Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst JüngerKriegstagebuch 1914

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Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst JüngerKriegstagebuch 1914
Nr. 1 | 30. Januar 2011
Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914–1918 |
Max Frisch Wiedergelesen von Andreas Isenschmid | Umberto Eco Neue
Bücher | Kurt O. Wyss Aus dem Innenleben des EDA | Eugen Sorg Die
Lust am Bösen | Weitere Rezensionen zu Martin Suter, Angelika Overath,
Joseph Goebbels und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Lassen Sie Bücher sprechen...
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Inhalt
Ungeschminktes
aus dem
Bundeshaus-West
BarackObama
(Seite16).
Illustrationvon
AndréCarrilho
In der Mittelschulverbindung war sein Zerevis «Goal»: Damals spielte
Kurt O. Wyss als Handball-Goalie in der ersten Mannschaft des
Turnvereins Burgdorf. 1972 trat der promovierte Anglist in den Dienst
des Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten
(EDA), war unter anderem Botschafter in Singapur, Damaskus und
Ankara und erlebte bis zu seinem Rücktritt 2004 sechs Amtsvorsteher.
In seinen jetzt erschienenen Memoiren nimmt der «Paradiesvogel im
goldenen Käfig» – so umschreibt er das Diplomatenleben – kein Blatt
vor den Mund (Seite 20). Sein Urteil über den «janusköpfigen»,
machtbesessenen EDA-Chef Flavio Cotti ist vernichtend. Ebenso wie
jenes über Glamour-Botschafter Thomas Borer. Und das Wirken von
Cottis Quereinsteigern sei – so Rezensent Paul Widmer, selber ein
Diplomat – «ernüchternd» gewesen. Hattrick für Ex-Goalie Wyss, der
für einmal zum Torschützen mutiert. Einen so ungeschminkten
Einblick ins Innenleben des Aussendepartements boten bisher weder
Wikileaks noch andere Insider aus dem Bundeshaus-West.
2011 ist Max-Frisch-Jahr. Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat Andreas
Isenschmid das Werk des grossen Schweizer Autors neu gelesen und ist
begeistert (S. 12). In den USA seziert Starreporter Bob Woodward die
Präsidentschaft Obama – auch ein Blick hinter die Kulissen (S. 16). Wir
wünschen Ihnen anregende Lektüre. Urs Rauber
Belletristik
KurzkritikenSachbuch
4 ErnstJünger:Kriegstagebuch1914−1918
Von Manfred Koch
6 KatherineAnnePorter:DasNarrenschiff
15 WilliWottreng:Zigeunerhäuptling
Von Kathrin Meier-Rust
StephanPörtner:Hosenlupf
7 AngelikaOverath:AlleFarbendesSchnees
Von Sandra Leis
8 EstherPauchard:JenseitsderCouch
Nr. 1 | 30. Januar 2011
Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914–1918 |
Max Frisch Wiedergelesen von Andreas Isenschmid | Umberto Eco Neue
Bücher | Kurt O. Wyss Aus dem Innenleben des EDA | Eugen Sorg Die
Lust am Bösen | Weitere Rezensionen zu Martin Suter, Angelika Overath,
Joseph Goebbels und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Von Sacha Verna
Von Klara Obermüller
FredHerzog:Photographs
Von Urs Rauber
20 KurtO.Wyss-Labasque:Paradiesvogelim
goldenenKäfig
Von Paul Widmer
IrinaScherbakowa:ZerrisseneErinnerung
JamesPalmer:DerblutigeweisseBaron
Von Geneviève Lüscher
Von Simone von Büren
16 BobWoodward:ObamasKriege
Von Peter Studer
Von Stefana Sabin
Von Kathrin Meier-Rust
IrèneSpeiser:Hausauflösung
Sachbuch
10 LudwigLewisohn:DerFallCrump
Von Thomas Köster
