Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi |Isolde Schaad Robinson und
Transcription
Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi |Isolde Schaad Robinson und
Nr. 4 | 25. April 2010 Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi | Isolde Schaad Robinson und Julia | Nelly Sachs Gedichte | Franziska Rogger, Monika Bankowski Russische Studentinnen in der Schweiz | Barbara Beuys Sophie Scholl | Markus Somm GeneralGuisan|Weitere Rezensionen zu Irène Némirovsky, Susan Sontag, Arthur Schopenhauer, Catherine Millet u.a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Tagebücher im Gespräch <wm>10CAsNsjY0MDAx1QWSZoYWABeRAsMPAAAA</wm> <wm>10CEXKOw6AMAwE0RMl2rXsfHAZkipCCBD3PwqIhmJeNXO6RXy1vl39cAJq4TWxuFWLkhO9iERopkNpAmKhGiTlWv3_Q1vDCQzgBuO-jgcghyPZXwAAAA==</wm> CHF 27,50 Die interessantesten Neuerscheinungen ganz bequem online bestellen – wir liefern schnell und zuverlässig. Auf Wunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch CHF 29,90 Inhalt Philosoph mit Pudel und Windfrisur Nr. 4 | 25. April 2010 Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi | Isolde Schaad Robinson und Julia | Nelly Sachs Gedichte | Franziska Rogger, Monika Bankowski Russische Studentinnen in der Schweiz | Barbara Beuys Sophie Scholl | Markus Somm GeneralGuisan|Weitere Rezensionen zu Irène Némirovsky, Susan Sontag, Arthur Schopenhauer, Catherine Millet u.a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Günter Grass (Seite 18). Illustration von André Carrilho Schon von Arthur Schopenhauer gehört? Aber kaum etwas von ihm gelesen? Dann ergeht es Ihnen wie mir, liebe Leserin, lieber Leser. Ob der Mann mit der schlohweissen Windfrisur, der zeitlebens mit dem Pudel herumspazierte und dessen Werk Leo Tolstoi, Samuel Beckett, Thomas Mann und Albert Einstein stark beeinflusst hat, heute zu Unrecht vergessen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Seine Polemiken gegen verbeamtete «Flachköpfe», sprich: deutsche Universitätslehrer, lesen sich aber heute noch mit Genuss. Hegel? Für Schopenhauer ein «miserabler Scharlatan» und Urheber einer «philosophischen Hanswurstiade», die wie eine Syphilis im Gehirn der Leser wüte. Journalisten? «ZeitungsSkribler», die nur die Sprache verhunzen. Die Ehe? «Heiraten heisst mit verbundenen Augen in einen Sack greifen und hoffen, dass man einen Aal aus einem Haufen Schlangen herausfinde.» Gewiss, nicht alles ist noch zeitgemäss am herrlich unkorrekten Philosophen, dessen letztes Notizbuch Manfred Koch hier rezensiert (Seite 16). Doch das Alterswerk überrascht durch ein Höchstmass an Frische und Frechheit. Insofern erscheint der alte Schopenhauer tatsächlich aktuell. Wirkt er doch weit jugendlicher und vitaler als manch prominenter Literat, der nur noch über das Nachlassen seiner Kräfte jammert. Meine Empfehlung: bitte lesen! Urs Rauber 18 Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der Westen Belletristik 4 6 Von Urs Rauber Olivier Philipponnat, Patrick Lienhardt: Irène Némirovsky 19 Catherine Millet: Eifersucht Von Regula Freuler Von David Signer Yishai Sarid: Limassol Von Christoph Plate 20 Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter Von Helmut Böttiger Roberto Zapperi: Abschied von Mona Lisa Von Geneviève Lüscher László Krasznahorkai: Seiobo auf Erden 8 9 Von Gerhard Mack Isolde Schaad: Robinson und Julia Von Angelika Overath 21 Markus Somm: General Guisan Von Manfred Papst 22 Barbara Beuys: Sophie Scholl Von Fritz Trümpi Nelly Sachs: Gedichte 1940–1970 Kathrin Röggla: Die Alarmbereiten Von Sandra Leis PHOTOPRESS / KEYSTONE 7 Mel Ramos: 50 Jahre Pop-Art Von Gerhard Mack 10 Vincent Overeem: Misfit Von Simone von Büren 11 Nicholson Baker: Der Anthologist Von Bruno Steiger Kurzkritiken Belletristik 11 Betina González: Nach allen Regeln der Kunst Von Regula Freuler William Styron: Sturz in die Nacht Von Manfred Papst General Henri Guisan – fast – privat am Telefon in seinem Landgut Pully bei Lausanne, um 1945 (Seite 21). Kurzkritiken Sachbuch 15 Melanie Mühl: Menschen am Berg Von Kathrin MeierRust Bruno S. Frey, Claudia Frey Marti: Glück Airen: I Am Airen Man Von Kathrin MeierRust Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte Von Geneviève Lüscher Von Regula Freuler Von Manfred Papst Interview 12 Franziska Rogger, Monika Bankowski, Historikerinnen: «Die Schweiz umerziehen» Von Urs Rauber Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Benjamin Disraeli Die Vögel der Familie Graviseth Gabi Köpp: Warum war ich bloss ein Mädchen? Von Urs Rauber Sachbuch 16 Arthur Schopenhauer: Senilia Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Über Glück und Unglück des Alters Von Manfred Koch 18 Kai Schlüter: Günter Grass im Visier Kai Schlüter: Deckname «Bolzen» Von Ina Boesch Bernhard Ruetz: Carl Christian Friedrich Glenck, 1779–1845 Von Charlotte Jacquemart 23 Tour de Suisse. Eine nostalgische Reise zu den schönsten Plätzen der Schweiz Von Urs Rauber 24 Jochen Voit: Er rührte an den Schlaf der Welt Von Andreas Tobler Angela Rohr: Der Vogel Von Stefan Howald 25 Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963 Von Kathrin MeierRust 26 Stankowski-Stiftung (Hrsg.): Ob Kunst oder Design ist egal – nur gut muss es sein Von Marc Peschke Das amerikanische Buch: Nell Irvin Painter: The History of White People Von Andreas Mink Agenda 27 Claudia Lanfranconi, Antonia Meiners: Kluge Geschäftsfrauen Von Regula Freuler Bestseller April 2010 Belletristik und Sachbuch Agenda Mai 2010 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin MeierRust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (ArtDirector), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, EMail: redaktion.sonntag@nzz.ch 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Biografie Über 60 Jahre nach ihrem Tod wurde ein unvollendeter Roman der französischen Schriftstellerin Irène Némirovsky zum Bestseller. Eine gründlich recherchierte Biografie stellt die in Auschwitz umgekommene Jüdin vor Olivier Philipponnat, Patrick Lienhardt: Irène Némirovsky. Die Biografie. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Knaus, München 2010. 576 Seiten, Fr. 52.–. Von Regula Freuler Am 11. Juli 1942 schreibt Irène Némirovs ky aus ihrem Zufluchtsort im Burgund einen Brief an den Programmleiter ihres Verlags Albin Michel in Paris: «In letzter Zeit habe ich viel geschrieben. Ich ver mute, es werden posthume Werke sein, aber es vertreibt mir jedenfalls die Zeit.» Am 13. Juli gegen zehn Uhr morgens bringen Gendarmen sie ins Durchgangs lager Pithiviers. Am 17. Juli wird sie in einen Waggon nach Auschwitz gezwängt, wo sie am 19. August 1942, im Alter von 39 Jahren, an Typhus stirbt. Zuletzt hatte die Autorin an einem Roman unter dem Titel «Suite française» gearbeitet, der 62 Jahre nach ihrem Tod erschienen ist und zur literarischen Sensation wurde. Wei tere Bücher Némirovskys wurden seit Bestseller im Koffer Bevor er im Oktober 1942 ins KZ deportiert wurde, übergab Irène Némirovskys Mann Michel Epstein den beiden Töchtern einen Koffer. Dieser enthielt die ersten beiden des auf fünf Teile angelegten Manuskripts des Romans «Suite française». Erst viele Jahre später öffnete Tochter Denise den Koffer, entzifferte die winzige Schrift mit der Lupe und tippte den Text ab. Die Originalausgabe von 2004 sorgte für Furore: der Roman einer Jüdin über den Krieg, entstanden in der Besatzungszone! 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 her teils neu übersetzt, teils neu heraus gegeben. Ihr bewegtes Leben und sein tragi sches Ende boten sich für eine erste umfassende Biografie geradezu an. Die französischen Journalisten Olivier Phi lipponnat und Patrick Lienhardt haben recherchiert, mit der älteren, noch lebenden Tochter Némirovskys gespro chen und 2007 ihre Ergebnisse präsen tiert, die nun auch auf Deutsch vor liegen. Die Biografen wählten den klassi schen chronologischen Weg, der mit der Herkunft der Eltern beginnt und mit dem postumen Druck einiger Werke endet. Viel Platz räumen sie der Kind heit der Autorin ein. Wir erfahren zahlreiche Details über Kiew, wo Irène (als Irina) Némirovsky 1903 in wohlhabende Umstände gebo ren wird. Die Sommer verbringt man gediegen auf der Krim; winters lässt man Irènes Asthma in französischen Badeorten behandeln, wo die Eltern – die so vergnügungs wie eigensüchtige Mutter Anna/Fanny und der ewig umtriebige Vater Leonid/Léon – die Casinos frequentieren. Eine französi sche Lehrerin erzieht das Einzelkind. So wird Irènes spätere Heimat schon früh zur kulturellen Wahlheimat. Dann kommt der Krieg, die Familie zieht 1914 nach Sankt Petersburg, flieht von dort via Moskau, Finnland und Schweden nach Paris, wo man 1919 ankommt. Ironische Beobachterin Die Mutter nimmt im Werk und dem entsprechend auch in der Biografie eine prägende Rolle ein. Die 1875 geborene, stets gepuderte Frau, die ihrer Tochter nie einen Kuss gibt und sich auch nicht von ihr küssen lässt, hält sich zeitlebens Liebhaber und geniesst den Reichtum ihres Mannes. Nur ewige Jugend kann INSTITUT MEMOIRES DE L’EDITION CONTEMPORAINE Sie schrieb im Angesicht des Krieges sie sich damit nicht kaufen, also kleidet sie die Tochter lange wie ein kleines Mädchen – um selbst jünger zu erschei nen. Nicht von ungefähr hält Irène Némirovsky 1934 fest: «Mutter – selt sam, dass ich dieses Wort bis jetzt nicht ohne Hass schreiben kann.» Diesen schreibt sie sich in zahlreichen Texten von der Seele, am eindrücklichsten in «Le Bal» (1930), «Le vin de solitude» (1935) und «Jézabel» (1936). Die 17Jährige, von klein auf ein Bücherwurm und immer mit Notiz buch unterwegs, schreibt sich 1920 für russische Literatur an der Universität in Paris ein. Sie ist eine fleissige Stu dentin, die aber auch die unbeschwer ten Seiten des Lebens kennt und die Nächte durchtanzt. Das «Lotterleben», das sie an ihrer Mutter verabscheut, führt sie nun teilweise selbst. Dabei bleibt sie stets eine kritische, oftmals ironische Beobachterin, was sich in Briefen und Prosa niederschlägt. 1924 erscheint ihre erste Erzählung, im Jahr darauf lernt sie den sieben Jahre älteren Michel Epstein kennen, ebenfalls Immi grant und Sohn eines russischen Ban kiers. Man heiratet 1926. Obwohl er bei dort, ihrer Bewegungsfreiheit im okku pierten Frankreich gänzlich beraubt und von Judenstatuten gegängelt. Némirovs ky hält trotz «arisierter» Verlagswelt an fahlen Hoffnungsschimmern fest. Sie publiziert unter Pseudonym, die Familie lebt jetzt allein von ihrem Einkommen. Von der Mutter (der Vater ist seit länge rem tot), die im Süden in Sicherheit und Luxus lebt, ist keine Hilfe zu erwarten. Wenige Monate nach seiner Frau wird Epstein 1942 abgeholt und gleich nach seiner Ankunft im KZ vergast. Ihre Töchter Denise und Elisabeth dagegen entkommen ihren Häschern. Bis zu ihrer Deportation arbeitet Irène Némirovsky an ihrem grossen Roman, «Suite française». Er spielt in einem Dorf wie Issyl’Evêque und – das ist das Ergreifende an ihm – ist aus der Tages aktualität heraus geschrieben. Die ers ten beiden Teile kann die Autorin been den, für den dritten Teil reicht es nicht mehr. Einmal vergleicht Némirovsky ihre von Tag zu Tag bedrohlicher wer dende Situation mit Naturkräften: «Ich arbeite auf glühender Lava. Ob zu Recht oder zu Unrecht, ich glaube, dass das die Kunst unserer Zeit von der anderer Zeiten unterscheiden muss, dass wir den Moment meisseln, mit heissen Din gen arbeiten.» Potpourri aus Leben und Werk einer Bank tätig ist, sind Mitte der dreissiger Jahre die Einkünfte der Schriftstellerin doppelt so hoch wie die ihres Mannes. Das verdankt sie dem fulminanten Start in der Literaturszene mit ihrem Débutroman «David Golder». 1929 – während die Schriftstellerin im Wochenbett liegt – wird das Manuskript bei Bernard Grasset (der auch «Die Pro tokolle der Weisen von Zion» druckt!) zur Publikation vorbereitet. Es ist ein Roman über einen jüdischen Financier. Doch Golder ist kein Geizhals, wie es dem Klischee entspräche, sondern ein Abenteurer, und Némirovskys Buch keine ideologische, sondern eine sozial kritische Lektüre. So viel Ruhm es ihr einträgt (es wird verfilmt, aufgeführt, vielfach übersetzt und allein auf Franzö sisch 60 000 Mal verkauft), so viel Ärger bringt es auch ein: Man wirft der Auto rin Antisemitismus vor – den sie weit von sich weist. Später räumt sie in einem Interview ein: «Wenn es Hitler schon gegeben hätte, dann hätte ich ‹David Golder› ganz bestimmt stark abgemildert und ihn nicht im selben Sinne geschrieben.» Dennoch spricht sie weiterhin von «Rassenmerkmalen» der Juden: «Mut, Hartnäckigkeit, Stolz [...] – in einem Wort: ‹Schneid›.» Eigen schaften, die sie selbst besitzt. Zum Glück, denn schon bald wird Schreiben zu ihrem Broterwerb, wovon die schnelle Folge der Produktion zeugt. Allein zwischen Mai und November 1934 bringt sie fünf Novellen heraus; zwischen 1935 und 1942 schreibt sie neun Romane (insgesamt sind es 20), eine TschechowBiografie und 38 Novellen. Die Kritik verfährt manchmal wohlwol lend, oft lobend, oft genug auch harsch mit ihren Texten, jenen «Röntgenauf nahmen» der Menschen dieser Zeit, wie Philipponnat/Lienhardt sie charakteri sieren. Sich selbst auferlegt die Autorin das Credo: «Schildern, beschreiben.» Spätestens ab 1933 schreitet die anti semitische Propaganda in Frankreich voran, die Lebensumstände für die Némirovskys/Epsteins werden härter. Und obwohl die ganze Familie 1939 zum Katholizismus übertritt, gelingt es Irène und Michel nie, die französische Staats bürgerschaft zu erhalten. Einen Tag vor Kriegsausbruch bringen sie ihre Mäd chen im Weiler Issyl’Evêque im Bur gund unter; zuletzt wohnen alle vier Schwieriges MutterTochter-Verhältnis: Irène Némirovsky mit Anna, genannt «Fanny», 1912 oder 1913, im Badeurlaub. Olivier Philipponnat und Patrick Lien hardt gehen detailliert auf Entstehung und Rezeption der Romane und der zentralen Novellen ein. Sie legen dar, wie sehr Irène Némirovskys Texte untereinander und mit dem Leben ihrer Autorin verwoben sind. Die Journalis ten sind zwei engagiert schreibende Anwälte der Schriftstellerin, die sie offensichtlich verehren und deren Argu mentation sie übernehmen, wenn es um genetische Fragen wie jene des «heissen Blutes» geht, das Némirovsky (zu ihrem Leidwesen) angeblich von ihrer Mutter übernommen habe. Respektvoll, manch mal geradezu ehrfürchtig würdigen sie Némirovsky als Autorin mit Selbstiro nie und einem Händchen für spitze Satire. Man erhält einen Einblick in die Lebensumstände der Juden in der Ukra ine und in Russland; wenn es um franzö sische Geschichte des Zweiten Welt kriegs und ihre Protagonisten geht, wird einiges Wissen vorausgesetzt. Das BiografenDuo bemüht sich – vermutlich für eine breitere Leserschaft – um eine leichte Sprache und einen nicht mit historischen Fakten überlade nen Text. Dennoch ist das Buch nur bedingt empfehlenswert. Oft mischen die Autoren Zitate aus unterschiedli chen Quellen wie Interviews, Briefen, Novellen und Romanen, deren Herkunft sie zum Teil nicht kennzeichnen. So ent steht ein bisweilen langfädiges Potpour ri aus Leben und Werk, dem man nicht immer ganz traut. Da bietet der Anhang in der deutschen Ausgabe von «Suite française» mit Notizen der Schriftstelle rin über Frankreich und ihr Romanpro jekt, Briefen sowie einem Nachwort die konzisere Einführung in Leben und Schreiben von Irène Némirovsky. l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Kriminalroman Ein israelischer Geheimdienstmann hilft aus Liebe zu einer Frau einem arabischen Terroristen Gewissensbisse plagen den Agenten Yishai Sarid: Limassol. Ein israelischer Ermittler zwischen allen Fronten. Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. Kein & Aber, Zürich 2010. 