Michael Cunningham In die Nacht hinein

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Michael Cunningham In die Nacht hinein
Nr. 10 | 28. November 2010
Marilyn Monroe Tapfer lieben | Michael Cunningham In die Nacht hinein |
Peter Handke Immer noch Sturm | Neue Bücher zum Thema Offline leben |
Bruno Kreisky Die Biografie | Amartya Sen im Interview | Kinder- und
Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Alina Bronsky,
Jörg Fisch, Malcolm Gladwell und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt
Wenn sich drei
Kinder um eine
Flöte streiten
Nr. 10 | 28. November 2010
Marilyn Monroe Tapfer lieben | Michael Cunningham In die Nacht hinein |
Peter Handke Immer noch Sturm | Neue Bücher zum Thema Offline leben |
Bruno Kreisky Die Biografie | Amartya Sen im Interview | Kinder- und
Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Alina Bronsky,
Jörg Fisch, Malcolm Gladwell und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Marilyn Monroe
(Seite 23).
Illustration von
André Carrilho
Judy Blundell: Die Lügen, die wir erzählen
Sachbuch
Peter Handke: Immer noch Sturm
Peter Handke: Ein Jahr aus der Nacht
gesprochen
K. A. Nuzum: Hundewinter
20 Alex Rühle: Ohne Netz
Christoph Koch: Ich bin dann mal offline
Th. Montasser: Weil die Erde keine Google ist
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte
der tatarischen Küche
Von Andrea Lüthi
22 Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht
der Völker
Von Sabine Sütterlin
23 Marilyn Monroe: Tapfer lieben
Von Verena Hoenig
Von Hans ten Doornkaat
Belletristik
4
6
7
9
Stellen Sie sich vor, Sie müssten entscheiden, welches der drei Kinder
Anna, Bob und Carla die Flöte haben soll, um die sie sich streiten. Anna
verlangt das Instrument für sich, da sie als Einzige der drei Flöte spielen
kann. Bob will die Flöte, weil er als Einziger so arm ist, dass er keine
eigenen Spielzeuge besitzt. Clara hat monatelang fleissig gearbeitet, um
die Flöte zu bauen, die die beiden anderen ihr streitig machen. Welche
Zuteilung ist gerecht? Egalitarier, Libertäre und Utilitaristen würden
ganz unterschiedlich urteilen – jede Gruppe mit gutem Recht. Mit
diesem Gleichnis eröffnet Nobelpreisträger Amartya Sen sein neues
Buch «Die Idee der Gerechtigkeit». Unsere Mitarbeiterin Kirsten Voigt
lotet in einem Interview seine Philosophie aus (Seite 16).
Ganz anders stehen Kinder auf der Doppelseite 14/15 im Mittelpunkt:
Hier finden Sie, liebe Eltern, Göttis und Grossmamis, Weihnachtstipps –
empfehlenswerten Lesestoff für 5- bis 14-Jährige.
Für Menschen, die dem Teenageralter entwachsen sind, sich aber eine
kindliche Wissbegierde bewahrt haben, stellen wir in über 30 weiteren
Rezensionen eine Fülle spannender Romane, Krimis, Biografien und
Sachbücher vor. Namen wie Peter Handke, Marilyn Monroe, Bruno
Kreisky, George W. Bush, Erika Mann und Ingrid Betancourt mögen die
Themenbreite illustrieren. Wir freuen uns, Sie auch im neuen Jahr
wieder überraschen zu dürfen – erstmals am 30. Januar 2011. Urs Rauber
Von Karl Wagner
Von Sandra Leis
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642
Von Angelika Overath
Tommy Wieringa: Der verlorene Sohn
Von Annette Mingels
Von Christine Knödler
Von Andrea Lüthi
Peter Van Olmen: Odessa und die geheime
Welt der Bücher
15 Georg Rüschemeyer: Menschen und andere
Tiere
Alexandra Maxeiner, Anke Kuhl:
Alles Familie!
Von Stefana Sabin
Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen
für verkannte Künstler
Von Klara Obermüller
Axel Brüggemann: Wie Krach zu Musik wird
10 Dan Lungu: Wie man eine Frau vergisst
Vanessa F. Fogel: Sag es mir
11 Hélène Bessette: Ida oder Das Delirium
Von Stefan Zweifel
Thomas Kramer: New York auf Postkarten
Von Gerhard Mack
Von Regula Freuler
Annette Mingels: Tontauben
Von Regula Freuler
Didier Queloz: Extrasolare Planeten
Von Sabine Sütterlin
Reden über Recht
Von Kirsten Voigt
Kolumne
19 Charles Lewinsky
Das Zitat von Gottfried Keller
Roman Graf: Zur Irrfahrt verführt
Kurzkritiken Sachbuch
Ermanno Cavazzoni: Das kleine Buch
der Riesen
19 Ursula von Arx: Ein gutes Leben
Von Manfred Papst
Von Manfred Papst
Kinder- und Jugendbuch
14 Gunnel Linde: Mit Jasper im Gepäck
24 Malcolm Gladwell: Was der Hund sah
Von Urs Rauber
26 Ingrid Betancourt: Kein Schweigen,
das nicht endet
16 Amartya Sen, Philosoph und Ökonom
13 Christine Brand: Das Geheimnis der Söhne
Otmar Bucher: Kopfwelten
Von Andrea Lüthi
13 Markus A. Will: Bad Banker
Kurzkritiken Belletristik
Von Martin Walder
25 Stefan Klein: Der Sinn des Gebens
Interview
Von Christoph Plate
Von Urs Bitterli
Von Verena Hoenig
12 Michael Cunningham: In die Nacht hinein
Von Simone von Büren
Von Regula Freuler
Von Regula Freuler
René Holenstein: Wer langsam geht,
kommt weit
Von Urs Rauber
Marlis Pörtner: Alte Bäume wachsen noch.
Erfahrungen in späten Lebensjahren
Von Thomas Köster
Von Victor Merten
Urs Kälin: Hundert Jahre Volkshaus Zürich
Von Monika Burri
27 Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky
Von Fritz Trümpi
28 Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache
Von Sieglinde Geisel
Michael Hagner: Der Hauslehrer
Von Kathrin Meier-Rust
29 Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte
Von Andreas Tobler
30 Gerhard Hotz u. a.: Theo der Pfeifenraucher
Von Geneviève Lüscher
Das amerikanische Buch
George W. Bush: Decision Points
Von Andreas Mink
Agenda
31 A Star Is Born. Fotografie und Rock seit Elvis
Von Manfred Papst
Bestseller November 2010
Von Verena Hoenig
Von Kathrin Meier-Rust
Belletristik und Sachbuch
Von Christine Knödler
Von Geneviève Lüscher
Veranstaltungshinweise
Christian Tielmann: Spürst du die Angst?
Dieter Vieweger: Streit um das Heilige Land
Agenda Dezember 2010
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Familiengeschichten Peter Handke hat ein neues Theaterstück und
Gedanken-Notizen publiziert – beides hat miteinander zu tun
Tanz der Trauer
Peter Handke: Immer noch Sturm.
Suhrkamp, Berlin 2010. 166 Seiten,
Fr. 24.50.
Peter Handke: Ein Jahr aus der Nacht
gesprochen. Jung und Jung, Salzburg
2010. 216 Seiten, Fr. 30.50.
Von Karl Wagner
In seiner Dankesrede für das Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt empfahl Peter Handke vor nun bald zehn
Jahren Bücher von Kärntner Slowenen,
die von ihrem Leben und ihren Erfahrungen als Partisanen im Widerstand
gegen das Hitlerreich berichten. Die
«Zeugnisse» von Karel Prušnik, Lipej
Kolenik und Andrej Kokot stellte er bewusst in Verbindung mit dem Werk des
französischen Dichters René Char und
der Feier des Widerstands in Frankreich
– im Unterschied zu Österreich und vor
allem zu seinem «andersschönen»
Kärnten.
Am Ende seines neuen Stücks «Immer
noch Sturm» kehrt diese Empfehlung
mit zum Teil anderen Namen wieder.
Der Figur des einäugigen Gregor, der als
einziger lebend aus dem Krieg zurückkommt, in dem er 1942 zu den Partisanen überlief, gerät diese Empfehlung
aber zur bitteren Klage: «All die Geschichten, die jeden angehen – von wem
gelesen? Ach, die Bücher alle von uns
Gemsen auf der Lawine, von uns Kleinen Leuten auf Grossem Weg. Ach,
Karel Prušnik, ach Lipej Kolenik, ach
Tone Jelen, ach, Anton Haderlap, ach,
Helena Kuchar-Jelka …»
Handkes literarische Forschungsreise
zu seinen slowenischen Vorfahren reicht
indes noch weiter zurück. Sie beginnt
schon mit seinem Erstling «Die Hornissen» und ist seit dem «Wunschlosen
Unglück» in immer neuen Versuchen
und Umstellungen erweitert und verfeinert worden – aber nie zur Ruhe gekommen. So ist es keine Überraschung, dass
sein Stück, dessen Uraufführung nächstes Jahr bei den Salzburger Festspielen
erfolgen soll, eine weitere Expedition
seines epischen Gangs zu den (mütterlichen) Vorfahren darstellt. Niemals
zuvor aber hat sich Handke so nahe an
den «Klartext» der Geschichte herangewagt; für das «Ich» dieses Stücks verwirrt er sich jedoch immer wieder neu,
und manchmal versinkt es darob in Müdigkeit.
Wenn da irgendwer helfen kann, dann
Shakespeare – Schutzpatron aller, die
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
am Problem der Darstellbarkeit von Geschichte zweifeln. «Storm still» ist denn
auch eine wiederkehrende Bühnenanweisung aus dem dritten Akt der Tragödie «König Lear», in dem der alte, wahnsinnig gewordene König mit dem Narren auf der sturmumtobten Heide die
Welt verflucht und dabei die Elemente
zu Hilfe ruft. Mit Shakespeare und
Faulkner, der mit «Absalom, Absalom»
ins Spiel kommt, wird Geschichte über
den Umweg einer unkonventionellen
Familiengeschichte erzählbar.
Trotz der vielen autobiografischen
Einzelheiten ist diese Familiengeschichte aber als ein Wunschbild zu lesen, ein
Wunschbild vor allem der Widerständigkeit gegen den Albtraum der realen
Geschichte. Es ist nur konsequent, dass
«Immer noch Sturm» sich keiner Gattungsnorm fügt, sondern Episches, Dramatisches und Lyrisches aufbietet, um
diese aus der Nacht und dem Traum
kommende filigrane Gegengeschichte,
die schlussendlich in die Klage über
deren Ausgelöschtwerden mündet, darstellen zu können. In einem geradezu
ritualisierten «Innehalten» und sich
wiederholenden Verknüpfungsformeln
des «und wieder» entfaltet sich das
Kopftheater des schwermütigen Nachfahren Handke.
Hass auf die Geschichte
Insofern nimmt es nicht wunder, dass
die andere Neuerscheinung von Handke, «Ein Jahr aus der Nacht gesprochen»,
die auf den ersten Blick so gar nichts mit
dem Stück zu tun hat, in mehreren
Selbstzitaten dort wiederkehrt. Etwa in
dieser: «Dort wirbelt, schau, eine Kinderschaukel, das zweite Seil ausgerissen, der Sitz kopfunter» (im Stück auf
zwei Stimmen verteilt). Die Phantasie,
die bekanntlich nicht vergisst, ist bei
Handke immer auch darauf verwiesen,
sich all ihrer Formen zu vergewissern,
vom Halbschlafbild, über das unwillkürliche Selbstgespräch und anderen Formen der «Abwesenheit» bis hin zu eben
jenen ersten Sätzen, die nach dem Erwachen in der Nacht durch den Kopf schiessen. Daraus entstehen zum Glück keine
«Aphorismen zur Lebensweisheit»,
sondern im Glücksfall herrlich skurrile
und hintersinnige bis absurde Sätze.
Die Kluft zwischen dem Ästhetischen
und der Historie treibt Handke seit langem um; seit den Jugoslawien-Texten
und der Klagenfurter Rede von 2002 allerdings mit neuer Dringlichkeit. An
Handkes Geschichtshass hat sich indes
nichts geändert. Nach der Lektüre von
«Immer noch Sturm» ist das besser
denn je zu verstehen. Im Kopf des «Ich»,
auf einer Sitzbank auf der Heidesteppe
des Südkärntner Jaunfelds, entspringen
buchstäblich die Figuren seiner Vorfahren und seiner selbst: 1942 wird das
«Ich» als «Bankert» (ein Kind der Liebe,
gezeugt von einem deutschen Wehrmachtsoldaten, also einem «Feind») zur
Welt gebracht. Bald darauf werden sich
zwei der Geschwister der verfemten
Mutter, Gregor und Ursula, den Partisanen anschliessen.
Zwei weitere Brüder, der Frauenheld
Valentin (der sich gegen das Slowenische und für den Westen entschieden
hat) und Benjamin, sterben für «Fira
und Fattaland»; die Schwester Ursula
wird umgebracht. Es ist an Gregor, im
Jahr 1945 den Jubel über den Sieg und
den «frischen Frieden» zu verkünden.
Der Jubel ist nur kurz und kippt alsbald
in die Ordnungen des Kalten Kriegs: Die
Engländer, eben noch, für einen Moment, die Verbündeten der Slowenen,
paktieren mit den Feinden von gestern.
Der Widerstand der Partisanen gegen
Hitler war nach 1945 wegen der Forde-
Peter Handke hat
mit seinem neuen
Theaterstück einen
der wichtigsten Texte
der Nachkriegszeit
geschrieben.
Hier der Autor 2008
in seiner Pariser
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rung der Moskauer Deklaration von
1943, wonach Widerstand gegen das NSReich zur Bedingung gemacht wurde für
«eine Anerkennung der österreichischen Selbständigkeit nach dem Krieg»,
sehr kostbar. Nur wenige deutschsprachige Landsleute hatten sich den slowenischen Partisanenverbänden in Kärnten angeschlossen. Bitter wird vermerkt:
«Die Angehörigen der, wie sagt man,
einheimischen Oberschicht, die, wie
sagt man, Gebildeten, fehlten all die Zeit
des grossen und einzigen Widerstands
hierzuland, und sie fehlten bis zuletzt.»
Sobald der Kampf der slowenischen
Kärntner seine Schuldigkeit getan hatte,
also mit Abzug der fremden Truppen
1955, wird nicht nur dieser Widerstand
vergessen; bis heute werden den Slowenen Kärntens damals zugesicherte
Rechte vorenthalten.
Literarisches Wortdenkmal
Das Stück, das keine Tragödie sein will,
endet mit der Verfluchung der Geschichte als Weltgericht: Nur die Zeichen, die sich die paar Versprengten und
Vereinzelten noch geben, mildern die
Verzweiflung; dass der «Weltverdruss-
walzer» fortan als Polka gespielt werden
möge, ist nur als ein sarkastischer Kommentar zur «Zukunftsmusik» zu verstehen. Schon gegen Ende des «Wunschlosen Unglücks» stand ja zu lesen: «In
allen Musikboxen der Gegend gab es
eine Platte mit dem Titel WELTVERDRUSS-POLKA.»
Überhaupt werden die mit Handkes
Werk Vertrauten viele Wiedererkennungserlebnisse haben, die ihnen der
Autor, dergestalt auch ein Zeichen gebend, augenzwinkernd bereitet. Wer
solche Zeichen aber nicht erkennt, ist
deshalb nicht ausgeschlossen, sondern
nimmt dennoch Teil an einem der – zumindest für Österreich – wichtigsten
Texte seit dem Ende des Weltkriegs.
Mit seiner grossen Klage hat Handke
dem einzigen Widerstand, den es zur
Zeit der NS-Herrschaft auf deren Territorium gab, ein literarisches Wortdenkmal gesetzt – ein Denkmal also, das dauerhafter ist und sein wird als jedes (geschändete) Denkmal aus Stein auf
Kärntner Boden. l
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28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Sachbuch
Belletristik
Roman Die Deutschrussin Alina Bronsky räumt in ihrem Zweitling mit der duldsamen Babuschka auf
Herrschsüchtige Matriarchin
disch. Aber es stimmte schon, es drehte
einem das Herz in der Brust um», kommentiert die Grossmutter den Sieg der
Enkelin.
Eine Erfolgsgeschichte, die ins Kitschige kippen würde, wäre da nicht der
Umstand, dass die geliebte Enkelin
längst mit der tyrannischen Grossmutter gebrochen hat. Die lebenstüchtige
Rosalinda wusste bereits Jahre zuvor, als
Stiefvater Nummer zwei mit Aminat
nach Israel auswandern wollte: «Ohne
Aminat war ich einsam, und mein Leben
war sinnlos.» Damals konnte sie das
Schlimmste verhindern und setzte auf
Stiefvater Nummer drei, einen deutschen Journalisten, der sich weniger für
Aminats kranke Mutter als für das junge
Mädchen interessierte und schliesslich
auf Geheiss der Grossmutter alle drei
Frauen nach Deutschland einlud. Während Grossmutter und Enkelin sich
durchschlagen, bleibt die Mutter auf der
Strecke: «( … ) eine Blume im Wind.
Spuckte man sie an, hielt sie es für frischen Regen und streckte sich dem entgegen.»
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte
der tatarischen Küche. Kiepenheuer &
Witsch, Köln 2010. 320 Seiten, Fr. 31.90.
Von Sandra Leis
Selbstherrlich, durchtrieben, schlitzohrig und clever: Das können Frauen genauso gut sein wie Männer. Doch wenn es
von jemandem heisst, er strotze nur so
vor Selbstbewusstsein, so ist in aller
Regel von einem Mann die Rede. Nicht so
im Roman «Die schärfsten Gerichte der
tatarischen Küche» von Alina Bronsky:
Hier ist es eine Frau, der auch das fetteste
Eigenlob nicht die Schamesröte ins Gesicht treibt. Der Zweck heiligt die Mittel,
und wenn eine wie Rosalinda nach Europa will, so tischt sie einem potenziellen
Fluchthelfer, der ein Buch über die tatarische Küche schreiben will, sämtliche
kulinarischen Geheimrezepte auf, obwohl sie nicht den leisesten Schimmer
hat. Sie ist zwar Tatarin, doch als Vollwaise wuchs sie in einem Kinderheim auf,
wo es hauptsächlich Graupensuppe zu
essen gab.
Rezepte sind noch das Wenigste. Rosalinda, die in einer russischen Kleinstadt lebt, will vor allem eines: ein besseres Leben. Da weder Ehemann noch
Tochter dahingehende Ambitionen
hegen, obliegt es ihr, die Familie voranzubringen. Sie beschafft Lebensmittel,
Ehemänner und Ausreisepapiere und
treibt hemmungslos ab. Als sie auch die
Schwangerschaft ihrer Tochter unterbinden will, kann sie nur einen Teilerfolg verbuchen: Einer der beiden
Zwillinge überlebt trotz Attacken mit
der Stricknadel. «Ich ahnte schon die
ganze Zeit, dass es ein Kind werden
würde, das grundsätzlich und rücksichtslos alles überlebte. Es war ein ungewöhnliches Kind, das von Anfang an
sehr laut schrie», sagt die Grossmutter.
Frech bis abgrundtief böse
Eine Castingshow in
Deutschland macht
die Enkelin der
russischen Romanprotagonistin zur
Berühmtheit.
In Alina Bronskys Erstling störte auf
Dauer der Zwang zur Pointe. Im Zweitling plappert Rosalinda gelegentlich
allzu unbeschwert und selbstverliebt
daher. Gegen ihre Logorrhö ist kein Kraut
gewachsen; allerdings legt der literarische Kunstgriff der Rollenprosa schonungslos die Kehrseite dieser Kämpferin
für ein besseres Leben offen: Zum einen
hat Rosalinda Ego und Chuzpe, zum an-
dernleidetsieunterSelbstüberschätzung
und merkt nicht auf Anhieb, dass die
Spielregeln im Westen andere sind. Sie
ist studierte Pädagogin und muss in
Deutschland zunächst illegal als Putzfrau arbeiten. Hochkant fliegt sie aus
einem Spital, als sie ihre Kompetenzen
überschreitet. Schliesslich bleibt sie ermattet im Bett liegen und wird von einem
britischen Gentleman liebevoll umsorgt.
«John schnitt Rosen, beobachtete Wolken und kochte Tee.» Keiner also, der ihr
ungebührlich auf die Pelle rückt, sondern ein Herr mit Stil. Castingshows allerdings hält er für «Quatsch», bis er
merkt, wie bedeutsam Aminats Erfolg
für Rosalinda ist. Zum ersten Mal keimt
in der Grossmutter die Hoffnung, die Enkelin eines Tages wiederzusehen.
Bronskys Roman ist frech, rabiat,
manchmal abgrundtief böse und traurig
und trotzdem komisch. Er handelt vom
Verlust der Familie, von Kindesvernachlässigung, illegalem Leben, Neuanfang
und Alter in der Fremde und ist trotzdem heiter. Warum? Erstens will Alina
Bronsky unterhalten und setzt zu diesem Behuf gekonnt auf literarischen
Slapstick, Tempo, harte Schnitte und
messerscharfe Argumente. Zweitens
räumt sie auf mit der gütigen und duldsamen Babuschka und rückt stattdessen
eine Frau ins Zentrum, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist und selbst dann
den Kopf oben behält, wenn sie untendurch muss. Selbstbewusst, stolz und
schick – das sind die Eigenschaften, die
sie auszeichnen und trotz mancher
Grausamkeit liebenswert machen. l
Das Mädchen heisst Aminat und wird
zum Augapfel seiner Grossmutter und
zur monologisierenden Heldin des Romans. Bronsky, 1978 in Jekaterinburg geboren und in Deutschland aufgewachsen,
setzt dem Typus der osteuropäischen
Stehauffrau ein Denkmal. Während die
Autorin in ihrem heftig gepriesenen Erstling «Scherbenpark» (2008) zeigte, wie
sich eine blitzgescheite 17-Jährige die
Seele aus dem Leib kotzt und dem Russenghetto entkommt, schreibt Bronsky
jetzt einen abenteuerlichen Familienroman über drei Jahrzehnte aus der Sicht
einer Matriarchin.
