Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi |Isolde Schaad Robinson und

Transcription

Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi |Isolde Schaad Robinson und
Nr. 4 | 25. April 2010
Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi | Isolde Schaad Robinson und Julia |
Nelly Sachs Gedichte | Franziska Rogger, Monika Bankowski Russische
Studentinnen in der Schweiz | Barbara Beuys Sophie Scholl | Markus Somm
GeneralGuisan|Weitere Rezensionen zu Irène Némirovsky, Susan Sontag,
Arthur Schopenhauer, Catherine Millet u.a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Tagebücher
im Gespräch
<wm>10CAsNsjY0MDAx1QWSZoYWABeRAsMPAAAA</wm>
<wm>10CEXKOw6AMAwE0RMl2rXsfHAZkipCCBD3PwqIhmJeNXO6RXy1vl39cAJq4TWxuFWLkhO9iERopkNpAmKhGiTlWv3_Q1vDCQzgBuO-jgcghyPZXwAAAA==</wm>
CHF 27,50
Die interessantesten Neuerscheinungen
ganz bequem online bestellen – wir liefern schnell
und zuverlässig. Auf Wunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch
CHF 29,90
Inhalt
Philosoph
mit Pudel und
Windfrisur
Nr. 4 | 25. April 2010
Günter Grass Im Visier der DDR-Stasi | Isolde Schaad Robinson und Julia |
Nelly Sachs Gedichte | Franziska Rogger, Monika Bankowski Russische
Studentinnen in der Schweiz | Barbara Beuys Sophie Scholl | Markus Somm
GeneralGuisan|Weitere Rezensionen zu Irène Némirovsky, Susan Sontag,
Arthur Schopenhauer, Catherine Millet u.a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Günter Grass
(Seite 18).
Illustration von
André Carrilho
Schon von Arthur Schopenhauer gehört? Aber kaum etwas von ihm
gelesen? Dann ergeht es Ihnen wie mir, liebe Leserin, lieber Leser. Ob
der Mann mit der schlohweissen Windfrisur, der zeitlebens mit dem
Pudel herumspazierte und dessen Werk Leo Tolstoi, Samuel Beckett,
Thomas Mann und Albert Einstein stark beeinflusst hat, heute zu
Unrecht vergessen ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
Seine Polemiken gegen verbeamtete «Flachköpfe», sprich: deutsche
Universitätslehrer, lesen sich aber heute noch mit Genuss. Hegel? Für
Schopenhauer ein «miserabler Scharlatan» und Urheber einer
«philosophischen Hanswurstiade», die wie eine Syphilis im Gehirn der
Leser wüte. Journalisten? «Zeitungs­Skribler», die nur die Sprache
verhunzen. Die Ehe? «Heiraten heisst mit verbundenen Augen in einen
Sack greifen und hoffen, dass man einen Aal aus einem Haufen
Schlangen herausfinde.»
Gewiss, nicht alles ist noch zeitgemäss am herrlich unkorrekten
Philosophen, dessen letztes Notizbuch Manfred Koch hier rezensiert
(Seite 16). Doch das Alterswerk überrascht durch ein Höchstmass an
Frische und Frechheit. Insofern erscheint der alte Schopenhauer
tatsächlich aktuell. Wirkt er doch weit jugendlicher und vitaler als
manch prominenter Literat, der nur noch über das Nachlassen seiner
Kräfte jammert. Meine Empfehlung: bitte lesen! Urs Rauber
18 Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der
Westen
Belletristik
4
6
Von Urs Rauber
Olivier Philipponnat, Patrick Lienhardt:
Irène Némirovsky
19 Catherine Millet: Eifersucht
Von Regula Freuler
Von David Signer
Yishai Sarid: Limassol
Von Christoph Plate
20 Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem
Mittelalter
Von Helmut Böttiger
Roberto Zapperi: Abschied von Mona Lisa
Von Geneviève Lüscher
László Krasznahorkai: Seiobo auf Erden
8
9
Von Gerhard Mack
Isolde Schaad: Robinson und Julia
Von Angelika Overath
21 Markus Somm: General Guisan
Von Manfred Papst
22 Barbara Beuys: Sophie Scholl
Von Fritz Trümpi
Nelly Sachs: Gedichte 1940–1970
Kathrin Röggla: Die Alarmbereiten
Von Sandra Leis
PHOTOPRESS / KEYSTONE
7
Mel Ramos: 50 Jahre Pop-Art
Von Gerhard Mack
10 Vincent Overeem: Misfit
Von Simone von Büren
11 Nicholson Baker: Der Anthologist
Von Bruno Steiger
Kurzkritiken Belletristik
11 Betina González: Nach allen Regeln der Kunst
Von Regula Freuler
William Styron: Sturz in die Nacht
Von Manfred Papst
General Henri Guisan – fast – privat am Telefon in seinem
Landgut Pully bei Lausanne, um 1945 (Seite 21).
Kurzkritiken Sachbuch
15 Melanie Mühl: Menschen am Berg
Von Kathrin Meier­Rust
Bruno S. Frey, Claudia Frey Marti: Glück
Airen: I Am Airen Man
Von Kathrin Meier­Rust
Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte
Von Geneviève Lüscher
Von Regula Freuler
Von Manfred Papst
Interview
12 Franziska Rogger, Monika Bankowski,
Historikerinnen: «Die Schweiz umerziehen»
Von Urs Rauber
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Benjamin Disraeli
Die Vögel der Familie Graviseth
Gabi Köpp: Warum war ich bloss ein
Mädchen?
Von Urs Rauber
Sachbuch
16 Arthur Schopenhauer: Senilia
Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Über Glück
und Unglück des Alters
Von Manfred Koch
18 Kai Schlüter: Günter Grass im Visier
Kai Schlüter: Deckname «Bolzen»
Von Ina Boesch
Bernhard Ruetz: Carl Christian Friedrich
Glenck, 1779–1845
Von Charlotte Jacquemart
23 Tour de Suisse. Eine nostalgische Reise zu
den schönsten Plätzen der Schweiz
Von Urs Rauber
24 Jochen Voit: Er rührte an den Schlaf der Welt
Von Andreas Tobler
Angela Rohr: Der Vogel
Von Stefan Howald
25 Susan Sontag: Wiedergeboren. Tagebücher
1947–1963
Von Kathrin Meier­Rust
26 Stankowski-Stiftung (Hrsg.): Ob Kunst oder
Design ist egal – nur gut muss es sein
Von Marc Peschke
Das amerikanische Buch: Nell Irvin Painter:
The History of White People
Von Andreas Mink
Agenda
27 Claudia Lanfranconi, Antonia Meiners:
Kluge Geschäftsfrauen
Von Regula Freuler
Bestseller April 2010
Belletristik und Sachbuch
Agenda Mai 2010
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier­Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art­Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore (Korrektorat)
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E­Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Biografie Über 60 Jahre nach ihrem Tod wurde ein unvollendeter
Roman der französischen Schriftstellerin Irène Némirovsky zum
Bestseller. Eine gründlich recherchierte Biografie stellt die in
Auschwitz umgekommene Jüdin vor
Olivier Philipponnat, Patrick
Lienhardt: Irène Némirovsky. Die
Biografie. Aus dem Französischen von
Eva Moldenhauer. Knaus, München
2010. 576 Seiten, Fr. 52.–.
Von Regula Freuler
Am 11. Juli 1942 schreibt Irène Némirovs­
ky aus ihrem Zufluchtsort im Burgund
einen Brief an den Programmleiter ihres
Verlags Albin Michel in Paris: «In letzter
Zeit habe ich viel geschrieben. Ich ver­
mute, es werden posthume Werke sein,
aber es vertreibt mir jedenfalls die Zeit.»
Am 13. Juli gegen zehn Uhr morgens
bringen Gendarmen sie ins Durchgangs­
lager Pithiviers. Am 17. Juli wird sie in
einen Waggon nach Auschwitz gezwängt,
wo sie am 19. August 1942, im Alter von
39 Jahren, an Typhus stirbt. Zuletzt hatte
die Autorin an einem Roman unter dem
Titel «Suite française» gearbeitet, der 62
Jahre nach ihrem Tod erschienen ist und
zur literarischen Sensation wurde. Wei­
tere Bücher Némirovskys wurden seit­
Bestseller im Koffer
Bevor er im Oktober 1942 ins KZ deportiert wurde, übergab Irène Némirovskys
Mann Michel Epstein den beiden Töchtern einen Koffer. Dieser enthielt die ersten beiden des auf fünf Teile angelegten
Manuskripts des Romans «Suite française». Erst viele Jahre später öffnete
Tochter Denise den Koffer, entzifferte die
winzige Schrift mit der Lupe und tippte
den Text ab. Die Originalausgabe von
2004 sorgte für Furore: der Roman einer
Jüdin über den Krieg, entstanden in der
Besatzungszone!
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
her teils neu übersetzt, teils neu heraus­
gegeben.
Ihr bewegtes Leben und sein tragi­
sches Ende boten sich für eine erste
umfassende Biografie geradezu an. Die
französischen Journalisten Olivier Phi­
lipponnat und Patrick Lienhardt haben
recherchiert, mit der älteren, noch
lebenden Tochter Némirovskys gespro­
chen und 2007 ihre Ergebnisse präsen­
tiert, die nun auch auf Deutsch vor­
liegen. Die Biografen wählten den klassi­
schen chronologischen Weg, der mit der
Herkunft der Eltern beginnt und mit
dem postumen Druck einiger Werke
endet. Viel Platz räumen sie der Kind­
heit der Autorin ein.
Wir erfahren zahlreiche Details über
Kiew, wo Irène (als Irina) Némirovsky
1903 in wohlhabende Umstände gebo­
ren wird. Die Sommer verbringt man
gediegen auf der Krim; winters lässt
man Irènes Asthma in französischen
Badeorten behandeln, wo die Eltern –
die so vergnügungs­ wie eigensüchtige
Mutter Anna/Fanny und der ewig
umtriebige Vater Leonid/Léon – die
Casinos frequentieren. Eine französi­
sche Lehrerin erzieht das Einzelkind.
So wird Irènes spätere Heimat schon
früh zur kulturellen Wahlheimat. Dann
kommt der Krieg, die Familie zieht 1914
nach Sankt Petersburg, flieht von dort
via Moskau, Finnland und Schweden
nach Paris, wo man 1919 ankommt.
Ironische Beobachterin
Die Mutter nimmt im Werk und dem­
entsprechend auch in der Biografie eine
prägende Rolle ein. Die 1875 geborene,
stets gepuderte Frau, die ihrer Tochter
nie einen Kuss gibt und sich auch nicht
von ihr küssen lässt, hält sich zeitlebens
Liebhaber und geniesst den Reichtum
ihres Mannes. Nur ewige Jugend kann
INSTITUT MEMOIRES DE L’EDITION CONTEMPORAINE
Sie schrieb
im Angesicht
des Krieges
sie sich damit nicht kaufen, also kleidet
sie die Tochter lange wie ein kleines
Mädchen – um selbst jünger zu erschei­
nen. Nicht von ungefähr hält Irène
Némirovsky 1934 fest: «Mutter – selt­
sam, dass ich dieses Wort bis jetzt nicht
ohne Hass schreiben kann.» Diesen
schreibt sie sich in zahlreichen Texten
von der Seele, am eindrücklichsten in
«Le Bal» (1930), «Le vin de solitude»
(1935) und «Jézabel» (1936).
Die 17­Jährige, von klein auf ein
Bücherwurm und immer mit Notiz­
buch unterwegs, schreibt sich 1920 für
russische Literatur an der Universität
in Paris ein. Sie ist eine fleissige Stu­
dentin, die aber auch die unbeschwer­
ten Seiten des Lebens kennt und die
Nächte durchtanzt. Das «Lotterleben»,
das sie an ihrer Mutter verabscheut,
führt sie nun teilweise selbst. Dabei
bleibt sie stets eine kritische, oftmals
ironische Beobachterin, was sich in
Briefen und Prosa niederschlägt. 1924
erscheint ihre erste Erzählung, im Jahr
darauf lernt sie den sieben Jahre älteren
Michel Epstein kennen, ebenfalls Immi­
grant und Sohn eines russischen Ban­
kiers. Man heiratet 1926. Obwohl er bei
dort, ihrer Bewegungsfreiheit im okku­
pierten Frankreich gänzlich beraubt und
von Judenstatuten gegängelt. Némirovs­
ky hält trotz «arisierter» Verlagswelt an
fahlen Hoffnungsschimmern fest. Sie
publiziert unter Pseudonym, die Familie
lebt jetzt allein von ihrem Einkommen.
Von der Mutter (der Vater ist seit länge­
rem tot), die im Süden in Sicherheit und
Luxus lebt, ist keine Hilfe zu erwarten.
Wenige Monate nach seiner Frau wird
Epstein 1942 abgeholt und gleich nach
seiner Ankunft im KZ vergast. Ihre
Töchter Denise und Elisabeth dagegen
entkommen ihren Häschern.
Bis zu ihrer Deportation arbeitet Irène
Némirovsky an ihrem grossen Roman,
«Suite française». Er spielt in einem
Dorf wie Issy­l’Evêque und – das ist das
Ergreifende an ihm – ist aus der Tages­
aktualität heraus geschrieben. Die ers­
ten beiden Teile kann die Autorin been­
den, für den dritten Teil reicht es nicht
mehr. Einmal vergleicht Némirovsky
ihre von Tag zu Tag bedrohlicher wer­
dende Situation mit Naturkräften: «Ich
arbeite auf glühender Lava. Ob zu Recht
oder zu Unrecht, ich glaube, dass das
die Kunst unserer Zeit von der anderer
Zeiten unterscheiden muss, dass wir
den Moment meisseln, mit heissen Din­
gen arbeiten.»
Potpourri aus Leben und Werk
einer Bank tätig ist, sind Mitte der
dreissiger Jahre die Einkünfte der
Schriftstellerin doppelt so hoch wie
die ihres Mannes. Das verdankt sie dem
fulminanten Start in der Literaturszene
mit ihrem Débutroman «David Golder».
1929 – während die Schriftstellerin im
Wochenbett liegt – wird das Manuskript
bei Bernard Grasset (der auch «Die Pro­
tokolle der Weisen von Zion» druckt!)
zur Publikation vorbereitet. Es ist ein
Roman über einen jüdischen Financier.
Doch Golder ist kein Geizhals, wie es
dem Klischee entspräche, sondern ein
Abenteurer, und Némirovskys Buch
keine ideologische, sondern eine sozial­
kritische Lektüre. So viel Ruhm es ihr
einträgt (es wird verfilmt, aufgeführt,
vielfach übersetzt und allein auf Franzö­
sisch 60 000 Mal verkauft), so viel Ärger
bringt es auch ein: Man wirft der Auto­
rin Antisemitismus vor – den sie weit
von sich weist. Später räumt sie in
einem Interview ein: «Wenn es Hitler
schon gegeben hätte, dann hätte ich
‹David Golder› ganz bestimmt stark
abgemildert und ihn nicht im selben
Sinne geschrieben.» Dennoch spricht
sie weiterhin von «Rassenmerkmalen»
der Juden: «Mut, Hartnäckigkeit, Stolz
[...] – in einem Wort: ‹Schneid›.» Eigen­
schaften, die sie selbst besitzt.
Zum Glück, denn schon bald wird
Schreiben zu ihrem Broterwerb, wovon
die schnelle Folge der Produktion zeugt.
Allein zwischen Mai und November
1934 bringt sie fünf Novellen heraus;
zwischen 1935 und 1942 schreibt sie neun
Romane (insgesamt sind es 20), eine
Tschechow­Biografie und 38 Novellen.
Die Kritik verfährt manchmal wohlwol­
lend, oft lobend, oft genug auch harsch
mit ihren Texten, jenen «Röntgenauf­
nahmen» der Menschen dieser Zeit, wie
Philipponnat/Lienhardt sie charakteri­
sieren. Sich selbst auferlegt die Autorin
das Credo: «Schildern, beschreiben.»
Spätestens ab 1933 schreitet die anti­
semitische Propaganda in Frankreich
voran, die Lebensumstände für die
Némirovskys/Epsteins werden härter.
Und obwohl die ganze Familie 1939 zum
Katholizismus übertritt, gelingt es Irène
und Michel nie, die französische Staats­
bürgerschaft zu erhalten. Einen Tag vor
Kriegsausbruch bringen sie ihre Mäd­
chen im Weiler Issy­l’Evêque im Bur­
gund unter; zuletzt wohnen alle vier
Schwieriges MutterTochter-Verhältnis:
Irène Némirovsky
mit Anna, genannt
«Fanny», 1912 oder
1913, im Badeurlaub.
Olivier Philipponnat und Patrick Lien­
hardt gehen detailliert auf Entstehung
und Rezeption der Romane und der
zentralen Novellen ein. Sie legen dar,
wie sehr Irène Némirovskys Texte
untereinander und mit dem Leben ihrer
Autorin verwoben sind. Die Journalis­
ten sind zwei engagiert schreibende
Anwälte der Schriftstellerin, die sie
offensichtlich verehren und deren Argu­
mentation sie übernehmen, wenn es um
genetische Fragen wie jene des «heissen
Blutes» geht, das Némirovsky (zu ihrem
Leidwesen) angeblich von ihrer Mutter
übernommen habe. Respektvoll, manch­
mal geradezu ehrfürchtig würdigen sie
Némirovsky als Autorin mit Selbstiro­
nie und einem Händchen für spitze
Satire. Man erhält einen Einblick in die
Lebensumstände der Juden in der Ukra­
ine und in Russland; wenn es um franzö­
sische Geschichte des Zweiten Welt­
kriegs und ihre Protagonisten geht, wird
einiges Wissen vorausgesetzt.
Das Biografen­Duo bemüht sich –
vermutlich für eine breitere Leserschaft
– um eine leichte Sprache und einen
nicht mit historischen Fakten überlade­
nen Text. Dennoch ist das Buch nur
bedingt empfehlenswert. Oft mischen
die Autoren Zitate aus unterschiedli­
chen Quellen wie Interviews, Briefen,
Novellen und Romanen, deren Herkunft
sie zum Teil nicht kennzeichnen. So ent­
steht ein bisweilen langfädiges Potpour­
ri aus Leben und Werk, dem man nicht
immer ganz traut. Da bietet der Anhang
in der deutschen Ausgabe von «Suite
française» mit Notizen der Schriftstelle­
rin über Frankreich und ihr Romanpro­
jekt, Briefen sowie einem Nachwort die
konzisere Einführung in Leben und
Schreiben von Irène Némirovsky. l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Kriminalroman Ein israelischer Geheimdienstmann hilft aus Liebe zu einer Frau einem
arabischen Terroristen
Gewissensbisse plagen den Agenten
Yishai Sarid: Limassol.
Ein israelischer Ermittler zwischen allen
Fronten. Aus dem Hebräischen von
Helene Seidler. Kein & Aber, Zürich
2010. 208 Seiten, Fr. 27.90.
Manchmal müssen Verleger einfach
Glück haben. Und manchmal kann ein
Mord dem Absatz eines Buches förder­
lich sein. Wäre Yishai Sarids Krimi vor
einem halben Jahr erschienen, wäre er
bloss freundlich besprochen worden.
Der israelische Autor ist Anwalt, er hat
einmal für den Geheimdienst gearbeitet.
Wie er die Zweifel seines Helden, der
für den Shin Bet arbeitet, den israeli­
schen Inlandgeheimdienst, fein nach­
zeichnet, ohne dabei zu psychologisie­
ren, das ist gekonnt.
Nun ist das Buch auf Deutsch just zu
dem Zeitpunkt erschienen, als die Welt
erfuhr, dass in Dubai am 19. Januar 2010
ein hochrangiger Vertreter der palästi­
nensischen Organisation Hamas getötet
wurde. Und dass die Täter vermutlich
Israeli waren. Israelische Agenten des
Auslandgeheimdienstes Mossad sollen
Herrn al­Mabhouh in einem Fünf­Stern­
Hotel in Dubai so lange ein Kissen ins
Gesicht gedrückt haben, bis er nichts
mehr sagte.
Eine solche Geschichte verlangt nach
einem Drehbuch. Oder zumindest nach
Erklärungen. Yishai Sarid erklärt uns
ein bisschen, wie diese Leute arbeiten,
wobei sein Held für den wesentlich
erfolgreicher operierenden Inlandge­
heimdienst spioniert und nicht für
den mystifizierten Auslandgeheimdienst
ARIEL SCHALIT / AP
Von Christoph Plate
Mossad, dem der Mord in Dubai zur Last
gelegt wird.
Sarid lässt seinen eher feinfühligen
Shin­Bet­Mann Zweifel entwickeln an
dem, was er da tut: Wenn er dem Bruder
eines Selbstmordattentäters beim Ver­
hör die Zähne ausschlägt und ihn später
tötet, wenn er seiner Frau nicht mehr
begründen kann, warum gerade er
meint, sein Land vor Terroranschlägen
bewahren zu müssen. Immer wenn die
Frau zu sehr nörgelt oder der orthodoxe,
in sich ruhende Chef quengelt, sehnt er
sich nach der schönen israelischen
Schriftstellerin, auf die er angesetzt ist.