19 RoswithavondemBorne,JohannesLenz:
MartaFuchs1898−1974
Von Urs Rauber
Von Gerhard Mack
9 PaulMurray:Skippystirbt
18 MichaelNerlich:UmbertoEco
UmbertoEco,Jean-ClaudeCarrière:Die
grosseZukunftdesBuches
Von Reinhard Meier
21 EugenSorg:DieLustamBösen.Warum
Gewaltnichtheilbarist
Von Urs Rauber
22 TobyLester:DervierteKontinent
Von Kirsten Voigt
11 HabibSelmi:MeineZeitmitMarie-Claire
Von Susanne Schanda
23 PeterLongerich:Goebbels
KurzkritikenBelletristik
Von Andreas Tobler
HelgeSobik:PäpsteseitAnbeginnder
Fotografie
Von Kathrin Meier-Rust
11 MartinSuter:AllmenunddieLibellen
Von Regula Freuler
ThomasBernhard:Autobiografische
Schriften
24 MichaelLewis:TheBigShort
Von Sebastian Bräuer
SusannaRuf:FünfGenerationenBadrutt
PhilippLuidl:Waszumerkenist
25 ThomasAsbridge:DieKreuzzüge
DirkvonPetersdorff:NimmdenlangenWeg
nachHaus
26 SalkaViertel:DasunbelehrbareHerz
Von Regula Freuler
Von Charlotte Jacquemart
Von Manfred Papst
Von Geneviève Lüscher
Von Manfred Papst
Essay
12 SeineMeisterschafterlangteererstnach
sechzig
Andreas Isenschmid hat die Bücher von
KPA / KEYSTONE
Kolumne
Das Zitat von Victoria Beckham
Von Andreas Mink
Agenda
Max Frisch neu gelesen – erst mit
Befremden, dann mit Jubel
15 CharlesLewinsky
Von Martin Walder
DasamerikanischeBuch
IsabelWilkerson:TheWarmthofOther
Suns.America’sGreatMigration
MaxFrisch,hierimNovember1973,wäream
kommenden15.Mai100Jahrealtgeworden.
27 WernerGadliger,NoraIuga:VomSüdenher
kommteinHerzaufStelzen
Von Manfred Papst
BestsellerJanuar2011
Belletristik und Sachbuch
AgendaFebruar2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Erster Weltkrieg Mit seinem Buch «In Stahlgewittern» wurde Ernst Jünger berühmt. Jetzt sind
erstmals die Originalaufzeichnungen in 15 Tagebuchheften erschienen
Gleichmut inmitten
eines Blutbades
Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918.
Hrsg. Helmuth Kiesel. Klett-Cotta,
Stuttgart 2010. 655 Seiten, Fr 46.90.
Von Manfred Koch
In der vierten Fassung der «Stahlgewitter» (1934) berichtet Ernst Jünger, wie er
am Ende des Ersten Weltkriegs im Lazarett liegend «aus Langeweile» seine Verwundungen zusammenrechnete: «Ich
stellte fest, dass ich, von Kleinigkeiten
wie von Prellschüssen und Rissen abgesehen, im ganzen mindestens vierzehn
Treffer, nämlich fünf Gewehrgeschosse,
zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel, vier Handgranaten- und zwei Gewehrgeschosssplitter aufgefangen hatte,
die mit Ein- und Ausschüssen gerade
zwanzig Narben hinterlassen hatten. In
diesem Kriege, in dem bereits mehr
Räume als Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin
erreicht, dass elf von diesen Geschossen
auf mich persönlich abgegeben wurden.» Er hatte, heisst das, jenen verhee-
Ernst Jünger
Nach dem durchschlagenden Erfolg
seines Kriegsbuchs «In Stahlgewittern»
war der 1895 geborene Ernst Jünger in
den 1920er-Jahren einer der Wortführer
der nationalrevolutionären deutschen
Rechten. Zum NS-Regime hielt Jünger,
der im Zweiten Weltkrieg als
Wehrmachtsoffizier in Frankreich diente,
Distanz; seine Erzählung «Auf den
Marmorklippen» (1939) wird häufig als
Widerstandsbuch interpretiert. Von 1949
bis zu seinem Tod 1998 lebte Jünger als
Schriftsteller («Siebzig verweht», 1997)
und Insektenforscher in Wilfingen (D).