Der Roman setzt ein mit Aminats Geburt 1978 und hört auf mit dem Triumph,
dass die mittlerweile 30-Jährige in einer
Castingshow zur besten jungen Sängerin Deutschlands gekürt wird und der
Fernsehwelt vorgaukelt, sie sei erst 19.
«Ich fand nicht, dass Aminat schön sang.
(…) Es war nicht kraftvoll, nicht melo6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
HERMANN J: KNIPPERTZ / AP
Aufstieg zur Sängerin
Novelle Eine spannungsreiche Geschichte über Krieg,
Verrat und Treue in Japan
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642.
Edition Epoca, Bern 2010. 112 Seiten,
Fr. 24.90.
Von Angelika Overath
Der Titel könnte an ein Stillleben erinnern: «Nagasaki, ca. 1642». In kräftigen
Farben illuminiert die 1966 geborene
Christine Wunnicke ein Tableau aus Begehren, Verrat und Treue im alten Japan
des 17. Jahrhunderts. Held ist Seki Keijiro,
ein einst berühmter Krieger, der seit der
Belagerung von Osaka vor 26 Jahren
nichts mehr zu tun hat und sich nun auf
dem Lande im Schoss seiner Familie gepflegt der Faulheit hingibt. Manchmal
lässt er einen Enkel auf sich herumkrabbeln, oder er webt an einem Band mit
Schildkrötenmuster.
Doch was niemand ahnt: In Seki
glimmt noch etwas. Es gibt da eine «offene Sache», die – was immer das sein
mag im alten Japan – mit Liebe zu tun
hat. Und als Seki hört, dass ein Schiff der
«Orlandesen» vor Nagasaki erwartet
werde, kommt Bewegung in den alten
Samurai. Er lässt sich seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder die Haare
schneiden, montiert ein besonderes
Schwert und bewirbt sich für den Posten des Inspektors für Deshima, jene in
der Bucht von Nagasaki aufgeschüttete
Insel, den einzigen Ort, an dem Japan
mit dem Rest der Welt Handel trieb. Auf
dem Schiff der Niederländischen Ostindienkompanie reist als Dolmetscher
Abel van Reenen, der kaum 20-jährige
Sohn eines Gesellschafters der Kompanie. Er ist ein Mann «von luftigem Temperament», der gerne mit dem Schiffsaffen in der Takelage hängt und sonst alle
nervt, weil er immer zu viel spricht. Aus
BruNo Spoerri (Hg.)
MUSIK AUS DEM NICHTS
Langeweile hat er auch etwas Japanisch
gelernt. Zwischen dem jungen «Dolmetsch» und dem alten Krieger entwickelt sich eine gegenseitige Anziehung,
die von Seiten Sekis nicht zweckfrei ist.
Seki will, dass Abel herausfindet, wem
das Schiff «Refuti» gehört hat. Von einer
Kanone, die dieses Schiff brachte, wurde
vor 42 Jahren sein grosser Lehrer, Beschützer und Liebhaber, der schöne,
grüngerüstete Krieger Yuudai, vor Sekis
Augen zerfetzt. Abel, der mit den Silben
des Wortes spielt, entdeckt sehr schnell,
dass Sekis «Refuti» das holländische
Schiff mit Namen «Liefde», zu Deutsch
Liebe, ist. Es hat zur Flotte seines Grossvaters gehört, und demnach ist für Seki
nun Abel das Zentrum «der offenen
Sache», die nichts mit christlicher Gottesliebe zu tun hat, sondern japanisch
mit einem Wesen, das sich berühren
lässt, oder auch damit, den Geist des Geliebten zu rächen.
Der junge Abel wird Schüler und Geliebter des 57-jährigen Seki und wiederholt damit, was Seki einst für Yuudai
war. Abel lernt das sichere Stehen des
Samurai («Er sitzt in seinem Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl. Wie
macht er das? Das möchte ich auch können»), und er lernt «sechs japonesische
Wörter für die Liebe und acht für die
Unzucht, und erstere passten alle nicht,
und letztere passten alle».
Die kleine, gut recherchierte, detailgenaue Novelle aus einem vergangenen
Japan, in der pointensicher auch Fantasy-Elemente nicht fehlen, ist getränkt
mit Spannung, Gewalt und Erotik. Christine Wunnicke erzählt atmosphärisch
dicht, im schnellen Wechsel von komischen und drastischen Szenen. Sie
beherrscht ein fein kalkuliertes Repertoire der Anspielungen und evoziert,
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Ein Samurai sucht an
seine früheren Taten
anzuknüpfen.
ohne je peinlich zu sein, die körperliche
Liebe zwischen Abel und einer Japonica-Hure im schönen Teehaus, die nach
einem hinreissenden, verspielt-scheuen
Beieinandersitzen schliesslich doch variantenreich nur vollzogen wird, weil
Abel auf einmal bemerkt, dass Seki zusieht. Souverän zeigt sie den gelingenden
geschlechtlichen Zweikampf zwischen
Seki und Abel, zunächst in heissen
Schwefelquellen, dann auf einem Stein,
den wiederum der Geist Yuudais genau
beobachtet. Immer grenzt in diesem
Kosmos körperliche Lust, «die Feine
Sache», an den Schmerz, und konsequenterweise ist die Liebe nur der Anfang des Sterbens. Am Ende der intensiven Novelle mustert Seki Keijiro seine
erstmals zu langsame Hand. l
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Roger Willemsen
Sila Sönmez
Eine romantische Komödie
um Schnuller und
Shoppingtüten
Ein ungewöhnlicher
Reiseroman jenseits
touristischer Ziele
Eine junge Türkin
und ihr wildes Leben
Mini Shopaholic
17.90
Pedro Lenz
Regine Stroner
Schweizer Literatur
von Weltformat
Ein kulinarischer
Adventskalender
Der Goalie bin ig
Bald ist Weihnachten
Die Enden der Welt
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Jean-Pierre Brunschwiler
Orte der Kraft
in der Schweiz
Der Bildband zeigt ihre
Energie und Schönheit
Das GhettoSex-Tagebuch
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Belletristik
Roman Eine Mutter im Pornobusiness, ein verrückter Vater in Panama – der Niederländer
Tommy Wieringa mutet seiner Hauptfigur einiges zu
Der kleine Caesarion kommt
nicht von seiner Mutter los
teilt, wie ihr Vater dies tat: «‹Wie konntest du nur?› ‹Ich bin nicht mein Körper,
Ludwig, er ist nur ein Vehikel … Du
darfst mich deswegen nicht hassen.›»
Nicht Hass, aber eine Hassliebe ist es,
die den Sohn fortan an seine Mutter bindet. Als Barpianist reist er seiner Mutter
immer wieder hinterher, begleitet ihr
Comeback – schlecht gelaunt, ein personifizierter Vorwurf. Gibt seine erste
ernsthafte Beziehung auf, um bei seiner
Mutter zu bleiben, die das alles nicht
wünscht, aber sich auch nur halbherzig
dagegen wehrt. Nur bekehren lassen
will sie sich nicht, auch dann nicht, als
sie schliesslich an Brustkrebs erkrankt
und diesen so lange mit Misteleinläufen
und Wunderpillen behandelt, bis er sie
dahinrafft. Den Vater, einen Performancekünstler, der im Hochland von Panama als negatives Kunstkonzept Berge
in die Luft sprengt, lässt das alles kalt:
Als ihn sein Sohn nach zwanzig Jahren
und einem überaus gefährlichen Trip
aufspürt, kommt es zu einem Showdown,
der wohl nicht zufällig an den Kampf
zwischen Kronos und Uranos erinnert.
Tommy Wieringa: Der verlorene Sohn.
Aus dem Niederländischen von Bettina
Bach. Hanser, München 2010.
333 Seiten, Fr. 32.90.
Von Annette Mingels
Krude Sexszenen
«Caesarion» – so der Originaltitel des
Buches – wurde im Deutschen zu «Der
verlorene Sohn». Das impliziert erstens
eine inhaltliche Umdeutung und zweitens einen Diskurswechsel von der antiken zur christlichen Legende. Beides tut
dem Buch nicht gut. Nicht nur ist der
Sohn in dieser Geschichte keineswegs
verloren, sondern vielmehr die einzige
Konstante im desolaten Familienverband, auch das Spiel mit antiken Mythen
und Legenden nimmt im Roman eine
wesentliche Rolle ein: Sei es, dass das
Verhältnis von Mutter und Sohn ödipalerotische Züge trägt, seien es der Schauplatz Alexandria oder die zahlreichen
Verweise auf antike Figuren.
«Der verlorene Sohn» ist ein disparates Buch – die 330 Seiten sind vollgestopft mit Geschichten und Erlebnissen,
mit psychologisch genauen Beobachtungen und kruden Sexszenen, mit gelungenen und weniger gelungenen Sät-
Pralle Handlung
PATRICK POST / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
Ludwig hat’s schwer. Auch wenn er der
gehätschelte Sohn einer schönen, jungen Mutter ist. Oder vielmehr gerade
deshalb. Schwer ist es für ihn, seiner alleinerziehenden Mutter alles zu sein:
Sohn, Beschützer, Gefährte. Schwer ist
es, neben der eigenen Lebensgeschichte
die der Mutter zu akzeptieren. Schwer,
sich zu lösen. Und ebenso schwer, sich
wieder anzunähern.
Zunächst jedoch scheint alles ganz
einfach. Mit seiner Mutter lebt der Junge
in einem prächtigen Haus in Alexandria.
Der Vater, ein Künstler, hat seine Familie zurückgelassen, um in der Abgeschiedenheit seinen Visionen nachzujagen. Manchmal fehlt er Ludwig, meist
nicht: «Er braucht gar nicht wiederzukommen, mein Vater, ich bin ein angemalter kleiner Prinz, zusammen mit der
Königin lebe ich in einem Schloss.» Die
Mutter, eine Meisterin des Müssiggangs,
liebt es, das Kind zu verwöhnen, es zu
schminken und zu schmücken, ihm beim
Klavierspiel zuzuschauen, es mit in den
Teesalon zu nehmen, wo sie bei Kaffee
und Zigaretten von Europa träumt. «Sie
nannte mich Caesarion, kleiner Caesar.
Caesarion war der Titel des Stücks, das
wir zusammen aufführten – ich als Wunderkind und sie als die Mutter, die das
goldene Ei ausgebrütet hatte.»
zen. Tommy Wieringa lässt seine Figuren so ziemlich alles erleben, was möglich ist, auch wenn es unmöglich erscheint. Von Alexandria ziehen Mutter
und Sohn nach England, in ein wurmstichiges Haus an der Küste, die Jahr um
Jahr näher rückt. «Hier bricht langsam
alles zusammen», warnt Warren, der
ihnen das Haus verkauft. Er soll im doppelten Sinne recht behalten: Nicht nur
das Haus wird schliesslich vom Meer
verschlungen, auch manch andere Fassade bricht ein.
So muss der halbwüchsige Ludwig
feststellen, dass seine Mutter ein Leben
vor ihm hatte. Eines, in dem sie als Pornodarstellerin Karriere machte; eines,
das sie aus Geldnot, aber auch aus Langeweile wieder aufzunehmen gedenkt.
Sie, die «verlorene Tochter» par excellence, sieht sich nun einem Sohn gegenüber, der sie moralisch ebenso verur-
Der niederländische
Autor Tommy
Wieringa, 43, garniert
Unterhaltung mit
mythologischen und
kunsttheoretischen
Exkursen.
«Der verlorene Sohn» ist das fünfte
Buch Tommy Wieringas, der derzeit an
der Freien Universität Berlin als Writer
in Residence logiert. Wieringa schreibt
eine Coming-of-Age-Geschichte: Dem
jungen Ludwig stossen diese Abenteuer
aufgrund seiner Familiensituation allerdings eher zu, als dass er sie sucht.
Anders als im gefeierten Roman «Joe
Speedboat» (2006) begnügt sich Wieringa in seinem neuen Buch nicht damit,
sehr gute Unterhaltungsliteratur zu liefern. In die pralle Handlung fügt er
immer wieder mythologische und
kunsttheoretische Exkurse ein, die
etwas angelesen wirken. Auch an den
Metaphern verhebt er sich manchmal
(«es regnete Himmel»), und zuweilen
lässt er Ludwig plötzlich in einen altväterlichen Ton gleiten, der wohl zur Umkehrung der Rollen von Mutter und
Sohn, nicht aber zu Ludwig passt: «Sollte sie doch ihren sündigen Weg gehen.»
Doch das sind am Ende Kleinigkeiten.
Schwerer wiegt, dass der gesamte Plot
mit seiner Häufung von Unwahrscheinlichem und seinem offensiven Spiel mit
dem Klischee vom Absturz in die Kolportage bedroht ist. So ist es am Ende
am Leser zu entscheiden, ob er Wieringa
auf seinem rasanten Parcours durch die
Kontinente und die bewegten Leben seiner Protagonisten folgen will. Tut er das,
kann er was erleben. Und das ist ja wohl
nicht das Schlechteste, was Literatur
bieten kann. l
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Der rumänische Schriftsteller Dan Lungu parodiert den Alltag
Geruch von Bratkartoffeln
Dan Lungu: Wie man eine Frau vergisst.
Aus dem Rumänischen von Jan
Cornelius. Residenz, Salzburg 2010.
283 Seiten, Fr. 36.50.
Dies ist kein Selbsthilfebuch, das unglücklich Liebenden den Weg zur Heilung erklärt, kein Buch darüber, «wie
man eine Frau vergisst». Die Liebesgeschichte, die der Titel erwarten lässt,
endet schon auf der zweiten Seite. Denn
auf dem Zettel, den die Geliebte ihrem
Andi hinterlassen hat, steht: «Ich bin
weg.» Betäubt vom Geruch von Bratkartoffeln, der durch den ganzen Wohnblock zieht, denkt er zuerst, sie wolle
ihm einen Streich spielen und sehen,
was er sozusagen hinter ihrem Rücken
treiben würde; erst allmählich begreift
er, dass sie ihn tatsächlich verlassen hat.
So ist Andi schon ziemlich schlecht
gelaunt, als er zu dem Treffen einer baptistischen Gruppe geht, über die er, der
Aufklärungsjournalist, berichten soll.
Und als er dann auch noch die Wohnung
räumen muss, weil er die Miete nicht
mehr bezahlen kann, und nirgends mehr
Zuflucht findet ausser bei jenem Prediger, den er berufsbedingt beobachtet
hat, erreicht Andis Stimmung einen
existenziellen Tiefpunkt. Zwischen ihm,
dem sarkastischen Ungläubigen, und
dem religiösen Eiferer entsteht eine
merkwürdige Freundschaft, die dem
Roman, in dem er als Hauptfigur auftritt, als narratives Gerüst dient.
Denn der rumänische Schriftsteller
Dan Lungu, 1969 in Botos˛ani geboren
und Soziologiedozent an der Universität
in Ias˛i, hat sich als scharfer Beobachter
BRUNO AMSELLEM / LAIF
Von Stefana Sabin
Dan Lungu erzählt
von einem jungen
Rumänen auf Reise.
der sozialen Verhältnisse einen Namen
gemacht und in Erzählungen und Romanen die Alltagsrealität mit ebenso viel
parodistischer Energie wie sprachlicher
Kraft dargestellt. In seinem neuen
Roman beschreibt er eine religiöse Erweckungsbewegung und zeichnet das
Bild einer gestörten Gesellschaft, in der
weder die Religion noch die Politik
einen sicheren Platz haben. Dabei stehen die alltagsrelevante Wahrheitssuche
des Aufklärungsjournalismus, also Andi,
und der absolute Wahrheitsanspruch
des Religiösen, also der Prediger, für
Versuche, sowohl der postkommunistischen Armut als auch dem spätkapitalis-
tischen Reichtum mit einem Bewusstseinswandel zu begegnen.
Sofern er in diesem Roman eine mikrosoziologische Darstellung praktiziert,
bleibt Lungu der neorealistischen Erzählhaltung treu, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. Indem er die
Handlung jedoch in einzelne, lose zusammenhängende Episoden auflöst und
die Psyche des Protagonisten zum Zentrum des Geschehens macht, versucht er,
dem Roman auch eine psychologische
Dimension zu verleihen. So fungiert die
Liebesgeschichte als narrativer Zoom,
der eine Bewegung zwischen Totale
und Naheinstellungen, nämlich zwischen gelassenem Überblick und angestrengter Introspektion, erlaubt. Dieser
Technik entspricht der Perspektivenwechsel zwischen der «objektiven» Erzählung in der dritten Person und der
«subjektiven» Ich-Erzählung des Protagonisten.
Bei allen narrativen Bemühungen
gelingt es Dan Lungu allerdings nicht,
dem Protagonisten charakterliche Kontur und der Handlung eine glaubhafte
Entwicklung zu geben. Andi versucht,
seine Verhaltensweisen zu überdenken,
aber bekehren lässt er sich nicht. Rauchend und trinkend bewegt er sich wie
ziellos durch eine fast immer regennasse Stadt und durch seine Erinnerungen. Er findet nicht zur Selbstreflexion.
Deshalb kennt die Handlung weder dramatische noch ironische Wendungen
und auch keine Auflösung. Aber der heimatliche Geruch von Bratkartoffeln, den
Lungu immer wieder sprachmächtig
evoziert, sorgt – nicht zuletzt dank der
geschickten Übersetzung – für ein charmantes pseudofolkloristisches Lokalkolorit. l
Débutroman Wenn die Enkelin ihre Grosseltern nach dem Holocaust fragt
Reisen an den Ursprungsort der Familie
Vanessa F. Fogel: Sag es mir. Aus dem
Amerikanischen von Katharina Böhmer.
Weissbooks, Frankfurt a. M. 2010.
334 Seiten, Fr. 30.50.
Von Klara Obermüller
Es sind nicht mehr viele da, die Zeugnis
vom Überleben des Holocaust ablegen
können. Und die wenigen, die dazu noch
in der Lage sind, haben oft bis heute geschwiegen. Umso dringlicher mag es
ihnen jetzt, am Ende ihres Lebens, erscheinen, dieses Schweigen zu brechen
und von ihren Erfahrungen zu berichten
– nicht den Söhnen und Töchtern allerdings, sondern den Enkelkindern, die
unbefangener mit der Vergangenheit
umzugehen vermögen als ihre Eltern
und Grosseltern.
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
In ihrem Erstlingsroman «Sag es mir»
erzählt die 29-jährige Amerikanerin Vanessa F. Fogel eine solche Geschichte,
ihre eigene vermutlich, doch das ist
ohne Belang. Wichtiger: Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die in
Deutschland geboren, in Israel und den
Vereinigten Staaten gross geworden ist
und jetzt, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, mit ihrem Grossvater eine
Polenreise unternimmt, die sie an die
Stätten der Vernichtung wie auch an die
Ursprungsorte ihrer Familie führen soll.
Die Reise mit dem Grossvater wird
für die junge Fela zu einer Art Initiation.
Sie lernt dabei nicht nur ihre Familiengeschichte als Teil der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes kennen, sondern
wird auch noch einmal mit den Neurosen der Eltern sowie den eigenen Ängsten und Sehnsüchten konfrontiert. In
ständigem Wechsel von Erinnerung und
Reflexion tastet sie sich an bisher tabuisierte Bereiche ihrer Kindheit in
Deutschland und Israel heran, entdeckt,
wem eigentlich ihre Liebe gehört, und
findet in schmerzlicher Selbstbefragung
schliesslich zu sich selbst.
Als Entwicklungsroman der «Third
Generation» wird das Buch im Klappentext des Verlages angekündigt. Das ist er
in der Tat: ein höchst lesbarer überdies,
der das Kunststück fertigbringt, mit
Leichtigkeit und liebevoller Selbstironie
auch über die dunkelsten Seiten des
menschlichen Lebens zu schreiben.
Gleichzeitig aber ist «Sag es mir» auch
eine ebenso zarte wie tieftraurige Liebesgeschichte, die einmal mehr vor
Augen führt, dass der Tragik jüdischer
Existenz, zumal in Israel, noch immer
nicht zu entkommen ist. l
Roman Warum uns die vergessene französische Autorin Hélène Bessette mit ihren poetischen
Formulierungen fasziniert
Materna magica
Hélène Bessette: Ida oder Das Delirium.
Aus dem Französischen von Christian
Ruzicska. Secession, Zürich/Berlin 2010.
128 Seiten, Fr. 33.90.
Von Stefan Zweifel
In letzter Zeit hatte sie mit ihrem Sohn
in einem Hotel gewohnt. In einem Zimmer. Denn ihren Mann hatte sie verlassen. Das war 1949. Drei Jahre war sie mit
dem protestantischen Missionar in Neukaledonien und hatte dort selbst eine
Zeitschrift herausgegeben: «L’Evangile».
Immer stärker aber drängten in die Spalten ihre eigenen Phantasien, ihre Geschichten – der erste von rund fünfzig
Romanen. Vierzehn davon hat sie publiziert, und doch kennt keiner ihren
Namen: Hélène Bessette.
«Die Literatur gewordene Natur, die
lebendige Literatur, das verkörpert für
mich zurzeit niemand so sehr in Frank-
reich wie Hélène Bessette.» So lobte
Marguerite Duras einst die einsame Gefährtin aus den Randzonen des Nouveau
Roman. Dabei geht Bessette seit ihrem
Zweitling «maternA» mit einer neuen
Art von poetischer Prosa schwanger
und leuchtet mit ihrer Materna magica
unerkundete Seelenlandschaften aus.