208 Seiten, Fr. 27.90. Manchmal müssen Verleger einfach Glück haben. Und manchmal kann ein Mord dem Absatz eines Buches förder lich sein. Wäre Yishai Sarids Krimi vor einem halben Jahr erschienen, wäre er bloss freundlich besprochen worden. Der israelische Autor ist Anwalt, er hat einmal für den Geheimdienst gearbeitet. Wie er die Zweifel seines Helden, der für den Shin Bet arbeitet, den israeli schen Inlandgeheimdienst, fein nach zeichnet, ohne dabei zu psychologisie ren, das ist gekonnt. Nun ist das Buch auf Deutsch just zu dem Zeitpunkt erschienen, als die Welt erfuhr, dass in Dubai am 19. Januar 2010 ein hochrangiger Vertreter der palästi nensischen Organisation Hamas getötet wurde. Und dass die Täter vermutlich Israeli waren. Israelische Agenten des Auslandgeheimdienstes Mossad sollen Herrn alMabhouh in einem FünfStern Hotel in Dubai so lange ein Kissen ins Gesicht gedrückt haben, bis er nichts mehr sagte. Eine solche Geschichte verlangt nach einem Drehbuch. Oder zumindest nach Erklärungen. Yishai Sarid erklärt uns ein bisschen, wie diese Leute arbeiten, wobei sein Held für den wesentlich erfolgreicher operierenden Inlandge heimdienst spioniert und nicht für den mystifizierten Auslandgeheimdienst ARIEL SCHALIT / AP Von Christoph Plate Mossad, dem der Mord in Dubai zur Last gelegt wird. Sarid lässt seinen eher feinfühligen ShinBetMann Zweifel entwickeln an dem, was er da tut: Wenn er dem Bruder eines Selbstmordattentäters beim Ver hör die Zähne ausschlägt und ihn später tötet, wenn er seiner Frau nicht mehr begründen kann, warum gerade er meint, sein Land vor Terroranschlägen bewahren zu müssen. Immer wenn die Frau zu sehr nörgelt oder der orthodoxe, in sich ruhende Chef quengelt, sehnt er sich nach der schönen israelischen Schriftstellerin, auf die er angesetzt ist. Sie hatte ihre grosse Zeit als gefeierte Autorin und bewunderte Schönheit vor der Intifada. Damals konnten palästi nensische Künstler und Schriftsteller noch aus dem Gazastreifen oder dem Westjordanland nach Tel Aviv kommen, In seinem Krimi schildert Yishai Sarid das Innenleben eines israelischen Agenten. wenn ein jüdischer Kollege eine Party am Meer gab. Aus dieser Zeit kennt Daphna den mittlerweile schwerkran ken Araber Hani, einen Gebildeten, der an der Plumpheit seiner palästinensi schen Umgebung im Gazastreifen fast ebenso zu leiden scheint wie an der isra elischen Repression. So, wie sich der ShinBetMann für die schöne Autorin erwärmt, so begeistert er sich für den Palästinenser, der nur für die Kunst leben will und der Politik müde ist. Interessant für den Geheimdienst ist er aber, weil sein Sohn vom Exil in Damas kus aus Terroranschläge gegen Israel plant. Er soll nach Limassol gelockt und exekutiert werden. Das ist gut erzählt, garniert mit Aus flügen ins Tel Aviver Drogenmilieu. Einige Bilder sind vorzüglich übersetzt: «Der ewige Salzatem des Meeres hatte Risse in den Wänden hinterlassen.» Manchmal scheint der Held gar wie ein nahöstlicher Wallander. Dass sich ein israelischer Autor um Araber bemüht, kommt heute selten genug vor. Sarid schafft in Hani einen gebildeten Edel mann. Bis zur Intifada kannten viele linke Israeli und israelische Künstler solch einen «guten Araber», einen, der keinen Groll gegen Juden und Israeli hegte, wohl aber gegen das Land. Solche gibt es bis heute, nur kennen immer weniger Israeli solche Menschen. Am Schluss konstruiert der Autor einen Verrat, der unnötig und gewollt wirkt. Diese Phantasterei relativiert den Realismus der vorangegangen 200 Sei ten. Dennoch, dies ist ein gutes Buch, vielschichtiger, als es die hemdsärmeli ge Art ahnen lässt, mit der Sarid in Inter views auftritt. l Erzählungen Der ungarische Autor László Krasznahorkai schreibt spielerisch über Zeit und Raum Vom unendlich strahlenden Blick László Krasznahorkai: Seiobo auf Erden. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 461 Seiten, Fr. 39.90. Von Helmut Böttiger Ehe wir ahnen, wie uns geschieht, sind wir schon entrückt und befinden uns in einer rhythmischen, verzaubernden Sprachmusik, die wir schon lange zu kennen glaubten, aber noch nie gehört haben. László Krasznahorkai umkreist solche Momente in seinen Erzählun gen immer intensiver. Da wird ein ein zelner Augenblick festgehalten und unversehens zur Kunst. Wenn ein Meister des japanischen NoTheaters in seiner Garderobe von seinem Thea teralltag, von seinem engen Termin plan und von seinem familiären Hin tergrund erzählt, ist die Göttin Seiobo, 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 die Unsterbliche, die auch Unsterblich keit schenkt, schon wie von selbst gegenwärtig. Krasznahorkai hat seine Erzählungen auf Ungarisch geschrieben, meistens spielen sie in Japan, und das Deutsch, in das Heike Flemming die vielfach in sich gespiegelten Sätze gebracht hat, nimmt diese verschlungene Sprachmelodie traumwandlerisch sicher auf. Es gibt Momente im Pariser Louvre, in denen die Zeit auf einmal stehen bleibt, es gibt Momente in der italienischen Renais sance, in denen die Kunst als grosse Vollenderin erscheint, aber am häufigs ten geschieht dies im Fernen Osten: Der weisse Reiher, der in der ersten Erzäh lung regungslos in einem Fluss der alten Kaiserstadt Kyoto steht und auf Beute lauert, wirkt wie ein Sinnbild. Vom Buddhismus, von der medita tiven Versenkung, vom unbedingten Aufgehen in der unmittelbaren Gegen wart her hat László Krasznahorkai spür bar seine Ästhetik entwickelt. Einmal beschreibt er bis ins kleinste Detail, wie eine alte Buddhastatue in einem japa nischen Kloster abgeholt, sorgsam res tauriert und nach einem Jahr wieder im Kloster aufgestellt wird – in der Beschwörung der kleinsten handwerkli chen Nuancen, dem Wiederherstellen des «unendlich strahlenden Blicks» aus halb geschlossenen Augenlidern wird in selbstverständlicher Beiläufigkeit auf das Unendliche verwiesen. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, nachzuvollzie hen, welche Entwicklung der Autor Krasznahorkai gemacht hat: von der «Melancholie des Widerstands», mit der er in Ungarn berühmt geworden ist, zu einer widerständigen Ästhetik, die mit leichter Hand mit Zeit und Raum spielt. l Roman Isolde Schaad macht ein Zürcher Liebespaar zu Wiedergängern der Literaturgeschichte Das Behagen der Geschlechter Limmat, Zürich 2010. 362 Seiten, Fr. 39.50. Von Angelika Overath Der Titel setzt hoch an. Mit «Robinson und Julia» werden zwei Klassiker der Weltliteratur zitiert: Shakespeares pro minente Liebestragödie und der Seefah rerroman von Daniel Defoe, der das Genre der «Robinsonade» begründete. Zwischen beiden Texten liegen weit über hundert Jahre und unbemessene Fluren der Kulturgeschichte. Im freien Spiel mit den Koordinaten der Figuren siedelt Isolde Schaad nun ihren Text munter und respektlos zwi schen Liebestod und Überleben an. Die Freiheit der Gestaltung scheint dem Imperativ des World Wide Web ver pflichtet: ein Mausklick – und Eva, ehren werte Urmutter der Genesis, taucht samt Adam in Zürich auf, wo ihre Verfüh rungskünste gleich vom modernen Alltag auf die Probe gestellt werden. Adam trägt Unterwäsche. «Man wurde ja im Freiluft haushalt nicht auf eine Intimbekleidung vorbereitet, und so ist dann der neben dir auf einmal eine variable irdische Neuheit. Ob im Namen von Jockey, Calida oder Hugo Boss: Ein Adam in der Unterhose wirkt beruhigend auf mich.» Immerhin wechselt er diese, was sie schätzt, täglich. Sie selbst wird sich bei Beate Uhse einde cken, was ihr Adam dann allerdings eher rührend findet. In ihrem Alter! Liebessog im Dreieck Einen erotischen Geschmacksverstärker und Jungbrunnen findet das geprüfte Paar in der quirligen Claps, einer Vereh rerin von Che Chevara, die immer wie der nach Chiapas, Mexiko, verschwin det, oder auch in Sheila, der Studentin aus Beirut, die, von der blondsträhnigen Eva beneidet, dickes, dunkles Haar wie Draht und einen Hauch Palästina konflikt in die Wohnküche mit geteiltem Kühlschrank bringt. Eva und Adam, die sich schon seit Urzeiten haben, werden zur Folie für Julia (Studentin der Bio chemie) und Derek Surrey Winston Robinson (Umweltprofessor in Berkeley und UnoBeauftragter für Regenwald schutz), die sich noch nicht haben. Aber Julia ist durch seinen «stahlblauen Blick» liebesverletzt: «Weg mit dem Kriegswerkzeug. Speerspitzen sind Fremdkörper im Fleisch, man muss sie entfernen, bevor sie sich entzünden.» Doch es ist schon zu spät. Dem Zwin kerVorspiel in Rio folgt der Augen koitus in Zürich: «Wie eiskaltes Glühen drang es in sie, als sich ihre Augen trafen.» Einmal heisst es von Eva: «Ihr Ausruf ist scherzhaft, doch er bleibt ernsthaft», und manchmal weiss der Leser beim besten Willen nicht, ob diese intelligente Autorin ihren Schabernack mit ihm treibt, ob sie ironisch Liebelei wahnsinn spielt oder ob sie tatsächlich an «ein ganzheitliches Leben» glaubt, das die Frau mit einer Frau teilt, «mit der sie den Mann teilt»? Und wenn ja, warum muss das alles dann so flott daherkommen? Mehr als auf die Paar logik zielt der Liebessog auf schöne Dreiecke: Adam zwischen Eva und Claps («Adam muss endlich Varianten des Weiblichen testen, und zu diesem Zweck bieten wir ihm zwei Mösen mit Umschwung an»). Eva zwischen Claps und Sheila («eine dieser frühreifen Ori entlerinnen, die sich unbedingt westlich gebärden wollen»). Heldinnen mit vielen Leben Isolde Schaad, begabt mit dem hyper realen und schonungslosen Blick einer Reporterin, gelingt bestes Milieukolorit zwischen der Zürcher SprüngliWelt und den Silhouetten von Rio, und dann stellt sie auch noch Lucas Cranach den Älteren an, um die ewige und nun alte Eva Müller mit den längsten Beinen aller holden Weiblichkeit zu malen («Zuerst ein gedehntes Ocker, viel Weiss, eine Spur gebranntes Siena, eini ge Tupfer Zinnober. Damit das Fleisch zu leuchten beginnt»): für eine ewige Jugend in den Uffizien. Schaads Buch ist verwirrend respekt los und anbetend zugleich, witzig, schnell, scharf. Es trägt die Handschrift einer belesenen, vielgereisten, klugen, erosbereiten Feministin. Immer wieder gelingt ihr im Reigen der frechbösen Kolumnenaufschwünge und Kolporta gen der kluge Aphorismus («Für eine richtige Krise braucht es doch erst ein mal die Ehe») und der frische Blick («Ihre von Ringen gedrosselte Hand war geballt») oder die überraschende Synästhesie, wenn das Wort «liiert» einen Geschmack hat von «verdorbener Mayonnaise» oder eine Frau sich im schwülen Bett fühlt wie «überlaufende Milch». Das letzte Wort bedenkt Cranachs blonde Verführerin. Was bleibt, ist «ihre Hingabe an das Leben». So zeigt sich die mit allen Wassern der 68er Generation gewaschene erfahrene Au torin zuletzt doch hoffnungsfroh. Ver mutlich könnte man diese Haltung romantisch nennen. Wer sich auf eine kohärente Handlung eingestellt hat, wird an diesem Buch weniger Freude JUSTIN HESSION / KEYSTONE Isolde Schaad: Robinson und Julia. Liebe über Zeiten und Kontinente. Isolde Schaad gelingt bestes Zürcher Milieukolorit; das Central in Abendstimmung. haben als neugierig schweifende Leser, die eine durch den Text irrlichternde Simone de Beauvoir ebenso goutieren wie einen mutterlos bubenhaften Jean Paul Sartre, der mit der jungen Eva Hilfsschreibkraft ins Bett geht. Einmal denkt Julia über Rio nach, das «in seiner Programmschönheit» aufging, «so dass man kein eigenes Gefühl dafür entwickeln konnte, nur nicken: phan tastisch, grossartig, nie eine grandiose re Stadt gesehen. Es traf zu und hatte doch kein inneres Echo». Spricht die Autorin hellsichtig in eigener Sache? Isolde Schaads Figuren haben, wie schnelle Helden in einem Computer spiel, viele Leben. Vielleicht hindert sie das an ihrem einzigen Dasein, das in uns nachklingen könnte. Das Buch funkelt, glitzert, sprüht Mythen und Metaphern und bricht doch dauernd bunt in sich zusammen wie ein Scherbenkinderspiel, das man vor den Augen dreht und dreht und dreht ... l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Lyrik Die Gedichte der deutschjüdischen Autorin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs liegen erstmals in einer kommentierten Ausgabe vor Nelly Sachs: Gedichte 1940–1970. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. Aris Fioretos, Matthias Weichelt und Ariane Huml. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010. 2 Bände, 344 /426 Seiten, je Fr. 68.90. Von Manfred Papst Erst spät im Leben fand sie zu ihrer eigenen Sprache. Zwar hatte Nelly Sachs schon in jungen Jahren geschrie ben, Gedichte von erhabenem Klang, auch Prosastücke, die 1921 in dem kaum beachteten Band «Legenden und Erzählungen» erschienen. Zur Dichterin aber wurde sie erst durch die Erfahrung von Krieg und Not, von Flucht und Exil. Im Mai 1940, als der Befehl für den Abtransport ins Lager bereits vorlag, entkam sie mit ihrer Mutter, einem Koffer und ein paar Reichsmark in einem der letzten Flug zeuge nach Stockholm. Ein solches Schicksal war ihr nicht an der Wiege gesungen worden. 1891 als einziges Kind einer assimilierten deutschjüdischen Fabrikantenfamilie geboren, wuchs Nelly Sachs behütet und in einigem Wohlstand auf. Sie war ein kränkliches Kind und wurde des halb drei Jahre lang von Privatlehrern unterrichtet. Als 17jähriges Mädchen verliebte sie sich heftig in einen wesentlich älteren Mann. Die Bezie hung endete unglücklich, Nelly Sachs verwand den Verlust nie, geriet in eine schwere seelische Krise und blieb ihr Leben lang unverheiratet. Aus ihren spärlichen Selbstzeugnissen kann man schliessen, dass sie in den dreissiger Jahren die Beziehung zu dem namenlo sen Menschen wieder aufnahm und dass dieser als Widerstandskämpfer von den Nationalsozialisten – mögli cherweise vor ihren Augen – gefoltert und umgebracht wurde. Als «Bräuti gam» geistert er durch ihre Texte. Die Shoah als Thema In den zwanziger und dreissiger Jahren führte Nelly Sachs ein zurückgezoge nes Leben. Sie pflegte ihren Vater, der 1930 nach langjähriger Krankheit an Krebs starb, danach wohnte sie so unauffällig wie möglich mit ihrer Mut ter an der Lessingstrasse in Berlin. Gelegentlich erschienen Gedichte von ihr in Zeitungen. Der Alltag wurde immer schwieriger. Die Gestapo lud sie zu Verhören vor, die Wohnung wurde geplündert. Täglich wurde klarer, dass es keine Alternative zum Exil gab. Schweden war für Nelly Sachs ein Traumland, weil sie als 15Jährige mit 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 Begeisterung Selma Lagerlöfs Roman «Gösta Berling» gelesen hatte und mit der Schriftstellerin in einen fast bis zu deren Tod im Frühjahr 1940 andauern den Briefwechsel getreten war. Nach der Flucht im Mai 1940 lebte Nelly Sachs mit ihrer Mutter im Stock holmer Stadtteil Södermalm und arbei tete zeitweise als Wäscherin, später auch als Übersetzerin. Die Einzimmer wohnung mit Küche, die sie 1948 bezog, sollte bis zu ihrem Tod ihr Zuhause bleiben. In ihrer Lyrik entwickelte sie nun die Themen und den Stil, die sie berühmt machen sollten: In Versen von bezwingender Emotionalität, die die Tradition der biblischen Psalmen auf nehmen, beschwor sie die Leiden des Volkes Israel. Noch während der Kriegsjahre entstanden die Gedichte, die 1947 in OstBerlin unter dem Titel «In den Wohnungen des Todes» publi ziert wurden. 1949 folgte der Band «Sternverdunkelung». Im Jahr darauf starb die Mutter – ein schwerer Verlust für die schon fast 60jährige Schrift stellerin, die bis dahin noch nie allein gelebt hatte. Beharrlich schrieb Nelly Sachs in der Einsamkeit weiter an ihrem Werk. Die Shoah blieb ihr Thema. Eingehend beschäftigte sie sich nun mit der jüdi schen Mystik, wie sie durch Martin Buber und Gershom Sholem vermittelt wurde, und studierte die Kabbala. In Paul Celan, mit dem sie sich brieflich austauschte und den sie 1960 in Paris besuchte, fand sie einen Wahlverwand ten. 1957 und 1959 erschienen ihre bei den Gedichtbände «Und niemand weiss weiter» und «Flucht und Ver wandlung», im Radio wurde 1959 ihr Mysterienspiel «Eli» ausgestrahlt, im Jahr darauf die szenische Dichtung «Simson fällt durch die Jahrtausende». Jetzt wurde Nelly Sachs auch in der BRD wahrgenommen. Doch glücklich machte sie das nicht. Nach Deutsch land wollte sie nicht mehr. Nur zur Entgegennahme von Preisen reiste sie in die einstige Heimat. Es bekam ihr nicht gut. Traumatisiert kehrte sie zurück. Zunehmend machten sich Anzeichen einer schweren psychischen Krankheit bemerkbar, die sie für drei Jahre in eine Klinik bei Stockholm brachte. Am 10. Dezember 1966 – exakt an ihrem 75. Geburtstag – wurde Nelly Sachs zusammen mit dem hebräischen Erzähler Samuel Joseph Agnon mit dem Nobelpreis für Literatur ausge zeichnet. Sie verschenkte das ganze Preisgeld. Zu ihren psychischen Leiden kam eine Krebserkrankung hinzu, an AGIP / RUE DES ARCHIVES Verse gegen Tod und Vergessen 1966 erhielt die Lyrikerin Nelly Sachs (1891–1970) den Literaturnobelpreis; sie verschenkte das Preisgeld. der sie schliesslich am 12. Mai 1970 starb. Allen Fährnissen zum Trotz schuf sie in den sechziger Jahren ein bedeu tendes lyrisches Spätwerk, das die Zy klen «Fahrt ins Staublose», «Noch feiert Tod das Leben», «Glühende Rätsel» und «Teile dich Nacht» umfasst. Im deutschen Sprachraum gewann sie pro minente Fürsprecher wie Hans Magnus Enzensberger, der auch ihr Nachlass verwalter wurde, und den Schweizer Werner Weber. Schmerz und Ehrfurcht Allmählich wurde die eruptive Kraft ihres von Trauer und Leidenschaft gezeichneten Werks in seiner ganzen Bedeutung erkannt. Es bietet beileibe keine leichte Lektüre. Es ist Trauer arbeit, kein Divertimento. Seine «durch schmerzte» Welt ist eine Zumutung. Doch es bleibt nicht beim Erschrecken stehen. Es sucht nach Schönheit, Anmut und Würde in einer verwüste ten Welt. Es ist von Sehnsucht, Hinga be, Ehrfurcht durchwirkt. Dass Nelly Sachs eine Werkausgabe verdient, steht ausser Frage. Dass die Herausgeber sich entschieden haben, das von der Dichterin verworfene Frühwerk nicht aufzunehmen, mag man bedauern. Doch geht es hier ja nicht um eine Gesamt, sondern um eine kommentierte Werkausgabe, die sämtliche publizierten Texte seit 1940 sowie eine repräsentative Auswahl der unpublizierten Arbeiten bringt. Nach der Lyrik sollen die szenischen Dich tungen, die verstreute Prosa und die Übertragungen erscheinen. Die beiden bisher vorliegenden Bände überzeu gen durch Sorgsamkeit, Exaktheit und schöne Gestaltung. l Prosatexte Die Österreicherin Kathrin Röggla protokolliert Auswüchse der überhitzten Mediengesellschaft in kunstvoll verdichteten Variationen Wenn Panik um sich greift schaftern und Virologen vom Robert KochInstitut zu reden. Der Mutter wirft die Elternsprecherin vor, sie leide nicht wie andere unter den «üblichen elternpaniken», sondern sie habe «voll zeitpaniken» entwickelt; sie habe ihr Kind als «tickende zeitbombe» begrif fen, und jetzt sei diese endlich explo diert. Ob der Schilderung gerät die Sprechende selbst derart in Panik, dass die Unterredung desaströs endet. Kathrin