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
renden Krieg als jene gewaltige Materialschlacht erlebt, in der die einzelnen
Soldaten nurmehr wie Bestandteile des
Geländes von Explosionen in die Luft
gewirbelt und zerfetzt, von Feuerwellen
niedergeworfen und verbrannt worden
waren. Und er hatte es doch auch geschafft, in diesem hochtechnisierten
Vernichtungsbetrieb das alte Ideal des
heroischen Kampfes «Mann gegen
Mann» aufrechtzuerhalten. Er, Ernst
Jünger, der preussische Leutnant, war
Achilles im Zeitalter der Lufttorpedos
gewesen.
«In Stahlgewittern», das Buch, mit
dem Jünger berühmt wurde, trug in der
Erstausgabe 1920 den Untertitel «Aus
dem Tagebuch eines Sturmtruppführers». Jetzt sind erstmals die Originalaufzeichnungen erschienen, aus denen
Jünger das laut André Gide «schönste
Kriegsbuch» der modernen Literatur
zusammengestellt hat. Die vergleichende Lektüre zeigt, dass «In Stahlgewittern» mehr ein Erinnerungs- als ein
Tagebuch ist. Jünger hat so gut wie nie
direkt übernommen, was er in seinen
dreieinviertel Jahren Kriegsdienst tatsächlich fast Tag für Tag notierte, zum
Teil unter schwierigsten Umständen: im
Schützengraben während einer Feuerpause, als Beobachter am Rande eines
Verbandsplatzes, auf dem Mitglieder
seiner Kompanie zu Krüppeln wurden
oder, bevor noch ein Arzt sie zu Gesicht
bekam, verbluteten.
Wie er änderte, zeigt exemplarisch
seine Beschreibung der Schlacht bei Les
Esparges vom April 1915, des ersten
grossen Gefechts, das er miterlebte. Die
Szenerie ist schrecklich. Das Kampfgelände ist übersät von Granateinschlägen, überall liegen Verwundete und «frische Tote» herum. Plötzlich bietet sich
dem Offiziersanwärter Jünger ein noch
grauenvolleres Bild: Er sieht die bereits
in Verwesung übergegangenen Leichen
zweier französischer Soldaten. «Einer
lag ohne Jacke mit dem Körper über
seine Beine geklappt, das lange Haar
noch ganz spärlich auf einem seltsam
gebräunten Schädel; ein anderer lehnte
feldmarschmässig mit dem eigentümlichen franz. Lederzeug an einem Baume,
so dass man fast erschrak beim Hinblicken.» So der Tagebucheintrag. In den
«Stahlgewittern» dramatisiert Jünger
die Szene und schmückt sie aus. Der an
den Baum Gelehnte erhält die spärlichen Haare des Zusammengeklappten
und obendrein noch einen «hochgepackten Tornister, von einem runden
Kochgeschirr gekrönt. Leere Augenhöhlen und wenige Büschel Haare auf dem
schwarzbraunen Schädel verrieten, dass
ich es mit keinem Lebenden zu tun
hatte.» Das Gestelzte dieses Satzes
«verrät» vor allem eines: den Willen zur
literarischen Formung, der hier, wie
häufig in den «Stahlgewittern», dem
Text etwas Preziöses verleiht. Die erste,
unambitionierte Formulierung wirkt
stärker.
Spiel mit dem Leben
Das Kriegstagebuch ist vor allem eine
Chronik der Kampfeinsätze und damit
eine Chronik des Todes. Es grenzt an ein
Wunder, dass Jünger, der irrsinnig
kühne Unternehmungen befehligte,
nicht fiel und mit am Ende 103 Lebensjahren zum ältesten Schriftsteller der
deutschen Literatur überhaupt wurde.