Am trostlosesten in «Suite Suisse»:
Ausgestossen, an den Rand der Prostitution gedrängt, sitzt sie in Tearooms, die
die unendliche Traurigkeit einer Aufführung von Christoph Marthaler ausstrahlen, und trinkt tapfer eine Ovomaltine. Einsam, allein, bis heute vergessen:
In sämtlichen Bibliotheken der Schweiz
findet man nur gerade drei einzelne
Exemplare von «La Tour», «Garance
Rose» und «Suite Suisse» – alle drei mit
dem Vermerk: «Der Museumsgesellschaft geschenkt von Herrn Dr. G. Schlocker, Zürich, den 22. April 1965.»
Wer weiss, wer dieser Doktor war, jedenfalls einer der ganz wenigen Leser
New York Gründungsmythos als Postkarte
von Hélène Bessette. Aber was für Leser
waren das! Simone de Beauvoir etwa
oder eben Marguerite Duras, die 1969
einige Auszüge am Rundfunk vorliest.
Mit der preziösen Diktion, die Duras’ eigenes Werk auszeichnet, dem dasjenige
von Bessette in vielem verwandt ist.
Frau von ganz unten
So kreisen Duras’ erste Versuche um
eine gehässige Putzfrau, die voll Hass
und Neid im Kehricht und in Gerüchten
wühlt. Eine solche Frau von ganz unten
zeigt auch Hélène Bessette in ihrem von
Gertrude Stein inspirierten, letzten publizierten Roman: «Ida oder Das Delirium».
Im französischen Titel versteckt sich
im Wahn des «dé-lire» auch «lire».
Denn das «Lesen» selbst muss Wahn
werden, will man Bessette gerecht werden. Art brut? Jedenfalls verehrte Jean
Dubuffet ihr Werk und «die fünf stummen e in Ihrem Namen». Stumm sind
auch die weissen Flecken im Text, wenn
die Sätze im poetischen Zeilensprung
abbrechen und wir stockenden Herzens
in die Leere des Prekariats stürzen, um
im freien Fall aus der gesicherten Existenz und dem abgesicherten Lesen die
innere Ida zu entdecken.
Selbst wenn man vom Anblick des
Reichtums in Strassen und Restaurants
gedemütigt wird, trägt doch jeder von
uns ein kleines Etwas mit sich: ein «IdaBündel» vielleicht, ein «Ida-Ding».
Verarmt und vergessen
Grosse Dinge beginnen manchmal unscheinbar. Im
Mai 1626 kam Peter Minuit, der Gouverneur der
Kolonie Nieuw-Nederland, in ein Dorf auf der Südspitze Manhattans und kaufte den Indianern die Insel
für Güter im Wert von 60 Gulden ab. Anscheinend
handelte es sich grossteils um billigen Tand. Wie es
sich damals gehörte, wurde der Handel mit einer
Friedenspfeife besiegelt. Die holländischen Kolonialgesellschaften konnten den Handelsplatz ausbauen,
bevor sie knapp vierzig Jahre später von den
Engländern vertrieben wurden und Nieuw Amsterdam zu New York wurde.
Als ein unbekannter Maler um 1909 die Gründungsszene für eine Postkartenserie malte, war die Stadt
am Hudson dabei, die Metropole des 20. Jahrhunderts zu werden. Die Betrachter konnten zufrieden
auf die primitiven Eingeborenen zurückschauen.
Solche Geschichten über Kultur und Bauten New
Yorks erzählen die gut 900 Postkarten, die der
Architekt Andreas Adam aus seiner reichen Sammlung für dieses wunderbare Buch ausgewählt hat.
Wir betrachten ihre Abbildungen und erfahren, wie
die Menschen ihre Stadt zu verschiedenen Zeiten
gesehen haben. Gerhard Mack
Thomas Kramer (Hrsg.): New York auf Postkarten
1880–1980. Die Sammlung Andreas Adam.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2010. 560 Seiten,
948 Farbabbildungen, Fr. 79.–.
Dieses Ida-Ding hat keine 300 000 Franken für eine Ferienwohnung, aber eine
kleine Leidenschaft. Die kann ihr keiner
nehmen. Denn sie sitzt in den Spitzen
ihrer Füsse. Ihrer riesigen Füsse. Auf
ihnen irrt sie durch die Strassen, lässt
nur die blankpolierten Spitzen in ihr
Auge blitzen und keine Auslage in den
Geschäften, keine Waren der Spektakelgesellschaft. Sie ist sich selbst Schauspiel. Ganz Fuss.
Und Selbst-Kuss: Sie liebkost sich so
mit jedem Schritt. Bis sie von einem
Auto erfasst und zerschmettert wird. Ida
endet wie die Autorin: Als arme Autodidaktin und Aussenseiterin von Raymond Queneau und Le Clézio mehrfach
für den Prix Goncourt vorgeschlagen
und immerhin mit dem Prix Lipp bedacht, starb die 82-jährige Hélène Bessette im Oktober 2000 vollkommen verarmt und vergessen.
Und verhöhnt: Denn auch Bessette
war verliebt, in ihre Versfüsse – die verschmutzen ihre Prosa, verletzen alle Regeln des Romans. Doch genau dies ist
die Aufgabe des Autors: «Gegen alle Regeln schreien!», schrieb Bessette 1959 im
«Manifeste GRP». Diese «Groupe pour
le Roman Poétique» hatte nur ein Mitglied: sie selbst. Und jetzt: uns. l
Stefan Zweifel lebt als Publizist in Zürich
und ist Mitglied des Literaturclubs des
Schweizer Fernsehen.
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
Roman US-Autor Michael Cunningham nimmt die New Yorker Kunstelite aufs Korn
Schicke Welt gerät ins Wanken
Michael Cunningham: In die Nacht hinein.
Aus dem Amerikanischen von Georg
Schmidt. Luchterhand, München 2010.
320 Seiten, Fr. 33.90.
Am Broadway ist ein Kutschenpferd von
einem Auto erfasst worden und blockiert den Verkehr. Peter und Rebecca
Harris kommen deshalb zu spät zu einer
Party der illustren New Yorker Kunstelite, als deren stolze Mitglieder sie sich
verstehen. Der Galerist und die Kunstjournalistin sind Mitte vierzig, seit
zwanzig Jahren verheiratet und wohlhabend. Der Entscheid ihrer Tochter, in
Boston ihr Studium abzubrechen, stellt
bisher das einzige kleine Ärgernis in der
Musterbiografie des Paares dar.
Doch das tote Pferd steht am Anfang
einer Serie aufwühlender Ereignisse,
welche die sorgfältig konstruierte Welt
der Harris ins Wanken bringen. Eine
Freundin der beiden erkrankt an Brustkrebs. Sie vererbt Peter ihren erfolgreichsten Künstler, dessen monumentale, mit Obszönitäten und Kraftausdrücken bekritzelte Vasen seiner Galerie
den grossen Durchbruch zu bringen versprechen. Peter beginnt an immer stärkeren Magenschmerzen zu leiden; Rebeccas Zeitschrift droht der Bankrott,
und dann zieht auch noch Missy, ihr
Nachzügler-Bruder, bei ihnen ein.
Missy, so genannt nach dem «Missgeschick», das seine Existenz begründete,
ist abwechslungsweise Genie und Sorgenkind, er nahm Drogen, meditierte in
Japan und will nun in New York «irgendetwas mit Kunst» machen. Er stellt
Peters Leben in Kürze auf den Kopf.
Denn er verkörpert in den Augen seines
43-jährigen Schwagers nicht nur dessen
verflossene Jugend, sondern eine «Reinkarnation» der jungen Rebecca und
seines früh an Aids verstorbenen Bruders, der viel mit den verwirrenden Gefühlen zu tun hat, die Peter für Missy zu
entwickeln beginnt.
Verwirrendes Innenleben
Wie in seinen bisherigen Romanen interessiert sich Michael Cunningham auch
in seinem neuen Buch mehr für das Innenleben seiner Figuren als für äussere
Handlungsverläufe. «In die Nacht hinein» ist mit einem einzigen Erzählstrang
jedoch dramaturgisch einfacher gebaut
als seine Vorgänger. Ein Erzähler stellt
Peter abwechslungsweise von aussen
und im Zwiegespräch mit sich selbst dar,
bewegt sich nah an seiner Perspektive,
ohne sie je ganz einzunehmen. Mittels
einer Stream-of-Consciousness-Technik
mischt er dabei Empfindungen und
Gesprächsfetzen, Erinnertes und Gegenwärtiges, Gedachtes und Gesagtes
durcheinander. Man mag diese stellenweise irritierend unordentliche Erzählweise wohlwollend als Versuch ausle12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
LARRY FINK / GALLERY STOCK
Von Simone von Büren
Das neue Buch des
Pulitzer-Preisträgers
Michael Cunningham
spielt im glamourösen
Künstlermilieu New
Yorks.
gen, Peters wachsende Identitätsverwirrung zum Ausdruck zu bringen.
Weit schwerer zu rechtfertigen ist der
Mangel an Differenziertheit in der Beschreibung von Peters Zuständen und
Wahrnehmungen. Er langweilt uns leider, dieser äusserst selbstbezogene Protagonist mit seinen Schlafproblemen,
lauen Beziehungen und oberflächlichen
Meditationen über Leben und Tod. Und
aus seiner Perspektive bleibt auch Rebecca bloss das Klischee der unattraktiv
gewordenen, geschäftigen Ehefrau und
Missy eine reine Projektionsfläche für
schwer einzuordnende Sehnsüchte. Es
wird ein Geheimnis um die Figuren
herum aufgebaut, das sie nicht haben:
wie um die verpackten Kunstwerke in
Peters Galerie, die sich – wo die Verpackung versehentlich aufgerissen wird –
als «Studentenarbeiten, nachgemacht
und unbeholfen» erweisen.
Statt Figuren und Dinge zu beschreiben, überhäuft der Erzähler sie mit Projektionen aus der Kunst und mit literarischen Zitaten von «Jane Eyre» und
Arthur Millers «Handlungsreisendem».
Er vergleicht Rebecca aufgrund ihrer
«kleinen Bekundungen weiblicher Gewissheit» mit den Heldinnen von Henry
James und George Eliot und spricht von
der «athenehaften Ebenmässigkeit»
ihrer Brauen. Er entwirft Missy als bronzene Rodin-Figur und den von Magenschmerzen geschwächten Peter als den
hinfälligen «Geist von Hamlets Vater».
Das Problem dabei ist, dass man
weder die eindimensional beschriebene
Rebecca mit einer George-Eliot-Figur in
Verbindung bringt noch Peter abnimmt,
dass er diesen Bezug herstellt. Man sieht
stattdessen den offensichtlich belesenen
Autor an seinen Figuren vorbeischreiben und hat dabei oft den Eindruck, eine
Menge Material sei da noch gar nicht
fertig verarbeitet worden.
Literarische Verweise
Dass der 58-jährige Cunningham zu grösserer Differenziertheit und Sorgfalt fähig
ist, hat er mit seinem pulitzerpreisgekrönten, erfolgreich verfilmten Roman
«Die Stunden» bewiesen, einem Rewriting von Virginia Woolfs «Mrs Dalloway». Auch dem neuen Roman bieten
zwei grosse Werke der Weltliteratur
einen mächtigen, wenn auch bei weitem
nicht ausgeschöpften Resonanzraum:
Thomas Manns «Tod in Venedig» und
Oscar Wildes «Dorian Gray».
Wie Aschenbach und Gray sehnt
Peter sich nach Jugend und Schönheit
und wird gleichzeitig mit der Tatsache
der Vergänglichkeit konfrontiert. In diesen grosszügigeren intertextuellen Verweisen wird Cunninghams blasser Protagonist für Momente lebendig und fassbarer in seinen Gefühlen für Missy, der
im 21. Jahrhundert seinen Platz nicht findet. In der Begegnung mit ihm – und da
hätte es interessant werden können –
spiegelt sich Peter als ein Suchender, ein
ewig Pubertärer, der um eine verlorene
Welt trauert und im modernen New
York unter die Räder kommt wie das
Kutschenpferd am Broadway. l
Thriller Für alle, die wissen wollen, wie es
bei den Bankern während der Krise zuging
One-Night-Stand
und Hedge Funds
Kurzkritiken Belletristik
Christine Brand: Das Geheimnis der
Söhne. Kriminalroman. Landverlag,
Trubschachen 2010. 298 Seiten, Fr. 38.–.
Annette Mingels: Tontauben.
Roman. Dumont, Köln 2010. 176 Seiten,
Fr. 28.90.
Bereits ein Jahr nach «Todesstrich» legt
Christine Brand ihren Krimi-Zweitling
vor. Wie schon im Erstling kann die
«NZZ am Sonntag»-Redaktorin in «Das
Geheimnis der Söhne» auf ihren Erfahrungsschatz als Gerichtsreporterin zurückgreifen. Man trifft auf alte Bekannte
wie die Kommissarin Lisa Kunz und
deren Mitarbeiter Sandro Bandini. Erneut spielt das Buch in Bern. Diesmal
geht es um Todesstrafe und späte Rache,
und Hauptfigur ist eine hartnäckige, attraktive Fernsehjournalistin mit dem
exotischen Namen Milla Nova. Die Mittdreissigerin recherchiert mit Vorliebe
auf riskantem Terrain, zum Beispiel in
der Neonazi-Szene. Bei einer Reportage
über einen Altersheim-Knast stösst sie
auf die Geschichte eines der letzten in
der Schweiz offiziell Hingerichteten. Sie
gerät selbst in Lebensgefahr. Spannend
erzählt, mit klarer politischer Botschaft.
Regula Freuler
In Annette Mingels viertem Roman geht
es um Schuld in zwei fatalen Erscheinungsformen: Seitensprung und Fahrerflucht. Dabei verwebt die 39-jährige
Schriftstellerin und Kulturjournalistin
raffiniert mehrere Zeitebenen, ein «Danach» und ein «Davor»: Das Buch setzt
ein Jahr und zwei Tage nach dem Unfalltod der 13-jährigen Yola ein und springt
dann zurück zu den Tagen vor dem Geschehen. Im ersten Teil begleitet man
Yolas Eltern und Schwester, die mit
einem Leben ringen, das «auf dem Punkt
verharre». Im zweiten Teil bestraft sich
ein ehebrecherisches Duo gegenseitig
durch emotionale Grausamkeit. Spannungsvoll fügt die Autorin die Teile zu
einem Ganzen, dennoch bleibt eine
Leerstelle. Als Leserin weiss man zwar
nun mehr als die Protagonisten, doch
die Sinnlosigkeit, die das Leben haben
kann, klingt nach.
Regula Freuler
Roman Graf: Zur Irrfahrt verführt.
Gedichte. Limmat, Zürich 2010. 87 Seiten,
Fr. 26.50.
Ermanno Cavazzoni: Das kleine Buch der
Riesen. Wagenbach, Berlin 2010.
144 Seiten, Fr. 24.50.
Im Jahr 2009 überraschte Roman Graf
mit seinem Début «Herr Blanc»: Der
melancholische und doch geheimnisvoll
heitere kleine Roman in der Tradition
Robert Walsers erzählt von einem Sonderling, den man zunächst belächelt,
dann aber immer ernster nimmt. Nun
legt der 1978 in Winterthur geborene
Autor, der zurzeit in Berlin lebt und in
Leipzig studiert, seinen ersten Gedichtband vor. Leser der Literaturzeitschriften «Akzente» und «Entwürfe»
kennen Roman Graf freilich schon als
sensiblen, formbewussten Lyriker. Er
versteht sich auf die Umsetzung
kleinster Wahrnehmungen in eine dichte, poetische Sprache ebenso wie auf
den Umgang mit der Tradition: Seine
Sappho-Nachdichtungen beweisen es.
Für eilige, flüchtige Textkonsumenten
sind diese enigmatischen Texte nichts;
neugierige, geneigte Leser dagegen werden reich beschenkt.
Manfred Papst
Der 1947 in Reggio Emilia geborene Ermanno Cavazzoni zählt wie Gianni Celati und Luigi Malerba zu den «matti padani», den Verrückten der Poebene.
Immer wieder verführt er uns mit neuen
Einfällen. Nun beschäftigt er sich mit
der Welt der Riesen. Er eruiert ihre
Grösse und ihr spezifisches Gewicht,
ihre sexuelle Anziehungskraft und ihre
Kriegswilligkeit. Er diskutiert ihre Ernährung und ihre Familienverhältnisse,
ihre Missbildungen und Psychosen, ihre
strategische Unbesonnenheit und ihr
unterirdisches Hämmern. Er erörtert,
inwiefern sie überhaupt rechtmässig
sind und ob sie als Leitern verwendet
werden können. Cavazzoni erinnert in
diesem Buch an Buster Keaton: Er verzieht keine Miene und gibt sich als akribischer Buchhalter, während der Leser
sich krümmt vor Lachen. Das an Borges
erinnernde Konzept der absurden Ordnung ist hier höchst originell umgesetzt.
Manfred Papst
Markus A. Will: Bad Banker. Friedrich
Reinhardt, Basel 2010. 736 S., Fr. 34.80.
CHRISTOF SONDEREGGER
Von Christoph Plate
Manchmal gibt es Zufälle, die gibt es gar
nicht: So etwa, wenn der miese Schurke
von Investmentbanker, der den Frauen
15 000 Dollar die Nacht bezahlt, von seinen Boni eine Insel kauft und obendrein
vor Mord nicht zurückschreckt, Lehman
heisst. Mit einem n, wohlgemerkt, ganz
so wie die zugrunde gegangene Bank.
Mitch Lehman, übergewichtig und mit
schäumendem Selbstbewusstsein, fliegt
im eigenen Jet und stillt seinen unersättlichen Hunger auf die schnelle Nummer
auch schon einmal im Fonds eines RollsRoyce. Dabei kommt der Sohn eines
Pfarrers und einer Bardame eigentlich
aus der Gosse in Los Angeles.
Lehman hat das Zeug zum Hassobjekt
für alle geprellten Kleinanleger. So ganz
versteht auch der neureiche Aufsteiger
nicht, was es mit den verschachtelten
und komplizierten Fonds auf sich hat,
die ihm seine hörigen Mitarbeiter in den
Büros der Carolina Bank in London und
New York zurechtzimmern. Ist ihm eigentlich egal, solange es die Bank reich
macht und ihm fette Boni einbringt.
Immer wieder fragt jemand in diesem
Krimi aus den Jahren der Krise von 2006
bis 2008, ob nicht jemand erklären
könne, warum alles so gekommen ist.
Der Autor hat selbst Jahre bei Merrill
Lynch und anderen in London gearbeitet und hält uns den Spiegel vor: Es ist
die Gier in den meisten von uns, die eine
unmoralische Clique von Zockern damit
beauftragte, unser Geld in immer riskantere Objekte zu stecken.
Warum welche Versicherung welchen Fonds mit hineinriss, warum rein
technisch alles so kam, wie es kommen
musste, das weiss der lesende Laie auch
nach der Lektüre nicht bis ins Detail.
Aber dafür gewährt uns Will erschreckende wie amüsante Einblicke in die
Dekadenz und Egomanie vieler Banker,
die sich um Stresstests, Quickies und
Deals dreht, um die Hybris, mit der Gestalten wie Lehman die Welt an den
Rand des Abgrunds getrieben haben.
Natürlich gibt es in diesem Krimi
auch die Guten. Der Schweizer
Bankier Carl Bensien ist so einer.
Und die britische Finanzjournalistin Carla Bell. Was sie in
New York, London, Genf
und dem Maiensäss in Zermatt erleben, gibt uns
nicht unbedingt den Glauben an die Bankiers zurück.
Aber es verschafft zumindest Gewissheit, dass nicht alle
Bankleute Verbrecher sind. l
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Gunnel Linde, Susanne Göhlich (Ill.): Mit
Jasper im Gepäck. Gerstenberg, Hildesheim 2010. 160 Seiten, Fr. 22.50 (ab 8 Jahren).
Fantasy Im Roman von Peter Van Olmen
spielen Autoren und ihre Figuren mit
Christian Tielmann: Spürst du die Angst?
Thienemann, Stuttgart 2010. 160 Seiten,
Fr. 18.90 (ab 13 Jahren).
Bücher leben
Peter Van Olmen: Odessa und die geheime
Welt der Bücher. Cecilie Dressler,
Hamburg 2010. 544 Seiten, Fr. 33.50
(ab 12 Jahren).
Jasper ist das struppigste Zwergpony
der Welt und «mindestens so süss wie
tausend Kätzchen, Eichhörnchen und
Marzipantorten, alles gleichzeitig». Anneli und Nicklas haben ihn bei einer Lotterie im Zoo gewonnen. Vor Tante Tinne
aber, die mit ihnen Urlaub in Kopenhagen macht, halten die Geschwister ihr
Glück geheim. Nicht auszudenken,
wenn sie sich von ihrem neuen Freund
wieder trennen müssten! Sie beschliessen, Jasper im Hotel zu verstecken und
dann unbemerkt nach Hause zu schaffen
– wäre er nur nicht so dickköpfig … Wie
die Tante von den Kindern an der Nase
herumgeführt wird, ist hinreissend komisch. Die 1924 geborene, vielfach ausgezeichnete schwedische Schriftstellerin Gunnel Linde zeigt in ihren mehr als
40 Büchern das eigenständige Handeln
der Kleinen immer als etwas Grosses.