Sie hatte ihre grosse Zeit als gefeierte
Autorin und bewunderte Schönheit vor
der Intifada. Damals konnten palästi­
nensische Künstler und Schriftsteller
noch aus dem Gazastreifen oder dem
Westjordanland nach Tel Aviv kommen,
In seinem Krimi
schildert Yishai Sarid
das Innenleben eines
israelischen Agenten.
wenn ein jüdischer Kollege eine Party
am Meer gab. Aus dieser Zeit kennt
Daphna den mittlerweile schwerkran­
ken Araber Hani, einen Gebildeten, der
an der Plumpheit seiner palästinensi­
schen Umgebung im Gazastreifen fast
ebenso zu leiden scheint wie an der isra­
elischen Repression. So, wie sich der
Shin­Bet­Mann für die schöne Autorin
erwärmt, so begeistert er sich für den
Palästinenser, der nur für die Kunst
leben will und der Politik müde ist.
Interessant für den Geheimdienst ist er
aber, weil sein Sohn vom Exil in Damas­
kus aus Terroranschläge gegen Israel
plant. Er soll nach Limassol gelockt und
exekutiert werden.
Das ist gut erzählt, garniert mit Aus­
flügen ins Tel Aviver Drogenmilieu.
Einige Bilder sind vorzüglich übersetzt:
«Der ewige Salzatem des Meeres hatte
Risse in den Wänden hinterlassen.»
Manchmal scheint der Held gar wie ein
nahöstlicher Wallander. Dass sich ein
israelischer Autor um Araber bemüht,
kommt heute selten genug vor. Sarid
schafft in Hani einen gebildeten Edel­
mann. Bis zur Intifada kannten viele
linke Israeli und israelische Künstler
solch einen «guten Araber», einen, der
keinen Groll gegen Juden und Israeli
hegte, wohl aber gegen das Land. Solche
gibt es bis heute, nur kennen immer
weniger Israeli solche Menschen.
Am Schluss konstruiert der Autor
einen Verrat, der unnötig und gewollt
wirkt. Diese Phantasterei relativiert den
Realismus der vorangegangen 200 Sei­
ten. Dennoch, dies ist ein gutes Buch,
vielschichtiger, als es die hemdsärmeli­
ge Art ahnen lässt, mit der Sarid in Inter­
views auftritt. l
Erzählungen Der ungarische Autor László Krasznahorkai schreibt spielerisch über Zeit und Raum
Vom unendlich strahlenden Blick
László Krasznahorkai: Seiobo auf Erden.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010.
461 Seiten, Fr. 39.90.
Von Helmut Böttiger
Ehe wir ahnen, wie uns geschieht, sind
wir schon entrückt und befinden uns
in einer rhythmischen, verzaubernden
Sprachmusik, die wir schon lange zu
kennen glaubten, aber noch nie gehört
haben. László Krasznahorkai umkreist
solche Momente in seinen Erzählun­
gen immer intensiver. Da wird ein ein­
zelner Augenblick festgehalten und
unversehens zur Kunst. Wenn ein
Meister des japanischen No­Theaters
in seiner Garderobe von seinem Thea­
teralltag, von seinem engen Termin­
plan und von seinem familiären Hin­
tergrund erzählt, ist die Göttin Seiobo,
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
die Unsterbliche, die auch Unsterblich­
keit schenkt, schon wie von selbst
gegenwärtig.
Krasznahorkai hat seine Erzählungen
auf Ungarisch geschrieben, meistens
spielen sie in Japan, und das Deutsch, in
das Heike Flemming die vielfach in sich
gespiegelten Sätze gebracht hat, nimmt
diese verschlungene Sprachmelodie
traumwandlerisch sicher auf. Es gibt
Momente im Pariser Louvre, in denen
die Zeit auf einmal stehen bleibt, es gibt
Momente in der italienischen Renais­
sance, in denen die Kunst als grosse
Vollenderin erscheint, aber am häufigs­
ten geschieht dies im Fernen Osten: Der
weisse Reiher, der in der ersten Erzäh­
lung regungslos in einem Fluss der
alten Kaiserstadt Kyoto steht und auf
Beute lauert, wirkt wie ein Sinnbild.
Vom Buddhismus, von der medita­
tiven Versenkung, vom unbedingten
Aufgehen in der unmittelbaren Gegen­
wart her hat László Krasznahorkai spür­
bar seine Ästhetik entwickelt. Einmal
beschreibt er bis ins kleinste Detail, wie
eine alte Buddhastatue in einem japa­
nischen Kloster abgeholt, sorgsam res­
tauriert und nach einem Jahr wieder
im Kloster aufgestellt wird – in der
Beschwörung der kleinsten handwerkli­
chen Nuancen, dem Wiederherstellen
des «unendlich strahlenden Blicks» aus
halb geschlossenen Augenlidern wird in
selbstverständlicher Beiläufigkeit auf
das Unendliche verwiesen. Es ist eine
merkwürdige Erfahrung, nachzuvollzie­
hen, welche Entwicklung der Autor
Krasznahorkai gemacht hat: von der
«Melancholie des Widerstands», mit
der er in Ungarn berühmt geworden ist,
zu einer widerständigen Ästhetik, die
mit leichter Hand mit Zeit und Raum
spielt. l
Roman Isolde Schaad macht ein Zürcher Liebespaar zu
Wiedergängern der Literaturgeschichte
Das Behagen der
Geschlechter
Limmat, Zürich 2010. 362 Seiten,
Fr. 39.50.
Von Angelika Overath
Der Titel setzt hoch an. Mit «Robinson
und Julia» werden zwei Klassiker der
Weltliteratur zitiert: Shakespeares pro­
minente Liebestragödie und der Seefah­
rerroman von Daniel Defoe, der das
Genre der «Robinsonade» begründete.
Zwischen beiden Texten liegen weit
über hundert Jahre und unbemessene
Fluren der Kulturgeschichte.
Im freien Spiel mit den Koordinaten
der Figuren siedelt Isolde Schaad nun
ihren Text munter und respektlos zwi­
schen Liebestod und Überleben an. Die
Freiheit der Gestaltung scheint dem
Imperativ des World Wide Web ver­
pflichtet: ein Mausklick – und Eva, ehren­
werte Urmutter der Genesis, taucht samt
Adam in Zürich auf, wo ihre Verfüh­
rungskünste gleich vom modernen Alltag
auf die Probe gestellt werden. Adam trägt
Unterwäsche. «Man wurde ja im Freiluft­
haushalt nicht auf eine Intimbekleidung
vorbereitet, und so ist dann der neben dir
auf einmal eine variable irdische Neuheit.
Ob im Namen von Jockey, Calida oder
Hugo Boss: Ein Adam in der Unterhose
wirkt beruhigend auf mich.» Immerhin
wechselt er diese, was sie schätzt, täglich.
Sie selbst wird sich bei Beate Uhse einde­
cken, was ihr Adam dann allerdings eher
rührend findet. In ihrem Alter!
Liebessog im Dreieck
Einen erotischen Geschmacksverstärker
und Jungbrunnen findet das geprüfte
Paar in der quirligen Claps, einer Vereh­
rerin von Che Chevara, die immer wie­
der nach Chiapas, Mexiko, verschwin­
det, oder auch in Sheila, der Studentin
aus Beirut, die, von der blondsträhnigen
Eva beneidet, dickes, dunkles Haar wie
Draht und einen Hauch Palästina­
konflikt in die Wohnküche mit geteiltem
Kühlschrank bringt. Eva und Adam, die
sich schon seit Urzeiten haben, werden
zur Folie für Julia (Studentin der Bio­
chemie) und Derek Surrey Winston
Robinson (Umweltprofessor in Berkeley
und Uno­Beauftragter für Regenwald­
schutz), die sich noch nicht haben. Aber
Julia ist durch seinen «stahlblauen
Blick» liebesverletzt: «Weg mit dem
Kriegswerkzeug. Speerspitzen sind
Fremdkörper im Fleisch, man muss sie
entfernen, bevor sie sich entzünden.»
Doch es ist schon zu spät. Dem Zwin­
ker­Vorspiel in Rio folgt der Augen­
koitus in Zürich: «Wie eiskaltes Glühen
drang es in sie, als sich ihre Augen
trafen.» Einmal heisst es von Eva: «Ihr
Ausruf ist scherzhaft, doch er bleibt
ernsthaft», und manchmal weiss der
Leser beim besten Willen nicht, ob diese
intelligente Autorin ihren Schabernack
mit ihm treibt, ob sie ironisch Liebelei­
wahnsinn spielt oder ob sie tatsächlich
an «ein ganzheitliches Leben» glaubt,
das die Frau mit einer Frau teilt, «mit
der sie den Mann teilt»? Und wenn ja,
warum muss das alles dann so flott
daherkommen? Mehr als auf die Paar­
logik zielt der Liebessog auf schöne
Dreiecke: Adam zwischen Eva und
Claps («Adam muss endlich Varianten
des Weiblichen testen, und zu diesem
Zweck bieten wir ihm zwei Mösen mit
Umschwung an»). Eva zwischen Claps
und Sheila («eine dieser frühreifen Ori­
entlerinnen, die sich unbedingt westlich
gebärden wollen»).
Heldinnen mit vielen Leben
Isolde Schaad, begabt mit dem hyper­
realen und schonungslosen Blick einer
Reporterin, gelingt bestes Milieukolorit
zwischen der Zürcher Sprüngli­Welt
und den Silhouetten von Rio, und dann
stellt sie auch noch Lucas Cranach den
Älteren an, um die ewige und nun alte
Eva Müller mit den längsten Beinen
aller holden Weiblichkeit zu malen
(«Zuerst ein gedehntes Ocker, viel
Weiss, eine Spur gebranntes Siena, eini­
ge Tupfer Zinnober. Damit das Fleisch
zu leuchten beginnt»): für eine ewige
Jugend in den Uffizien.
Schaads Buch ist verwirrend respekt­
los und anbetend zugleich, witzig,
schnell, scharf. Es trägt die Handschrift
einer belesenen, vielgereisten, klugen,
erosbereiten Feministin. Immer wieder
gelingt ihr im Reigen der frech­bösen
Kolumnenaufschwünge und Kolporta­
gen der kluge Aphorismus («Für eine
richtige Krise braucht es doch erst ein­
mal die Ehe») und der frische Blick
(«Ihre von Ringen gedrosselte Hand
war geballt») oder die überraschende
Synästhesie, wenn das Wort «liiert»
einen Geschmack hat von «verdorbener
Mayonnaise» oder eine Frau sich im
schwülen Bett fühlt wie «überlaufende
Milch».
Das letzte Wort bedenkt Cranachs
blonde Verführerin. Was bleibt, ist
«ihre Hingabe an das Leben». So zeigt
sich die mit allen Wassern der 68er
Generation gewaschene erfahrene Au­
torin zuletzt doch hoffnungsfroh. Ver­
mutlich könnte man diese Haltung
romantisch nennen. Wer sich auf eine
kohärente Handlung eingestellt hat,
wird an diesem Buch weniger Freude
JUSTIN HESSION / KEYSTONE
Isolde Schaad: Robinson und Julia.
Liebe über Zeiten
und Kontinente.
Isolde Schaad gelingt
bestes Zürcher
Milieukolorit;
das Central in
Abendstimmung.
haben als neugierig schweifende Leser,
die eine durch den Text irrlichternde
Simone de Beauvoir ebenso goutieren
wie einen mutterlos bubenhaften Jean
Paul Sartre, der mit der jungen Eva­
Hilfsschreibkraft ins Bett geht. Einmal
denkt Julia über Rio nach, das «in
seiner Programmschönheit» aufging,
«so dass man kein eigenes Gefühl dafür
entwickeln konnte, nur nicken: phan­
tastisch, grossartig, nie eine grandiose­
re Stadt gesehen. Es traf zu und hatte
doch kein inneres Echo». Spricht die
Autorin hellsichtig in eigener Sache?
Isolde Schaads Figuren haben, wie
schnelle Helden in einem Computer­
spiel, viele Leben. Vielleicht hindert sie
das an ihrem einzigen Dasein, das in
uns nachklingen könnte.
Das Buch funkelt, glitzert, sprüht
Mythen und Metaphern und bricht doch
dauernd bunt in sich zusammen wie ein
Scherbenkinderspiel, das man vor den
Augen dreht und dreht und dreht ... l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Lyrik Die Gedichte der deutsch­jüdischen Autorin und
Nobelpreisträgerin Nelly Sachs liegen erstmals in einer
kommentierten Ausgabe vor
Nelly Sachs: Gedichte 1940–1970.
Kommentierte Ausgabe. Hrsg. Aris
Fioretos, Matthias Weichelt und Ariane
Huml. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010.
2 Bände, 344 /426 Seiten, je Fr. 68.90.
Von Manfred Papst
Erst spät im Leben fand sie zu ihrer
eigenen Sprache. Zwar hatte Nelly
Sachs schon in jungen Jahren geschrie­
ben, Gedichte von erhabenem Klang,
auch Prosastücke, die 1921 in dem
kaum beachteten Band «Legenden
und Erzählungen» erschienen. Zur
Dichterin aber wurde sie erst durch
die Erfahrung von Krieg und Not, von
Flucht und Exil. Im Mai 1940, als der
Befehl für den Abtransport ins Lager
bereits vorlag, entkam sie mit ihrer
Mutter, einem Koffer und ein paar
Reichsmark in einem der letzten Flug­
zeuge nach Stockholm.
Ein solches Schicksal war ihr nicht
an der Wiege gesungen worden. 1891
als einziges Kind einer assimilierten
deutsch­jüdischen Fabrikantenfamilie
geboren, wuchs Nelly Sachs behütet
und in einigem Wohlstand auf. Sie war
ein kränkliches Kind und wurde des­
halb drei Jahre lang von Privatlehrern
unterrichtet. Als 17­jähriges Mädchen
verliebte sie sich heftig in einen
wesentlich älteren Mann. Die Bezie­
hung endete unglücklich, Nelly Sachs
verwand den Verlust nie, geriet in eine
schwere seelische Krise und blieb ihr
Leben lang unverheiratet. Aus ihren
spärlichen Selbstzeugnissen kann man
schliessen, dass sie in den dreissiger
Jahren die Beziehung zu dem namenlo­
sen Menschen wieder aufnahm und
dass dieser als Widerstandskämpfer
von den Nationalsozialisten – mögli­
cherweise vor ihren Augen – gefoltert
und umgebracht wurde. Als «Bräuti­
gam» geistert er durch ihre Texte.
Die Shoah als Thema
In den zwanziger und dreissiger Jahren
führte Nelly Sachs ein zurückgezoge­
nes Leben. Sie pflegte ihren Vater, der
1930 nach langjähriger Krankheit an
Krebs starb, danach wohnte sie so
unauffällig wie möglich mit ihrer Mut­
ter an der Lessingstrasse in Berlin.
Gelegentlich erschienen Gedichte von
ihr in Zeitungen. Der Alltag wurde
immer schwieriger. Die Gestapo lud sie
zu Verhören vor, die Wohnung wurde
geplündert. Täglich wurde klarer, dass
es keine Alternative zum Exil gab.
Schweden war für Nelly Sachs ein
Traumland, weil sie als 15­Jährige mit
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
Begeisterung Selma Lagerlöfs Roman
«Gösta Berling» gelesen hatte und mit
der Schriftstellerin in einen fast bis zu
deren Tod im Frühjahr 1940 andauern­
den Briefwechsel getreten war.
Nach der Flucht im Mai 1940 lebte
Nelly Sachs mit ihrer Mutter im Stock­
holmer Stadtteil Södermalm und arbei­
tete zeitweise als Wäscherin, später
auch als Übersetzerin. Die Einzimmer­
wohnung mit Küche, die sie 1948 bezog,
sollte bis zu ihrem Tod ihr Zuhause
bleiben. In ihrer Lyrik entwickelte sie
nun die Themen und den Stil, die sie
berühmt machen sollten: In Versen von
bezwingender Emotionalität, die die
Tradition der biblischen Psalmen auf­
nehmen, beschwor sie die Leiden des
Volkes Israel. Noch während der
Kriegsjahre entstanden die Gedichte,
die 1947 in Ost­Berlin unter dem Titel
«In den Wohnungen des Todes» publi­
ziert wurden. 1949 folgte der Band
«Sternverdunkelung». Im Jahr darauf
starb die Mutter – ein schwerer Verlust
für die schon fast 60­jährige Schrift­
stellerin, die bis dahin noch nie allein
gelebt hatte.
Beharrlich schrieb Nelly Sachs in
der Einsamkeit weiter an ihrem Werk.
Die Shoah blieb ihr Thema. Eingehend
beschäftigte sie sich nun mit der jüdi­
schen Mystik, wie sie durch Martin
Buber und Gershom Sholem vermittelt
wurde, und studierte die Kabbala. In
Paul Celan, mit dem sie sich brieflich
austauschte und den sie 1960 in Paris
besuchte, fand sie einen Wahlverwand­
ten. 1957 und 1959 erschienen ihre bei­
den Gedichtbände «Und niemand
weiss weiter» und «Flucht und Ver­
wandlung», im Radio wurde 1959 ihr
Mysterienspiel «Eli» ausgestrahlt, im
Jahr darauf die szenische Dichtung
«Simson fällt durch die Jahrtausende».
Jetzt wurde Nelly Sachs auch in der
BRD wahrgenommen. Doch glücklich
machte sie das nicht. Nach Deutsch­
land wollte sie nicht mehr. Nur zur
Entgegennahme von Preisen reiste sie
in die einstige Heimat. Es bekam ihr
nicht gut. Traumatisiert kehrte sie
zurück. Zunehmend machten sich
Anzeichen einer schweren psychischen
Krankheit bemerkbar, die sie für drei
Jahre in eine Klinik bei Stockholm
brachte.
Am 10. Dezember 1966 – exakt an
ihrem 75. Geburtstag – wurde Nelly
Sachs zusammen mit dem hebräischen
Erzähler Samuel Joseph Agnon mit
dem Nobelpreis für Literatur ausge­
zeichnet. Sie verschenkte das ganze
Preisgeld. Zu ihren psychischen Leiden
kam eine Krebserkrankung hinzu, an
AGIP / RUE DES ARCHIVES
Verse gegen Tod
und Vergessen
1966 erhielt die
Lyrikerin Nelly Sachs
(1891–1970) den
Literaturnobelpreis;
sie verschenkte das
Preisgeld.
der sie schliesslich am 12. Mai 1970
starb.
Allen Fährnissen zum Trotz schuf
sie in den sechziger Jahren ein bedeu­
tendes lyrisches Spätwerk, das die Zy­
klen «Fahrt ins Staublose», «Noch feiert
Tod das Leben», «Glühende Rätsel»
und «Teile dich Nacht» umfasst. Im
deutschen Sprachraum gewann sie pro­
minente Fürsprecher wie Hans Magnus
Enzensberger, der auch ihr Nachlass­
verwalter wurde, und den Schweizer
Werner Weber.
Schmerz und Ehrfurcht
Allmählich wurde die eruptive Kraft
ihres von Trauer und Leidenschaft
gezeichneten Werks in seiner ganzen
Bedeutung erkannt. Es bietet beileibe
keine leichte Lektüre. Es ist Trauer­
arbeit, kein Divertimento. Seine «durch­
schmerzte» Welt ist eine Zumutung.
Doch es bleibt nicht beim Erschrecken
stehen. Es sucht nach Schönheit,
Anmut und Würde in einer verwüste­
ten Welt. Es ist von Sehnsucht, Hinga­
be, Ehrfurcht durchwirkt.
Dass Nelly Sachs eine Werkausgabe
verdient, steht ausser Frage. Dass die
Herausgeber sich entschieden haben,
das von der Dichterin verworfene
Frühwerk nicht aufzunehmen, mag
man bedauern. Doch geht es hier ja
nicht um eine Gesamt­, sondern um
eine kommentierte Werkausgabe, die
sämtliche publizierten Texte seit 1940
sowie eine repräsentative Auswahl der
unpublizierten Arbeiten bringt. Nach
der Lyrik sollen die szenischen Dich­
tungen, die verstreute Prosa und die
Übertragungen erscheinen. Die beiden
bisher vorliegenden Bände überzeu­
gen durch Sorgsamkeit, Exaktheit und
schöne Gestaltung. l
Prosatexte Die Österreicherin Kathrin Röggla protokolliert Auswüchse der überhitzten
Mediengesellschaft in kunstvoll verdichteten Variationen
Wenn Panik um sich greift
schaftern und Virologen vom Robert­
Koch­Institut zu reden. Der Mutter
wirft die Elternsprecherin vor, sie leide
nicht wie andere unter den «üblichen
elternpaniken», sondern sie habe «voll­
zeitpaniken» entwickelt; sie habe ihr
Kind als «tickende zeitbombe» begrif­
fen, und jetzt sei diese endlich explo­
diert. Ob der Schilderung gerät die
Sprechende selbst derart in Panik, dass
die Unterredung desaströs endet.
Kathrin Röggla: Die Alarmbereiten.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010.