Was ihn in den Krieg getrieben hatte,
war nicht patriotische Begeisterung,
sondern Abenteuerlust – «adoleszenter
Erfahrungshunger», wie es der Herausgeber Helmuth Kiesel in seinem lesenswerten Nachwort nennt. «Das ständige
Spiel mit dem Leben hat seinen Reiz»,
notiert Jünger am 29. März 1916, seinem
21. Geburtstag, und resümiert: «Mir
macht das Kriegsleben jetzt gerade den
richtigen Spass.» Der Spass sollte ihm
ses Besäufnis» und amüsiert sich über
Kameraden, die «vor Angst in die Hosen
scheissen» usw. Unter Artilleriebe­
schuss lädt man über Grabenabschnitte
hinweg «einen dritten Mann zum Skat»
ein. Diese Art von markigem Landser­
humor wird vollends widerlich, wenn es
darum geht, wie viele «Franzmänner»
oder «Englishmen» zuletzt wieder «er­
ledigt» wurden.
Die eintrainierte und im Kriegsver­
lauf weiter gesteigerte Rohheit, die ge­
nerell die Soldatenseele prägte, spricht
fraglos auch aus Jüngers Tagebüchern.
Nur dass sie bei diesem Kommandeur
des Todes – mehrfach schildert er, wie
er zögernde oder fliehende Untergebe­
ne wieder ins feindliche Feuer führte –
eine merkwürdige Verbindung mit einer
extremen
Wahrnehmungssensibilität
einging. Die intensivsten Passagen im
Kriegstagebuch (wie später in den
«Stahlgewittern») sind die Beschrei­
bungen fürchterlichen Sterbens: «Er
knickte in seiner Grabenecke zusammen
und verblieb mit dem Kopf gegen die
Grabenwand gelehnt, in kauernder Stel­
lung. Sein schnarchendes Röcheln er­
tönte in immer längeren Abständen, bis
es ganz aufhörte. Während der letzten
Zuckungen gab er sein Wasser von
sich.»
süddeutsche zeitung photo
Sinnliches Grauen
erhalten bleiben. Zwar verspürt er
zwischendurch Anwandlungen, den
«Scheisskrieg» als sinnlose Zerstörung
der europäischen Kultur zu verdammen.
Doch sie werden sogleich als «Wacht­
stubenphilosophie» abgetan. Die Sucht
nach neuen todesnahen Grenzerfahrun­
gen setzte sich rasch wieder durch.
Jüngers heiterer Gleichmut inmitten
des Dauerblutbads hat mehrere Facet­
ten. Zum einen übernimmt er bruchlos
die Strategien der Selbstpanzerung, die
charakteristisch für das ganze Heer, vor
allem das Offizierskorps, waren. Das
schlägt sich nieder in einem forciert
schnoddrigen Kasinoton, der bei Jünger
dazu noch einen pennälerhaften Ein­
schlag hat. Man «pennt ganz famos» in
einer «kriegsmässig genialen Bude», fei­
ert regelmässig «ein allgemeines gros­
Der Schriftsteller
Ernst Jünger (1895–
1998) mit dem Orden
Pour le Mérite, der
ihm 1918 verliehen
wurde.
Jünger hält im selben Eintrag fest, dass
er solche Vorgänge «mit Sachlichkeit»
registriere. Die Gefühlskälte, zu der er
sich damit bekennt, wirkt zunächst em­
pörend. Psychologisch gesehen war sie
aber wohl ein Selbstschutz, um ange­
sichts der täglichen, ja stündlichen Kon­
frontation mit Verstümmelten und
Toten nicht den Verstand zu verlieren
(Jünger hat später zugegeben, Gemüts­
zustände erlebt zu haben, für die der
Ausdruck «Nervenzusammenbruch» eine
Beschönigung gewesen wäre.)
