Während Holmes – zumindest in den Illustrationen von Sidney Paget bzw. den frühen Verfilmungen – einen
Deerstalker21 trägt, hat Oskar im ersten Band einen Sturzhelm, im zweiten eine Sonnenbrille und im dritten eine Bommelmütze auf. In Rico, Oskar und der Diebstahlstein
heißt es explizit:
Sherlock Holmes kannte ich aus dem Fernsehen, in Schwarz-Weiß. Er war Detektiv und
trug so eine komische Kappe, die man über den Ohren runterklappen konnte, ähnlich
wie bei Oskars Bommelmütze, nur ohne bunte Troddeln. (D 98)
Ricos Parallelen zu Dr. Watson sind zunächst narratologischer Natur, beide fungieren
in den Texten als Ich-Erzähler, beide sind aber darüber hinaus auch die jeweiligen
Identifikationsinstanzen für die Leserinnen und Leser. „Erst aus der Perspektive seines
handfesten und ein wenig bornierten Begleiters Dr. Watson“, so erläutert Jochen Vogt
diesen speziellen Fall einer Ich-Erzählsituation, „gewinnen […] Holmes’ detektivische
Fähigkeiten ihren genialen Zug.“22 Aber auch die Einstellung zur Institution Familie
unterstreicht den Vergleich: Während man über Sherlock Holmes’ Familie fast nichts
erfährt, ist Watson eher der Familienmensch, der die gemeinsame JunggesellenWohnung in der Baker Street nach seiner Eheschließung verlässt. Auch Oskar steht der
Institution Familie kritisch gegenüber und beklagt, dass er „[v]on allen Blödmännern
auf der Welt […] ausgerechnet den blödesten als Vater gekriegt“ (D 71) habe, dieweil
Rico eine innige und herzliche Verbindung zu seiner Mutter hat.23
Man kann Steinhöfels Kinderdetektivduo aber auch mit dem Vorbild von Miss
Marple und Mister Stringer vergleichen, den es in den Romanen Agatha Christies nicht
gibt und der lediglich Teil der populären und von Rico so geliebten Verfilmungen mit
Margaret Rutherford aus den 1960er Jahren ist. In diesem Fall kann man die Schrulligkeit und Unkonventionalität der alten Dame Ricos chaotischem und oft irrationalem
Vorgehen gegenüberstellen, während Oskar mit Mister Stringer die ausgeprägte Ängstlichkeit verbindet. Trotz aller Bewunderung für die britische Hobbydetektivin weiß
Rico aber auch, dass sie ihm überlegen ist, am Ende des ersten Bandes gesteht er,
20
Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Erzählungen. Übers. v. Gisbert
Haefs. 6. Aufl. Berlin: Insel 2012, S. 9. 21
In den Erzählungen und Romanen wird der Deerstalker nicht ausdrücklich erwähnt, in Silberstern heißt es lediglich, Holmes trage eine „Reisemütze mit Ohrenklappen“. (Doyle,
Arthur Conan: Die Memoiren des Sherlock Holmes. Erzählungen. Übers. v. Nikolaus Stingl.
Frankfurt a.M: Insel 2007, S. 10.) 22
Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 9. Aufl. München: Wilhelm Fink 2006, S. 77. 23
Vgl. Wicke (Anm. 3), S. 39–45. 24
BEITRÄGE
nachdem er stolz auf eine über Umwege gemachte Entdeckung zurückblickt: „Gut,
vielleicht wäre Miss Jane Marple von allein darauf gekommen, sie ist einfach besser
als ich.“ (T 217) Ricos unorthodoxe Art einen Fall zu lösen – eine Kostprobe seiner
Detektion gibt er gleich zu Beginn des ersten Bandes, wenn er die Herkunft einer
Fundnudel zu ermitteln versucht – wird aber auch dadurch betont, dass er den Täter
nicht aufgrund analytischer Fähigkeiten im Sinne Sherlock Holmes’ überführt, sondern
durch eine Verkettung von Fehlentscheidungen; bis zum Schluss des ersten Bandes
hält er beispielsweise den inkognito ermittelnden Polizisten Simon Westbühl für den
Täter.
Als Rico seinen Freund im zweiten Band für den Miss-Marple-Film Mörder Ahoi
begeistern will, macht der ihn lediglich auf die Goofs, also die Fehler bei Dreh und
Schnitt, aufmerksam: „Der Regisseur hat Mist gebaut“ (H 138), resümiert Oskar seine
Auflistung und Rico reagiert entsprechend beleidigt: „Jetzt hatte Oskar mir den Spaß
am Film versaut, nur weil er in meinem Fremdwörterlexikon ausgerechnet G bis H gelesen hatte.“ (H 138) Rico hingegen liebt die Filme mit Miss Marple, bekommt bereits
von der Musik gute Laune und ist von der Aufklärung der Fälle jedes Mal neu überrascht:
Es ist einer der wenigen Vorteile einer Tiefbegabung, dass man selbst bei einem Krimi,
den man schon zehn Mal gesehen hat, den Täter vergisst und die Opfer auch. Man kann
ihn also immer wieder gucken. (H 135 f.)
Außerdem kann sich Rico ganz offensichtlich mit der Protagonistin identifizieren, zum
Beispiel wenn er seinen eigenen Wunsch nach einer Familie auf sie projiziert und sich
fragt, „ob Miss Jane Marple jemals Mister Stringer heiraten wird.“ (T 97) Selbst
Oskars Allwissenheit versagt bei Agatha Christie und beschert Rico somit ein intellektuelles Erfolgserlebnis:
„Kennst du Miss Marple?“, fragte ich.
„Nein. Wohnt die auch hier im Haus?“
Ha! Das war die Gelegenheit, ihn ein bisschen zu verspotten! Die Filme mit Miss Marple kennt schließlich jeder. (T 74)
Während Oskar versucht, Sherlock Holmes als detektivisches Vorbild zu inthronisieren, ist Rico immer wieder bemüht, die Bezüge zu Miss Marple in den Vordergrund zu
rücken: „Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple“ (D 98),
betont er und benennt damit eine begründete Rivalität.24 Folgt man dem Muster der
Sherlock-Holmes-Geschichten, ist Oskar der geniale Detektiv, Rico lediglich der Bewunderer und Erzähler, eine solche „Watson-Perspektive“25 möchte er aber freilich
24
Der intertextuelle Konflikt der beiden Hauptfiguren lässt sich auch auf die Nebenfiguren
übertragen; während Frau Dahling Miss Marple bevorzugt, ist Herr van Scherten SherlockHolmes-Fan: „Ich liebe Miss Marple“, bekennt er. „Aber weißt du, wen ich regelrecht verehre? Sherlock Holmes! Was meinst du, sollen wir uns die schönen alten Schwarz-Weiß-Filme
mit ihm mal anschauen?“ (D 315) 25
Vgl. Finke, Beatrix: Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman. Amsterdam: B. R. Grüner 1983, S. 109 ff. Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
25
nicht einnehmen. Orientiert man sich hingegen an den Miss-Marple-Filmen, so kommt
Rico die Rolle des Helden zu, während Oskar zum furchtsamen und deutlich unterlegenen Kompagnon wird. Noch einmal unterstreicht Rico seine Präferenz gegen Ende
des dritten Teils: „Dieser Sherlock Holmes war ein blöder Besserwisser. So einer durfte Miss Marple gerade mal ein Törtchen zum Tee servieren.“ (D 262)26
Intertextualität ist ein Phänomen der Dialogizität, und in der Tat kommt es über die
Anspielungen hinaus auch in Steinhöfels Romanen zu dialogischen Verknüpfungen,
nicht nur zwischen den Texten im Allgemeinen, sondern ganz direkt zwischen den Figuren Sherlock Holmes und Rico. Im dritten Band gibt es nämlich kurze Passagen, in
denen Holmes als Über-Ich oder schlechtes Gewissen, Vaterersatz oder Chefdetektiv
zu Rico spricht und ihn mit „Watson“ anredet. Der erste dieser Texte bezieht sich auf
Oskars Problem mit dessen Vater sowie die Hintergründe für die gemeinsamen Ermittlungen von Rico und Oskar; eine imaginierte Sherlock-Holmes-Figur spricht zu Rico:
Er will, dass fremde Leute sich um uns kümmern, Watson! Wie er das hinkriegt, ist ihm
egal. Erwachsene finden besser aus einer schwierigen Lage heraus als Kinder, also gibt
er die Verantwortung für uns einfach an sie weiter. (D 150)
Dass hier eine fremde Stimme in den Gedankenfluss von Ricos Tagebuch montiert
wird, markiert Steinhöfel zunächst durch die Kursivierung, außerdem durch die
„Watson“-Anrede, erst bei der dritten Einflüsterung wird durch die Formulierung
„meldete sich die leise Stimme von Sherlock Holmes in meinem Kopf zurück“ (D 166)
konkretisiert, wer hier eigentlich spricht. Eine solche intertextuelle Vielstimmigkeit,
die gerade im Kinderbuch selten ist, reklamiert Steinhöfel in seinen Oldenburger Poetikvorlesungen für Kunst insgesamt:
Kunst ist immer mindestens doppelbödig. Kunst heißt immer, dass es unter der Oberfläche noch etwas anderes gibt. Auf meine Bücher bezogen, behaupte ich mal: Ihre Kunst
ist die darin versteckte, die Geschichten antreibende Psychologie, das Wissen (hoffe ich
jedenfalls) darum, was Kinder so ticken lässt, wie sie nun mal ticken. Und das Einfühlen sowohl in diese Psychologie wie auch in die ihr entspringenden Gefühlszustände.27
In den Einflüsterungen durch Sherlock Holmes wird deutlich, dass Steinhöfel die psychologische Ebene wichtiger ist als die Gattung Kriminalroman, denn die Stimme des
Londoner Detektivs ist hier nicht im Sinne einer kriminalistischen, sondern einer psychologischen Detektion tätig und macht Rico auf die Manipulationen Oskars sowie
seine eigenen Verdrängungsmechanismen aufmerksam. So erläutert Holmes’ Stimme
Rico, wie Oskar Verantwortung abwälzt (vgl. D 150), dass es keinen „Unterschied
zwischen Schummeln und Lügen“ (D 161) gibt, er bezichtigt Rico des Opportunismus
und der Feigheit (vgl. D 166) oder kommentiert seine detektivischen Ermittlungsentscheidungen (vgl. D 199, 213 und 262). Auch diese Einflüsterungen überwindet Rico
26
Die intertextuellen Anspielungen auf Agatha Christie werden noch dadurch unterstützt, dass
der Nachtclub, in dem Ricos Mutter arbeitet, Mausefalle (H 222) heißt, also genauso wie
Christies bekanntestes Kriminalstück. 27
Steinhöfel (Anm. 4), S. 195. 26
BEITRÄGE
am Schluss, sodass das Happy-End im dritten Band sich nicht nur auf den gelösten Fall
sowie die Heirat seiner Mutter mit Simon Westbühl bezieht, sondern vor allem auf
Ricos erfolgreiche Emanzipation und Individuation: „Sherlock Holmes hatte sich
freundlicherweise seit Tagen nicht mehr in meinem Kopf gemeldet, genauso wenig wie
die Bingotrommel.“ (D 315)
Im letzten Band greift Steinhöfel mit Das Schweigen der Lämmer auf einen Thriller
zurück, der ausdrücklich nicht für die etwa 8- und 10-jährigen Titelfiguren – und die
gleichaltrigen Leserinnen und Leser – geeignet ist, offiziell ist er ab 16 freigegeben.
Die beiden Freunde stoßen zufällig im Fernsehen darauf und Rico, der über einen Mitschüler im Förderzentrum schon einmal von dem Film gehört hat, glaubt zunächst, es
handle sich um einen Tierfilm, da neben den titelgebenden Lämmern auch ein Schmetterling vorkommt. „Als der Film schließlich zu Ende war“, resümiert er, „waren wir
völlig fertig mit den Nerven. […] Die schweigenden Lämmer hatte man überhaupt
nicht gesehen und den toten Schmetterling nur ganz kurz.“ (D 74 f.) Während Rico
hauptsächlich der Kannibalismus Hannibal Lecters verstört, kann sich Oskar dessen
„Genie“ (D 75) nicht entziehen und er erklärt Rico – wiederum mit einem Filmzitat aus
einem Psychothriller –, es handele sich dabei um die „Faszination des Grauens“ (ebd.).
Zwar sind die Anspielungen auf solche eindeutigen Erwachsenentexte bzw. -filme seltener, doch lässt sich zum Beispiel auch das Ende des ersten Bandes als Parodie lesen.
Peter Nusser behauptet in seiner Einführung Der Kriminalroman, es werde im Thriller,
anders als in der klassischen Detektivgeschichte, „der Triumph des Helden ganz sinnfällig genossen […], je nach Genre etwa als Selbstbestätigung und Motivation für neue
Aufgaben [oder] als Entspannung im sexuellen Abenteuer“.28 Die Schlussszene in
Rico, Oskar und die Tieferschatten spielt im Krankenhaus, weil Rico bei der Überführung des Täters eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Sein Triumph reduziert die „Entspannung im sexuellen Abenteuer“ auf ein kinderliterarisches Maß und parodiert damit
die Romane der hard boiled school respektive den Agentenfilm, wenn Krankenschwester Leonie von Rico gleichsam zum Bond-Girl stilisiert wird: „Sie ist toll und sieht
klasse aus, wie eine Mischung aus Jule und Fußpflegerin Cindy, auch wenn ich natürlich ihren Busen noch nicht gesehen habe.“ (T 219)29
Selbstreflexion und Metafiktionalität
Neben den Bezügen zu konkreten Texten finden sich in allen drei Romanen um Rico
und Oskar auch selbstreferentielle Anspielungen auf die Gattung Kriminalroman,
wenngleich sich Einzeltext- und Systemreferenzen hier bisweilen nicht voneinander
28
29
Nusser (Anm. 2), S. 56. Bezüge zu Kriminalromanen der hard boiled school sind in der Kinderliteratur naturgemäß
selten zu finden, dennoch lässt sich der von Andreas Steinhöfel übersetzte Insektenkrimi Die
Wanze als Beispiel nennen. Hier sagt Privatdetektiv Wanze Muldoon am Ende des zweiten
Kapitels beispielsweise: „Doch eines wusste ich genau – ich brauchte einen Drink.“ (Shipton,
Paul: Die Wanze. Ein Insektenkrimi. Übers. v. Andreas Steinhöfel. 2. Aufl. Frankfurt a.M.:
Fischer 2001, S. 24.) Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
27
trennen lassen.30 Einerseits gibt es ironische Kommentare, etwa wenn Rico über einen
Gesichtsausdruck urteilt, das sei in „Krimis […] immer ein Zeichen dafür, dass der Täter nicht alle Tassen im Schrank hat“ (T 207), wenn er sagt, er „hätte auch gern gepfiffen, weil man das im Krimi so macht, wenn man was Tolles rausgefunden hat“ (H
181), oder wenn Oskars Vater etwas so sagt, „wie ein Polizist im Krimi ruft: Jeder Widerstand ist zwecklos!“ (D 54) Neben diesem parodistischen Spiel gibt es aber auch
Bemerkungen, die stärker selbstreflexiven oder metafiktionalen Charakter haben. So
überlegt Rico etwa im zweiten Band, wie sich das narrative Muster verändern müsste,
wenn man aus seinem Tagebuch einen Spielfilm oder Krimi machte:
Rückblenden gibt es zum Beispiel in einem Krimi, wenn jemand auf rätselhafte Weise
umgebracht wurde. Der Mörder ist gerade geschnappt worden und erzählt, wie es gewesen ist mit dem Abgemurkse. Das sieht man dann in der Rückblende und denkt: Ah, so
hat er das also hingekriegt, was für ein gerissener Kerl! (H 23)
Narratologisch ist diese Passage raffiniert gemacht, denn in der Tat fehlen dem Leser
hier Informationen, wenn er den ersten Band nicht kennt. Da sich ein Tagebuch in der
Regel nicht an einen Adressaten wendet, schiebt Rico die fehlenden Informationen implizit nach: „In meinem Tagebuchfilm könnte der Zuschauer sich gerade in diesem
Moment fragen, wohin ich eigentlich auf dem Motorrad unterwegs bin.“ (H 23) Und
dann werden unter Zuhilfenahme metafiktionaler Kommentare – „Jetzt fängt das Bild
an zu wabern und es ertönt seltsame schrummelige Musik“ (H 24) – die inhaltlichen
Lücken durch die Analepse geschlossen. Eine ähnliche metafiktionale Passage findet
sich auch im dritten Band:
Dann betrat ich ohne ihn die Küche, schloss die Tür hinter mir und tastete nach einem
Lichtschalter.
In einem Krimi oder Gruselfilm würde das jetzt alles haarklein gezeigt, mit fieser Musik dabei. […] Mordsmäßiges Blutgespritze, Geröchel, verdrehte Augen. Abgemurkst.
Das Opfer sinkt zu Boden, mit mehr Löchern in sich drin, als in einen Schweizer Käse
passen. […]
Gru-se-lig
Also mache ich es kurz: Da war nichts. (D 225)
Durch die Kontrastierung der Darstellungsweisen von Gruselfilm und Tagebuch wird
hier eine ironische Distanz geschaffen. Steinhöfel scheint sich über das Klischee eines
Horrorfilmes lustig zu machen, treibt darüber hinaus jedoch ein doppelbödiges Spiel:
Während einerseits die leeren Spannungseffekte trivialer Filme karikiert werden, baut
er für die konkrete Situation, in der sich Rico befindet, dennoch Spannung auf, denn in
den 18 Zeilen, die zwischen dem Betreten der Küche und dem lakonischen „Da war
nichts“ liegen, bleibt für den Leser ungewiss, ob sich die cineastischen Tötungsvisionen auch an Rico erfüllen werden.
30
Vgl. Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1985, S. 48–52, hier S. 51. 28
BEITRÄGE
Trotz der vielfältigen Anspielungen auf Kriminalliteratur lassen sich die Texte selbst
nur bedingt dieser Gattung zuordnen; bereits über seinen ersten Kriminalroman von
1994 sagt Steinhöfel: „Beschützer der Diebe kommt als Abenteuer daher, als BerlinKrimi, aber es sollte mehr sein als das“.31 Am
Kriminalroman kritisiert er in den Oldenburger
Poetikvorlesungen, man sei als Autor zu stark an
„die inhärente Logik“ gebunden, und selbst als Leser empfinde er Krimis „als immanent klaustrophobisch.“32 Seine Kritik an der Gattung spiegelt
sich in der Schwierigkeit, die Rico, Oskar …Romane entsprechend zu klassifizieren; während
der erste Band in einer Rezension als „Hauptstadtkinderkrimi“33 und in der Jurybegründung des
Deutschen Jugendliteraturpreises 2009 als „moderne[r] Sozialroman“34 verortet wird, spricht
Carsten Gansel von einem „komischen“ bzw.
„psychologischen Kinderroman“.35 Auch Steinhöfel selbst bezeichnet die Romane nicht als Kriminalliteratur im prototypischen Sinn: „Dem Trans- Rico und Oskar schauen einen Krimi
port der Story um die Freundschaft – und deren Illustration von Peter Schüssow
Bewährung – zweier recht ungleicher Jungen über
drei Bände dienen jeweils kleine Krimigeschichten“.36
Das Spiel mit der Gattungstypologie wird im dritten Band der Rico, Oskar …Romane ad absurdum getrieben; während der Romantitel über den Neologismus
‚Diebstahlstein‘ die Gattung Kriminalroman impliziert, steigt der Text über die Formulierung „Es war einmal …“ (D 9) ein und lässt den Roman zwischen Krimi und Märchen changieren, dieser Zwiespalt wird nicht aufgelöst, da das märchenhafte „Es war
einmal“ (D 322) auch den Schlussteil einleitet, es vermischt sich die kriminalistische
Aufklärung des Diebstahls mit dem märchenhaften Happy-End der Familien- und
Freundesgeschichte.
31
Steinhöfel (Anm. 4), S. 196. Bezöge man diese Aussage auf intertextuelle Systemreferenzen,
könnte man gleich am ersten Satz von Beschützer der Diebe zeigen, wie der Autor mit Gattungserwartungen spielt: „Romeo saß bewegungslos zwischen Pippi Langstrumpf und Kalle
Blomquist unter dem Tisch“ (Steinhöfel, Andreas: Beschützer der Diebe. Hamburg: Carlsen
1994, S. 6), heißt es dort und der Beginn lässt offen, ob sich die folgende Handlung im Sinne
eines phantastischen oder realistischen Romans, eines komischen Textes oder eines Krimis –
vielleicht sogar über den Namen Romeo einer Liebestragödie – entwickeln wird. 32
Ebd., S. 158. 33
Seuss, Siggi: Der ganz besondere Duft. Andreas Steinhöfels Berliner Kinderkrimi „Rico,
Oskar und die Tieferschatten“. In: Süddeutsche Zeitung vom 7.3.2008. 34
http://www.djlp.jugendliteratur.org/datenbanksuche/kinderbuch-2/artikel-rico_oskar_und_die
_tiefe-55.html 35
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 4. überarb. Aufl. Berlin: Cornelsen 2010, S. 130. 36
Steinhöfel (Anm. 4), S. 158. Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis
29
Der Fall, um den es in diesem letzten Band geht, spielt sich auf einem durchaus surrealistischen Hintergrund ab, Rico und Oskar beschäftigen sich mit einem ungewöhnlichen Delikt: Gustav Fitzke, der grimmige und ungepflegte Eigenbrötler, der ebenfalls
im Haus in der Dieffenbachstraße 93 wohnt, hat eine äußerst umfangreiche Steinsammlung, die er Rico bereits im zweiten Band vererbt, und ist darüber hinaus überzeugter
Steinzüchter; angeblich habe er schon einen Kalbstein gezüchtet, den er als sein wertvollstes Objekt ausgibt. Während Oskar die Erzählungen als Hirngespinste abtut, ist
Rico zumindest von der Idee begeistert und sympathisiert dadurch mit der animistischen Weltsicht des Märchens. „Denn damit das mal klar ist: Ich bin nicht dermaßen
total plemplem, dass ich wirklich ans Steinzüchten glaube. Aber es ist schön, sich vorzustellen, dass es funktionieren könnte.“ (H 125) Die Spur, die über die Steinzucht gelegt wird, ist wiederum eine intertextuelle und führt zu einem der Unmöglichen Interviews Giorgio Manganellis, die dieser mit verstorbenen Personen, in diesem Falle dem
katalanischen Architekten Antoni Gaudí, verfasst. Manganellis fiktiver Gaudí bezeichnet sich als Steinzüchter und schildert – während auch hier Themen wie Tod und Verbrechen behandelt werden – sein anthropomorphes Verhältnis zu Steinen: „Steine lassen sich nicht züchten. Sie wachsen. Natürlich wachsen sie langsam: aber sie wachsen.