Verena Hoenig
Als Amelie nicht zum Date erscheint,
ahnt Nils das Schlimmste. Zu Recht. Sie
ist entführt worden, und er, der später
Journalist werden will, stellt Nachforschungen an. Eine Spur führt zu ihrem
Vater; einem, der immer obenauf
schwimmt: Vor 1989 war er Stasi-Offizier, heute versucht er als Pressechef
eines Kraftwerks einen Umweltskandal
zu vertuschen. Seine Tochter durchleidet nun, was er als Vernehmer vor Jahren anderen angetan hat. «Spürst du die
Angst?» ist nicht einfach eine Wendegeschichte. Der Krimi stellt grundsätzliche Fragen: nach der persönlichen Verantwortung und nach Werten unabhängig vom politischen System. Erlaubt
Rache alles? Wie kann Entschuldigung
aussehen? Was ist Gerechtigkeit? Tielmann gibt keine eindeutigen Antworten,
sein Roman regt zum Nachdenken an.
Christine Knödler
Judy Blundell: Die Lügen, die wir
erzählen. Ravensburger Verlag, Ravensburg
2010. 288 Seiten, Fr. 32.70 (ab 14 Jahren).
K. A. Nuzum: Hundewinter. Carlsen,
Hamburg 2010. 208 Seiten, Fr. 20.90
(ab 10 Jahren).
Müssen Geburten schwer sein? Die Antwort in diesem Jugendbuch heisst Ja.
Doch das ist längst nicht alles. Die wunderschöne Mutter, der verehrte Stiefvater, Evies erste Liebe Peter: Menschen
sind nicht, was sie scheinen. Evie, 15,
muss sich zurechtfinden zwischen Doppelleben, Doppelmoral und (Selbst-)
Täuschungen der Erwachsenen. Die
Folgen sind fatal, alte Verbrechen ziehen
neue nach sich, der Kriegsgewinnler
von gestern plant heute neue Geschäfte,
doch ein Tornado legt nicht nur die
Stadt, sondern alle Zukunftspläne in
Schutt. Was ist die ganze Wahrheit? Die
Frage bleibt offen, aber Evie entscheidet
sich. Die Essenz dieses klugen, mitreissenden Romans, der in den fünfziger Jahren in Amerika spielt, lautet: «Ich würde
nie mehr so sein, wie ein anderer mich
haben will.» Davon zu lesen, lohnt sich.
Christine Knödler
Die Veranda ist die Grenze; weiter hinaus traut sich die elfjährige Dessa nicht
mehr, und manchmal überfällt sie der
Schneealbtraum auch tagsüber. Vor
einem Monat musste sie miterleben, wie
ihre Mutter erfror. Als Dessas Vater –
ein Pelzjäger – wieder einmal unterwegs
ist, steht ein verletzter Hund vor der
einsamen Hütte. Dessa füttert ihn. Der
Hund fasst Vertrauen, und Dessa mag
das Gefühl, gebraucht zu werden. Als
der Hund sie vor einem Bären rettet und
in Lebensgefahr schwebt, überwindet
Dessa ihre Angst vor dem Schnee und
wagt sich hinaus. Drei Figuren auf engstem Raum; doch das Buch ist kein Kammerstück, sondern eine packende Lektüre über Trauern, Ängste und die Annäherung zwischen Dessa und dem
Hund und zwischen Tochter und Vater,
die neu zusammenfinden müssen.
Andrea Lüthi
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
Von Andrea Lüthi
Auf einem nächtlichen Streifzug entdeckt die zwölfjährige Odessa ein
leuchtendes Buch und nimmt es mit. Sogleich folgen ihr unheimliche Kapuzengestalten, und ihre Mutter wird von
schweineähnlichen Monstern entführt.
Aber in Mutters Bibliothek trifft sie
einen blasierten, Zigarren rauchenden
Kanarienvogel,
dessen
respektlose
Kommentare einen schmunzeln lassen.
Er hilft Odessa, in die fantastische Stadt
Scribopolis zu gelangen. Dort leben
Schriftsteller wie Shakespeare, Flaubert
und Kafka zusammen mit Romangestalten, die sie mit Hilfe von Musenpulver
aus den Büchern holen.
Odessa erfährt, dass ihre Mutter eine
Muse ist, und ihr Vater, den sie nie kennenlernte, ein berühmter Schriftsteller.
Aber welcher? Und wer ist «der Wahre»,
der als Einziger in das Buch der Bücher
schreiben kann? Was man da hineinschreibt, geht in Erfüllung – so lässt
sich die Welt lenken. Darum sucht ein
abtrünniger Schriftsteller fieberhaft
nach dem Buch. Er hat auch den Mörser
für das Musenpulver gestohlen; den sollen die drei Mutigsten zurückholen.
Odessa besteht die Tapferkeitsprüfungen nicht, weil Dostojewski sabotiert,
aber dank den Brontë-Schwestern
nimmt sie heimlich an der Reise teil.
Neu ist die Idee, in ein Buch zu steigen oder Romanfiguren zu beleben,
nicht. In Michael Endes «Unendliche
Geschichte» oder Cornelia Funkes
«Tintenherz» steht sie im Zentrum.
Peter Van Olmen geht einen Schritt weiter. Er regt an, über die Macht der
Schreibenden und die Wirkung von Büchern nachzudenken. Dürfen Schriftsteller die Welt verbessern, oder müssten sie nicht die Phantasie wecken,
damit jeder selber fähig ist zu handeln?
Und was würde es bedeuten, selber ins
Buch der Bücher schreiben zu können?
Mit Figuren von Lancelot bis Hercule
Poirot und mit Motiven aus Mythen und
Weltliteratur richtet sich der Roman
auch an Erwachsene. Da wird etwa «der
Wahre» daran erkannt, dass er die Feder
aus dem Stein ziehen kann; und die
«Gnorks» entstanden beim missglückten Versuch, Orks aus «Herr der Ringe»
zu holen. Auch wenn das Buch gespickt
ist mit Anspielungen, die packende
Handlung trägt einen leicht durch den
action- und einfallsreichen Roman. l
Kommunikation Tiersprachen im Visier
Wau! Miau?
Kurzkritiken
Alexandra Maxeiner, Anke Kuhl
(Illustration): Alles Familie! Klett, Leipzig
2010. 32 Seiten, Fr. 22.90 (ab 5 Jahren).
Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen
für verkannte Künstler. Antje Kunstmann,
München 2010. 106 S., Fr. 23.50 (ab 7 Jahren).
Vater, Mutter, Tochter, Sohn – das ist
Bens Familie. Ganz klassisch. Viele Familien sehen heute aber anders aus: Das
eine Kind lebt nur mit seiner Mutter zusammen, ein anderes hat Halb- beziehungsweise Stiefgeschwister. Doch egal,
ob man Tochter oder Sohn in einer Adoptiv-, einer Regenbogen- oder einer
Patchworkfamilie ist: Jeder gehört zu
einer Familie und die ist einzigartig. Das
gilt auch für die Kosenamen. So sagen
manche Kinder zu ihren Eltern «Mamsko», «Mummelchen» und «Pabbo». Im
Sachbilderbuch «Alles Familie!» illustrieren Anke Kuhls unvergleichlich komische Cartoons die Beziehungsverflechtungen, die Alexandra Maxeiner
klug beobachtet und aufgeschrieben hat.
Ein spannendes Thema, das auf unangestrengte Weise erstmalig und umfassend
für Kinder dargestellt wird.
Verena Hoenig
Wie zeichnet man Augen, Nasen und
wie einen Hund oder einen Hasen beim
Mittagessen? Fröhlich nimmt Englands
populärster Cartoonist und Illustrator
Quentin Blake alle an die Hand, die besser zeichnen lernen wollen. Seine genialen Kritzeleien, seine Ideen und Tipps
kitzeln schlummernde Talente wach.
Jedes Exemplar des Buches wird darüber hinaus zum Unikat, weil es Platz bietet, die neu erworbenen Kenntnisse
gleich anzuwenden. Der Nachwuchskünstler folgt amüsiert den Anweisungen und lernt, beim Zeichnen den Kern
einer Sache zu treffen. Den Radiergummi braucht man hier nicht, wohl aber
zwei bis drei gute Stifte – und Spucke
auf dem Zeigefinger, um zum Beispiel
gerade aufs Papier gebrachte Linien effektvoll verwischen zu können. Inspirierend, innovativ und einfach grossartig!
Verena Hoenig
Axel Brüggemann: Wie Krach zu Musik
wird. Beltz & Gelberg, Weinheim 2010.
224 Seiten, Fr. 27.50 (ab 12 Jahren).
Didier Queloz: Extrasolare Planeten.
SJW, Zürich 2010. 52 Seiten, Fr. 13.–
(ab 12 Jahren).
Wie starb der Lieblingskomponist des
Sonnenkönigs? Er rammte sich einen
Taktstock in den Fuss und starb an der
Infektion. Axel Brüggemann kennt viele
Anekdoten. Vor allem aber erzählt er
anschaulich vom Alltag der Menschen
und ihren Gefühlen – ab der Antike bis
zur Moderne. In diese Bilder bettet der
Musikwissenschafter und Journalist die
Musik ein und schafft Bezüge zu anderen Kunstformen und zur Politik. Er
stellt Fragen, regt zu einfachen Übungen
an, etwa um das Geheimnis des Rhythmus zu verstehen. Auch was eine Fuge
ist, was ein Dirigent macht, wie man
komponiert oder was sich ein Sänger
beim Interpretieren eines Liedes überlegt, erfährt man in dem kurzweiligen
Buch – konkret auch in persönlichen
Beiträgen von Künstlern wie Nikolaus
Harnoncourt, Cecilia Bartoli oder Sting.
Andrea Lüthi
Nein, grüne Männchen werden nicht bemüht. Obwohl das grossformatige SJWHeft mit dem etwas sperrigen Titel von
der Suche nach Himmelskörpern handelt, auf denen ausserirdisches Leben
prinzipiell möglich wäre. Die Astrophysiker Miguel Mayor und Didier Queloz
von der Universität Genf meldeten 1995
die Entdeckung des ersten Planeten
ausserhalb unseres Sonnensystems. «51
Pegasi b» ist so gross wie Jupiter, seinem
Stern jedoch hundert Mal näher als dieser der Sonne. Queloz schildert nüchtern, wie er, damals Doktorand, ganz
allein die sensationelle Beobachtung
machte, wie der Fund die bisherigen
Theorien zur Planetenbildung über den
Haufen warf und wie die Suche nach
ausserirdischem Leben weitergeht. Geballtes Wissen, knapp, aber verständlich
aufbereitet und grosszügig bebildert.
Sabine Sütterlin
Georg Rüschemeyer: Menschen und
andere Tiere. Vom Wunsch, einander zu
verstehen. S. Fischer, Frankfurt a. M.
2010. 180 Seiten, Fr. 30.50 (ab 12 Jahren).
ANKE KUHL
Von Sabine Sütterlin
«Vor langer Zeit, als die Tiere noch
sprechen konnten …», beginnen manche
Märchen. Diesen paradiesischen Zustand (wieder) herzustellen, ist ein alter
Menschheitstraum. Der studierte Biologe und Wissenschaftsjournalist Georg
Rüschemeyer hat darüber ein wunderbares Werk geschrieben. Es sollte ursprünglich von Wolfskindern handeln.
Den Anstoss gab, dass 2008 die Geschichte eines Menschen, der angeblich
unter Tieren aufgewachsen war, als Erfindung entlarvt wurde. Rüschemeyers
Recherchen führten ihn zu weiteren Fragen: Können sich Mensch und Tier
überhaupt gegenseitig verstehen? Wie
unterscheiden sich die beiden in ihrer
Art zu denken und zu fühlen?
Daraus ist ein packendes Panorama
des aktuellen Kenntnisstandes zur Kommunikation zwischen Lebewesen geworden. Selbst Pflanzen «reden» mit
Hilfe chemischer Signale. Tiere übermitteln sich nicht nur Botschaften über
Futter oder Feindwarnungen. Auch Musikalität, Mathematik und Spielverhalten sind keine Errungenschaften des
Homo sapiens. Dennoch sind alle bisherigen Versuche des Menschen, sich mit
Tieren sozusagen auf Augenhöhe zu
verständigen, gescheitert – auch wenn
trainierte Schimpansen in Taubstummensprache nach Bananen verlangen
oder wilde Bären, Menschenaffen oder
Geparden zeitweilig Menschen unter
sich geduldet haben.
Mit beeindruckender Sachkenntnis
schildert der Autor Beobachtungen und
Experimente. Er beleuchtet kritisch
Schwachstellen in Versuchsanordnungen oder Lücken in der Beweisführung,
erledigt manchen Mythos und macht
deutlich, wo die Wissenschaft noch im
Dunkeln stochert. Ohne philosophisches Gründeln, aber auch ohne nervende Sentimentalität schildert er uns das
Wesen der Kreaturen, die wir einerseits als «Nutztiere» verbrauchen,
andererseits aber mit sinnlosem
Luxus verhätscheln. Zu den inneren Vorzügen dieses Buches gesellt
sich ein äusserlicher: Mit Leineneinband, Pappschuber und Lesebändchen müsste es eigentlich
auch bei Jugendlichen heftige
Bibliophilie auslösen.
Wenn nicht: Auch nicht mehr
ganz Junge führen es sich mit
Gewinn zu Gemüte. Schade
eigentlich, dass Tiere nicht
lesen können. l
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Interview
Der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen gehört heute zu den
einflussreichsten Denkern. In seinem aktuellen Buch entwickelt er eine
neue Idee von Gerechtigkeit. Kirsten Voigt hat mit ihm gesprochen
Reden über Recht
Bücher am Sonntag: Herr Professor Sen, in Ihrem
neuen Buch «Die Idee der Gerechtigkeit» plädieren Sie für einen Abschied von Konzepten einer
absoluten, stark reglementierten Gerechtigkeit,
die von Institutionen verwirklicht werden soll.
Welche Konzepte sollten das, was Sie «transzendentalen Institutionalismus» nennen, in der zeitgenössischen praktischen Philosophie oder Ethik
ablösen?
Amartya Sen: Ich argumentiere für eine Idee
von Gerechtigkeit, die Raum lässt für Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer konsistenten Theorie. Wir müssen nicht darin
übereinstimmen, wie eine perfekt gerechte
Welt aussehen würde. Gewiss müssen wir sehr
wohl in Bezug auf viele Elemente Einigkeit erzielen – zum Beispiel über die Bedeutung persönlicher Freiheit und Gleichheit, über die Absicht ökonomische, politische und soziale Ungleichheit abzuschaffen, über die Bedeutung
der Demokratie und unsere Fähigkeiten, frei am
politischen Leben teilzunehmen, über das
Recht auf freie Meinungsäusserung. All diese
Elemente sind wichtig, stehen aber unter Umständen sogar in Konflikt miteinander.
Sie verehren John Rawls, haben ihm Ihr Buch gewidmet. Gleichwohl vertreten Sie grundlegend
andere Positionen als Rawls in seiner 1971 erschienenen «Theorie der Gerechtigkeit». Worin
besteht der Hauptunterschied?
John Rawls ist vermutlich der bedeutendste politische Philosoph unserer Zeit. Für ihn spielt
die Freiheit eine sehr spezielle und wichtige
Rolle – und nichts weiter. Meine Theorie der
Gerechtigkeit ist stärker angepasst an die realen Verhältnisse – kompromisslos allerdings in
der Forderung, dass unsere Übereinkünfte vernunftbegründet sein müssen. Das ist die starke
Behauptung meiner Theorie: die tragende
Amartya Sen
Amartya Sen wurde 1933
in Indien geboren. Er lehrt
als Professor für Wirtschaftswissenschaft und
Philosophie an der Harvard
University in Cambridge
(Massachusetts) und erhielt
1998 den Nobelpreis für
Ökonomie. Sen studierte in
Kalkutta und am Trinity
College Cambridge, unterrichtete am MIT, in Stanford, Berkley, an der
London School of Economics und in Oxford.
Weltweit wird er auch als Berater in Politik und
Wirtschaft konsultiert: Auf seine Initiative geht
der jährlich von der Uno publizierte «Human
Development Index» zurück. Sein neustes
Werk «Die Idee der Gerechtigkeit» ist soeben
bei C. H. Beck (München 2010, 493 Seiten,
Fr. 43.50) auf Deutsch erschienen.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
«Meine Idee der
Gerechtigkeit besteht sehr
wohl auf öffentlichem
Vernunftgebrauch, aber sie
beharrt nicht auf präzise
bestimmten Grenzen.»
Wichtigkeit menschlicher Rationalität generell
und öffentlichen Argumentierens im Besonderen. Ich behaupte aber nicht, dass uns unsere
Ratio eine exakte Hierarchie der für die Verwirklichung von Gerechtigkeit wichtigsten und
weniger wichtigen Faktoren liefern könnte –
unser rationales Argumentieren kann uns nur
zu einem breiten Verständnis der Bedeutung
dieser Faktoren, der Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Würde führen.
Sie lehnen scharfe normative Trennungen ab?
Ich bin uneins mit John Rawls und Ronald
Dworkin über den Grad der Differenziertheit,
der nötig ist für eine Theorie der Gerechtigkeit.
Meine Idee der Gerechtigkeit lässt mehr zu. Sie
besteht sehr wohl auf öffentlichem Vernunftgebrauch, aber sie beharrt nicht darauf, dass dies
zu präzise bestimmten Grenzverläufen führen
kann. Ein Beispiel: Es existieren Zweifel darüber, wo genau China beginnt und Indien endet.
Tatsächlich wurde aus diesem Grund 1962 ein
Krieg geführt. Hätte man – vergleichbar mit der
Theorie der Gerechtigkeit – eine Theorie über
nationale Identitäten, die exakte Grenzen erfordert, dann müsste man sagen, man habe keine
Theorie von Indien und China – weil wir eben
nicht wissen, wo die Grenze verläuft. Ich würde
aber sagen, dass die Begriffe, die wir von China
und Indien haben, durchaus gültig und sehr
brauchbar sind. Derart fixiert auf Grenzen zu
blicken, unterminiert die Wichtigkeit der Idee,
die man eigentlich betrachten will.
Die Frage der Gerechtigkeit ist eine ökonomische
wie philosophische. Muss die Philosophie Probleme lösen, die die Ökonomie erzeugt?
(Lacht) Damit bin ich nicht einverstanden. Die
Ökonomie erzeugt Probleme – und sie muss sie
auch selbst lösen. Man kann nicht den schwarzen Peter an andere weitergeben. Philosophie
befasst sich mit grundlegenden begrifflichen
Problemen, die natürlich Einfluss auf die Ökonomie haben sollten. Umgekehrt sollte die Philosophie der Relevanz empirischer und analytischer Ergebnisse Rechnung tragen, die in den
Sozialwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft
und Psychologie erarbeitet werden.
Welchen Stellenwert messen Sie der Empirie für
Ihre «Idee der Gerechtigkeit» bei?
Das Buch ist natürlich beeinflusst durch mein
empirisches Verständnis. Aber ist es eine primär empirische Theorie? Ich weiss es nicht.
Viele meiner Punkte sind analytisch – einer ist
es komplett: Und zwar die Idee, dass die Annahme fehlerhaft ist, man könne keine vergleichenden Aussagen über ein Mehr oder Weniger
an Gerechtigkeit machen, ohne zuvor die Definition einer perfekt gerechten Welt geliefert zu
haben. Dies ist ein mathematischer Irrtum.
Man muss nicht das Maximum kennen, um
etwas verbessern zu können. Stellen Sie sich
vor, zwei Menschen streiten um die Rangfolge
von A, B und C oder A, C und B. Sie stimmen
darin überein, dass der perfekte Punkt A ist –
das sagt aber nicht, dass sie über die Rangfolge
von B und C übereinstimmen. Es ist weder
nötig noch hinreichend, eine einstimmige Idee
von perfekter Gerechtigkeit zu definieren, um
relative Gerechtigkeit zu bestimmen.
Ist ein Philosoph, dessen Biografie in Indien begann, dafür prädestiniert, sich mit dem Thema
der Gerechtigkeit zu befassen?
Sie meinen, weil es so viel Ungerechtigkeit und
Elend in Indien gibt? Vielleicht ja. Andererseits
haben wir keinen Mangel an Ungerechtigkeit
im Westen. Ich denke, dass uns unsere konkreten Erfahrungen prägen, dass wir aber in deren
Verarbeitung zu verallgemeinerbaren Schlüssen kommen müssen. Nehmen Sie etwa Nelson
Mandela. Er schildert in seinem Buch «A Walk
to Freedom», wie sich sein Verständnis von Demokratie herausgebildet hat – nicht durch das,
was er in Pretoria und der südafrikanischen Politik wahrgenommen hat, die dominiert wurde
von Apartheid und Rassismus, sondern durch
das, was er in seiner unmittelbaren Dorfgemeinschaft erfuhr, in der jeder eine Stimme in
der Diskussion hatte. In diesem Sinne ist eine
empirische Erfahrung sehr wichtig für den Einzelnen.
Unsere Fragen können sehr wohl von Erfahrungen geprägt sein …
Ja, unsere Antworten aber müssen Universalität haben. Ich hoffe, meiner Theorie ist eine
solche Universalität eigen, obschon natürlich
Vieles darin von der Erfahrung von Elend,
Armut und Ungleichheit in Indien geprägt ist –
und im Übrigen natürlich auch vom Reichtum
der indischen Ethik und Literatur.
Können Sie einige für Ihr Denken über Gerechtigkeit wesentliche indische Wurzeln benennen?
Ja. Ich glaube, es sind gar keine spezifisch indischen Ideen, aber sie wurden in Indien in den
letzten 3000 Jahren besonders stark diskutiert.