Röggla: Die Alarmbereiten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 189 Seiten, Fr. 33.50. Von Sandra Leis Sie ist ein Multitalent und eine eigen willige Spracharbeiterin dazu. Kathrin Röggla, 1971 in Salzburg geboren und in Berlin wohnhaft, ist Theater und Hörspielautorin, Essayistin und Schriftstellerin, die spätestens seit ihrem kapitalismus und karrierekriti schen Roman «wir schlafen nicht» (2004) zu den politisch brisanten Stim men der deutschsprachigen Literatur zählt. Wie andere vor ihr auch schreibt Röggla konsequent alles klein; sie steht in der Tradition der Wiener Gruppe von Elfriede Jelinek sowie von Filmau tor Alexander Kluge, zu dessen Arbeits grundlage die journalistische Recher che gehört. Zwei thematische Schwerpunkte zeichnen Kathrin Rögglas Werk aus: Zum einen befasst sie sich mit Ökono mie und Arbeit, zum andern mit Kata strophen und Ausnahmezuständen, oft sind beide Stränge ineinander ver zahnt. Der Ausnahmezustand ist für sie nicht erst seit 9/11 relevant, er ist es seit ihrer Kindheit, denn ihr Vater hat in Krisengebieten gearbeitet. Literarische Zeitzeugin Ebenfalls geglückt sind zwei andere Erzählungen. In «das recherchege spenst» (2008 als Hörspiel ausge strahlt) versucht ein Bruder seine Schwester zur gemeinsamen Arbeit anzutreiben, doch sie zweifelt am Sinn ihrer Tätigkeit als Journalistin und mag den Mitarbeitern von Hilfsorganisatio nen in Krisengebieten nicht mehr hin terherhetzen. Ihr Fazit: Aufbauarbeit sei eine Form von Neokolonialismus. In «wilde jagd» schliesslich persifliert und entlarvt Kathrin Röggla den medi alen Wirbel genauso wie die lüsterne Aufregung der Bevölkerung im Fall des jahrelang in Strassdorf bei Wien gefan gen gehaltenen Mädchens Natascha Kampusch. Was 2009 im Schauspiel haus Düsseldorf als Theaterstück unter dem Titel «Die Beteiligten» zur Urauf führung gelangt ist, findet sich jetzt in abgewandelter Form als Prosatext in diesem Band. Ein vielstimmiger Chor, dessen Gesang aufs heftigste anschwillt, bis er abrupt abbricht und sich erbarmungs los einem neuen Objekt zuwendet. Mit solchen Texten beweist die Schriftstel lerin Kathrin Röggla eine literarische Zeitzeugenschaft, wie sie heute selten geworden ist. l Pop-Art Textilfreie Blondinen massenhaft Ihr neues Buch «die alarmbereiten» ist eine furiose Anklageschrift gegen die zunehmende Medialisierung und Kom merzialisierung der Katastrophe sowie gegen die sensationsgierige Öffentlich keit. In sieben Prosastücken seziert sie eine von Klima, Natur und Finanzkri sen geschundene Welt, und gleich im ersten ihrer Texte erfindet Röggla eine «agentur desastertourism», der die Kunden abhandenkommen. Wer dem Elend – und sei es nur in einer Ver suchsanordnung – ins Antlitz schaut, hält dem Grauen auf Dauer nicht stand. Jede Geschichte hat einen IchErzäh ler oder eine IchErzählerin, doch diese sind degradiert zu reinen Proto kollanten, die sich ausschliesslich der indirekten Rede bedienen. Das klingt dann im Seminarraum aus «der über setzer» so: «man dürfe diesen ort aber nicht mit seiner stammkneipe ver wechseln (…), das werde mir doch klar sein, denn jetzt gehe alles den bach runter (…) – eben wegen dieser ver trauenskrise, die wir hier auswendig lernen müssten.» All dieser Wortmüll findet in Rögglas Prosa sein direktes Abbild – manchmal platt, oft kunstvoll verdichtet und sprachlich durchkom poniert. Glanzstück ist der Text «die erwach senen»: Eine Mutter wird in die Schule ihrer Tochter bestellt, weil diese offen bar die anderen Kinder manipuliert und behauptet, mit Ernährungswissen PRO LITTERIS Komponierter Sprachmüll Eine Blondine räkelt sich auf einem Logo von CocaCola. Männer werden das Bild zwar anders anschauen als Frauen, wirklich missverständlich ist es aber nicht. Dennoch glaubt Mel Ramos warnen zu müssen: «Ich achte darauf, dass meine Bilder ‹geschmackvoll› sind, dass sie immer einen Anflug von Humor haben.» Der 1935 geborene Kalifornier ist jener Pop-Klassiker, der sich am weitesten auf die medialen Reize der Werbesprache für den Massenkonsum eingelassen und deshalb auch Herablassung erfahren hat. Er malt gerne nackte Frauen und ergänzt sie mit Labels, die wir aus dem Supermarkt kennen. Die Frauen und, wenn man will, wir Zeitgenossen prostituieren uns heute als Dinge, die sich von käuflichen Produkten kaum unterscheiden. So könnte das Statement einer Kunst lauten, die stets besorgt ist, amüsant und locker zu bleiben. Der Band spannt von den frühen figurativen Gemälden bis zu den jüngsten Skulpturen das Panorama von Ramos’ Werk auf. Essays und Studien legen Bezüge zur Kunstgeschichte offen. Die Provokation ist verflogen, es bleibt eine Hommage ans Objekt der Begierde Frau. Gerhard Mack Mel Ramos: 50 Jahre Pop-Art. Hrsg. Otto Letze. Hatje Cantz, Ostfildern 2010. 280 S., 169 Abb., Fr 33.50. 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Débutroman Das Leben aus der Perspektive eines schwierigen Teenagers Fragile Jugend in fremder Welt Vincent Overeem: Misfit. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. BerlinVerlag, Berlin 2010. 240 Seiten, Fr. 33.50. «Ich stand da vor der Matratze und dachte an alles, was passiert war, und hätte schreien können», gesteht der 18jährige Protagonist von Vincent Overeems Débutroman in der stillen Intimität der IchErzählung. Aber er schreit nicht. Er konzentriert sich statt dessen ganz auf Kaat, die schöne zwan zigjährige Studentin, die seit ein paar Wochen halbnackt in seinem Bett liegt und ohne die er sich sein Leben schon gar nicht mehr vorstellen kann. Ihr erzählt er viel, jedoch vor allem Erfun denes – etwa, dass sein kleiner Bruder in einem Internat ist und nicht gerne telefoniert. Kaat und die kurze Chronik dieser Liebesbeziehung – Tage am Meer und nächtliche Ausflüge in den Zoo – schiebt er zwischen sich und die Stadt, in die er vor den «Wiesen, Was sergräben und Kühen» seiner Kindheit geflohen ist. Doch seit kurzem hängt Kaat nur noch wortkarg und schlecht gelaunt in seinem Dachzimmer auf der schmud deligen Matratze herum. Zu sich nach Hause in ihr SchickimickiViertel hat sie ihn noch nie mitgenommen. Sie rea giert gereizt, wenn er ihr Fotos von seinem schmächtigen Bruder zeigt, mit dem er angeln ging und auf dem Dach boden SichtotStellen spielte. Sex will sie auch keinen mehr haben, nur Tier filme schauen, in denen es immer um dasselbe geht: «Ob die Beute entkommt oder nicht.» Tiere erinnern den Erzäh ler an seinen Vater, den Veterinär, mit «seinen kranken Kühen, toten Kälbern und lahmen Gäulen»; an den Vater, der das Jucken der Brennnesseln nicht spürt und in dessen Gegenwart der Bruder zusammenschrumpft. Zunehmend paranoid Hat das Gefühl latenter Unheimlich keit, das die Stimmung des Romans von der ersten Seite an prägt, mit diesem Vater zu tun? Oder vielmehr mit der drückenden Hitze, welche die Stadt seit Wochen in einen Ausnahmezustand versetzt und in der «alles irgendwie dunkler aussah»? Dem Erzähler kommt seine Umgebung jedenfalls plötzlich feindselig und fremd vor. Die Dach decker «mit ihren schweissglänzenden Oberkörpern» starren lüstern ins Zim mer und lachen «wie die Hyänen in Kaats Tierfilmen.» Die Matratze ist unten sicher schon längst angeschim melt. Und der Knirps mit dem wackeln den Kopf im Treppenhaus erinnert den Erzähler an seinen «sonderbaren, ver queren kleinen Bruder», der manchmal so alt wirkt und Dinge sagt, «über die man erschrickt.» 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 ROGER CREMERS / HOLLANDSE HOOGTE Von Simone von Büren Sommer in Holland: In seinem Erstling schildert Vincent Overeem das Zerbrechen einer jungen Liebe. Als Kaat sich aus unerfindlichen Gründen aus dem Staub macht, nimmt das Unheimliche überhand. Verdrängte Gefühle und alte Traumata legen sich über den Alltag und verzerren ihn. Ge wöhnliche Menschen und Handlungen scheinen sich gegen den zunehmend pa ranoiden Erzähler zu richten, sein eige nes Spiegelbild erscheint ihm als «To tenschädel unter der Haut», «wie ein aufgescheuchtes Wild» irrt er ziellos durch die Stadt. Feinfühlig schildert der 36jährige Vincent Overeem, der sich in den Niederlanden bereits mit seinem noch nicht auf Deutsch übersetzten Erzählband «Novembermeisjes» einen Namen gemacht hat, die Welt in «Mis fit» aus der Perspektive eines Teen agers, der wie ein Espenblatt auf den kleinsten Windhauch reagiert. Ein Teen ager, der reifer ist als seine Altersge nossen und doch verloren. Sozusagen ein niederländischer Holden Caulfield, mit ebenso direkter, aber gepflegterer Sprache, mit weniger Wut, aber umso grösserer Zerbrechlichkeit. Die Vergangenheit des 18Jährigen und ihre Auswirkungen erschliessen sich uns stückweise und in Andeu tungen. Overeems Erzähler erinnert sich «an alles haargenau», wischt aber darüber hinweg. Diese Skizzenhaftig keit ist eine der Stärken des Texts. Erst gegen Schluss verstehen wir, wieso der Erzähler wie ein moderner Hamlet «sinnierte, dass man lebt und stirbt und welcher Idiot sich das wohl ausgedacht hat. Solche Sachen. Wer mich vermis sen würde, wenn ich im Sarg lag». Wieso er sich «andauernd schuldig» fühlt und sich so beunruhigen lässt von den Kühen, Fischen, Schwänen, Hun den, Schmeissfliegen und vielen andern Tieren, die als hartnäckiges Motiv den Roman durchziehen. Und wir erahnen, dass er, dem immer «alles so mühelos» von der Hand ging, ins Abseits gerät, weil er auf diese Weise seinem Bruder am nächsten ist, der nirgends hinpasst, der ein Misfit ist, ein Aussenseiter, mit seiner durchsichtigen Haut und dem widerspenstigen Wuschelkopf – eines dieser Kinder, die im allgemeinen Tru bel «etwas abseits vor sich hin bib bern». Was ist real, was nicht? Dass in «Misfit» auf langen Strecken das Vergangene die Oberhand über das Gegenwärtige gewinnt, zeigt Overeem unter anderem, indem er die Passagen in der Stadt in Vergangenheitsform erzählt, die immer ausführlicher erin nerten Episoden hingegen im Präsens, wodurch sie eine grosse Unmittelbar keit erhalten. Was zeitlich zurückliegt und psychisch vom Protagonisten bis zur Verneinung abgespalten worden ist, infiltriert das Gegenwärtige und sabotiert es. Der Knirps im Treppen haus, der dauerpräsente Vermieter, der krebskranke Hund, die spielenden Jun gen im Nebenzimmer geistern in der flirrenden Hitze durch die Grünanla gen und Strassen der Stadt, bis wir auch als Leser nicht mehr sicher sind, was real ist und was die Fata Morgana einer zerbrechlichen Psyche. Es sind die beiden spielenden Jungen, die die Blase der Trauer schliesslich platzen lassen, so dass die alten Gefühle hineinfliessen in die neuen Räume und es endlich ein wenig kühler wird. l Roman Launige Melange aus Trivialprosa und theoretischer Reflexion Seine Laufbahn war ein Witz Kurzkritiken Belletristik Betina González: Nach allen Regeln der Kunst. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. 191 Seiten, Fr. 32.90. William Styron: Sturz in die Nacht. Die Geschichte einer Depression. Ullstein, Berlin 2010. 125 Seiten, Fr. 25.90. Wie sein Name andeutet, war der Bild hauer Fabio Gemelli ein Mann mit vie len Gesichtern. Seine jüngere Tochter Claudia, die IchErzählerin, hielt ihn für einen untalentierten Hochstapler. Nach seinem Unfalltod entdeckt sie zufällig beziehungsweise durch ehema lige Geliebte und Weggefährten Gemel lis noch mehr Identitäten ihres Vaters: War er ein Politaktivist? Ein Esoteriker und vielleicht doch erfolgreicher Künstler? Bloss ein Ehrgeizling und Fälscher? Sicher ist: Gemelli war ein Lügenbaron «nach allen Regeln der Kunst». Ebenso kunstvoll entflicht die 1972 geborene Betina González in ihrem preisgekrönten argentinischen Bestsel ler den Knäuel von Geschichten, die sich um diese Figur ranken. Spannung und Einfühlsamkeit halten sich in diesem wohltemperierten Roman die Waage. Regula Freuler Der amerikanische Erzähler William Styron (1925–2006), der 1968 für «Die Bekenntnisse des Nat Turner» mit dem PulitzerPreis ausgezeichnet wurde, ist vor allem durch die Verfilmung seines Romans «Sophies Entscheidung» (1979) mit Meryl Streep und Kevin Kline bekannt geworden. 1985, nach dem Ende einer 40jährigen AlkoholKarrie re, geriet Styron in eine schwere Depres sion, die zu Angstzuständen führte und ihn an den Rand des Selbstmords brach te. Medikamente und ambulante Thera pien konnten ihm nicht helfen. Erst in der Monotonie des Klinikalltags fand er wieder zu sich selbst. Der Bericht über seine Krankheit, der nun in überarbei teter Version der erstmals 1991 erschie nenen deutschen Übersetzung wieder aufliegt, überzeugt durch seine Offen heit, Anschaulichkeit, Aufrichtigkeit – und durch das Fehlen jeder Larmoyanz. Manfred Papst Airen: I Am Airen Man. Roman. Blumenbar, Berlin 2010. 176 Seiten, Fr. 29.90. Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Suhrkamp, Frankfurt 2010. 59 S., Fr. 12.90. Das FeuilletonEreignis des Frühjahrs war die Debatte um Helene Hegemanns Début «Axolotl Roadkill». Einige Sätze daraus entstammen dem Buch gewor denen Blog eines Bayern, der in Berlin aus dem UnternehmensberaterDasein und der Seelenleere in Drogen und Sexex zesse flieht und diese als ‹Airen› im Inter net festhält – eine Litanei, die von stilis tischer Unfähigkeit strotzt. Der Zweit ling, «I Am Airen Man», sei sein «State ment als Schriftsteller». Diesmal kokst/ tanzt/fickt Airen sich durch MexikoCity, lernt seine grosse Liebe kennen, die eben falls Drogen und Bisexualität zugeneigt ist. Sie wird schwanger, Rückkehr nach Berlin, Neuanfang. Manche Sätze sind verzweifelt, manches ist Kitsch, das meis te einfach schlecht geschrieben. Airen fühlt sich den Berufskollegen überlegen, verwechselt weiterhin Drogensucht mit Erfahrung und entlarvt sich selbst öfters als kreuzbanaler Spiesser. Regula Freuler Der 1962 in Dresden geborene Lyriker, Essayist und Übersetzer Durs Grünbein verkörpert beispielhaft den Typus des Poeta doctus, des gelehrten Dichters. Sein weitverzweigtes Werk, das 1989 mit dem Gedichtband «Grauzone morgens» anhob, ist bildungsgesättigt, komplex und reich an Anspielungen. In seiner 2009 gehaltenen Frankfurter Poetikvor lesung indes kehrt Grünbein keineswegs den elitären Autor heraus. Unprätentiös, exakt und mit verhaltener Selbstironie berichtet er von seinen lyrischen Anfän gen und vom schwierigen Weg zu einem eigenen Ton und Rhythmus. Er denkt darüber nach, wie man in einem Zeital ter, das keine verbindliche Poetik mehr kennt, noch über die «unbewachte Sekunde der Eingebung» und über lyrische Formen sprechen kann, und kommt zu so originellen Formulierungen wie derjenigen, dass die Poesie «das schlechte Gewissen der Literatur» sei. Manfred Papst Nicholson Baker: Der Anthologist. Aus dem Englischen von Matthias Göritz und Uda Strätling. C. H. Beck, München 2010. 256 Seiten, Fr. 34.50. GUILLEM LOPEZ / ULLSTEIN BILD Von Bruno Steiger Launig – wenn nicht enervierend munter – muss man wohl den Tonfall nennen, mittels dessen uns Nicholson Bakers IchErzähler für die technischen Fein heiten von Lyrik zu begeistern versucht. Paul Chowder heisst er, und wir, das sind die Leser des Buchs. In lustvoll variierter Penetranz zieht sich das kumpelhafte «Hallo» des Buchanfangs durch die Sei ten dieser eigentümlichen Melange aus Trivialprosa und dichtungstheoretischer Reflexion. Über diverse, in betont läs sigem Plauderton gehaltene Abschwei fungen gelangt Letztere nur selten hinaus. Ähnliches gilt für die erzähle rischen Einschübe, in denen uns Bakers Protagonist vorab über seine Gemütsla ge informiert. Schon auf der ersten Seite wartet er mit einem Selbstbekenntnis auf: «Mein Leben ist eine Lüge, meine Laufbahn ein Witz, ich bin der klassische Versager.» Das klingt genauso kokett, wie es gemeint sein dürfte. Grossen Raum nehmen Chowders Rapporte über den Stand seiner Arbeit an einer Sammlung gereimter Lyrik ein. Die Einleitung zu dem als grundlegend geplanten Werk kriegt er nicht in den Griff, es bleibt bei Vorstudien. Aus die sen nähren sich die theoretischen Passa gen des Romans. Zwischen einigen nicht ganz uninter essanten poetologischen Steilvorlagen – «Lyrik ist die kunstvolle Verfeinerung des Schluchzens» – wartet Baker immer mal wieder mit kleinen Anekdoten über die von seiner Hauptfigur be vorzugten Autoren auf. Es handelt sich dabei durchweg um englische und amerikanische Dichter und Dichterinnen, viele in unseren Breitengraden wohl nur dem Spezialisten bekannt und in den zahlreichen Zitaten des Buchs erstmals über setzt. Das primäre Ziel scheint jedoch darin bestanden zu haben, die Tonlage des Romans in ein kongeniales, will heissen: adäquat saloppes Deutsch zu übertragen. Dass dies ohne allerlei sprachliche Spässe des Kalibers «mit einer Flasche Bein zu wett gehen» nicht zu lei sten war, dürfte auch für die Übersetzer eher schmerzvoll gewesen sein. l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Interview Franziska Rogger und Monika Bankowski haben den Nachlass einer der ersten Medizinstudentinnen der Uni Zürich ausgewertet. Entstanden ist eine kurzweilige Monografie zum schweizerischen Frauenstudium und seinen russischen Pionierinnen. Interview: Urs Rauber «Die Schweiz umerziehen» Bücher am Sonntag: Am 14. Dezember 1867 er- hielt die Russin Nadeschda Suslowa an der Universität Zürich «als allererste Frau den Doktortitel». Sie nennen das Ereignis «eine echte Sensation». Womit in der Frauengeschichte ist es vergleichbar? Franziska Rogger: Am ehesten mit den inter nationalen Pionierinnen für das Frauenstimm recht. Monika Bankowski: Das Ereignis hat in der schweizerischen Öffentlichkeit und in Russland ein grosses Echo ausgelöst. Wir gehen davon aus, dass es auch in der Weltpresse eine wichti ge Meldung war. Sie legen ein Buch über die Anfänge des Frauenstudiums vor, das sich süffig liest. Man fragt sich, wie zwei Autorinnen ein solches Werk schreiben können, ohne dass man irgendwo einen Stilbruch bemerkt. Wie haben Sie sich aufgeteilt? Rogger: Die Aufgaben waren klar getrennt. Monika hat aus einem Papierhaufen auf einem Zürcher Estrich einen Nachlass gemacht. Es war die Korrespondenz der Russin Virginia Rogger und Bankowski Franziska Rogger, geboren 1949, ist promovierte Historikerin und Archivarin der Universität Bern. Sie hat verschiedene Ausstellungen gestaltet, Bücher verfasst und als Journalistin gearbeitet. Die ausgebildete Slawistin und Historikerin Monika Bankowski, geb. 1946, ist als Referentin an der Zentralbibliothek Zürich tätig. Sie war Mitautorin und -herausgeberin verschiedener Fachpublikationen. Nun haben sich die zwei sachkundigen Frauen zusammengetan, um ein amüsantes, reich bebildertes und gut geschriebenes Buch zu den Anfängen des schweizerischen Frauenstudiums und seinen russischen Pionierinnen herauszubringen: «Ganz Europa blickt auf uns». Es ist erschienen bei Hier + jetzt, Baden 2010 (292 Seiten, Fr. 51.90). 