Und sie wachsen nicht nur, sondern durchlaufen, wie soll ich sagen, Metamorphosen –
diese fallen meist mit ihrem Tod zusammen, aber nicht immer.“37
Resümee
Intertextualität bringe, so Suerbaum, „einen besseren Krimi“38 hervor; in Andreas
Steinhöfels Romanen um Rico und Oskar lassen sich dafür vielfältige Belege finden:
Zunächst kann man die eigentliche Ermittlung des Detektivs mit der intertextuellen
Spurensuche des Lesers vergleichen, der dadurch ebenfalls zum Detektiv wird und
gleichsam auf zwei Ebenen, einer kriminologischen und einer poetologischen oder literarischen, gefordert ist. Diese Mehrfachkodiertheit steht in engem Zusammenhang mit
einer Polyphonie der Romane, die sich dadurch ergibt, dass man innerhalb des einen
Textes weitere Texte mitliest. Das führt zu einer Verzweigung und Potenzierung der
Deutungsebenen, Renate Lachmann spricht von einer „semantische[n] Explosion, die
in der Berührung der Texte geschieht“.39 Hat man im Krimi in der Regel nur einen De 37
Manganelli, Giorgio: A und B. Dialoge und unmögliche Interviews. Übers. v. Renate Heimbucher u. a. Berlin: Wagenbach 1991, S. 105. Manfred Pfister macht auf die „Differenzierung
von unbewußter oder bewußter und von nicht-intendierter oder intendierter Intertextualität“
aufmerksam und referiert Konzepte, die davon ausgehen, Prätexte seien „nur solche, auf die
der Autor bewußt, intentional und pointiert anspielt und von denen er möchte, daß sie vom
Leser erkannt und als zusätzliche Ebene der Sinnkonstitution erschlossen werden.“ (Pfister,
Anm. 19, S. 23) Während die Krimi-Anspielungen, auf die in der vorliegenden Untersuchung
hingewiesen wird, eindeutig markiert sind, antwortet Andreas Steinhöfel auf die Frage, ob er
wirklich von Manganellis Dialog beeinflusst sei, er kenne den „Herrn M. […] leider nicht“,
habe sich jedoch an der ihm „unterstellten Intelligenz erfreut.“ (Mail vom 14.6.2013) 38
Suerbaum (Anm. 7), S. 76. 39
Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. Karlheinz
Stierle und Rainer Warning. München: Fink 1984, S. 133–138, hier S. 134. 30
BEITRÄGE
tektiv bzw. ein ermittelndes Paar, so kommt es durch die intertextuellen Anspielungen
hier nachgerade zu einem literarischen Kriminalisten-Treffen durch die Jahrhunderte
und Genres. Indem die unterschiedlichen Charaktere und Ermittlungsweisen in den
Text eingeschrieben sind, entstehen immer neue Assoziationen und Dissonanzen – etwa wenn die Entscheidung, ob Rico und Oskar vor dem Vorbild von Sherlock Holmes
und Dr. Watson agieren oder sich auf Miss Marple und Mister Stringer beziehen, offen
bleibt.
Darüber hinaus erzeugt Intertextualität Komik, denn gerade im Kinderkrimi resultiert aus dem Vergleich der jungen Detektive mit den klassischen Vorbildern der Kriminalliteratur immer wieder eine ironische Distanz. Wenn man beispielsweise die
Miss-Marple-Darstellerin Margaret Rutherford als „energische, exzentrische und etwas
verwirrte alte Jungfer von sechzig Jahren mit der Ausstrahlung eines Generals“40 charakterisiert, muss der – wie er selbst sagt – „tiefbegabte“, etwa zehnjährige Rico vor
dieser Folie eine humoristische Wirkung entfalten. Schließlich stellen die intertextuellen Spuren die Posttexte aber auch in einen kulturhistorischen Kontext und speisen die
Prätexte immer wieder neu in das kulturelle Gedächtnis ein.
Alida Bremer entwirft unter dem Titel Kriminalistische Dekonstruktion eine, so der
Untertitel, Poetik der postmodernen Kriminalromane; sie beschäftigt sich mit „Werken, die sich bewußt vom Schema entfernen“, und spricht von einer „Ästhetik der
Mehrdeutigkeit“,41 die sie vor allem auf die Elemente Intertextualität und Metatextualität zurückführt. Nun gibt es sicher in der Literatur für Erwachsene umfangreichere
Möglichkeiten inter- und metatextuellen Schreibens als in der Kinderliteratur, dennoch
lassen sich, wie gezeigt, signifikante Beispiele auch in den Rico, Oskar …-Romanen
nachweisen. Andreas Steinhöfel geht es – anders als in den eingangs angeführten Kinderkrimis – nicht um punktuelle Verweise und Anspielungen, sondern es entsteht in
den drei Texten ein komplexes Geflecht vielschichtiger intertextueller Spuren. Insofern
kann man die Romane in ihrer polyphonen Vernetztheit, ihrem hohen Grad an Selbstreflexivität und parodistischer Entfernung von der Gattung des Krimis sowie dem Angebot der Lektüre auf verschiedenen Ebenen durchaus als postmoderne Kinderkrimis
bezeichnen.
40
41
Shaw/Vanacker (Anm. 17), S. 103. Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 13. Ausstellungen und Kataloge 1/2013
31
OTHMAR HICKING
Ausstellungen und Kataloge
zur Kinder- und Jugendliteratur 1/2013
Größere Ausstellungen zur religiösen KJL sind selten und eher nur punktuell verbreitet. Um so mehr zu begrüßen war die gelungene Präsentation Kinderbibeln. Bilder
vom Holzschnitt bis zum Comic. Evangelisch – katholisch – jüdisch (01.11.12 –
09.02.13). Diese stellte zudem die erste Ausstellung dar, die spezifisch der Illustration
von Kinderbibeln Aufmerksamkeit schenkte, und machte aktuellste Forschungsergebnisse zur Illustrationsgeschichte der Kinderbibeln der beiden großen christlichen Konfessionen sowie des Judentums einem breiten Publikum zugänglich. Die Schau wurde
in der Landesbibliothek Oldenburg gezeigt und in Kooperation mit dem Institut für
Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg realisiert. Kuratorin und
Verfasserin des ausstellungsbegleitend erschienenen Kataloges war die promovierte
Theologin Prof. Christine Reents (ehem. KH Wuppertal/Bethel), die sich seit langem
mit der wissenschaftlichen Erforschung von
Kinderbibeln beschäftigt, als derzeit führende
Kennerin zur Thematik gilt und die Erkenntnisse ihrer Forschung 2011 im ersten und grundlegenden Handbuch zum Thema veröffentlichte
(Reents, Christine/Melchior, Christoph: Die
Geschichte der Kinder- und Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch. Göttingen: V&R
unipress 2011). Die Ausstellung präsentierte eine exemplarische Auswahl von knapp 100 illustrierten Kinderbibeln aus der der Zeit von der
Vorreformation bis auf die Gegenwart und
deckte damit einen Zeitraum von rd. 500 Jahren
ab. Die Exponate, darunter auch viele wertvolle
und historische Originale wie etwa Luthers
Passional von 1529, das als erste bebilderte
Kinderbibel gilt, entstammten den Beständen
der Universitätsbibliothek Oldenburg und wurden ergänzend von verschiedenen institutionellen und privaten Leihgebern zur Verfügung gestellt. Neben der Präsentation
und Vermittlung der Geschichte illustrierter Kinderbibeln war es erklärte Intention der
Ausstellung, didaktische Anregungen für die schulische und außerschulische religiöse
Erziehung und Bildung von Kindern zu geben. Diesem Ziel dienten auch verschiedene
32
AUSSTELLUNGEN UND KATALOGE
museumspädagogische Veranstaltungen sowie Fortbildungen speziell für Lehrkräfte
und Erzieher, die begleitend zur Ausstellung angeboten wurden. Gestaltungsprinzip der
Ausstellung war die Gliederung in insgesamt 17 bekannte und weniger bekannte biblische Geschichten in der biblischen Abfolge von der Schöpfungsgeschichte an über
Kain und Abel, die Zehn Gebote, David und Goliath, der zwölfjährige Jesus im Tempel, Jesus und die Kinder bis hin zu Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt. Diesen Geschichten und Motiven wurden bildnerische Interpretationen aus den verschiedenen Epochen, Stilrichtungen und berücksichtigten Konfessionen vergleichend zugeordnet. Auf diese Weise vermittelte die Ausstellung ein abwechslungsreiches und
stimmiges Bild der Geschichte der illustrativen Bibelinterpretation für Kinder katholischen, evangelischen und jüdischen Glaubens im abgesteckten Zeitraum und vom
Holzschnitt bis zum Comic. Der ausstellungsbegleitend veröffentlichte und reich mit
schwarz-weißen und farbigen Abbildungen ausgestattete Katalog, der mit finanzieller
Unterstützung der Oldenburger Bibelgesellschaft realisiert werden konnte, folgt diesem
Ordnungsprinzip. Er eröffnet mit Vorwort und Einführung und bringt dann als ersten
inhaltlichen Beitrag eine kurze Geschichte der illustrierten Kinderbibel und ihrer Entwicklung von den Vorläufern im Spätmittelalter an über Reformation und katholische
Reform, Barock, Romantik, Jugendstil sowie Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum
Stilpluralismus der Gegenwart. Der anschließende Katalogteil gliedert sich in die 17
berücksichtigten biblischen Geschichten. Zu jeder sind zur Veranschaulichung der Illustrationsgeschichte exemplarisch Bilder aus allen Epochen und Stilrichtungen und
den drei berücksichtigten Glaubensrichtungen abgebildet. Die Textbeiträge liefern Bildinterpretationen, ordnen vergleichend ein und erläutern die unterschiedlichen Illustrationen unter geschichtlichen, religiösen und kunstgeschichtlichen Aspekten. Der beeindruckende Katalog schließt mit Kurzzusammenfassung sowie Bibliographie der berücksichtigten Kinderbibeln. Die ihm beigefügte CD-ROM beinhaltet alle insgesamt
101 Illustrationen, die im Katalog abgebildet sind, Bildnachweis und nochmals die
Bibliographie der berücksichtigten Kinderbibeln.
Innerhalb der beeindruckenden Serie von Ausstellungen im Jahr 2012/2013 zum
200. Jubiläum der Erstausgabe des 1. Bandes der Kinder- und Hausmärchen der Brüder
Grimm im Jahr 1812 nahm die Ausstellung 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm. Alte Märchen – neu interpretiert (09.12.2012 – 24.03.2013) im Brüder Grimm-Haus in Steinau an der Straße eine besondere Position ein. Diese Ausstellung präsentierte die Märchen des 1. Bandes in der Erstausgabe von 1812 und kontrastierte die 200 Jahre alten Texte mit deren moderner bildnerischer Interpretation durch
den Comic-Zeichner, Cartoonist und Illustrator Klaus Häring (geb. 1963). Häring illustrierte alle 84 Märchen sowie die 4 Märchen-Fragmente des 1. Bandes von 1812 neu
mit originellen und witzigen, farbigen Cartoons – eine Arbeit, die den Künstler von Januar 2012 bis Oktober 2012 in Anspruch nahm. Begleitend zur Ausstellung erschien
ein gelungenes und opulent mit den Zeichnungen von Klaus Häring bebildertes Katalogbuch. Dieses versammelt vollständig einschließlich der Vorrede der Brüder Grimm
vom 18. Oktober 1812 die Grimm’schen Märchen der Erstausgabe des 1. Bandes, der
am 20.12.1812 im Verlag der Realschul-Buchhandlung in Berlin erschien, (der 2. Band
folgte am 14.10.1815) originalgetreu in Wortlaut, Rechtschreibung, Zeichensetzung
und mit den seinerzeitigen Setzfehlern. Damit erlaubt der Band die Begegnung mit den
Ausstellungen und Kataloge 1/2013
33
Texten und der Auswahl der Märchen der Grimmschen Sammlung in deren erster Gestalt. Diese war damals zunächst als wissenschaftliche Sammlung für Gelehrte gedacht
und wurde erst durch die Bearbeitungen, Tilgungen und Modifizierungen der folgenden Jahrzehnte zum weltweit verbreiteten Kinder-, Jugend- und Volksbuch und zur
vielleicht wichtigsten Märchensammlung der Weltliteratur. An dieser Verbreitung hatte die Bebilderung der Ausgaben, die auf die noch unillustrierte Erstausgabe folgten,
wesentlichen und ganz entscheidenden Anteil –
Klaus Häring führt die Tradition der Bebilderung der Märchensammlung nun neu und im
modernen Gewande fort. Der Anhang des Katalogbuches ist dreigeteilt. Burkhard Kling, Leiter
des Steinauer Brüder Grimm-Hauses, gibt in
seinem Nachwort informativen und materialreichen Überblick über die Entstehungsgeschichte
der Grimmschen Märchensammlung. Er geht
dabei auch ein auf die ersten europäischen und
außereuropäischen Übersetzungen und Aspekte
der weiteren Entwicklung der Sammlung nach
Erscheinen der Erstausgabe 1812 bis zur kanonisch gewordenen Ausgabe letzter Hand von
1857. Biografische Notizen zum Künstler Klaus
Häring sowie ein Verzeichnis relevanter Literatur runden den gelungen alt mit neu verbindenden Band ab.
Nach den beiden zurückliegenden Ausstellungen zu Walter Moers (25.09.2011 –
15.01.2012; vgl. Volkacher Bote, Heft 95, Dezember 2011, S. 71 f.) und zu Ulf K.
(28.10.2012 – 13.01.2013; vgl. Volkacher Bote, Heft 97, Dezember 2012, S. 60) setzte
die LudwigGalerie Schloss Oberhausen mit Cornelia Funke – Tintenherz, Wilde
Hühner und Gespensterjäger. Die fantastischen Bildwelten von den frühen Kinderbüchern bis Reckless (20.01.2013 – 20.05.2013) die Reihe ihrer Präsentationen zu bedeutenden Vertretern der angewandten Illustrationskunst der Gegenwart überaus beeindruckend fort. Die Ausstellung war gleichzeitig und mit über 200 präsentierten Arbeiten aus allen Schaffensperioden von den ersten und frühesten Illustrationen zu
fremden und eigenen Texten Ende der 1980er Jahre bis hin zu den aktuellsten Zeichnungen aus Reckless – Lebendige Schatten (2012) die erste umfassende Einzelausstellung zu Cornelia Funke (geb. 1958) im deutschsprachigen Raum überhaupt. Die Ausstellung wurde durch großzügige Leihgaben von Cornelia Funke ermöglicht und war
von zahlreichen attraktiven museumspädagogischen Veranstaltungen begleitet, darunter Themenführungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie für Schule und
Kindergarten mit jeweils altersgemäß abgestimmten didaktisch-methodischen und gestaltungspraktischen Angeboten. Parallel zeigte das Theater Oberhausen die Aufführung Gespensterjäger auf eisiger Spur nach dem gleichnamigen Buch von Cornelia
Funke aus dem Jahr 1993. 1977 verlässt Cornelia Funke ihre Geburtsstadt Dorsten und
zieht nach Hamburg, wo sie 1982 ihr Studium der Sozialpädagogik abschließt. An-
34
AUSSTELLUNGEN UND KATALOGE
schließend ist sie zunächst im erlernten Beruf als Sozialarbeiterin mit Kindern in
Hamburg tätig, absolviert aber bereits 1982 – 1985 berufsbegleitend ein Studium für
Buchillustration an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg und macht sich
1986 als Buchillustratorin selbstständig – Startschuss für einen bemerkenswerten Entwicklungsgang, der aus Cornelia Funke eine international anerkannte und ungemein erfolgreiche Autorin und Illustratorin machen
sollte, deren Werke zudem auch mehrfach
verfilmt wurden. Am Anfang ihrer Karriere
stand die Gestaltung des Umschlagbildes
zum Buch von Paula Fox Der Schattentänzer
(1987), doch schon 1988 folgte bei Arena ihr
erstes selbst geschriebenes und illustriertes
Buch Die große Drachensuche, denen bis
heute zahlreiche weitere folgen sollten, darunter die besonders bekannten und erfolgreichen Titel wie Gespensterjäger, Die Wilden Hühner und die Trilogie Tintenherz
(2003), Tintenblut (2005) und Tintentod
(2007). Obwohl Cornelia Funke, unzufrieden
mit den ihr damals zur Illustration angeboten
fremden Texten, sich selbst seit Ende der
1980er Jahre primär als Schriftstellerin sieht,
hat sie das Illustrieren nie aufgegeben und
bebildert bis heute die eigenen Bücher immer
wieder selbst, fremde seit 1990 nicht mehr.
Während die frühen Illustrationen der Künstlerin, die seit 2005 mit ihrer Familie in Los
Angeles/USA lebt, eine auffallend frohe Farbigkeit aufweisen und figurenreich ausgestattet sind, sind für die späteren Arbeiten schwarz-weiß gehaltene Tusche-, Feder- und
Grafitzeichnungen und kleinere Binnen- sowie kapiteleinleitende Illustrationen kennzeichnend. Der begleitend zur Ausstellung erschienene Katalog ist ein Ereignis: großformatig und opulent mit nahezu 200 Abbildungen ausgestattet stellt er die faszinierende und facettenreiche Bilderwelt der Cornelia Funke ebenso umfassend wie instruktiv vor und verdeutlicht das „Doppelkönnen“ der Künstlerin als Autorin und Illustratorin. Im Anschluss an die einleitenden Gruß- und Vorworte leistet Christine Vogt, Direktorin der LudwigGalerie, in ihrem Beitrag fakten- und kenntnisreich Ein- und Überblick über die zeichnerische Arbeit, die Bildsprache und die Bilderwelten von Cornelia
Funke, die zu ihren zeichnerischen Vorbildern u.a. Klassiker wie John Tenniel oder
Arthur Rackham zählt, aber auch die Illustrationen von Tripp zu Jim Knopf oder Wiklands Illustrationen zu Büchern von Astrid Lindgren. Christiane Brox analysiert die
Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen im Werk von Cornelia Funke und Nina Dunkmann bereichert den Katalog um eine ausführliche Biografie der Künstlerin (S.
123–133), die deren Leben und Entwicklung schildert und alle wesentlichen biobibliografischen Daten umfasst – bestens. Der Anhang des verdienstvollen Kataloges
bietet ein Verzeichnis der Werke von Cornelia Funke, wobei, sehr zu begrüßen, bei den
Ausstellungen und Kataloge 1/2013
35
von ihr illustrierten Titeln zwischen eigenen und fremden Texten unterschieden wird,
sowie ein Verzeichnis relevanter Sekundärliteratur. Im Anschluss an Oberhausen wandert die beeindruckende Ausstellung weiter und wird im Museum Haus Ludwig in
Saarlouis gezeigt (16.11.2013 – 16.02.2014).
Das Troisdorfer Bilderbuchmuseum konzipierte als attraktives Novum innerhalb
der Ausstellungslandschaft zur KJL im deutschsprachigen Raum eine breit angelegte
Ausstellungsreihe über das Verhältnis zwischen Künstlervater und Künstlersohn in der
KJL der Gegenwart. Zentrale Fragen, denen die Ausstellungsreihe nachspürt, sind u.a.
die nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach Wettstreit und Nachahmungen,
nach Abgrenzungen und Fortführungen oder nach Bewunderung und Eifersucht. Zum
Auftakt der Reihe, mit der die Troisdorfer unter Leitung von Museumsdirektorin Maria
Linsmann erneut ihre innovative Kraft belegen und sich wiederum Alleinstellung in
der Museumslandschaft verschaffen, lief als erste Präsentation die Ausstellung Väter
und Söhne I – Karl und Nikolaus Heidelbach (24.02.2013 – 14.04.2013). Gezeigt
wurden insgesamt rd. 60 Originalbilder und -illustrationen des Malers Karl Heidelbach
(1923–1993) und seines Sohnes Nikolaus (geb. 1955), der zu den renommiertesten
deutschen Illustratoren der Gegenwart zählt. Die Gegenüberstellung der Werke und die
auch biografische Hintergründe aufzeigenden Erläuterungen von Nikolaus Heidelbach, der zur Eröffnung persönlich durch die Ausstellung führte,
verdeutlichten Einflüsse und Verbindungen. Karl
Heidelbach war nach seinem Studium der Malerei
an der Städelhochschule in Frankfurt a.M. und an
der Akademie München in den 1940er Jahren von
1956–1973 hauptberuflich als Kunstlehrer im
Schuldienst tätig. Dieser sicherte die finanzielle
Basis für den Unterhalt der kinderreichen Familie
und erlaubte es Karl Heidelbach gleichzeitig, als
Maler zu wirken. Seine Werke, die seit 1962 in
zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen
gezeigt wurden, sind gekennzeichnet durch die
Überführung von Menschen, Gegenständen oder
Alltagsszenen in eine realistische Bildsprache, die
aber empathisch auf gnadenlose Präzision und jede sezierende Pedanterie verzichtet, jedoch oft
subtil erscheint, manchmal gar beklemmend wirkt
und von einer desillusionierten Weltsicht zu zeugen scheint – möglicherweise Effekt
der Erlebnisse Karl Heidelbachs während des Zweiten Weltkrieges und seiner
Schwerstverwundung in Stalingrad. Vom Vater hat der Sohn nicht das Malen an sich
gelernt, sondern das genaue Hinsehen und den klaren Blick, aber auch Subtilität und
Ironie – all das zeigt sich in Nikolaus Heidelbachs irritierender und manchmal verstörender, immer aber großartiger Bilderwelt und Bildersprache, die er – anders als sein
Vater, der in Öl auf Leinwand und vornehmlich großformatig malte, – kleinformatig
und überwiegend als Aquarell auf Papier umsetzt. Begleitend zur Ausstellung erschien
36
AUSSTELLUNGEN UND KATALOGE
ein bildreicher und auf Text weitestgehend verzichtender Katalog, der die Exponate in
Auswahl in farbiger Abbildung wiedergibt und im Abbildungsverzeichnis mit Titel,
Entstehungsjahr, Maltechnik sowie Formatangabe dokumentiert. Im Anschluss an biografische Notizen zu Karl und Nikolaus Heidelbach bildet der Katalog zum Schluss eine beziehungsreiche Comic-Szene von Shanahan ab. Diese zeigt einen Vater mit erwachsenem Sohn beim Strandspaziergang, der Sohn einfühlsam die Hand auf den Rücken des Vaters legend, und ist untertitelt mit Thanks for almost everything, Dad! –
dem ist nichts hinzuzufügen. In Fortsetzung der Ausstellungsreihe sind als nächstes
Präsentationen geplant zu den Vater-Sohn-Gespannen F. K. Waechter und Philip
Waechter sowie Wolf Erlbruch und Leonard Erlbruch.