In Sanskrit gibt es etwa zwanzig Wörter für
«Gerechtigkeit». Aber zwei von ihnen sind
prinzipiell: «Niti» und «Naya». «Niti» bezeichnet Gerechtigkeit, wie sie durch Institutionen
praktiziert, durch gerechte Verhaltensmuster
verwirklicht wird. «Niti» befasst sich nicht
damit, wie das Leben der Menschen tatsächlich
als Resultat des Wirkens dieser Institutionen
NICK CUNARD / EYEVINE / DUKAS
«In Sanskrit gibt es zwanzig Wörter für Gerechtigkeit», sagt Amartya Sen, Philosoph mit indischen Wurzeln und Nobelpreisträger.
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Interview
Sie zitieren in Ihrem Buch auch Gautama Buddha, der darlegt, dass Macht oder Möglichkeiten
Verpflichtungen nach sich ziehen. Könnten Sie
dies bitte erläutern?
Gefragt wird hier, wieso eine Mutter die Verpflichtung hat, für ihr Kind zu sorgen. Der
Hauptgrund liegt nicht etwa in dem Umstand,
dass die Mutter das Kind geboren hat, er liegt in
dem Umstand, dass die Mutter vieles für das
Kind tun kann, das dieses nicht selbst für sich
tun kann. Es kommt auf die Fähigkeit an. Sie
weist der Mutter eine einseitige Verpflichtung
zu. Diese Idee der unilateralen Verpflichtung
der Mächtigen ist ein sehr starkes Konzept buddhistischer Philosophie.
Weihnachten?
Im Unterschied zu westlicher Philosophie?
Theorien der Gerechtigkeit im Westen basieren
zumeist auf dem Prinzip des Sozialvertrags –
Hobbes, Rousseau, Locke, Kant bis hin zu Rawls
stützen ihre Theorien auf die Prinzipien von
Wechselseitigkeit und Kooperation: Ich sollte
dies für dich tun, weil ich von dir erwarte, dass
du es für mich tust. Die Idee unilateraler Verantwortung geht in Indien auf das 6. vorchristliche Jahrhundert zurück, sie kann aber aus
manchen Passagen des Neuen Testaments gelesen werden: Der gute Samariter hilft dem Verletzten nicht, weil er etwas von ihm erwartet.
Unsere technischen Möglichkeiten für das, was
John Stuart Mill «government by discussion»
nennt, sind heute eigentlich so global nutzbar wie
nie zuvor. Dennoch scheinen weder ungerechte
Kriege noch die Ausbeutung natürlicher und
menschlicher Ressourcen, noch die Zerstörung
des Klimas verhinderbar. Sind Sie deshalb skeptisch gegenüber der Idee einer globalen Regierung durch Diskussion?
«Eine Mutter hat die Pflicht,
für ihr Kind zu sorgen. Nicht
weil sie es geboren hat,
sondern weil sie fähig ist,
vieles zu tun, was das Kind
noch nicht kann.»
Ich glaube an Demokratie, die von Diskussion
beherrscht wird. Ich glaube nicht an eine Weltregierung. Ich glaube daran, dass wir den Standard der weltweiten Gerechtigkeit durch eine
Reduzierung der Ungerechtigkeit erhöhen können – und zwar durch öffentliche Diskurse.
Aber wie soll eine solche globale Diskussion konkret stattfinden?
So wie wir dies jetzt tun. Wir treffen uns – Sie
kommen aus Europa, ich bin in Indien geboren
und lebe in Amerika. Wir unterhalten uns, Sie
Woran denken Sie?
Zum Beispiel an Terroristen: Sie sind keine Individualisten. Sie folgen dem Ruf ihrer Religion, der ein sozialer Ruf ist. Jeder von uns hat
mehrere Identitäten und viele von ihnen sind
sozial bestimmt. Das Individuum ist problemlos in der Lage, sich mit anderen in vielen verschiedenen Gruppen zu identifizieren. Ich
spreche mich gegen die Idee aus, es gäbe eine
primordiale, also eine ursprüngliche Kategorie,
über die sich das Individuum definieren sollte
– sei es über Religion, woraus heute sehr viel
Gewalt resultiert, sei es über seine Nationalität,
ein Prinzip auf dessen Grundlage etwa der
Erste Weltkrieg seine Opfer forderte. Viele solcher Identitäten haben Gewalt-Potenziale. Hier
korreliert mein Denken mit jenem von Karl
Marx, wenn er analysiert, was wir in Bezug auf
die Entstehung von Kriegen vermeiden müssen: Es ist die Abstraktion des Individuums von
der Gesellschaft, denn das Individuum wird sozial generiert und bleibt sozial verbunden. Man
findet verwandte Gedanken übrigens auch in
Indien. Aber wiederum handelt es sich dabei
nicht um eine speziell deutsche oder eine speziell indische Frage, sondern eben um eine humane Frage. l
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Soie pirate
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18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
www.scheidegger-spiess.ch
und Verfahrensweisen verläuft. «Naya» fragt
hingegen danach, wie das menschliche Leben
sich gestaltet, wenn Ungerechtigkeit herrscht.
Ein wesentlicher Unterschied!
Kunst I Fotografie I Architektur
Nelson Mandelas Verständnis von Demokratie speist sich aus den Erfahrungen der Dorfgemeinschaft (Foto 11.2.1990).
Insofern spielt offenbar das Individuum für Ihr
Denken eine eminente Rolle.
Ganz sicher. Der Begriff des Individuums hat
sich im zeitgenössischen Denken leider völlig
falsch entwickelt. Derzeitige Theorien separieren das Individuum nach meiner Meinung von
anderen in einer Art, die höchst merkwürdig
ist. Wir leben in einer Welt, die von unseren sozialen Beziehungen dominiert wird – diese Beziehungen sind Teil unserer Individualität. Ich
bin weit davon entfernt, die Idee des Individuums aufzugeben, was manch anderer tut und
was ich für einen grossen Fehler halte. Schliesslich bin ich eine Person, Sie sind eine Person,
und wir haben zu bedenken und zu entscheiden, was wir tun. Aber was ich tun sollte, ist
nicht lediglich durch meine Eigeninteressen
bestimmt. Ich muss keineswegs hoch moralisch
oder extrem gut sein, um an andere zu denken.
Entsetzliche Dinge geschehen im Gegenteil gerade, weil sich Menschen mit anderen identifizieren.
Scheidegger & Spiess
GREG ENGLISH / KEYSONE
publizieren unser Gespräch, andere werden es
lesen. Diese Diskussion kann nicht anders organisiert werden. Sie organisiert sich, wie Gesellschaft sich organisiert. Jürgen Habermas’ Philosophie offeriert hierzu viel – auch wenn mir
seine Vorstellungen etwas zu organisiert erscheinen, kommen sie meiner Idee von öffentlicher Kommunikation sehr nahe.
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Du Narr, als ob
unsereiner das
selber wüsste.
Charles Lewinsky,
64, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Seine Adventsparodie
«Der Teufel in der
Weihnachtsnacht» ist
bei Nagel & Kimche
neu aufgelegt worden.
Kurzkritiken Sachbuch
Ursula von Arx: Ein gutes Leben.
20 Begegnungen mit dem Glück. Kein &
Aber, Zürich 2010. 223 Seiten, Fr. 28.90.
René Holenstein: Wer langsam geht,
kommt weit. Schweizer Entwicklungshilfe.
Chronos, Zürich 2010. 293 Seiten, Fr. 38.–.
Zwei Dinge fragt man sich nach der Lektüre: Ob Ursula von Arx’ vorletzter Chef
inzwischen seinen Fehler eingesehen
hat, eine der besten Schweizer PorträtJournalistinnen entlassen zu haben (das
Erlebnis war Auslöser für dieses Buch)?
Und: Verfügt die Autorin über keinen
Selbstschutzmechanismus? In «Ein
gutes Leben» porträtiert sie unter anderem ihre Mutter und einen Ex-Freund
auf so intime Weise, dass man erschrickt,
als hätte man aus Versehen eine besetzte WC-Kabine betreten. Dass das alles
dennoch nicht befremdend wirkt, liegt
an von Arx’ feinfühliger Wortwahl und
ihrer grandios präzisen Beobachtungsgabe. Was ist Glück?, fragte sie ihre Gesprächspartner. Margarete Mitscherlich,
Tomi Ungerer, Daniel Cohn-Bendit,
aber auch ein Gebäudereiniger, eine
15-Jährige, ein Grafiker antworteten.
Eine so beglückende wie auch bereichernde Lektüre.
Regula Freuler
Der Startschuss für die Schweizer Entwicklungshilfe fiel 1961: mit der Schaffung eines Delegierten des Bundesrats
für technische Zusammenarbeit. Vor
dem 50. Geburtstag der heutigen Direktion für Entwicklungszusammenarbeit
zieht Deza-Mitarbeiter René Holenstein
differenziert Bilanz über das letzte halbe
Jahrhundert und zeichnet die künftigen
Herausforderungen. Dazwischen flicht
er ein Dutzend interessante Porträts von
schweizerischen Entwicklungshelfern,
so von Ruth Dreifuss und Walter Fust.
Die spektakulärsten Erkenntnisse sind
indes in der Einleitung versteckt: Den
meisten Menschen auf der Welt gehe es
heute besser als früher. «1990 lebte noch
ein Drittel der Menschheit in extremer
Armut – heute ist es ein Sechstel.» Die
Lebenserwartung sei durchschnittlich
um 20 Jahre gestiegen, und die Zahl der
Hungernden habe sich von 1970 bis 2007
halbiert. Das sind doch «good news»!
Urs Rauber
Marlis Pörtner: Alte Bäume wachsen
noch. Erfahrungen in späten Lebensjahren.
Klett Cotta, Stuttgart 2010. 168 S., Fr. 28.90.
Dieter Vieweger: Streit um das Heilige
Land. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
2010. 288 Seiten, Fr. 33.90.
Eine ältere Frau zieht um. Aus ihrem geliebten Haus in Zürich, in dem sie viele
Jahre gelebt hat, in eine Wohnung im
Dorf, in dem auch ihre Tochter lebt – ein
Akt der Vernunft. Schlichter könnte ein
Vorgang kaum sein. Doch der 75-jährigen Psychologin Marlis Pörtner gelingt
es, in dieser simplen Geschichte den Erfahrungsprozess eines alternden Menschen zu schildern: minutiös, traurig
manchmal, immer quicklebendig und
ohne Larmoyanz. Ein neuer Hausarzt
oder Steuerberater, die Beschwerden
und kleinen Demütigungen des Alterns,
der Gegensatz von Stadt und Agglomeration – alles, was sie bewegt, wird ausgelotet in seiner Ambivalenz. Die Aufmerksamkeit dieser klugen Frau gilt
immer beidem, den Frustrationen, die
der Zwang zur Neuorientierung beschert, ebenso wie den neuen Erfahrungen, die im Alter möglich sind.
Kathrin Meier-Rust
Wer eine fundierte Übersicht über die
Geschichte des Nahostkonflikts sucht,
greife zum Buch des Archäologen und
früheren Pfarrers Dieter Vieweger. Der
Leiter des Deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft in Jerusalem und Amman gräbt seit Jahren in
der Region. Mit seinem Handbuch zeigt
er Nichtspezialisten, welche Fakten hinter den Schlagzeilen stecken. Er beginnt
mit den geografischen Grundlagen, lässt
jüdische wie muslimische Mythen und
Traditionen folgen und beschreibt die
heiligen Stätten. Die Geschichte ab 1882
mit den ersten jüdischen Einwanderern
und die Gegenwart bilden den Kern des
Buches. Kurzporträts wichtiger Akteure
und Politikerzitate liefern Hintergrundwissen. Vieweger ist nie Partei und versucht, die verworrene Situation fair auszuleuchten. Sein nüchternes Fazit lässt
leider wenig Raum für Hoffnung.
Geneviève Lüscher
Gottfried Keller,
auf die Bitte eines
Freundes, ihm
eines seiner Gedichte
zu erklären
Auf den Lesereisen, die zum Bücherschreiben nun mal so unvermeidlich gehören wie der Muskelkater zum
Bergsteigen, werden mir oft meine eigenen Romane erklärt. Immer mal wieder
sitzt da ein Moderator neben mir am
Tisch, hat ein paar Seiten mit Notizen
voll geschrieben und ist felsenfest davon überzeugt, den Stammbaum meiner
Arbeit bis zu den tiefsten Wurzeln zurückverfolgt zu haben. Irgendwann, das
habe ich mir fest vorgenommen, werde
ich all die Bücher tatsächlich lesen,
von denen man mir schon erzählte, sie
hätten mich beeinflusst.
Ich mag solche Moderatoren. Ja, wirklich. Auch wenn sie ab und zu mit heftig gerecktem Zeigefinger Deutungen
präsentieren, die mich zweifeln lassen,
ob wir vom selben Buch reden. Oder ob
sie im Internet den richtigen Autor
gegoogelt haben. Ihre Alleswisserei hat
nämlich einen unschätzbaren Vorteil:
Da sie fest davon überzeugt sind, alle
Antworten schon zu kennen, stellen sie
mir keine Fragen. Also auch nicht diejenigen, auf die man als Schreiber nur
mit Schulterzucken reagieren kann.
Oder mit ein paar inhaltsfreien Phrasen.
Weil es nämlich auf Fragen wie «Was
haben Sie sich dabei gedacht?» keine
vernünftige Antwort gibt. Genauso
wenig wie auf «Wie ist Ihnen das nur
eingefallen?».
Wir wissen es nicht. Wir haben keine
Ahnung. Wir wollen es auch gar nicht
wissen.
Wenn ein Autor nämlich nur hinschreibt, was er sich gedacht hat, dann
merkt man das seinem Text an. Weil
dann nur ein verkopftes Etwas herauskommt, bei dem der Leser wie Torquato Tasso die Absicht fühlt und entsprechend verstimmt ist.
Und wo die Ideen herkommen, das
wollen wir noch viel weniger wissen.
Wir haben viel zu viel Angst, dass der
Prozess nicht mehr funktionieren könnte, wenn wir ihn allzu genau analysieren wollten. Dass es uns sonst geht wie
dem Tausendfüssler, dem man die
Frage stellte: «In welcher Reihenfolge
bewegen Sie Ihre Beine?» Seit er
darüber nachdenkt, fällt er nur noch
auf die Schnauze.
Und darum sind mir bei Lesungen
die superklugen Leute lieber, die sich
nicht lange mit Fragen aufhalten, sondern gleich mit den Antworten loslegen. Wahrscheinlich verstehen sie
meine Bücher wirklich besser als ich
selber. Denn unsereiner, wie der Herr
Staatsschreiber sogar
dann wusste, wenn er
ausnahmsweise nüchtern war, unsereiner
hat da keine Ahnung.
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Internet Immer öfter müssen wir uns eingestehen, dass wir von
Internet, SMS, Twitter und Co. überfordert sind. Zwei Selbstversuche
und eine Polemik zeigen die Ernüchterung nach der «iPhorie»
Und plötzlich
diese Stille
Alex Rühle: Ohne Netz. Mein halbes Jahr
offline. Klett-Cotta, Stuttgart 2010.
224 Seiten, Fr. 27.50.
Christoph Koch: Ich bin dann mal offline.
Ein Selbstversuch. Leben ohne Internet
und Handy. Blanvalet, München 2010.
271 Seiten, Fr. 22.90.
Thomas Montasser: Weil die Erde keine
Google ist. Lob des analogen Lebens.
Heyne, München 2010. 239 Seiten,
Fr. 29.90.
Von Regula Freuler
Frank Schirrmacher begann sein Buch
«Payback» mit einem Geständnis:
«Mein Kopf kommt nicht mehr mit.»
Natürlich wollte der debattenfindige
FAZ-Herausgeber damit kein Mitleid
heischen, sondern die in den USA vor
längerem erwachte internetkritische Bewegung adaptieren. «Is Google Making
Us Stupid?», fragte bereits 2008 ein Artikel im Magazin «The Atlantic», in dem
es um den negativen Einfluss des Internets auf unsere Wahrnehmung ging.
SMS, E-Mail, Twitter, Apps, Facebook,
Google, Newsticker – Aufmerksamkeitsatomisierung hat viele Namen.
Das haben auch die deutschen Journalisten Alex Rühle und Christoph Koch
festgestellt. Worauf sie sich eine «digitale Fastenkur» beziehungsweise eine
«Nulldiät» verordnet haben. Rühle,
Feuilleton-Redaktor der «Süddeutschen
Zeitung», nahm sich ein halbes Jahr offline, ein Handy (kein Smartphone!) erlaubte er sich nur auf Dienstreisen.
Koch, Redaktor bei «Neon», verzichtete
sechs Wochen nicht nur aufs Internet,
sondern auch auf sein Mobiltelefon.
Sprachlich zwar sehr unterschiedlich,
ähneln sich die Bücher in Fragestellung
und Erkenntnis frappant. Das beginnt
bei der Idee: Beide fühlten sich im digitalen Alltag verzettelt, unkonzentriert.
Und sie fühlten sich süchtig – nach der
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
totalen Vernetzung und der ständigen
Informationsversorgung. Alex Rühle
bringt es in «Ohne Netz» mit einem witzigen Vergleich auf den Punkt, indem er
einen vorangehenden Satz wiederholt
und ausgeschrieben einfügt, durch welche Websites er sich während des
Schreibens dieses Satzes hätte ablenken
lassen, wäre er online gewesen: «Das
wahrscheinlich Schlimmste spiegel.de/
panorama an der Sucht war die Aufmerksamkeitszerstäubung climatedebatedaily.org, nyt.com, die Schwierigwebmail.
sued-data.dekeit, konsistent webmail.
sued-data.de, vimeo.com über lange Strecken google.de, google.com/attentiondeficit an ein und derselben … Dingenskirchen, na wo war ich, egal, schau ich
halt irgendwas auf youtube.com.»
Auch Christoph Koch erkennt nach
Ablauf des Experiments in «Ich bin
dann mal offline» die Fatalität des Online-Multitaskings, während er zwei
Telefonate führt: «Vor sechs Wochen
hätte ich mir während dieses Doppelgesprächs noch ein Spiegelei gebraten und
auf Twitter live davon berichtet – heute
bringt es mich an den Rand des Nervenzusammenbruchs.»
Angst vor der Einsamkeit
Selbst ihre Erfahrungen im Alltag sind
weitgehend dieselben: Beide spüren
anfangs ein Phantomvibrieren in der
Hosentasche, wo sonst das Handy seinen Platz hat. Gehen in ein Reisebüro
und finden, bei der telefonischen Auskunft einen Rabatt verdient zu haben.
Verweisen auf Henry David Thoreaus
Einsamkeitsklassiker «Walden» sowie
auf den Facebook-Test der Schweizer
Kommunikationsagentur ROD («Facebookless. Mein Monat ohne Facebook»).
Und beide sinnieren über die psychologische Bedeutung des ständigen Vernetztseins, die freudige Erregtheit bei
jedem Pling, das eine Mail oder SMS
verkündet. Damit einher gehen die Be-
Was wäre, wenn es
das weltweite Netz
nicht mehr gäbe?
fürchtungen, während des Selbstversuchs zu vereinsamen. Bestätigt werden
sie keineswegs. Im Gegenteil, Rühle und
Koch sind nun disziplinierter: kein Zuspätkommen mehr, keine kurzfristigen
Absagen per SMS. Offline zu leben, stimuliert die alte Tugend Höflichkeit.
Etwas enttäuscht sind die Journalisten
dagegen in Bezug auf den erhofften
Konzentrationseffekt. Zwar fühlen sie
sich ruhiger, konzentrierter ohne Internet, doch Superhirne verleihen ihnen
ihre digitalen Diätprogramme keine.
Während Rühle in erster Linie ein
Internet-Surfer ist, steckt Koch tief im
digitalen Leben drin, ist bei Facebook,
bloggt und twittert. Sein Buch ist ein gut
vorbereitetes Survival-Projekt, für das
er ein halbes Jahr vorher zu recherchieren anfing. Er besuchte einen Rabbiner,
eine Gemeinde von Amish People in
JOHNER IMAGES / ALAMY
Missouri, interviewte einen Anthropologen und den «digitalen Bohémien»
Sascha Lobo. Er sammelte Zahlen über
den Verlust, den die Wirtschaft wegen
Spams und überflüssigem E-Mailen erleidet, und wälzte einen Berg Sekundärliteratur, die im Anhang aufgelistet ist.
So wirken seine Kapitel über weite Strecken weniger wie Tagebucheinträge als
vielmehr wie stimmig geordnete Unterlagen eines Journalisten, der über das
Thema Offline einen mehrseitigen Artikel schreiben muss.
Symbiotische Liebe
Auch Rühle hat sich auf die Off-Zeit vorbereitet, einen längeren Urlaub eingereicht und eine zeitweilige Schreibklause organisiert. Doch grundsätzlich
schöpft er aus einem anderen Topf: seiner Belesenheit. Und seiner Gabe, aufmerksam zu beobachten und das Beobachtete in so kluge wie leichtfüssige,
durchaus auch selbstkritische Sätze zu
kleiden. Während Rühle stark mit Metaphern arbeitet («Youtube ist das digitale
Bounty unserer Zeit»), bemüht Koch
eine jugendlich-coole Ausdrucksweise
und das Stilmittel der Übertreibung
(«Ich morscher alter Mann»). Zudem
spielen sich Rühles Recherchen zum
Thema weitgehend während des Experiments selbst ab. Er besuchte unter anderem einen verurteilten Steuerhinterzieher, der den Blackberry-Entzug als
schlimmer empfindet als den Freiheitsentzug, und einen Soziologen.