189 Seiten, Fr. 33.50.
Von Sandra Leis
Sie ist ein Multitalent und eine eigen­
willige Spracharbeiterin dazu. Kathrin
Röggla, 1971 in Salzburg geboren
und in Berlin wohnhaft, ist Theater­
und Hörspielautorin, Essayistin und
Schriftstellerin, die spätestens seit
ihrem kapitalismus­ und karrierekriti­
schen Roman «wir schlafen nicht»
(2004) zu den politisch brisanten Stim­
men der deutschsprachigen Literatur
zählt. Wie andere vor ihr auch schreibt
Röggla konsequent alles klein; sie steht
in der Tradition der Wiener Gruppe
von Elfriede Jelinek sowie von Filmau­
tor Alexander Kluge, zu dessen Arbeits­
grundlage die journalistische Recher­
che gehört.
Zwei thematische Schwerpunkte
zeichnen Kathrin Rögglas Werk aus:
Zum einen befasst sie sich mit Ökono­
mie und Arbeit, zum andern mit Kata­
strophen und Ausnahmezuständen, oft
sind beide Stränge ineinander ver­
zahnt. Der Ausnahmezustand ist für sie
nicht erst seit 9/11 relevant, er ist es
seit ihrer Kindheit, denn ihr Vater hat
in Krisengebieten gearbeitet.
Literarische Zeitzeugin
Ebenfalls geglückt sind zwei andere
Erzählungen. In «das recherchege­
spenst» (2008 als Hörspiel ausge­
strahlt) versucht ein Bruder seine
Schwester zur gemeinsamen Arbeit
anzutreiben, doch sie zweifelt am Sinn
ihrer Tätigkeit als Journalistin und mag
den Mitarbeitern von Hilfsorganisatio­
nen in Krisengebieten nicht mehr hin­
terherhetzen. Ihr Fazit: Aufbauarbeit
sei eine Form von Neokolonialismus.
In «wilde jagd» schliesslich persifliert
und entlarvt Kathrin Röggla den medi­
alen Wirbel genauso wie die lüsterne
Aufregung der Bevölkerung im Fall des
jahrelang in Strassdorf bei Wien gefan­
gen gehaltenen Mädchens Natascha
Kampusch. Was 2009 im Schauspiel­
haus Düsseldorf als Theaterstück unter
dem Titel «Die Beteiligten» zur Urauf­
führung gelangt ist, findet sich jetzt in
abgewandelter Form als Prosatext in
diesem Band.
Ein vielstimmiger Chor, dessen
Gesang aufs heftigste anschwillt, bis er
abrupt abbricht und sich erbarmungs­
los einem neuen Objekt zuwendet. Mit
solchen Texten beweist die Schriftstel­
lerin Kathrin Röggla eine literarische
Zeitzeugenschaft, wie sie heute selten
geworden ist. l
Pop-Art Textilfreie Blondinen massenhaft
Ihr neues Buch «die alarmbereiten» ist
eine furiose Anklageschrift gegen die
zunehmende Medialisierung und Kom­
merzialisierung der Katastrophe sowie
gegen die sensationsgierige Öffentlich­
keit. In sieben Prosastücken seziert sie
eine von Klima­, Natur­ und Finanzkri­
sen geschundene Welt, und gleich im
ersten ihrer Texte erfindet Röggla eine
«agentur desastertourism», der die
Kunden abhandenkommen. Wer dem
Elend – und sei es nur in einer Ver­
suchsanordnung – ins Antlitz schaut,
hält dem Grauen auf Dauer nicht stand.
Jede Geschichte hat einen Ich­Erzäh­
ler oder eine Ich­Erzählerin, doch
diese sind degradiert zu reinen Proto­
kollanten, die sich ausschliesslich der
indirekten Rede bedienen. Das klingt
dann im Seminarraum aus «der über­
setzer» so: «man dürfe diesen ort aber
nicht mit seiner stammkneipe ver­
wechseln (…), das werde mir doch klar
sein, denn jetzt gehe alles den bach
runter (…) – eben wegen dieser ver­
trauenskrise, die wir hier auswendig
lernen müssten.» All dieser Wortmüll
findet in Rögglas Prosa sein direktes
Abbild – manchmal platt, oft kunstvoll
verdichtet und sprachlich durchkom­
poniert.
Glanzstück ist der Text «die erwach­
senen»: Eine Mutter wird in die Schule
ihrer Tochter bestellt, weil diese offen­
bar die anderen Kinder manipuliert
und behauptet, mit Ernährungswissen­
PRO LITTERIS
Komponierter Sprachmüll
Eine Blondine räkelt sich auf einem Logo von CocaCola. Männer werden das Bild zwar anders anschauen
als Frauen, wirklich missverständlich ist es aber
nicht. Dennoch glaubt Mel Ramos warnen zu müssen:
«Ich achte darauf, dass meine Bilder ‹geschmackvoll›
sind, dass sie immer einen Anflug von Humor haben.»
Der 1935 geborene Kalifornier ist jener Pop-Klassiker,
der sich am weitesten auf die medialen Reize der
Werbesprache für den Massenkonsum eingelassen
und deshalb auch Herablassung erfahren hat. Er malt
gerne nackte Frauen und ergänzt sie mit Labels, die
wir aus dem Supermarkt kennen. Die Frauen und,
wenn man will, wir Zeitgenossen prostituieren uns
heute als Dinge, die sich von käuflichen Produkten
kaum unterscheiden. So könnte das Statement einer
Kunst lauten, die stets besorgt ist, amüsant und
locker zu bleiben. Der Band spannt von den frühen
figurativen Gemälden bis zu den jüngsten Skulpturen
das Panorama von Ramos’ Werk auf. Essays und
Studien legen Bezüge zur Kunstgeschichte offen. Die
Provokation ist verflogen, es bleibt eine Hommage
ans Objekt der Begierde Frau. Gerhard Mack
Mel Ramos: 50 Jahre Pop-Art. Hrsg. Otto Letze. Hatje
Cantz, Ostfildern 2010. 280 S., 169 Abb., Fr 33.50.
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Débutroman Das Leben aus der Perspektive eines schwierigen Teenagers
Fragile Jugend in fremder Welt
Vincent Overeem: Misfit.
Aus dem Niederländischen von
Christiane Kuby. Berlin­Verlag,
Berlin 2010. 240 Seiten, Fr. 33.50.
«Ich stand da vor der Matratze und
dachte an alles, was passiert war, und
hätte schreien können», gesteht der
18­jährige Protagonist von Vincent
Overeems Débutroman in der stillen
Intimität der Ich­Erzählung. Aber er
schreit nicht. Er konzentriert sich statt­
dessen ganz auf Kaat, die schöne zwan­
zigjährige Studentin, die seit ein paar
Wochen halbnackt in seinem Bett liegt
und ohne die er sich sein Leben schon
gar nicht mehr vorstellen kann. Ihr
erzählt er viel, jedoch vor allem Erfun­
denes – etwa, dass sein kleiner Bruder
in einem Internat ist und nicht gerne
telefoniert. Kaat und die kurze Chronik
dieser Liebesbeziehung – Tage am
Meer und nächtliche Ausflüge in den
Zoo – schiebt er zwischen sich und die
Stadt, in die er vor den «Wiesen, Was­
sergräben und Kühen» seiner Kindheit
geflohen ist.
Doch seit kurzem hängt Kaat nur
noch wortkarg und schlecht gelaunt in
seinem Dachzimmer auf der schmud­
deligen Matratze herum. Zu sich nach
Hause in ihr Schickimicki­Viertel hat
sie ihn noch nie mitgenommen. Sie rea­
giert gereizt, wenn er ihr Fotos von
seinem schmächtigen Bruder zeigt, mit
dem er angeln ging und auf dem Dach­
boden Sich­tot­Stellen spielte. Sex will
sie auch keinen mehr haben, nur Tier­
filme schauen, in denen es immer um
dasselbe geht: «Ob die Beute entkommt
oder nicht.» Tiere erinnern den Erzäh­
ler an seinen Vater, den Veterinär, mit
«seinen kranken Kühen, toten Kälbern
und lahmen Gäulen»; an den Vater, der
das Jucken der Brennnesseln nicht
spürt und in dessen Gegenwart der
Bruder zusammenschrumpft.
Zunehmend paranoid
Hat das Gefühl latenter Unheimlich­
keit, das die Stimmung des Romans von
der ersten Seite an prägt, mit diesem
Vater zu tun? Oder vielmehr mit der
drückenden Hitze, welche die Stadt seit
Wochen in einen Ausnahmezustand
versetzt und in der «alles irgendwie
dunkler aussah»? Dem Erzähler kommt
seine Umgebung jedenfalls plötzlich
feindselig und fremd vor. Die Dach­
decker «mit ihren schweissglänzenden
Oberkörpern» starren lüstern ins Zim­
mer und lachen «wie die Hyänen in
Kaats Tierfilmen.» Die Matratze ist
unten sicher schon längst angeschim­
melt. Und der Knirps mit dem wackeln­
den Kopf im Treppenhaus erinnert den
Erzähler an seinen «sonderbaren, ver­
queren kleinen Bruder», der manchmal
so alt wirkt und Dinge sagt, «über die
man erschrickt.»
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
ROGER CREMERS / HOLLANDSE HOOGTE
Von Simone von Büren
Sommer in Holland:
In seinem Erstling
schildert Vincent
Overeem das
Zerbrechen einer
jungen Liebe.
Als Kaat sich aus unerfindlichen
Gründen aus dem Staub macht, nimmt
das Unheimliche überhand. Verdrängte
Gefühle und alte Traumata legen sich
über den Alltag und verzerren ihn. Ge­
wöhnliche Menschen und Handlungen
scheinen sich gegen den zunehmend pa­
ranoiden Erzähler zu richten, sein eige­
nes Spiegelbild erscheint ihm als «To­
tenschädel unter der Haut», «wie ein
aufgescheuchtes Wild» irrt er ziellos
durch die Stadt.
Feinfühlig schildert der 36­jährige
Vincent Overeem, der sich in den
Niederlanden bereits mit seinem
noch nicht auf Deutsch übersetzten
Erzählband «Novembermeisjes» einen
Namen gemacht hat, die Welt in «Mis­
fit» aus der Perspektive eines Teen­
agers, der wie ein Espenblatt auf den
kleinsten Windhauch reagiert. Ein Teen­
ager, der reifer ist als seine Altersge­
nossen und doch verloren. Sozusagen
ein niederländischer Holden Caulfield,
mit ebenso direkter, aber gepflegterer
Sprache, mit weniger Wut, aber umso
grösserer Zerbrechlichkeit.
Die Vergangenheit des 18­Jährigen
und ihre Auswirkungen erschliessen
sich uns stückweise und in Andeu­
tungen. Overeems Erzähler erinnert
sich «an alles haargenau», wischt aber
darüber hinweg. Diese Skizzenhaftig­
keit ist eine der Stärken des Texts. Erst
gegen Schluss verstehen wir, wieso der
Erzähler wie ein moderner Hamlet
«sinnierte, dass man lebt und stirbt und
welcher Idiot sich das wohl ausgedacht
hat. Solche Sachen. Wer mich vermis­
sen würde, wenn ich im Sarg lag».
Wieso er sich «andauernd schuldig»
fühlt und sich so beunruhigen lässt von
den Kühen, Fischen, Schwänen, Hun­
den, Schmeissfliegen und vielen andern
Tieren, die als hartnäckiges Motiv den
Roman durchziehen. Und wir erahnen,
dass er, dem immer «alles so mühelos»
von der Hand ging, ins Abseits gerät,
weil er auf diese Weise seinem Bruder
am nächsten ist, der nirgends hinpasst,
der ein Misfit ist, ein Aussenseiter, mit
seiner durchsichtigen Haut und dem
widerspenstigen Wuschelkopf – eines
dieser Kinder, die im allgemeinen Tru­
bel «etwas abseits vor sich hin bib­
bern».
Was ist real, was nicht?
Dass in «Misfit» auf langen Strecken
das Vergangene die Oberhand über das
Gegenwärtige gewinnt, zeigt Overeem
unter anderem, indem er die Passagen
in der Stadt in Vergangenheitsform
erzählt, die immer ausführlicher erin­
nerten Episoden hingegen im Präsens,
wodurch sie eine grosse Unmittelbar­
keit erhalten. Was zeitlich zurückliegt
und psychisch vom Protagonisten bis
zur Verneinung abgespalten worden
ist, infiltriert das Gegenwärtige und
sabotiert es. Der Knirps im Treppen­
haus, der dauerpräsente Vermieter, der
krebskranke Hund, die spielenden Jun­
gen im Nebenzimmer geistern in der
flirrenden Hitze durch die Grünanla­
gen und Strassen der Stadt, bis wir auch
als Leser nicht mehr sicher sind, was
real ist und was die Fata Morgana einer
zerbrechlichen Psyche.
Es sind die beiden spielenden Jungen,
die die Blase der Trauer schliesslich
platzen lassen, so dass die alten Gefühle
hineinfliessen in die neuen Räume und
es endlich ein wenig kühler wird. l
Roman Launige Melange aus Trivialprosa
und theoretischer Reflexion
Seine Laufbahn
war ein Witz
Kurzkritiken Belletristik
Betina González: Nach allen Regeln der
Kunst. Roman. Hoffmann und Campe,
Hamburg 2010. 191 Seiten, Fr. 32.90.
William Styron: Sturz in die Nacht.
Die Geschichte einer Depression.
Ullstein, Berlin 2010. 125 Seiten, Fr. 25.90.
Wie sein Name andeutet, war der Bild­
hauer Fabio Gemelli ein Mann mit vie­
len Gesichtern. Seine jüngere Tochter
Claudia, die Ich­Erzählerin, hielt ihn
für einen untalentierten Hochstapler.
Nach seinem Unfalltod entdeckt sie
zufällig beziehungsweise durch ehema­
lige Geliebte und Weggefährten Gemel­
lis noch mehr Identitäten ihres Vaters:
War er ein Politaktivist? Ein Esoteriker
und vielleicht doch erfolgreicher
Künstler? Bloss ein Ehrgeizling und
Fälscher? Sicher ist: Gemelli war ein
Lügenbaron «nach allen Regeln der
Kunst». Ebenso kunstvoll entflicht die
1972 geborene Betina González in ihrem
preisgekrönten argentinischen Bestsel­
ler den Knäuel von Geschichten, die
sich um diese Figur ranken. Spannung
und Einfühlsamkeit halten sich in
diesem wohltemperierten Roman die
Waage.
Regula Freuler
Der amerikanische Erzähler William
Styron (1925–2006), der 1968 für «Die
Bekenntnisse des Nat Turner» mit dem
Pulitzer­Preis ausgezeichnet wurde, ist
vor allem durch die Verfilmung seines
Romans «Sophies Entscheidung» (1979)
mit Meryl Streep und Kevin Kline
bekannt geworden. 1985, nach dem
Ende einer 40­jährigen Alkohol­Karrie­
re, geriet Styron in eine schwere Depres­
sion, die zu Angstzuständen führte und
ihn an den Rand des Selbstmords brach­
te. Medikamente und ambulante Thera­
pien konnten ihm nicht helfen. Erst in
der Monotonie des Klinikalltags fand er
wieder zu sich selbst. Der Bericht über
seine Krankheit, der nun in überarbei­
teter Version der erstmals 1991 erschie­
nenen deutschen Übersetzung wieder
aufliegt, überzeugt durch seine Offen­
heit, Anschaulichkeit, Aufrichtigkeit –
und durch das Fehlen jeder Larmoyanz.
Manfred Papst
Airen: I Am Airen Man.
Roman. Blumenbar, Berlin 2010. 176 Seiten,
Fr. 29.90.
Durs Grünbein: Vom Stellenwert der
Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009.
Suhrkamp, Frankfurt 2010. 59 S., Fr. 12.90.
Das Feuilleton­Ereignis des Frühjahrs
war die Debatte um Helene Hegemanns
Début «Axolotl Roadkill». Einige Sätze
daraus entstammen dem Buch gewor­
denen Blog eines Bayern, der in Berlin aus
dem Unternehmensberater­Dasein und
der Seelenleere in Drogen­ und Sexex­
zesse flieht und diese als ‹Airen› im Inter­
net festhält – eine Litanei, die von stilis­
tischer Unfähigkeit strotzt. Der Zweit­
ling, «I Am Airen Man», sei sein «State­
ment als Schriftsteller». Diesmal kokst/
tanzt/fickt Airen sich durch Mexiko­City,
lernt seine grosse Liebe kennen, die eben­
falls Drogen und Bisexualität zugeneigt
ist. Sie wird schwanger, Rückkehr nach
Berlin, Neuanfang. Manche Sätze sind
verzweifelt, manches ist Kitsch, das meis­
te einfach schlecht geschrieben. Airen
fühlt sich den Berufskollegen überlegen,
verwechselt weiterhin Drogensucht mit
Erfahrung und entlarvt sich selbst öfters
als kreuzbanaler Spiesser.
Regula Freuler
Der 1962 in Dresden geborene Lyriker,
Essayist und Übersetzer Durs Grünbein
verkörpert beispielhaft den Typus des
Poeta doctus, des gelehrten Dichters.
Sein weitverzweigtes Werk, das 1989 mit
dem Gedichtband «Grauzone morgens»
anhob, ist bildungsgesättigt, komplex
und reich an Anspielungen. In seiner
2009 gehaltenen Frankfurter Poetikvor­
lesung indes kehrt Grünbein keineswegs
den elitären Autor heraus. Unprätentiös,
exakt und mit verhaltener Selbstironie
berichtet er von seinen lyrischen Anfän­
gen und vom schwierigen Weg zu einem
eigenen Ton und Rhythmus. Er denkt
darüber nach, wie man in einem Zeital­
ter, das keine verbindliche Poetik mehr
kennt, noch über die «unbewachte
Sekunde der Eingebung» und über
lyrische Formen sprechen kann, und
kommt zu so originellen Formulierungen
wie derjenigen, dass die Poesie «das
schlechte Gewissen der Literatur» sei.
Manfred Papst
Nicholson Baker: Der Anthologist.
Aus dem Englischen von Matthias
Göritz und Uda Strätling. C. H. Beck,
München 2010. 256 Seiten, Fr. 34.50.
GUILLEM LOPEZ / ULLSTEIN BILD
Von Bruno Steiger
Launig – wenn nicht enervierend munter
– muss man wohl den Tonfall nennen,
mittels dessen uns Nicholson Bakers
Ich­Erzähler für die technischen Fein­
heiten von Lyrik zu begeistern versucht.
Paul Chowder heisst er, und wir, das sind
die Leser des Buchs. In lustvoll variierter
Penetranz zieht sich das kumpelhafte
«Hallo» des Buchanfangs durch die Sei­
ten dieser eigentümlichen Melange aus
Trivialprosa und dichtungstheoretischer
Reflexion. Über diverse, in betont läs­
sigem Plauderton gehaltene Abschwei­
fungen gelangt Letztere nur selten
hinaus. Ähnliches gilt für die erzähle­
rischen Einschübe, in denen uns Bakers
Protagonist vorab über seine Gemütsla­
ge informiert. Schon auf der ersten Seite
wartet er mit einem Selbstbekenntnis
auf: «Mein Leben ist eine Lüge, meine
Laufbahn ein Witz, ich bin der klassische
Versager.» Das klingt genauso kokett,
wie es gemeint sein dürfte.
Grossen Raum nehmen Chowders
Rapporte über den Stand seiner Arbeit
an einer Sammlung gereimter Lyrik ein.
Die Einleitung zu dem als grundlegend
geplanten Werk kriegt er nicht in den
Griff, es bleibt bei Vorstudien. Aus die­
sen nähren sich die theoretischen Passa­
gen des Romans.
Zwischen einigen nicht ganz uninter­
essanten poetologischen Steilvorlagen
– «Lyrik ist die kunstvolle Verfeinerung
des Schluchzens» – wartet Baker immer
mal wieder mit kleinen Anekdoten
über die von seiner Hauptfigur be­
vorzugten Autoren auf. Es handelt
sich dabei durchweg um englische
und amerikanische Dichter und
Dichterinnen, viele in unseren
Breitengraden wohl nur dem
Spezialisten bekannt und in
den zahlreichen Zitaten
des Buchs erstmals über­
setzt. Das primäre Ziel
scheint jedoch darin
bestanden zu haben, die
Tonlage des Romans
in ein kongeniales,
will heissen: adäquat
saloppes Deutsch zu
übertragen. Dass dies
ohne allerlei sprachliche
Spässe des Kalibers «mit
einer Flasche Bein zu
wett gehen» nicht zu lei­
sten war, dürfte auch für
die Übersetzer eher
schmerzvoll gewesen
sein. l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Interview
Franziska Rogger und Monika Bankowski haben den Nachlass einer der
ersten Medizinstudentinnen der Uni Zürich ausgewertet. Entstanden ist
eine kurzweilige Monografie zum schweizerischen Frauenstudium und
seinen russischen Pionierinnen. Interview: Urs Rauber
«Die Schweiz
umerziehen»
Bücher am Sonntag: Am 14. Dezember 1867 er-
hielt die Russin Nadeschda Suslowa an der
Universität Zürich «als allererste Frau den
Doktortitel». Sie nennen das Ereignis «eine
echte Sensation». Womit in der Frauengeschichte
ist es vergleichbar?