Die Internationale Jugendbibliothek (IJB) widmete ungewöhnlichen, originellen
und künstlerisch außergewöhnlich gestalteten Alphabet- und Zahlenbilderbüchern aus
aller Welt die attraktive und aufeinanderbezogene Doppelausstellung Buchstäblich
anders. Ausgefallenen Alphabet-Bücher aus aller Welt (noch bis 31.07.2013) und
Eins, fünf, viele. Zahlenspiele im Bilderbuch (01.03.2013 – 02.06.2013). Präsentiert
wurde jeweils eine schöne und interessante Auswahl an Bilderbüchern vornehmlich der
zurückliegenden rd. 15 Jahre aus den Beständen der IJB. Die AlphabetbuchAusstellung, gleichzeitig die Jahresausstellung 2012/2013 der IJB, war gegliedert in
die drei Gruppen Klassische Alphabetbücher, Fantasievolle Buchstaben- und Wortspiele sowie Das ABC-Buch als Kunstobjekt. Während in den klassischen ABCBüchern, die konzeptionell weitestgehend den historischen Vorbildern entsprechen, mit
denen Kindern Lesen und Schreiben beigebracht werden sollte, jedem Buchstaben ein
oder mehrere Begriffe zugeordnet werden, die mit dem jeweiligen Buchstaben beginnen, – dies oft unter Verwendung eines ganz bestimmten und einheitlichen Themengebietes für das ganze Buch, etwa Natur, Länder oder Alltagsgegenstände, ganz beliebt
Tieralphabete, - wird in den ABC-Buchstaben- und Wortspielbüchern das Spiel mit der
Sprache und den Lettern anhand von Gedichten, Reimen, Rätseln oder sinnfreien Nonsens-Gestaltungen zum Gegenstand. In den ABC-Buch-Kunstobjekten schließlich treten Sprache und Buchstabe hinter die oft aufwendige ABC-Gestaltung zurück und
rückt die künstlerische Buchgestaltung selbst in den Mittelpunkt.
Namengebend für die Zahlenbilderbuch-Ausstellung war der Bilderbuchklassiker Eins,
fünf, viele von Kveta Pacovska (EA: Ravensburger 1990). Diese Ausstellung war in
Analogie zum Ordnungsprinzip der ABC-Buch-Ausstellung gegliedert in die vier Bereiche 1, 2, 3, … eine Zählerei. Aufwärtszählen in Bilderbüchern aus aller Welt mit
einfachen Zählbilderbüchern zum Erlernen des abstrakten Prinzips des Zählens, oft –
wie bei den ABC-Büchern – mit Tieren als Protagonisten, weiter Noch 10 Minuten,
dann ab ins Bett. Abwärtszählen in Bilderbüchern aus aller Welt mit originellen
Rückwärts-Zählbilderbüchern (u.a. Wolf Erlbruchs 10 grüne Heringe), ferner Eins,
zwei, drei Tier. Geschichten, Spiele und Reime in Bilderbüchern aus aller Welt mit besonders kreativ gestalteten Bilderbüchern, die die Lust am Spiel mit Zahlen wecken
sollen (z.B. Sabine Büchner mit Für immer sieben), sowie schließlich Das HexenEinmal-Eins. Künstlerisches Spiel mit Zahlen mit außergewöhnlich gestalteten Bilderbüchern zum Thema, darunter Papierkunstobjekte aller Art und raffinierte Pop-upBücher.
Ausstellungen und Kataloge 1/2013
37
Im Unterschied zur ABC-Buch-Aussstellung, zu der leider keine Begleitpublikation erschien (vielleicht entschließen sich die Verantwortlichen noch, eine zu erstellen – Ausstellung und Thematik hätten es verdient),
kam zur Zahlenbilderbuch-Ausstellung eine
reich farbig illustrierte Begleitbroschüre heraus. Diese eröffnet mit Vorwort (Christiane
Raabe) und informativer inhaltlicher Einleitung (Hilde Elisabeth Menzel) und dokumentiert sodann die insgesamt 54 präsentierten
Exponate jeweils mit farbiger Abbildung des
Covers, allen erforderlichen bibliografischen
Daten und inhaltlicher Kurzbeschreibung. Ein
Register der Autoren und Illustratoren der in
der Ausstellung berücksichtigen Titel beschließt die gute und sorgfältige Arbeit, die
auch für Sammler von Bilderbüchern zur
Thematik von Interesse und Nutzen ist. Sowohl zur ABC-Buch- wie zur Zahlenbilderbuchausstellung gab es attraktive museumspädagogische Angebote, darunter Workshops für
Schulklassen und ein Praxisseminar für Literaturpädagogen, Erzieher, Lehrer und interessierte Eltern, in dem Wege und Möglichkeiten aufgezeigt wurden, ästhetisch gestaltete ABC- und Zahlenbilderbücher über ihre
bloße didaktische Verzweckung für die Literarisierung, Alphabetisierung und das Zahlenlernen von Kindern hinaus auch für kreative Zwecke zuhause und in der Schule einzusetzen.
Im Anschluss an die Zahlenbilderbuchausstellung zeigt die IJB in Übernahme vom
Troisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem die große Werkausstellung Ole Könnecke (07.06.2013 – 22.09.2013) mit Originalillustrationen, Skizzen und freien Arbeiten des Künstlers – Ausstellung und begleitend erschienener Katalog wurden im
Volkacher Boten anlässlich der Erstpräsentation in Troisdorf bereits ausführlich gewürdigt (vgl. Volkacher Bote, Heft 97, Dezember 2012, S. 57).
Im Jahr 2013 wurde der Troisdorfer Bilderbuchpreis (begründet 1982) zum inzwischen 19. Mal verliehen. Der Preis ist mit insgesamt 7.500 € dotiert, wird alle 2 Jahre
von einer unabhängigen Jury in wechselnder Zusammensetzung vergeben und zeichnet
künstlerisch besonders qualitätvoll gestaltete Bilderbücher aus. Die Jury 2013 (Jochen
Stücke, Barbara von Korff-Schmising, Pauline Liesen; beratend: Ulrike Alsleben und
Dietlind Keutmann) entschied, einen 1. Preis und zwei 2. Preise zu vergeben. Der 1.
Preis ging an den in Hamburg lebenden Illustrator Jonas Lauströer für seine Illustrationen zu Reineke, der Fuchs in der Nacherzählung von Renate Raecke (MinEdition
2012). Einen der beiden 2. Preise erhielt der japanische Autor und Illustrator Kazuaki
Yamada für seine farbflächigen, zarten und überzeugenden Bilder zu Mein roter Ballon (MinEdition 2011), der weitere 2. Preis wurde der bulgarischen und heute in Hei-
38
AUSSTELLUNGEN UND KATALOGE
delberg lebenden Illustratorin Stella Dreis für ihre ungewöhnlichen und originellen
Wimmelbuch-Illustrationen zu sieben der bekanntesten und beliebtesten Märchen der
Brüder Grimm Grimms Märchenreise (Thienemann 2012) zuerkannt. Neben den drei
preisgekrönten Büchern verblieben sieben weitere in der Endauswahl und erhielten von
der Jury eine lobende Erwähnung (Stefanie
Harjes: Eine Blattlaus wandert aus, Tulipan
2011; Dorota Wünsch: Wie Großvater
schwimmen lernte, Peter Hammer 2011; Isabel Pin: Wie das Glück zu Rita Ricotta
kam, Carlsen 2011; Katrin Stangl: Stark wie
ein Bär, Carlsen 2011; Judith Loske: Sadakos Kraniche, MinEdition 2011; Matze
Doebele: Pauls Glück, Jacoby & Stuart
2011; Einar Turkowski: Als die Häuser
heimwärts schwebten, Mixtvision 2012).
Der mit 1.000 € dotierte Förderpreis wurde
2013, wie schon 2011, erneut nicht vergeben, da keine der eingereichten Arbeiten die
Jury zu überzeugen vermochte. Traditionell
wird seit Gründung des Troisdorfer Bilderbuchpreises 1982 neben dem Preis der Erwachsenenjury auch ein eigener Preis von
einer Kinderjury, bestehend aus Viertklässlern aus Troisdorfer Grundschulen, vergeben. Der Preis der Kinderjury 2013 ging an
Sabine Koschier für ihre in der Wiedergabe gleichermaßen realistischen wie in der
Farbgebung grell verfremdeten Bilder zum Buch Jacky – Ein Orang-Utan sucht den
Dschungel.
Im Anschluss an die Verleihung der Preise am 21.04.2013, zu der alle Preisträger
persönlich anreisten, eröffnete das Troisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem die
Ausstellung Troisdorfer Bilderbuchpreis 2013 (21.04.2013 – 23.06.2013). Diese zeigte nicht nur Originalillustrationen aus den insgesamt vier preisgewürdigten und sieben
lobend erwähnten Büchern, sondern präsentierte auch eine reiche Auswahl von Illustrationsoriginalen aus allen mehr als 100 Arbeiten, die zum Preis eingereicht worden
waren. Begleitend zur Ausstellung, die wiederum eindrucksvoll einen repräsentativen
Überblick über die aktuelle Bilderbuchillustration im deutschsprachigen Raum vermittelte, erschien ein informativer und reich mit zum Teil ganzseitigen farbigen Abbildungen ausgestatteter Katalog. Im Anschluss an das einleitende Vorwort (Pauline Liesen)
gibt Mareile Oetken am Beispiel von Rotkäppchen einen fundierten Überblick über die
Geschichte der Märchen-Illustration seit dem 19. Jahrhundert bis heute. Die folgenden
vier Beiträge würdigen die einzelnen Preisträger und ihre preisgekrönten Arbeiten (Jochen Stücke: Jonas Lauströer; Barbara von Korff-Schmising: Kazuaki Yamada; Pauline Liesen: Stella Dreis; Almut Tscheuschner: Sabine Koschier). Zum Abschluss stellt
der Katalog die lobend erwähnten Bücher jeweils mit einer ausgewählten farbigen Illustration vor und bietet sodann eine Gesamtübersicht aller Träger und Titel des Troisdorfer Bilderbuchpreises seit Gründung 1982 bis einschließlich 2013.
Ausstellungen und Kataloge 1/2013
39
Bibliografie der besprochenen Kataloge/Medien
Internationale Jugendbibliothek (Hrsg.): Eins, fünf, viele – Zahlenspiele im Bilderbuch. Zusammengestellt von Hilde Elisabeth Menzel. Katalog zur gleichnamigen
Ausstellung in der Internationalen Jugendbibliothek München v. 01.03.13 –
02.06.13. München: Internationale Jugendbibliothek 2013 [44 S., zahlr. fab. Abb.,
brosch., 4,- €]
Kling, Burkhard (Hrsg.): Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Die Märchen der Erstausgabe von 1812. Mit Illustrationen von Klaus Häring. Begleitbuch
zur Ausstellung „Alte Märchen – neu interpretiert“ v. 09.12.12 – 24.03.13 im Brüder Grimm-Haus Steinau an der Straße anlässlich des 200. Jubiläums der Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Worms: Wernersche
Verlagsgesellschaft 2012 [318 S., zahlr. farb. Abb., geb., Hardcover, 29,80 €]
Liesen, Pauline (Hrsg.): Troisdorfer Bilderbuchpreis 2013. Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung in Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf v.
21.04.13 - 23.06.13. Mit Beiträgen von Barbara von Korff Schmising, Pauline Liesen, Mareile Oetken, Jochen Stücke und Almut Tscheuschner. Troisdorf: Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf 2013 [36 S., zahlr. farb. Abb., brosch.
15,- €]
Linsmann, Maria/Liesen, Pauline (Hrsg.): Väter und Söhne Vol. 1: Karl Heidelbach &
Nikolaus Heidelbach. Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung in Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf v. 24.02.13 – 14.04.13. Troisdorf:
Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf 2013 [36 S., zahlr. farb.
Abb., brosch. 15,- €]
Reents, Christine: Kinderbibeln. Bilder vom Holzschnitt bis zum Comic. Evangelisch –
Katholisch – Jüdisch. Katalog zur Ausstellung in der Landesbibliothek Oldenburg
v. 01.11.12 – 09.02.13. Oldenburg: Isensee 2012. [Schriften der Landesbibliothek
Oldenburg; Bd. 56] [112 S., zahlr. s/w u. farb. Abb u. 1 CD-ROM, brosch., 12,- €]
Vogt, Christine (Hrsg.): Cornelia Funke – Tintenherz, Wilde Hühner und Gespensterjäger. Die fantastischen Bildwelten von den frühen Kinderbüchern bis Reckless.
Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in der LUDWIGGALERIE Schloss
Oberhausen v. 20.01.13 – 20.05.13 und im MUSEUM HAUS LUDWIG Saarlouis
v. 16.11.13 – 16.02.14. Mit Beiträgen von Christiane Brox, Nina Dunkmann u.
Christine Vogt. Bielefeld: Kerber 2013 [180 S., zahlr. s/w u. farb. Abb., geb., Hardcover, farb. SU, 29,80 €]
REZENSIONEN
40
DIETRICH GRÜNEWALD
Tiere sind auch nur Menschen –
bitterböse Kurzgeschichten
Wenn die Bibel davon erzählt, dass Noah aufgetragen wurde, auch die Tiere vor der
Sintflut zu retten, so zeugt das von der Wertschätzung Gottes für sie. Dass wir Menschen zu unseren Rettungsschiffpartnern ein problematisches Verhältnis haben, zeigt
sich im Spagat zwischen ihrer Verwertung als Kuscheltier oder Schlachtopfer. Nun,
auch manche Tiere sehen Tiere (und aus diesem Blick sind wir Menschen natürlich
auch Tiere) als verwertbare Nahrung – doch was hier natürlicher Trieb ist, hat der
Mensch zum bösartigen Spiel mit allen Varianten von Täuschung, Massenhaltung bis
zu Quälereien erweitert. Dieses bösartige Spiel stellt uns Oliver Ottitsch ungeschminkt
vor Augen. Der Grazer Cartoonist macht das nicht als moralische Bußpredigt und
schockierend-provozierende Aufklärung – er macht das hinterlistig als ironisch-bissiger
Satiriker, der uns zwingt, das ausgekitzelte Lachen gleich wieder einzufrieren, sobald
wir ein wenig darüber nachdenken, was er uns da zumutet. Denn die Bilder zu Mensch
und Tier oder auch nur aus dem Tierleben spiegeln – ganz in der Fabeltradition –
letztlich unser menschliches Treiben und Denken, tierisch verfremdet.
Das fängt schon mit dem Titelbild an: Ottitisch dekuvriert die eigentliche Motivation
Noahs, denn die Tierpaare, die seine Arche betreten, verlassen sie auf der anderen Seite
wohl verpackt als Fleischware. Nur gerecht, wenn die Tiere den Spieß umdrehen: da bringt
der Klapperstorch das neugeborene Menschenkind als Nahrung seiner wartenden Brut ins
Nest, entschuldigt sich der Hai bei seinem Menschenopfer, dass er schließlich auch eine
Familie zu ernähren habe, suchen andere Haie angesichts eines abgestürzten Flugzeuges im
Wasser nach einem Dosenöffner, sind die Schafe drauf und dran den Schäfer zu scheren…
Und sie haben ja auch recht: wenn der Masseur seinen Huhnpatienten behandelt, stehen
schon ahnungsvoll Schalen mit Ei, Mehl und Brösel bereit. Jede Zeichnung stellt eine
kleine Geschichte dar – der Betrachter wird animiert, das Davor und Danach des Gezeigten
im Kopf zu ergänzen, die starren Figuren, die durch die Karikatur-Übertreibung äußerst
ausdrucksstark wirken, zu verlebendigen. Ottitsch setzt dabei auf Vorwissen, das unserer
Alltagserfahrung entstammt, aber auch aus Literatur und Film, wie z.B. Moby Dick,
Märchen oder Psycho, angeregt ist und assoziativ mit dem Gezeigten verbunden wird. Er
spielt mit der Sprache („in der Schlange stehen“ nimmt er für die von ihr
Heruntergeschlungenen wörtlich) oder visuellen Signets (die Schlange in der Stripbar für
Apotheker präsentiert sich wie im bekannten A-Signet) oder verlässt sich ganz auf das
Gezeigte und die so animierte Kreativität des Betrachters (während ein Herrchen seinen
Hund an der Leine ausführt, reicht die Leine eines anderen in den Himmel – was er da hält,
bleibt unserer Fantasie überlassen).
Rezensionen
41
Die Cartoons sind mal witzig (wenn der Telefonhörer des Schweinchens mit seinem
Ringelschwanz verbunden ist), mal frivol (wenn die Kuh denkt, der sie künstlich
besamende Arzt hätte sie wenigsten vorher zum Essen einladen können), mal sarkastisch (wenn sich der Menschenfresser beim Krokodil erkundigt, ob es den übergelassenen Rest Mensch noch essen wolle), mal grausam böse (wenn gezeigt wird, dass die
Einhörner deshalb ausstarben, weil sie ihre Grillwürstchen auf ihr Einhorn pieksten
und dann Feuer fingen und verbrannten). Schwarzen Humor kennzeichnet so manche
Zeichnung: die fleischfressenden Eichhörnchen, die eine alte Oma entsorgen,
die Schweinemami, die zu ihrem Sprößling, der sich verbrannt hat, nur meint:
das riecht ja köstlich. Die Beispiele
machen deutlich: das ist kein Kinderbilderbuch; aber für Jugendliche und
Erwachsene, die diese skurrilen und
sarkastischen
gezeichneten
Kurzgeschichten mit genüsslich-schaudernder
Distanz zu goutieren wissen, sind sie
auch Angebot, ihre Verfremdung und
Symbolik zu durchschauen und sie als
provokantes Denkangebot zu verstehen –
über das Verhältnis von „Tier und Wir“.
Oliver Ottitsch: Noahs Fleischwaren.
Cartoons zum Tier & Wir. Wien: Holzbaum 2013. ISBN 3950309799. 96 S.,
14,95 €.
Seit Jahren sammelt Hans Ritz (d.i. Ulrich Erckenbrecht) Ursprünge, Varianten
und Parodien des Märchens vom Rotkäppchen. Im Frühjahr 2013 ist die aktuelle
Auflage des ebenso informativen wie vergnüglichen Buches erschienen.
Hans Ritz: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen,
Parodien eines Märchens. 15. abermals erweiterte Auflage. Kassel: Muriverlag 2013. ISBN978-3922494-10-2. 296 S., 10,00 €.
REZENSIONEN
42
ROLF KOPPE1
Jesus von Nazaret
Zum gleichnamigen Jugendbuch von Alois Prinz
Das Buch ist eine Entdeckung. Nicht wegen seines Titels, sondern wegen des Inhalts
und seines Verfassers. Schon dem umfangreichen Literaturverzeichnis merkt man an,
wie kenntnisreich der Laientheologe die primären Quellen, die zahlreichen sekundären
exegetischen und systematischen Bücher – von Eduard Lohse bis Joseph Ratzinger/Benedict XVI. (leider fehlt das Jesusbuch des emeritierten Göttinger Systematikers
Joachim Ringleben aus dem Jahr 2008) – sowie viele aktuelle Internetseiten, Zeitungen
und literarische Darstellungen zu Rate gezogen hat, um dieses Buch schreiben zu können.
Es geht Alois Prinz um das, was wir vom historischen Jesus und was wir vom geglaubten Christus wissen können. Er sagt programmatisch: „Jesus ist das Dynamit, das
die Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt. […] Er war immer anders,
tiefer und größer als die Bilder, mit denen ihn die Menschen festlegen wollten. […] Insofern ist Jesus eine stete Herausforderung – und damit auch eine Aufforderung an uns,
auch von uns selbst größer, „göttlicher“ zu denken.“ (Einleitung, S.16)
Dieser Formulierung ist insofern zuzustimmen, als sich Christen häufig „vor der
Welt“ zu klein machen. Andererseits ist sie – trotz der Anführungszeichen bei dem
Wort „göttlich“ – abzulehnen, weil der Mensch nicht „von sich göttlicher denken“
sollte. Auch deshalb nicht, weil er – jedenfalls nach evangelischem Verständnis – nicht
„göttlicher“ werden kann. Aber das sei nur am Rande bemerkt.
Um den inneren Zusammenhang zwischen den historischen Fakten und den aus
dem Glauben heraus erfolgten Deutungen geht es dem Verfasser. Bei der Darstellung
des Weges Jesu – vom Jordan bis nach Emmaus – orientiert er sich nicht nur an den
neutestamentlichen Geschichten, sondern zitiert auch bekannte Theologen und Philosophen wie Paul Tillich, Blaise Pascal oder Friedrich Nietzsche und Dichter wie Fjodor
Dostojewski oder Hermann Hesse und Schriftsteller wie Michael Ende oder Dan
Brown mit dem Ziel, eine Reflexionsebene einzuziehen. Das Buch bekommt dadurch
einen gelehrten Charakter, ohne dass Bezüge oder Zitate ,hergeholt’ wirken. Es setzt
aber dadurch einen höheren Bildungsstand voraus, nicht nur was die Philosophie, sondern auch was die Geographie betrifft, denn eine entsprechende Karte des Heiligen
Landes fehlt leider in dem Buch.
1
Dr. h.c. Rolf Koppe (Göttingen) ist Auslandsbischof der Evangelischen Kirche em. und hat
seit 2008 einen Lehrauftrag für Systematische Theologie am Evangelischen Institut der
Universität Kassel.
Rezensionen
43
Als Leser stelle ich mir Oberstufenschüler oder Erwachsene in Bildungseinrichtungen
vor, aber auch Studierende der Religionspädagogik oder der Theologie. Ferner theologische Laien ohne Ansehen der Konfession. Denn das Buch atmet den Geist der Ökumene auch im Blick auf ein kontroverses exegetisches Problem wie dem des Petrusamtes.
Etwas befremdlich wirkt allerdings in dem Zusammenhang die Parallelisierung der
Verkündigung des Engels Gabriel an Maria in dem kleinen Städtchen Nazaret (bewusst
so nach den Loccumer Regeln zitiert) mit der Ankunft von Papst Benedict XVI. mit
dem Helicopter am 4. Mai 2009 eben dort (S. 43). „Im Papamobil fuhr er durch die jubelnde Menge zu einer gigantischen überdachten Bühne, wo er eine Messe hielt“. Das
ist übrigens die einzige Stelle, an der man merkt, dass der Autor eine deutliche Nähe
zur römisch-katholischen Kirche hat, sonst vermutet man eher einen liberalen evangelischen Heinz Zahrnt redivivus in ihm, dessen Jesusbuch von 1987 er ebenso selbstverständlich aufführt wie das gemeinschaftlich verfasste Buch zu Jesus von Nazaret (!)
von Dorothee Sölle und Luise Schottroff aus dem Jahr 2000 (7. Aufl. 2010).