Das Wohltuende und Gewinnende
beider Bücher: Der 40-jährige Alex
Rühle und der 35-jährige Christoph Koch
stimmen keineswegs ein ins «Netzgeschimpfe» des «Diskursimperators
und Angstmoguls Frank Schirrmacher»,
wie Rühle schreibt. Mit dem Internet
verbindet sie geradezu eine symbiotische Liebe, denn nicht zuletzt ist es
«Journalistenbesteck». Sie wägen nicht
Vor- und Nachteile gegeneinander ab, es
geht nicht um ein Entweder-oder, sondern darum, sich bewusst zu werden,
wie sich das Leben in den letzten zehn
Jahren geändert hat.
Wie vergreist wirkt dagegen das Buch
von Thomas Montasser «Weil die Erde
keine Google ist». Man googelt schnell
nach: Der Mann ist erst 44 Jahre alt. Kein
Fall von Vergreisung also, sondern von
Frühvergreisung. Der Münchner Autor
von Kinder- und Jugendbüchern stilisiert sich als Technikphobiker, der zweihundert Jahre zu spät geboren wurde.
Aber vermutlich hätte er vor zweihundert Jahren einfach die Erfindung der
Dampfmaschine und die Entdeckung
Australiens gegeisselt. Montasser ist ein
Kulturpessimist. Jugendlichen Musikhörern unterstellt er ein «völlig erweichtes Gehirn», nimmt es als Konsens, dass im Internet «jeder Schwachkopf mitmischen möchte», und verbreitet Thesen wie: «Die Verkäufer in Elektronikfachmärkten bilden selten mehr als
Dreiwortsätze.»
Passwörter, die Anglisierung der
Sprache, Spam-Mails, GPS, Digitalfotografie, Kreditkarten – das alles überfordert ihn. Anders als Alex Rühle und
Christoph Koch hat Thomas Montasser
nicht recherchiert, seine Aussagen sind
alle «vermutlich» und «schätzungsweise», und öfters fällt der Satz: «Ich will es
auch gar nicht wissen.»
Er fürchtet um das Wohlergehen der
Kinder, die heute alle nur fernsehen und
sich in Videogames wie «World of Warcraft» verlieren, statt Scrabble zu spielen, auf Bäume zu klettern oder sich
«live» zu prügeln.
Thomas Montassers Buch ist das Gegenteil eines Selbstversuches – es ist
eine Polemik aus nahezu totaler Unwissenheit und Überforderung. Nicht nur
verflucht der Autor technische Prozesse, die er überhaupt nicht verstanden
hat. Zum Beispiel hält er die Icons auf
dem Desktop für ein Unordnung schaffendes Übermass an Programmen –
dabei handelt es sich ja nur um Verknüpfungen, die sich einfach löschen
liessen. Er verwechselt auch Begriffe
oder verwendet sie falsch. Allein in
einem kann man Thomas Montasser
Recht geben: Das Internet zerstückelt
unser Leben. Aber war es denn früher
besser? Alex Rühle schreibt in seinem
Buch: «Die Welt war immer schon eine
permanente Anpassungszumutung.» Wer
diese Zumutung nicht wenigstens zu bewältigen versucht, wäre in jedem Jahrhundert überfordert. l
Staatsbankrott –
das geht uns alle an!
Die Fülle der Informationen,
die Wittmann bietet, ist erstaunlich.
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<wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1M7NlW8pKKKpBAOEEBM39FQSD-Hnmt-Ym-BrrstfVCXQWqOz66FZMNCdnUcn2SlUFMTBrZCrJ_znUKWzADByg3Of1AIUcfhlcAAAA</wm>
Süddeutsche Zeitung
www.ofv.ch
ISBN 978-3-280-05374-4, Fr. 39.90
192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Geschichte Historiker Jörg Fisch legt eine kritische Analyse des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor
Eine schöne Idee, die
mehr Probleme schafft als löst
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht
der Völker. Die Domestizierung einer
Illusion. C. H. Beck, München 2010.
384 Seiten, Fr. 37.90.
Geschichtliche Vorgänge sind immer
begleitet von rechtlichen Überlegungen,
die sie zu rechtfertigen und ihre Ergebnisse dauerhaft festzuhalten suchen.
Diese Zusammenhänge zwischen Recht
und Geschichte haben im wissenschaftlichen Schaffen von Jörg Fisch, Professor für neuere Geschichte an der Universität Zürich, seit je einen wichtigen
Schwerpunkt gebildet. Vor über zwanzig Jahren verfasste er das Standardwerk
«Die europäische Expansion und das
Völkerrecht», das die Überseekolonisation seit ihren Anfängen verfolgte und
die von den Kolonisatoren geschaffenen
Rechtsgrundlagen prüfte. Heute legt der
Historiker wiederum ein Werk vor, in
dem es um die konfliktreiche Beziehung
zwischen Recht und Macht, zwischen
Theorie und Wirklichkeit geht.
Das Selbstbestimmungsrecht der
Völker erhebt den Anspruch, die internationalen Beziehungen auf eine herrschaftsfreie Grundlage zu stellen. Es ist
ein moderner Begriff, der erst 1966 in
den internationalen Menschenrechtspakten der Uno kodifiziert worden ist.
Danach steht jedem Volk das Recht zu,
einen unabhängigen und souveränen
Staat zu bilden. In einem ersten Teil seines Buches befasst sich Fisch mit Fragen
der Definition. Im Gegensatz zum individuellen demokratischen Freiheitsbegriff bleibt die Formel des kollektiven
Selbstbestimmungsrechts unscharf und
widersprüchlich. Allein schon der Begriff des Volkes ist, wie Fisch zeigt, vielfältig definierbar. Ein weiteres Problem
besteht darin, dass das Sezessionsrecht,
das zwingend zum Selbstbestimmungsrecht der Völker gehört, von der Uno
nirgends in vergleichbarer Form erwähnt wird. Bei solchen begrifflichen
Unzulänglichkeiten sind politische Konflikte programmiert.
Verfechter und Verächter
Im zweiten Teil seines Buches zeigt
Fisch an einer grossen Zahl geschichtlicher Beispiele, wo, mit welcher Absicht und mit welchen Folgen das Recht
auf Selbstbestimmung geltend gemacht
worden ist. Als die nordamerikanischen
Kolonien vom Mutterland abfielen, war
vom Selbstbestimmungsrecht noch
nicht die Rede. Die rebellischen Siedler
stellten nicht das Herrschaftsrecht der
Krone in Frage, wohl aber dessen als
unrechtmässig empfundene Ausübung.
Damit stützten sie sich auf das in Europa
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
NARENDRA SHRESTHA / EPA
Von Urs Bitterli
Exiltibeter fordern die
Selbstbestimmung
ihres Landes. Hier
verhaftete Aktivisten
in einem Polizeiwagen
in Kathmandu (Nepal)
am 10. März 2010.
ins Mittelalter zurückgehende Widerstandsrecht. Anders lagen die Dinge, als
sich im Amerikanischen Bürgerkrieg die
Südstaaten aus der Union lösen wollten.
Nun waren es die Nordstaaten, die einst
den Abfall vom Mutterland betrieben
hatten, die den Südstaaten das Recht auf
Selbstbestimmung verweigerten.
Mit der Ausbildung der Nationalstaaten und der fortschreitenden Demokratisierung gewann im Europa des
19. Jahrhunderts die Idee der Volkssouveränität verstärktes Gewicht, ohne
dass die Forderung nach Selbstbestimmung allgemein geworden wäre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es – eine
sonderbare Ironie der Geschichte – ausgerechnet Lenin, der dem Recht der kollektiven Selbstbestimmung zu weltweiter Popularität verhalf. Wie fragwürdig
das Selbstbestimmungsrecht freilich als
Instrument zur Konfliktvermeidung
war, zeigte sich schon in den Friedensregelungen von 1918, wo es mit dem althergebrachten Siegerrecht in Widerspruch
geriet und nachträglichen revisionistischen Forderungen Nahrung gab. Hitler, ein zynischer Verächter des Selbstbestimmungsrechts, verstand es dann
meisterhaft, dieses, wo es ihm nützlich
schien, für seine Expansionspläne einzusetzen; Fisch spricht von der «Pervertierung eines grossen Versprechens».
Mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg
einsetzenden Dekolonisationsprozess
gewann der Begriff seine grösste Wirkungskraft, erwies aber zugleich erneut
seine Fragwürdigkeit: Im Zeichen des
Selbstbestimmungsrechts lösten sich
die Kolonien vom Mutterland, versagten
dieses Selbstbestimmungsrecht aber den
innerhalb der beibehaltenen kolonialen
Landesgrenzen lebenden ethnischen
Gruppen, die es mit demselben Recht
hätten fordern können. Innenpolitische
Instabilität, durch die Rivalität der
Supermächte im Kalten Krieg noch verstärkt, war der Preis für die gewonnene
Unabhängigkeit.
Mit Genuss zu lesen
Jörg Fisch hat sich mit seinem neuen
Buch, das noch die Auflösung Jugoslawiens und des kommunistischen Ostblocks nach 1989 berücksichtigt, eine
sehr anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Er
vermag zu zeigen, wie die prestigeträchtige, von höchster Warte sanktionierte
Forderung nach Selbstbestimmung der
Völker im Kontakt mit der geschichtlichen Wirklichkeit ihren Nimbus einbüsst und eher Probleme schafft als löst.
Fisch verfügt über ein souveränes historisches Wissen, seine Argumentation ist
transparent und nachvollziehbar, und er
formuliert auch komplexe Zusammenhänge so klar, dass die Lektüre zum intellektuellen Genuss wird. Das Buch
wird ergänzt durch einen kommentierten Literaturüberblick, eine Bibliografie, Kartenillustrationen und eine
Liste der zitierten Rechtstexte. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Aufzeichnungen Intimes aus der Feder von Marilyn Monroe – aufbereitet als Preziose
Sie verkörperte Sex und Verlorenheit
Ihre persönlichen Aufzeichnungen,
Gedichte und Briefe. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2010. 272 Seiten, Fr. 37.90.
Von Martin Walder
Wer will dieses Buch kaufen? Die Antwort in einer Zürcher Buchhandlung
kommt prompt: «Fast niemand». Dabei
haben wir es bei den Gedichten, Briefen
und Notizen mit einem dieser erregenden Kartonschachtelfunde aus dem
Nachlass einer Jahrhundertikone zu tun:
MM, Marilyn Monroe!
Nach dem Tod der Schauspielerin am
5. August 1962 im Besitz ihres Freundes,
Lehrers und Mentors Lee Strasberg
(Gründer und Leiter von Amerikas berühmtester Schauspielschule, dem New
Yorker Actors Studio), wurden sie von
dessen Witwe Anna vor drei Jahren
beim Aufräumen gefunden und zur erlesenen Publikation freigegeben. Und
wieder einmal darf Marilyn auferstehen.
Sie, an der so vieles Geheimnis war und
bleiben wird. Ein Geheimnis, dem die
vorliegenden Texte nichts nähmen, versichern die Herausgeber doppeldeutig,
eher würden sie ihm Substanz verleihen.
Auf gut Deutsch: Nichts Neues unter
Marilyns dunkler Sonne, aber dies als
Preziose dargereicht.
Das vorliegende, wirklich sehr schön
aufgemachte Buch mit einem delirierenden Vorwort von Antonio Tabucchi
tut alles dafür. Es beglaubigt das wilde,
von Orthografie wenig belastete Gekritzel der Schauspielerin auf Notizpapier
und Hotelbriefbögen sowie die ordentlichen Typoskripte als fotografisches
Faksimile und arrangiert und kommentiert sie auf der gegenüberliegenden
Seite als edierten und gleichzeitig ins
Deutsche übersetzten Text. Fürwahr
keine leichte Aufgabe: Zu verfolgen ist
ein auch in der Übersetzung nicht
immer überzeugendes Surfen auf den
schäumenden Wogen von vermutlich
Gemeintem. Nicht bei Marilyns Einladungslisten natürlich, die sie als skrupulöse Gastgeberin ausweisen, nicht beim
notierten Medici-Stammbaum in Florenz, der ihren Bildungshunger dokumentiert. Schwierig wird’s dort, wo
diese sehr wache Seele direkt spricht
oder stammelt, assoziiert, sich zu artikulieren sucht. Wo alles in den «Spektralfarben aus Verlorenheit, Strahlkraft und
Sehnsucht» schillert, wie Lee Strasberg
Marilyns Erscheinung in seiner Trauerrede schön auf den Punkt brachte.
Vielleicht muss man irgendjemandem immer noch sagen, dass diese
hochtalentierte, aber ihrer seelischen
und körperlichen Direktheit (was nicht
Hemmungslosigkeit ist) ausgesetzte
Frau nicht mit ihrem Pin-up-Klischee
zu verwechseln sei, das sie als Schauspielerin so hinreissend zu bedienen
wusste. Aber solche Menschen werden
Keine Intellektuelle,
doch wache Seele:
Marilyn Monroe
(1926–1962) las ab
und zu ein Buch.
dieses Buch ohnehin nicht zur Hand
nehmen. Ebenso wenig braucht man
aber aus Marilyn eine halbe Intellektuelle zu machen, weil sie sich mit
«Ulysses» & Co. auf den Knien ablichten liess. Jedenfalls streunen wir etwas
geniert durch die Aufzeichnungen für
die MM-Spezialisten, mit dem Gefühl
des Voyeurs vor einem sehr unvergorenen und fragmentarischen Rohstoff
ihres Lebens, der uns, so, eigentlich
nicht viel angeht.
Da und dort hält man trotzdem inne:
wenn die Monroe ihrem Psychiater den
Horror einer Klinikeinweisung schildert,
wenn sie vor dem schlafenden Arthur
Miller zärtlich ihre Liebe artikuliert,
wenn sie zukunftstrotzig gleich alle
Strasbergs ins Schiff einer eigenen
Firma zu nehmen sucht. Und dann sind
da die wuchernden poetischen Fingereien, die aus ihr keine Dichterin machen. Aber eine Frau zeigen mit Gespür
für Bilder. Die tapfer nicht aufhört, ihre
schrecklichen Ängste, nicht zu genügen,
zu bannen. l
INTERTOPICS
Marilyn Monroe: Tapfer lieben.
Psychologie Der Erfinder des Schülermagazins «Spick» erklärt, wie bildliche Realität entsteht
So nehmen wir die Wirklichkeit wahr
Otmar Bucher: Kopfwelten. Was ist wahr
an unserer Wahrnehmung? NZZ Libro,
Zürich 2010. 192 Seiten, Fr. 40.–.
Von Hans ten Doornkaat
«Ich bin mir sicher, dass das Leben
falsch ist, weil es zu visuell geworden
ist», so beklagte D. H. Lawrence 1920 die
Dominanz des Sehens. Und heute? Wie
viele Bilder haben Sie heute schon gelesen? «Ich habe es gesehen» gilt nach wie
vor als Wahrheitsbeweis. Dabei verkünden Neurologie und Erkenntnispsychologie regelmässig neue Erkenntnisse zur
Bedingtheit des Sehens.
Der Grafiker und Art-Director Otmar
Bucher geht einerseits fasziniert und an-
dererseits ganz praktisch an Wahrnehmungsfragen heran: Er zeigt eine Tasse
voll schwarzer Flüssigkeit, aus der ein
Löffelstiel herausragt. Wir sehen also
eine Kaffeetasse! Umblättern: Da liegt
eine Gabel, und zähflüssig tropft Wacholderlatwerge auf die Untertasse. Wir
haben eben nicht nur gesehen, sondern
das Geschaute mit unserem Erfahrungshintergrund bewertet. Das heisst, wir
lernen sehen und unser Hintergrund beeinflusst unsere Interpretation von Bildern. Ein Europäer deutet das Rechteck
über dem Kopf einer Frau als Fenster im
Hintergrund. Ein Afrikaner liest es als
Kanister, den sie auf ihrem Kopf trägt.
Aber schon Linien, Flächen und Farben
nicht primär als Material zu sehen, sondern als spezifischen Inhalt, ist das Re-
sultat einer Konditionierung, die auch
Betrachtenden, von
vom Geschlecht der Betrachtenden,
Stereotypen und Glaubensvorstellungen
mitgeformt wird.
Buchers «Kopfwelten» ist keine trockene Theorie, sondern ein Bilder- und
Lesebuch, spielerisch wie Denksportseiten. Weil viele Erwachsene von heute
die «Spick»-Leser von einst waren, ist
dieser Band zudem eine Möglichkeit,
Teile der eigenen Medienbiografie zu
ergründen. Buchers Art, zu denken und
zu gestalten, machte «Das schlaue Schüler-Magazin» – das er zusammen mit
seiner Frau Angelika Waldis lange prägte
– zu einer Kinderuniversität avant la lettre. Und diese Aufklärung bestimmt
auch das Sachbuch des leidenschaftlichen Bildermachers. l
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Wissenschaftsjournalismus Mit seinen Artikeln verändert der amerikanische Sachbuchautor
Malcolm Gladwell die Sicht auf unseren Alltag und uns selbst
CLAUDIUS THIRIET / BIOSPHOTO
Wer die Perspektive wechselt,
erlebt die Welt neu
Malcolm Gladwell beglückt uns mit brillanten Geschichten über die Verhaltensweisen von Mensch und Tier.
Malcolm Gladwell: Was der Hund sah und
andere Abenteuer aus der Welt, in der wir
leben. Campus, Frankfurt 2010.
368 Seiten, Fr. 33.50.
Von Urs Rauber
Malcom Gladwell, 47, gehört zu den populärsten Sachbuchautoren der USA.
Der in Kanada aufgewachsene Engländer ist Historiker und arbeitete unter
anderem für die «Washington Post».
Seine Bücher, in denen er Alltagsphänomene aus Wirtschaft, Wissenschaft und
Medizin beschreibt, sind internationale
Bestseller. Der Frankfurter Campus-Verlag hat zwei davon auf Deutsch herausgebracht: «Blink!» (2005) und «Überflieger» (2009).
Sein neustes Werk «Was der Hund
sah» versammelt 19 Essays, die zwischen
1996 und 2008 im Magazin «New Yorker» erschienen sind: brillant erzählte
Geschichten über Menschen und Verhaltensweisen, geschrieben mit dem Blick
für das Aussergewöhnliche. «Aha!»,
wundert man sich nach einem Kapitel –
und freut sich auf das nächste.
In «Blink!» befasste sich Gladwell mit
der Rolle der Intuition bei der Entscheidungsfindung, in «Überflieger» mit der
Frage, warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht. Im neuen
Buch präsentiert er drei Gruppen von
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
Storys. Ein halbes Dutzend Texte handelt
von Menschen, die Gladwell «kleine Genies» nennt. Etwa die Geschichte des
Libanesen Nassim Taleb, verfasst im
Frühjahr 2002, als noch kaum jemand
den später erfolgreichen Börsenhändler
kannte. Dieser war damals ein Aussenseiter der Wall Street, der im Erfolg von Investoren wie Warren Buffett und George
Soros nicht Kalkül, sondern das Produkt
glücklicher Zufälle sah. Taleb ging von
der Unvermeidlichkeit des Scheiterns im
Börsengeschäft aus und verlegte sich auf
Optionen: Wetten auf Aktien und Wertpapiere. Seine Firma Empirica Capital
setzte stets auf beides: auf grosse Kurssprünge nach oben wie unten.
Meister der Dramaturgie
Gladwell schildert, wie die meisten
Menschen bei Investitionen eher dann
Risiken eingehen, wenn Verluste drohen, während sie risikoscheu handeln,
wenn es um Gewinne geht. Taleb verfolgte die entgegengesetzte Strategie:
«Bei Empirica birgt jeder Tag die kleine,
aber sehr reale Aussicht auf einen riesigen Gewinn, kein Risiko eines Totalverlusts und eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, eine kleine Summe zu verlieren.» Taleb wurde berühmt und verdiente auch in den Krisenjahren 2008
und 2009 gewaltige Summen. Er handelte nach der Erkenntnis über den schwarzen Schwan: «Solange wir auch weisse
Schwäne beobachten – wir können daraus nicht schliessen, dass alle Schwäne
weiss sind. Die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwans reicht aus, um
diese Schlussfolgerung zu widerlegen.»
Der schwarze Schwan – das war für
Taleb ein zufälliges und unerwartetes
Ereignis wie etwa der 11. September, das
die Märkte erschütterte.
Der zweite Teil des Buches umfasst
sieben Features, die Erfahrungen einordnen. Zum Beispiel den Unterschied
zwischen Geheimnis und Rätsel erklären. Oder die gegensätzlichen Ursachen
von Versagen beschreiben: Manche
Menschen blockieren, andere geraten in
Panik. Gladwells Schlussfolgerungen
sind leicht nachvollziehbar, weil er sie
immer an bekannten Ereignissen abhandelt. Im Falle des Versagens an der
tschechischen Tennisspielerin Jana Novotna im Wimbledon-Final 1993, als sie
im dritten und entscheidenden Satz 4 : 1
führte und bei 40 : 30 Aufschlag hatte,
also kurz vor dem Gewinn der begehrtesten Trophäe der Tenniswelt stand –
und verlor (klassische Blockade).
John F. Kennedy jr. hingegen, der im
Juli 1999 im Privatflugzeug abstürzte,
war höchstwahrscheinlich in Panik geraten (der Artikel erschien im August
2000). Gladwell ist ein Meister der Dramaturgie: Er verpackt wissenschaftliche
Erkenntnisse in überraschende Geschichten und Anekdoten, die sein Pub-
likum verschlingt und die man als Leser
gerne am Esstisch oder beim Small Talk
weitererzählt.
Im dritten Teil des Buches geht es
darum, wie wir über andere Menschen
urteilen. Müssen Genies immer Wunderkinder sein, oder gibt es darunter
auch Spätzünder? Wen stellen wir nach
einem Bewerbungsgespräch ein? Was
können Profiler aus einem Verbrechen
destillieren? Die einzelnen Beiträge
wimmeln von Sätzen, die man unterstreichen möchte. Dass etwa die hektische Suche nach menschlichen und
technischen Fehlern nach Grosskatastrophen oft nichts mehr als «Selbstbetrug und Selbstberuhigung» darstellt –
wer will das schon bestreiten?