Franziska Rogger: Am ehesten mit den inter­
nationalen Pionierinnen für das Frauenstimm­
recht.
Monika Bankowski: Das Ereignis hat in der
schweizerischen Öffentlichkeit und in Russland
ein grosses Echo ausgelöst. Wir gehen davon
aus, dass es auch in der Weltpresse eine wichti­
ge Meldung war.
Sie legen ein Buch über die Anfänge des Frauenstudiums vor, das sich süffig liest. Man fragt sich,
wie zwei Autorinnen ein solches Werk schreiben
können, ohne dass man irgendwo einen Stilbruch
bemerkt. Wie haben Sie sich aufgeteilt?
Rogger: Die Aufgaben waren klar getrennt.
Monika hat aus einem Papierhaufen auf einem
Zürcher Estrich einen Nachlass gemacht. Es
war die Korrespondenz der Russin Virginia
Rogger und Bankowski
Franziska Rogger, geboren
1949, ist promovierte
Historikerin und
Archivarin der Universität
Bern. Sie hat verschiedene Ausstellungen
gestaltet, Bücher verfasst
und als Journalistin
gearbeitet. Die
ausgebildete Slawistin
und Historikerin Monika
Bankowski, geb. 1946, ist
als Referentin an der Zentralbibliothek Zürich
tätig. Sie war Mitautorin und -herausgeberin
verschiedener Fachpublikationen.
Nun haben sich die zwei sachkundigen Frauen
zusammengetan, um ein amüsantes, reich
bebildertes und gut geschriebenes Buch zu den
Anfängen des schweizerischen Frauenstudiums
und seinen russischen Pionierinnen herauszubringen: «Ganz Europa blickt auf uns».
Es ist erschienen bei Hier + jetzt, Baden 2010
(292 Seiten, Fr. 51.90).
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
«Die Russinnen kamen nicht
aus feministischen Gründen
an die Universitäten in der
Schweiz, sondern weil sie
die Revolution in Russland
vorbereiten wollten.»
Schlykowa, die in den 1870er Jahren in der
Schweiz Medizin studiert hatte. Viele Zettel­
chen ohne Datum, bei denen immer wieder mal
eine Seite fehlte, in russischer, deutscher oder
armenischer Sprache. Das alles hat sie in minu­
tiöser Kleinarbeit geordnet und übersetzt,
anderthalb Jahre lang fast Tag und Nacht.
Bankowski: Vor allem nachts – am Tag war ich
in der Zentralbibliothek Zürich beschäftigt.
Rogger: Zudem hat sie Memoiren, Sekundärlite­
ratur und weitere Korrespondenz aus einem
russischen Archiv ausgewertet: die Briefe des
Zürchers Friedrich Erismann an seine Frau
Nadeschda Suslowa. Sie hat also die wissen­
schaftlich­philologische Seite betreut. Und aus
diesem Material habe ich das Buch geschrie­
ben. Der journalistische Stil und die Sprache
des Buches stammen von mir.
Bankowski: Es war der Wunsch der Nachlassbe­
sitzerin, dass wir ein lesbares Buch machen,
keine wissenschaftliche Edition.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie einen
Nachlass auswerten konnten, den noch niemand
bearbeitet hat?
Bankowski: Es war wie eine Schatzsuche! Ich
kam in ein Goldgräberfieber, achtete nicht
mehr auf die Zeit, vergass manchmal das Essen.
Und als ich sah, wie sich die Puzzleteile lang­
sam zu einem Bild zusammenfügten, war das
ein erhebendes Gefühl.
Wo schlummerte dieser Nachlass?
Bankowski: Er lagerte bei der Zürcher Politike­
rin Franziska Frey­Wettstein, der Urenkelin von
Virginia Schlykowa.
Rogger: Dass er immer noch vorhanden war, hat
damit zu tun, dass die Familie bis heute im glei­
chen Haus gewohnt hat. Es waren zwei alte Kof­
fer und ein paar Kisten voller Papier.
Bankowski: Die Nachkommen konnten die
Dokumente teilweise nicht entziffern oder hat­
ten keine Zeit dafür. So blieb alles zusammen.
Teilweise waren es Briefe, die aus einer Laune
heraus entstanden sind. Manchmal enthielten
sie zum Beispiel nur die Angabe: «Mittwoch,
7. September». Dann musste ich eruieren, in
welchem Jahr das war, Indizien finden für einen
Hinweis auf die Datierung und das Umfeld.
Rogger: Bei vielen Namen galt es herausfinden,
von wem die Rede war. Andere Briefe gaben
nicht viel her – wie zum Beispiel Liebesbriefe.
Sind die nicht besonders aufschlussreich?
Bankowski: Ach, es hat sich vieles wiederholt.
Rogger: Oder die ellenlangen Beschreibungen
zwischen Mutter und Tochter, welchen Stoff sie
in Paris kaufen wollten.
Bankowski: Das hingegen fand ich interessant:
zu erfahren, in welchem Winter welcher Braun­
ton zum Beispiel in Moskau in Mode war.
Wie waren Ihre Erfahrungen in russischen Archiven?
Bankowski: Ich war zwei Wochen im staatlichen
Archiv der Autonomen Republik Krim in der
Ukraine. Dort habe ich bereits 1992 mit einer
Freundin den Nachlass von Nadeschda Suslowa
exzerpiert – damals noch in mühseliger Hand­
arbeit, da es noch kein Notebook gab. Aufgrund
der Archivregistratur wissen wir, dass wir die
ersten westlichen Forscherinnen waren, die
diese Akten einsehen konnten.
Der Titel Ihres Buches lautet: Ganz Europa blickt
auf uns.
Rogger: Der Titel hat seine Tücken. Die heuti­
gen Frauenforscherinnen nehmen an, dass die
russischen Studentinnen in die Schweiz kamen,
um das Frauenstudium, also ein Frauenrecht, zu
institutionalisieren. Das war die bisherige
Aussensicht. Mit diesen Briefen haben wir nun
erstmals den Blick von innen: Die Russinnen
kamen nicht aus feministischen Gründen, son­
dern weil sie die Revolution in Russland vorbe­
reiten wollten. Als die russische Studentin
Anna Oehme den zitierten Ausspruch tat,
dachte sie vor allem an die Vorbereitungen
zur Umwälzung in Russland. Gleichzeitig
waren sich die Kommilitoninnen aber durchaus
bewusst, dass man argwöhnisch beobachtete,
ob sie als erste Frauen an der Uni wirklich
MARION NITSCH
Interessiert an Studenten- und Frauengeschichte: Die Historikerinnen Monika Bankowski (links) und Franziska Rogger in der Zentralbibliothek Zürich.
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
reich an den Schweizer Hochschulen einge­
schrieben.
Unter den 350 Studierenden an der Uni Zürich im
Jahr 1872 waren 60 Russinnen! Unglaublich.
Warum so viele Russinnen?
Rogger: Später war es gar noch krasser. An der
Universität Bern studierten im Jahr 1905 rund
200 Medizinstudenten sowie 400 Medizinerin­
nen aus Russland! Das wäre, wie wenn heute in
einem Hörsaal neben 200 Schweizer Männern
400 Burka­Trägerinnen sässen.
Bankowski: Im Zarenreich war es trotz der poli­
tischen Rückständigkeit möglich, dass Frauen
als Hörerinnen die Universität besuchen konn­
ten, vor allem in St. Petersburg. Obwohl die
Reformen nur harzig anliefen, wurden die
Grenzen geöffnet, es kam ausländische Litera­
tur ins Land und die jungen Leute sogen sozial­
revolutionäre Ideen auf. Als die Petersburger
Universität in den 1860er Jahren nach den ers­
ten Unruhen geschlossen wurde, mussten sich
die jungen Hörerinnen überlegen, wo sie wei­
terstudieren könnten. Sie alle hatten im Sinn,
mit ihrer medizinischen Bildung etwas zum
Volkswohl beizutragen. Die zielstrebige Nade­
schda Suslowa versuchte es zuerst in Paris,
wurde aber von der Sorbonne abgelehnt. Dann
probierte sie es in Zürich, wo bereits zahlreiche
junge Russen studierten.
Auch am Polytechnikum, der heutigen ETH,
war die erste Mathematikstudentin eine Russin.
Warum keine Schweizerin? Haben Ihre schweizerischen Geschlechtsgenossinnen im 19. Jahrhundert geschlafen?
Rogger: Um ein böses Wort zu verwenden: Es
ging ihnen zu gut. Sie hatten nicht diesen
Antrieb wie die Russinnen, etwas Neues zu
wagen. Die russischen Studentinnen mokierten
sich darüber, dass die Schweizerinnen über
Frauenrechte diskutierten, während sie sich um
das allgemeine Volkswohl in Russland küm­
merten.
Bankowski: Im Zarenreich betonten die jungen
Leute weniger den Geschlechtsunterschied als
in westlichen Ländern. Man war neuer Mensch,
nicht Mann oder Frau. Die jungen Russinnen
verstanden sich als gleichwertige Partnerin des
Mannes, während etwa in Deutschland die pat­
riarchalische Struktur auch bei Frauen noch
stark verinnerlicht war.
War die Universität Zürich liberaler als andere
Hochschulen?
Rogger: Nicht nur die Sorbonne, auch alle ande­
ren ausländischen Universitäten haben Frauen
trotz Gesuch nicht aufgenommen. In Zürich
und Bern hingegen gab es keine behördliche
Vernehmlassung und keine administrativen
Barrieren, man entschied pragmatisch­liberal,
ausländische Frauen zuzulassen. Man dachte
jedoch eher an Hörerinnen als an Studierende.
Aber warum fast nur Russinnen und nicht auch
andere Ausländerinnen?
Rogger: Fast gleichzeitig kamen auch Deutsche,
Amerikanerinnen, Engländerinnen. Die russi­
schen Studentinnen waren so überaus zahlreich
vertreten, weil die sozialutopische Bewegung
in Russland stark war. Und diese motivierte die
Frauen, sich in der Schweiz gut ausbilden zu
lassen, um in Russland als geschulte Ärztinnen
oder Lehrerinnen «ins Volk zu gehen» und es
zu revolutionieren.
Wie erklären Sie das starke idealistisch-sozialreformerische Engagement der russischen Studentinnen?
Bankowski: Durch die Reformen in Russland in
den 1860er Jahren fand eine kolossale soziale
Umwälzung statt. Der Adel musste sich neu
orientieren. Adelstöchter suchten einen Broter­
werb. Es entwickelte sich der Typus des «reu­
mütigen Adligen», der ein soziales Gewissen
hatte und beim Volk etwas gutmachen wollte –
er geistert auch durch die Literatur. Sie hatten
sich am Volk versündigt, hatten Leibeigene zu
einer Zeit, als die Oberschicht im übrigen Euro­
pa längst dem Feudalismus adieu gesagt hatte.
Eine spezielle Gruppe der russischen Kolonie
waren die «Kosakenpferdchen»: blutjunge Studentinnen, die die freie Liebe propagierten und
von der Erlösung Russlands träumten. Unordentlich gekleidet, zogen sie kreischend und palavernd in Gruppen durch Zürichs Strassen. Ein
«Bürgerschreck», wie Sie schreiben.
Rogger: Das Fass zum Überlaufen gebracht hat
ihr Anspruch, auch «die Schweiz umerziehen»
zu wollen. Es war allerdings nur eine kleine
Gruppe unter den Russinnen, die gar nicht
studierte, sondern einfach die Revolution pro­
pagierte. Ähnlich wie 100 Jahre später die Acht­
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
SIE & ER / ZENTRALBIBLIOTHEK ZÜRICH
reüssierten. Doch diese zweite Facette ist
eine nachgereichte Fragestellung.
Russische Studentinnen und Freundinnen von Virginia
Schlykowa im Zürich der 1870er Jahre.
«Im Zarenreich betonten die
jungen Leute weniger den
Geschlechtsunterschied als
in westlichen Ländern. Man
war neuer Mensch, nicht
Mann oder Frau.»
undsechziger wollten auch sie gezielt als Bür­
gerschreck wirken.
Bankowski: In Russland nannte man sie übri­
gens die «Sechzigerinnen» oder «Nihilistin­
nen», weil sie alles negierten. Dieser militante
kleine Teil prägte zu Unrecht das Gesamtbild
der russischen Studentinnen in der Schweiz.
Nach Zürich kamen auch zahlreiche ausländische Männer, weil hier von Ausserkantonalen
kein Maturitätsnachweis verlangt wurde. Weshalb nicht?
Rogger: Sowohl die Universität Zürich wie auch
jene von Bern war eine liberale Gründung. Bil­
dung war ursprünglich den Adligen vorbehal­
ten gewesen. Wenn sich die Universität neuen
Schichten öffnen wollte, musste sie sozusagen
die Burschen vom Land zulassen. Da diese aber
keine Möglichkeit gehabt hatten, das Gymna­
sium zu besuchen, gewährte man ihnen den
Hochschulzugang ohne Maturitätszeugnis. Es
war eine Massnahme, um das Bildungsprivileg
der Oberschicht zu brechen.
1873 erliess die kaiserliche Regierung plötzlich
den Ukas: Wer in Zürich studiert, findet in Russland keine Anstellung. Worauf der ganze Russinnen-Tross von Zürich nach Bern zog.
Bankowski: Die fortgeschritteneren Studentin­
nen standen vor der Frage, ob sie nach dem
Studienabbruch in Zürich nach Russland
zurückkehren und dort vor dem Nichts stehen
oder das Studium an einer andern Uni fortset­
zen sollten. Einige versuchten es in Leipzig, in
Heidelberg, in München oder in Holland – doch
nirgends wurden sie zugelassen.
Rogger: Bern hingegen, das immer in Konkur­
renz zu Zürich stand, sah durchaus Vorteile,
eine quantitativ grosse Uni zu bekommen.
Wie viele russische Studentinnen haben in der
Schweiz studiert?
Rogger: Zwischen 1867 und 1914 hatten sich ins­
gesamt 5000 bis 6000 Frauen aus dem Zaren­
Die Protagonistin Ihres Buches Virginia Schlykowa hat ein Medizinstudium abgeschlossen
und in der Schweiz geheiratet, aber nie als Ärztin praktiziert. Warum nicht?
Rogger: Sie hat sich durch die familiäre Situa­
tion – sie hatte drei Kinder – vereinnahmen
lassen und verlor den Biss, als sie für die Medi­
zinalprüfung noch die Matura hätte nachholen
sollen. So wurde sie schliesslich zur «desperate
housewife» für die nächsten 25 Jahre.
Bankowski: Sie führte ein bürgerliches Haus­
frauendasein. Und ihr Mann hätte es mit sei­
ner Würde als unvereinbar erachtet, wenn sie
erwerbstätig hätte sein müssen.
Rogger: Am Schluss war die Ehe zerrüttet.
Virginias spätere Berufslaufbahn scheint allerdings wieder typisch für Frauenbiografien: Nach
der Kinderphase erlernt sie mit 50 einen zweiten
Beruf, indem sie sich in Stockholm zur Heilmasseurin ausbilden lässt.
Rogger: Sie war nach der Trennung von ihrem
Mann nicht abgefedert durch den Staat oder
eheliche Unterstützungsbeiträge, wie das
heute der Fall wäre. Sie musste Geld verdie­
nen, wollte sie nicht einfach einer Tochter zur
Last fallen.
In Ihrem Buch erzählen Sie viele amüsante
Details. Virginia habe in Kairo, Nizza und
Schuls-Tarasp als Masseurin gearbeitet und sich
besonders auf reiche Patientinnen spezialisiert.
Ihre Tochter habe ihr geraten: «Schröpfe die
Leute. Du hast’s verdient.»
Bankowski: Damals konnten sich nur Reiche
eine Massage leisten. Bädertourismus war für
Normalbürger nicht erschwinglich. Dass sie an
so fashionable Orte reiste, hatte deshalb weni­
ger mit ihrem Kosmopolitismus zu tun als mit
der Nachfrage nach Masseurinnen.
Man gewinnt den Eindruck, dass Sie dieses Buch
mit viel Spass geschrieben haben. Was haben Sie
für sich persönlich mitgenommen?
Rogger: Was mich fasziniert hat, war eine indi­
viduelle Geschichte wie jene der Suslowa und
Schlykowa in die historische Umgebung ein­
zubetten und stets einen gezielten Blick auf
das Heute zu wagen.
Bankowski: Für mich war es reizvoll, die russi­
sche Kolonie in Zürich aus dem Innern heraus
darzustellen – nicht anhand von späteren
Erinnerungen, sondern mit Hilfe von Quellen
aus der damaligen Zeit. Jeder Historiker
träumt vom Glück, einmal einen Quellen­
schatz zu finden, dieser Traum hat sich für
mich erfüllt. l
Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Charles Lewinsky,
63, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Sein letztes Buch
«Doppelpass» ist
2009 bei Nagel &
Kimche erschienen.
Ein Autor, der von seinen
eigenen Büchern spricht,
ist fast so schlimm
wie eine Mutter, wenn
sie über ihre eigenen Kinder spricht.
Kurzkritiken Sachbuch
Melanie Mühl: Menschen am Berg.
Geschichten vom Leben ganz oben. Nagel &
Kimche, München 2010. 122 Seiten, Fr. 26.90.
Bruno S. Frey, Claudia Frey Marti: Glück.
Die Sicht der Ökonomie.
Rüegger, Zürich 2010. 167 Seiten, Fr. 22.–.
Eine junge Journalistin aus dem flachen
Deutschland reist in die für sie fremde
Welt der Berge. Sie sucht Exotik – und
findet die Geschichte des Gotthard­
Basistunnels, der in die Schweiz einge­
wanderten Bären, der Gletscherschmel­
ze im Wallis. Vor allem aber findet sie
Menschen, die in den Bergen wohnen.
Die Familie Wehrli mit ihren Tieren auf
dem Leubingenberg im Jura. Den Enga­
diner Bergführer Marco Salis. Die 14
Menschen, die auf der Alp Golzern hoch
oben im Maderanertal leben, wo der
Feldstecher stets griffbereit liegt, «damit
das wenige, was passiert, nicht unbe­
merkt passiert» und wo «Gottver­
trüüwä» noch als lebensnotwendig gilt
wie das tägliche Brot. Neu ist das alles
für Schweizer Leser vielleicht nicht,
aber die genauen Beobachtungen und
der gekonnt schlichte Stil machen diese
Reportagen aus den Bergen im wahrsten
Sinne des Wortes ergreifend.
Kathrin Meier-Rust
Über Glück wird viel geforscht und
geschrieben in unserer hedonistischen
Zeit. Der Zürcher Ökonomie­Professor
Bruno S. Frey fasst hier kurz zusammen,
was die Wissenschaft heute darüber
weiss. Zum Beispiel: Gut die Hälfte der
Schweizer bezeichnen sich als glücklich,
ein Rekord weltweit, nur punkto Arbeits­
zufriedenheit sind uns die Dänen voraus.
Mehr Geld macht zwar glücklicher, aber
nur bis zu einem Monatsgehalt von 10 000
Franken, dann setzt der Gewöhnungs­
effekt ein. Trotz viel höherem Pro­Kopf­
Einkommen sind wir deshalb auch nicht
zufriedener als unsere Eltern und Gross­
eltern es waren. Demokratie, Selbstän­
digkeit, Freiwilligenarbeit und enge sozi­
ale Beziehungen erhöhen die Lebenszu­
friedenheit, während Arbeitslosigkeit,
Gleichstellung der Geschlechter und viel
Fernsehkonsum an ihr nagen. Knapp, tro­
cken und bündig präsentiert das kleine
BüchleindieFaktenderGlücksforschung.
Kathrin Meier-Rust
Die Vögel der Familie Graviseth. Passepartout, Schriftenreihe Burgerbibliothek
Bern. Bern 2010, 112 Seiten, CD, Fr. 49.–.
Gabi Köpp: Warum war ich bloss ein
Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945.
Herbig, München 2010. 157 Seiten, Fr. 29.50.
Der zweite Band in der neuen Reihe
«Passepartout», herausgegeben von der
Burgerbibliothek Bern, präsentiert in
edler Aufmachung ein ornithologisches
Bilderbuch aus dem 17. Jahrhundert. Die
in Vergessenheit geratene Sammlung
umfasst etwa 200 kommentierte Vogel­
darstellungen. Vor rund 30 Jahren wurde
der Schatz im Archiv der Bibliothek ent­
deckt, und nun haben sich drei Berner
Spezialisten des Konvoluts angenom­
men. Der Historiker Martin Germann
beleuchtet den geschichtlichen Hinter­
grund der Berner Patrizierfamilie Gravi­
seth und die Entstehung der Illustra­
tionen, während der Zoologe Peter Lüps
die Zeichnungen aus ornithologischer
Sicht erläutert. Der Kunsthistoriker
Georges Herzog versucht, die Maler zu
eruieren. Es gelingt ihm, die Beteiligung
des bekannten Berner Stilllebenmalers
Albrecht Kauw plausibel zu machen.