Alois Prinz ist in einer großen Familie in Niederbayern geboren worden. Er studierte in München Germanistik, Politologie, Philosophie und Kommunikationswissenschaften. Nach der Promotion arbeitete er als Journalist und veröffentlichte als freier
Autor u.a. Bücher über Franz Kafka, den Apostel Paulus und Georg Forster. Für sein
Buch über Hannah Arendt erhielt er 2001 den Evangelischen Buchpreis und für sein
Buch über Ulrike Meinhof 2004 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Prinz lebt mit
seiner Familie in Feldkirchen-Westerham am Stadtrand von München.
Der 1958 geborene Prinz geht nicht distanziert oder entlarvend mit dem bekannten
Stoff um, sondern unterhaltsam belehrend. Aber im Unterschied zu vielen thematisch
orientierten Fernsehsendungen wie z.B. Terra-X oder den thematischen Zeit- oder
Spiegel-Heften (auch über Jesus von Nazareth) spürt der Leser den persönlichen christlichen Glauben des Autors und das Bestreben, auch der kirchlichen Lehre gerecht zu
werden. Man lese nur die Erklärung der sperrigen Zweinaturenlehre, wie sie als „wahrer Mensch und wahrer Gott“ auf dem Konzil von Chalkedon formuliert worden ist.
Prinz reduziert nicht, sondern er interpretiert:
Er, der sich ‚Menschensohn’ nannte, hat vorgelebt, wie ein Dasein im absoluten
Vertrauen auf die göttliche Liebe aussehen kann. Dieses Leben bleibt für alle Zeiten
das Vorbild für alle, die dem ‚Menschensohn’ nachfolgen wollen. Nachfolge bedeutet
mithin, die innere Freiheit zu gewinnen, wie Jesus sie besaß, und die Mitmenschlichkeit zu praktizieren, wie er sie geübt hat. (S. 12 ff.)
Die dogmatische Formel, die „weniger eine Lösung als eine Aufgabe“ ist, diene dazu, den „ maßgebenden Menschen“ (Karl Jaspers) in paradoxer Weise zu beschreiben.
„Jesus ist somit das ,Dynamit’, das die Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt.“ (S. 16)
Ich kann das Buch auch denen empfehlen, die meinen, schon alles über Jesus zu
wissen. Den Bezug auf die neuesten archäologischen Funde kann ich allerdings nicht
beurteilen. „Betanien“ mit „Bootshausen“ zu übersetzen, ist zumindest gewöhnungsbedürftig. Allerdings kann man gut nachvollziehen, dass „Kafarnaum“ aus mehreren
„Wohninseln“ bestand: „kleine, aneinander gebaute Häuser, die durch enge Innenhöfe
44
REZENSIONEN
und Durchgänge verbunden waren“ ( S. 109). Dort wollen einige Archäologen auch das
Haus des Petrus gefunden habe, in das auch Jesus ein- und ausgegangen ist. Der „Bauhandwerker“ Josef dürfte Jesus die Errichtung solcher Häuser gelehrt haben, aber Jesus
ist zur Verwunderung seiner Familie lieber in die Synagoge gegangen, um sich mit den
Schriftgelehrten darüber zu streiten, was der Wille seines himmlischen Vaters ist. Es
geht ihm um das richtige Leben, um das Vertrauen auf Gott, den Vater.
Aber wieso musste „der liebevollste Mensch“ sterben? „Allmählich begannen (die
Jünger) die Worte Jesu zu verstehen und was es mit seinem Tod auf sich hatte.“ (S.
208) Auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus erzählen Kleopas und sein Freund
von Jesu Leben und Sterben. „Der Fremde“ bricht das Brot und gibt es seinen Begleitern. „Da plötzlich geht ihnen ein Licht auf. Sie erkennen Jesus. Aber im gleichen
Moment sehen sie ihn nicht mehr.“ Zurück in Jerusalem, sind die Emmausjünger angesichts der Verzagtheit von Petrus und den anderen Jüngern auf dem besten Weg, „hoffnungslose Realisten zu werden oder sogar Zyniker“. Der Erzähler Prinz gibt die christliche Antwort aus der Perspektive der ersten Männer und Frauen, die Jesus mit „brennendem Herzen“ suchen. Die Auferstehung Jesu ist ein „geistiges Erlebnis“, aber nicht
nur ein subjektives. Der Auferstandene wird von den Verfassern der Evangelien wie ein
Mensch aus Fleisch und Blut geschildert, der aber wie ein Geist auftauchen und verschwinden kann. […] Auferstehung ist an Bereitschaft und Offenheit gebunden, die zu
Glauben werden können.“ ( S. 218)
Etwa 25 Jahre später berichtet der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief von seinem
Glaubenserlebnis und dem der 500 anderen
Jünger. Zentral wird von nun an der Glaube,
dass die Menschen mit Gott versöhnt sind.
Oder mit Paul Tillich gesprochen, dass „der
Sieg der Neuen Wirklichkeit […] die Macht
des Neuen Seins ist“. Zum Schluss malt
Prinz dem Leser das Gemälde Verleumdung
des Petrus von Rembrandt vor Augen, auf
dem Jesu Blick an Petrus vorbei auf den Betrachter des Bildes fällt. „Nicht die Schuld
ist es, die ihn (den Betrachter wie Petrus)
zusammenbrechen lässt, sondern die Vergebung – und eine Tiefe der Liebe, die über
alle Vorstellungen hinausgeht“. ( S. 223)
Mit dieser tröstlichen Perspektive schließt
das Buch, das weit mehr ist als ein historischer Bericht über Jesus von Nazaret.
Prinz, Alois: Jesus von Nazaret. Stuttgart:
Gabriel, Thienemann 2013, 238 S., 16,50 €
(auch als eBook und 3 Audio CDs erhältlich; ISBN 352263036)
Rezensionen
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FRANZ-JOSEF PAYRHUBER
Aufgelesen – ausgelesen 1/2013
Bilderbuch
Der Katze geht es gut. Sie liegt auf ihrem Ast und genießt die Aussicht. Der Hund sitzt
angeleint am Baum und wartet auf seinen Herrn. Warum er das tut, versteht die Katze
nicht und fragt sich, warum er sich nicht losreißt und wegläuft. Wozu braucht er überhaupt einen Herrn? Sie selbst brauche jedenfalls keinen, meint sie. Aber es interessiert
sie doch, wie es bei den anderen Tieren ist, bei der klugen Eule zum Beispiel, dem
schlauen Fuchs, den Mäusen oder dem bunten Schmetterling. Eine Antwort bekommt
sie von ihnen jedoch nicht. Und der Behauptung der Motte, dass es einen „Herrn von
allen“ gibt, glaubt sie schon gar nicht. Sie begreift sie selbst dann nicht, als sie sich an
ihr selbst bestätigt: Ein Menschenkind befiehlt die Herumstreunende zurück ins Haus.
Die in vierzehn Episoden erzählte Fabel wirft große philosophische Fragen nach dem
Dasein auf, allen voran die existentielle Frage nach
der Freiheit. Beim (Vor-)Lesen und Betrachten können Erwachsene und Kinder darüber erkenntnisfördernd miteinander sprechen. Die Gestaltung des Buches leistet hierfür noch einen ganz eigenständigen,
wirkungsvollen Beitrag. Großflächige holz- bzw. linolschnittartige Schwarz-Weiß-Illustrationen und der
abwechselnd im Positiv- und Negativ-Verfahren gesetzte Text geben dem Buch sein besonderes Gepräge.
Bart Moeyaert: Wer ist hier der Chef? Mit Bildern
von Katrien Matthys. Aus dem Niederländischen von
Mirjam Pressler. München: Carl Hanser 2013. ISBN
978-3-446-24174-9. [ca. 64 S.] unpaginiert, 12,90 €.
Erzählungen und Romane
Ella und ihre sechs Freundinnen und Freunde sind auf den ersten Blick ganz normale
Zweitklässer, in Wahrheit aber richtet diese Clique mit unfreiwilliger Komik mancherlei Chaos an, obwohl sie es meist nur gut mit den anderen meint, zuallererst mit ihrem
Lehrer. Sechs Bände hat der Finne Timo Parvela, der selbst lange und gerne Lehrer
war, bevor er Schriftsteller wurde, mit heiter-absurden Geschichten aus dem Schulleben bisher gefüllt. Der hier nun vorliegende siebte Band der Reihe nennt schon im Titel
die Ursache neuer Verwicklungen. Eigentlich ist Paavo, der Neue in der Klasse, ja ganz
nett, aber er will in allem der Größte sein. Jetzt behauptet er auch noch, sein Vater sei
46
REZENSIONEN
ein berühmter Filmregisseur. Timo, einer aus Ellas Clique, nimmt ihm dies jedoch
nicht ab und wettet, dass er sich das nur ausgedacht hat. Der Einsatz ist das Kostbarste,
was die Kinder einander zu bieten haben: Ein Platz auf dem Felsen gegenüber dem
Haus ihres Lehrers. Paavo willigt ein, und so macht sich die Clique am Samstag vor
Vatertag – er findet in Finnland am zweiten Sonntag im November statt – auf den Weg
in die Stadt. Bereits die Bahnfahrt ist voller Überraschungen, sie ist aber nur der Auftakt einer Folge komisch-phantastischer Erlebnisse, die den Kindern in der Stadt widerfährt. Paavo ist plötzlich verschwunden, und die einzige Spur, die er hinterlässt, sind
die Vatertagskarten, die er in der Schule gebastelt hat. Wie auf einer Schnitzeljagd verfolgt ihn die Gruppe über mehrere Stationen, um ihn zuletzt in einem Fernsehstudio
wiederzufinden – zusammen mit seinem Vater. Anders als es bei einem Aufschneider
wie Paavo erwartbar wäre, zeigt er sich als Gewinner der
Wette aber sehr fair: Er wird den Platz auf dem Felsen
nicht allein beanspruchen, ihn vielmehr mit Timo teilen.
Der Lehrer als der gewissermaßen ‚natürliche’ Widerpart
der Schülergruppe und Auslöser vieler lustiger Begebenheiten kommt diesmal nur am Rande vor. Aber auch so
verfügt der Autor noch über reichlich Sprachwitz, Ironie
und Situationskomik, dass auch dieser Band vergnüglich
zu lesen ist.
Timo Parvela: Ella und der Neue in der Klasse. Aus
dem Finnischen von Anu und Nina Stohner. Mit Bildern
von Sabine Wilharm. München: Hanser 2012. ISBN 9783-446-24176-3. 160 S., 9,90 €.
Von einem Jungen, der neu in eine Klasse kommt, handelt auch die in Südafrika
spielende Erzählung Tommy Mütze. Der Spitzname „Mütze“ des Protagonisten deutet
darauf hin, dass er eine merkwürdige Schimütze trägt, die nur die Augen frei lässt und
die er weder im Unterricht noch beim Sport auszieht. Selbst die beiden Freunde Dumisani und Doogal, alias Doo-Dudes, die Leitfiguren der vierten Klasse, die sonst nie um
eine Idee verlegen sind, sind darüber erst einmal sprachlos. Aber nicht nur sie rätseln
über die Gründe für Tommys seltsame Kopfbedeckung, wilde Spekulationen machen
die Runde, und bald schon ist die ganze Schule in Aufruhr. Die Spannung steigt eine
Woche lang von Tag zu Tag, aber erst am Freitag lüftet sich das Geheimnis. Weil
Tommy wegen des mehrfachen Arbeitsplatzwechsels seines Vaters innerhalb kürzester
Zeit sieben Mal an verschiedenen Schulen „der Neue“ war und weil es seiner leidvollen Erfahrung nach „absolut tödlich“ ist, der Neue zu sein, „weil dich dann jeder anstarrt und hinter deinem Rücken flüstert und du dich ausgeschlossen und alleine fühlst“
(S. 75), kam er an seiner letzten Schule auf die Idee mit der Mütze – und die Wirkung
war „unglaublich“ (ebd.). Positiv! Tommy fühlte sich plötzlich nicht mehr so schrecklich „neu“. War die Überraschung der Klasse bei dieser Erklärung schon groß, so steigerte sie sich noch, als Tommy die Mütze abnahm und darunter Gesicht und Haarschopf eines Mädchens hervorkam. Sie heiße eigentlich Thomasina Karen, bekennt
dieses schuldbewusst, weil es die Verwechslung nicht von Anfang an aufgeklärt habe,
Rezensionen
47
aber ihre Familie nenne sie Tommy. Diese unerwartete
Wendung des Geschehens passt gut zu dem Gesamttenor
der Geschichte. Die heute in Botswana lebende Autorin,
die in ihrer Kindheit noch die Apartheid in Südafrika miterlebte, erzählt vergnüglich und spannend, und ihr engagiertes Plädoyer für Vielfalt und Toleranz überzeugt ob
seiner Unaufdringlichkeit.
Zu diesem Titel sind – unter www.baobabbooks.ch – kostenlose Unterrichtsmaterialien erhältlich.
Jenny Robson: Tommy Mütze. Eine Erzählung aus Südafrika. Aus dem Englischen von Barbara Brennwald. Basel: Baobab Books 2012. ISBN 978-3-905804-39-3. 84
S., 15,90 €.
Bei cbj München ist in diesem Frühjahr eine Neuausgabe von Willi Fährmanns Klassiker Jakob und seine Freunde erschienen. Mit neuen Illustrationen ausgestattet, im
Text ansonsten unverändert, handelt dieses Kinderbuch auf den ersten Blick von der
Dohle Jakob, im Eigentlichen aber ist es die Geschichte des kleinen Simon, der an Epilepsie erkrankt ist. Simon verfügt über ein ausgeprägtes Erzähltalent, und zu seinem
Repertoire gehören vor allem Dohlengeschichten, die durch die der Familie Goseweit
zugeflogene Dohle Jakob evoziert werden. Die Geschichten ebnen dem Jungen den
Weg zu seiner Mitschülerin Marie und deren Familie, begründen Freundschaft und Toleranz. Anfangs ist Simon eine Außenseiterfigur, bedingt durch seine Herkunft und seine Krankheit. Er ist mit seiner großen Familie aus Kasachstan gekommen, und in der
Schule wie in der Nachbarschaft gibt es viele Vorurteile gegenüber Aussiedlern. Simon
muss besonders leiden, weil er auch Epileptiker ist. Je besser sich die Kinder und ihre
Familien kennenlernen, um so mehr schwindet jedoch das Misstrauen. Maries Mutter
setzt sich schließlich dafür ein, dass der Junge in einer Klinik Hilfe findet und sich ihm
somit eine hoffnungsvolle Perspektive öffnet.
In Jakob und seine Freunde präsentiert der Meistererzähler Willi Fährmann nicht nur eine mitreißende Geschichte über Toleranz und Mitgefühl, das Buch hat auch
schon lange einen festen Platz, wenn man nach Büchern
zum Thema Epilepsie sucht. Bereits die bisherige Ausgabe enthielt ein informatives Interview über die Krankheit mit einem Facharzt, die Neuausgabe ist nun noch
um aktuelle Literaturhinweise, Internet-Links und das
Nachwort eines Heidelberger Neurologen „an die etwas
älteren Leser“ ergänzt.
Willi Fährmann: Jakob und seine Freunde. Mit Illustrationen von Daniela Chudzinski. München: cbj 2013
(cbj-Taschenbuch; 22377). ISBN 978-3-570-22377-2.
160 S., 5,99 €.
48
REZENSIONEN
Als die siebzehnjährige Allesandra ihre Mutter verliert und allein mit der Nonna, ihrer
Großmutter, zurückbleibt, entwickelt sie sich zu einer Einzelgängerin. Sie zieht sich zurück, selbst mit ihrer besten Freundin kann sie nicht mehr unbefangen reden. Die Lücke,
die ihre Mutter in ihrem Leben hinterlassen hat, ist zu groß, um einfach zum Alltag überzugehen. In ihrer Schulklasse sucht sich Alessandra einen neuen Platz in der letzten Reihe,
wo nichts und niemand ihre zerbrechlichen, zärtlich-schmerzhaften Erinnerungen stört,
schon gar nicht ihr schweigsamer Banknachbar Gabriele, genannt Zero. In dem scheinbaren Klassen-Loser, der sie ebenso ignoriert wie den Unterricht und nur vormittagelang auf
seinem Allzweckblock herumkritzelt, entdeckt sie jedoch bald einen begnadeten Zeichner
und erkennt, dass sich hinter seiner verschlossenen Miene sehr viel mehr Einfühlungsvermögen verbirgt als bei den meisten ihrer Mitschüler. Allmählich bricht das Eis zwischen
den beiden Außenseitern. Aus vorsichtiger Zuneigung entwickelt sich eine zarte Liebe, die
jedoch immer wieder erschüttert wird und an einem Missverständnis beinahe zerbrochen
wäre. Aber Gabriele hat, wie sich später herausstellt, nicht nur wegen Alessandra die Schule kurz vor dem Abitur verlassen und ist unbekannt verzogen, er wollte seinen eigenständigen Weg gehen. So ist er es auch, der aus der Ferne wieder den Kontakt zu ihr sucht: Er
schickt ihr jeden Monat eine Zeichnung.
Die Ich-Erzählerin Alessandra lässt ihre Leserinnen und Leser sehr unmittelbar an der
Erfahrung ihres unerträglichen, sie in ihrer Existenz
erschütternden Verlustes teilhaben und bezieht sie
ein in den Bann einer zarten, linkischen, vielleicht
unmöglichen Liebe. Die gewählte Form des Tagebuchs, die ja eigentlich sehr Intimem vorbehalten
ist, erweist sich dafür sehr angemessen. „Ich spüre,
wie du zugleich abwesend und gegenwärtig bist“,
schreibt Alessandra einmal in Erinnerung an die
Mutter. Es ist ein zentraler Satz, der auch auf ihre
Beziehung zu Gabriele passt und etwas von der Poesie erahnen lässt, die diesen lesenswerten Adoleszenzroman auszeichnet.
Paola Predicatori: Der Regen in deinem Zimmer. Roman. Aus dem Italienischen von Verena
von Koskull. Berlin: Aufbau 2012. ISBN 978-3351-03520-4. 238 S., 16,99 €.
Auch der Debütroman der Argentinierin Inés Garland Wie ein unsichtbares Band erzählt die
Geschichte eines Verlustes, diesmal ist es aber nicht der Tod der Mutter, der zu verkraften ist,
sondern der durch politische Gewalt verursachte Tod der ersten großen Liebe der IchErzählerin Alma. Der Roman spielt in Argentinien vor dem Hintergrund der aufkommenden
Militärdiktatur in den 1970er Jahren. Alma verbringt mit ihren Eltern jedes Wochenende auf
einer Insel in der Nähe von Buenos Aires. Nur ein Fluss trennt ihr Wochenendhaus von den
Häusern der Nachbarn. Ebenso wie das Land teilt er aber auch die Gesellschaft: Während
Alma unter der Woche eine katholische Privatschule in Buenos Aires besucht, leben die Ge-
Rezensionen
49
schwister Carmen und Marito bei ihrer Großmutter und ihren Onkeln, seitdem sie von ihren
Eltern verlassen wurden. Am Wochenende auf der Insel scheint die Welt noch in Ordnung
und die sozialen Unterschiede scheinen keine Rolle zu spielen. Doch die Kinder werden älter,
werden erwachsener und mit ihnen selbst wandelt sich auch ihre Freundschaft, zum einen in
Verrat, zum anderen in Liebe: Alma verliert Carmen, weil sie sich beim Fest einer reichen
Schulkameradin nicht zu ihr bekennt, und gleichzeitig findet sie in Marito ihre große Liebe.
Durch den Militärputsch 1976 werden die Freunde endgültig aus dem Paradies ihrer
Kindheit vertrieben. Mit großem erzählerischen Geschick verbindet die Autorin die
Einzelschicksale ihrer Protagonisten mit dem historischen Geschehen. Weil sie aber
konsequent die Perspektive der siebzehnjährigen Alma beibehält, die durch ihr soziales
Umfeld und insbesondere durch ihre Eltern von der harten Realität des Terrors abgeschirmt ist, werden die damaligen politischen Ereignisse in Argentinien nur als Hintergrund angedeutet. Die Gründe, warum Marito nach der ersten und einzigen Liebesnacht mit Alma spurlos verschwindet, und warum die schwangere Carmen plötzlich
Unterschlupf bei ihr sucht, lassen sich nur erahnen. Zusammen mit der Ich-Erzählerin
erfahren die Leserinnen und Leser aber doch, dass nicht nur Carmens Onkel und Carmen selbst zu Gewaltopfern wurden, sondern auch Marito von den Schergen der Militärdiktatur misshandelt, verschleppt und ermordet wurde.
Mit beeindruckender sprachlicher Präzision und psychologischer Sensibilität schildert die Autorin eine Kindheit und Adoleszenz unter besonderen historischen Bedingungen. Der Schauplatz am Fluss gewinnt dabei symbolische Bedeutung: Vor der Flut,
die die Häuser immer wieder heimsucht schützen sich die Menschen, indem sie ihre
Häuser auf Pfähle stellen. Das legt die Frage nahe, ob sie sich auch vor den Folgen des
Militärputsches hätten schützen können, etwa durch rechtzeitiges Hin- statt Wegschauen. Die Autorin tut aber gut daran, die Antwort offen zu lassen und auf Schuldzuweisungen zu verzichten.
Der Epilog gewährt einen vorsichtig positiven
Ausblick. 30 Jahre später kommen die überlebenden
Freunde und Angehörige mit Carmens Sohn Ariel zusammen, um mit ihm Erinnerungsarbeit zu leisten. Sie
treffen sich, um „das Leben [zu] feiern“. In den Worten der Ich-Erzählerin: „Ich will feiern, dass es die
Liebe zwischen Carmen, Marito und mir gegeben hat.
Ich will feiern, dass wir Ariel gefunden haben.“ (S.
248)
Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band. Aus
dem argentinischen Spanisch von Ilse Layer.
Frankfurt a.M.: Fischer KJB 2013. ISBN 978-3596-85489-9. 252 S., 14,99 €.
Argentinien ist auch Schauplatz in Jürgen Seidels spannendem Roman Das Paradies der
Täter. Er ist der dritte Teil einer offen angelegten Trilogie, zu der noch Blumen für den
Führer (2010) und Die Unschuldigen (2012) gehören und die insgesamt das ‚Dritte Reich’
50
REZENSIONEN
aus deutscher, jugendlicher Tätersicht beleuchtet. Fragen der Mitschuld und des Mitläufertums werden so aus ganz verschiedenen historischen Perspektiven angegangen.