Kühne Gedankensprünge
Gladwell zeichnet das Talent aus, auch
in der Entwicklung eines Haarfärbemittels oder einer neuen Senfsorte eine
überraschende Geschichte zu entdecken. Und er sieht im Speziellen das Allgemeine: In der Geschichte über einen
Hundetrainer, die dem Buch den Titel
gab, schildert er, wie man einem Hund
nicht nur Bewegung und Zuneigung,
sondern auch Regeln geben müsse. Ein
Hundeflüsterer denkt sich in das Tier
hinein, reagiert auf es, gibt Anweisungen. Es sei dieselbe Aufgabe, so Gladwell, die Menschen auch befähige, eine
Schulklasse zu bändigen, ein Unternehmen zu führen oder eine Armee zu befehligen. Solch kühne Gedankenbrücken
lassen einen die Welt neu sehen. Kurz:
ein erfrischender Lesestoff. l
Erhältlich in den
Buchhandlungen:
Lüthy Stocker Balmer
Orell Füssli
Thalia Bücher
Stauffacher, Bern
Meissner, Aarau
Bider + Tanner, Basel
Barth, Zürich
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… und überall,
wo es Bücher gibt!
Glücksforschung Plädoyer gegen Egoismus
Altruismus als Quelle der Seligkeit
Stefan Klein: Der Sinn des Gebens.
Warum Selbstlosigkeit in der Evolution
siegt und wir mit Egoismus nicht
weiterkommen. S. Fischer, Frankfurt
a. M. 2010. 336 Seiten, Fr. 28.90.
Von Thomas Köster
Geld macht glücklich – wenn man es
denn verschenkt. Das ist das Ergebnis
einer aufsehenerregenden Studie der
kanadischen Psychologin Elizabeth
Dunn, die der Münchner Wissenschaftsjournalist Stefan Klein in diesem Buch
zitiert. Dunn hatte ihren Probanden
Geldumschläge überreicht und jeweils
die Hälfte von ihnen angewiesen, das
Geld für sich bzw. für andere auszugeben. Überraschenderweise fühlten sich
die Verschenker danach weitaus erfüllter. «Wer freiwillig etwas für andere
tut», so Kleins Fazit, «steigert langfristig
seine Lebenszufriedenheit.»
Bekannt wurde Klein mit dem Buch
«Die Glücksformel», das den guten Gefühlen auf den Grund gehen wollte. In
gewisser Weise ist «Der Sinn des Gebens» dessen Fortsetzung – insofern, als
es im Altruismus eine Quelle der Seligkeit auszumachen glaubt. Aber es will
auch belegen, dass Selbstlosigkeit die
Menschheit als Ganzes in Krisenzeiten
retten kann.
Das klingt teils etwas märchenhaft –
aber eben auch nicht märchenhafter als
das Ergebnis der Studie Elizabeth
Dunns. So gesehen ist es allenfalls erstaunlich, mit wie vielen zoologischen
und anthropologischen Beispielen, psychologischen und soziologischen Experimenten, biologischen und neurologischen Erkenntnissen Klein seine Grundthesen belegen kann. Am Ende steht das
Bild von den Vorteilen der Grossherzigkeit. Der Homo oeconomicus macht einfach die «schlechteren Geschäfte».
In diesem Sinn ist Kleins Buch kein
Plädoyer für die im Titel werbewirksam
placierte Selbstlosigkeit. Vielmehr verweist es auf jenen egoistischen Kern,
der den meisten unserer altruistischen
Aktionen eigen ist. Schliesslich ist Glück
nicht der schlechteste Nutzen, den man
aus der Nächstenliebe ziehen kann.
Egal: Kleins Buch ist mit Gewinn zu
lesen – und dies nicht nur für jene,
denen Altruismus tatsächlich gute Gefühle verschafft. Ob man zu dieser
Gruppe gehört, lässt sich ja leicht ergründen – vielleicht sogar dadurch, dass
man einem Unbekannten zur Weihnachtszeit völlig selbstlos ein Exemplar
vom «Sinn des Gebens» schenkt. l
In einer kleinen Schweizer Stadt
ist der
los!
Teufel
Und er zeigt sich von seiner
besten Seite …
Der neue Roman des Schweizer Autors
Andreas Sommer. Teuflisch gut.*
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LangenMüller
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Guerilla Ingrid Betancourt beschreibt in einem bewegenden Report ihre sechsjährige Geiselhaft
Im Dschungel des Verbrechens
Ingrid Betancourt: Kein Schweigen, das
nicht endet. Sechs Jahre in der Gewalt
der Guerilla. Droemer, München 2010.
735 Seiten, Fr. 34.90.
Von Victor Merten
Ingrid Betancourt
(rechts) mit ihrer
Mutter in Bogotá,
unmittelbar nach
ihrer Freilassung am
2. Juli 2008.
WILLIAM FERNANDO MARTINEZ / AP
Gebannt hat die Welt am 2. Juli 2008 auf
Kolumbien geschaut. Dank einer kühnen Kriegslist der Armee war Ingrid Betancourt zusammen mit vierzehn weiteren Geiseln aus den Händen der Guerilla befreit worden – nach sechseinhalb
Jahren Gefangenschaft. Die einstige
grüne Präsidentschaftskandidatin, 2002
im Wahlkampf zusammen mit ihrer
Wahlkampfleiterin Clara Rojas von FarcKämpfern verschleppt, wurde endgültig
zum Inbild.
Seither hat der Glanz Kratzer bekommen. Betancourt zog sich aus der Politik
zurück und lebt heute in Paris und New
York. Dies trug ihr den Vorwurf ein, die
kolumbianischen Geiseln vergessen zu
haben. Frühere Mitgefangene beschrieben ihr Verhalten in der Geiselhaft als
selbstsüchtig und überheblich. Und eine
Schadenersatzforderung von 6,8 Millionen Dollar an Kolumbien wegen ihrer
Verschleppung löste einen Sturm der
Entrüstung aus.
Umso gespannter nimmt man die
Schilderung der Geiselhaft in die Hand,
die die 48-Jährige nun geschrieben hat.
Betancourt liegt in der Tat daran, sich zu
rechtfertigen. Den Umständen ihrer
Verschleppung gibt sie viel Raum, dem
Verhältnis unter den Geiseln fast zu viel,
doch ihre Sicht überzeugt. Vor allem erinnert sie eindringlich an das Schicksal,
das gegen 700 Entführte immer noch zu
erdulden haben. Ihr Bericht ist erschütternd. Was die Farc oder Revolutionären
Streitkräfte Kolumbiens tun, um gefan-
gene Genossen freizupressen, sind
schlimmste Verbrechen.
Das Geringste ist der äusserst beschwerliche Alltag von Betancourt und
Clara, zu denen bald fünf Volksvertreter,
drei US-Agenten sowie mehrere Soldaten und Polizisten stossen. Die Guerilleros halten die Gefangenen im Dschungel
in einfachsten Lagern, wo Hitze, Regen
und Ungeziefer ihnen zusetzen, Soldaten und Polizisten aneinandergekettet.
Lange Märsche auf der Flucht vor der
Armee sind an der Tagesordnung, Hunger und Entkräftung die Folge. Die Geiseln müssen stets befürchten, bei einer
Befreiungsaktion getötet zu werden.
Schlimmer ist jedoch der Hass, den
die Politikerin aus der Oberschicht von
vielen ihrer Lagerkommandanten und
Bewacher zu spüren bekommt. Sie ist
ständigen Demütigungen und Niederträchtigkeiten ausgesetzt wie offener
Schadenfreude über den Tod ihres geliebten Vaters. Kranken wird ärztliche
Hilfe verweigert, die schwangere Clara
bringt ihr Kind im Wald zur Welt. Besondere Grausamkeit ziehen die Fluchtversuche nach sich, die Betancourt unternimmt. Nach dem dritten muss sie
über zwei Jahre an der Kette leben und
darf mit niemandem sprechen.
Auch die Geiseln machen einander
das Leben schwer. Die Entbehrungen,
die Enge der Gefängnisse, in die sie in
einigen Lagern gesteckt werden, bringen ungeahnte Schattenseiten zum Vorschein, genüsslich geschürt von den Bewachern. Betancourt schliesst sich hier
selbst nicht aus und zeigt Verständnis
für das Verhalten ihrer Mitgefangenen.
In der zermürbenden Gefangenschaft
gelangt Betancourt an gefährliche gesundheitliche und psychische Tiefpunkte. Ihre Würde lässt sie sich indes nicht
nehmen. Dass sie überlebt, verdankt sie
ihrer Willenskraft, ihrem Glauben. Hoffnung geben ihr die mit ihrer Hilfe gelungene Flucht eines Polizeileutnants und
erste Freilassungen. Doch am meisten
helfen ihr die Menschen, die ihr nahestehen. Allen voran ihre Mutter, die täglich am Radio zu ihr spricht, die Erinnerung an ihren Vater und ihre Kinder, ihr
Senatskollege Luis Eladio Pérez.
Betancourt kann ihr Glück nicht fassen, als ihre Geiselgruppe vermeintlich
im Helikopter einer humanitären Mission zum Chef der Farc überstellt, aber
tatsächlich von einer Spezialeinheit der
Armee befreit wird. Plötzlich ist der
Albtraum zu Ende. Hunderte weitere
Opfer warten im Urwald immer noch
auf diesen Augenblick. l
Geschichte Das Zürcher Volkshaus, 1910 gegründet von Abstinenzlern, ist heute urbaner In-Place
Klassenkampf-Zentrale hat sich gewandelt
Urs Kälin u. a. (Hrsg.): Hundert Jahre
Volkshaus Zürich. Hier + Jetzt,
Baden 2010. 125 Seiten, Fr. 38.–.
Von Monika Burri
Der Anstoss für das Zürcher Volkshaus
kam von bürgerlicher Seite. Sozialreformer, Pfarrer und wohltätige Damen
schlossen sich 1893 zu einem Komitee
zusammen, um dem «grassierenden Alkoholismus» und weiteren Missständen
im Zürcher Arbeiterquartier Einhalt zu
gebieten. Nach Vorbild des Londoner
People’s Palace sollte ein Bollwerk der
Bildung, Hygiene und der kultivierten
Geselligkeit entstehen. Mit der Aussicht
auf Gewerkschaftsbüros und Versamm26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
lungsräume konnten schliesslich auch
Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung für das Projekt gewonnen werden.
1910 wurde der behäbige HeimatstilPalast am Helvetiaplatz eröffnet, mit
einem gesunden Restaurant, öffentlichen Bade- und Duschgelegenheiten,
Bibliotheken und Gemeinschaftssälen,
alles alkoholfrei.
In einem bilder- und geschichtenreichen Jubiläumsbuch lässt die VolkshausStiftung ihr 100-jähriges Bestehen Revue
passieren. Informative wie überraschende Recherchen, Porträts und Anekdoten
beleuchten das multifunktionale Begegnungszentrum als Brennpunkt von
Lokal-, Sozial- und Konsumgeschichte
und heben insbesondere die vielfältigen
Nutzungen der berüchtigten Klassen-
kampf-Zentrale hervor. Mit Boxwettkämpfen, bunten Abenden von Migrantinnen und Migranten, Reklamevorführungen, denkwürdigen Literaturgesprächen und spirituellen Sessionen empfahl
sich das Volkshaus stets auch als neutrale Gaststätte für Veranstaltungen.
Hausinterne Differenzen verschärften sich in der jugendbewegten Nachkriegszeit: Während im Saalbau Jazzgrössen wie Monk und Coltrane gastiergrössen
ten, verfocht der Zürcher Frauenverein
immer noch vehement sein Abstinenzregime. Seit den 1980er Jahren wurden
juristische und unternehmerische Anpassungen vorgenommen, und heute
präsentiert sich das Zürcher Volkshaus
wieder als urbaner In-Place mit einem
zeitgemässen Freizeitangebot. l
Zeitgeschichte Der Diplomat Wolfgang Petritsch zeichnet Leben und Persönlichkeit des früheren
österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky nach
Schillernder Machtpolitiker
Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky.
Die Biografie. Residenz, St. Pölten 2010.
420 Seiten, Fr. 39.90.
«Schau, schau, da geht der Jude Kreisky!» Solche Sätze bekam der nachmalige
österreichische Bundeskanzler öfters zu
hören, nachdem er aus dem schwedischen Exil im Mai 1946 nach Österreich
zurückgekehrt war. Sein Biograf Wolfgang Petritsch nimmt kein Blatt vor den
Mund, wenn er das junge Nachkriegsösterreich als eine von diktatorischer
Herrschaft geprägte Gesellschaft mit
beträchtlichem antisemitischem Bodensatz beschreibt.
Besonders die österreichische Sozialdemokratie bemühte sich aktiv darum,
nach 1945 nicht mehr als «Judenpartei»
zu gelten. Kreisky kam seine Exilerfahrung zugute, um in der Partei trotz vorherrschender antisemitischer Ressentiments wieder Fuss zu fassen.
Der 1911 geborene Kreisky war in der
österreichischen Sozialdemokratie bei
seiner Rückkehr kein Unbekannter. Obschon aus bürgerlichem Hause, engagierte er sich ab 1929 in sozialistischen
Bewegungen. Nachdem das DollfussRegime die Sozialdemokratie 1934 verbot, folgten illegale politische Aktivitäten, für die er ein Jahr lang ins Gefängnis
wanderte. Nach dem «Anschluss» emigrierte Kreisky 1938 nach Schweden, wo
er zahlreiche Kontakte zur dortigen Sozialdemokratie knüpfte und unter anderem den aus Deutschland emigrierten
Willy Brandt kennenlernte, der ihm zeitlebens zum Freund werden sollte.
Vor allem aufgrund dieser internationalen Vernetzung zog Kreisky bei seiner
Rückkehr nach Wien das Interesse der
österreichischen Sozialdemokratie auf
sich. Er machte rasch Karriere in der
Aussenpolitik und war zwischen 1959
und 1966 Aussenminister. Als solcher
entwickelte er aussenpolitische Initiati-
INTERTOPICS
Von Fritz Trümpi
Bundeskanzler Bruno
Kreisky (rechts)
scheute sich nicht,
auch Libyens Diktator
Ghadhafi in Österreich zu empfangen
(10. September 1982).
ven, die sich der Befestigung der Neutralität, der Südtirol-Frage, der Entwicklungszusammenarbeit mit der «Dritten
Welt» oder dem Nahostkonflikt widmeten. Um letzteren entspannen sich heftige Kontroversen: Kreisky pflegte enge
Kontakte zu arabischen Ländern und tat
sich als Kritiker des Zionismus hervor,
was zu argen innen- und aussenpolitischen Verstimmungen führte. Kreisky
wurde in der Folge des «jüdischen
Selbsthasses» bezichtigt.
Daran knüpfte sich ein anhaltender
innenpolitischer Konflikt, als Kreisky
nach mehreren Jahren als Oppositionsführer 1970 zum Bundeskanzler gewählt
wurde: Eine Reihe seiner Minister wiesen eine NS-Vergangenheit auf, was
Simon Wiesenthal publik machte. Kreisky stellte sich schützend vor sein Kabinett, beschimpfte Wiesenthal als «jüdischen Faschisten» und trat eine heftige
Kampagne gegen diesen los.
Es war ein hoher Preis, den Kreisky
zu zahlen hatte, um zum erfolgreichsten
und beliebtesten österreichischen Nach-
kriegspolitiker aufzusteigen: Im mitunter antisemitisch geprägten Nachkriegsösterreich musste er bis zu einem gewissen Grad auf Distanz zu seiner jüdischen
Herkunft gehen. Die Verdienste indes,
die der schillernde Machtpolitiker in
seiner 13 Jahre währenden Kanzlerschaft
durch Reformen im Schul- und Universitätswesen, in der Sozial-, Wirtschaftssowie in der Kulturpolitik für sich beanspruchen darf, sind gross.
Der einstige Sekretär Kreiskys und
Diplomat Wolfgang Petritsch – er war
unter anderem Hoher Repräsentant für
Bosnien und Herzegowina – widmet solchen Konflikten zwar Aufmerksamkeit,
sein hauptsächlicher Blick gilt jedoch
den unbestrittenen Leistungen von
Kreiskys Politik. Es ist denn auch weniger das Buch eines urteilsfreudigen Historikers als das eines abwägenden Diplomaten, das informativ und unterhaltsam das Leben eines österreichischen
Ausnahmepolitikers nachzeichnet, der
Anfang nächsten Jahres seinen 100. Geburtstag feiern könnte. l
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Linguistik Prägt das Reden unser Denken? Ja, meint
Guy Deutscher in seinem neuen Buch
Sprache entlarvt
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache.
Warum die Welt in anderen Sprachen
anders aussieht. C. H. Beck,
München 2010. 320 Seiten, Fr. 34.90.
Von Sieglinde Geisel
Die Antike sah den Menschen als «das
Tier, das Sprache hat». Der Mensch sei
«das Säugetier, das das Futurum des
Verbs sein gebraucht» – so George
Steiner 1981 in seinem Buch «Nach
Babel»: Erst mit der Entwicklung des
Futurs sei dem Menschen die Zukunft
aufgegangen und damit die Fähigkeit
zur Hoffnung, so seine These.
Der aus Israel stammende und in Oxford lehrende Sprachwissenschafter
Guy Deutscher zitiert Steiners These in
seinem neuen Buch – doch nur, um sie
gleich als Mythos ad acta zu legen, wie
übrigens fast alle geläufigen Aussagen
darüber, wie die Sprache unser Denken
forme. Die auffällige Armseligkeit von
Homers Farbwortschatz etwa führte im
19. Jahrhundert zu erregten Spekulationen über einen fehlenden biologischen
Farbsinn der alten Griechen.
Anderthalb Jahrhunderte später behauptet auch die Sapir-Whorf-These,
dass die Sprache das Bewusstsein spiegle: Die Hopi-Sprache kenne keine Zeitbegriffe, und dies zeige, dass die HopiIndianer ausserhalb der Zeit lebten. Mit
Noam Chomskys Theorie einer universalen Grammatik wechselte das Pendel
in den 1970er Jahren dann die Richtung:
Da jeder Mensch jede Sprache lernen
kann, müssten in der Tiefenstruktur der
Grammatik jeder Sprache die gleichen
Prinzipien gelten. Die Behauptung, alle
Sprachen seien gleich komplex, ist das
jüngste Dogma, von dem Deutscher sich
verabschiedet – eine politisch korrekte
Abbitte für die eurozentrische Annahme, die Sprachen von Eingeborenen
seien «primitiv». Dabei sind es gerade
diese kleinen, isolierten Sprachgemeinschaften, die Aufschluss über die fundamentale Verschiedenheit der Sprachen
geben könnten – allerdings nur, wenn es
uns gelingt, sie noch aufzuzeichnen. Bis
in zwanzig Jahren wird die Hälfte der
heute 6000 Sprachen ausgestorben sein.
Grundsätzlich lasse sich jeder Gedanken in jeder Sprache ausdrücken, davon
ist Guy Deutscher überzeugt. Wichtiger
als die Frage, welche Aussagen eine Sprache uns gestatte, sei die Frage, zu welchen Aussagen sie uns zwinge. Im Deutschen beispielsweise müssen wir das
Geschlecht bei Wörtern wie «Freund»,
«Nachbar» usw. nennen, während im
Englischen diese Personenbezeichnungen neutral sind. Die Sprache präge
das Denken vor allem durch Gewohnheiten. In der Aborigine-Sprache der
Guugu Yimithirr etwa werden Ortsbezeichnungen durch Himmelsrichtungen
angegeben, ein grammatisches Geografie-Training, das im Bewusstsein Spuren
hinterlasse. Ähnlich verhält es sich mit
den Farben: Jene Farben, für die es in
Australische Aborigines sprechen eine komplizierte Sprache.
ihrer Sprache Wörter gibt, erkennen
Testpersonen schneller als unbenannte
Farbtöne – dies bedeute jedoch keinesfalls, dass Völker, die etwa für Grün und
Blau nur ein einziges Wort haben, diese
Farben nicht sehen können.
Farben, Raum, Genus – auf diese drei
eng eingegrenzten Beispiele stützt sich
Deutscher in seinen Überlegungen. Ist
die Weiblichkeit des Worts «die Brücke» im Deutschen eine blosse grammatische Konvention, oder schreiben wir
dem Wort Brücke unbewusst tatsächlich
Schwarze Pädagogik Schüler wird von Lehrer zu Tode geprügelt – so war der Zeitgeist vor 100 Jahren
Züchtigungen und kalte Duschen
Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die
Geschichte eines Kriminalfalls. Suhrkamp, Berlin 2010. 280 Seiten, Fr. 30.50.
Von Kathrin Meier-Rust
Im Sommer 1902 stellt das vermögende
Berliner Bankier-Ehepaar Koch den
23-jährigen Jura-Studenten Andreas
Dippold als Hauslehrer für die beiden
jüngsten Söhne ein: Der dickliche, gutmütige Heinz, 13, und der kränkliche
Joachim, 11, waren schlechte Schüler
und galten als faul und geistig träge. Als
auch Dippold keine Fortschritte erreicht, will er seine Schüler von jeder
Zerstreuung entfernen.