Die Abschottung gegen Mitleid,
Angst und Trauer ermöglichte anderer­
seits jene Wahrnehmungsschärfe, die
Leser wie Gide an Ernst Jüngers Mo­
mentaufnahmen des Kriegs faszinierte.
Die eindringlichsten von ihnen sind
auch frei von der Heldenpose, vom eit­
len Vorführen der eigenen Kaltblütig­
keit. Sie bieten nichts als nüchterne Bil­
der des Grauens. Ein Beispiel ist seine
Beschreibung der Landschaft, in der die
Sommerschlacht (August 1916) statt­
fand: «Jeder Millimeter des Bodens um­
gewühlt und wieder umgewühlt, die
Bäume ausgerissen, zerfetzt und zu
Mulm zermahlen. Die Häuser niederge­
schossen, die Steine zu Pulver zerstaubt.
Die Schienen der Eisenbahnen zu Spira­
len gedreht, Berge abgetragen, kurz alles
zur Wüste gemacht.» Solche Sätze
könnten auch in einem Antikriegsbuch
stehen. Sie warnen nicht durch morali­
sche Appelle, sondern durch sinnliche
Präzision. «Das ist das Gesicht des Krie­
ges», heisst es im Tagebuch, «unver­
gesslich.» l
Manfred Koch, geboren 1955, ist
Privatdozent für Neuere Deutsche
Literaturwissenschaft an der Universität
Basel, Literaturkritiker und Buchautor.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Wiederentdeckung Katherine Anne Porters Bestsellerroman «Das Narrenschiff» von 1962 wurde
erfolgreich verfilmt. Die kommentierte Neuauflage strahlt melancholischen Zauber aus
Das Böse ist
immer im Vorteil
irgendwo bereits der Tumor des Zerfalls, des physischen, moralischen, des
menschlichen Zerfalls. «Ich glaube, dass
die Menschen zum totalen Bösen fähig
sind, aber dass niemand je total gut war.
Damit ist das Böse immer im Vorteil»,
sagte Katherine Anne Porter einmal.
Diese pessimistische Weltsicht inszeniert sie auf der «Vera».
Was nie ein Traumschiff war, wird
schon bald zum Alptraumschiff, wo die
Laster, von der Triebhaftigkeit bis zur
Trunksucht, ein Höllenfest feiern, das
als dramaturgischer Höhepunkt am
Schluss tatsächlich steigt. Dabei bleiben
die Exzesse durchaus im Rahmen des
Plausiblen, denn Katherine Anne Porters Narren tragen weit weniger fratzenhafte Züge als jene von Sebastian Brant.
Porter verzerrt ihre Figuren nur so stark,
dass sie gerade noch glaubwürdig wirken. Sie stattet sie mit einer Reihe von
Eigenschaften und Geschichten aus, die
sie zu Individuen machen, denen sie allerdings einen kleinen Rest archetypischer Steifheit lässt.
Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff
Aus dem Amerikanischen von Susanna
Rademacher. Nachwort von Elke
Schmitter. Manesse, Zürich 2010.
700 Seiten, Fr. 44.90.
Von Sacha Verna
Auf dem Weg ins Ungewisse
Zur Bühne zuerst. Die «Vera» ist ein
eher zweitklassiges deutsches Passagier- und Frachtschiff, auf dem sich eine
sehr gemischte Gesellschaft 1931 drei
Spätsommerwochen lang miteinander
vertragen muss. Es sind dies keine
Kreuzfahrtenthusiasten, wohlgemerkt,
vielmehr allesamt Menschen auf dem
Weg ins Ungewisse.
Da ist das Schweizer Ehepaar Lutz,
das nach elf Jahren in Mexiko mit seiner
hässlichen Tochter Elisa in die Heimat
zurückkehrt, um in St. Gallen ein Hotel
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
Rassismus als Motiv
HIPP-FOTO
Als 1494 das erste «Narrenschiff» in See
stach, segelte es mit seinen hundert Passagieren dem Ruhm entgegen: Sebastian
Brants Moralsatire wurde zum erfolgreichsten deutschsprachigen Buch der
Reformation.