„Paradies der Sieger“, so nannten die aus Nazi-Deutschland Getürmten ihren neuen
komfortablen Lebensraum in Südamerika zynisch unter sich. Und sie maßten sich an,
auch hier, im Argentinien der 1950er Jahre, die ebenfalls nach Südamerika geflohenen
Juden weiter beherrschen und verfolgen zu können. Der Roman zeigt dies in authentischer Realistik am Beispiel des Collegio Friedrich, einer deutschen Schule in La Plata,
an der Kinder aus jüdischen Emigrantenfamilien zusammen mit Kindern von Naziverbrechern lernen. Unter den zutiefst verfeindeten Gruppen. herrscht eine explosive
Stimmung. Der Protagonist und Ich-Erzähler Tom, der 17jährige Sohn eines untergetauchten Nazis, kommt neu an die Schule, und noch bevor er den anderen klar machen
kann, wer er ist, begegnet er dem jüdischen Mädchen Walli und verliebt sich in sie. Aus Liebe – und
aus Scham – und auch aus Rebellion gegen seinen
Vater verschweigt Tom seinen wahren Familienhintergrund und behauptet, auch er sei Jude. Es ist eine
unvorstellbare Lüge, die schnell zu fatalen Konflikten führt, in der Hass, Gewalt, eine Entführung und
sogar ein Mord das Geschehen bestimmen. Im
Kern kreist die Handlung um zwei Pole: Um die
Auseinandersetzung Toms mit seinem Vater um
dessen Vergangenheit und um seine Liebe zu Walli.
Dass diese alle Erschütterungen übersteht und auch
in die Zukunft hinein reicht, ist die tragende Botschaft des Romans.
Jürgen Seidel: Das Paradies der Täter. München:
cbj 2013. ISBN 978-3-570-15577-6. 398 S., 16,99 €.
Paradiessucher ist das Romandebüt der 1969 als Rena Zednikova im mährischen
Städtchen Prostĕjev geborenen Schauspielerin und Autorin Rena Dumont. Sie erzählt
erkennbar autobiographisch über die Flucht der siebzehnjährigen Lenka im Jahr 1986
aus der ehemaligen Tschechoslowakei nach Bayern. Das Mädchen träumt schon lange
davon, mit ihrer Mutter in den Westen zu gehen. Sie hat genug von dem bornierten Leben in ihrer Kleinstadt. Sie möchte Schauspielerin werden, was man ihr zweimal verwehrt hat, möchte endlich frei sein und sich nicht mehr wegducken müssen, möchte
sagen, was sie will, fahren, wohin sie will, kaufen können, was ihr gefällt. Als sie und
ihre Mutter ein Visum für zwei Wochen Deutschlandurlaub erhalten, ist das die große
Chance. Doch wie schwer eine solche Entscheidung ist, merkt die Protagonistin und
Ich-Erzählerin Lenka, als es ernst wird. Die Heimat, ihre erste Liebe, ihre Freundinnen
und alle Verwandten zurückzulassen, bedeutet eine radikale Veränderung ihres Lebens.
Das fremde Land macht es ihr auch nicht leicht. Gelandet im bayerischen Königssee,
genießt Lenka zwar die zum Wunschtraum gewordenen Konsumgüter, aber der Aufenthalt im überfüllten und gettoisierten Asylbewerberheim macht ihr große Probleme,
zudem wird ihre Mutter krank und dazu noch erschweren die Sprachbarrieren die Ori-
Rezensionen
51
entierung in der für sie neuen Welt. Aber eins steht dennoch fest: Zurück können sie
nicht. Und dank ihres Selbstbehauptungswillens macht Lenka schließlich den entscheidenden Schritt, um der Asyl-Tristesse zu entkommen: Sie wendet sich an die Behörden
und setzt durch, an eine deutsche Schule gehen zu dürfen. Nach acht langen Monaten
erhalten sie und ihre Mutter dann Asyl und können ein neues Leben beginnen.
Bemerkenswert an diesem Roman ist, dass er nicht noch
eine der inzwischen reichlich vorhandenen Ost-WestGeschichten erzählt, die durchaus authentisch geschilderte
politisch-historische Situation bildet vielmehr den Hintergrund für die Geschichte eines Erwachsenwerdens. Direkt
in der Ausdrucksweise, locker im Ton, ohne aber zum Jargon abzugleiten, witzig und doch ernsthaft schreibt die
Autorin von der schwierigen Phase eines jungen Mädchens, unter Ausnahmebedingungen zu sich selbst zu finden und in ein anderes Leben aufzubrechen. Ein lesenswertes Buch für Jugendliche und Erwachsene.
Rena Dümont: Paradiessucher. Roman. München: Carl
Hanser 2013. ISBN 978-3-446-24164-0. 303 S., 14,90 €.
„Die Bücher mit dem blauen Band“ sind immer etwas Besonderes. Sie sind sehr sorgfältig hergestellt und versprechen anspruchsvolle und interessante Leseerlebnisse. Im
vorliegenden Roman Die Scanner präsentiert der unter einem Pseudonym schreibende
Autor Martin Schäuble seinen Leserinnen und Lesern eine nachdenklich stimmende
Dystopie. Gedruckte Bücher, Zeitungen und Zeitschriften gibt es in dieser im Jahr
2035 spielenden Zukunftsvision nicht mehr. Für den Protagonisten Rob ist das kein
großes Problem. Er ist in einer vernetzten Welt aufgewachsen und kennt es nicht anders. Er arbeitet als Buchagent für die Scan AG, einen Megakonzern, der jedes noch
existierende Druckerzeugnis, dessen er habhaft werden kann, einzieht, digitalisiert und
damit vernichtet. Alles Wissen soll so jederzeit und kostenlos für alle zugänglich sein.
Aber dann gerät Rob in die Kreise einer geheimen Büchergilde, einer verbotenen Organisation von Pleite gegangenen Buchhändlern, arbeitslosen Autoren, Übersetzern, Journalisten und entlassenen Verlagsmitarbeitern. Und allmählich bekommt Robs
gefestigt scheinendes Weltbild Risse. Auf einmal ist gar
nichts mehr so einfach, wie er gedacht hatte. Als Rob
sich das eingesteht und nach Antworten sucht, sieht er
sein Bild plötzlich als Top-Terrorist in den Nachrichten
auf allen Fernsehkanälen. Im Kampf um Wissen, Monopolisierung und Macht ist er mit einem Mal Staatsfeind
Nummer eins. Dank der Widerstandstrategien der geheimen Gilde wird er jedoch gerettet, allerdings zu dem
Preis der Gegenleistung, dass er alle seine Erfahrungen
aufschreibt – in einem Buch!
Der Roman Die Scanner ist ein hellsichtiger Kommen-
REZENSIONEN
52
tar zum globalen Digitalisierungswahn unserer Tage, der durch die aktuellen Spionagefälle einen unfreiwilligen Wirklichkeitsbezug bekommt.
Robert M. Sonntag: Die Scanner. Frankfurt a.M.: Fischer KJB 2013 (Die Bücher mit
dem blauen Band). ISBN 978-3-596-85537-7. 190 S., 12,99 €.
Autobiographische Erinnerungen
Im Oktober 1941 begegnet Jacqueline van Maarsen (geb. 1929) auf dem jüdischen Lyzeum in Amsterdam Anne Frank. Sie sind schon bald unzertrennliche beste Freundinnen, machen zusammen Hausaufgaben, lesen dieselben Bücher, übernachten beieinander, tauschen Geheimnisse aus, spielen zusammen. Ihre Freundschaft endet abrupt, als
Anne im Juli 1942 auf einmal nicht mehr da ist. Trotz des Verlustes ist Jacqueline beruhigt, denn sie glaubt, dass die Familie Frank in die Schweiz ausgereist und so den
Verfolgungen der nationalsozialistischen Besatzer entkommen ist. Tatsächlich hatte
sich das jüdische Mädchen mit seiner Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus verstecken müssen. Durch ihr Tagebuch, das sie dort schrieb, ist Anne Frank Symbolfigur
für die Vernichtungspolitik der Nazis geworden.
Erst nach dem Krieg berichtet Annes Vater Otto Frank, der überlebt hatte, Jacqueline
vom Schicksal ihrer Freundin. Von einem Denunzianten verraten, wurde die Familie
nach Auschwitz deportiert. Die Mutter starb dort, Anne und ihre Schwester Margit
überlebten zunächst, nach der Überstellung ins KZ Bergen-Belsen starben sie aber kurz
vor Kriegsende nder an Typhus. Anne war gerade sechzehn Jahre alt geworden.
In ihrem Erinnerungsbuch vermittelt die Zeitzeugin einfühlsam, berührend und authentisch, was es bedeutete, Opfer des Holocaust zu sein. Sie stellt jedoch nicht lediglich
das inzwischen vielfach beschriebene Schicksal Anne Franks ein weiteres Mal dar,
konzentriert sich vielmehr auf die Schilderung ihres einzigartigen Verhältnisses zu ihr,
das auch im Tagebuch dokumentiert ist: Unter dem Decknamen „Jopie“ ist sie eine
zentrale Figur in der ersten veröffentlichen Fassung von Annes Aufzeichnungen. Jacqueline van Maarsen bindet ihre Freundschaft zu Anne Frank aber in ihre eigene Familiengeschichte ein, die von eigenem Gewicht ist. Sie
ist die Tochter eines niederländischen Juden und einer
französischen Katholikin. Der Courage ihrer Mutter
ist es zu verdanken, dass sie und ihre Schwester von
der Deportationsliste gestrichen wurden und dass
auch ihr Vater gerettet werden konnte. Die Schilderungen der Segregationen der deutschen Besatzungsmacht in Holland und der kriegsbedingten Zerstörungen zeichnen ein eindrucksvolles Warnbild vor menschenverachtender und menschenvernichtender Gewaltherrschaft.
Jacqueline van Maarsen: „Deine beste Freundin Anne Frank.“ Erinnerungen an den Krieg und eine besondere Freundschaft. Aus dem Niederländischen von
Mirjam Pressler. Frankfurt a.M.: Fischer KJB 2013.
ISBN 978-3-596-85541-4. 200 S., 12,99 €.
Rezensionen
53
REINER NEUBERT
Erinnerungsorte. Land und Dorfleben im Spiegel
literarischer Zeugnisse der DDR
Zu einer Studie von Barbara Schubert-Felmy
Es tut sehr wohl, wenn man bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR einmal nicht
sofort mit der Vokabel ‚Unrechtsstaat’, mit der alles unterwandernden Stasi oder mit dem
dort angeblich beständig wirkenden ideologischen Holzhammer konfrontiert wird.
Hingegen liest man im Vorspann zwei aktuelle und recht positive Lesermeinungen zu den
hier analysierten und wertgeschätzten literarischen Kunstwerken der DDR, die 23 Jahre
nach der sog. Wende verschämt aus der Schublade geholt werden, um sie heute für die
Schule oder Hochschule als Zeugnisse des seinerzeit gestalteten realen Lebens jener vierzig
Jahre Existenz vorzuschlagen und zu interpretieren. Im Vorwort spricht die Autorin von
bislang unliebsamer Missachtung dieses Gegenstandes, dem man sich eben nicht nur und
ausschließlich unter politischen Fragestellungen widmen dürfe und solle.
Barbara Schubert-Felmy hat sich dabei einige literarische Texte ausgesucht, die
erstens das Leben auf dem Lande des Ostens in seiner Vielfalt einzufangen versuchten,
zweitens weithin bekannt waren und sich drittens als „Erinnerungsorte“ in das
Gedächtnis der Bevölkerung eingebrannt hätten, aber: „Nicht nur landwirtschaftliche
Flächen liegen brach, manchen der dort Lebenden wurde die Identität genommen.“ (S.
8) Dass die Literatur der DDR ebenda allgegenwärtig und das Land ein „Leseland“ war
und dass mittels Literatur eben nicht nur parteipolitische Vorgaben abgearbeitet worden
sind, sondern wirksam humanistisch erzogen werden konnte (S. 10), wurde in den
letzten Jahren häufig geleugnet. Umso erstaunlicher ist es, plötzlich von ästhetischem
Anspruch, literarischem Niveau, hohem Bekanntheitsgrad jener Spezies zu lesen (S.
12), die hier für Schule und Hochschule als Erinnerungsorte aufbereitet werden, um
Geschichte konkret und emotional nachvollziehbar werden zu lassen. Für mich persönlich ist das ein einschneidendes Erlebnis, zumal ich einige Bücher als Schulkind las,
andere als Student und die meisten von ihnen in der Lehre ‚benutzte’, um sie Lehramtsstudenten im Fach Deutsch schmackhaft zu machen.
Dass Erwin Strittmatters Titel dabei einen breiten Raum einnehmen, ist mehr als gerecht, denn er war wirklich einer der renommiertesten DDR-Autoren. Seine Bücher
erzielten hohe Auflagen, aber heute spiele er beim Studium der Germanisten kaum eine
Rolle (S. 19). Zwar wurde er in über vierzig Sprachen übersetzt, aber, wie er selbst
einmal nach 1990 anmerkte, nicht in die westdeutsche. Hier werden nun Tinko (1954),
Pony Pedro (1959) und Ole Bienkopp (1963) analysiert, die neben anderen Texten von
ihm auch Schullektüre waren, verfilmt wurden und so eben allgegenwärtig waren.
Schubert-Felmy untersucht, nachdem wenige biografische Fakten eingestreut werden,
54
REZENSIONEN
das jeweils originell dargestellte dörfliche Leben, die Romanstruktur, die Figurenkonstellation und Erzählweise, um bei den drei ausgewählten Titeln zur Erkenntnis zu
gelangen, dass es Strittmatter gelungen sei, eine intensive Lebensnähe gestaltet, eine
eigene, nicht abgegriffene Sprache mit vielen bildhaften Wendungen benutzt zu haben
und somit die Lektüre noch heute empfehlenswert sei (S. 30). Die Analyse erfolgt
sorgsam, differenziert, und vor allem die Interpretation des innewohnenden kritischen
Potenzials der eingesetzten sprachlichen Mittel überzeugt, so dass die Bandbreite des
Komischen vom Humor über die Ironie, Satire bis hin zur Groteske nachgewiesen
werden kann. Einiges aus der einschlägigen Sekundärliteratur sowohl aus der DDR als
auch aus der BRD wird nicht nur angemerkt, sondern diskutiert. So kann vorgeführt
werden, dass jene Titel sowohl „Bestandteil des kommunikativen und kulturellen
Gedächtnisses“ im Osten wurden und der „Orientierung über das Land- und Dorfleben
in der SBZ und DDR“ (S. 54) dienen konnten. Die sich anschließenden didaktischen
und methodischen Überlegungen zu jenen Büchern damals und heute enden mit
hilfreichen Vorschlägen, die ästhetischen Besonderheiten und die spezifischen Inhalte
zumindest punktuell mit neuem Leben zu erfüllen, wenngleich mir die angedeuteten
Vergleiche mit anderen Autoren etwas fragwürdig erscheinen.
In der Folge werden noch Alfred Wellms Kaule (1962) und Morisco (1987), Helmut
Sakowskis Daniel Druskat (1976), Benno Pludras Insel der Schwäne (1980), Volker
Brauns Bodenloser Satz (1988) sowie Christa Wolfs Sommerstück (1989) auf ähnliche
Weise aufgebrochen, um sich in o. a. Weise an sie erinnern zu können. Neue Quellen
werden sinnfällig befragt. So erhält der Leser nicht nur einen Eindruck von den unterschiedlichen Handschriften, sondern gleichsam einen Überblick über das Leben und
die Arbeit auf dem Lande in der DDR von der Bodenreform bis zur Kollektivierung der
Landwirtschaft, was mitunter sehr kritisch inszeniert worden war. Dass dabei die Verfilmungen stets einbezogen werden, erleichtert zwar die (anschauliche) Arbeit mit dem
Gegenstand, könnte jedoch die konkrete Beschäftigung mit dem Text einschränken:
mich verzückt manch eine Seite der Lektüre bspw. von Strittmatter noch heute.
Wünschenswert wäre gewesen, nicht nur das Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR von 1945 bis 1990 (hrsg. von Steinlein, Strobel, Kramer; Stuttgart:
Metzler 2006) einzubeziehen, sondern auch die umfangreichen Aufsätze des Lexikons
Kinder- und Jugendliteratur (Meitingen: Corian-Verlag), die
in Ergänzungslieferungen vervollständigt werden. Dort hatte
ich mir z.B. vorgenommen, insbesondere bekannte Jugendbuchautoren der DDR-Literatur vor der Vergessenheit zu
bewahren, was ich von 1999 bis 2012 versuchte (Artikel zu
Holtz-Baumert, Brězan, Saalmann, Koch, Schlott, Spillner,
Nowotny, Sakowski, Hüttner). Dort liegt noch mancher
Schatz vergraben.
Barbara Schubert-Felmy: Erinnerungsorte. Land und
Dorfleben im Spiegel literarischer Zeugnisse der DDR.
Analysen für Schule und Hochschule. Baltmannsweiler:
Schneider Verlag Hohengehren 2012. 186 S.
Rezensionen
55
BERNHARD MEIER
Kennst du die Brüder Grimm?
Zu einem Buch von Kurt Franz und Claudia Maria Pecher
Dass in Bertuchs erfolgreicher Reihe Weltliteratur für junge Leser auch die Brüder
Grimm vertreten sein würden, war selbstverständlich, denn die weltweite Verbreitung
und Bedeutung ihrer Kinder- und Hausmärchen mutet selbst wie ein Märchen an. Sind
diese doch in etwa 170 Sprachen übersetzt und somit ein Klassiker der Weltliteratur par
excellence. Und dass der Band Kennst du die Brüder Grimm? von Kurt Franz und
Claudia Maria Pecher im Jahre 2012 kurz vor Weihnachten erschien, hat schon auch
einen tieferen Sinn, erlebte doch der erste Band der Kinder- und Hausmärchen kurz vor
Weihnachten 1812 seine erste Auflage, um allmählich, zusammen mit dem zweiten
Band 1815 und in immer stärker veränderter Form, seinen Siegeszug anzutreten.
Dem Buch Kennst du die Brüder Grimm? liegt dieselbe Grundkonzeption zugrunde
wie den anderen Bänden der Reihe: in die einführenden und darstellenden Texte (im
Kursivdruck) sind – teilweise längere – Quellentexte (im Normaldruck, recte), Ausschnitte aus Werken, eigenen Briefen und solchen von Zeitgenossen u.a., integriert, so
dass sich das umfassende Lebensbild sehr authentisch liest. In diesem Fall standen
allerdings die Autoren vor größeren Problemen, denn sie mussten das Leben von zwei
Personen mit ihrem großen Familien- und Bekanntenkreis und ein besonders vielschichtiges Werk zweier Wissenschaftler, Sammler und Schriftsteller veranschaulichen.
Auch wenn die Märchen der Brüder Grimm den Schwerpunkt bilden, so war es gerade
hier nicht leicht, die Intentionen, die Sammeltätigkeit und die lebenslange Arbeit an
den Märchentexten und den zahlreichen Neuausgaben einsichtig zu machen.
Dies alles gelingt den Autoren in hervorragender Weise. Sie gehen zunächst von der
einzigartigen lebenslangen Verbundenheit Jacobs und Wilhelms aus, um dann ihre
einzelnen Lebensstationen weiter zu verfolgen: die Kindheit und Schulzeit in Hanau,
Steinau und Kassel, ihre Studienzeit in Marburg, wo sie immer stärker von den romantischen Strömungen der Zeit erfasst wurden. Zentrale Kapitel beschäftigen sich mit den
Einflüssen im Einzelnen durch Achim von Arnim, Clemens Brentano und Philipp Otto
Runge und schließlich mit der ersten Edition ihrer Kinder- und Hausmärchen
1812/1815. Der längste Abschnitt widmet sich bewusst der weiteren Entwicklung der
Märchentexte, die erst durch jahrzehntelange Veränderungen, vor allem durch den
jüngeren Bruder Wilhelm, zu der Form gelangt sind, in der sie uns noch heute vor
allem begegnen und in der sie uns zum vertrauten Literaturgut von klein an werden.
Schon hier zeigt sich, wie anschaulich und nützlich es für den Leser ist, dass ihm
nicht nur ganze typische Märchen vorgestellt werden, sondern auch vergleichende
56
REZENSIONEN
Textausschnitte, die diesen Veränderungsprozess exemplarisch verdeutlichen, z.B. aus
dem Froschkönig oder aus Rapunzel. Diese Methode wird durchgehend beibehalten, so
dass ein unglaublicher Schaffensprozess nachvollzogen werden kann. Dies gilt nicht
nur für die zweibändige Sammlung Deutsche Sagen (1816/1818), sondern auch –
natürlich manchmal nur skizzenhaft – für das weitere einzigartige Lebenswerk der
beiden Brüder, die immerhin die Urväter der Germanistik in Deutschland sind.
Dass die Brüder, vor allem Jacob, auch politisch tätig waren, wird mit Recht in
eigenen Passagen hervorgehoben. So erhoben sie im Verbund der sogenannten
„Göttinger Sieben“ nicht nur Einspruch gegen einen verfassungsrechtlichen Willkürakt
des Königs, was einen folgenreichen „Wetterstrahl“ nach sich zog, sie waren überhaupt
an Demokratisierungsprozessen in Deutschland beteiligt, vor allem in der Paulskirche.
Schließlich wird auch auf ihr sprachwissenschaftliches Hauptwerk, die Begründung
des Deutsche Wörterbuchs auf ihrer letzten längeren Lebensstation in Berlin, eingegangen.
Besonders dankbar muss man auch für das letzte Kapitel, „Faszination Märchen –
weltweit“, sein, denn jetzt erfährt der Leser in einem bunten Kaleidoskop, in welchem
Ausmaß und in welchen Formen die Kinder- und Hausmärchen seit 200 Jahren ihre
Spuren hinterlassen, ob auf Briefmarken und Münzen, in unzähligen Ausgaben und
Bearbeitungen, in Bilderbüchern und vielfältigsten Illustrationen, in der Musik, in der
Erzählkultur oder in allen denkbaren medialen Ausprägungen.
Der angehängte biographische Überblick kann der näheren Orientierung dienen,
und die Quellenangaben sowie das Literaturverzeichnis lassen den Umfang des
zugrundegelegten Materials erkennen. Die ausgezeichnet gestaltete Einband mit dem
Doppelporträt der Brüder Grimm reizt zum Lesen, stammt er doch von dem bekannten
Künstler und Grimm-Spezialisten Albert Schindehütte. Mit den eingängigen Darstellungstexten, den zahlreichen abwechslungsreichen Originalzitaten und den durchgehend eingefügten Bildern (Skizzen, Gemälde, Fotographien
u.a.) ist den Verfassern ein spannendes Buch
gelungen, das sich primär an „junge Leser“ (ab 14
Jahren) wendet, das aber generell jedem interessierten Erwachsenen zu empfehlen ist, denn die
Welt der Brüder Grimm und ihrer Märchen erschließt sich hier auf eine unvergleichliche Weise.