Auf dem Familiengut im Harz, später
in einer abgelegenen Hütte, soll nun modernste Reformpädagogik die verwöhnten Knaben stärken und bessern:
früh aufstehen, kalt duschen, nackt
schwimmen – und bald auch Züchtigungen gehören zum Erziehungspro28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
gramm. Denn, so entdeckt der Hauslehrer, die beiden Knaben onanieren! Die
verängstigte Mutter schreibt mahnende
Briefe, der beschäftigte Vater verlangt
erfolgreiche Söhne, der selbstgewiss
auftretende Lehrer scheint die letzte
Rettung. Einzig ein Gärtner protestiert
gegen die Misshandlung der Kinder. Der
Nervenarzt Oskar Vogt dagegen, den die
Mutter daraufhin entsendet, findet
nichts Ungewöhnliches; er verschreibt
ein Schlafmittel, um das Masturbieren
zu bekämpfen. Bald informiert ihn der
Hauslehrer, dass die Knaben besser
schliefen, seit er das Bett mit ihnen teile.
Dass er sie an Händen und Füssen fesselte, wird erst im Obduktionsbericht
festgehalten. Im März 1903 war Heinz
gestorben: Tiefe Verletzungen übersäten seinen Körper. Wie hatte es dazu
kommen können – elterliche Verantwortungslosigkeit, wahnhafte Pädagogik,
Perversion eines Lehrers?
Sachlich, geradezu lakonisch, erzählt
der Wissenschaftshistoriker Michael
Hagner zunächst die Geschichte dieses
Kriminalfalls, um dann mit grösster
Akribie die Diskussion auszubreiten, die
dieser Fall nicht nur in einer empörten
Öffentlichkeit, sondern vor allem in den
Wissenschaften auslöste: Pädagogen,
Mediziner, Psychiater, Kriminal-, Sozialund Sexualwissenschafter fühlten sich
berufen, gelehrte Positionen zu markieren – zur Prügelstrafe (unverzichtbar)
und Onanie (schädigend und gefährlich), zu angeborenem Verbrechertum,
Sadismus und sexueller Perversion des
Hauslehrers. Ansichten, die sich oft auf
nicht viel mehr stützten als Presseberichte und Vorurteile und die uns heute
nur noch unmenschlich, unwissend und
grotesk erscheinen – es ist die geistige
Welt, die Michael Hanekes Spielfilm
«Das weisse Band» in verstörender
Weise vorgeführt hat.
Um diesen ebenso verworren-pompösen wie latent gewaltsamen wilhelminischen Zeitgeist zu rechtfertigen,
wurde damals der Hauslehrer zur «per-
Erinnerungen Signe von Scanzoni war die letzte Lebensgefährtin von
Erika Mann. Nun erscheint ihr Bericht über diese schwierige Beziehung
Geschichte einer Passion,
die auch ein Irrtum war
Ein Bericht über Erika Mann.
Hrsg. Imela von der Lühe. Wallstein,
Göttingen 2010. 244 Seiten, Fr. 33.50.
PENNY TWEEDIE / PANOS
Von Andreas Tobler
«weibliche» Eigenschaften zu? Die Experimente allerdings, mit denen solche
Fragen untersucht werden, sind so ausgeklügelt wie schlicht. Dies ergibt bestenfalls ein paar armselige Schlaglichter,
die jedoch die geheimnisvolle Beziehung zwischen Sprache und Denken
nicht grundsätzlich zu erhellen vermögen. Man hatte es geahnt – der Untertitel
«Warum die Welt in anderen Sprachen
anders aussieht» verspricht mehr, als
das (streckenweise nervtötend launig
geschriebene) Buch hält. l
versen Bestie» gestempelt. Dippoldismus wird ein Synonym für pädagogischen Sadismus. Ganz im Einklang mit
der Familie Koch und dem Nervenarzt
Vogt, die um ihren Ruf fürchteten und
deshalb jede Mitschuld weit von sich
wiesen, fanden Öffentlichkeit und Wissenschaft einen beruhigenden Konsens
im Abscheu über ein krankes Individuum. Dass es die Gesellschaft war, die
krankte, blieb unerkannt. Hierin liegt die
subtile Beunruhigung, das dieses so unaufgeregt erzählte Lehrstück hervorruft:
Wie, so fragt man sich, werden unsere
heutigen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse in hundert Jahren beurteilt?
Dippold selbst fühlte sich zu jedem
Zeitpunkt schuldlos, er verteidigte seine
erzieherischen Massnahmen stets als
wissenschaftlich, modern und gutgemeint. Dass sie bei einem offenbar biologisch minderwertigen Kind erfolglos
blieben, sah er als harte Realität. Der
Hauslehrer sass acht Jahre im Zuchthaus
und verschwand dann in Brasilien. l
«Nach drei Wochen Qual bist Du endlich in die Bewusstlosigkeit gefallen. Es
dauert noch fünf Tage und vier Nächte,
ehe ich Deinen letzten Atemzug höre.»
Mit diesen Worten beginnt Signe von
Scanzoni am 5. April 1970 das abschliessende Kapitel ihres Berichts über die
letzten Monate ihrer Lebensgefährtin
Erika Mann, die etwas mehr als ein
halbes Jahr zuvor im Kantonsspital Zürich, dem heutigen Universitätsspital,
gestorben war. «Als ich noch lebte» – so
der Titel des Berichts – ist ein intimes,
ein ergreifendes Dokument, in dem die
zuletzt als Musikjournalistin tätige
Signe von Scanzoni (1915–2002) in Form
eines literarischen Briefes die letzten
Monate ihrer zwölfjährigen Beziehung
mit Erika Mann (1905–1969) Revue passieren lässt – und gleichzeitig Abschied
nimmt.
Der Briefbericht, der im vergangenen
Jahr bei Signe von Scanzonis Testamentvollstrecker aufgetaucht war und nun
von der Erika-Mann-Biografin Irmela
von der Lühe herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen wurde, ist intim, weil darin von zwei
Menschen mit unterschiedlichen Biografien und Lebenshaltungen erzählt
wird, die versuchten, sich in vorgerücktem Alter «zu einer hilfreichen
Symbiose zusammenzuschliessen». Die
Bilanz dieses Lebensversuchs fällt ernüchternd aus. Der Versuch sei gescheitert, schreibt Signe von Scanzoni, deren
Bericht nicht zuletzt deshalb so berührend ist, weil sie darin nichts schönt
oder rückblickend verklärt.
Mit der Hingabe der Freundin, dann
wieder distanziert und analytisch, episodisch und assoziativ macht sich Signe
von Scanzoni daran, den «ganzen Lebensfilm» ihrer eigenen Person und den
ihres Gegenübers zu entwickeln. Dabei
stellt sie ihre Diskussionen über das im
Bericht oft zitierte Werk Thomas Manns
und ihre konfliktreichen Gespräche
über Erika Manns Engagement in der
Emigration und Signe von Scanzonis
Verbleib im NS-Regime dar.
Von ihrer Faszination gegenüber
Erika Manns «unbedingtem Passioniertsein» ist ebenso die Rede wie von Signe
von Scanzonis verbindlichem Desinteresse, mit dem sie Erika Manns Klagen
über das Dasein als Thomas Manns
«Nachlasseule» anhörte. Doch auch für
Signe von Scanzoni war es schwierig,
hinter den «Schutzwall der preziösen,
pointierten Sprache» Erika Manns zu
dringen. «Deine Erzählungen, bunt,
skurril oder drollig, haben textlich eine
feste Form.»
Erst spät bemerkte Signe von Scanzoni, dass Erika Manns Erzählungen, Geschichten und Legenden aus der Familienhistorie, letztlich nur ein Ausgleich
für eine Gegenwart waren, in der sich
die politisch engagierte Schauspielerin,
Publizistin und Vortragsreisende aus
Pflichtbewusstsein in einen «Cocon»
der Familienangelegenheiten eingesponnen hatte, dessen Fäden – so Irmela
von der Lühe – durch Krankheit und Klinikaufenthalte immer enger gezogen
wurden. Die Befreiung aus diesem
Cocon gelang nicht mehr. So nennt
Signe von Scanzoni ihren Bericht denn
auch die «Geschichte einer Passion und
eines Irrtums». «Unser Irrtum bestand
darin, dass wir glaubten, dass man zu
später Lebensstunde durch Veränderungen äusserer Umstände Fehlhaltungen korrigieren kann.»
Der Traum von einer gemeinsamen
Zukunft in einem eigenen Haus, das als
Papiermodell gefaltet wurde, konnte
nicht mehr Wirklichkeit werden. Am
30. August, dem Tag der Trauerfeier für
Erika Mann, «habe ich das Häuschen
wieder entfaltet, klein zusammengelegt
und mit ein paar Buschröschen in das
Grab geworfen». l
Erika Mann (1905–
1969) spielte viele
Rollen: Schauspielerin, Kabarettistin,
Schriftstellerin und
Nachlassverwalterin
(Bild aus den sechziger Jahren).
KURT SCHRAUDENBACH / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Signe von Scanzoni: Als ich noch lebte.
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Forscherkrimi Wie Wissenschafter und Laien einem namenlosen Skelett zu Ruhm und Ehre verhalfen
Seine Zahnlücke verriet ihn
Gerhard Hotz, Kaspar von Greyerz, Lucas
Burkart (Hrsg.): Theo der Pfeifenraucher.
Leben in Kleinbasel um 1800. Christoph
Merian, Basel 2010. 236 Seiten, Fr. 39.–.
Von Geneviève Lüscher
Theo der Pfeifenraucher, wie das Skelett
dank einer charakteristischen Zahnlücke liebevoll genannt wird, ist weit über
Basel hinaus bekannt. Vor über 20 Jahren kam es in einem namenlosen Grab
im Kleinbasler Gottesacker bei St. Theodor zum Vorschein. 2007 startete dann
ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das sich der Frage widmete, was
heute mit Hilfe anthropologischer und
historischer Methoden über eine vor
200 Jahren verstorbene Person herausgefunden werden kann.
Seither berichteten die Medien regelmässig über die Fortschritte in der Iden-
titätsfindung Theos. Obwohl es nicht
gelungen ist herauszufinden, wer er
wirklich war, konnte der Personenkreis
mit vereinten Kräften auf drei Individuen eingeschränkt werden, was eine beträchtliche Leistung darstellt. Mit einer
Publikation wurde das Projekt nun abgeschlossen; 31 Autoren und Autorinnen
sowie 50 ehrenamtliche Mitarbeitende
haben daran mitgewirkt. Dem Herausgeber Gerhard Hotz und seiner Beharrlichkeit ist es aber zu verdanken, dass
die vielen Fäden nun zu einem glücklichen Ende verknüpft werden konnten.
Das spannende Buch liest sich wie ein
Krimi, der sich neben wissenschaftlichen Erörterungen auch grosszügige Exkurse historischer und kultureller Art
erlaubt. Man erfährt etwas über DNAAnalysen, über Geschlechts- und Altersbestimmungen am Skelett, über Zahndeformationen, aber auch über die Lebensumstände der Unterschicht einer
städtischen Gesellschaft zwischen 1780
und 1830. Gerade diese kulturgeschichtlichen Beiträge erschliessen Neuland:
Wie lebten damals die kleinen Leute,
wie gestaltete sich ihr Alltag, welche
Sorgen plagten sie? Und Schritt für
Schritt tritt Theo aus der Anonymität
heraus, erhält ein Gesicht, ein Alter, eine
Geschichte, eine Todesursache, einen
Beruf. Umfangreiche Recherchen in den
Archiven liefern mögliche Stammbäume. Aus all diesen Forschungen schälten
sich schliesslich auf dem Indizienweg
drei Topkandidaten heraus: der Glasermeister Christian Friedrich Bender, der
berufslose Achilles Itin und der Kesselflicker Peter Kestenholz. Aufwendige
genealogische und berufsspezifische
Nachforschungen erlaubten es, die drei
Lebensläufe zu rekonstruieren und die
familiären Umfelder der Kandidaten
näher zu umschreiben. Einer davon
muss Theo gewesen sein. l
Das amerikanische Buch 14 Stationen von George W. Bushs Präsidentschaft
«Decision Points» ist dennoch von
historischem Wert. Die zahlreichen
Bibelzitate und Hinweise auf Gebete
verdeutlichen die zentrale Rolle seines
Christentums für Bush, der sich dank
der Bibel mit 40 endlich vom Teufel
Alkohol lossagen konnte. Darüber
hinaus wirkt das mit Hilfe zahlreicher
Assistenten flüssig geschriebene Buch
trotz seines selbstherrlichen Tons
wie eine Verteidigungsschrift und legt
den wohl grundlegenden Konflikt
in Bushs Biografie frei. Seine Entscheidungsfreude erscheint als Reflex auf
eine tiefe Unsicherheit, die ebenso in
30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. November 2010
DOUG MILLS / AP
Ghraib-Gefängnis schiebt er wie schon
in seiner Amtszeit auf Subalterne ab,
und sein über zweijähriges Zögern vor
der Entlassung des Pentagonchefs
Donald Rumsfeld erklärt Bush schlicht
mit dem Mangel an geeigneten Nachfolgern. Bei der Wahl seines Vizepräsidenten Dick Cheney will er dagegen
allein aus eigener Überzeugung gehandelt haben, während viele Quellen dafür sprechen, dass sich Cheney mit der
ihm eigenen Kaltblütigkeit selbst für
dieses Amt positioniert hat.
Präsident George W.
Bush spricht am
11. September 2001,
dem Tag der Anschläge
auf das World Trade
Center, zur Nation.
Autor George W. Bush
(unten).
REUTERS
Zu den überflüssigsten Ritualen der
amerikanischen Politik zählen die
von Präsidenten nach ihrer Amtszeit
verfassten Memoiren. Diese dienen
laut dem «Time Magazine»-Reporter
Joe Klein vorwiegend «der langatmigen
Selbstbeweihräucherung und der
Vernebelung der Tatsachen». Einen
Tiefpunkt dieses deprimierenden Genres stellen für Klein und die überwiegende Mehrheit seiner Kollegen die
Memoiren von George W. Bush dar.
In den letzten Jahren hat kaum ein politisches Buch in den USA derart
schlechte Kritiken geerntet wie Decision Points (Crown, 497 Seiten). Bush
lässt keine ernsthafte politische Philosophie erkennen. Stattdessen führt er
den Leser durch einen Präsidentschafts-Parcours mit 14 Stationen, die
jeweils spezifischen «Entscheidungen»
etwa zu den Invasionen in Afghanistan
und Irak, dem Hurrikan Katrina oder
seiner «Freiheits-Agenda» für Nahost
und den Rest der Welt gewidmet sind.
Die Widerlegung seiner jeweiligen
Behauptungen hat sich rasch zu einem
Volkssport für die Kritik entwickelt.
mangelnder Sachkenntnis oder Nachdenklichkeit fussen dürfte wie in einem
Zwang zur Rechtfertigung seinen Eltern
gegenüber. Mutter Barbara tritt meist
als bissige Spötterin auf und wird dem
Selbstbewusstsein ihres ältesten Sohnes
kaum dienlich gewesen sein. Noch häufiger wird «Dad» George senior zitiert,
dessen Zustimmung etwa zum Irak-Krieg
Bush als schlagendes Argument für
die Korrektheit dieser schlecht begründeten und noch schlechter exekutierten
Entscheidung anführt.
Immer wieder wirkt der Entscheidungsträger seltsam passiv. Für Missgriffe wie
die zu geringe Truppenstärke in Afghanistan und im Irak macht Bush verfehlte
Ratschläge seiner Militärs verantwortlich. Den Missbrauchsskandal im Abu-
Generell sucht Bush Fehlentscheidungen kleinzureden, oder er blendet Zusammenhänge aus. Obwohl er vor
seiner Präsidentschaft monatelang
aussenpolitischen Nachhilfeunterricht
von «Neocons» wie Paul Wolfowitz
und Richard Perle erhielt, fehlt das
Wort neokonservativ in «Decision
Points». Ebenso der Hinweis auf die
saudische Staatsbürgerschaft der meisten Attentäter von 9/11. Dies mag den
engen Beziehungen der Bush-Sippe zu
den arabischen Ölmonarchen geschuldet sein. Auch die verheerenden Konsequenzen seiner Kriegszüge für
irakische und afghanische Zivilisten
sind Bush nicht der Rede wert.
Tragikomisch muten dagegen die Seiten zum «Friedensprozess» im
Palästinakonflikt an. Da hastet Bush
innert weniger Absätze vom Frühjahr
2002 zum Januar 2009, immer beschwörend, wie wichtig ihm das Thema ist.
Doch am Ende kann er nichts als die
platte Hoffnung vorweisen, dass in
Nahost dank «visionärer Führungskraft» doch noch irgendwann Frieden
und Freiheit einziehen werden. l
Von Andreas Mink
Agenda
Agenda Dezember 10
Fotografie Ikonen der Rockmusik
Basel
Donnerstag, 2. Dezember, 19 Uhr
Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Lesung,
Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
Donnerstag, 2. Dezember, 20 Uhr
Marianne Vogel Kopp: Der Spur nach.
Lesung. Forum für Zeitfragen, Leonhardskirchplatz 11, Tel. 061 264 92 00.
Herta Müller: Lesung
und Gespräch mit der
Literaturnobelpreisträgerin, Fr. 25.–. Literaturhaus, Stadtcasino,
Steinenberg 14, Vorverkauf Tel. o61 206 99 96.
ROBERT GHEMENT / EPA
Mittwoch, 8. Dezember, 19.30 Uhr
Bern
Mittwoch, 1./8./15./22. Dezember, 13 Uhr
Adventsgeschichten am Mittag.
15 Minuten Auszeit mit Kaffee oder Tee.
Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14,
Tel. 031 309 09 09.
Rock ’n’ Roll, aber auch den Beatles und den Rolling
Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix, Prince und Iggy
Pop, Marilyn Manson und Franz Ferdinand. Die Auswahl der Bilder besticht ebenso wie die Qualität der
Reproduktionen. Dass etliche Bilder über den Falz
gezogen wurden, liess sich formatbedingt wohl kaum
vermeiden. Manfred Papst
A Star Is Born. Fotografie und Rock seit Elvis.
Edition Folkwang/Steidl, Göttingen 2010. 335 Seiten,
320 Abbildungen, Fr. 43.50.
Sachbuch
1 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 40.50.
2 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 33.50.
3 Manhattan. 464 Seiten, Fr. 26.90.
4 Blanvalet. 832 Seiten, Fr. 42.90.
5 Limes. 416 Seiten, Fr. 33.90.
6
Diogenes. 240 Seiten, Fr. 32.90.
7 Heyne. 3 Bände, 2288 Seiten, Fr. 66.90.
8 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 35.90.
9 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 224 S., Fr. 15.90.
10 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 38.90.
1 List. 220 Seiten, Fr. 33.90.
2 DVA. 464 Seiten, Fr. 38.90.
3 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90.
4 Wörterseh. 302 Seiten, Fr. 39.90.
5 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90.
6 Heyne. 736 Seiten, Fr. 44.90.
7 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90.
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Elizabeth George: Wer dem Tode geweiht.
Tess Gerritsen: Totengrund.
Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen
des Ödipus.
Stieg Larsson: Die Millennium-Trilogie.
Lukas Hartmann: Finsteres Glück.
Sila Sönmez: Das Ghetto-Sex-Tagebuch.
Martin Suter: Der Koch.
Montag, 20. Dezember, 19 Uhr
Peter Bissegger: Grosse Schweizer Kleinkunst. Foyergespräch. Das Zelt, Papiermühlestrasse 50, Tel. 0848 000 300.
Dienstag, 7. Dezember, 20 Uhr
Belletristik
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf.
Roman Graf: Lesung und Diskussion
zum Thema Literatur als Seismogramm
des Zeitgeists. Universität Bern, Hochschulstrasse 4, Tel. 031 631 81 11.
Zürich
Bestseller November 2010
Ken Follett: Sturz der Titanen.
Dienstag, 7. Dezember, 18.15 Uhr
Natascha Kampusch: 3096 Tage.
Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab.
Guinness World Records 2011.
Nicole Dill: Leben! Wie ich ermordet wurde.
Rhonda Byrne: The Power.
Keith Richards: Life.
Jamie Oliver: Jamies 30 Minuten Menüs.
Pascal Voggenhuber: Entdecke deine
Sensitivität.
Ronald Reng: Robert Enke.
Richard D. Precht: Die Kunst, kein Egoist zu
sein.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 11. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Herta Müller im Gespräch mit Ernest
Wichner, Fr. 25.–. Literaturhaus,
Veranstaltung im Kongresshaus Zürich,
Gartensaal, Tel. 044 254 50 00.
Dienstag, 7. Dezember, 20 Uhr
Andreas Thiel: Unbefleckte Sprengung.
Satirische Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten,
Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Sonntag, 12. Dezember, 17 Uhr
Ingrid Noll: Ehrenwort. Lesung, Fr. 15.–.
Theater am Neumarkt, Neumarkt 5,
Vorverkauf Tel. o44 267 64 64.
Dienstag, 14. Dezember,
20 Uhr
Bernhard Schlink:
Sommerlügen. Lesung,
Fr. 28.–. Kaufleuten,
Festsaal (s. oben).
Mittwoch, 15. Dezember, 20 Uhr
Adam Thirlwell: Flüchtig. Lesung,
Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Bücher am Sonntag Nr. 1
erscheint am 30. 1. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
28. November 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
GAETAN BALLY / KEYSTONEV
Für das Album «Elephant» der Garage-Rockband
The White Stripes aus Detroit schoss der Fotograf
Dean Chalkley eine Serie von Bildern, die alsbald
Kultstatus erlangten. Die hier abgebildete Aufnahme
fand denn auch Eingang in den prächtigen Bildband
«A Star Is Born», der sich dem Zusammenspiel von
Fotografie und Rock seit Elvis Presley widmet. Der in
Zusammenhang mit einer Ausstellung im Museum
Folkwang, Essen, entstandene, durch etliche Essays
angereicherte Foliant widmet sich dem King of
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