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 «Die Russinnen kamen nicht aus feministischen Gründen an die Universitäten in der Schweiz, sondern weil sie die Revolution in Russland vorbereiten wollten.» Schlykowa, die in den 1870er Jahren in der Schweiz Medizin studiert hatte. Viele Zettel chen ohne Datum, bei denen immer wieder mal eine Seite fehlte, in russischer, deutscher oder armenischer Sprache. Das alles hat sie in minu tiöser Kleinarbeit geordnet und übersetzt, anderthalb Jahre lang fast Tag und Nacht. Bankowski: Vor allem nachts – am Tag war ich in der Zentralbibliothek Zürich beschäftigt. Rogger: Zudem hat sie Memoiren, Sekundärlite ratur und weitere Korrespondenz aus einem russischen Archiv ausgewertet: die Briefe des Zürchers Friedrich Erismann an seine Frau Nadeschda Suslowa. Sie hat also die wissen schaftlichphilologische Seite betreut. Und aus diesem Material habe ich das Buch geschrie ben. Der journalistische Stil und die Sprache des Buches stammen von mir. Bankowski: Es war der Wunsch der Nachlassbe sitzerin, dass wir ein lesbares Buch machen, keine wissenschaftliche Edition. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie einen Nachlass auswerten konnten, den noch niemand bearbeitet hat? Bankowski: Es war wie eine Schatzsuche! Ich kam in ein Goldgräberfieber, achtete nicht mehr auf die Zeit, vergass manchmal das Essen. Und als ich sah, wie sich die Puzzleteile lang sam zu einem Bild zusammenfügten, war das ein erhebendes Gefühl. Wo schlummerte dieser Nachlass? Bankowski: Er lagerte bei der Zürcher Politike rin Franziska FreyWettstein, der Urenkelin von Virginia Schlykowa. Rogger: Dass er immer noch vorhanden war, hat damit zu tun, dass die Familie bis heute im glei chen Haus gewohnt hat. Es waren zwei alte Kof fer und ein paar Kisten voller Papier. Bankowski: Die Nachkommen konnten die Dokumente teilweise nicht entziffern oder hat ten keine Zeit dafür. So blieb alles zusammen. Teilweise waren es Briefe, die aus einer Laune heraus entstanden sind. Manchmal enthielten sie zum Beispiel nur die Angabe: «Mittwoch, 7. September». Dann musste ich eruieren, in welchem Jahr das war, Indizien finden für einen Hinweis auf die Datierung und das Umfeld. Rogger: Bei vielen Namen galt es herausfinden, von wem die Rede war. Andere Briefe gaben nicht viel her – wie zum Beispiel Liebesbriefe. Sind die nicht besonders aufschlussreich? Bankowski: Ach, es hat sich vieles wiederholt. Rogger: Oder die ellenlangen Beschreibungen zwischen Mutter und Tochter, welchen Stoff sie in Paris kaufen wollten. Bankowski: Das hingegen fand ich interessant: zu erfahren, in welchem Winter welcher Braun ton zum Beispiel in Moskau in Mode war. Wie waren Ihre Erfahrungen in russischen Archiven? Bankowski: Ich war zwei Wochen im staatlichen Archiv der Autonomen Republik Krim in der Ukraine. Dort habe ich bereits 1992 mit einer Freundin den Nachlass von Nadeschda Suslowa exzerpiert – damals noch in mühseliger Hand arbeit, da es noch kein Notebook gab. Aufgrund der Archivregistratur wissen wir, dass wir die ersten westlichen Forscherinnen waren, die diese Akten einsehen konnten. Der Titel Ihres Buches lautet: Ganz Europa blickt auf uns. Rogger: Der Titel hat seine Tücken. Die heuti gen Frauenforscherinnen nehmen an, dass die russischen Studentinnen in die Schweiz kamen, um das Frauenstudium, also ein Frauenrecht, zu institutionalisieren. Das war die bisherige Aussensicht. Mit diesen Briefen haben wir nun erstmals den Blick von innen: Die Russinnen kamen nicht aus feministischen Gründen, son dern weil sie die Revolution in Russland vorbe reiten wollten. Als die russische Studentin Anna Oehme den zitierten Ausspruch tat, dachte sie vor allem an die Vorbereitungen zur Umwälzung in Russland. Gleichzeitig waren sich die Kommilitoninnen aber durchaus bewusst, dass man argwöhnisch beobachtete, ob sie als erste Frauen an der Uni wirklich MARION NITSCH Interessiert an Studenten- und Frauengeschichte: Die Historikerinnen Monika Bankowski (links) und Franziska Rogger in der Zentralbibliothek Zürich. 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview reich an den Schweizer Hochschulen einge schrieben. Unter den 350 Studierenden an der Uni Zürich im Jahr 1872 waren 60 Russinnen! Unglaublich. Warum so viele Russinnen? Rogger: Später war es gar noch krasser. An der Universität Bern studierten im Jahr 1905 rund 200 Medizinstudenten sowie 400 Medizinerin nen aus Russland! Das wäre, wie wenn heute in einem Hörsaal neben 200 Schweizer Männern 400 BurkaTrägerinnen sässen. Bankowski: Im Zarenreich war es trotz der poli tischen Rückständigkeit möglich, dass Frauen als Hörerinnen die Universität besuchen konn ten, vor allem in St. Petersburg. Obwohl die Reformen nur harzig anliefen, wurden die Grenzen geöffnet, es kam ausländische Litera tur ins Land und die jungen Leute sogen sozial revolutionäre Ideen auf. Als die Petersburger Universität in den 1860er Jahren nach den ers ten Unruhen geschlossen wurde, mussten sich die jungen Hörerinnen überlegen, wo sie wei terstudieren könnten. Sie alle hatten im Sinn, mit ihrer medizinischen Bildung etwas zum Volkswohl beizutragen. Die zielstrebige Nade schda Suslowa versuchte es zuerst in Paris, wurde aber von der Sorbonne abgelehnt. Dann probierte sie es in Zürich, wo bereits zahlreiche junge Russen studierten. Auch am Polytechnikum, der heutigen ETH, war die erste Mathematikstudentin eine Russin. Warum keine Schweizerin? Haben Ihre schweizerischen Geschlechtsgenossinnen im 19. Jahrhundert geschlafen? Rogger: Um ein böses Wort zu verwenden: Es ging ihnen zu gut. Sie hatten nicht diesen Antrieb wie die Russinnen, etwas Neues zu wagen. Die russischen Studentinnen mokierten sich darüber, dass die Schweizerinnen über Frauenrechte diskutierten, während sie sich um das allgemeine Volkswohl in Russland küm merten. Bankowski: Im Zarenreich betonten die jungen Leute weniger den Geschlechtsunterschied als in westlichen Ländern. Man war neuer Mensch, nicht Mann oder Frau. Die jungen Russinnen verstanden sich als gleichwertige Partnerin des Mannes, während etwa in Deutschland die pat riarchalische Struktur auch bei Frauen noch stark verinnerlicht war. War die Universität Zürich liberaler als andere Hochschulen? Rogger: Nicht nur die Sorbonne, auch alle ande ren ausländischen Universitäten haben Frauen trotz Gesuch nicht aufgenommen. In Zürich und Bern hingegen gab es keine behördliche Vernehmlassung und keine administrativen Barrieren, man entschied pragmatischliberal, ausländische Frauen zuzulassen. Man dachte jedoch eher an Hörerinnen als an Studierende. Aber warum fast nur Russinnen und nicht auch andere Ausländerinnen? Rogger: Fast gleichzeitig kamen auch Deutsche, Amerikanerinnen, Engländerinnen. Die russi schen Studentinnen waren so überaus zahlreich vertreten, weil die sozialutopische Bewegung in Russland stark war. Und diese motivierte die Frauen, sich in der Schweiz gut ausbilden zu lassen, um in Russland als geschulte Ärztinnen oder Lehrerinnen «ins Volk zu gehen» und es zu revolutionieren. Wie erklären Sie das starke idealistisch-sozialreformerische Engagement der russischen Studentinnen? Bankowski: Durch die Reformen in Russland in den 1860er Jahren fand eine kolossale soziale Umwälzung statt. Der Adel musste sich neu orientieren. Adelstöchter suchten einen Broter werb. Es entwickelte sich der Typus des «reu mütigen Adligen», der ein soziales Gewissen hatte und beim Volk etwas gutmachen wollte – er geistert auch durch die Literatur. Sie hatten sich am Volk versündigt, hatten Leibeigene zu einer Zeit, als die Oberschicht im übrigen Euro pa längst dem Feudalismus adieu gesagt hatte. Eine spezielle Gruppe der russischen Kolonie waren die «Kosakenpferdchen»: blutjunge Studentinnen, die die freie Liebe propagierten und von der Erlösung Russlands träumten. Unordentlich gekleidet, zogen sie kreischend und palavernd in Gruppen durch Zürichs Strassen. Ein «Bürgerschreck», wie Sie schreiben. Rogger: Das Fass zum Überlaufen gebracht hat ihr Anspruch, auch «die Schweiz umerziehen» zu wollen. Es war allerdings nur eine kleine Gruppe unter den Russinnen, die gar nicht studierte, sondern einfach die Revolution pro pagierte. Ähnlich wie 100 Jahre später die Acht 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 SIE & ER / ZENTRALBIBLIOTHEK ZÜRICH reüssierten. Doch diese zweite Facette ist eine nachgereichte Fragestellung. Russische Studentinnen und Freundinnen von Virginia Schlykowa im Zürich der 1870er Jahre. «Im Zarenreich betonten die jungen Leute weniger den Geschlechtsunterschied als in westlichen Ländern. Man war neuer Mensch, nicht Mann oder Frau.» undsechziger wollten auch sie gezielt als Bür gerschreck wirken. Bankowski: In Russland nannte man sie übri gens die «Sechzigerinnen» oder «Nihilistin nen», weil sie alles negierten. Dieser militante kleine Teil prägte zu Unrecht das Gesamtbild der russischen Studentinnen in der Schweiz. Nach Zürich kamen auch zahlreiche ausländische Männer, weil hier von Ausserkantonalen kein Maturitätsnachweis verlangt wurde. Weshalb nicht? Rogger: Sowohl die Universität Zürich wie auch jene von Bern war eine liberale Gründung. Bil dung war ursprünglich den Adligen vorbehal ten gewesen. Wenn sich die Universität neuen Schichten öffnen wollte, musste sie sozusagen die Burschen vom Land zulassen. Da diese aber keine Möglichkeit gehabt hatten, das Gymna sium zu besuchen, gewährte man ihnen den Hochschulzugang ohne Maturitätszeugnis. Es war eine Massnahme, um das Bildungsprivileg der Oberschicht zu brechen. 1873 erliess die kaiserliche Regierung plötzlich den Ukas: Wer in Zürich studiert, findet in Russland keine Anstellung. Worauf der ganze Russinnen-Tross von Zürich nach Bern zog. Bankowski: Die fortgeschritteneren Studentin nen standen vor der Frage, ob sie nach dem Studienabbruch in Zürich nach Russland zurückkehren und dort vor dem Nichts stehen oder das Studium an einer andern Uni fortset zen sollten. Einige versuchten es in Leipzig, in Heidelberg, in München oder in Holland – doch nirgends wurden sie zugelassen. Rogger: Bern hingegen, das immer in Konkur renz zu Zürich stand, sah durchaus Vorteile, eine quantitativ grosse Uni zu bekommen. Wie viele russische Studentinnen haben in der Schweiz studiert? Rogger: Zwischen 1867 und 1914 hatten sich ins gesamt 5000 bis 6000 Frauen aus dem Zaren Die Protagonistin Ihres Buches Virginia Schlykowa hat ein Medizinstudium abgeschlossen und in der Schweiz geheiratet, aber nie als Ärztin praktiziert. Warum nicht? Rogger: Sie hat sich durch die familiäre Situa tion – sie hatte drei Kinder – vereinnahmen lassen und verlor den Biss, als sie für die Medi zinalprüfung noch die Matura hätte nachholen sollen. So wurde sie schliesslich zur «desperate housewife» für die nächsten 25 Jahre. Bankowski: Sie führte ein bürgerliches Haus frauendasein. Und ihr Mann hätte es mit sei ner Würde als unvereinbar erachtet, wenn sie erwerbstätig hätte sein müssen. Rogger: Am Schluss war die Ehe zerrüttet. Virginias spätere Berufslaufbahn scheint allerdings wieder typisch für Frauenbiografien: Nach der Kinderphase erlernt sie mit 50 einen zweiten Beruf, indem sie sich in Stockholm zur Heilmasseurin ausbilden lässt. Rogger: Sie war nach der Trennung von ihrem Mann nicht abgefedert durch den Staat oder eheliche Unterstützungsbeiträge, wie das heute der Fall wäre. Sie musste Geld verdie nen, wollte sie nicht einfach einer Tochter zur Last fallen. In Ihrem Buch erzählen Sie viele amüsante Details. Virginia habe in Kairo, Nizza und Schuls-Tarasp als Masseurin gearbeitet und sich besonders auf reiche Patientinnen spezialisiert. Ihre Tochter habe ihr geraten: «Schröpfe die Leute. Du hast’s verdient.» Bankowski: Damals konnten sich nur Reiche eine Massage leisten. Bädertourismus war für Normalbürger nicht erschwinglich. Dass sie an so fashionable Orte reiste, hatte deshalb weni ger mit ihrem Kosmopolitismus zu tun als mit der Nachfrage nach Masseurinnen. Man gewinnt den Eindruck, dass Sie dieses Buch mit viel Spass geschrieben haben. Was haben Sie für sich persönlich mitgenommen? Rogger: Was mich fasziniert hat, war eine indi viduelle Geschichte wie jene der Suslowa und Schlykowa in die historische Umgebung ein zubetten und stets einen gezielten Blick auf das Heute zu wagen. Bankowski: Für mich war es reizvoll, die russi sche Kolonie in Zürich aus dem Innern heraus darzustellen – nicht anhand von späteren Erinnerungen, sondern mit Hilfe von Quellen aus der damaligen Zeit. Jeder Historiker träumt vom Glück, einmal einen Quellen schatz zu finden, dieser Traum hat sich für mich erfüllt. l Kolumne GAËTAN BALLY / KEYSTONE Charles Lewinskys Zitatenlese Charles Lewinsky, 63, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein letztes Buch «Doppelpass» ist 2009 bei Nagel & Kimche erschienen. Ein Autor, der von seinen eigenen Büchern spricht, ist fast so schlimm wie eine Mutter, wenn sie über ihre eigenen Kinder spricht. Kurzkritiken Sachbuch Melanie Mühl: Menschen am Berg. Geschichten vom Leben ganz oben. Nagel & Kimche, München 2010. 122 Seiten, Fr. 26.90. Bruno S. Frey, Claudia Frey Marti: Glück. Die Sicht der Ökonomie. Rüegger, Zürich 2010. 167 Seiten, Fr. 22.–. Eine junge Journalistin aus dem flachen Deutschland reist in die für sie fremde Welt der Berge. Sie sucht Exotik – und findet die Geschichte des Gotthard Basistunnels, der in die Schweiz einge wanderten Bären, der Gletscherschmel ze im Wallis. Vor allem aber findet sie Menschen, die in den Bergen wohnen. Die Familie Wehrli mit ihren Tieren auf dem Leubingenberg im Jura. Den Enga diner Bergführer Marco Salis. Die 14 Menschen, die auf der Alp Golzern hoch oben im Maderanertal leben, wo der Feldstecher stets griffbereit liegt, «damit das wenige, was passiert, nicht unbe merkt passiert» und wo «Gottver trüüwä» noch als lebensnotwendig gilt wie das tägliche Brot. Neu ist das alles für Schweizer Leser vielleicht nicht, aber die genauen Beobachtungen und der gekonnt schlichte Stil machen diese Reportagen aus den Bergen im wahrsten Sinne des Wortes ergreifend. Kathrin Meier-Rust Über Glück wird viel geforscht und geschrieben in unserer hedonistischen Zeit. Der Zürcher ÖkonomieProfessor Bruno S. Frey fasst hier kurz zusammen, was die Wissenschaft heute darüber weiss. Zum Beispiel: Gut die Hälfte der Schweizer bezeichnen sich als glücklich, ein Rekord weltweit, nur punkto Arbeits zufriedenheit sind uns die Dänen voraus. Mehr Geld macht zwar glücklicher, aber nur bis zu einem Monatsgehalt von 10 000 Franken, dann setzt der Gewöhnungs effekt ein. Trotz viel höherem ProKopf Einkommen sind wir deshalb auch nicht zufriedener als unsere Eltern und Gross eltern es waren. Demokratie, Selbstän digkeit, Freiwilligenarbeit und enge sozi ale Beziehungen erhöhen die Lebenszu friedenheit, während Arbeitslosigkeit, Gleichstellung der Geschlechter und viel Fernsehkonsum an ihr nagen. Knapp, tro cken und bündig präsentiert das kleine BüchleindieFaktenderGlücksforschung. Kathrin Meier-Rust Die Vögel der Familie Graviseth. Passepartout, Schriftenreihe Burgerbibliothek Bern. Bern 2010, 112 Seiten, CD, Fr. 49.–. Gabi Köpp: Warum war ich bloss ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945. Herbig, München 2010. 