Kurt Franz / Claudia Maria Pecher: Kennst du die
Brüder Grimm? Texte von Jacob und Wilhelm
Grimm für junge Leser ausgewählt und vorgestellt.
Weimar: Bertuch Verlag 2012 (Bertuchs Weltliteratur
für junge Leser; Bd. 13). 117 S.; 14,80 €; ISBN 9783-86397-004-8
Rezensionen
57
KURT FRANZ
Volkskultur – anschaulich, unterhaltsam, informativ
Zu einem Buch von Albert Bichler
Der ausgewiesenen Kenner der bayerischen Volkskultur Albert Bichler hat sich in
einem sehr ansprechend gestalteten Buch erneut mit Festen und Bräuchen in Bayern
beschäftigt. Vorausgegangen waren schon Titel wie Wallfahrten in Bayern (2. Aufl.
2010), Damals auf dem Lande (aktual. Neuaufl. 2012), Freunde im Himmel – Mit
bayerischen Heiligen durchs Jahr (2009) oder Wie’s in Bayern der Brauch ist (4. Aufl.
2006), die teilweise in mehreren Auflagen erschienen sind. Im vorliegenden Buch, das
mit etwa 120 Fotos der bekannten Fotografen Lisa und Wilfried Bahnmüller
ausgestattet ist, regt schon die reiche Illustrierung zum Schmökern und zum Genießen
an. Und das gilt natürlich ebenso für das ansprechende Layout und vor allem für die
informative und gewandte Textgestaltung.
Albert Bichler lässt den Leser durch die zwölf Monate des Jahres mitreisen und die
wichtigsten Bräuche und Feste, vor allem kirchliche, miterleben, denn diese „bringen
Farbe in unseren Alltag, in unser Leben, sie schaffen Höhepunkte, durchbrechen die
Eintönigkeit und schaffen dadurch eine Rhythmisierung, den notwendigen Wechsel
von Zeiten der Arbeit und der Muße. Sie begleiten uns durch das Jahr, sie strukturieren
die Zeit […]. Das unterscheidet Bräuche von Folkloreveanstaltungen.“ (Vorwort)
Dieses Buch, das im weitesten Sinn Heimatbewusstsein schaffen und bewahren will,
bringt in seiner Mannigfaltigkeit dem Leser ebenso viel Abwechslung, obwohl die
einzelnen Kapitel, d.h. Monate, durchgehend nach einem bestimmten Schema
konzipiert sind, was wiederum dem Leser Sicherheit verleiht, ihm einen guten
Überblick und leichtes Nachschlagen ermöglicht.
Der Autor gibt zunächst jeweils Auskunft über den betreffenden Monat, erklärt den
Namen, seine Stellung im Kalender und geht auf Besonderheiten ein. Daneben findet
sich jeweils das einschlägige Bild aus dem Monatszyklus von Stephan Kessler (1672),
aus dem ehemaligen Kloster Benediktbeuern. Neben wichtigen Namenstagen sind
einige markante Bauern- und Wetterregeln aufgeführt. Dann wird es freilich bunt und
abwechslungsreich, wie es eben das bayerische Volksleben ist. Wird im Januar-Kapitel
auf den Kalender allgemein, auf die Heiligen Drei Könige, die Sternsinger, auf das
Winteraustreiben mit „Goaßln“, den Pestpatron Sebastian und auf das winterliche
Treiben auf dem Dorfweiher eingegangen, so Mai auf den Tanz in den Mai, im Juli auf
die vierzehn Nothelfer – ebenfalls ein Spezialgebiet von Bichler –, die Äbtissin
Irmengard von Frauenchiemsee, die Landshuter Fürstenhochzeit und auf alte
Flurdenkmale am Weg. Der letzte Punkt zeigt schon, dass es der Autor versteht, auch
jahreszeitenunabhängige Aspekte mit einzufügen. Die Schwerpunkte mit Feiern und
REZENSIONEN
58
Bräuchen liegen naturgemäß um Ostern (April) und
Weihnachten (Dezember). Aber auch sonst werden
keine typisch bayerischen Höhepunkte ausgelassen,
wie die Wallfahrt nach Altötting, die Kerzenwallfahrt zum Bogenberg, das Passionsspiel in Oberammergau und andernorts, der Kötztinger Pfingstritt oder das Oktoberfest.
So erlebt der Leser auf anschaulichste und
unterhaltsame Weise Volkskultur in all ihren
Facetten. Ein Buch, das einen weiten Leserkreis
verdient hat!
Albert Bichler: Feste und Bräuche in Bayern im
Jahreslauf. Mit Fotos von Lisa und Wilfried
Bahnmüller. München: J. Berg Verlag 2013. ISBN
978-3-86246-010-6. 144 S., 19.95 €.
HANS GÄRTNER
Wovon Autoren träumen
Ein „Lesebuch“ von Petra Hartmann und Monika Fuchs
Ich geb ja gerne zu, einer von den 57 Textliefernden für dieses stramme, einmalige
Lesebuch zu sein, das den Traumtitel zu Recht und nicht von ungefähr trägt. Mein
Beitrag heißt „Ja nun“. Ich schicke voller Ehrgeiz, mich gedruckt zu sehen, ein Huhn
mit seinem (quasi: meinem) Manuskript auf Türklopftour – wohin? Natürlich zu
Verlagen. Sie sind es ja, ohne die ein Autor kein Autor ist. Der eine lehnt ab, der andere
… Ja nun. Ein Huhn hat`s nicht leicht und stöhnt und ächzt. Am Ende klappt`s dann
doch noch, mit dem Gedruckt-werden. Wenn auch nicht voll und ganz, es genügt ja
schon in Teilen. Jeder fängt mal klein an. Muss ja nicht gleich die ganze Chose
losgehen. Man(n) ist ja schon mit dem Bisschen zufrieden.
So wie ich sehen das auch viele der anderen Autorinnen und Autoren, die es mit mir
schafften, aus mehr als 300 Manuskript-Zusendungen an die Hildesheimer Verlegerin
Monika Fuchs, die den Autorenträume-Wettbewerb in Form einer „literarischen
Umfrage“ ausschrieb, ausgewählt worden zu sein. Jede Einsendung konnte nicht
berücksichtigt werden – sonst wär ja ein Schinken, Ziegelstein draus geworden, der
unverkäuflich und unverdaulich zugleich gewesen wäre. Immer schön schlank bleiben.
Das Buch ist dennoch dick und rund genug, so wie es da liegt und in seiner ganzen
prachtvollen Umfänglichkeit einlädt, darin zu blättern und zu schmökern, mal vorne,
mal hinten, mal mittig. Kein Buch, das man von Seite 1 bis zum letzten Buchstaben
Rezensionen
59
liest. Man wählt aus. Delektiert sich an „traumhaften“ Autorenwünschen, an
Autorensehnsüchten, an Autorenjammer gelegentlich auch, oft sogar an Autorenhochgefühlen, auf jeden Fall an Autorenerlebnissen der Zustimmung und Ablehnung, der
qualvollen Arbeit des Schreibens ebenso wie der befriedigenden Sortierung und
Niederlegung von Gedanken – selten in lyrischer Form, meist in Prosa.
Das ist ein Buch, welches , bei tausend Möglichkeiten, hinter die Kulissen des
Schreiballtags zu blicken, in allererster Linie die im Titel Angesprochenen angeht und
– weiterbringt. In der Tat steckt in manchem dieser schönen, von Petra Hartmann
jeweils ganz wunderbar leichtfüßig und gescheit eingeführten Texte ein potentieller
Literaturpreisträger. Jedem Text folgen ein paar Zeilen zum Verfasser.
Übers lustvolle Zustandebringen von Texten, kleinen Gedichten oder ganzen
Büchern, ist in diesem Lesebuch viel zu erfahren. Über Nöte beim Anfangen. Über
Unsicherheiten beim Enden. Über Höhen und Tiefen, die ein schreibender Mensch
durchschreitet, der etwas zu erzählen hat. Eitel Wonnen sind das nicht immer.
Die Krux beim Schreiben ist ja, dass man selbiges meist nicht als Broterwerb in
sein Leben installiert. Ein kleines Zubrot ist es oft, was den Autor freut, na klar. Ein
Otfried Preußler ist keiner so schnell. Von der Sorte, die es auf mehrere Millionen
verkaufter Exemplare gebracht haben, gibt`s auf der Welt vielleicht hundert. Die leben,
oft nicht schlecht, manchmal sogar in Saus und Braus, vom Erlös ihrer Romane, Kochund Kinderbücher, Reiseberichte und sofort, in den seltensten Fällen: von ihren
lyrischen Ergüssen. Auch davon ist in diesem Lesebuch, ganz viel, die Rede.
Dr. Tanja Kinkel, die ein Geleitwort beigesteuert hat, ist nicht nur eine renommierte
Autorin, sie ist auch Schirmherrin der Bundesstiftung Kinderhospiz und rief 1992 die
Kinderhilfsorganisation „Brot und Bücher e. V.“ ins Leben. Von jedem verkauften
Autorenträume-Exemplar geht 1 Euro an dieses Hilfswerk. Eine verdienstvolle, allen
Applaus verdienende Geste des kleinen
Hildesheimer Verlags. Über ihn und sein
Programm, aber auch über Hintergründe und
Ergebnisse zum Thema „Autorenträume“
kann
man
sich
unter
www.verlagmonikafuchs.de, www.autorentraeume.de und
www.petrahartmann.de sowie über das
Hilfswerk der bayerischen Autorin Tanja
Kinkel unter www.brotundbuecher.de schlau
machen. Dort sind weitere Infos zu haben, ob
für etablierte oder für werdende Autorinnen
und Autoren, nicht zuletzt für deren
unverzichtbares Publikum.
Petra Hartmann, Monika Fuchs (Hrsg.):
„Autorenträume“. Ein Lesebuch. Mit einem
Geleitwort von Tanja Kikel. Hildesheim:
Verlag Monika Fuchs 2013. ISBN 978-3940078-53-7. 336 S., 16,90 €.
60
BERICHTE
Auszeichnungen
Der Große Preis der Akademie
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. verleiht jährlich den mit
3.000 Euro dotierten Großen Preis für ein literarisches oder grafisches Gesamtwerk im
Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.
Der Preis wird im Jahr 2013 von der Märchen-Stiftung Walter Kahn finanziert. In
diesem Jahr wird er der Augsburger Puppenkiste für ihre spielerisch-künstlerische
Vermittlung von Literatur an Kinder, Jugendliche und Erwachsene verliehen.
Volkacher Taler
Weiterhin zeichnet die Akademie seit 1982 zusammen mit der Stadt Volkach Persönlichleiten, die sich um die Akademie und um die Förderung der Kinder- und Jugendliteratur verdient gemacht haben, mit dem Volkacher Taler aus.
Als Preisträger sind in diesem Jahr Prof.in Dr. Gudrun Schulz (Berlin) und Roland
Kahn (Karlsruhe) ausgewählt worden.
Nachwuchspreis
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. schreibt seit dem Jahr
2009 einen Nachwuchspreis für deutschsprachige Autoren bzw. Illustratoren der Kinder- und Jugendliteratur aus.
Der Preis, dotiert mit 1.500 Euro, wurde vom Kinderbuchautor Paul Maar (Bamberg) und dem Bücherkabinett Hagemeier (Volkach) initiiert und finanziert. Die Förderung wird in diesem Jahr weiterhin unterstützt von der Bayernwerk AG und der Märchen-Stiftung Walter Kahn.
Für das Grimm-Jahr 2013 schreibt die Akademie einen Nachwuchspreis zum Thema „Märchenwelten“ aus.
Die Bewerberin bzw. der Bewerber sollen ausschließlich von ihrem Verlag bis zum
31. Juli 2013 vorgeschlagen werden.
Weitere Infos erhalten Sie auf der Homepage der Akademie: www.akademie-kjl.de
Der renommierte Kinder- und Jugendbuchautor Paul Maar (Bamberg) erhält im
September 2013 den mit 15.000 Euro dotierten Kunstpreis der OberfrankenStiftung mit Sitz in Bayreuth. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. gratuliert ihrem Mitglied ganz herzlich für diese Auszeichnung.
61
BERICHTE
STEFAN MAYR
Klaus Marschall
Nun preisgekrönter Chef der Augsburger Puppenkiste
Er ist Geschäftsführer einer der bekanntesten Firmen Deutschlands, hat aber weder
BWL noch Jura studiert. Klaus Marschall ist gelernter Schaufenstergestalter, und vielleicht ist es genau dieses Handwerk das man als Chef der Augsburger Puppenkiste beherrschen muss; immer wieder muss er auf eine leere Fläche mit minimalen Mitteln
etwas hinzaubern, das die Leute fasziniert und zum Verweilen bewegt. Dabei wird der
51-jährige Chef beinahe so vielfältig gefordert wie sein berühmtester Held Jim Knopf.
Marschall schreibt Texte und spricht sie ein, Marschall führt auch Marionetten. Und
zuletzt musste er einen abenteuerlichen Kampf führen; er kämpfte um die Phantasie in
den Köpfen der Kinder. Seine Gegner waren die Programmmacher in den öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten. Der Kampf erschien zwischenzeitlich aussichtslos. Doch
Marschall gab nicht auf – und darf sich jetzt über einen Erfolg auf ganzer Linie freuen.
Immer wieder prangerte Marschall an, dass die Helden seines Marionettentheaters stillschweigend aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen verbannt wurden – auch und vor allem aus dem Kinderkanal. „Unsere Kinder verlieren wahnsinnig viel, wenn man ihnen kein
Figurentheater zeigt“, warnte Marschall. Zu Recht. Wenn in TV und Kino die Tränen in
Strömen fließen, dann sehen die Kinder lediglich die Phantasie eines anderen. Die Augsburger Holzköpfe haben dagegen nur einen Gesichtsausdruck, die Kinder müssen (und dürfen!) das Weinen und Lachen selbst dazu denken. „Dieses Kopfkino verlernen unsere Kinder leider“, prophezeihte Marschall. Seine Worte wurden erhört: An Pfingsten zeigte der
Hessische Rundfunk endlich wieder die guten, alten Folgen von Jim Knopf, Urmel und
dem Löwen. Der Kinderkanal zieht im Sommer an nicht weniger als acht Sonntagen nach.
Jetzt erhält die Puppenkiste den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und
Jugendliteratur [Volkach e.V.]. Eine Auszeichnung, die als deutliche Botschaft an die Programm-Verunstalter in den TV-Behörden verstanden werden darf. Die Akademie würdigt
mit dem Preis die „großen Verdienste“ des Marionettentheaters „um die spielerischkünstlerische Vermittlung von Literatur an Kinder, Jugendliche und Erwachsene“.
Alles begann 1948 im Wohnzimmer von Marschalls Großvater Walter Oehmichen
– mit Bierbänken und umgenähten Hakenkreuz-Fahnen. Heute hat das Unternehmen
30 Mitarbeiter und zeigt täglich zwei Vorstellungen, die meisten sind ausverkauft. Auf
dem Programm stehen neben Märchen und Kinderbüchern auch klassische Theaterstücke, Opern und Kabarett für Erwachsene, mit Witzfiguren wie Darth Vader und Michael Jackson oder Biene Merkel mit ihrem tollpatschigen Koalitionspartner Westerwilli. Demnächst will Klaus Marschall ein Computerspiel herausbringen. Eine Marionette führen mit dem Joypad? Das klingt nach zwei Welten, die kaum zueinander passen.
Aus: Süddeutsche Zeitung 25./26. Mai 2013. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
62
BERICHTE
Lesetütenaktionen
Wie bereits in den letzten Jahren überreicht die Deutsche Akademie für Kinder- und
Jugendliteratur e.V. auch im kommenden September den Erstklässern der Volksschule
Volkach zur Einschulung wieder Lesetüten. Die Zweitklässer des neuen Schuljahres
haben die Tüten schon für ihre Nachfolger bunt bemalt. Gefüllt werden die Tüten mit
einem Erstlesebuch sowie einem Stundenplan, einem Fahrradreflektor und anderen
Dingen, die den Start ins Schulleben erleichtern. Das Erstlesebuch wird vom Ravensburger Buchverlag gestiftet, der Förderndes Mitglied der Akademie ist.
Die Aktion „Lesetüten“ ist keine Geheimsache, sie ist im Gegenteil zum WEITERSAGEN. Mit diesem Appell fordert jedenfalls die Schriftstellerin Eva Korhammer
zur Nachahmung auf. Sie schreibt:
„Was hat es zu bedeuten, wenn sich 80 absolute Leseanfänger mehr oder weniger bequem
auf den Matten ihrer Turnhalle niederlassen, um ein Kinderbuch kennenzulernen und es
anschließend geschenkt zu bekommen.
Das mit der Turnhalle passierte in Hannover und war eine Notlösung, weil es in der Aula
nicht ging. Das mit den 80 Büchern für 80 Erstklässer war von meinem Verlag und mir genau so geplant. Überschrift: „Aktion Schultütenbuch“. Seit mehr als einem halben Jahrhundert bin ich nämlich mit meinen Kinderbüchern auf der Jagd nach Ideen, wie ich Kindern beweisen kann, dass Lesen kein Pflichtfach ist. Und dass die Phantasie dringend LeseKraftfutter braucht, damit sie nicht schlapp macht. Und je älter ich bei dieser wunderbaren
Arbeit werde, desto fröhlicher hänge ich Lesespaß-Ideen an „runden“ oder „halbrunden“ Ereignissen auf: Zu meinem 70. Geburtstag ein
Bücher-Gewinn-Fest in der ehemaligen Schule
unserer Kinder; zum 75. ein Zwillings-SchulJubiläum. Zum 80. Geburtstag habe ich mich
erst mal selbst von meinem Verlag beschenken
lassen: Mit 80 Büchern aus meinem ErstleserProgramm. Dann habe ich eine Grundschule mit
80 Schulanfängern eine Lesespaß-Stunde geschenkt und 80 Schultüten-Bücher – aber das
steht ja schon oben.
Gut und schön! Wenn ich weiter mit guten Geistern rechnen darf, bekomme ich zum 85.
wieder ebenso viele Leseanfänger und Bücherspenden zusammen. Aber es ist ja nicht Sinn
einer „Aktion Schultütenbuch“, nur alle fünf Jahre stattzufinden. Wir Kinderbuchautorinnen und Autoren wünschen uns, dass jedes Jahr in jeder Stadt und Gemeinde wenigstens
eine Grundschule sich diesen ersten Schritt zur Leseförderung auf die Fahne schreibt. Praktisch heißt das: rechtzeitig vor den Sommerferien Erstlesebücher sammeln (oder Kinderbuchverlage für Spenden begeistern), damit dann zum Schulbeginn jeder Schulanfänger ein
Buch in seiner Schultüte findet – natürlich neben all dem anderen Krimskrams, der nun mal
hineingehört. Besser lässt sich kaum beweisen, dass Schulanfänger keineswegs ein Dutzend Lese-Pflichtjahre vor sich haben.“
IN MEMORIAM
63
GÜNTER LANGE
Nachruf auf Otfried Preußler1
geb. 20.10.1923 in Reichenberg/Böhmen, heute: Liberec/Tschechien
gest. 18.2.2013 in Prien am Chiemsee
Lassen Sie mich meinen Nachruf auf Otfried Preußler mit ganz persönlichen Worten
beginnen:
Meine Frau (ehemalige Grundschullehrerin), unsere Söhne (44 und 42 Jahre), unsere sieben Enkelkinder(von 1 bis 19 Jahre) und ich sind sehr traurig darüber, dass der
großartige „Geschichtenerzähler“ Otfried Preußler, dessen Kinderbücher für uns eine
so große Bedeutung gehabt haben und immer noch haben, seinen Lebensweg beendet
hat. Es ist ein großer Verlust für die Familie Preußler, für die unendlich vielen Kinder,
die seine Figuren so fest in ihr Herz geschlossen und die ihre Phantasie angeregt und
erweitert haben, für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur, in der er nach den für ihn
kränkenden 1970er Jahren nun einen, von allen
Forschern anerkannten Ehrenplatz einnimmt,
im übrigen auch bei denen, die ihn seinerzeit
so heftig kritisiert haben, und für unsere Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
Volkach, deren Mitbegründer, Förderer und
spiritus rector er war. Er war der Begründer
des Volkacher Boten, dessen Nachfolger als
Redakteur ich über fast fünfzehn Jahre sein
durfte. Ihm verdanke ich sehr viel, nicht nur
die zahlreichen anregenden Gespräche zusammen mit seinem Freund Heinrich Pleticha,
sondern auch grundlegende Einblicke in das
Erzählen von Kinderliteratur, ihre Wirkung
und Bedeutung für die Kinder.
Otfried Preußler wurde am 20. Oktober
1923 im nordböhmischen Reichenberg geboren. Seine Eltern waren Lehrer, der Vater nebenbei auch Volkskundler und Heimatforscher,
der seinem Sohn schon früh die zahlreichen
Märchen und Sagen der böhmischen Heimat
1 Der Nachruf auf Otfried Preußler folgt in Teilen meinen im Literaturverzeichnis aufgeführten
Publikationen.
64
IN MEMORIAM
nahebrachte, die sich später in dessen literarischen Werken widerspiegeln sollten.
Otfried Preußler verlebte die Jahre seiner Kindheit und Jugend in Reichenberg; dort
besuchte er die Volksschule und später die Oberschule für Jungen. Zwei Tage nach
seiner Reifeprüfung wurde er im März 1942 Soldat und geriet 1944 als junger Leutnant
in Bessarabien in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die nächsten fünf Jahre verbrachte er in verschiedenen Lagern in der tatarischen Republik.
Preußlers Familie wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus der böhmischen Heimat vertrieben und siedelte sich in Oberbayern an. Otfried Preußler kam
1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft und fand mit viel Glück seine Angehörigen
in Rosenheim wieder.
Beruflich trat Otfried Preußler in die Fußstapfen seiner Eltern und wurde Lehrer. Er
absolvierte in München ein pädagogisches Studium, unterrichtete in Rosenheim als
Volksschullehrer und war bis 1970 im Schuldienst, zuletzt als Rektor, tätig.
Nebenberuflich hat sich Preußler schon seit Anfang der 1950er Jahre als Schriftsteller betätigt. Er schrieb kleine Theaterstücke für Kinder und Hörspiele für den Kinderfunk. Mit den beiden Kinderbüchern Der kleine Wassermann (1956) und Die kleine
Hexe (1957) gelang Preußler dann der große Durchbruch als Schriftsteller. Es schlossen sich in schneller Folge die heute schon als ,klassisch‘ zu bezeichnenden Werke wie
Bei uns in Schilda (1958), Thomas Vogelschreck (1959), Der Räuber Hotzenplotz
(1962) sowie Das kleine Gespenst (1966) an. Seit 1970 lebte Preußler als freier
Schriftsteller in Haidholzen, und zwar im Rübezahlweg.