Rund 450 Jahre später war einem
zweiten «Narrenschiff» ähnliches Glück
beschieden: Katherine Anne Porters
1962 in den Vereinigten Staaten erschienener Roman avancierte zum Bestseller
und wurde von Stanley Kramer mit internationaler Besetzung verfilmt, darunter die Filmstars Vivien Leigh, Heinz
Rühmann, Simone Signoret und Lee
Marvin – narrensicher möchte man meinen. Zwar fährt Katherine Anne Porters
Schiff «Vera» nicht gen Narragonien,
sondern von Veracruz nach Bremerhaven. Und statt hundert befinden sich
beinahe tausend Narren an Bord, wobei
dem Leser ungefähr drei Dutzend von
ihnen näher vorgestellt werden. Doch
das Sinnbild sei dasselbe, so Katherine
Anne Porter in einer kurzen Vorbemerkung: «Das Schiff dieser Welt auf seiner
Fahrt in die Ewigkeit.»
Die Amerikanerin Katherine Anne
Porter (1890–1980) wurde mit ihren
Kurzgeschichten bekannt. «Das Narrenschiff» blieb ihr einziger Roman, was
nicht überrascht, zumal die Arbeit an
dem siebenhundertseitigen Epos über
zwanzig Jahre in Anspruch nahm. Mit
dieser kommentierten Neuauflage legt
der Manesse-Verlag ein quasi doppelt
historisches Werk vor: Eines, das in der
Vergangenheit verfasst wurde und noch
weiter zurück in der Vergangenheit
spielt. Richtet man darauf den Scheinwerfer der Gegenwart, ergibt sich daraus ein feines Bühnenstück.
zu eröffnen. Da sind Herr und Frau Professor Hutten, ehemalige Leiter einer
deutschen Schule in Mexiko, die mit
ihrer garstigen Bulldogge Bébé aufs
selige Seniorendasein in Todtmoos im
Schwarzwald hoffen. Da ist der texanische Chemieingenieur William Denny,
ein junger Mann mit Pickeln und Hygienefimmel, den in Berlin eine neue Stelle
erwartet. Da ist die kubanische Adelsruine La Condesa, die gar nichts mehr
erwartet ausser der politischen Verbannung in Teneriffa.
Ein Ort, an dem Menschen unterschiedlichster Herkunft für beschränkte
Zeit und in erzwungener Musse zusammenkommen, ist als Romanschauplatz
immer reizvoll. Man denke ans abgelegene Herrenhaus im englischen Moor,
in dessen Bibliothek ein Mord passiert.
Oder an Thomas Manns Sanatorium auf
dem «Zauberberg», aus dem die Toten
nachts auf Schlitten abtransportiert
werden. An solchen Orten wuchert stets
Simone Signoret
und Oskar Werner
in der Verfilmung
des «Narrenschiffs»
1965.
Einen unangenehmen Beigeschmack erhält dieses Verfahren freilich im Fall des
einzigen Juden an Bord, eines Herrn Julius Löwenthal, der in katholischen Devotionalien handelt und direkt der NaziPropaganda entsprungen sein könnte.
Diesen Beigeschmack mindert auch der
Umstand nicht, dass das Motiv des Rassismus den ganzen Roman durchzieht
und dieser als Übel aller Übel angeprangert wird.
Gerade den Antisemitismus seziert
die Autorin in all seinen Formen –
schliesslich hält die «Vera» Kurs aufs
anbrechende Dritte Reich. Die Autorin
schrieb «Das Narrenschiff» im Wissen
um den Holocaust. Im Grunde verachtet
aber jeder jeden auf diesem Schiff. Und
Keiner verzeiht dem anderen sein Anderssein.