157 Seiten, Fr. 29.50. Der zweite Band in der neuen Reihe «Passepartout», herausgegeben von der Burgerbibliothek Bern, präsentiert in edler Aufmachung ein ornithologisches Bilderbuch aus dem 17. Jahrhundert. Die in Vergessenheit geratene Sammlung umfasst etwa 200 kommentierte Vogel darstellungen. Vor rund 30 Jahren wurde der Schatz im Archiv der Bibliothek ent deckt, und nun haben sich drei Berner Spezialisten des Konvoluts angenom men. Der Historiker Martin Germann beleuchtet den geschichtlichen Hinter grund der Berner Patrizierfamilie Gravi seth und die Entstehung der Illustra tionen, während der Zoologe Peter Lüps die Zeichnungen aus ornithologischer Sicht erläutert. Der Kunsthistoriker Georges Herzog versucht, die Maler zu eruieren. Es gelingt ihm, die Beteiligung des bekannten Berner Stilllebenmalers Albrecht Kauw plausibel zu machen. Geneviève Lüscher Januar 1945 in der Grenzmark Posen (Westpreussen). Gabi ist 15 und flieht mit ihrer ältesten Schwester Juliane vor der vorrückenden Roten Armee nach Berlin. Ihre Schwester kommt um, als sie in ein Gefecht geraten. Gabi schliesst sich einem versprengten Trupp deut scher Flüchtlinge an – da beginnt erst recht der Albtraum. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen fällt wiederholt russischen Soldaten in die Hände, auch weil es von deutschen Frauen verraten wird, die es vorschieben, um sich selber zu schützen. Es fühlt sich schmutzig, wehrlos und wertlos, findet kaum Worte für seine Demütigungen. 60 Jahre später nimmt die Frau, die nach dem Krieg Physik studieren konnte und Professo rin wurde, ihr Tagebuch zum Anlass, das lange Verdrängte niederzuschreiben. Die Frage im Titel des bewegenden Büchleins verfolgt sie bis heute. Urs Rauber Benjamin Disraeli Es war eine schwere Geburt, ja. Mein Verleger hat auch gesagt: So furchtbar hat er überhaupt noch nie einen Autoren leiden sehen. Die Wehen haben Jahre gedauert. Jahre! Und vorher die Schwangerschaftsbeschwerden, die will ich nicht einmal erwähnen. Zum Beispiel diese plötzliche Gier nach Adjektiven, die mich immer wieder überfallen hat… Aber wenn das Buch dann endlich vor einem liegt, in seinem niedlichen, unschuldigen Schutzumschlag, dann sind alle Beschwerden vergessen. So süss, sage ich Ihnen. So ungeheuer süss. Und dieses Glücksgefühl, wenn man es dann an sein liebevoll vorbereitetes Plätzchen im Bücherregal stellt… Es ist doch jedes Mal wieder ein Wunder, nicht? Noch so jung und doch schon alles dran. Das ISBNNüm merchen und die Klappentextchen und alles. Sogar ein Eselsöhrchen hat es schon. Ganz vorne auf der Titelseite, dort wo mein Name steht. So niedlich! Und dieser unwiderstehliche Geruch, wie ihn eben nur neugeborene Bücher haben! Dieser Duft nach noch ganz leicht feuchter Druckerschwärze! Am liebsten würde ich es den ganzen Tag nur knuddeln. Gesund? Danke der Nachfrage, könnte nicht besser sein. Nur auf Seite 57 hat man ein winzig kleines Druckfehlerchen gefunden, aber das lässt sich in der zweiten Auflage ohne weiteres beheben, ganz ohne blei bende Schäden. Natürlich wird es eine zweite Aufla ge geben! Und eine dritte und vierte auch. So was spürt man ganz einfach als Autor. Jetzt ist es ja noch klein und muss erst mit guten Kritiken aufgepäppelt werden. Aber wenn es erst einmal gross ist… Ich werde mich da nicht einmischen, natürlich nicht, man muss auch loslassen können, auch wenn es schwerfällt. Ob es Bestseller werden will oder lieber Geheimtipp – ich mische mich da nicht ein. Wenn es nur glücklich wird. Ja, natürlich, es ist keine leichte Zeit so frisch nach dem Erscheinen. Nur schon, dass man keine Nacht mehr durchschläft. Alle paar Stunden muss ich raus aus dem Bett und im Internet nachsehen, ob schon jemand etwas über meinen kleinen Liebling geschrie ben hat. Und dann gehe ich jedes Mal zum Regal und gebe dem Zucker schnuckel einen zärtlichen Kuss auf den Schutzumschlag. Sie finden das übertrieben? Haben Sie überhaupt schon einmal ein Buch geschrieben? Nein? Dann können Sie über haupt nicht mitreden! 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Philosophie Im Alter paart sich oft Weisheit mit Milde. Nicht so beim Philosophen Arthur Schopenhauer: Er zieht gegen seine Gegner wie ein junger Spund vom Leder Arthur Schopenhauer: Senilia. Gedanken im Alter. Hrsg. Franco Volpi, Ernst Ziegler. C. H. Beck, München 2010. 374 Seiten, Fr. 49.50. Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Über Glück und Unglück des Alters. Essays. C. H. Beck, München 2010. 163 Seiten, Fr. 32.90. Von Manfred Koch Mit dem Alter kam der Ruhm. Beinahe ein Menschenleben lang klagt der 70jäh rige Arthur Schopenhauer in seinem letzten Notizbuch, den «Senilia», er sei der «Caspar Hauser» der Philosophie gewesen, «so sorgfältig vom Lichte des Tages abgesperrt und so eingemauert, dass die Welt keine Ahnung von seinem Daseyn hatte». Die Kerkermeister – das waren nach Schopenhauers fester Über zeugung die deutschen Universitätsphi losophen, die ihn, den Verkünder einer radikal pessimistischen Weltansicht, konsequent totschwiegen. Schopenhauer attackierte sie bei jeder Gelegenheit als verbeamtete «Flach Arthur Schopenhauer Der 1788 geborene Arthur Schopenhauer bekommt, grossjährig geworden, seinen Anteil am väterlichen Erbe ausgezahlt und lebt von da an als freier Philosoph. 1818 veröffentlicht er sein Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung». Es findet aber nur wenig Beachtung. Ein Versuch als Universitätsdozent in Berlin 1820 scheitert kläglich, weil Schopenhauer seine Vorlesungen bewusst zur gleichen Zeit wie Hegel abhält und keiner ihn hören will. Erst nach 1850 wird er bekannt, stirbt aber bereits 1860 an einer Lungenentzündung. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 köpfe», die allein um des Broterwerbs willen philosophierten und darum auch nur subalterne Gedanken hervorbräch ten. Für ihn hingegen habe immer gegol ten: «Ich habe die Wahrheit gesucht, und nicht eine Professur.» 1851, mit 63 Jahren, gelang ihm mit den bewusst populär gehaltenen «Aphorismen zur Lebens weisheit» endlich der Durchbruch. Behaglich vermerkt er in den «Senilia» das plötzliche Interesse an seinen Büchern («Das Abendroth meines Lebens wird das Morgenroth meines Ruhms») und steigert sich in Briefen an seine ersten Apostel in einen wahren Grössenrausch hinein: «Die mir schon jetzt bekannte Schaar der eigentlichen Enthusiasten ist gross genug, mir die Gewissheit zu geben, dass einst meine Philosophie in der Welt eine Rolle spielen wird, wie noch nie irgendeine andere in alter oder neuerer Zeit.» «Windbeutel Hegel» Schopenhauers Stil lebt von der Über treibung, im Selbstlob wie in der Vernichtung seiner Gegner. Sein Haupt feind war bekanntlich Hegel, den er als «Windbeutel», «miserablen Scharlatan» und Urheber einer «philosophischen Hanswurstiade», die wie eine Syphilis in den Gehirnen der Leser wüte, zu ver unglimpfen pflegte. Auch die «Senilia», die jetzt erstmals vollständig in der Transkription des St. Galler Historikers Ernst Ziegler vorliegen, sind gespickt mit solchen Ausfällen. Von Altersmilde keine Spur! Schopenhauer schimpft wie eh und je, auf die «Hegelsche Verdum mung», die «Verhunzung der deutschen Sprache» durch die Zeitungs«Skribler», das Judentum, die Ehe («Heirathen heisst das Mögliche thun, einander zum Ekel zu werden») und eine Menge wei terer Unannehmlichkeiten, die ihm das Leben verdriessen: unschöne Frauen, bärtige Männer, Biertrinker, Hofräte, Tierverächter und Theologen. Das ist ULLSTEIN BILD Der vergnügte Menschenfeind teils ergötzlich, teils auch enervie rend zu lesen. Handelt es sich um Zeichen einer anhal tenden Verbitterung? Das widerspräche Schopenhauers eigener Lehre vom richtigen Altern. Der letzte Essay der «Aphorismen zur Lebensweisheit» trägt den Titel «Vom Unterschiede der Lebensalter». Dort behauptet Schopenhauer, dass «dem Alter eine gewisse Heiterkeit eigen» sei, die sich dem Verzicht auf die Illusionen früherer Lebensstufen verdanke. Befreit vom Dämon des Geschlechtstriebs und den Zwängen der sozialen Konkurrenz kann ein leidlich gesunder Alter das absurde Weltgetümmel wie aus weiter Ferne überschauen und zu später, wunschloser Zufriedenheit gelangen. Die Jugend denke, «in der Welt sei Wunder was für Glück und Genuss anzutreffen, nur schwer dazu zu gelan gen, während man im Alter weiss, dass da nichts zu holen ist, also, vollkommen darüber beruhigt, eine erträgliche pickt und das Unbekömmliche meidet. Schopenhau er wusste, dass er privi legiert war, weil weder Armut noch schwere Krank heiten ihn einschränkten. Alters heiterkeit gewährte unter diesen günstigen Voraussetzungen vor allem das fortgesetzte Philosophieren. Das aber hiess für ihn: Polemisieren! Gegenwart geniesst und sogar an Klei nigkeiten Freude hat». Solche Kleinig keiten waren für Schopenhauer ordent liches Essen, der tägliche Spaziergang mit seinem Pudel, die Lektüre guter Bücher sowie ausgiebiger Musik und massvoller Weinkonsum: «Von der Venus entlassen, wird man gern eine Aufheiterung beim Bakchus suchen.» Die Welt ist die Hölle, das schärfen auch die «Senilia» ein. Wer sie mit dem «kontemplativen Anstrich» des Alters betrachtet, kann jedoch ganz vergnügt in ihr leben, indem er sich, nach Art einer Diät, das ihm Zuträgliche heraus All seiner Polemik zum Trotz war der Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Alter wohl ein ziemlich glücklicher Mensch. Daguerrotypie aus dem Jahre 1842. Über die Würde des Alters Schimpfend vergewisserte er sich seiner unverminderten Vitalität und Intelli genz, die Wut, in gute Sätze gegossen, war und blieb sein Lebenselixier. So war Arthur Schopenhauer, der Philosoph, der unermüdlich von der «Eitelkeit aller Dinge» und der «Hohlheit aller Herr lichkeiten der Welt» handelte, wohl tat sächlich ein ziemlich glücklicher Greis. In seinem letzten Lebensjahrzehnt wurde Schopenhauer mehrfach fotogra fiert. Wer heute eine dieser Daguerroty pien anschaut, sieht sofort, wie viel älter ein Siebzigjähriger im 19. Jahrhundert war. Unsere Gegenwart kennt eine neue Generation, die sogenannten «jungen Alten» (zwischen 60 und 75 Jahren), die so lebenslustig, leistungsfähig und auch äusserlich gut konserviert sind, dass niemand mehr auf den Gedanken käme, von Greisen zu sprechen (das Wort ist ohnehin fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden). Ein Sammelband mit Beiträgen von Intellektuellen der Jahrgänge 1924 bis 1934 (u. a. der Theologe Eberhard Jün gel und der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer) geht der Frage nach, was unter diesen veränderten Bedingungen Würde des Alters bedeutet. Friedrich Wilhelm Graf, der noch jugendliche Herausgeber (geboren 1948), hält in der Einleitung lakonisch fest, dass wir das Elend des Alters ja nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben haben. Für die «alten Alten» (zwischen 85 und 100 Jahren) gilt mehrheitlich nach wie vor Jean Amérys trauriger Befund, das Alter sei eine unheilbare, peini gende Krankheit. Und der Philosoph Hermann Lübbe (geboren 1926) warnt in einem brillanten Aufsatz vor der Gefahr, sich durch die medizinisch ermöglichte Verlängerung und Inten sivierung des späten Lebens zu unan gemessenen Reaktionen verleiten zu lassen. Wer die altersgemässe Gewohnheits fixierung einfach abschütteln und – womöglich unter Anleitung eines The rapeuten – wieder zum jugendlichen Abenteurer werden will, mache sich eher lächerlich. «Ein Coaching in der Absicht, noch einmal mit einem ganz anderen Leben den Anfang zu machen, wäre schlechterdings lebenssinnwidrig. Zu leben heisst, es schliesslich hinter sich zu haben und den Tod vor sich.» Das, schliesst Lübbe, sei nun freilich ein Satz, den man in der gerontologischen Literatur unserer wellnessversessenen Zeit kaum finden wird. l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Kalter Krieg Neue Aktenfunde zeigen, wie gross der Einfluss der DDRGeheimdienste im Westen war: enorm im Fall KarlHeinz Kurras, unbedeutend im Fall Günter Grass Im kleinen Kreis in Ostberlin Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die StasiAkte. Buch. 379 Seiten, Fr. 41.50. Kai Schlüter: Deckname «Bolzen». Günter Grass im Visier der Stasi. Audio CD, Feature von Radio Bremen. 58 Min., Fr. 23.90. Beide: Ch. Links, Berlin 2010. Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der Westen. Der KurrasKomplex. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. 352 Seiten, Fr. 40.50. Von Urs Rauber JOCHEN MOLL / BPK Bücher zum krankhaften und krakenhaf ten Wirken der DDRStaatssicherheit (Stasi) werden derzeit en masse publi ziert. Fast zeitgleich erschienen im März zwei Untersuchungen, die sich auf Quel len der BirthlerBehörde zur Aufde ckung der StasiVerbrechen stützen. Der «Welt am Sonntag»Redaktor Sven Felix Kellerhoff deckt den «KurrasKomplex» auf. RadioBremenAutor Kai Schlüter widmet sich 2200 Seiten StasiAkten über Günter Grass. Die Protagonisten beider Bücher sind auf unterschiedliche Weise mit der Geschichte der deutschen Linken ver knüpft. Der Westberliner Kriminalpoli zist KarlHeinz Kurras, der am 2. Juni 1967 bei einer AntiSchahDemonstra tion «aus Notwehr» den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, gab durch diese Tat den Anstoss zur Entstehung einer mächtigen 68er Bewegung und zur Geburt des deutschen Linksterrorismus, dessen erste Zelle sich «Bewegung 2. Juni» nannte. 42 Jahre später wurde Kurras als StasiSpion im Westberliner Polizeikorps entlarvt. Der Schuss auf 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 SDSSpitze und der ostdeutschen FDJ, in die auch Rudi Dutschke involviert war. Bis hin zu der von StasiChef Mielke gebilligten Beherbergung von RAFMit gliedern in der DDR (Inge Viett, Susanne Albrecht). Die westdeutsche Linke, so Kellerhoff, zeige heute jedoch wenig Interesse, diese Kontakte und den Ein fluss der Stasi auf die westliche Politik zu thematisieren. Ohnesorg war indes aus DDRSicht eine Panne, ein «bedauerlicher Unglücks fall» gewesen. Kurras hatte sich seit 1955 unter dem Decknamen «Otto Bohl» der Stasi verpflichtet. Mit pedantischer Regelmäs sigkeit lieferte er bis 1967 fast alle zwei Wochen polizeiinterne Unterlagen an seine Auftraggeber in Ostberlin und erhielt dafür monatlich 50 bis 100 DM Agentenlohn, später sogar mehr. 1962 stellte Kurras, der nie in der DDR gelebt hatte, Antrag auf Mitgliedschaft in der SED, was ihm nach einem Jahr Kandida tenzeit gewährt wurde. Nach dem fata len Schuss auf Ohnesorg wurde der Kontakt von Seiten der DDR für neun Jahre unterbrochen und erst 1976 wie der aufgenommen – bis zu Kurras’ Pen sionierung 1987. Unbeugsamer Grass Lehrstück der Spionage Auch wenn der Fall Kurras in seiner Ausführlichkeit ein Lehrstück westli cher DDRSpionage war, bleibt die Hauptperson seltsam blutleer. Was trieb den Mann? Wie nahm ihn seine Umge bung wahr? Darauf finden wir im Buch keine Antworten. Kellerhoff hat papie rene Akten ausgewertet, keine journalis tischen Recherchen angestellt. Im zweiten Teil weitet er das Thema aus: Zwischen 1949 und 1989 hätten «mindestens 12 000, vielleicht aber auch bis 23 000» StasiAgenten in der Bun desrepublik gewirkt. Er erwähnt die finanziellen Zustüpfe an Klaus Rainer Röhls Zeitschrift «Konkret» und die Unterwanderung des «Republikanischen Clubs» in Westberlin ebenso wie die konspirativen Kontakte zwischen der Engagierter Freund von DDR-Literaten und Dissidenten: Günter Grass im Gespräch mit Christa Wolf in Ostberlin, Dezember 1981. Ermutigender wirkt da schon der Report von Kai Schlüter, der dem Leser den schmauchenden und grantelnden Gün ter Grass näherbringt. Der Autor der «Blechtrommel» wurde 1969 zum Wahl helfer von Willy Brandt. Und er blieb, so zeigen Schlüters Recherchen, trotz Anfechtungen von Seiten der Stasi standhaft. Weder gelang es, ihn bei seinen Besuchen in Ostberlin zum Apo logeten der sozialistischen Kulturpolitik zu bekehren noch sein Eintreten für kri tische DDRSchriftsteller und Dissiden ten zu unterbinden. Der Fall Grass er wies sich im Gegensatz zum Fall Kurras als totaler Misserfolg für den so mächti gen DDRSicherheitsapparat. Minutiös rapportierten die observie renden Staatsschützer die zahlreichen Treffen von Grass – die Stasi nannte ihn «Bolzen» – im kleinen Kreis in Ostberlin zwischen 1961 und 1989, als sich dieser mit DDRFreunden besprach und Solida ritätsaktionen beriet. Geschickt ergänzt Schlüter die Bürokratenprosa von damals mit heutigen Erinnerungen und Kommen taren von Grass und weiteren Beteiligten, was oft einen heiteren Ton erzeugt. Immer wieder überlistete der prominente Autor die ihm zur Seite gestellten Aufpas ser, indem er etwa bei einem öffentlichen Auftritt der Moderatorin die Diskussions leitung entzog und von ihr unterdrückte Fragen munter beantwortete. Die DDR Offiziellen trieb das mehr als einmal zur Verzweiflung. Schlüters Dokumentation belegt, wie der spätere Nobelpreisträger im Unter schied zu manchem Weggefährten der Linken klar am Bekenntnis zur westli chen Demokratie, zur Einheit der deut schen Geschichte und Kultur festhielt und die politische Teilung des Landes ablehnte. Anfang der 80er Jahre forderte er bei der Debatte um die NatoNach rüstung, dass auch die sowjetischen SS20Raketen zu verschrotten seien. Mielke sah in Grass denn auch eher den Feind und «Reaktionär» als den sozialdemokratischen Verbündeten. Kai Schlüter hat seine Untersuchung auch zu einem Radiofeature verarbeitet, das gleichzeitig als Hörbuch erscheint. Beides ist geeignet, Günter Grass nach der ungnädigen Aufnahme seines letz ten Werks und der Kritik am späten Ein geständnis der Zugehörigkeit zur Waf fenSS wieder ein Stück moralische Glaubwürdigkeit zurückzugeben. l Beziehungen Nach dem Bericht über ihre sexuellen Ausschweifungen liefert Catherine Millet nun die Kehrseite: einen Report aus der Hölle der Eifersucht Sie fand Nacktfotos bei ihrem Mann Und Millets Buch ist kein berechneter Coup. Nach wenigen Seiten spürt man, wie ernst es ihr ist mit ihrer Selbsterfor schung. Eine Art «Confessions», aber eher im psychoanalytischen als religiö sen Sinn. Dass die Verfolgung der «Untreue» ihres Partners angesichts ihres eigenen Sexlebens absurde Züge trägt, nimmt man ihr schon bald nicht mehr übel. Sie weiss es selbst, und leuchtet die Paradoxie schonungsloser aus, als ihr ärgster Feind es könnte. Catherine Millet: Eifersucht. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Hanser, München 2010. 224 Seiten, Fr. 37.50. Von David Signer Es sah nach perfekt kalkuliertem Marke ting aus und machte entsprechend skep tisch: Die französische Kunsthistorike rin Catherine Millet veröffentlicht 2001 ihren autobiografischen Roman «Das sexuelle Leben der Catherine M.», einen detailgenauen Bericht über ihre Sex abenteuer mit rund tausend Männern in Betten, Swingerklubs und Parks. Das Buch wird ein Millionenseller. Darauf publiziert ihr Partner Jacques Henric einen Bildband mit Nacktfotos von Mil let. 2008 schiebt sie «Eifersucht» nach, in dem sie erzählt, wie sie eines Tages auf Jacques’ Schreibtisch Nacktfotos und Tagebucheinträge fand, die stark darauf hindeuteten, dass auch er Affären unterhielt. Diese Entdeckung stürzte sie während Jahren in eine obsessive Eifer sucht. Abgründiger Sog Roman Signer, Tumi Magnússon Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry When You Travel in Iceland You See a Lot of Water Fotografien von Ernst Scheidegger Hrsg. von Stanislaus von Moos Ein Reisebuch <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwMAUA24sxUQ8AAAA=</wm> <wm>10CEWKOw6AIBAFTwR5S3gsuCWfihijxvsfRWJjMdPMzGn0-Kh9v_tpAkQ6AXOmsdAHpZqU4JVJDVFSgGCTpZWk2P-72twFDOCB-KONFzWc-LxfAAAA</wm> Ernst Scheideggers bisher unveröffentlichte Farb- und Schwarzweissfotos vom Werden der indischen Stadt Chandigarh in den 1950er-Jahren. Die Textbeiträge erläutern Entstehung und Bedeutung des visionären Vorhabens von Le Corbusier und seinen Mitarbeitern. Gebunden, 272 Seiten 145 farbige und 132 sw Abbildungen ISBN 978-3-85881-222-3 sFr. 79.– | E 55.– Roman Signer und sein Künstlerkollege Tumi Magnússon im Gespräch über die Wildheit Islands, das Unterwegssein und die Kreativität. Ergänzt durch stimmungsvolle Fotografien ist eine wunderbar assoziationsreiche Reise in Text und Bild entstanden. Gebunden, 64 Seiten 33 farbige Abbildungen, 1 Karte ISBN 978-3-85881-299-5 sFr. 29.90 | E 19.90 www.scheidegger-spiess.ch beiden spinnen, so auf hohem Niveau. So schonungslos präzis, bis in die feins ten, grausamen Ausläufer, hat man die Hölle der Eifersucht noch selten be schrieben gesehen. «Eifersucht» ist sicher kein Buch, das Ehen rettet. Eher zeigt es wie unter dem Vergrösserungs glas, anhand eines Extrembeispiels, wie jede Liebe einen Keim von Wahnsinn in sich trägt. Kunst I Fotografie I Architektur Die französische Skandalautorin Catherine Millet am Ort ihres Wirkens (2009). Scheidegger & Spiess Chandigarh 1956 SUKI DHANDA / CAMERA PRESS Wahnsinn der Liebe Natürlich verkauft sich auch dieses Werk prächtig. Und dann liest man auf dem Umschlag noch «Ein Buch, das Ehen retten kann» und etwas vom «See lenleben einer betrogenen Frau» und fragt sich: Für wie dumm sollen wir ver kauft werden? Erst die publicitywirksa me Entblössung ihrer HardcoreLiberti nage, dann Reue, Treue, Moral und Betroffenheitsfeminismus? Nun, «Eifersucht» ist glücklicherwei se nicht so. Natürlich ist es irr, wenn sich eine Nymphomanin wie Millet wegen ein paar Nacktfotos hintersinnt. Und es ist ebenso erstaunlich, dass ihr Jacques diese absurden Eifersuchtssze nen jahrelang erträgt, ohne sie zum Teu fel zu jagen. Aber, so lernen wir in diesem Buch: Auch das gibt es, offenbar. Und wenn die Nach ihren ersten Entdeckungen unter zieht sie das Arbeitszimmer von Jac ques, sobald er aus dem Haus ist, akribi schen Untersuchungen. Jedes Notizzet telchen wird inspiziert, jeder abgelegte Brief kontrolliert. Und zugleich verach tet sie sich dafür. Es passt so gar nicht zum Bild der modernen, intellektuellen, liberalen Frau, das sie von sich pflegt. Während Jahren spioniert sie so hinter ihm her, zermartert sich und wagt doch nicht, Jacques einfach mit ihren Verdächtigun gen zu konfrontieren. Dabei erspart sie uns keine noch so absonderliche Ecke ihres Gefühlslabyrinths. Ausführ lich erklärt sie beispielsweise ihre liebs ten Masturbationsphantasien, mitsamt möglichen Fundierungen in ihrer Kind heit. Die Mutter war depressiv und verübte schliesslich Selbstmord, beide Eltern unterhielten ein reges ausserehe liches Liebesleben. «Eifersucht» entfaltet im Laufe der Lektüre einen abgründigen, fast diaboli schen Sog. Zunehmend wird man in Millets exzentrische Welt verstrickt und folgt ihr bereitwillig ins dunkelste Unterholz. Vielleicht wird darin auch etwas von ihrer neurotischerotischen Verführungskunst spürbar. So kritisch man in die ersten Seiten eingestiegen ist, so sehr ist man Catherine Millets kompliziertem Charme am Ende erle gen. Zusammenleben mit ihr möchte man trotzdem nicht. l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Geschichte Der Historiker Arnold Esch untersucht Bittschriften einfacher Leute an den Papst Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. C. H. Beck, München 2010. 223 S., Fr. 39.90. Von Geneviève Lüscher 1478 betrat ein Kleriker in Hildesheim ein Wirtshaus, um ein Bier zu trinken. Da sitzen einige Würfelspieler am Küchenfeuer und spielen um Geld. Sie laden den Kleriker ein, sich zu ihnen zu setzen, was dieser gerne tut. Dann laden sie ihn ein mitzuspielen. Auch das tut er. Er gewinnt einen Gulden, von dem der eine Spieler weiss, dass er falsch ist. Aus Furcht, der Kleriker könnte dahinter kommen, dass er geprellt worden ist, will der Spieler die Münze zurückhaben und wendet Gewalt an. Der Kleriker wehrt sich. Das Handgemenge eskaliert und hat für den Spieler fatale Folgen. Die kleine Geschichte berichtet uns der MittelalterHistoriker Arnold Esch in seiner Sammlung von Kürzestge schichten, wahren Begebenheiten, die er im Archiv der Pönitentiarie in Rom gefunden hat. Dieses vatikanische Archiv enthält Bittgesuche aus dem Hei ligen Römischen Reich an den Papst. Esch hat sich diejenigen aus dem 15. Jahr hundert angesehen und eine thematisch geordnete Auswahl zusammengestellt. Die Bittenden hatten in irgendeiner Form gegen Bestimmungen des Kir chenrechts verstossen. Sie baten den Papst um Absolution oder eine Un schuldserklärung. Häufig ging es darum, dass ein Geistlicher an der Verletzung oder gar am Tod eines Menschen schul dig oder mitschuldig geworden war und deswegen nicht mehr in der Lage war, sein Amt auszuüben. Deswegen sind Kleriker unter den Bittstellern in der Überzahl, was nicht zum Schluss verlei ten darf, die Geistlichkeit sei im Mittel alter besonders gewalttätig gewesen. Die Gesuche umfassen eine Rahmen handlung, eine Begründung und eine ausführliche Schilderung des Tather gangs, in denen der Täter sich zu recht fertigen sucht. Neben der Tötung oder der Körperverletzung wird hier berich tet von Zölibatsvergehen, vom unrecht mässigen Erwerb eines kirchlichen Amtes, unerlaubten Verlassen oder Wechsel des Klosters, Nichteinhalten der Fastenvorschriften, von der Nichter füllung eines Gelübdes; pädophile Ver gehen hingegen scheinen damals kein Thema gewesen zu sein. Die von Esch zusammengetragenen Fallbeispiele erzählen bisweilen berüh rend von ganz persönlichen Problemen, die am Anfang eines Vergehens stehen, das sich dann bis zu einem kirchen rechtlichen Fall ausweitet. Zur missli chen Tat reicht oft ein belangloser Anlass, eine Banalität. Die Schilderun gen winden sich um mehrere Ecken, um die Rechtfertigung dennoch plausibel erscheinen zu lassen. Die unwahrschein lichsten Zufälle werden möglichst glaubhaft geschildert, weither geholte Begründungen zurechtgebogen. Die Absolution entscheidet über die Zukunft der meisten Bittsteller. So auch beim um Geld spielenden Kleriker in Hildesheim, will er seine kirchlichen GEMÄLDEGALERIE SMB / BPK Absolution für Mord im Mittelalter Das mitunter schwierige Leben des einfachen Volkes im Mittelalter, dargestellt von Pieter Bruegel, 1559. Pfründen nicht verlieren. Seine Schilde rung des Tathergangs – hat der Spieler wirklich mit falschem Geld gespielt? – ist allerdings nicht überprüfbar, hat die ser doch, wie in den meisten Fällen, wohl nicht überlebt. Leider reduziert Esch die Vorfälle oft auf sehr wenige Sätze, die eigentliche Tat wird nicht beschrieben, und der Fortgang der Geschichte bleibt im Dun keln. Nur selten erfährt der Leser den Entscheid der Kurie. Vielleicht wären weniger Fälle, dafür diese ausführlicher, mehr gewesen. Dennoch liefert Esch einen Einblick in mittelalterliche Le benswelten, wie es kaum eine andere Quelle bieten kann. Es sind ganz persön liche Schicksal vornehmlich der unteren Bevölkerungsschichten, die in den tradi tionellen Geschichtsquellen nur in Aus nahmefällen zu Wort kommen. l Malerei Der Kunsthistoriker Roberto Zapperi spürt dem Geheimnis um Leonardos Bild nach Das Rätsel um Mona Lisa bleibt ungelöst Roberto Zapperi: Abschied von Mona Lisa. Das berühmteste Gemälde der Welt wird enträtselt. C. H. Beck, München 2010. 160 Seiten, 16 Farbtafeln, Fr. 34.50. Von Gerhard Mack Über das Lächeln von Leonardo da Vin cis Mona Lisa haben viele gerätselt. Wer die schöne Dame ist, die der Künstler vor einer Flusslandschaft dargestellt hat, gibt regelmässig Stoff für Diskussio nen. Die meisten Forscher folgen Gior gio Vasari, der in seinen Künstlerviten die Frau des Florentiner Seidenhändlers Francesco del Giocondo nennt, von dem man weiss, dass er Leonardo mit einem solchen Bildnis beauftragt, es aber offenbar nie erhalten hat. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 Dieser Ansicht widerspricht nun der italienische Kunsthistoriker Roberto Zapperi. Er legt die Widersprüche der Quellenlage offen und bewertet eine Aussage neu, die Leonardo selbst gegen über dem Kardinal d’Aragona gemacht haben soll, als dieser ihn 1517 in Frank reich besuchte: Giuliano de’ Medici sei der Auftraggeber gewesen. Zapperi zeigt sich als akribischer, bis weilen spitzfindiger Rechercheur. Er er zählt, wer der jüngste Sohn von Lorenzo de’ Medici, dem Prächtigen, war und wie er nach der Vertreibung der Familie aus Florenz am Hof von Urbino eine Hofdame schwängerte, die vermutlich Pacifica Brandani hiess. Aus der Affäre ging ein Sohn hervor, den er Ippolito nannte und nach Rom bringen liess, wo er unter dem Schutz seines Bruders, des Papstes Leo X., ein prunkvolles Leben führte. Der kleine Sohn fragte nach sei ner Mutter, doch diese war inzwischen verstorben. Giuliano konnte ihm das nicht erzählen, aber er war damals der Förderer Leonardos und bat diesen, ein Frauenbildnis zu malen, das Liebe, Trost und Melancholie verbindet: «La Joconda», die Trösterin. Die einstige Geliebte konnte der Auftraggeber bes tenfalls vage beschreiben. Ob der Künstler das angefangene Bildnis der Florentinerin Gioconda her vornahm und ihm eine Landschaft hin zufügte, ob er eine Phantasiegestalt als Idealbildnis erfand oder sonst ein Vor bild vor Augen hatte, kann auch Zapperi nicht sagen. Er fügt den Geschichten um das Gemälde eine farbige, neue hinzu. Die Gioconda behält ihr Geheimnis. l Zweiter Weltkrieg Eine neue GuisanBiografie trifft Wesen und Wirken des legendären Generals, nutzt diesen aber als geschichtspolitisches Vehikel Heimatroman und Militärkrimi Widerstand nach Schweizerart. Stämpfli, Bern 2010. 247 Seiten, Fr. 49.–. Von Fritz Trümpi Welchen Grossvater hat man nicht schon einmal über Henri Guisan reden hören? Meiner beispielsweise war Anfang der 1940er Jahre Rekrut, der eines Abends Wache schob, als unver hofft der General aus der Dunkelheit auftauchte und mit dem jungen Bank kaufmann eine kurze Plauderei über dessen Zukunftspläne lostrat – mein Grossvater sollte das Gespräch seiner Lebtage nicht mehr vergessen. Ob die ses tatsächlich so stattgefunden hat, wie es dem geschichtsinteressierten Enkel vermittelt wurde, bleibe dahingestellt. Fest steht aber, dass General Guisan in der grossväterlichen Erzählung zum Mythos der personifizierten Gerechtig keit, egalitären Kameradschaftlichkeit und patrizischen Geistesgrösse in einem verklärt wurde. Populärer General Markus Somm, stellvertretender Chef redaktor der «Weltwoche» und Autor einer soeben erschienenen GuisanBio grafie, bestätigt diese Wirkung – eine Wirkung, die vom General sowohl auf die Soldaten als auch auf den Rest der Bevölkerung ausging: «Echt schien Guisans Interesse, reell seine Wärme. Die Distanz des distinguierten, aber für sorglichen Patrons: Es war die Rolle sei nes Lebens.» Tatsächlich war mit der Wahl des 65jährigen Oberstkorpskommandanten Henri Guisan zum General und Ober befehlshaber der Schweizer Armee am 30. August 1939 eine Person in Amt und Würden gesetzt worden, die das Gesicht der Schweiz während sechs Kriegsjah ren massgebend prägen sollte: Guisan war so populär wie kaum je eine andere Figur des öffentlichen Lebens in der Schweiz. Doch das ist lange her. Vor 50 Jahren ist der einstige General in seinem Wohnsitz Pully gestorben, und seither ist auch sein Renommee langsam, aber sicher am Verwelken. Dass Markus Somm den Niedergang des GuisanEpos bedauert, sei ihm unbenommen. Dass er versucht, den Spiess umzudrehen und für General Guisan einen Platz im Olymp der helve tischen Lichtgestalten zurückzuerobern, erscheint im Laufe der Lektüre der Bio grafie indes problematisch. «In zwanzig Minuten redete sich Guisan in die Ewig keit», räsoniert Somm etwa in Bezug auf Guisans RütliRapport, während er den General an anderer Stelle «in die Unsterblichkeit aufgestiegen» wähnt und ihn sogar als «Liebling der Götter» bezeichnet. Zuschreibungen dieser Art lassen kritische Bemerkungen über Henri Guisan (1874–1960) als junger Offizier an einem Springreiten 1902 in Bière. Am 30. August 1939 wurde er zum General der Schweizer Armee gewählt. Guisans Wesen und Wirken – auch sie sind bei Somm zu finden – merklich ver blassen und entbehren darüber hinaus, mit Verlaub, einer rein wissenschaftli chen Absicht. Es war in den späten 1980er Jahren, als Guisan endgültig vom Thron gestossen wurde. Man muss Markus Somms Arg wohn nicht teilen, um der Feststellung als solcher unumwunden zuzustimmen: Die Heldenerzählung über Henri Guisan bricht dort ab, wo sozial und wirtschafts geschichtliche Fragestellungen zur eid genössischen Politik während des Zwei ten Weltkriegs einsetzen. Wenn Somm darin eine Vernachlässigung des Militä rischen zu erkennen glaubt, kann dem leicht entgegengehalten werden: Nicht die Vernachlässigung des Militärischen, sondern die Ausweitung des Blicks auf politische und ökonomische Felder cha rakterisiert diesen neuen Zugang zur Erforschung der schweizerischen Politik in den 1930/40er Jahren. Dagegen gibt es wenig einzuwenden. Somm hat die neuen Ansätze denn auch genau studiert, doch zieht er ein merkwürdiges Fazit daraus: Kein anderer geschichtlicher Vorgang sei dem Zufall so stark unterworfen wie der Krieg; eben darum müssten Methoden, mit denen Historiker Strukturen statt Ereignisse untersuchten, «spektakulär scheitern». Aus diesem Grund verlässt sich Somm lieber aufs Reduit, jene 1940 beschlossene Zusammenziehung der Verteidigung auf Stellungen in den Alpen. Denn das Reduit sei handfest und verkörpere den schweizerischen Wider stand gegen NaziDeutschland schlecht hin: Bei einem Angriff hätte es den Deutschen immerhin «das Leben schwer gemacht». Das Reduit sei für die Schwei zer Armee im Juni 1940 die einzige und die beste Möglichkeit gewesen, sich zu verteidigen: «Aus eigener Kraft sich wehren zu können: Für das Selbstver ständnis eines Landes inmitten der Katastrophe war das nicht wenig.» Solche und ähnliche Formulierungen durchziehen das Buch von Anfang bis Ende. Von «schweizerischem Eigensinn» ist da die Rede und von «typischem Schweizertum». Was also will Somm eigentlich? Einen Beitrag zur Guisan Forschung leisten oder doch eher den Heimatroman neu beleben? Ein biss chen beides, so scheint es. Vulgärpatriotischer Duktus Somm zieht seine GuisanBiografie gleichsam als Militärkrimi auf. Der über weite Strecken anekdotische Ansatz, eine geschickte Dramaturgie des Hand lungsverlaufs sowie spannend zu lesende – bisweilen fingierte – Dialoge und poin tierte Porträts von Personen aus Guisans freund wie feindschaftlicher Umgebung machen die Lektüre des Buches höchst attraktiv. Das Problem dabei ist, dass Somms spitze Feder genau das schreibt, was der schale Patriotismus unserer Tage so gerne liest: möglichst viel Gutes über die Schweiz und ihre Bewohner. Ein biss chen gar zu viel. Dass Somm mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik unge wöhnlich scharf zu Gerichte zieht und es auch Guisan ankreidet, nichts gegen die massiven Restriktionen im Flüchtlings bereich unternommen zu haben, ändert am vulgärpatriotischen Duktus des Buches kaum etwas. Somm setzt mit seiner GuisanBiogra fie weniger ein wissenschaftliches denn ein geschichtspolitisches Zeichen. Damit aber erliegt er jener Versuchung, die er seinen Historikerkollegen am entgegen gesetzten politischen Pol immer wieder vorwirft: sich für parteipolitische Zwe cke instrumentalisieren zu lassen. l PHOTOPRESS / KEYSTONE Markus Somm: General Guisan. 