Geneviève Lüscher
Januar 1945 in der Grenzmark Posen
(Westpreussen). Gabi ist 15 und flieht
mit ihrer ältesten Schwester Juliane vor
der vorrückenden Roten Armee nach
Berlin. Ihre Schwester kommt um, als
sie in ein Gefecht geraten. Gabi schliesst
sich einem versprengten Trupp deut­
scher Flüchtlinge an – da beginnt erst
recht der Albtraum. Das Mädchen mit
den blonden Zöpfen fällt wiederholt
russischen Soldaten in die Hände, auch
weil es von deutschen Frauen verraten
wird, die es vorschieben, um sich selber
zu schützen. Es fühlt sich schmutzig,
wehrlos und wertlos, findet kaum Worte
für seine Demütigungen. 60 Jahre später
nimmt die Frau, die nach dem Krieg
Physik studieren konnte und Professo­
rin wurde, ihr Tagebuch zum Anlass, das
lange Verdrängte niederzuschreiben.
Die Frage im Titel des bewegenden
Büchleins verfolgt sie bis heute.
Urs Rauber
Benjamin Disraeli
Es war eine schwere Geburt, ja. Mein
Verleger hat auch gesagt: So furchtbar
hat er überhaupt noch nie einen
Autoren leiden sehen. Die Wehen haben
Jahre gedauert. Jahre! Und vorher die
Schwangerschaftsbeschwerden, die
will ich nicht einmal erwähnen. Zum
Beispiel diese plötzliche Gier nach
Adjektiven, die mich immer wieder
überfallen hat…
Aber wenn das Buch dann endlich
vor einem liegt, in seinem niedlichen,
unschuldigen Schutzumschlag, dann
sind alle Beschwerden vergessen. So
süss, sage ich Ihnen. So ungeheuer süss.
Und dieses Glücksgefühl, wenn man
es dann an sein liebevoll vorbereitetes
Plätzchen im Bücherregal stellt…
Es ist doch jedes Mal wieder ein
Wunder, nicht? Noch so jung und
doch schon alles dran. Das ISBN­Nüm­
merchen und die Klappentextchen
und alles. Sogar ein Eselsöhrchen hat
es schon. Ganz vorne auf der Titelseite,
dort wo mein Name steht. So niedlich!
Und dieser unwiderstehliche
Geruch, wie ihn eben nur neugeborene
Bücher haben! Dieser Duft nach noch
ganz leicht feuchter Druckerschwärze!
Am liebsten würde ich es den ganzen
Tag nur knuddeln.
Gesund? Danke der Nachfrage,
könnte nicht besser sein.
Nur auf Seite 57 hat man ein winzig
kleines Druckfehlerchen gefunden, aber
das lässt sich in der zweiten Auflage
ohne weiteres beheben, ganz ohne blei­
bende Schäden.
Natürlich wird es eine zweite Aufla­
ge geben! Und eine dritte und vierte
auch. So was spürt man ganz einfach als
Autor.
Jetzt ist es ja noch klein und muss
erst mit guten Kritiken aufgepäppelt
werden. Aber wenn es erst einmal gross
ist… Ich werde mich da nicht
einmischen, natürlich nicht, man muss
auch loslassen können, auch wenn es
schwerfällt. Ob es Bestseller werden
will oder lieber Geheimtipp – ich
mische mich da nicht ein. Wenn es nur
glücklich wird.
Ja, natürlich, es ist keine leichte
Zeit so frisch nach dem Erscheinen.
Nur schon, dass man keine Nacht mehr
durchschläft. Alle paar Stunden muss
ich raus aus dem Bett und im Internet
nachsehen, ob schon jemand etwas
über meinen kleinen Liebling geschrie­
ben hat. Und dann gehe ich jedes
Mal zum Regal und gebe dem Zucker­
schnuckel einen zärtlichen Kuss auf
den Schutzumschlag.
Sie finden das übertrieben?
Haben Sie überhaupt
schon einmal ein Buch
geschrieben? Nein?
Dann können Sie über­
haupt nicht mitreden!
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Philosophie Im Alter paart sich oft Weisheit mit Milde. Nicht so beim Philosophen
Arthur Schopenhauer: Er zieht gegen seine Gegner wie ein junger Spund vom Leder
Arthur Schopenhauer: Senilia.
Gedanken im Alter. Hrsg. Franco Volpi,
Ernst Ziegler. C. H. Beck, München 2010.
374 Seiten, Fr. 49.50.
Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.):
Über Glück und Unglück des Alters.
Essays. C. H. Beck, München 2010.
163 Seiten, Fr. 32.90.
Von Manfred Koch
Mit dem Alter kam der Ruhm. Beinahe
ein Menschenleben lang klagt der 70­jäh­
rige Arthur Schopenhauer in seinem
letzten Notizbuch, den «Senilia», er sei
der «Caspar Hauser» der Philosophie
gewesen, «so sorgfältig vom Lichte des
Tages abgesperrt und so eingemauert,
dass die Welt keine Ahnung von seinem
Daseyn hatte». Die Kerkermeister – das
waren nach Schopenhauers fester Über­
zeugung die deutschen Universitätsphi­
losophen, die ihn, den Verkünder einer
radikal pessimistischen Weltansicht,
konsequent totschwiegen.
Schopenhauer attackierte sie bei jeder
Gelegenheit als verbeamtete «Flach­
Arthur Schopenhauer
Der 1788 geborene Arthur Schopenhauer bekommt, grossjährig geworden,
seinen Anteil am väterlichen Erbe
ausgezahlt und lebt von da an als freier
Philosoph.
1818 veröffentlicht er sein Hauptwerk
«Die Welt als Wille und Vorstellung».
Es findet aber nur wenig Beachtung. Ein
Versuch als Universitätsdozent in Berlin
1820 scheitert kläglich, weil Schopenhauer seine Vorlesungen bewusst zur
gleichen Zeit wie Hegel abhält und keiner ihn hören will. Erst nach 1850 wird
er bekannt, stirbt aber bereits 1860 an
einer Lungenentzündung.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
köpfe», die allein um des Broterwerbs
willen philosophierten und darum auch
nur subalterne Gedanken hervorbräch­
ten. Für ihn hingegen habe immer gegol­
ten: «Ich habe die Wahrheit gesucht, und
nicht eine Professur.» 1851, mit 63 Jahren,
gelang ihm mit den bewusst populär
gehaltenen «Aphorismen zur Lebens­
weisheit» endlich der Durchbruch.
Behaglich vermerkt er in den «Senilia»
das plötzliche Interesse an seinen
Büchern («Das Abendroth meines
Lebens wird das Morgenroth meines
Ruhms») und steigert sich in Briefen an
seine ersten Apostel in einen wahren
Grössenrausch hinein: «Die mir schon
jetzt bekannte Schaar der eigentlichen
Enthusiasten ist gross genug, mir die
Gewissheit zu geben, dass einst meine
Philosophie in der Welt eine Rolle
spielen wird, wie noch nie irgendeine
andere in alter oder neuerer Zeit.»
«Windbeutel Hegel»
Schopenhauers Stil lebt von der Über­
treibung, im Selbstlob wie in der
Vernichtung seiner Gegner. Sein Haupt­
feind war bekanntlich Hegel, den er als
«Windbeutel», «miserablen Scharlatan»
und Urheber einer «philosophischen
Hanswurstiade», die wie eine Syphilis
in den Gehirnen der Leser wüte, zu ver­
unglimpfen pflegte. Auch die «Senilia»,
die jetzt erstmals vollständig in der
Transkription des St. Galler Historikers
Ernst Ziegler vorliegen, sind gespickt
mit solchen Ausfällen. Von Altersmilde
keine Spur! Schopenhauer schimpft wie
eh und je, auf die «Hegelsche Verdum­
mung», die «Verhunzung der deutschen
Sprache» durch die Zeitungs­«Skribler»,
das Judentum, die Ehe («Heirathen
heisst das Mögliche thun, einander zum
Ekel zu werden») und eine Menge wei­
terer Unannehmlichkeiten, die ihm das
Leben verdriessen: unschöne Frauen,
bärtige Männer, Biertrinker, Hofräte,
Tierverächter und Theologen. Das ist
ULLSTEIN BILD
Der vergnügte
Menschenfeind
teils ergötzlich,
teils auch enervie­
rend zu lesen.
Handelt es sich um
Zeichen einer anhal­
tenden Verbitterung? Das
widerspräche
Schopenhauers
eigener Lehre vom richtigen Altern.
Der letzte Essay der «Aphorismen zur
Lebensweisheit» trägt den Titel «Vom
Unterschiede der Lebensalter». Dort
behauptet Schopenhauer, dass «dem
Alter eine gewisse Heiterkeit eigen» sei,
die sich dem Verzicht auf die Illusionen
früherer Lebensstufen verdanke. Befreit
vom Dämon des Geschlechtstriebs und
den Zwängen der sozialen Konkurrenz
kann ein leidlich gesunder Alter das
absurde Weltgetümmel wie aus weiter
Ferne überschauen und zu später,
wunschloser Zufriedenheit gelangen.
Die Jugend denke, «in der Welt sei
Wunder was für Glück und Genuss
anzutreffen, nur schwer dazu zu gelan­
gen, während man im Alter weiss, dass
da nichts zu holen ist, also, vollkommen
darüber beruhigt, eine erträgliche
pickt und das
Unbekömmliche
meidet. Schopenhau­
er wusste, dass er privi­
legiert war, weil weder
Armut noch schwere Krank­
heiten ihn einschränkten. Alters­
heiterkeit gewährte unter diesen
günstigen Voraussetzungen vor allem
das fortgesetzte Philosophieren. Das
aber hiess für ihn: Polemisieren!
Gegenwart geniesst und sogar an Klei­
nigkeiten Freude hat». Solche Kleinig­
keiten waren für Schopenhauer ordent­
liches Essen, der tägliche Spaziergang
mit seinem Pudel, die Lektüre guter
Bücher sowie ausgiebiger Musik­ und
massvoller Weinkonsum: «Von der
Venus entlassen, wird man gern eine
Aufheiterung beim Bakchus suchen.»
Die Welt ist die Hölle, das schärfen
auch die «Senilia» ein. Wer sie mit dem
«kontemplativen Anstrich» des Alters
betrachtet, kann jedoch ganz vergnügt
in ihr leben, indem er sich, nach Art
einer Diät, das ihm Zuträgliche heraus­
All seiner Polemik
zum Trotz war der
Philosoph Arthur
Schopenhauer in
seinem Alter wohl ein
ziemlich glücklicher
Mensch. Daguerrotypie aus dem Jahre
1842.
Über die Würde des Alters
Schimpfend vergewisserte er sich seiner
unverminderten Vitalität und Intelli­
genz, die Wut, in gute Sätze gegossen,
war und blieb sein Lebenselixier. So war
Arthur Schopenhauer, der Philosoph,
der unermüdlich von der «Eitelkeit aller
Dinge» und der «Hohlheit aller Herr­
lichkeiten der Welt» handelte, wohl tat­
sächlich ein ziemlich glücklicher Greis.
In seinem letzten Lebensjahrzehnt
wurde Schopenhauer mehrfach fotogra­
fiert. Wer heute eine dieser Daguerroty­
pien anschaut, sieht sofort, wie viel älter
ein Siebzigjähriger im 19. Jahrhundert
war. Unsere Gegenwart kennt eine neue
Generation, die sogenannten «jungen
Alten» (zwischen 60 und 75 Jahren), die
so lebenslustig, leistungsfähig und auch
äusserlich gut konserviert sind, dass
niemand mehr auf den Gedanken käme,
von Greisen zu sprechen (das Wort ist
ohnehin fast aus dem Sprachgebrauch
verschwunden).
Ein Sammelband mit Beiträgen von
Intellektuellen der Jahrgänge 1924 bis
1934 (u. a. der Theologe Eberhard Jün­
gel und der Kunsthistoriker Willibald
Sauerländer) geht der Frage nach, was
unter diesen veränderten Bedingungen
Würde des Alters bedeutet. Friedrich
Wilhelm Graf, der noch jugendliche
Herausgeber (geboren 1948), hält in der
Einleitung lakonisch fest, dass wir das
Elend des Alters ja nicht aufgehoben,
sondern nur aufgeschoben haben. Für
die «alten Alten» (zwischen 85 und
100 Jahren) gilt mehrheitlich nach wie
vor Jean Amérys trauriger Befund,
das Alter sei eine unheilbare, peini­
gende Krankheit. Und der Philosoph
Hermann Lübbe (geboren 1926) warnt
in einem brillanten Aufsatz vor der
Gefahr, sich durch die medizinisch
ermöglichte Verlängerung und Inten­
sivierung des späten Lebens zu unan­
gemessenen Reaktionen verleiten zu
lassen.
Wer die altersgemässe Gewohnheits­
fixierung einfach abschütteln und –
womöglich unter Anleitung eines The­
rapeuten – wieder zum jugendlichen
Abenteurer werden will, mache sich
eher lächerlich. «Ein Coaching in der
Absicht, noch einmal mit einem ganz
anderen Leben den Anfang zu machen,
wäre schlechterdings lebenssinnwidrig.
Zu leben heisst, es schliesslich hinter
sich zu haben und den Tod vor sich.»
Das, schliesst Lübbe, sei nun freilich ein
Satz, den man in der gerontologischen
Literatur unserer wellnessversessenen
Zeit kaum finden wird. l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Kalter Krieg Neue Aktenfunde zeigen, wie gross der Einfluss der DDR­Geheimdienste im Westen
war: enorm im Fall Karl­Heinz Kurras, unbedeutend im Fall Günter Grass
Im kleinen Kreis in Ostberlin
Kai Schlüter: Günter Grass im Visier.
Die Stasi­Akte. Buch. 379 Seiten, Fr. 41.50.
Kai Schlüter: Deckname «Bolzen».
Günter Grass im Visier der Stasi. Audio­
CD, Feature von Radio Bremen. 58 Min.,
Fr. 23.90. Beide: Ch. Links, Berlin 2010.
Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der
Westen. Der Kurras­Komplex. Hoffmann
und Campe, Hamburg 2010. 352 Seiten,
Fr. 40.50.
Von Urs Rauber
JOCHEN MOLL / BPK
Bücher zum krankhaften und krakenhaf­
ten Wirken der DDR­Staatssicherheit
(Stasi) werden derzeit en masse publi­
ziert. Fast zeitgleich erschienen im März
zwei Untersuchungen, die sich auf Quel­
len der Birthler­Behörde zur Aufde­
ckung der Stasi­Verbrechen stützen. Der
«Welt am Sonntag»­Redaktor Sven Felix
Kellerhoff deckt den «Kurras­Komplex»
auf. Radio­Bremen­Autor Kai Schlüter
widmet sich 2200 Seiten Stasi­Akten
über Günter Grass.
Die Protagonisten beider Bücher sind
auf unterschiedliche Weise mit der
Geschichte der deutschen Linken ver­
knüpft. Der Westberliner Kriminalpoli­
zist Karl­Heinz Kurras, der am 2. Juni
1967 bei einer Anti­Schah­Demonstra­
tion «aus Notwehr» den Studenten
Benno Ohnesorg erschoss, gab durch
diese Tat den Anstoss zur Entstehung
einer mächtigen 68er Bewegung und zur
Geburt des deutschen Linksterrorismus,
dessen erste Zelle sich «Bewegung
2. Juni» nannte. 42 Jahre später wurde
Kurras als Stasi­Spion im Westberliner
Polizeikorps entlarvt. Der Schuss auf
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
SDS­Spitze und der ostdeutschen FDJ, in
die auch Rudi Dutschke involviert war.
Bis hin zu der von Stasi­Chef Mielke
gebilligten Beherbergung von RAF­Mit­
gliedern in der DDR (Inge Viett, Susanne
Albrecht). Die westdeutsche Linke, so
Kellerhoff, zeige heute jedoch wenig
Interesse, diese Kontakte und den Ein­
fluss der Stasi auf die westliche Politik zu
thematisieren.
Ohnesorg war indes aus DDR­Sicht eine
Panne, ein «bedauerlicher Unglücks­
fall» gewesen.
Kurras hatte sich seit 1955 unter dem
Decknamen «Otto Bohl» der Stasi
verpflichtet. Mit pedantischer Regelmäs­
sigkeit lieferte er bis 1967 fast alle zwei
Wochen polizeiinterne Unterlagen an
seine Auftraggeber in Ostberlin und
erhielt dafür monatlich 50 bis 100 DM
Agentenlohn, später sogar mehr. 1962
stellte Kurras, der nie in der DDR gelebt
hatte, Antrag auf Mitgliedschaft in der
SED, was ihm nach einem Jahr Kandida­
tenzeit gewährt wurde. Nach dem fata­
len Schuss auf Ohnesorg wurde der
Kontakt von Seiten der DDR für neun
Jahre unterbrochen und erst 1976 wie­
der aufgenommen – bis zu Kurras’ Pen­
sionierung 1987.
Unbeugsamer Grass
Lehrstück der Spionage
Auch wenn der Fall Kurras in seiner
Ausführlichkeit ein Lehrstück westli­
cher DDR­Spionage war, bleibt die
Hauptperson seltsam blutleer. Was trieb
den Mann? Wie nahm ihn seine Umge­
bung wahr? Darauf finden wir im Buch
keine Antworten. Kellerhoff hat papie­
rene Akten ausgewertet, keine journalis­
tischen Recherchen angestellt.
Im zweiten Teil weitet er das Thema
aus: Zwischen 1949 und 1989 hätten
«mindestens 12 000, vielleicht aber auch
bis 23 000» Stasi­Agenten in der Bun­
desrepublik gewirkt. Er erwähnt die
finanziellen Zustüpfe an Klaus Rainer
Röhls Zeitschrift «Konkret» und die
Unterwanderung des «Republikanischen
Clubs» in Westberlin ebenso wie die
konspirativen Kontakte zwischen der
Engagierter Freund
von DDR-Literaten
und Dissidenten:
Günter Grass im
Gespräch mit Christa
Wolf in Ostberlin,
Dezember 1981.
Ermutigender wirkt da schon der Report
von Kai Schlüter, der dem Leser den
schmauchenden und grantelnden Gün­
ter Grass näherbringt. Der Autor der
«Blechtrommel» wurde 1969 zum Wahl­
helfer von Willy Brandt. Und er blieb, so
zeigen Schlüters Recherchen, trotz
Anfechtungen von Seiten der Stasi
standhaft. Weder gelang es, ihn bei
seinen Besuchen in Ostberlin zum Apo­
logeten der sozialistischen Kulturpolitik
zu bekehren noch sein Eintreten für kri­
tische DDR­Schriftsteller und Dissiden­
ten zu unterbinden. Der Fall Grass er­
wies sich im Gegensatz zum Fall Kurras
als totaler Misserfolg für den so mächti­
gen DDR­Sicherheitsapparat.
Minutiös rapportierten die observie­
renden Staatsschützer die zahlreichen
Treffen von Grass – die Stasi nannte ihn
«Bolzen» – im kleinen Kreis in Ostberlin
zwischen 1961 und 1989, als sich dieser
mit DDR­Freunden besprach und Solida­
ritätsaktionen beriet. Geschickt ergänzt
Schlüter die Bürokratenprosa von damals
mit heutigen Erinnerungen und Kommen­
taren von Grass und weiteren Beteiligten,
was oft einen heiteren Ton erzeugt.
Immer wieder überlistete der prominente
Autor die ihm zur Seite gestellten Aufpas­
ser, indem er etwa bei einem öffentlichen
Auftritt der Moderatorin die Diskussions­
leitung entzog und von ihr unterdrückte
Fragen munter beantwortete. Die DDR­
Offiziellen trieb das mehr als einmal zur
Verzweiflung.
Schlüters Dokumentation belegt, wie
der spätere Nobelpreisträger im Unter­
schied zu manchem Weggefährten der
Linken klar am Bekenntnis zur westli­
chen Demokratie, zur Einheit der deut­
schen Geschichte und Kultur festhielt
und die politische Teilung des Landes
ablehnte. Anfang der 80er Jahre forderte
er bei der Debatte um die Nato­Nach­
rüstung, dass auch die sowjetischen
SS­20­Raketen zu verschrotten seien.
Mielke sah in Grass denn auch eher
den Feind und «Reaktionär» als den
sozialdemokratischen Verbündeten.
Kai Schlüter hat seine Untersuchung
auch zu einem Radiofeature verarbeitet,
das gleichzeitig als Hörbuch erscheint.
Beides ist geeignet, Günter Grass nach
der ungnädigen Aufnahme seines letz­
ten Werks und der Kritik am späten Ein­
geständnis der Zugehörigkeit zur Waf­
fen­SS wieder ein Stück moralische
Glaubwürdigkeit zurückzugeben. l
Beziehungen Nach dem Bericht über ihre sexuellen Ausschweifungen liefert Catherine Millet nun
die Kehrseite: einen Report aus der Hölle der Eifersucht
Sie fand Nacktfotos bei ihrem Mann
Und Millets Buch ist kein berechneter
Coup. Nach wenigen Seiten spürt man,
wie ernst es ihr ist mit ihrer Selbsterfor­
schung. Eine Art «Confessions», aber
eher im psychoanalytischen als religiö­
sen Sinn. Dass die Verfolgung der
«Untreue» ihres Partners angesichts
ihres eigenen Sexlebens absurde Züge
trägt, nimmt man ihr schon bald nicht
mehr übel. Sie weiss es selbst, und
leuchtet die Paradoxie schonungsloser
aus, als ihr ärgster Feind es könnte.