Schon die ersten Kinderbücher wurden in der Öffentlichkeit und von der Kritik
gelobt und mit zahlreichen Preisen geehrt. Allein in den Preislisten des Deutschen
Jugendbuchpreises (ab 1981: Deutscher Jugendliteraturpreis) taucht der Name Preußler
13mal auf.
Von den zahlreichen öffentlichen Ehrungen, die Otfried Preußler auf Grund seines
literarischen Werkes erhielt, seien hier nur die bedeutendsten genannt: 1973 der Europäische Jugendbuchpreis für Krabat, 1972 der Polnische Jugendbuchpreis für Krabat;
1972 der Holländische Jugendbuchpreis für Die Abenteuer des starken Wanja und 1973
für Krabat. Für sein Gesamtwerk wurde Preußler 1979 mit dem Sudetendeutschen
Kulturpreis, 1987 mit dem Bayerischen Poetentaler und in demselben Jahr mit dem
Andreas-Gryphius-Preis geehrt; 1988 bekam der Autor den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, 1990 wurde er mit dem EichendorffLiteraturpreis ausgezeichnet; 1991 erhielt er die Titularprofessur der Republik Österreich, 1993 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und 1999 das Große Verdienstkreuz
des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Die zahlreichen Preise und Ehrungen sind ein Beleg für die außerordentliche Bedeutung des Autors Otfried Preußler. Man kann ihn ohne Frage als den international
bekanntesten und erfolgreichsten Kinderbuchautor deutscher Sprache bezeichnen. Der
Thienemann Verlag konstatiert: „Otfried Preußler hat über 35 Bücher geschrieben, die
in mehr als 50 Sprachen und über 350 Ausgaben übersetzt wurden […]. Die weltweite
Gesamtauflage seiner Bücher beträgt rund 50 Millionen Exemplare.“ (E-Mail von
Thienemann vom 29.4.2013)
Ende des Jahres 2000 hatte sich Otfried Preußler entschlossen, seinen Nachlass zu
IN MEMORIAM
65
Lebzeiten der Internationalen Jugendbibliothek in der Münchener Blutenburg zu übergeben (Thienemann 2000, S. 19). Doch weil man sich über die Art der Präsentation
nicht einig werden konnte, ging der größte Teil des Vorlasses an den Autor zurück, der
ihn nun der Berliner Staatsbibliothek übereignete. Mit Preußlers Tod wurde aus dem
„Vorlass“ ein „Nachlass“, wie Tilman Spreckelsen in seinem informativen Artikel in
der FAZ vom 10. März 2013 formuliert. Es handelt sich um mehr als 100 Umzugskartons, die nun in der Staatsbibliothek aufgearbeitet werden müssen, denn diese plant
zum Herbst 2013 eine Ausstellung zum Werk Otfried Preußlers. Was allerdings in
Preußlers Nachlass noch fehlt, so Spreckelsen, sind die zahlreichen literarischen Projekte, die der Autor in Interviews angesprochen hat, und seine Erinnerungen an die Zeit
vor und im Zweiten Weltkrieg und an die russische Kriegsgefangenschaft. (Spreckelsen
2013, S. 63).
Will man dem Kinderbuchautor Otfried Preußler auf die Spur kommen, bietet sich
vor allem das von seinen Töchtern Susanne Preußler-Bitsch und Regine Stigloher 2010
herausgegebene Buch Otfried Preußler: Ich bin ein Geschichtenerzähler an, in dem
viele verstreute Aufsätze aus den Jahren von 1972 bis 2009 zusammengestellt sind; sie
geben einen umfassenden Einblick in Preußlers Leben und Werk. In ihnen äußert dieser
sich ganz dezidiert zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit, zu seinem Lese-Publikum
und hier vor allem zu den Kindern, zu den Wurzeln seines Schreibens, die in seiner
Kindheit zu suchen sind, bei seiner Großmutter Dora, die regelmäßig in den „Dunkelstunden“, wie sie es nannte, Preußler und seinen Bruder mit ihrem scheinbar unermesslichen Schatz an Geschichten unterhielt, und bei seinem Vater, dem Lehrer, Volkskundler und Geschichtensammler, der ihn oft auf seinen Wanderungen ins Isergebirge und
zu den Bauern, Förstern, Köhlern und Tagelöhnern mitnahm, die ihnen ihre Geschichten erzählten, denen der Junge begierig lauschte.
Anlässlich seines 70. Geburtstags am 20. Oktober 1993 stellte Otfried Preußler fest:
„Ein Geschichtenerzähler wie ich, der ich meine Geschichten mit Vorliebe Menschenkindern erzähle – er kann sich nichts Besseres wünschen, als von ihnen als Weg-Weiser
angenommen zu werden.“ Zwar hätten sich die Kinder von heute in den wesentlichen
Dingen kaum gegenüber den Kindern in früherer Zeit geändert, doch „ist ihr Leben
heute sehr viel komplizierter geworden, die Welt [ist] voller Bedrohnisse, voller Bedrängnis. Mehr denn je brauchen sie die Liebe, die Zuwendung der Erwachsenen. Auf
der Suche nach ihrem Weg in die Zukunft brauchen sie Wegweiser.“ (Ein paar Worte
zum Schluss, in: Preußler 2010, S. 234–235) Der Lebensmut der kindlichen Leser wird
durch Preußlers Geschichten gestärkt, die Kraft der Phantasie wird herausgefordert, das
Handeln im menschlichen Sinne angeregt.
Otfried Preußler war davon überzeugt, dass sich die wirklich maßgebenden Erfolge
eines Kinderbuchautors nicht in den Auflagen und Verkaufsstatistiken ausdrücken,
sondern dass es die Erfolge im menschlichen, ganz privaten Bereich des Lesers sind,
auf die es ankommt. Und Preußler versteht es, die jungen, die älteren wie auch die alten „Menschenkinder“ mit seinen Geschichten zu begeistern. Das zeigt sich besonders
an der Leserwirkung seiner Texte, ablesbar an den Leserbriefen, die der Autor während
seines langen Schriftstellerlebens erhalten hat; monatlich durchschnittlich etwa fünfzig.
Es war ihm ein selbstverständliches Anliegen, diese Briefe nicht nur zu lesen, sondern
66
IN MEMORIAM
sie ernst zu nehmen, und zwar so, dass dies die kindlichen Schreiber in jedem beantworteten Brief auch merkten. Das wird beispielhaft deutlich in Preußlers Aufsatz, in
dem er sich zu den zahlreichen kindlichen Zuschriften geäußert hat: Wer sich auf Kinder einlässt...(in: Preußler 2010, 218–230).
Der Ideenreichtum des „Geschichtenerzählers“ Otfried Preußler ist erstaunlich. Als
ehemaliger „Schulmeister“ – wie er sich gern genannt hat – kannte er die Kinder ganz
genau; er wusste, was ihnen helfen kann; er suchte immer den direkten Kontakt zu seinen jungen Leserinnen und Lesern. Und jede seiner „Geschichten für Menschenkinder“
kam zuerst „auf den Prüfstand“, d.h., vor der Veröffentlichung wurde sie den Kindern
vorgelesen. Der Autor stellte sich damit seinem kritischsten Publikum, „der einzigen
für mich wirklich kompetenten Kritik“, wie Preußler formulierte (in: Pleticha 1998, S.
210).
Besonderen Kontakt pflegte Otfried Preußler mit kranken und behinderten Kindern,
die sich in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder in Sonderschulen befanden. Ihnen
wendete er sich gern zu; ihre Briefe, geschrieben oder diktiert, beantwortete er sehr
sorgfältig und einfühlsam. Preußler bemühte sich, ihrem Schicksal gerecht zu werden.
Doch nicht nur das. Zusammen mit ein paar Freunden gründete er das „Hilfswerk
Aschau“ (die Orthopädische Kinderklinik Aschau), für das er selbst aus Anlass seines
70. Geburtstags das Honorar für seinen Text zum Bilderbuch Das Eselchen und der
kleine Engel (Thienemann 1993) stiftete und seine Freunde und Leser zu einer Spende
aufrief.
Noch ein besonderes Verdienst muss hier genannt werden. Otfried Preußler gilt seit
der Publikation des von ihm ins Deutsche übertragenen Buches Kater Mikesch des
tschechischen Autors Josef Lada, für das er 1963 den Deutschen Jugendbuchpreis erhielt, als Brückenbauer oder – wie Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek in München, es ausgedrückt hat – als „Kinderbuch-Brücken-Bauer“
von Deutschland nach Tschechien. Eine Tat, die in ihrer Wirkung für das deutschtschechische Verhältnis nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Kurt Franz, der Präsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur,
hat den Autor Otfried Preußler und seine Kinderbücher in einer Laudatio überzeugend
charakterisiert:
Seine Sicht der Welt hat Preußler nie verleugnet, stets ist er – bei allem Wandel seines
Erzählens – seinen Grundsätzen treu geblieben, denn er glaubt an das Gute im
Menschen und an die Notwendigkeit eines kindlichen Schonraums. Dieses Konzept
einer unbeschwerten, glücklichen Kindheit ist ein ewiges menschliches Wunschbild, das
sich freilich allzu oft nur in idealisierender Rückerinnerung ‚realisieren‘ läßt. [...] All
die gängigen Vorurteile über das Lehrhafte oder Oberlehrerhafte bestätigen sich bei ihm
[Preußler] nicht. Im Gegenteil, sie werden nachdrücklich widerlegt. Seine Erzählweise
hat so gar nichts von diesem verbreiteten Klischee, sie ist leicht und schwerelos, nie
wird eine Moral aufgepfropft oder angehängt, das Pädagogische ist seinen Werken
immanent. (Franz 1997, S. 11)
Meinen Nachruf möchte ich mit Worten Otfried Preußlers schließen, die seine
Töchter der Danksagung aus Anlass seines Todes beigefügt haben:
IN MEMORIAM
67
Ist so der Tod?
In breitem Schwall
Aus alter Bahn
Hinaus ins All
Ein scheinbar sich
Ergießen
Und doch:
Ein Sturz ins Leben nur –
Bewegung und
Auf neuer Spur
Ein anders
Weiterfließen
Literaturverzeichnis
Preußler, Otfried: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Hrsg. von Susanne Preußler-Bitsch
und Regine Stigloher. Stuttgart: Thienemann 2010.
Franz, Kurt: „Erzählen“ als Zauberei betrachtet. Laudatio auf Otfried Preußler anläßlich der Verleihung des Oberbayerischen Kulturpreises am 11.10.1997 in Rosenheim. In: Volkacher Bote 1997, H. 62, S. 10–12.
Lange, Günter: Otfried Preußler. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef
(Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen: Corian 1995 ff. (33.
Erg.-Lfg. Juni 2008, S. 1–60).
Lange, Günter: Otfried Preußlers Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und in
der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider 2008 (Kinder- und Jugendliteratur
im Unterricht; 8).
Lange, Günter: Otfried Preußler Ich bin ein Geschichtenerzähler. In: Volkacher Bote
2010, H. 92, S. 32–34.
Pleticha, Heinrich: Otfried Preußler – Herkunft, Biographie und Werk. In: Pleticha,
Heinrich (Hrsg.): Sagen Sie mal, Herr Preußler... Festschrift für Otfried Preußler
zum 75. Geburtstag. Stuttgart, Wien, Bern: Thienemann 1998, S. 209–210.
Spreckelsen, Tilman: Und dann geht das Theater los. Entwürfe, Briefe, Tagebücher:
Was ein Schriftsteller hinterlässt, landet meist in einem Archiv. Ein Besuch in der
Berliner Staatsbibliothek. In: FAZ v. 10.3.2013, S. 63.
Thienemann Verlag. Pressemitteilung: Nachlass zu Lebzeiten. Otfried Preußler entschied sich für die Blutenburg. In: Volkacher Bote 2000, H. 71, S. 19.
68
IN MEMORIAM
HANS GÄRTNER
Er erzählte von Mose, Jesus und Franziskus
Vor 30 Jahren erhielt Max Bolliger (gest. am 10. Februar 2013)
den Katholischen Kinderbuchpreis
Euer Bruder Franz – das Jugendbuch, das „aus dem Leben Franz von Assisis“ erzählte, kam 1982 im Schweizer Verlag Huber, Frauenfeld, heraus – eine Gabe zum 800.
Geburtstag des Heiligen, dessen Name sich der argentinische Papst vor wenigen Wochen gab. 23 Geschichten gehen in dem Buch jeweils „Tatsachen“ voraus, so dass die
jungen Leserinnen und Leser sowohl sachlich als auch poetisch den radikalen Christusnachfolger des Mittelalters kennenlernen konnten. Das Buch erhielt ein Jahr nach
Erscheinen den Katholischen Kinderbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz. Sein
Autor Max Bolliger, der damals in Zürich lebte und auch den Schweizer Jugendbuchpreis errang, starb hier unerwartet am 10. Februar dieses Jahres. Er erlebte seinen 84.
Geburtstag (23. April) nicht mehr.
Vor gut zehn Jahren verlieh die Theologische Fakultät der Universität Zürich dem
in Weesen am Walensee lebenden Schweizer Dichter und Erzähler die Ehrendoktorwürde. Max Bolliger führte den akademischen Titel, der ihn persönlich sehr freute,
nie in seiner Briefpost. Wer ihn kennenlernen durfte, hat ihn als bescheidenen, liebenswürdigen Menschen in Erinnerung.
Gern war er zu Gast bei den Jahreskursen
des Sankt Michaelsbundes. Im November
2005 reiste er nach Volkach am Main, um
den Großen Preis der Deutschen Akademie
für Kinder- und Jugendliteratur für sein Gesamtwerk entgegenzunehmen. Die Laudatio
hielt der Schreiber dieses kurzen Nachrufs,
dem wohl bewusst ist, dass der Gelobte sich
eine „große Schlussrede“ verbeten hätte.
Ein Foto zu zweit erlaubte er, als er Max Bolliger (1929 – 2013) mit Hans
sich nach Volkach durch das ihm bis dato Gärtner in Würzburg, nach der Verleihung
des Großen Preises der Deutsche Akadeunbekannte Würzburg hatte führen lassen.
mie für KJL im November 2005 (Foto:
privat)
IN MEMORIAM
69
Mit Max Bolliger, der 1963 für seine biblische Erzählung David den Deutschen Jugendbuchpreis erhielt und vor allem durch zahlreiche Bilderbuchtexte, Legenden und
biblische Nacherzählungen bekannt wurde, verlieren mehrere Verlage einen ihrer bedeutsamsten Autoren: vor allem Herder, Ravensburger, bohem press, auch der kleine
feine „Verlag am Eschbach“, wo kürzlich noch Bolligers Märchen vom Dichter und
der Maus erschienen war. Darin glänzt der Autor noch immer als Sprachkünstler, dem
es an Feinschliff und struktureller Einfachheit seiner stets inhaltskonzisen Texte, viele
davon mit einem (oft impliziten) religiösen Einschlag, kaum jemand gleichtat.
In Braunwald-Schwanden/Kannton Glarus 1929 geboren, war Max
Bolliger in seiner Schweizer Heimat
und in Luxemburg als Dorfschullehrer, Heilpädagoge, Sonder- und Seminar-Lehrer tätig, bevor er sich in
den 1950er Jahren ganz auf die
Schriftstellerei verlegte, zunächst
mit Lyrik, dann mit so beliebten, oft
ausgezeichneten Kinder- und Jugendbüchern wie Das Buch der
Schöpfung (Herder), der Gesamtausgabe seiner Biblischen Geschichten (Ravensburger) über Joseph,
David, Mose, Daniel und Jesus oder
der Legendensammlung Wie Georg
den Drachen bezwang (Herder).
Herder übernahm auch den berühmt
gewordenen Band Euer Bruder
Franziskus. Dem Glaubensverständnis und der Lebensweise des
großen Umbriers schloss Max Bolliger sich zur Gänze an, auch wenn
er, was viele seiner Fans erstaunen
lassen mag, kein Katholik war.
Cover der Taschenbuchausgabe (1984)
70
IN MEMORIAM
ERICH JOOß
Die Bilder und die Stille
Nachruf auf Max Bolliger
Als ich vor einigen Jahren meine bis dahin vor der Öffentlichkeit zurückgehaltenen
Gedichte publizieren wollte, kam eine Mitarbeiterin des Verlages auf mich zu mit der
Anregung, doch über ein Vorwort nachzudenken. Lyriker äußern sich nicht gerne zu
ihren Gedichten; schon gar nicht wollen sie ihren Lesern die Deutung abnehmen. Also
bat ich die Mitarbeiterin, einmal bei Max Bolliger, dem fernen Freund, anzufragen.
Selbst wollte ich das nicht tun, es erschien mir zu aufdringlich. Aber Bolliger waren
solche Bedenken fremd. Er antwortete mit einer Einführung in meine Gedichte, in der
er – wie öfters – die „Distanz zwischen unseren Wohnorten und Wirkungskreisen“ bedauerte und gleichzeitig unsere innere Verwandtschaft hervorhob. Dabei überging er
großmütig, dass ich in diesem Verhältnis lange Zeit der Lernende gewesen bin und bis
heute die Prägnanz seiner Sprache und den – bei aller Absichtslosigkeit und Leichtigkeit – immer vorhandenen ethischen Ernst seiner Texte bewundere.
Die Welt der Kinderliteratur ist überschaubar, jeder kennt fast jeden. Max Bolliger
gehörte nicht zu jenen selbstbewussten Verkäufern der eigenen Bücher, an die Verlage
heutzutage gerne ihren Vertrieb delegieren. Er war eher ein Beobachter, zurückhaltend
bis zur (freundlich) spürbaren Distanz, manchmal sogar bis zur Unsichtbarkeit. Sich
selbst zählte er keinesfalls unter die Virtuosen, er verstand sich dezidiert als ein Handwerker der Sprache. Doch dieses Handwerk beherrschte er meisterhaft, darin vermutlich nicht unähnlich seinem Großvater, einem Seidendrucker, und seinem Vater, einem
Schreiner, der in Frankreich gelernt hatte, alte Möbel zu restaurieren. Aus der väterlichen Welt stammte auch ein Vergleich, auf den er bei seinen Vorträgen des öfteren zurückkam: Kinder, so führte er bedächtig aus, müssen nicht unbedingt zu Lesern werden. Sie können ohne Bücher genauso glücklich sein, beispielsweise als Schreiner. Nur
um dann listig hinzuzufügen: Wer freilich Kunstschreiner werden will, muss spätestens
dann die Geschichte seines Handwerks studieren und imstande sein, die alten Vorlagen
zu lesen. Ein wenig an sich dürfte Max Bolliger auch gedacht haben, als er das Gebet
des Jacob Böhme schrieb: „Und hier, Herr“, sagt der Schuhmacher und Mystiker aus
Görlitz, „sind meine Hände und tun geringe Arbeit.“
Im gleichen Gebet spricht Jacob Böhme liebevoll-andächtig vom „Spinnweb“, das
er seit Tagen hütet. Max Bolliger, der die kleinen Dinge, die einfachen Welten liebt,
berief sich im Gespräch immer wieder auf das „sanfte Gesetz“ von Adalbert Stifter. Er
war darin sehr gewollt ein „Unzeitgemäßer“. Seine Geschichten und seine Kindergedichte, von denen einige zum Besten der deutschsprachigen Kinderliteratur zählen, haben eine ganz eigene, fast zärtliche Art der Annäherung an ihre Gegenstände und The-
IN MEMORIAM
71
men. Das Verletzliche gibt sich in den Büchern von Bolliger als das wahrhaft Unverletzliche zu erkennen. Weit mehr als ein Kunstgriff war für den Autor dabei die Rückbesinnung auf die sogenannten einfachen Erzählformen: die Märchen, Legenden und
Fabeln, die Geschichten der Bibel. Dort fand er jene helfenden und heilenden Bilder,
die er zum Zentrum der eigenen Texte machte. Er wusste, dass in solchen elementaren
Bildern – von ihm in neue Zusammenhänge gerückt – das ganze Menschheitswissen
eingeschlossen ist. Der Schweizer Schriftsteller hat die Brüche und Krisen ernst genommen, vor denen niemand sicher ist, schon gar nicht das Kind. Stummel (1999), der
kleine Hase, wird von einem „Lebensbild“ in das nächste geschickt, bis an die Grenze
des Todes. Unversehens wächst sich die Fabel zu einem großen Gleichnis aus, zur Bildererzählung von einer langen und schwierig-schönen Menschwerdung.
Vor allem das Interesse für die Legenden hat uns beide freundschaftlich verbunden.
Max Bolliger störte sich nie daran, dass wir gleichzeitig an und mit den gleichen Heiligenstoffen arbeiteten, gelegentlich sogar unter dem gleichen Verlagsdach. Konkurrenzneid schien ihm völlig fremd zu sein. Vielleicht war ihm auch bewusst, worin er
unerreicht bleiben würde: in der Reduktion des Erzählten, in der ganz und gar unprätentiösen Kargheit seiner Sätze. Deren hart erarbeitete Armut entwickelt einen Sog, der
sich erst beim Vorlesen erschließt. Damit kommt Bolliger dem ursprünglichen Anliegen der Legende sehr nahe. Er war aber nicht nur ein genialer Wiederentdecker und
Nacherzähler scheinbar abgestorbener Erzählstoffe, er hat auch die historisch-kritische
Annäherung an die hagiographischen Überlieferungen beherrscht. Am sinnfälligsten
gelang ihm dies mit der Zweiteilung der „Tatsachen und Geschichten aus dem Leben
des Franz von Assisi“, die sein Buch Euer Bruder Franz (1982) zu einem Klassiker
nicht bloß der Jugendliteratur machte. Legenden, auf solche Weise in unsere Zeit hinübergerettet, sind kein Mittel zum Zweck. Sie dienen weder der Revitalisierung unseres kulturellen Gedächtnisses noch wollen sie an längst verschüttete christliche Lehrgeschichten erinnern. In ihnen leuchtet, vielleicht zum letzten Mal, das Paradies auf, das
wir verloren haben. So gesehen, sind es ganz handfeste Traumgeschichten …
Das gilt auch für die Weihnachtslegenden, die schon lange vor Max Bolliger auserzählt schienen und denen der Schweizer Autor trotzdem immer neue Facetten abgewann. Keine der Geschichten, so schreibt er in dem Nachwort zu dem Sammelband
Ein Duft von Weihrauch und Myrrhe (2009) „ist auf fremden Wunsch oder als Auftrag
entstanden. Ich meine, sie sind mir zugefallen, Geschenke.“ Weihnachten selbst erscheint in diesen Legenden als ein großes, unbegreifliches Geschenk an alle Geschöpfe. Selbst der Narr, der mit leeren Händen vor der Krippe steht, wird beschenkt: „Voll
Vertrauen / legte Maria / das Kind auf seine Arme.“ Und am Ende der Wintergeschichte sagt der hartherzige Mann zu dem Jungen, der frierend mit ihm von der Krippe zurückkehrt: „Komm ins Haus … ich habe Holz genug, / wir wollen die Wärme teilen.“
Dieser Schluss erscheint mir bezeichnend für viele Weihnachtslegenden von Max Bolliger. Sie strahlen etwas aus, was ich am liebsten mit dem Begriff der „heiligen Nüchternheit“ bezeichnen möchte. Da ist keine Ernüchterung spürbar, schon gar kein desillusioniertes Erwachen. Stattdessen schildert Bolliger, wie die Menschen in der harten,
sternenlosen Wirklichkeit, die auf die wunderbare Nacht in Betlehem folgt, neu anfangen. Sie waren Zeugen eines Geheimnisses, jetzt sehen sie sich mit anderen Augen an.