Ist der Hass auf den Mitmenschen die
eigentliche «conditio humana»? Und
suchen wir deshalb unsere Identität so
gerne in Gruppen, Glauben oder Nationen, weil es sich in Rudeln paradoxerweise am besten hasst? Die Antwort dieses Romans auf diese Frage ist ein ganz
klares Ja.
Katherine Anne Porters «Narrenschiff» merkt man das Alter an. Der
deutsche «Schaumwein», der darin ausschliesslich anstelle von Champagner
serviert wird, ist sehr deutsch und Herrn
Löwenthals krumme Nase sehr krumm.
Doch werden sich selbst Zweckoptimisten dem melancholischem Zauber dieser verlorenen Illusionen auf hoher See
kaum verschliessen können. ●
Tagebuch Wenn das Ferienidyll zum Dauerzustand wird: Angelika Overath über ihre neue Heimat
Glückssekunden auf Romanisch
Angelika Overath: Alle Farben des
Schnees. Senter Tagebuch. Luchterhand,
München 2010. 256 Seiten, Fr. 32.90.
Von Sandra Leis
Angefangen hat alles mit einer Anfrage
der Zeitschrift «Piz. Magazin für das Engadin und die Bündner Südtäler». Angelika Overath, die Ende Juli 2007 mit
ihrem Mann und dem siebenjährigen
Sohn von Tübingen nach Sent umgezogen ist, sollte schildern, wie aus einer
Ferienfamilie Dorfbewohner werden.
Der Text erschien, und Overaths Verlag
war so entzückt, dass er seine Autorin
ermunterte, daraus ein Buch zu machen.
Jetzt ist es da, und bereits vier Tage
nachdem es in den Handel kam, war die
erste Auflage ausverkauft. Wohl aus zwei
Gründen: Erstens ist Angelika Overath
(Jahrgang 1957) bekannt für ihre analytisch so glasklaren wie einfühlsamen Reportagen, und zweitens hat sie etwas gewagt, womit manche Menschen zeitlebens nur liebäugeln – sie lebt jetzt dort,
wo es sie immer wieder hingezogen hat.
Sent, 1450 Meter über Meer, 900 Einwohner. Wer hier mehr sein möchte als
Tourist oder Zugezogener, wer eingebunden sein will in die Dorfgemeinschaft, muss eines können: Vallader, das
rätoromanische Idiom des Unterengadins. Der Bub lernt die Sprache im Unterricht schnell; der Mann kann sich
bald in einfachen Sätzen unterhalten,
doch bei Overath hapert es. Immer wieder kommt ein Gespräch ins Stocken.
Erfolge sind selten, aber es gibt sie. Beispielsweise beim Telefonieren mit dem
Lehrer, um den Sohn krankzumelden:
«Die Hälfte meiner Sätze habe ich auf
Romanisch hinbekommen. Er hat auf Romanisch geantwortet. Glückssekunden.»
Der Wunsch, in die kleine Universitätsstadt Tübingen zurückzukehren,
existiert nicht. Einzig nach dem Wochenmarkt sehnt sie sich gelegentlich,
doch in Sent hat Overath einen eigenen
Gemüsegarten. Sie lebt in einem Bauernhaus, geht mit zum Heuen, singt im
Chor und lernt Klavierspielen, schreibt
rätoromanische Gedichte und schaut
ihrem Hund zu, wie er sich im Schnee
wälzt. Für das Naturschauspiel vor ihren
Augen findet sie eine hochpoetische
Sprache. Am 14. Dezember 2009 notiert
sie: «Ein Morgen aus Glas. Selbst die
Berge scheinen durchsichtig. Der Reif
auf dem Balkon, der Schnee auf den Dächern, eine fragile, schwach bläuliche
Helle.»
In diesem Tagebuch sind Naturimpressionen festgehalten, Kindheitserinnerungen, Alltagsbeobachtungen, Gespräche, Gedichte und historische Fakten. Gelegentlich verliert sich die Autorin im Detail, manchmal winkt sie zu
stark mit dem wertenden Zeigefinger.