Catherine Millet: Eifersucht.
Aus dem Französischen von Sigrid Vagt.
Hanser, München 2010. 224 Seiten,
Fr. 37.50.
Von David Signer
Es sah nach perfekt kalkuliertem Marke­
ting aus und machte entsprechend skep­
tisch: Die französische Kunsthistorike­
rin Catherine Millet veröffentlicht 2001
ihren autobiografischen Roman «Das
sexuelle Leben der Catherine M.», einen
detailgenauen Bericht über ihre Sex­
abenteuer mit rund tausend Männern in
Betten, Swingerklubs und Parks. Das
Buch wird ein Millionenseller. Darauf
publiziert ihr Partner Jacques Henric
einen Bildband mit Nacktfotos von Mil­
let. 2008 schiebt sie «Eifersucht» nach,
in dem sie erzählt, wie sie eines Tages
auf Jacques’ Schreibtisch Nacktfotos
und Tagebucheinträge fand, die stark
darauf hindeuteten, dass auch er Affären
unterhielt. Diese Entdeckung stürzte sie
während Jahren in eine obsessive Eifer­
sucht.
Abgründiger Sog
Roman Signer,
Tumi Magnússon
Le Corbusier, Pierre Jeanneret,
Jane B. Drew, E. Maxwell Fry
When You Travel in Iceland
You See a Lot of Water
Fotografien von Ernst Scheidegger
Hrsg. von Stanislaus von Moos
Ein Reisebuch
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwMAUA24sxUQ8AAAA=</wm>
<wm>10CEWKOw6AIBAFTwR5S3gsuCWfihijxvsfRWJjMdPMzGn0-Kh9v_tpAkQ6AXOmsdAHpZqU4JVJDVFSgGCTpZWk2P-72twFDOCB-KONFzWc-LxfAAAA</wm>
Ernst Scheideggers bisher unveröffentlichte Farb- und Schwarzweissfotos vom Werden der indischen Stadt
Chandigarh in den 1950er-Jahren.
Die Textbeiträge erläutern Entstehung
und Bedeutung des visionären Vorhabens von Le Corbusier und seinen
Mitarbeitern.
Gebunden, 272 Seiten
145 farbige und 132 sw Abbildungen
ISBN 978-3-85881-222-3
sFr. 79.– | E 55.–
Roman Signer und sein Künstlerkollege Tumi Magnússon im Gespräch
über die Wildheit Islands, das Unterwegssein und die Kreativität.
Ergänzt durch stimmungsvolle Fotografien ist eine wunderbar assoziationsreiche Reise in Text und Bild
entstanden.
Gebunden, 64 Seiten
33 farbige Abbildungen, 1 Karte
ISBN 978-3-85881-299-5
sFr. 29.90 | E 19.90
www.scheidegger-spiess.ch
beiden spinnen, so auf hohem Niveau.
So schonungslos präzis, bis in die feins­
ten, grausamen Ausläufer, hat man die
Hölle der Eifersucht noch selten be­
schrieben gesehen. «Eifersucht» ist
sicher kein Buch, das Ehen rettet. Eher
zeigt es wie unter dem Vergrösserungs­
glas, anhand eines Extrembeispiels, wie
jede Liebe einen Keim von Wahnsinn in
sich trägt.
Kunst I Fotografie I Architektur
Die französische Skandalautorin Catherine
Millet am Ort ihres Wirkens (2009).
Scheidegger & Spiess
Chandigarh 1956
SUKI DHANDA / CAMERA PRESS
Wahnsinn der Liebe
Natürlich verkauft sich auch dieses
Werk prächtig. Und dann liest man auf
dem Umschlag noch «Ein Buch, das
Ehen retten kann» und etwas vom «See­
lenleben einer betrogenen Frau» und
fragt sich: Für wie dumm sollen wir ver­
kauft werden? Erst die publicitywirksa­
me Entblössung ihrer Hardcore­Liberti­
nage, dann Reue, Treue, Moral und
Betroffenheitsfeminismus?
Nun, «Eifersucht» ist glücklicherwei­
se nicht so. Natürlich ist es irr, wenn
sich eine Nymphomanin wie Millet
wegen ein paar Nacktfotos hintersinnt.
Und es ist ebenso erstaunlich, dass ihr
Jacques diese absurden Eifersuchtssze­
nen jahrelang erträgt, ohne sie zum Teu­
fel zu jagen.
Aber, so lernen wir in diesem Buch:
Auch das gibt es, offenbar. Und wenn die
Nach ihren ersten Entdeckungen unter­
zieht sie das Arbeitszimmer von Jac­
ques, sobald er aus dem Haus ist, akribi­
schen Untersuchungen. Jedes Notizzet­
telchen wird inspiziert, jeder abgelegte
Brief kontrolliert. Und zugleich verach­
tet sie sich dafür.
Es passt so gar nicht zum Bild der
modernen, intellektuellen, liberalen
Frau, das sie von sich pflegt. Während
Jahren spioniert sie so hinter ihm her,
zermartert sich und wagt doch nicht,
Jacques einfach mit ihren Verdächtigun­
gen zu konfrontieren. Dabei erspart
sie uns keine noch so absonderliche
Ecke ihres Gefühlslabyrinths. Ausführ­
lich erklärt sie beispielsweise ihre liebs­
ten Masturbationsphantasien, mitsamt
möglichen Fundierungen in ihrer Kind­
heit. Die Mutter war depressiv und
verübte schliesslich Selbstmord, beide
Eltern unterhielten ein reges ausserehe­
liches Liebesleben.
«Eifersucht» entfaltet im Laufe der
Lektüre einen abgründigen, fast diaboli­
schen Sog. Zunehmend wird man in
Millets exzentrische Welt verstrickt und
folgt ihr bereitwillig ins dunkelste
Unterholz. Vielleicht wird darin auch
etwas von ihrer neurotisch­erotischen
Verführungskunst spürbar. So kritisch
man in die ersten Seiten eingestiegen
ist, so sehr ist man Catherine Millets
kompliziertem Charme am Ende erle­
gen. Zusammenleben mit ihr möchte
man trotzdem nicht. l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Geschichte Der Historiker Arnold Esch untersucht
Bittschriften einfacher Leute an den Papst
Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem
Mittelalter. Kleine Schicksale selbst
erzählt in Schreiben an den Papst.
C. H. Beck, München 2010. 223 S., Fr. 39.90.
Von Geneviève Lüscher
1478 betrat ein Kleriker in Hildesheim
ein Wirtshaus, um ein Bier zu trinken.
Da sitzen einige Würfelspieler am
Küchenfeuer und spielen um Geld. Sie
laden den Kleriker ein, sich zu ihnen zu
setzen, was dieser gerne tut. Dann laden
sie ihn ein mitzuspielen. Auch das tut er.
Er gewinnt einen Gulden, von dem der
eine Spieler weiss, dass er falsch ist. Aus
Furcht, der Kleriker könnte dahinter­
kommen, dass er geprellt worden ist,
will der Spieler die Münze zurückhaben
und wendet Gewalt an. Der Kleriker
wehrt sich. Das Handgemenge eskaliert
und hat für den Spieler fatale Folgen.
Die kleine Geschichte berichtet uns
der Mittelalter­Historiker Arnold Esch
in seiner Sammlung von Kürzestge­
schichten, wahren Begebenheiten, die
er im Archiv der Pönitentiarie in Rom
gefunden hat. Dieses vatikanische
Archiv enthält Bittgesuche aus dem Hei­
ligen Römischen Reich an den Papst.
Esch hat sich diejenigen aus dem 15. Jahr­
hundert angesehen und eine thematisch
geordnete Auswahl zusammengestellt.
Die Bittenden hatten in irgendeiner
Form gegen Bestimmungen des Kir­
chenrechts verstossen. Sie baten den
Papst um Absolution oder eine Un­
schuldserklärung. Häufig ging es darum,
dass ein Geistlicher an der Verletzung
oder gar am Tod eines Menschen schul­
dig oder mitschuldig geworden war und
deswegen nicht mehr in der Lage war,
sein Amt auszuüben. Deswegen sind
Kleriker unter den Bittstellern in der
Überzahl, was nicht zum Schluss verlei­
ten darf, die Geistlichkeit sei im Mittel­
alter besonders gewalttätig gewesen.
Die Gesuche umfassen eine Rahmen­
handlung, eine Begründung und eine
ausführliche Schilderung des Tather­
gangs, in denen der Täter sich zu recht­
fertigen sucht. Neben der Tötung oder
der Körperverletzung wird hier berich­
tet von Zölibatsvergehen, vom unrecht­
mässigen Erwerb eines kirchlichen
Amtes, unerlaubten Verlassen oder
Wechsel des Klosters, Nichteinhalten
der Fastenvorschriften, von der Nichter­
füllung eines Gelübdes; pädophile Ver­
gehen hingegen scheinen damals kein
Thema gewesen zu sein.
Die von Esch zusammengetragenen
Fallbeispiele erzählen bisweilen berüh­
rend von ganz persönlichen Problemen,
die am Anfang eines Vergehens stehen,
das sich dann bis zu einem kirchen­
rechtlichen Fall ausweitet. Zur missli­
chen Tat reicht oft ein belangloser
Anlass, eine Banalität. Die Schilderun­
gen winden sich um mehrere Ecken, um
die Rechtfertigung dennoch plausibel
erscheinen zu lassen. Die unwahrschein­
lichsten Zufälle werden möglichst
glaubhaft geschildert, weither geholte
Begründungen zurechtgebogen.
Die Absolution entscheidet über die
Zukunft der meisten Bittsteller. So auch
beim um Geld spielenden Kleriker in
Hildesheim, will er seine kirchlichen
GEMÄLDEGALERIE SMB / BPK
Absolution für Mord
im Mittelalter
Das mitunter
schwierige Leben
des einfachen Volkes
im Mittelalter,
dargestellt von
Pieter Bruegel, 1559.
Pfründen nicht verlieren. Seine Schilde­
rung des Tathergangs – hat der Spieler
wirklich mit falschem Geld gespielt? –
ist allerdings nicht überprüfbar, hat die­
ser doch, wie in den meisten Fällen,
wohl nicht überlebt.
Leider reduziert Esch die Vorfälle oft
auf sehr wenige Sätze, die eigentliche
Tat wird nicht beschrieben, und der
Fortgang der Geschichte bleibt im Dun­
keln. Nur selten erfährt der Leser den
Entscheid der Kurie. Vielleicht wären
weniger Fälle, dafür diese ausführlicher,
mehr gewesen. Dennoch liefert Esch
einen Einblick in mittelalterliche Le­
benswelten, wie es kaum eine andere
Quelle bieten kann. Es sind ganz persön­
liche Schicksal vornehmlich der unteren
Bevölkerungsschichten, die in den tradi­
tionellen Geschichtsquellen nur in Aus­
nahmefällen zu Wort kommen. l
Malerei Der Kunsthistoriker Roberto Zapperi spürt dem Geheimnis um Leonardos Bild nach
Das Rätsel um Mona Lisa bleibt ungelöst
Roberto Zapperi: Abschied von Mona Lisa.
Das berühmteste Gemälde der Welt
wird enträtselt. C. H. Beck, München
2010. 160 Seiten, 16 Farbtafeln, Fr. 34.50.
Von Gerhard Mack
Über das Lächeln von Leonardo da Vin­
cis Mona Lisa haben viele gerätselt. Wer
die schöne Dame ist, die der Künstler
vor einer Flusslandschaft dargestellt
hat, gibt regelmässig Stoff für Diskussio­
nen. Die meisten Forscher folgen Gior­
gio Vasari, der in seinen Künstlerviten
die Frau des Florentiner Seidenhändlers
Francesco del Giocondo nennt, von dem
man weiss, dass er Leonardo mit einem
solchen Bildnis beauftragt, es aber
offenbar nie erhalten hat.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
Dieser Ansicht widerspricht nun
der italienische Kunsthistoriker Roberto
Zapperi. Er legt die Widersprüche der
Quellenlage offen und bewertet eine
Aussage neu, die Leonardo selbst gegen­
über dem Kardinal d’Aragona gemacht
haben soll, als dieser ihn 1517 in Frank­
reich besuchte: Giuliano de’ Medici sei
der Auftraggeber gewesen.
Zapperi zeigt sich als akribischer, bis­
weilen spitzfindiger Rechercheur. Er er­
zählt, wer der jüngste Sohn von Lorenzo
de’ Medici, dem Prächtigen, war und
wie er nach der Vertreibung der Familie
aus Florenz am Hof von Urbino eine
Hofdame schwängerte, die vermutlich
Pacifica Brandani hiess. Aus der Affäre
ging ein Sohn hervor, den er Ippolito
nannte und nach Rom bringen liess, wo
er unter dem Schutz seines Bruders, des
Papstes Leo X., ein prunkvolles Leben
führte. Der kleine Sohn fragte nach sei­
ner Mutter, doch diese war inzwischen
verstorben. Giuliano konnte ihm das
nicht erzählen, aber er war damals der
Förderer Leonardos und bat diesen,
ein Frauenbildnis zu malen, das Liebe,
Trost und Melancholie verbindet: «La
Joconda», die Trösterin. Die einstige
Geliebte konnte der Auftraggeber bes­
tenfalls vage beschreiben.
Ob der Künstler das angefangene
Bildnis der Florentinerin Gioconda her­
vornahm und ihm eine Landschaft hin­
zufügte, ob er eine Phantasiegestalt als
Idealbildnis erfand oder sonst ein Vor­
bild vor Augen hatte, kann auch Zapperi
nicht sagen. Er fügt den Geschichten um
das Gemälde eine farbige, neue hinzu.
Die Gioconda behält ihr Geheimnis. l
Zweiter Weltkrieg Eine neue Guisan­Biografie trifft Wesen und Wirken des legendären Generals,
nutzt diesen aber als geschichtspolitisches Vehikel
Heimatroman und Militärkrimi
Widerstand nach Schweizerart. Stämpfli,
Bern 2010. 247 Seiten, Fr. 49.–.
Von Fritz Trümpi
Welchen Grossvater hat man nicht
schon einmal über Henri Guisan reden
hören? Meiner beispielsweise war
Anfang der 1940er Jahre Rekrut, der
eines Abends Wache schob, als unver­
hofft der General aus der Dunkelheit
auftauchte und mit dem jungen Bank­
kaufmann eine kurze Plauderei über
dessen Zukunftspläne lostrat – mein
Grossvater sollte das Gespräch seiner
Lebtage nicht mehr vergessen. Ob die­
ses tatsächlich so stattgefunden hat, wie
es dem geschichtsinteressierten Enkel
vermittelt wurde, bleibe dahingestellt.
Fest steht aber, dass General Guisan in
der grossväterlichen Erzählung zum
Mythos der personifizierten Gerechtig­
keit, egalitären Kameradschaftlichkeit
und patrizischen Geistesgrösse in einem
verklärt wurde.
Populärer General
Markus Somm, stellvertretender Chef­
redaktor der «Weltwoche» und Autor
einer soeben erschienenen Guisan­Bio­
grafie, bestätigt diese Wirkung – eine
Wirkung, die vom General sowohl auf
die Soldaten als auch auf den Rest
der Bevölkerung ausging: «Echt schien
Guisans Interesse, reell seine Wärme.
Die Distanz des distinguierten, aber für­
sorglichen Patrons: Es war die Rolle sei­
nes Lebens.»
Tatsächlich war mit der Wahl des
65­jährigen Oberstkorpskommandanten
Henri Guisan zum General und Ober­
befehlshaber der Schweizer Armee am
30. August 1939 eine Person in Amt und
Würden gesetzt worden, die das Gesicht
der Schweiz während sechs Kriegsjah­
ren massgebend prägen sollte: Guisan
war so populär wie kaum je eine andere
Figur des öffentlichen Lebens in der
Schweiz. Doch das ist lange her. Vor 50
Jahren ist der einstige General in seinem
Wohnsitz Pully gestorben, und seither
ist auch sein Renommee langsam, aber
sicher am Verwelken.
Dass Markus Somm den Niedergang
des Guisan­Epos bedauert, sei ihm
unbenommen. Dass er versucht, den
Spiess umzudrehen und für General
Guisan einen Platz im Olymp der helve­
tischen Lichtgestalten zurückzuerobern,
erscheint im Laufe der Lektüre der Bio­
grafie indes problematisch. «In zwanzig
Minuten redete sich Guisan in die Ewig­
keit», räsoniert Somm etwa in Bezug auf
Guisans Rütli­Rapport, während er den
General an anderer Stelle «in die
Unsterblichkeit aufgestiegen» wähnt
und ihn sogar als «Liebling der Götter»
bezeichnet. Zuschreibungen dieser Art
lassen kritische Bemerkungen über
Henri Guisan
(1874–1960) als
junger Offizier an
einem Springreiten
1902 in Bière.
Am 30. August 1939
wurde er zum General
der Schweizer
Armee gewählt.
Guisans Wesen und Wirken – auch sie
sind bei Somm zu finden – merklich ver­
blassen und entbehren darüber hinaus,
mit Verlaub, einer rein wissenschaftli­
chen Absicht.
Es war in den späten 1980er Jahren, als
Guisan endgültig vom Thron gestossen
wurde. Man muss Markus Somms Arg­
wohn nicht teilen, um der Feststellung als
solcher unumwunden zuzustimmen: Die
Heldenerzählung über Henri Guisan
bricht dort ab, wo sozial­ und wirtschafts­
geschichtliche Fragestellungen zur eid­
genössischen Politik während des Zwei­
ten Weltkriegs einsetzen. Wenn Somm
darin eine Vernachlässigung des Militä­
rischen zu erkennen glaubt, kann dem
leicht entgegengehalten werden: Nicht
die Vernachlässigung des Militärischen,
sondern die Ausweitung des Blicks auf
politische und ökonomische Felder cha­
rakterisiert diesen neuen Zugang zur
Erforschung der schweizerischen Politik
in den 1930/40er Jahren. Dagegen gibt es
wenig einzuwenden. Somm hat die neuen
Ansätze denn auch genau studiert, doch
zieht er ein merkwürdiges Fazit daraus:
Kein anderer geschichtlicher Vorgang sei
dem Zufall so stark unterworfen wie der
Krieg; eben darum müssten Methoden,
mit denen Historiker Strukturen statt
Ereignisse untersuchten, «spektakulär
scheitern».
Aus diesem Grund verlässt sich
Somm lieber aufs Reduit, jene 1940
beschlossene Zusammenziehung der
Verteidigung auf Stellungen in den
Alpen. Denn das Reduit sei handfest und
verkörpere den schweizerischen Wider­
stand gegen Nazi­Deutschland schlecht­
hin: Bei einem Angriff hätte es den
Deutschen immerhin «das Leben schwer
gemacht». Das Reduit sei für die Schwei­
zer Armee im Juni 1940 die einzige und
die beste Möglichkeit gewesen, sich zu
verteidigen: «Aus eigener Kraft sich
wehren zu können: Für das Selbstver­
ständnis eines Landes inmitten der
Katastrophe war das nicht wenig.»
Solche und ähnliche Formulierungen
durchziehen das Buch von Anfang bis
Ende. Von «schweizerischem Eigensinn»
ist da die Rede und von «typischem
Schweizertum». Was also will Somm
eigentlich? Einen Beitrag zur Guisan­
Forschung leisten oder doch eher den
Heimatroman neu beleben? Ein biss­
chen beides, so scheint es.
Vulgärpatriotischer Duktus
Somm zieht seine Guisan­Biografie
gleichsam als Militärkrimi auf. Der über
weite Strecken anekdotische Ansatz,
eine geschickte Dramaturgie des Hand­
lungsverlaufs sowie spannend zu lesende
– bisweilen fingierte – Dialoge und poin­
tierte Porträts von Personen aus Guisans
freund­ wie feindschaftlicher Umgebung
machen die Lektüre des Buches höchst
attraktiv. Das Problem dabei ist, dass
Somms spitze Feder genau das schreibt,
was der schale Patriotismus unserer Tage
so gerne liest: möglichst viel Gutes über
die Schweiz und ihre Bewohner. Ein biss­
chen gar zu viel. Dass Somm mit der
schweizerischen Flüchtlingspolitik unge­
wöhnlich scharf zu Gerichte zieht und es
auch Guisan ankreidet, nichts gegen die
massiven Restriktionen im Flüchtlings­
bereich unternommen zu haben, ändert
am vulgärpatriotischen Duktus des
Buches kaum etwas.
Somm setzt mit seiner Guisan­Biogra­
fie weniger ein wissenschaftliches denn
ein geschichtspolitisches Zeichen. Damit
aber erliegt er jener Versuchung, die er
seinen Historikerkollegen am entgegen­
gesetzten politischen Pol immer wieder
vorwirft: sich für parteipolitische Zwe­
cke instrumentalisieren zu lassen. l
PHOTOPRESS / KEYSTONE
Markus Somm: General Guisan.
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Nationalsozialismus Nach eher verklärenden Darstellungen zeichnet eine neue Biografie über
Sophie Scholl erstmals ein widersprüchliches Bild der Widerstandskämpferin
Die Weisse Rose trägt Stacheln
Barbara Beuys: Sophie Scholl.