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Nationalsozialismus Nach eher verklärenden Darstellungen zeichnet eine neue Biografie über Sophie Scholl erstmals ein widersprüchliches Bild der Widerstandskämpferin Die Weisse Rose trägt Stacheln Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie. Carl Hanser, München 2010. 496 Seiten, Fr. 42.90. Am 18. Februar 1943 kurz vor elf Uhr vormittags nimmt Sophie Scholl einen Stapel Flugblätter und wirft ihn kurzer hand vom zweiten Stock der Münchner Universität in den Lichthof. Zufälliger weise sieht der Hausschlosser, wie die Blätter mit dem Aufruf zum Widerstand gegen Hitler nach unten segeln, und eilt nach oben, wo Hans Scholl gerade die restlichen Flugblätter über die marmor ne Brüstung schleudert. Dann geht alles sehr schnell. Die Geschwister werden verhaftet, angeklagt; später verurteilt und gleichentags hingerichtet. Jahre später wurde entdeckt, dass Sophie auf die Rückseite ihrer Akte das Wort «Freiheit» geschrieben hatte. Da war sie bereits eine Ikone der deutschen Geschichte. Die meisten Autorinnen, Biografen und Filmemacher konzen trierten sich in den zahlreichen Werken über die deutsche Widerstandskämpfe rin auf deren letzten dramatischen Tag. Barbara Beuys nimmt im Gegensatz dazu das ganze Leben in den Blick: das humanistischen Idealen verpflichtete Elternhaus; die Beziehungen zu Freun den und Geschwistern; die Lektüre; der Aufstieg vom einfachen Mitglied des Bundes deutscher Mädchen (BDM) zur Scharführerin; die Ausbildung zur Kindergärtnerin; das Studium der Philo sophie und schliesslich die Abwendung von der Hitlerjugend und das Engage BEATRICE BOENINGER / PRIVATBESITZ SUSANNE ZELLER-HIRZEL Von Ina Boesch Neue Facetten über das Leben von Sophie Scholl (1921–1943), hier um 1937. ment in der Widerstandsgruppe «Die Weisse Rose». Erst im letzten Fünftel des Buches geht es um die Zeit zwischen dem Sommer 1942, als die ersten Flug blätter der Gruppe auftauchten, und dem tragischen Ende im Februar 1943. Fülle von neuem Material Für diese «erste umfassende Biografie» über Sophie Scholl konnte Beuys erst mals den Nachlass der Familie im Münchner Institut für Zeitgeschichte einsehen. Ihr Historikerherz muss ange sichts der Fülle und der Qualität des Materials höher geschlagen haben: beim Entziffern der Tagebücher und Briefe, die Inge AicherScholl, eine Schwester, während Jahrzehnten mit viel Akribie und Energie bei Familienmitgliedern und ehemaligen Weggefährten ihrer jüngeren Geschwister aufgetrieben hatte. Beuys war die Erste, die beispiels weise die Brautbriefe zwischen Vater Robert, einem liberalen Steuerberater, und der um zehn Jahre älteren Mutter Lina, einer strenggläubigen Diakonissin, auswerten durfte. Ebenso das bisher unbekannte Tagebuch von Inge Aicher Scholl. Diese hielt es nicht für nötig, das reichhaltige Material selbst zu verarbei ten, schliessslich hatte sie mit ihrem Buch «Die Weisse Rose», 1952 erschie nen und seither vielfach neu aufgelegt, das Bild von Sophie Scholl geprägt: verklärend und Legenden bildend. Fast fünfzig Jahre lang bildete Inges Werk das Fundament für die SchollRezep tion, die nun mit Beuys’ Biografie end lich eine Korrektur erfährt. «Ein lebendiger Mensch kommt zum Vorschein, wo bisher ein Denkmal auf gerichtet war», erklärt die Autorin. Ein Mensch mit Widersprüchen. So belegt Beuys beispielsweise anhand des Tage buchs von Inge, dass Sophies Begeiste rung für die Hitlerjugend erstens viel heftiger war und zweitens viel länger anhielt als bisher angenommen. Auf der einen Seite finden sich 1938 erste negati ve Äusserungen über die nationalsozia listische Politik und Ideologie – zwar nicht zu den damals stattfindenden Pogromen, doch zur Schule, einem «Gebäude mit braunen Scheiben» –, und im selben Jahr legte sie ihr Amt als Grup penführerin nieder. Auf der anderen Seite besuchte sie bis 1941 jeweils mitt wochs sogenannte BDMHeimabende. Warum ein gutes Jahr später aus der Wirtschaftspioniere Der Schweizer Weg zur Unabhängigkeit von ausländischen Salzlieferanten Geburt der Rheinsalinen Bernhard Ruetz: Carl Christian Friedrich Glenck, 1779–1845. Schweizerhalle. Reihe «Pioniere». Verein wirtschafts historische Studien, Zürich 2009. 96 Seiten, Fr. 25.–. Von Charlotte Jacquemart Der strenge und lange Winter hat die Reserven an Auftausalz, das für den Winterdienst genutzt wird, fast überall vollständig aufgezehrt. In der Schweiz wird es von der Saline Riburg geliefert. Bis 300 000 Tonnen können jährlich bereitgestellt werden. Riburg gehört zu den Schweizerischen Rheinsalinen, die 1909 gegründet wurden. Von den ur sprünglich vier erfolgreichen Salinen auf Schweizer Boden ist neben Riburg bis heute nur noch Schweizerhalle er 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 halten geblieben. Die Gründung der «Vereinigten Schweizerischen Rheinsa linen» vor genau 100 Jahren bedeutete das Ende der «schwersten Stürme in der Schweizer Salzpolitik». Wie sehr diese in den über 100 Jahren zuvor vom «Kan tönligeist» und ausländischer Konkur renz beeinflusst worden ist, erzählt Bernhard Ruetz in seinem Buch anläss lich des 100. Geburtstags der Rheinsali nen nach. Aus seinen Recherchen ist ein wie gewohnt sorgfältiges, gefällig be bildertes und inhaltlich verlässliches Büchlein entstanden. Schade nur, ist es nicht immer ganz einfach, die verschie denen Titel der Reihe «Pioniere» in jeder Buchhandlung zu finden. Laut Ruetz ist es der Besessenheit des Deutschen Carl Christian Friedrich Glenck (1779–1845) zu verdanken, dass in der Schweiz überhaupt je nach Salz gebohrt wird. In einem Land ohne Bergwerktradition sind nicht alle von Glencks Vorhaben überzeugt. Zwischen 1820 und 1828 bohrt er gleichzeitig in den Kantonen Bern, Zürich, Wallis und Schaffhausen wie auch in Deutschland. Wie viele andere Pioniere steht er nach einigen glücklosen Bohrjahren vor dem Ruin – als er 1828 im deutschen Herzogtum Her zogtum SachsenCoburgGotha end lich fündig wird. Die finanzielle Aus beute der Saline Ernsthalle ermöglicht es Glenck, die Suche nach Salz in der Schweiz fortzusetzen. Im Mai 1836 ist es so weit: Glencks Mannschaft stösst auf eine sechs Meter dicke Schicht Stein salz. Der Grundstein zum erfolgreichen Schweizer Salzgeschäft und zur spä teren Unabhängigkeit von ausländi schen Salzlieferanten ist damit gelegt. Allerdings fällt dem Salzpionier nichts einst so engagierten BDMFührerin eine ebenso engagierte Widerstandskämpfe rin wurde, kann jedoch auch Barbara Beuys nicht schlüssig erklären. Unbeant wortet bleibt auch die Frage, weshalb Sophie, eher eine Nebenfigur der Grup pe «Die Weisse Rose», später zur Ikone des deutschen Widerstands wurde und nicht ihr Bruder Hans, die treibende Kraft der Gruppe und eine charismati sche Persönlichkeit. Aber sie vermag uns einen tiefen Einblick in die seeli schen Nöte und überraschend reifen Überlegungen der heranwachsenden Sophie zu geben – und, nicht minder wichtig, ein Gefühl für die damalige Zeit. Tourismusplakate Sehnsuchtsreise in das Herz Europas Konventionell erzählt Darüber hinaus erfährt die Leserin viele unbekannte Details, etwa von der Exis tenz eines unehelichen Halbbruders; von den Schwierigkeiten des Vaters während seiner Zeit als Bürgermeister; von der Kinderwelt, die so heil nicht war; oder von den Aufputschmitteln, welche die Widerstandskämpfer genom men hatten, um die kräftezehrenden Aktionen zu überstehen. Erhellend auch die Differenzierung des Frauenbilds, das ebenfalls diskrepanter war als bis anhin vermittelt. Es gab nämlich zwei Sophies: eine, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, sich bescheiden im Hin tergrund haltende Studentin und eine der Avantgarde verpflichtete, selbstbe wusst rauchende, Auto fahrende Frau mit festem Freund. All dies erzählt Barbara Beuys zwar anschaulich, dicht an den historischen Quellen und belegt mit vielen Zitaten, doch hierin liegt gerade die Krux der Darstellung. Offensichtlich ist die Autorin der Verführung durch die üppig vorhandenen Dokumente erlegen: Indem sie das Material schwelgend aus breitet, wirkt das Buch ab und an langat mig, und weil sie teils minutiös Tag für Tag die Aktionen der Gruppe rekonstru iert, droht der grosse Bogen verloren zu gehen. Die Biografin der konventionell erzählten Lebensgeschichte strebte eine Vollständigkeit an, die illusorisch ist. l in den Schoss. Die Kantonsregierungen sind ihm nicht alle wohlgesinnt; ab 1850 beginnt ein ruinöser Preiskampf. Glencks unternehmerisches Verdienst geht über die Salzproduktion hinaus: Die Gründung der Saline Schweizerhal le löst in den Basler Vorortsgemeinden einen eigentlichen Industrialisierungs boom aus. Bis heute trägt das daraus entstandene Industriegebiet den Namen Schweizerhalle. Weil Salz ein wichtiger Rohstoff ist für die chemische Industrie (so bei Farben und Düngemitteln), ist die Gründung der «Chemischen Fabrik Schweizerhall» nur die logische Folge. Über die Gründung der Schweizeri schen Rheinsalinen 1909 hinaus werden die Nachkommen des Deutschen Glenck die Geschicke des Schweizer Salzge schäftes noch eine längere Zeit mitbe stimmen. l Der Besucher ist berührt von der Gastfreundlichkeit, der Sauberkeit, der Ordentlichkeit der Verhältnisse. Er findet ein Höchstmass an landschaftlicher Schönheit, Ruhe, Erholung. Den Reiz einer Bahnfahrt über ein kühn geschwungenes Viadukt. Altes Brauchtum in farbenprächtigen Kostümen. Im frühen 20. Jahrhundert galt die Schweiz als das Ferienland, «eine Synthese des Besten, was Europa zu geben hat». Kurorte wie St. Moritz, Gstaad, Ascona und Crans-Montana waren begehrte Destinationen. Die Altstadt von Bern, die Schwebebahn auf den Säntis, die Luzerner Kapellbrücke – Juwelen des Tourismus. Ein wunderbar gestalteter, grossformatiger Bildband des jungen Zürcher Verlags Walde + Graf lädt zur nostalgischen Schweizer Reise ein, von Basel bis Lugano, von Genf bis an den Bodensee. Eine Reise anhand der schönsten und bekanntesten Tourismusplakate der 1920er bis 1950er Jahre. Gestaltet von den Grossen der schweizerischen Plakatkunst wie Otto Baumberger, Emil Cardinaux, Hans Erni und Karl Bickel – von ihm stammt das Plakat zur Eröffnung des Strandbads Zürich (siehe Bild). Und begleitet von Texten aus alten Fremdenverkehrsführern. Urs Rauber Tour de Suisse. Eine nostalgische Reise zu den schönsten Plätzen der Schweiz. Texte von Eugen Fodor u. a. Plakate aus der Sammlung des Museums für Gestaltung Zürich sowie der Basler Plakatsammlung. Walde + Graf, Zürich 2010. 144 Seiten, 74 Farbabbildungen, Fr. 68.–. 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Politkunst Der Schauspieler und Sänger Ernst Busch war eine Kultfigur der westdeutschen Linken und in der DDR Singen gegen den Faschismus Jochen Voit: Er rührte an den Schlaf der Welt. Ernst Busch. Die Biografie. Aufbau, Berlin 2010. 515 Seiten, Fr. 42.90. Wer kennt noch den Schauspieler Ernst Busch (1900–1980), den Moritatensän ger aus dem «Dreigroschenoper»Film, der mit seiner metallischen Stimme und mit durchdringender Diktion Brechts «Einheitsfrontlied» sang, der mit seinen Liedern aus dem Spanischen Bürger krieg, Johannes R. Bechers «Lenin» Hymne und dem «Lied der Partei» zur sozialistischen Ikone wurde? Für all jene, die ihn nicht kennen oder ihn zu kennen glauben, gibt es nun einen Grund, sich (erneut) mit ihm zu beschäf tigen: Jochen Voit, ein freischaffender Journalist, der über Busch promovierte, hat eine ausgezeichnete Biografie des Sängers und Schauspielers geschrieben, die durch ihre pointierte und anschau liche Darstellung zu bannen vermag: Mit sicherer Hand schlägt Voit im Dickicht der zahlreichen BuschLegen den eine Schneise und führt uns auf einem durch intensives Quellenstudium gesicherten Pfad durch das Leben des Bühnenkünstlers. Mit Voits Buch tauchen wir ein ins brodelnde Berlin der Weimarer Repu blik, erleben, wie dem jungen Schau spieler der Sprung an die linksradikale Piscatorbühne gelang und wie er schon bald im Kabarett und auf Arbeiterveran staltungen als Interpret politischer Chansons Berühmtheit erlangte, insbe sondere mit dem «Seifenlied», einem DDP IMAGES Von Andreas Tobler Die Schauspieler Ernst Busch und Hertha Thiele im Film «Kuhle Wampe» (1932). Spottlied auf die SPD, und dem «Stempel lied» (1929), einem Arbeitslosensong, der in Berlin nach der Weltwirtschafts krise zu einem Gassenhauer wurde. Mit dem Aufstieg der Nazis wurde Hanns Eis lers «Der heimliche Aufmarsch» (1931) zu Buschs Paradestück: Obwohl zu die sem Zeitpunkt nicht Parteimitglied, liess Busch mit diesem Lied auf KPDKundge bungen und Matineen – gemäss Erich Weinerts Liedtext – «aus den Trümmern der alten Gesellschaft die sozialistische Weltrepublik» entstehen, und er erhob seine Stimme gegen die Faschisten: «Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre / nehmt die Gewehre zur Hand! / Zer schlagt die faschistischen Räuberheere, / setzt alle Herzen in Brand.» Damit war Buschs weiterer Lebens weg vorgezeichnet: Nach der «Machter greifung» ging er ins Exil und zog 1937 in den Spanischen Bürgerkrieg, wo er «traurigtrotzige Monumente der internationalen Solidarität» auf Platte sang, aber – so Voit – wohl keine wirk liche Waffe im Kampf gegen Franco war. Mit seinen weiteren Lebenssta tionen – der Verhaftung im Mai 1940 in Antwerpen und der Inhaftierung bis Kriegsende durch die Nazis – verkör perte Busch nach dem Ende des Krieges den antifaschistischen Schick salsweg, der ihn in der DDR, wo er lebte, und in der Sowjetunion zu einem Volkshelden werden liess. Obwohl ein Held und obwohl er mit der Einspielung von Louis Fürnbergs grässlichem «Lied der Partei» – «Die Partei, die Partei, die hat immer recht» – eigentlich als der linientreueste Sän ger der DDR hätte gelten müssen, hatte Busch wiederholt Konflikte mit der Partei auszutragen und mit seinen Zweifeln am SEDStaat zu kämpfen, was Voit unter anderem daran zeigen kann, dass Busch nach dem Volksauf stand vom 17. Juni 1953 sein Parteibuch wegwarf, als «Sänger des Volkes» ver stummte und sich wieder ganz dem Theater zuwandte. Dabei blieb es jedoch nicht. Wie Voit in seiner stets fair bleibenden Lebens geschichte zeigt, liess sich Busch knapp ein Jahrzehnt nach dem Aufstand von 1953 vom Regime wieder umgarnen, rechtfertigte im November 1976 Wolf Biermanns Ausbürgerung und verkam im Alter durch die ständige Wieder holung und Neueinspielung seiner alten Hits allmählich zu einer «sozialis tischen Jukebox». l Stalinismus Aufzeichnungen einer österreichischen Ärztin über ihren Albtraum im Lager Wie man den Gulag überlebt Angela Rohr: Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Hrsg. Gesine Bey. Basisdruck, Berlin 2010. 300 S., Fr. 32.–. Von Stefan Howald Sie treffen einen mit unverminderter Wucht, diese Aufzeichnungen aus dem stalinistischen Gulag: Frauen in über füllten Räumen elend zusammenge pfercht, Hunger, Dreck, Gewalt und gezielten Demütigungen ausgesetzt, in einem Kampf ums Überleben, der kaum Mitgefühl zwischen den Gefangenen zulässt. Angela Rohr wurde 1941 verhaftet, verbrachte elf Jahre in Gefängnissen und Lagern sowie fünf weitere Jahre als Ärztin in der sibirischen Verbannung. Doch gab es andere Leben der Angela 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 Rohr, bevor sie 1925 nach Moskau kam und fünfzehn Jahre später im Gulag ver schwand. 1890 in Mähren als Angela Müllner geboren, in Wien eingeschult, betrieb sie autodidaktische medizinische Stu dien in Paris und veröffentlichte in Ber lin in der expressionistischen Zeitschrift «Die Aktion» als Angela Hubermann erste Texte. Ab 1915 verkehrte sie in Zürich in der DadaSzene; später wurde sie als Angela Guttmann von Rilke hoch geschätzt. Nach Berlin zurückgekehrt, bildete sie sich dank einem Stipendium von Sigmund Freud psychoanalytisch weiter. 1925 reiste sie mit ihrem dritten Mann, August Rohr, nach Moskau, arbei tete als Journalistin, dann als Ärztin. 1941 wurde sie während der höchsten stalinistischen Paranoia inhaftiert. 1957 rehabilitiert, lebte sie in Moskau mit einer kleinen Rente, bekannt für ihre nachbarschaftliche ärztliche Hilfe. Teile ihrer 1960 verfassten Aufzeichnungen erschienen 1989, fünf Jahre nach ihrem Tod, unter einem Pseudonym. 1992 wurden anlässlich einer Zürcher RilkeAusstellung Angela Hubermann und Angela Guttmann als dieselbe Auto rin identifiziert. Erst die deutsche Ger manistin Gesine Bey aber hat all diese verschiedenen Namen und Existenzen zu einem ebenso phantastischen wie erschütternden Lebenslauf zusammen geführt. Sie präsentiert Rohrs frühe expressionistische Prosa neben den Reportagen aus Moskau, für die «Frank furter Zeitung» zwischen 1928 und 1933 verfasst, und den Aufzeichnungen aus dem Gulag. Diese suchen immer wieder Distanz, einen eigenwilligen Blick, ungewöhnliche Beschreibungen für den Albtraum der Haft. Dadurch wird das Grauen umso eindringlicher. l Nachlass In ihren Tagebüchern zeigt Susan Sontag unbändige geistige Neugier und den festen Willen, Schriftstellerin zu werden «Weniger lächeln, täglich baden!» müsste.» Hier ist sie, die Selbstentblös sung, die der Sohn so fürchtet. Denn neben ihrer Homosexualität suchte Son tag zeitlebens eines zu verbergen: ihren Ehrgeiz. Von 1950, als Sontag mit 17 in Chicago zu studieren begann und heiratete, bis 1956, als ihr Sohn David 4 Jahre alt war, sind die Tagebücher dünn. Mit dem wachsenden Willen, auszubrechen aus der sterilen Idylle der Fifties, werden sie voller: 1957 kommt der Sohn zu den Grosseltern und Sontag reist mit einem Stipendium nach Oxford, stürzt sich dann in die Pariser Bohème und ins Unglück lesbischer Affären. Nach der Rückkehr verlässt sie ihren Mann und zieht mit Sohn und Freundin nach New York, um endlich jenes Leben einer frei en Schriftstellerin zu führen, von dem sie schon mit 14 träumte. Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963. Hanser, München 2010. 380 Seiten, Fr. 42.90. Von Kathrin Meier-Rust Altkluge Kühnheit Nicht peinlich, sondern erstaunlich sind schon die Notate des intellektuellen Wunderkindes, das mit 15 André Gide und Thomas Mann verschlingt, Dosto jewski, T. S. Eliot oder auch mal Oswald Spengler. Dass sie die Entdeckung der eigenen Homosexualität und die erste lesbische Affäre in Selbstzweifel und Liebeskummer stürzten, ist da geradezu beruhigend. Und wenn die junge Susan nach einer Nacht in den Transvestiten bars von San Francisco schreibt: «Jetzt fängt alles an – ich bin wiedergeboren», kann man die altkluge Kühnheit dieses Teenagers nur bewundern. «Sex mit Musik – wie intellektuell!», notiert die 16Jährige. Ein Jahr später findet der berühmte Besuch bei Thomas Mann statt, den sie später in einem eigenen Essay ge schildert hat. Im Tagebuch steht nun die Rohfassung ihrer Begegnung mit dem Idol: Er hatte ein «sehr beherrschtes Allerweltsgesicht, wie auf den Fotos». Schon mit 16 stellt sie lange Listen von Büchern auf, die sie unbedingt lesen will oder besser: lesen «muss». Sie wer den immer wieder kommen, diese Listen Gier nach Bildung RENATE SAINT PAUL / RUE DES ARCHIVES Schon die dramatische Eröffnung ver weist auf die Intellektuelle, die sie wer den sollte: «Ich glaube: a) dass es kei nen persönlichen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt, b) dass es im Leben nichts Erstrebenswerteres gibt als die Freiheit, sich selbst treu zu sein, d. h. die Ehrlichkeit, c) dass Menschen sich allein durch ihre Intelligenz unterscheiden.» So schreibt Susan Sontag als noch nicht 15jährige HighSchoolSchülerin in Los Angeles. Mit diesem Fanfarenstoss lässt David Rieff, Susan Sontags Sohn, die Tagebü cher seiner Mutter beginnen. Fast 100 Notizbücher fanden sich nach Sontags Tod Ende 2004 in ihrem Schrank, das erste hatte sie mit 13 Jahren begonnen. Sie sollten, wie ihr gesamter Nachlass, an die University of California gehen und dort frei zugänglich sein. Widerwil lig und nur um fremden Augen zuvorzu kommen, entschloss sich der Sohn zu einer stark gekürzten und redigierten Herausgabe. Sein Vorwort zum ersten von drei geplanten Bänden stellt eine einzige Warnung dar vor der «Selbstent blössung» der Mutter, die dem Sohn offenbar höchst peinlich ist. von Büchern, aber auch von Wörtern, Jahreszahlen oder Dadaisten. Später kommen Filme hinzu. Ein Heft von 1961 soll einzig die Filme verzeichnen, die Sontag in jenem Jahr sah, wie uns der Herausgeber wissen lässt: Meist war es einer, oft zwei pro Tag, nie vergingen mehr als vier Tage ohne Kinobesuch. Selbst die Selbstkritik wird in Listen erfasst: Bessere Haltung, weniger lächeln, täglich baden, befiehlt sie sich über all die Jahre hinweg immer wieder. Vor allem befiehlt sie sich zu schrei ben. «Mindestens zwei Stunden schrei ben am Tag», ermahnt sie sich. Oder: «Schreiben lernt man, indem man schreibt.» Oder: «Von jetzt an jeden Blödsinn aufschreiben.» Oder: «Nur die Faulheit hindert mich daran, Schriftstel lerin zu sein.» Schliesslich, mit 24 Jah ren, fragt sich Sontag: «Warum ist mir das Schreiben wichtig?» Und antwortet: «Weil ich diese Figur, die Schriftstelle rin, sein will und nicht, weil es irgendet was gäbe, das ich zum Ausdruck bringen Susan Sontag (1933–2004), amerikanische Essayistin und Feministin war getrieben vom Ehrgeiz, Schriftstellerin zu werden. Hier in den 1960er Jahren. Sontag selbst verzeichnet diese biogra fischen Ereignisse nur spärlich – als Ein stieg in Leben und Werk sind diese Tagebücher denkbar ungeeignet. Dass sie bereits 1961 in hochrenommierten Zeitschriften publizierte, dass 1963 ihr erster Roman erscheint – im Tagebuch erfährt man nichts davon. Schon gar nicht lässt sich aus diesen selbstquäle rischen Notaten erspüren, wie schnell die schöne junge Susan Sontag im her metischen Zirkel der New Yorker Intel lektuellen Eingang fand, wo sich ihr gla mouröses Image bildete, das sie später zur Ikone werden liess. Im Tagebuch – wie sollte es anders sein – erfährt man die Innensicht des glamourösen Aussenlebens. Sontag reibt sich auf im täglichen emotionalen Durcheinander ihrer Affären, meist mit Frauen, klagt über Schreibstau, über schlechten Sex, Migräne und eigene Unsicherheit. Doch der eigentliche rote Faden, der sich durch die frühen Jahre zieht, bleiben ihre Notate zu Büchern, ihre unersättliche Gier nach Bildung und Erkenntnis und der geradezu un erbittliche Wille, selbst in die Reihe jener Schreiber aufzurücken, die sie so bewundert. Seit ihrer Kindheit in Arizona und Kalifornien war für Sontag Geist und Kultur gleichbedeutend mit europä ischem Geist und europäischer Kultur. Und doch erweist sie sich als uramerika nisch im felsenfesten Glauben, sich alleine, frei von jeder Fessel der Her kunft, selbst neu erschaffen zu können. Nicht weil sie schreiben konnte, beschloss sie, Schriftstellerin zu wer den, sondern allein deshalb, weil sie es wollte. Ganz nach dem amerikanischen Motto: You can be anything you want. l 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Grafik Ein Ausstellungsbuch stellt den Künstler Anton Stankowski und seine Schweizer Freunde vor An der Grenze von Kunst und Design Stankowski-Stiftung (Hrsg.): Ob Kunst oder Design ist egal – nur gut muss es sein. Der Kreis um Anton Stankowski. Ausstellungskatalog. Edition AV, Ludwigsburg 2010. 160 Seiten, Fr. 49.50. Von Marc Peschke Wie nah sich Kunst und Design manchmal kommen können, zeigt eine Ausstellung, die vom 2. Mai bis 7. Juli 2010 im Museum Wiesbaden und danach in der Kunsthalle Göppingen zu bewundern ist. Sie trägt den Titel «Ob Kunst oder Design ist egal – nur gut muss es sein. Der Kreis um Anton Stankowski». Präsentiert wird der Kreis um Anton Stankowski, dessen konkretkonstruk tivistisches Werk sich beispielhaft an der Grenze von Kunst und Design ent wickelt und ebendiese überwinden konnte. Stankowski, 1906 als Gelsen kirchener Bergmannssohn geboren, 1998 verstorben, machte keinen Unter Nach dem Krieg siedelte sich Stan kowski in Stuttgart an – und auch hier findet er schnell Künstlerkollegen, mit denen er in engem Austausch steht: Willi Baumeister und Max Bense, aber auch Egon Eiermann, Karl Duschek, Rupprecht Geiger und Otl Aicher. In Kurzbiografien und einführenden Texten werden auch sie vorgestellt, genauso wie die Preisträ ger der StankowskiStiftung, zu denen etwa Almir Mavignier oder der USMini malist Donald Judd gehören. Ihre Kunst ist sehr unterschiedlich: Sie schreiben konkrete Poesie, gestalten Plakate wie etwa Willi Baumeister, sie malen, zeichnen oder entwerfen Möbel – und haben dabei doch eines gemein sam: Sie alle waren Freunde von Anton Stankowski und haben in mal loserer, mal engerer Zusammenarbeit mit ihm ihr Werk weiterentwickelt. Und sie alle sind leuchtende Beispiele für die Wech selwirkung von freier und angewandter Kunst – der man jetzt in den Ausstellun gen in Wiesbaden und Göppingen oder im Katalogbuch nachspüren kann. l schied zwischen freier und angewand ter Kunst: Der Absolvent der Essener Folkwangschule arbeitete als Grafiker für avancierte Werbeagenturen wie etwa jene von Max Dalang in Zürich, doch immer auch als freier Künstler, wie es auch seine drei Dutzend Künst lerfreunde taten. Die Verbindungen von Stankowskis Werk zu jenem seiner Freunde sind vielfältig: Er arbeitete mit Bauhaus Künstlern wie Max Bill oder Josef Albers, wohnte eine Zeit lang mit Her bert Matter zusammen, der heute als Begründer des modernen Fotoplakats gilt und in den 30er Jahren in den USA für Zeitschriften wie «Vogue» oder «Harper’s Bazaar» fotografierte, um später im Büro von Ray und Charles Eames zu arbeiten. Das Buch stellt sie alle in Bildern und Texten vor, Bekann te und eher Unbekannte wie den Schweizer Grafiker Heiri Steiner – auch er ein Beispiel für die Modernität der Schweizer Gestalter in der ersten Hälf te des 20. Jahrhunderts. Das amerikanische Buch Idee von der weissen Überlegenheit schwindet Painter spannt eine breite Leinwand auf, die von der Antike über die deut sche Klassik und die Blütezeit der Eugenik vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht. So schildert die «History» in Mitteleuropa Vertrau tes wie den epochalen Irrtum von Johann Joachim Winckelmann, der aus den römischen Marmorkopien (tat sächlich bunt bemalter) griechischer Statuen schloss, Weiss sei das Schön 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010 GRETA PRATT / AGENCE VU / KEYSTONE Physiognomiker wie Blumenbach und den Schweizer Philosophen Johann Caspar Lavater fest: Weisse Kaukasier haben die schönsten Schädel. Strassenszene in New York, wo der weisse Banker und der farbige Bauarbeiter noch immer typisch sind. Historikerin Nell Irvin Painter (unten). ROBIN HOLLAND «Rasse ist keine Tatsache, sondern eine Idee.» Mit dieser Feststellung beginnt Nell Irvin Painter ihre kulturgeschichtli che Studie The History of White People (W. W. Norton, 496 Seiten). Die emeri tierte PrincetonHistorikerin betont, sie betrete damit noch kein Neuland: Dass sich Menschen über ihre Haut farbe keinesfalls fixen «Rassen» mit spezifischen Eigenarten zuordnen las sen, habe um 1900 bereits der Anthro pologe Franz Boas erkannt. Im Jahr 2000 trieben Genforscher laut Painter «den längsten Nagel in den Sarg rassis tischer Irrlehren», als sie nachwiesen, dass das menschliche Erbgut quer durch alle Völker und Stämme zu 99,9 Prozent übereinstimmt. Aber bis heute fehlte in Painters Augen eine Studie, die einem breiten Publikum die Ent wicklung der Ideen auseinandersetzt, die sich in Amerika hinter dem Rassen begriff «Weiss» verbergen. Mit ihrer «History» erfüllt Painter diese Aufgabe bravourös. Ihr Buch wird vielerorts freundlich rezensiert, und die 68jäh rige Historikerin ist derzeit häufig im USFernsehen zu erleben, wobei sie durch Humor und Selbstbewusstsein überzeugt. heitsideal der alten Athener gewesen. Daneben hebt Painter gerne verschwie gene Passagen bei amerikanischen Geis tesgrössen wie Ralph Waldo Emerson (1803–1882) hervor, aus deren Werk Ver achtung nicht nur gegen Asiaten und Schwarze trieft, sondern die ausgerech net die blasshäutigen Iren als von Natur aus primitiv und minderwertig darstel len. Vor diesem Hintergrund erläutert Painter den absurden Dreh, in dem die weissen, aus dem Kaukasus stammen den Sklaven mediterraner Kulturen zur Verkörperung der rassischen Über legenheit weisser Sklavenhalter in Ame rika wurden. Winckelmanns Zeitgenosse Johann Friedrich Blumen bach (1752–1840) prägte den Begriff «kaukasisch» für die weisse Rasse und wollte anhand zahlloser Schädelver messungen beweisen, dass Tscherkes sen und Georgier dem Idealmass altgriechischer Köpfe am nächsten kamen. Auch wenn sie selbst nie das Schwarze Meer besuchten, so stand für Von den Genforschern inspiriert, hat Painter gut zehn Jahre lang an der «His tory» gearbeitet. Währenddessen fand sie Gelegenheit, ein Buch über die Rolle der Kunst in der Entwicklung afroamerikanischer Identitäten zu schreiben: Creating Black Americans (Oxford University Press 2005, 480 Seiten). Tatsächlich hat sie als stolze Tochter einer gutbürgerlichen, afroamerikanischen Familie aus Texas ihre akademischen Lorbeeren mit Ar beiten über die Geschichte der Schwar zen in den USA verdient. Dass die über Jahrhunderte auch von farbigen Mino ritäten fraglos akzeptierte Überlegen heit der weissen Amerikaner heute auf dem Prüfstand einer schwarzen Histo rikerin steht, darf bereits als Indiz dafür verstanden werden, dass die Bedeutung der RassenIdee im amerikanischen Alltag rapide schwindet. Painter be schreibt diese Entwicklung als sukzes sive Ausdehnung des Begriffs Weiss von den angelsächsischen Eliten über Iren und Italiener auf jüdische und nun lateinamerikanische Immigranten. Die «History» schliesst mit einer ver haltenpositiven Note. Obwohl sich ras sistische Ideen in den USA nun ebenso rasch auflösen wie die RassenKatego rie Weiss, dürften arme Schwarze in urbanen Elendsquartieren laut Painter noch lange Zielscheibe einschlägiger Vorurteile bleiben. l Von Andreas Mink Agenda Geschäftsfrauen Mit der Tupperware-Party zum Erfolg Agenda Mai 2010 Basel Sonntag, 9. Mai, 11 Uhr Dienstag, 18. Mai, 19 Uhr Arno Geiger: Alles über Sally. Lesung. Literatur Basel, Theaterstrasse 22, Tel. 061 228 75 36. THORSTEN JANSEN Literarischer Stadtrundgang: Basel – Schreibende Frauen allerorten. Fr. 30.–. Treffpunkt: vor dem Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info@literaturspur.ch. Mittwoch, 19. Mai, 20 Uhr Helmut Hubacher: Geschichten à la carte. Buchvernissage, Lesung, Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 25. Bern Mittwoch, 5. Mai, 15 Uhr RUE DES ARCHIVES Max Huwyler: Das Zebra ist das Zebra. Der Autor erzählt. Orell Füssli Buch handlung, Westside, Tel. 0848 849 848. Mittwoch, 19. Mai, 20 Uhr Welterfolg verhalf. Die Sekretärin und Mutter war im Nebenjob als Vertreterin von Putzwaren ein Genie. So entstanden die «Tupperware-Partys». Auf ihrem Karrierehöhepunkt war Wise Sales-Managerin eines Millionenunternehmens. Doch als die Zahlen zurückgingen, entliess sie der oberste Chef. Ja, die gläserne Decke … Regula Freuler Claudia Lanfranconi, Antonia Meiners: Kluge Geschäftsfrauen. Elisabeth Sandmann, München 2010. 152 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 42.90. Bestseller April 2010 Belletristik Sachbuch 1 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90. 2 Scherz. 303 Seiten, Fr. 24.90. 3 Heyne. 543 Seiten, Fr. 34.90. 4 Bastei Lübbe. 749 Seiten, Fr. 26.50. 5 Bastei Lübbe. 459 Seiten, Fr. 34.50. 6 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90. 7 Nagel & Kimche. 455 Seiten, Fr. 32.90. 8 Bastei Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90. 9 Kindler. 314 Seiten, Fr. 32.30. 10 Droemer/Knaur. 613 Seiten, Fr. 26.50. 1 Kiepenheuer & Witsch. 259 Seiten, Fr. 26.50. 2 Suhrkamp. 212 Seiten, Fr. 29.90. 3 Stämpfli. 247 Seiten, Fr. 49.00. 4 Rowohlt. 223 Seiten, Fr. 33.90. 5 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90. 6 C. H. Beck. 288 Seiten, Fr. 37.90. 7 Nagel & Kimche. 111 Seiten, Fr. 17.90. 8 Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80. 9 Hoffmann und Campe. 223 Seiten, Fr. 31.90. 10 Goldmann. 397 Seiten, Fr. 27.50. Martin Suter: Der Koch. Tommy Jaud: Hummeldumm. Nicholas Sparks: Mit dir an meiner Seite. Sarah Lark: Das Gold der Maori. Cody McFadyen: Ausgelöscht. William P. Young: Die Hütte. Milena Moser: Möchtegern. Dan Brown: Das verlorene Symbol. David Safier: Plötzlich Shakespeare. Karen Rose: Todesspiele. Michael Mittermeier: Achtung Baby! Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Markus Somm: General Guisan. Miriam Meckel: Brief an mein Leben. Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche. Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Roger de Weck: Nach der Krise. Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein. Roman M. Koidl: Scheisskerle. Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13. 4. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Solothurn Freitag, 14. bis Sonntag, 16. Mai 32. Solothurner Literaturtage. Info: www.literatur.ch. Zürich Dienstag, 4. Mai, 19 Uhr Isolde Schaad: Robinson und Julia. Lesung, Fr.20.–.Gemeinschafts zentrum Buchegg, Bucheggstrasse 93. Tel. 044 363 01 77. Dienstag, 11. Mai, 20 Uhr Gerold Späth: Die heile Hölle, Neuauflage. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Montag, 17. Mai, 18.30 Uhr Peter Mathys: Unschalks Welt. Lesung. Buchhandlung Hirslanden, Freiestrasse 221. Tel. 044 381 06 66. Dienstag, 18. Mai, 19 Uhr Der Garten: ein Märchen? Petra Hagen liest Karin Blume. Diskussion, Bar. Rosengarten, Kalkbreitestrasse 2. Info: www.kalkbreite.net. Mittwoch, 26. Mai, 20 Uhr Eshkol Nevo: Wir haben noch das ganze Leben. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Bücher am Sonntag Nr. 5 erscheint am 30. 5. 2010 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 ROY STAEHELIN «Glass Ceiling» – eine gläserne Decke hängt zwischen den Frauen und der obersten Chefetage. Panzerglas, könnte man mit Blick auf die geringe Anzahl weiblicher Führungskräfte meinen. Doch die Autorinnen Lanfranconi/Meiners wittern Besserung. Und sie erinnern in ihrem Bildband an 22 Geschäftsfrauen wie Marie Tussaud, Margarete Steiff, Marion Donovan, Beate Uhse und Brownie Wise (im Bild rechts), die als Verkaufsleiterin der Firma Tupper ab den 1950er Jahren den Frischhalteboxen aus Plastic zum Gunhild Kübler: Leidenschaften. Lesung, Fr. 12.–. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 20. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQAA8YeGrA8AAAA=</wm> <wm>10CEWKOQ6AMAwEX5Ro7dgQ4zJHFSEEiP8_hYiGYqeY2TFcI76Vtt_tdAJEAywnnd7WWTLLJISMQdiIWRhJFv-fodRwAR14QPGo_QUZk-BmWQAAAA==</wm>