72
IN MEMORIAM
Wollte ich das gesamte Werk des Schweizer Autors charakterisieren, würde das den Umfang eines Nachrufes weit übersteigen. Aber selbst eine knappe Würdigung der literarischen Lebensleistung von Max Bolliger muss die Bilderbücher in den Blick nehmen. Mit
ihnen hat der Schriftsteller, der immer pädagogisch dachte, ohne dadurch seine Texte zu
lähmen, mehrere Kindergenerationen gleichsam „miterzogen“. Jedes dieser Bilderbücher
lebt von einer klaren Botschaft. Der Vogelfänger, der im Auftrag des Königs einem Traum
nachjagt, erkennt erst ganz am Schluss, dass Das schönste Lied (1980) von keinem Vogel
stammt, sondern sein eigenes ist – endlich kann es ihn befreien. In der Kinderbrücke
(1979) sind es die Kinder der Bauern, die unbefangen, mit spielerischer Neugierde, den
Hass der Erwachsenen aufbrechen. So führen sie ihre verfeindeten Familien zusammen.
Und Der goldene Fisch (1984), der am Ende der gleichnamigen Legende tot auf dem
Grund der ausgetrockneten Quelle liegt, erinnert an die Vertreibung aus dem Garten Eden.
Besitzgier hat die schöne, unschuldige Welt zerstört. Doch Gott erbarmt sich der schuldig
gewordenen Menschen: Er schenkt „ihnen Kinder / und den Kindern dieser Kinder / die
Verantwortung“, damit sie einen neuen Garten anlegen können.
Durch viele dieser Geschichten zieht sich das Lebensthema von Max Bolliger: die
Toleranz. Zwei andere Themen, die sein Bilderbuchschaffen maßgeblich prägten, hat
er in dem sehr persönlichen Gebet „Jeden Tag neu“ als Bitten an Gott formuliert: „Gib,
dass ich mich meines Schattens nicht schäme“ und „Lass mich den Menschen annehmen, wie er ist“. Der Zauber der Bilderbücher geht freilich nicht bloß von ihren Geschichten, sondern mindestens ebenso von den Illustrationen aus. Bedeutende, kongeniale Künstler wie Jindra Capek, Celestino Piatti, Stepan Zavrel oder Jürg Obrist haben
sie geschaffen. Wo sich der Autor zurücknahm und mit einer sehr konzentrierten, fast
liedhaft rhythmisierten Prosa arbeitete, lieferten sie die phantastisch-mehrdimensionalen, manchmal auch naiv anmutenden, jedoch nie wirklich naiven Bilder.
Wie oft bin ich Max Bolliger begegnet? Unsere Treffen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen: erstmals 1983 bei der Verleihung des Katholischen Kinderbuchpreises
für Euer Bruder Franz in Regensburg, danach bei Tagungen in Schwerte, in Würzburg und
auf Schloss Hirschberg. Rechtzeitig vor Weihnachten tauschten wir fortan regelmäßig unsere neuesten Bücher aus und reagierten auf diese Zusendungen mit sehr persönlichen Zeilen. Damals, in Schwerte, erhielt ich von ihm den seither sorgsam gehüteten Gedichtband
Schweigen, vermehrt um den Schnee, der schon 1969 erschienen war und mir die Augen
öffnete für einen ganz anderen Max Bolliger, nicht mehr den Heilpädagogen und Freund
der Kinder, sondern den in sich gekehrten, melancholischen Dichter, dessen Bilder die
Verstörungen des Lebens sehr hart herausarbeiten. Sätze wie die folgenden – „Erschrocken
atmet / das jäh in die Stille / geworfene Herz“ oder „ … alles, was ich bin, / ist die Zwiesprache / des Schweigens“ – gehen mir bis heute nach. Viel später erst, als mir Bolliger für
den Band Baustellen des Himmels (2001) ausgewählte Teile seiner Notizbücher zur Verfügung stellte, erkannte ich die eigentliche Kontinuität in seinem Lebenswerk. Mit wachsendem Alter schien ihn mehr denn je die Stille zu beschäftigen, der „Gefährte neben mir“.
Aber jetzt formulierte er: „Die Stille kann nicht zerstört werden, nur die Fähigkeit, sie zu
empfangen. Die Stille schafft jenen Raum, den Gott braucht, darin zu wohnen.“ Wahrscheinlich können wir Max Bolliger am ehesten gerecht werden, wenn wir diese Stille hineinnehmen in die Lektüre seiner Bücher, auch und ganz besonders seiner Kinderbücher.
IN MEMORIAM
73
KURT FRANZ
Margret Rettich ist tot
Am 15. Mai 2013 ist Margret Rettich 86-jährig in Braunschweig verstorben. Damit existiert auch der andere Teil
dessen nicht mehr, was man lange Zeit unter dem Markenzeichen „die Rettichs“ verstanden hat. Denn Margret bildete zusammen mit ihrem Mann Rolf Rettich, der schon vor
einigen Jahren gestorben ist, eine feste Einheit, im Leben
und im Schaffen, denn viele der zahlreichen Bücher – die
Anzahl geht in die Hunderte – waren eine Gemeinschaftsarbeit der beiden. Über Jahrzehnte hinweg war ihr Werk
von Disziplin, Konzentration, Ausdauer, künstlerischer
Perfektion und einer unerschöpflichen Erfindungsgabe geprägt. Sie haben sich sogar gegenseitig Bilder für ihre eigenen Bücher geliefert, Rolf allerdings mehr für seine Frau. Der Erfolg von Fernsehsendungen wie Die sprachlosen Bildergeschichten oder Die Sendung mit der Maus war
nicht zuletzt ihnen zu verdanken, und so verwundert es nicht, dass ihnen auch gemeinsam verschiedene Auszeichnungen zuerkannt wurden, so 1997 der Große Preis der
Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Margret, 1926 in Stettin geboren, hatte von 1946 bis 1952 Grafik an der Kunstschule Erfurt studiert, war dann 1960 mit ihrem Mann in den Westen übersiedelt, wo sie auf
dem Lande in Niedersachsen ihr Wohn- und Arbeitsdomizil fand. Margret Rettich, deren Entwicklung als Grafikern zunächst über die Werbebranche ging, war von Anfang
mehr der farbigen Illustration zugeneigt, und sie begann früh, eigene Bücher zu schreiben und zu illustrieren, und entwickelte so auch einen individuellen Stil, mit dem sie
die Realität pointiert trifft, aber eigenständig interpretiert, oft humorvoll, manchmal
auch skurril, aber nie verletzend, eher liebevoll-anteilnehmend, was ihre kindlichen
Rezipienten auch sofort spürten. Ihre Bilder sind in den Farben weich, da sie Pastelltöne bevorzugte, und in ihrer Wirkung sehr poetisch.
Erinnerungen werden wach, wenn der Verfasser dieser Zeilen an seine frühere JuryTätigkeit in der Sparte Bilderbuch beim Deutschen Jugendliteraturpreis zurückdenkt. Margret Rettich hat für ihr Buch Die Reise mit der Jolle, in dem auch ihre Neigung zum Historischen und Dokumentarischen zum Ausdruck kommt, diesen ehrenvollen Preis 1981 erhalten. In der Begründung hieß es u.a.: „Die zart aquarellierten Bilder, die mit ihrer niederdeutschen Szenerie und ihrem volkstümlichen Charakter an Brueghelsche Malerei erinnern, lassen die Kinder in linearer Abfolge am Geschehen teilnehmen.“
Mit dem Tod von Margret Rettich hat die Kinderliteratur eine vielseitige Autorin
und einfühlsame Illustratorin verloren.
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Aus der Akademie
Einladung zur Tagung
Literaturentwicklung, Literaturkritik,
Literaturbehandlung
Die Kinder- und Jugendliteratur im Prozess des gesellschaftlichen
und medialen Wandels
24./25. September 2013 – Schelfenhaus, Volkach
Tagungsleitung
Dr. Claudia Maria Pecher, Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Karin Richter, Erfurt
Dienstag, 24. September 2013
13.00
PROGRAMM
Begrüßung durch das Präsidium und die Tagungsleitung
13.30 – 14.15 Uhr Prof. Dr. Hans-Heino Ewers (Frankfurt am Main)
Klassiker, Kanonbildung und literarische Wertung auf dem Feld
der Kinder- und Jugendliteratur
14.15 – 15.00 Uhr Prof. Dr. Karin Richter (Erfurt)
Kindliche Leseinteressen und klassische Bildung
Begegnungen von ‚Medienkindern’ mit Goethe, Schiller und Kleist
Pause
15.45 – 16.30 Uhr Dr. Claudia Maria Pecher (Frankfurt am Main)
Grimm’sche Märchen: ein „Klassiker“ im Kontext aktueller
Kinder- und Jugendliteratur
16.30 – 17.15 Uhr Dr. Tilman Spreckelsen (Frankfurt am Main)
1000 aus 8000: Kinder- und Jugendliteraturkritik in der
deutschsprachigen Presse der Gegenwart
Gelegenheit zum Abendessen
19.00 – 21.00 Uhr Podiumsdiskussion und Gespräch:
Literaturverfilmungen in der Kinder- und Jugendmedienszene
Statements von Schriftstellern, Produzenten, Medienvertretern
und Wissenschaftlern: Kirsten Boie, Ingelore König, Irene
Wellershoff, Susanne Heinke und Ute Wegmann
Moderation: Thomas Brenner (Dresden)
Aus der Akademie
75
Mittwoch, 25. September 2013
9.00 – 11.00 Uhr Dr. Barbara Kindermann (Berlin), Anna Hein (Weimar),
Klaus Ensikat (Berlin)
Vernissage und Verlagspräsentation
11.30 – 13.00 Uhr Workshops
(I)
Dr. Franz-Josef Payrhuber (Worms)
Klassische Stoffe und Stoffe der Fabel für das Junge Theater
Stücke der Dramatiker Martin Baltscheit und Ulrich Hub
(II)
Prof. Dr. Karin Richter (Erfurt)
Klassische Stoffe in literarischen Adaptionen und künstlerischen Bildwelten
Zugänge von Kindern in der Grundschule und in der Sekundarstufe I
(III) Nils Beer (Dresden)
Film-Workshops für Jugendliche – literarische und mediale Bildung
(IV) Susanne Heinke (Erfurt)
Alte und neue Märchenverfilmungen
Ästhetische Qualität, Wirkungspotential, Behandlungsmöglichkeiten
in allen Schulstufen
(V)
Sarah Maria Bernstein (Leipzig)
Bildwelten als Wege zu einem schwierigen Thema
Das Thema ‚Tod’ in aktuellen literarischen Erscheinungen. Erfahrungen
in Schulprojekten mit Abschied von Rune und Ente, Tod und Tulpe
13.00 Uhr
Abschluss der Tagung
Die Tagungsgebühr beträgt 85,00 €, für Sudierende, LiV und andere in Ausbildung
Stehende 45,00 € (Nachweis beifügen).
Sie beinhaltet neben der abendlichen Podiumsdiskussion auch den kostenlosen Bezug
des Tagungsbandes (im Sommer 2014).
Anmeldung bitte bis zum 1. September 2013 per Telefon (09381-4355) oder E-Mail
(info@akademie-kjl.de) oder über die Home-Page der Akademie (www.akademiekjl.de).
Die Anmeldung kann erst nach Eingang des Tagungsbeitrags auf dem Konto der
Akademie (Nr. 43 22 83 37 bei der Sparkasse Mainfranken, BLZ 790 500 00) berücksichtig werden.
Die Unterbringung ist eigenständig zu organisieren. Ein Unterkunftsverzeichnis finden Sie unter www.volkach.de
Weitere Infos zur Tagung finden Sie auf der Home-Page der Akademie:
www.akademie-kjl.de
76
Aus der Akademie
KURT FRANZ / GÜNTER LANGE
Vorankündigung
Akademie-Tagung 2014: Otfried Preußler
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur führt am 8. und 9. Mai 2014
ihre Frühjahrstagung durch. Sie wird organisiert von Kurt Franz und Günter Lange.
Diesmal steht sie thematisch ganz im Zeichen von Person und Werk Otfried Preußlers, was man wohl nicht eigens begründen muss. Otfried Preußler war 1976 Gründungsmitglied der Akademie, erster Herausgeber des Volkacher Boten und auch Träger
des Großen Preises. Er starb am 18. Februar 2013 und wäre am 20. Oktober 90 Jahre
alt geworden. Aber der Hauptgrund liegt natürlich in seiner weiterhin ungebrochenen
literarischen Bedeutung, im deutschsprachigen Raum wie auch international.
Die Referate werden, nach einer allgemeinen Einführung, schwerpunktmäßig auf
volksliterarische Elemente im Werk Preußlers eingehen und deren Bedeutung für die
jungen Leser wie für die Kinderliteratur überhaupt aufzeigen. So werden seine besonderen Bezüge zu Sagengestalten wie Rübezahl und Krabat, seine literarische Adaption
der Hexe und seine Bearbeitung religiöser Elemente im Mittelpunkt stehen. Neben
stoff- und motivgeschichtlichen Schwerpunkten werden natürlich auch sprachliche und
narrative Züge wie etwa „szenisches Erzählen“ im Werk Preußlers berücksichtigt.
Der Abend bei Wein am Donnerstag wird wesentlich vom Thienemann-Verlag getragen, was nicht verwundert, ist er doch der PreußlerVerlag schlechthin, so dass man unterhaltsam informiert wird über die Beziehung eines großen Autors zu
einem großen Verlag. Dazu wird der Illustrator Mathias Weber, der die Preußler-Kinderbuchklassiker koloriert hat, in launiger und anschaulicher Weise Einblick in seine Werkstatt geben.
Am Freitagvormittag werden, im Anschluss an
zwei Referate, mehrere Workshops durchgeführt, an
denen die Teilnehmer/innen sich aktiv beteiligen können. Dabei reicht die Palette von der Filmanalyse
(Krabat) über die Auseinandersetzung mit dem Puppenspiel bis hin zum kreativen Umgang mit Preußlers
Bilderbüchern und zum kreativen Schreiben.
Damit wendet sich die Tagung, die eine Art Fazit zu Titelbild zu Krabat von Herbert
Leben und Werk des großen Erzählers ziehen möchte, Holzing
an einen großen Interessentenkreis, an Studierende
ebenso wie an Lehrer/innen, an Bibliothekare/Bibliothekarinnen ebenso wie an Buchhändler/innen und natürlich an alle mit Kinderliteratur Befassten, nicht zuletzt an Otfried Preußler-Fans.
Aus der Akademie
Kinder- und Jugendliteratur – Ein Lexikon
Im ersten Halbjahr 2013 erschienen mit den
Nummern 48 und 49 zwei Ergänzungslieferungen des Lexikons mit 17 Beiträgen in einem Gesamtumfang von 360 Seiten. Mitgearbeitet haben daran insgesamt zehn Autorinnen
und Autoren. Die Beiträge und Verfasser (in
Klammern) im einzelnen:
Teil 1: Autoren/Übersetzer
Heiner Feldhoff (Franz-Josef Payrhuber)
Peter Härtling (Aktualisierung) (Hannelore
Daubert)
Friedl Hofbauer (Susanne Blumesberger)
Josef Holub (Aktualisierung) (Franz-Josef
Payrhuber)
Edith Klatt (Barbara Asper)
Hans Peter Richter (Günter Lange)
Hermynia zur Mühlen (Manfred Altner)
Teil 2: Illustratoren/Illustrationen
Berti Breuer-Weber (Manfred Berger)
Adrian Ludwig Richter (Manfred Altner)
Marianne Schneegans (Manfred Berger)
Teil 3: Verlage/Verleger
Molling (Edel Sheridan-Quantz)
Teil 5: Literarische Begriffe/Werke/Medien
Konkrete Poesie (Franz-Josef Payrhuber)
Lesetagebuch (Ingrid Hintz)
Teil 6: Themen/Motive/Stoffe
Edelweißpiraten (Günter Lange)
Teil 7: Forschung/Vermittlung
Agnes Gutter (Manfred Berger)
August Köhler (Manfred Berger)
Vorlesen (Eberhard Ockel)
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Aus der Akademie
Aufruf zur Fördernden Mitgliedschaft
bei der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendliteratur e.V. Volkach
Sie wollen die Kinder- und Jugendliteratur und das Lesen zusammen mit der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendliteratur fördern?
Dann können Sie Einzelmitglied (Privatpersonen) oder Verbandsmitglied (Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen, Verlage, Einrichtungen und Unternehmen verschiedenster Art) bei der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur werden.
Der Jahresbeitrag für eine fördernde Mitgliedschaft
beträgt als Einzelmitglied ab 50 Euro und als Verbandsmitglied ab 150 Euro.
Unsere Leistungen für Einzelmitglieder
– Zusendung von Zeitschrift Volkacher Bote, Jahresband und Veranstaltungskalender
der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
– Präsentation von ausgewählten Neuerscheinungen auf der Homepage (Titelbild und
Verlinkung auf der Homepage
– Präsentation von Buch- und Filmtrailern zum Buch/Autor auf der Homepage
– Monatliche Mitteilung zur Auszeichnung „Buch des Monats“
– Einladung zur jährlichen Preisverleihung sowie zu den Veranstaltungen der Akademie
Unsere Leistungen für Verbandsmitglieder
– Zusendung von Zeitschrift Volkacher Bote, Jahresband und Veranstaltungskalender
der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
– Einladung zur jährlichen Preisverleihung sowie zu den Veranstaltungen der Akademie
– Präsentation von Lesereisen mit ausgewählten Autoren auf der Homepage der Akademie
– Präsentation von ausgewählten Neuerscheinungen auf der Homepage (Titelbild und
Verlinkung auf der Homepage)
– Präsentation von Buch- und Filmtrailern zum Buch/Autor auf der Homepage
– Monatliche Mitteilung zur Auszeichnung „Buch des Monats“
– Möglichkeit von Kooperationsveranstaltungen mit der Akademie (Lesungen, Lesereisen, Fortbildungsveranstaltungen, Ausstellungen)
Haben Sie zusätzliche Fragen?
Kontaktieren Sie die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach:
Fon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.de
Internet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjl
Impressum
Volkacher Bote
Zeitschrift der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
Herausgeberin
Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. Volkach
Geschäftsstelle
Christina Maria Mayer, Schelfenhaus, Schelfengasse 1, 97332 Volkach
Fon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.de
Internet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjl
Bankverbindung
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IBAN DE 35 7905 0000 0043 2283 37, BIC BYLADEM1SWU
Schriftleitung und Redaktion
Dr. Franz-Josef Payrhuber, Goldbergstraße 23, 67551 Worms
Fon 06241-33562, E-Mail franz.payrhuber@t-online.de
Prof. Dr. Kurt Franz, Stieglitzstraße 3, 93180 Deuerling
Fon 09498-1391, E-Mail kurtfranz@t-online.de
Erscheinungsweise und Bezug
Der „Volkacher Bote“ erscheint bis auf Weiteres zweimal im Jahr als elektronische Zeitschrift, die kostenlos über die Homepage der Akademie heruntergeladen werden kann.
Anfragen bitte an die Geschäftsstelle der Akademie.
Copyright
Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der Deutschen Akademie
für Kinder- und Jugendliteratur in irgendeiner Form reproduziert oder übersetzt werden.
ISSN 1863-2599
Hans-Heino Ewers,
Gabriele von Glasenapp
Claudia Maria Pecher
(Hrsg.)
Lesen für die Umwelt
Natur, Umwelt und Umweltschutz
in der Kinder- und Jugendliteratur
Seit dem späten 18. Jahrhundert gelten
Kinder als naturnahe Wesen, Verstädterung und Industrialisierung haben dafür gesorgt, dass Kinder immer weniger über eine lebendige Naturerfahrung
verfügen. Dichtung und Literatur laufen seit jeher gegen die Entfremdung
von Natur und Gesellschaft Sturm.
Insbesondere die Kinderliteratur beschwor immer wieder die Einheit von
Kind und Natur.
Die Kinder- und Jugendliteratur unserer Tage hat Naturzerstörung und Umweltschutz zu ihrem Thema gemacht.
Seit Gudrun Pausewangs Die Wolke
hört die Jugendliteratur nicht auf, vor
Umweltkatastrophen unermesslichen
Ausmaßes zu warnen. Ökologische
Dystopien haben mit der FukushimaKatastrophe an Aktualität gewonnen.
Die Beiträge des Bandes machen deutlich, dass Kinder- und Jugendliteratur
aus Vergangenheit und Gegenwart Kinder und Jugendliche für Natur und Umwelt
zu sensibilisieren vermag. Der Band eignet sich für Pädagogen und Lehrkräfte aller
Schularten der Fächer Deutsch, Biologie und Religion, Buchhändler, Bibliothekare,
Kinder- und Jugendbuchfreunde, die bewusst ihren Beitrag zum Umwelt- und Naturschutz leisten möchten.
Die Herausgeber
Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen u. a. zur Theorie der Kinder- und Jugendliteratur, zur Geschichte der deutschen
Kinder- und Jugendliteratur vom 18. bis 20. Jahrhundert und zum aktuellen Wandel in der
Kinder- und Jugendliteratur.
Prof. Dr. Gabriele von Glasenapp, Leiterin der Arbeitsstelle für Leseforschung und Kinder- und Jugendmedien (ALEKI) an der Universität zu Köln und Professorin am dortigen
Institut für deutsche Sprache und Literatur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine
Kinder- und Jugendliteratur sowie Jüdische Literatur.
Dr. Claudia Maria Pecher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. Volkach, stellvertretende Vorsitzende der MärchenStiftung Walter Kahn.