Biografie. Carl Hanser, München 2010.
496 Seiten, Fr. 42.90.
Am 18. Februar 1943 kurz vor elf Uhr
vormittags nimmt Sophie Scholl einen
Stapel Flugblätter und wirft ihn kurzer­
hand vom zweiten Stock der Münchner
Universität in den Lichthof. Zufälliger­
weise sieht der Hausschlosser, wie die
Blätter mit dem Aufruf zum Widerstand
gegen Hitler nach unten segeln, und eilt
nach oben, wo Hans Scholl gerade die
restlichen Flugblätter über die marmor­
ne Brüstung schleudert. Dann geht alles
sehr schnell. Die Geschwister werden
verhaftet, angeklagt; später verurteilt
und gleichentags hingerichtet.
Jahre später wurde entdeckt, dass
Sophie auf die Rückseite ihrer Akte das
Wort «Freiheit» geschrieben hatte. Da
war sie bereits eine Ikone der deutschen
Geschichte. Die meisten Autorinnen,
Biografen und Filmemacher konzen­
trierten sich in den zahlreichen Werken
über die deutsche Widerstandskämpfe­
rin auf deren letzten dramatischen Tag.
Barbara Beuys nimmt im Gegensatz
dazu das ganze Leben in den Blick: das
humanistischen Idealen verpflichtete
Elternhaus; die Beziehungen zu Freun­
den und Geschwistern; die Lektüre;
der Aufstieg vom einfachen Mitglied
des Bundes deutscher Mädchen (BDM)
zur Scharführerin; die Ausbildung zur
Kindergärtnerin; das Studium der Philo­
sophie und schliesslich die Abwendung
von der Hitlerjugend und das Engage­
BEATRICE BOENINGER / PRIVATBESITZ SUSANNE ZELLER-HIRZEL
Von Ina Boesch
Neue Facetten über
das Leben von Sophie
Scholl (1921–1943),
hier um 1937.
ment in der Widerstandsgruppe «Die
Weisse Rose». Erst im letzten Fünftel
des Buches geht es um die Zeit zwischen
dem Sommer 1942, als die ersten Flug­
blätter der Gruppe auftauchten, und
dem tragischen Ende im Februar 1943.
Fülle von neuem Material
Für diese «erste umfassende Biografie»
über Sophie Scholl konnte Beuys erst­
mals den Nachlass der Familie im
Münchner Institut für Zeitgeschichte
einsehen. Ihr Historikerherz muss ange­
sichts der Fülle und der Qualität des
Materials höher geschlagen haben: beim
Entziffern der Tagebücher und Briefe,
die Inge Aicher­Scholl, eine Schwester,
während Jahrzehnten mit viel Akribie
und Energie bei Familienmitgliedern
und ehemaligen Weggefährten ihrer
jüngeren Geschwister aufgetrieben
hatte. Beuys war die Erste, die beispiels­
weise die Brautbriefe zwischen Vater
Robert, einem liberalen Steuerberater,
und der um zehn Jahre älteren Mutter
Lina, einer strenggläubigen Diakonissin,
auswerten durfte. Ebenso das bisher
unbekannte Tagebuch von Inge Aicher­
Scholl. Diese hielt es nicht für nötig, das
reichhaltige Material selbst zu verarbei­
ten, schliessslich hatte sie mit ihrem
Buch «Die Weisse Rose», 1952 erschie­
nen und seither vielfach neu aufgelegt,
das Bild von Sophie Scholl geprägt:
verklärend und Legenden bildend. Fast
fünfzig Jahre lang bildete Inges Werk
das Fundament für die Scholl­Rezep­
tion, die nun mit Beuys’ Biografie end­
lich eine Korrektur erfährt.
«Ein lebendiger Mensch kommt zum
Vorschein, wo bisher ein Denkmal auf­
gerichtet war», erklärt die Autorin. Ein
Mensch mit Widersprüchen. So belegt
Beuys beispielsweise anhand des Tage­
buchs von Inge, dass Sophies Begeiste­
rung für die Hitlerjugend erstens viel
heftiger war und zweitens viel länger
anhielt als bisher angenommen. Auf der
einen Seite finden sich 1938 erste negati­
ve Äusserungen über die nationalsozia­
listische Politik und Ideologie – zwar
nicht zu den damals stattfindenden
Pogromen, doch zur Schule, einem
«Gebäude mit braunen Scheiben» –, und
im selben Jahr legte sie ihr Amt als Grup­
penführerin nieder. Auf der anderen
Seite besuchte sie bis 1941 jeweils mitt­
wochs sogenannte BDM­Heimabende.
Warum ein gutes Jahr später aus der
Wirtschaftspioniere Der Schweizer Weg zur Unabhängigkeit von ausländischen Salzlieferanten
Geburt der Rheinsalinen
Bernhard Ruetz: Carl Christian Friedrich
Glenck, 1779–1845. Schweizerhalle.
Reihe «Pioniere». Verein wirtschafts­
historische Studien, Zürich 2009.
96 Seiten, Fr. 25.–.
Von Charlotte Jacquemart
Der strenge und lange Winter hat die
Reserven an Auftausalz, das für den
Winterdienst genutzt wird, fast überall
vollständig aufgezehrt. In der Schweiz
wird es von der Saline Riburg geliefert.
Bis 300 000 Tonnen können jährlich
bereitgestellt werden. Riburg gehört zu
den Schweizerischen Rheinsalinen, die
1909 gegründet wurden. Von den ur­
sprünglich vier erfolgreichen Salinen
auf Schweizer Boden ist neben Riburg
bis heute nur noch Schweizerhalle er­
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
halten geblieben. Die Gründung der
«Vereinigten Schweizerischen Rheinsa­
linen» vor genau 100 Jahren bedeutete
das Ende der «schwersten Stürme in der
Schweizer Salzpolitik». Wie sehr diese
in den über 100 Jahren zuvor vom «Kan­
tönligeist» und ausländischer Konkur­
renz beeinflusst worden ist, erzählt
Bernhard Ruetz in seinem Buch anläss­
lich des 100. Geburtstags der Rheinsali­
nen nach. Aus seinen Recherchen ist ein
wie gewohnt sorgfältiges, gefällig be­
bildertes und inhaltlich verlässliches
Büchlein entstanden. Schade nur, ist es
nicht immer ganz einfach, die verschie­
denen Titel der Reihe «Pioniere» in
jeder Buchhandlung zu finden.
Laut Ruetz ist es der Besessenheit
des Deutschen Carl Christian Friedrich
Glenck (1779–1845) zu verdanken, dass
in der Schweiz überhaupt je nach Salz
gebohrt wird. In einem Land ohne
Bergwerktradition sind nicht alle von
Glencks Vorhaben überzeugt. Zwischen
1820 und 1828 bohrt er gleichzeitig in
den Kantonen Bern, Zürich, Wallis und
Schaffhausen wie auch in Deutschland.
Wie viele andere Pioniere steht er
nach einigen glücklosen Bohrjahren vor
dem Ruin – als er 1828 im deutschen
Herzogtum
Her
zogtum Sachsen­Coburg­Gotha end­
lich fündig wird. Die finanzielle Aus­
beute der Saline Ernsthalle ermöglicht
es Glenck, die Suche nach Salz in der
Schweiz fortzusetzen. Im Mai 1836 ist es
so weit: Glencks Mannschaft stösst auf
eine sechs Meter dicke Schicht Stein­
salz. Der Grundstein zum erfolgreichen
Schweizer Salzgeschäft und zur spä­
teren Unabhängigkeit von ausländi­
schen Salzlieferanten ist damit gelegt.
Allerdings fällt dem Salzpionier nichts
einst so engagierten BDM­Führerin eine
ebenso engagierte Widerstandskämpfe­
rin wurde, kann jedoch auch Barbara
Beuys nicht schlüssig erklären. Unbeant­
wortet bleibt auch die Frage, weshalb
Sophie, eher eine Nebenfigur der Grup­
pe «Die Weisse Rose», später zur Ikone
des deutschen Widerstands wurde und
nicht ihr Bruder Hans, die treibende
Kraft der Gruppe und eine charismati­
sche Persönlichkeit. Aber sie vermag
uns einen tiefen Einblick in die seeli­
schen Nöte und überraschend reifen
Überlegungen der heranwachsenden
Sophie zu geben – und, nicht minder
wichtig, ein Gefühl für die damalige Zeit.
Tourismusplakate Sehnsuchtsreise in das Herz Europas
Konventionell erzählt
Darüber hinaus erfährt die Leserin viele
unbekannte Details, etwa von der Exis­
tenz eines unehelichen Halbbruders;
von den Schwierigkeiten des Vaters
während seiner Zeit als Bürgermeister;
von der Kinderwelt, die so heil nicht
war; oder von den Aufputschmitteln,
welche die Widerstandskämpfer genom­
men hatten, um die kräftezehrenden
Aktionen zu überstehen. Erhellend auch
die Differenzierung des Frauenbilds, das
ebenfalls diskrepanter war als bis anhin
vermittelt. Es gab nämlich zwei Sophies:
eine, den damaligen Gepflogenheiten
entsprechend, sich bescheiden im Hin­
tergrund haltende Studentin und eine
der Avantgarde verpflichtete, selbstbe­
wusst rauchende, Auto fahrende Frau
mit festem Freund.
All dies erzählt Barbara Beuys zwar
anschaulich, dicht an den historischen
Quellen und belegt mit vielen Zitaten,
doch hierin liegt gerade die Krux
der Darstellung. Offensichtlich ist die
Autorin der Verführung durch die
üppig vorhandenen Dokumente erlegen:
Indem sie das Material schwelgend aus­
breitet, wirkt das Buch ab und an langat­
mig, und weil sie teils minutiös Tag für
Tag die Aktionen der Gruppe rekonstru­
iert, droht der grosse Bogen verloren zu
gehen. Die Biografin der konventionell
erzählten Lebensgeschichte strebte eine
Vollständigkeit an, die illusorisch ist. l
in den Schoss. Die Kantonsregierungen
sind ihm nicht alle wohlgesinnt; ab 1850
beginnt ein ruinöser Preiskampf.
Glencks unternehmerisches Verdienst
geht über die Salzproduktion hinaus:
Die Gründung der Saline Schweizerhal­
le löst in den Basler Vorortsgemeinden
einen eigentlichen Industrialisierungs­
boom aus. Bis heute trägt das daraus
entstandene Industriegebiet den Namen
Schweizerhalle. Weil Salz ein wichtiger
Rohstoff ist für die chemische Industrie
(so bei Farben und Düngemitteln), ist
die Gründung der «Chemischen Fabrik
Schweizerhall» nur die logische Folge.
Über die Gründung der Schweizeri­
schen Rheinsalinen 1909 hinaus werden
die Nachkommen des Deutschen Glenck
die Geschicke des Schweizer Salzge­
schäftes noch eine längere Zeit mitbe­
stimmen. l
Der Besucher ist berührt von der Gastfreundlichkeit,
der Sauberkeit, der Ordentlichkeit der Verhältnisse.
Er findet ein Höchstmass an landschaftlicher
Schönheit, Ruhe, Erholung. Den Reiz einer Bahnfahrt
über ein kühn geschwungenes Viadukt. Altes
Brauchtum in farbenprächtigen Kostümen.
Im frühen 20. Jahrhundert galt die Schweiz als das
Ferienland, «eine Synthese des Besten, was Europa zu
geben hat». Kurorte wie St. Moritz, Gstaad, Ascona
und Crans-Montana waren begehrte Destinationen.
Die Altstadt von Bern, die Schwebebahn auf den
Säntis, die Luzerner Kapellbrücke – Juwelen des
Tourismus. Ein wunderbar gestalteter, grossformatiger Bildband des jungen Zürcher Verlags
Walde + Graf lädt zur nostalgischen Schweizer Reise
ein, von Basel bis Lugano, von Genf bis an den
Bodensee. Eine Reise anhand der schönsten und
bekanntesten Tourismusplakate der 1920er bis
1950er Jahre. Gestaltet von den Grossen der
schweizerischen Plakatkunst wie Otto Baumberger,
Emil Cardinaux, Hans Erni und Karl Bickel – von ihm
stammt das Plakat zur Eröffnung des Strandbads
Zürich (siehe Bild). Und begleitet von Texten aus
alten Fremdenverkehrsführern. Urs Rauber
Tour de Suisse. Eine
nostalgische Reise zu den
schönsten Plätzen
der Schweiz. Texte von
Eugen Fodor u. a. Plakate
aus der Sammlung des
Museums für Gestaltung
Zürich sowie der Basler
Plakatsammlung.
Walde + Graf, Zürich
2010. 144 Seiten,
74 Farbabbildungen,
Fr. 68.–.
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Politkunst Der Schauspieler und Sänger Ernst Busch war eine Kultfigur der westdeutschen
Linken und in der DDR
Singen gegen den Faschismus
Jochen Voit: Er rührte an den Schlaf der
Welt. Ernst Busch. Die Biografie. Aufbau,
Berlin 2010. 515 Seiten, Fr. 42.90.
Wer kennt noch den Schauspieler Ernst
Busch (1900–1980), den Moritatensän­
ger aus dem «Dreigroschenoper»­Film,
der mit seiner metallischen Stimme und
mit durchdringender Diktion Brechts
«Einheitsfrontlied» sang, der mit seinen
Liedern aus dem Spanischen Bürger­
krieg, Johannes R. Bechers «Lenin»­
Hymne und dem «Lied der Partei» zur
sozialistischen Ikone wurde? Für all
jene, die ihn nicht kennen oder ihn zu
kennen glauben, gibt es nun einen
Grund, sich (erneut) mit ihm zu beschäf­
tigen: Jochen Voit, ein freischaffender
Journalist, der über Busch promovierte,
hat eine ausgezeichnete Biografie des
Sängers und Schauspielers geschrieben,
die durch ihre pointierte und anschau­
liche Darstellung zu bannen vermag:
Mit sicherer Hand schlägt Voit im
Dickicht der zahlreichen Busch­Legen­
den eine Schneise und führt uns auf
einem durch intensives Quellenstudium
gesicherten Pfad durch das Leben des
Bühnenkünstlers.
Mit Voits Buch tauchen wir ein ins
brodelnde Berlin der Weimarer Repu­
blik, erleben, wie dem jungen Schau­
spieler der Sprung an die linksradikale
Piscatorbühne gelang und wie er schon
bald im Kabarett und auf Arbeiterveran­
staltungen als Interpret politischer
Chansons Berühmtheit erlangte, insbe­
sondere mit dem «Seifenlied», einem
DDP IMAGES
Von Andreas Tobler
Die Schauspieler
Ernst Busch und
Hertha Thiele im Film
«Kuhle Wampe»
(1932).
Spottlied auf die SPD, und dem «Stempel­
lied» (1929), einem Arbeitslosensong,
der in Berlin nach der Weltwirtschafts­
krise zu einem Gassenhauer wurde. Mit
dem Aufstieg der Nazis wurde Hanns Eis­
lers «Der heimliche Aufmarsch» (1931)
zu Buschs Paradestück: Obwohl zu die­
sem Zeitpunkt nicht Parteimitglied, liess
Busch mit diesem Lied auf KPD­Kundge­
bungen und Matineen – gemäss Erich
Weinerts Liedtext – «aus den Trümmern
der alten Gesellschaft die sozialistische
Weltrepublik» entstehen, und er erhob
seine Stimme gegen die Faschisten:
«Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre /
nehmt die Gewehre zur Hand! / Zer­
schlagt die faschistischen Räuberheere, /
setzt alle Herzen in Brand.»
Damit war Buschs weiterer Lebens­
weg vorgezeichnet: Nach der «Machter­
greifung» ging er ins Exil und zog 1937
in den Spanischen Bürgerkrieg, wo
er «traurig­trotzige Monumente der
internationalen Solidarität» auf Platte
sang, aber – so Voit – wohl keine wirk­
liche Waffe im Kampf gegen Franco
war. Mit seinen weiteren Lebenssta­
tionen – der Verhaftung im Mai 1940 in
Antwerpen und der Inhaftierung bis
Kriegsende durch die Nazis – verkör­
perte Busch nach dem Ende des
Krieges den antifaschistischen Schick­
salsweg, der ihn in der DDR, wo er
lebte, und in der Sowjetunion zu einem
Volkshelden werden liess.
Obwohl ein Held und obwohl er mit
der Einspielung von Louis Fürnbergs
grässlichem «Lied der Partei» – «Die
Partei, die Partei, die hat immer recht»
– eigentlich als der linientreueste Sän­
ger der DDR hätte gelten müssen, hatte
Busch wiederholt Konflikte mit der
Partei auszutragen und mit seinen
Zweifeln am SED­Staat zu kämpfen,
was Voit unter anderem daran zeigen
kann, dass Busch nach dem Volksauf­
stand vom 17. Juni 1953 sein Parteibuch
wegwarf, als «Sänger des Volkes» ver­
stummte und sich wieder ganz dem
Theater zuwandte.
Dabei blieb es jedoch nicht. Wie Voit
in seiner stets fair bleibenden Lebens­
geschichte zeigt, liess sich Busch knapp
ein Jahrzehnt nach dem Aufstand von
1953 vom Regime wieder umgarnen,
rechtfertigte im November 1976 Wolf
Biermanns Ausbürgerung und verkam
im Alter durch die ständige Wieder­
holung und Neueinspielung seiner
alten Hits allmählich zu einer «sozialis­
tischen Jukebox». l
Stalinismus Aufzeichnungen einer österreichischen Ärztin über ihren Albtraum im Lager
Wie man den Gulag überlebt
Angela Rohr: Der Vogel.
Gesammelte Erzählungen und
Reportagen. Hrsg. Gesine Bey.
Basisdruck, Berlin 2010. 300 S., Fr. 32.–.
Von Stefan Howald
Sie treffen einen mit unverminderter
Wucht, diese Aufzeichnungen aus dem
stalinistischen Gulag: Frauen in über­
füllten Räumen elend zusammenge­
pfercht, Hunger, Dreck, Gewalt und
gezielten Demütigungen ausgesetzt, in
einem Kampf ums Überleben, der kaum
Mitgefühl zwischen den Gefangenen
zulässt.
Angela Rohr wurde 1941 verhaftet,
verbrachte elf Jahre in Gefängnissen
und Lagern sowie fünf weitere Jahre als
Ärztin in der sibirischen Verbannung.
Doch gab es andere Leben der Angela
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
Rohr, bevor sie 1925 nach Moskau kam
und fünfzehn Jahre später im Gulag ver­
schwand.
1890 in Mähren als Angela Müllner
geboren, in Wien eingeschult, betrieb
sie autodidaktische medizinische Stu­
dien in Paris und veröffentlichte in Ber­
lin in der expressionistischen Zeitschrift
«Die Aktion» als Angela Hubermann
erste Texte. Ab 1915 verkehrte sie in
Zürich in der Dada­Szene; später wurde
sie als Angela Guttmann von Rilke hoch
geschätzt. Nach Berlin zurückgekehrt,
bildete sie sich dank einem Stipendium
von Sigmund Freud psychoanalytisch
weiter. 1925 reiste sie mit ihrem dritten
Mann, August Rohr, nach Moskau, arbei­
tete als Journalistin, dann als Ärztin.
1941 wurde sie während der höchsten
stalinistischen Paranoia inhaftiert. 1957
rehabilitiert, lebte sie in Moskau mit
einer kleinen Rente, bekannt für ihre
nachbarschaftliche ärztliche Hilfe. Teile
ihrer 1960 verfassten Aufzeichnungen
erschienen 1989, fünf Jahre nach ihrem
Tod, unter einem Pseudonym.
1992 wurden anlässlich einer Zürcher
Rilke­Ausstellung Angela Hubermann
und Angela Guttmann als dieselbe Auto­
rin identifiziert. Erst die deutsche Ger­
manistin Gesine Bey aber hat all diese
verschiedenen Namen und Existenzen
zu einem ebenso phantastischen wie
erschütternden Lebenslauf zusammen­
geführt. Sie präsentiert Rohrs frühe
expressionistische Prosa neben den
Reportagen aus Moskau, für die «Frank­
furter Zeitung» zwischen 1928 und 1933
verfasst, und den Aufzeichnungen aus
dem Gulag. Diese suchen immer wieder
Distanz, einen eigenwilligen Blick,
ungewöhnliche Beschreibungen für den
Albtraum der Haft. Dadurch wird das
Grauen umso eindringlicher. l
Nachlass In ihren Tagebüchern zeigt Susan Sontag unbändige geistige Neugier und den festen
Willen, Schriftstellerin zu werden
«Weniger lächeln,
täglich baden!»
müsste.» Hier ist sie, die Selbstentblös­
sung, die der Sohn so fürchtet. Denn
neben ihrer Homosexualität suchte Son­
tag zeitlebens eines zu verbergen: ihren
Ehrgeiz.
Von 1950, als Sontag mit 17 in Chicago
zu studieren begann und heiratete, bis
1956, als ihr Sohn David 4 Jahre alt war,
sind die Tagebücher dünn. Mit dem
wachsenden Willen, auszubrechen aus
der sterilen Idylle der Fifties, werden sie
voller: 1957 kommt der Sohn zu den
Grosseltern und Sontag reist mit einem
Stipendium nach Oxford, stürzt sich
dann in die Pariser Bohème und ins
Unglück lesbischer Affären. Nach der
Rückkehr verlässt sie ihren Mann und
zieht mit Sohn und Freundin nach New
York, um endlich jenes Leben einer frei­
en Schriftstellerin zu führen, von dem
sie schon mit 14 träumte.
Susan Sontag: Wiedergeboren.
Tagebücher 1947–1963. Hanser,
München 2010. 380 Seiten, Fr. 42.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Altkluge Kühnheit
Nicht peinlich, sondern erstaunlich sind
schon die Notate des intellektuellen
Wunderkindes, das mit 15 André Gide
und Thomas Mann verschlingt, Dosto­
jewski, T. S. Eliot oder auch mal Oswald
Spengler. Dass sie die Entdeckung der
eigenen Homosexualität und die erste
lesbische Affäre in Selbstzweifel und
Liebeskummer stürzten, ist da geradezu
beruhigend. Und wenn die junge Susan
nach einer Nacht in den Transvestiten­
bars von San Francisco schreibt: «Jetzt
fängt alles an – ich bin wiedergeboren»,
kann man die altkluge Kühnheit dieses
Teenagers nur bewundern. «Sex mit
Musik – wie intellektuell!», notiert die
16­Jährige.
Ein Jahr später findet der berühmte
Besuch bei Thomas Mann statt, den sie
später in einem eigenen Essay ge­
schildert hat. Im Tagebuch steht nun die
Rohfassung ihrer Begegnung mit dem
Idol: Er hatte ein «sehr beherrschtes
Allerweltsgesicht, wie auf den Fotos».
Schon mit 16 stellt sie lange Listen
von Büchern auf, die sie unbedingt lesen
will oder besser: lesen «muss». Sie wer­
den immer wieder kommen, diese Listen
Gier nach Bildung
RENATE SAINT PAUL / RUE DES ARCHIVES
Schon die dramatische Eröffnung ver­
weist auf die Intellektuelle, die sie wer­
den sollte: «Ich glaube: a) dass es kei­
nen persönlichen Gott und kein Leben
nach dem Tod gibt, b) dass es im Leben
nichts Erstrebenswerteres gibt als die
Freiheit, sich selbst treu zu sein, d. h. die
Ehrlichkeit, c) dass Menschen sich allein
durch ihre Intelligenz unterscheiden.»
So schreibt Susan Sontag als noch nicht
15­jährige High­School­Schülerin in Los
Angeles.
Mit diesem Fanfarenstoss lässt David
Rieff, Susan Sontags Sohn, die Tagebü­
cher seiner Mutter beginnen. Fast 100
Notizbücher fanden sich nach Sontags
Tod Ende 2004 in ihrem Schrank, das
erste hatte sie mit 13 Jahren begonnen.
Sie sollten, wie ihr gesamter Nachlass,
an die University of California gehen
und dort frei zugänglich sein. Widerwil­
lig und nur um fremden Augen zuvorzu­
kommen, entschloss sich der Sohn zu
einer stark gekürzten und redigierten
Herausgabe. Sein Vorwort zum ersten
von drei geplanten Bänden stellt eine
einzige Warnung dar vor der «Selbstent­
blössung» der Mutter, die dem Sohn
offenbar höchst peinlich ist.
von Büchern, aber auch von Wörtern,
Jahreszahlen oder Dadaisten. Später
kommen Filme hinzu. Ein Heft von 1961
soll einzig die Filme verzeichnen, die
Sontag in jenem Jahr sah, wie uns der
Herausgeber wissen lässt: Meist war es
einer, oft zwei pro Tag, nie vergingen
mehr als vier Tage ohne Kinobesuch.
Selbst die Selbstkritik wird in Listen
erfasst: Bessere Haltung, weniger
lächeln, täglich baden, befiehlt sie sich
über all die Jahre hinweg immer wieder.
Vor allem befiehlt sie sich zu schrei­
ben. «Mindestens zwei Stunden schrei­
ben am Tag», ermahnt sie sich. Oder:
«Schreiben lernt man, indem man
schreibt.» Oder: «Von jetzt an jeden
Blödsinn aufschreiben.» Oder: «Nur die
Faulheit hindert mich daran, Schriftstel­
lerin zu sein.» Schliesslich, mit 24 Jah­
ren, fragt sich Sontag: «Warum ist mir
das Schreiben wichtig?» Und antwortet:
«Weil ich diese Figur, die Schriftstelle­
rin, sein will und nicht, weil es irgendet­
was gäbe, das ich zum Ausdruck bringen
Susan Sontag
(1933–2004), amerikanische Essayistin
und Feministin
war getrieben vom
Ehrgeiz, Schriftstellerin zu werden.
Hier in den 1960er
Jahren.
Sontag selbst verzeichnet diese biogra­
fischen Ereignisse nur spärlich – als Ein­
stieg in Leben und Werk sind diese
Tagebücher denkbar ungeeignet. Dass
sie bereits 1961 in hochrenommierten
Zeitschriften publizierte, dass 1963 ihr
erster Roman erscheint – im Tagebuch
erfährt man nichts davon. Schon gar
nicht lässt sich aus diesen selbstquäle­
rischen Notaten erspüren, wie schnell
die schöne junge Susan Sontag im her­
metischen Zirkel der New Yorker Intel­
lektuellen Eingang fand, wo sich ihr gla­
mouröses Image bildete, das sie später
zur Ikone werden liess.
Im Tagebuch – wie sollte es anders
sein – erfährt man die Innensicht des
glamourösen Aussenlebens. Sontag
reibt sich auf im täglichen emotionalen
Durcheinander ihrer Affären, meist mit
Frauen, klagt über Schreibstau, über
schlechten Sex, Migräne und eigene
Unsicherheit. Doch der eigentliche rote
Faden, der sich durch die frühen Jahre
zieht, bleiben ihre Notate zu Büchern,
ihre unersättliche Gier nach Bildung
und Erkenntnis und der geradezu un­
erbittliche Wille, selbst in die Reihe
jener Schreiber aufzurücken, die sie so
bewundert.
Seit ihrer Kindheit in Arizona und
Kalifornien war für Sontag Geist und
Kultur gleichbedeutend mit europä­
ischem Geist und europäischer Kultur.
Und doch erweist sie sich als uramerika­
nisch im felsenfesten Glauben, sich
alleine, frei von jeder Fessel der Her­
kunft, selbst neu erschaffen zu können.
Nicht weil sie schreiben konnte,
beschloss sie, Schriftstellerin zu wer­
den, sondern allein deshalb, weil sie es
wollte. Ganz nach dem amerikanischen
Motto: You can be anything you want. l
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Grafik Ein Ausstellungsbuch stellt den Künstler Anton Stankowski und seine Schweizer Freunde vor
An der Grenze von Kunst und Design
Stankowski-Stiftung (Hrsg.): Ob Kunst
oder Design ist egal – nur gut muss es
sein. Der Kreis um Anton Stankowski.
Ausstellungskatalog. Edition AV,
Ludwigsburg 2010. 160 Seiten, Fr. 49.50.
Von Marc Peschke
Wie nah sich Kunst und Design
manchmal kommen können, zeigt eine
Ausstellung, die vom 2. Mai bis 7. Juli
2010 im Museum Wiesbaden und
danach in der Kunsthalle Göppingen
zu bewundern ist. Sie trägt den Titel
«Ob Kunst oder Design ist egal – nur
gut muss es sein. Der Kreis um Anton
Stankowski».
Präsentiert wird der Kreis um Anton
Stankowski, dessen konkret­konstruk­
tivistisches Werk sich beispielhaft an
der Grenze von Kunst und Design ent­
wickelt und ebendiese überwinden
konnte. Stankowski, 1906 als Gelsen­
kirchener Bergmannssohn geboren,
1998 verstorben, machte keinen Unter­
Nach dem Krieg siedelte sich Stan­
kowski in Stuttgart an – und auch hier
findet er schnell Künstlerkollegen, mit
denen er in engem Austausch steht: Willi
Baumeister und Max Bense, aber auch
Egon Eiermann, Karl Duschek, Rupprecht
Geiger und Otl Aicher. In Kurzbiografien
und einführenden Texten werden auch
sie vorgestellt, genauso wie die Preisträ­
ger der Stankowski­Stiftung, zu denen
etwa Almir Mavignier oder der US­Mini­
malist Donald Judd gehören.
Ihre Kunst ist sehr unterschiedlich:
Sie schreiben konkrete Poesie, gestalten
Plakate wie etwa Willi Baumeister, sie
malen, zeichnen oder entwerfen Möbel
– und haben dabei doch eines gemein­
sam: Sie alle waren Freunde von Anton
Stankowski und haben in mal loserer,
mal engerer Zusammenarbeit mit ihm
ihr Werk weiterentwickelt. Und sie alle
sind leuchtende Beispiele für die Wech­
selwirkung von freier und angewandter
Kunst – der man jetzt in den Ausstellun­
gen in Wiesbaden und Göppingen oder
im Katalogbuch nachspüren kann. l
schied zwischen freier und angewand­
ter Kunst: Der Absolvent der Essener
Folkwangschule arbeitete als Grafiker
für avancierte Werbeagenturen wie
etwa jene von Max Dalang in Zürich,
doch immer auch als freier Künstler,
wie es auch seine drei Dutzend Künst­
lerfreunde taten.
Die Verbindungen von Stankowskis
Werk zu jenem seiner Freunde sind
vielfältig: Er arbeitete mit Bauhaus­
Künstlern wie Max Bill oder Josef
Albers, wohnte eine Zeit lang mit Her­
bert Matter zusammen, der heute als
Begründer des modernen Fotoplakats
gilt und in den 30er Jahren in den USA
für Zeitschriften wie «Vogue» oder
«Harper’s Bazaar» fotografierte, um
später im Büro von Ray und Charles
Eames zu arbeiten. Das Buch stellt sie
alle in Bildern und Texten vor, Bekann­
te und eher Unbekannte wie den
Schweizer Grafiker Heiri Steiner – auch
er ein Beispiel für die Modernität der
Schweizer Gestalter in der ersten Hälf­
te des 20. Jahrhunderts.
Das amerikanische Buch Idee von der weissen Überlegenheit schwindet
Painter spannt eine breite Leinwand
auf, die von der Antike über die deut­
sche Klassik und die Blütezeit der
Eugenik vor dem Zweiten Weltkrieg bis
in die Gegenwart reicht. So schildert
die «History» in Mitteleuropa Vertrau­
tes wie den epochalen Irrtum von
Johann Joachim Winckelmann, der aus
den römischen Marmorkopien (tat­
sächlich bunt bemalter) griechischer
Statuen schloss, Weiss sei das Schön­
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. April 2010
GRETA PRATT / AGENCE VU / KEYSTONE
Physiognomiker wie Blumenbach und
den Schweizer Philosophen Johann
Caspar Lavater fest: Weisse Kaukasier
haben die schönsten Schädel.
Strassenszene in New
York, wo der weisse
Banker und der
farbige Bauarbeiter
noch immer typisch
sind. Historikerin Nell
Irvin Painter (unten).
ROBIN HOLLAND
«Rasse ist keine Tatsache, sondern eine
Idee.» Mit dieser Feststellung beginnt
Nell Irvin Painter ihre kulturgeschichtli­
che Studie The History of White People
(W. W. Norton, 496 Seiten). Die emeri­
tierte Princeton­Historikerin betont,
sie betrete damit noch kein Neuland:
Dass sich Menschen über ihre Haut­
farbe keinesfalls fixen «Rassen» mit
spezifischen Eigenarten zuordnen las­
sen, habe um 1900 bereits der Anthro­
pologe Franz Boas erkannt. Im Jahr
2000 trieben Genforscher laut Painter
«den längsten Nagel in den Sarg rassis­
tischer Irrlehren», als sie nachwiesen,
dass das menschliche Erbgut quer
durch alle Völker und Stämme zu 99,9
Prozent übereinstimmt. Aber bis heute
fehlte in Painters Augen eine Studie,
die einem breiten Publikum die Ent­
wicklung der Ideen auseinandersetzt,
die sich in Amerika hinter dem Rassen­
begriff «Weiss» verbergen. Mit ihrer
«History» erfüllt Painter diese Aufgabe
bravourös. Ihr Buch wird vielerorts
freundlich rezensiert, und die 68­jäh­
rige Historikerin ist derzeit häufig im
US­Fernsehen zu erleben, wobei sie
durch Humor und Selbstbewusstsein
überzeugt.
heitsideal der alten Athener gewesen.
Daneben hebt Painter gerne verschwie­
gene Passagen bei amerikanischen Geis­
tesgrössen wie Ralph Waldo Emerson
(1803–1882) hervor, aus deren Werk Ver­
achtung nicht nur gegen Asiaten und
Schwarze trieft, sondern die ausgerech­
net die blasshäutigen Iren als von Natur
aus primitiv und minderwertig darstel­
len. Vor diesem Hintergrund erläutert
Painter den absurden Dreh, in dem die
weissen, aus dem Kaukasus stammen­
den Sklaven mediterraner Kulturen zur
Verkörperung der rassischen Über­
legenheit weisser Sklavenhalter in Ame­
rika wurden. Winckelmanns
Zeitgenosse Johann Friedrich Blumen­
bach (1752–1840) prägte den Begriff
«kaukasisch» für die weisse Rasse und
wollte anhand zahlloser Schädelver­
messungen beweisen, dass Tscherkes­
sen und Georgier dem Idealmass
altgriechischer Köpfe am nächsten
kamen. Auch wenn sie selbst nie das
Schwarze Meer besuchten, so stand für
Von den Genforschern inspiriert, hat
Painter gut zehn Jahre lang an der «His­
tory» gearbeitet. Währenddessen fand
sie Gelegenheit, ein Buch über die
Rolle der Kunst in der Entwicklung
afroamerikanischer Identitäten zu
schreiben: Creating Black Americans
(Oxford University Press 2005,
480 Seiten). Tatsächlich hat sie als
stolze Tochter einer gutbürgerlichen,
afroamerikanischen Familie aus Texas
ihre akademischen Lorbeeren mit Ar­
beiten über die Geschichte der Schwar­
zen in den USA verdient. Dass die über
Jahrhunderte auch von farbigen Mino­
ritäten fraglos akzeptierte Überlegen­
heit der weissen Amerikaner heute auf
dem Prüfstand einer schwarzen Histo­
rikerin steht, darf bereits als Indiz dafür
verstanden werden, dass die Bedeutung
der Rassen­Idee im amerikanischen
Alltag rapide schwindet. Painter be­
schreibt diese Entwicklung als sukzes­
sive Ausdehnung des Begriffs Weiss
von den angelsächsischen Eliten über
Iren und Italiener auf jüdische und nun
lateinamerikanische Immigranten.
Die «History» schliesst mit einer ver­
halten­positiven Note. Obwohl sich ras­
sistische Ideen in den USA nun ebenso
rasch auflösen wie die Rassen­Katego­
rie Weiss, dürften arme Schwarze in
urbanen Elendsquartieren laut Painter
noch lange Zielscheibe einschlägiger
Vorurteile bleiben. l
Von Andreas Mink
Agenda
Geschäftsfrauen Mit der Tupperware-Party zum Erfolg
Agenda Mai 2010
Basel
Sonntag, 9. Mai, 11 Uhr
Dienstag, 18. Mai, 19 Uhr
Arno Geiger: Alles über
Sally. Lesung. Literatur­
Basel, Theaterstrasse 22,
Tel. 061 228 75 36.
THORSTEN JANSEN
Literarischer Stadtrundgang: Basel –
Schreibende Frauen allerorten. Fr. 30.–.
Treffpunkt: vor dem Literaturhaus,
Barfüssergasse 3. Info@literaturspur.ch.
Mittwoch, 19. Mai, 20 Uhr
Helmut Hubacher: Geschichten à la
carte. Buchvernissage, Lesung, Fr. 12.–.
Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 25.
Bern
Mittwoch, 5. Mai, 15 Uhr
RUE DES ARCHIVES
Max Huwyler: Das Zebra ist das Zebra.
Der Autor erzählt. Orell Füssli Buch­
handlung, Westside, Tel. 0848 849 848.
Mittwoch, 19. Mai, 20 Uhr
Welterfolg verhalf. Die Sekretärin und Mutter war im
Nebenjob als Vertreterin von Putzwaren ein Genie.
So entstanden die «Tupperware-Partys». Auf ihrem
Karrierehöhepunkt war Wise Sales-Managerin
eines Millionenunternehmens. Doch als die Zahlen
zurückgingen, entliess sie der oberste Chef.
Ja, die gläserne Decke … Regula Freuler
Claudia Lanfranconi, Antonia Meiners: Kluge
Geschäftsfrauen. Elisabeth Sandmann, München
2010. 152 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 42.90.
Bestseller April 2010
Belletristik
Sachbuch
1 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90.
2 Scherz. 303 Seiten, Fr. 24.90.
3 Heyne. 543 Seiten, Fr. 34.90.
4 Bastei Lübbe. 749 Seiten, Fr. 26.50.
5 Bastei Lübbe. 459 Seiten, Fr. 34.50.
6 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90.
7 Nagel & Kimche. 455 Seiten, Fr. 32.90.
8 Bastei Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90.
9 Kindler. 314 Seiten, Fr. 32.30.
10 Droemer/Knaur. 613 Seiten, Fr. 26.50.
1 Kiepenheuer & Witsch. 259 Seiten, Fr. 26.50.
2
Suhrkamp. 212 Seiten, Fr. 29.90.
3 Stämpfli. 247 Seiten, Fr. 49.00.
4 Rowohlt. 223 Seiten, Fr. 33.90.
5 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90.
6
C. H. Beck. 288 Seiten, Fr. 37.90.
7 Nagel & Kimche. 111 Seiten, Fr. 17.90.
8
Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80.
9 Hoffmann und Campe. 223 Seiten, Fr. 31.90.
10
Goldmann. 397 Seiten, Fr. 27.50.
Martin Suter: Der Koch.
Tommy Jaud: Hummeldumm.
Nicholas Sparks: Mit dir an meiner Seite.
Sarah Lark: Das Gold der Maori.
Cody McFadyen: Ausgelöscht.
William P. Young: Die Hütte.
Milena Moser: Möchtegern.
Dan Brown: Das verlorene Symbol.
David Safier: Plötzlich Shakespeare.
Karen Rose: Todesspiele.
Michael Mittermeier: Achtung Baby!
Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten
Tagebuch.
Markus Somm: General Guisan.
Miriam Meckel: Brief an mein Leben.
Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche.
Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser
Jahrhundert.
Roger de Weck: Nach der Krise.
Eckart von Hirschhausen: Glück kommt
selten allein.
Roman M. Koidl: Scheisskerle.
Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja,
wie viele?
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 13. 4. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Solothurn
Freitag, 14. bis Sonntag, 16. Mai
32. Solothurner Literaturtage.
Info: www.literatur.ch.
Zürich
Dienstag, 4. Mai, 19 Uhr
Isolde Schaad: Robinson
und Julia. Lesung,
Fr.20.–.Gemeinschafts­
zentrum Buchegg,
Bucheggstrasse 93.
Tel. 044 363 01 77.
Dienstag, 11. Mai, 20 Uhr
Gerold Späth: Die heile Hölle,
Neuauflage. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Montag, 17. Mai, 18.30 Uhr
Peter Mathys: Unschalks Welt. Lesung.
Buchhandlung Hirslanden,
Freiestrasse 221. Tel. 044 381 06 66.
Dienstag, 18. Mai, 19 Uhr
Der Garten: ein Märchen? Petra Hagen
liest Karin Blume. Diskussion, Bar.
Rosengarten, Kalkbreitestrasse 2.
Info: www.kalkbreite.net.
Mittwoch, 26. Mai, 20 Uhr
Eshkol Nevo: Wir haben noch das ganze
Leben. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus (s. oben).
Bücher am Sonntag Nr. 5
erscheint am 30. 5. 2010
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
25. April 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
ROY STAEHELIN
«Glass Ceiling» – eine gläserne Decke hängt zwischen
den Frauen und der obersten Chefetage. Panzerglas,
könnte man mit Blick auf die geringe Anzahl weiblicher Führungskräfte meinen. Doch die Autorinnen
Lanfranconi/Meiners wittern Besserung. Und sie
erinnern in ihrem Bildband an 22 Geschäftsfrauen
wie Marie Tussaud, Margarete Steiff, Marion Donovan, Beate Uhse und Brownie Wise (im Bild rechts),
die als Verkaufsleiterin der Firma Tupper ab den
1950er Jahren den Frischhalteboxen aus Plastic zum
Gunhild Kübler: Leidenschaften.
Lesung, Fr. 12.–. Thalia im Loeb,
Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 20.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQAA8YeGrA8AAAA=</wm>
<wm>10CEWKOQ6AMAwEX5Ro7dgQ4zJHFSEEiP8_hYiGYqeY2TFcI76Vtt_tdAJEAywnnd7WWTLLJISMQdiIWRhJFv-fodRwAR14QPGo_QUZk-BmWQAAAA==</wm>