Letzteres passiert vor allem dann, wenn
es um die grossen Fragen der Kinderaufzucht geht. Da verwandelt sich die Reporterin in eine Mutter, die zum Gegenangriff bläst, weil sie erklären will,
warum für ihren Jüngsten eine Dorfschule in den Bergen das Richtige ist. In
Tübingen seien Kindergarten und Schule durch Akademiker-Familien geprägt
gewesen. «Das Kind sollte etwas werden. Und leicht wurde vergessen, dass
ein Kind schon etwas war.»
Mehrheitlich aber sind die Notate geprägt vom untrüglichen Blick der Reporterin für das Besondere im Alltäglichen. Angelika Overath wählt dafür eine
Sprache, die einprägsam festhält, was
ist. Es ist diese Beobachtungsgabe, welche die Annäherung an Sent und seine
Bewohner auszeichnet. ●
Das Buch mit Beispielen,
Umbauplänen und Fotos
Mariette Beyeler
–
Weiterbauen
Wohneigentum
im Alter
neu nutzen
Wie lassen sich Einfamilienhäuser für das Wohnen im Alter
umbauen und anpassen? Reich bebilderte Beispiele illustrieren
die Vielfalt der baulichen Möglichkeiten und Wohnszenarien.
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Age Stiftung (Hg.)
Christoph Merian Verlag
172 Seiten CHF 38.–/Euro 26,– ISBN 978-3-85616-491-1
erhältlich im Buchhandel und unter www.merianverlag.ch
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Kriminalroman Das Début der Berner Psychiaterin Esther Pauchard erzählt von einer an
Schizophrenie erkrankten Mutter und Kindsmissbrauch
Eine Ärztin ermittelt
Esther Pauchard: Jenseits der Couch.
Nydegg, Bern 2010. 429 Seiten, Fr. 39.–.
Von Klara Obermüller
Krimis werden nie besser, als wenn sie
dort spielen, wo der Autor, die Autorin
sich auskennt. Das muss sich auch die
junge Bernerin Esther Pauchard gesagt
haben, als sie ihren Erstling in eben
jenem Milieu ansiedelte, in dem sie selber tätig ist: in der Psychiatrie.
Esther Pauchard ist Fachärztin für
Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet in einer Suchtfachklinik in Burgdorf. Ort der Handlung ihres Kriminalromans ist eine Psychiatrische Anstalt
in der Nähe von Thun, das Opfer eine
unter Schizophrenie leidende, drogen-
abhängige Patientin, die Ermittlerin die
sie behandelnde Ärztin.
Temporeich und atmosphärisch dicht
erzählt Esther Pauchard in ihrem Krimi
«Jenseits der Couch» die Geschichte
von Doris Greub, die mit einer entgleisten Schizophrenie in die Klinik eingewiesen wird und im vermeintlichen
Wahn ihren Ehemann beschuldigt, ihre
halbwüchsige Tochter aus einer früheren Beziehung missbraucht und an andere Männer weitervermittelt zu haben.
Und sie erzählt die Geschichte der Ärztin Kassandra Berger, die nicht weiss, ob
sie der Frau Glauben schenken oder die
horrenden Vorwürfe als Wahnvorstellungen abtun soll. Ihre ärztliche Ausbildung sagt ihr, dass sie Distanz halten
soll, ihr Gefühl jedoch drängt sie dazu,
die Patientin ernst zu nehmen, die auf
Kanada Die fünfziger Jahre in Farbe
ihren Vorwürfen auch dann noch besteht, als der akute Schub längst abgeklungen ist.
Das Dilemma spitzt sich zu, als die
Patientin aus der Klinik ausbricht und
wenig später in einer Bahnhofstoilette
tot aufgefunden wird. Von da an geht
Kassandra Berger die Frau nicht mehr
aus dem Kopf. Die Fachärztin für Psychiatrie mutiert zur kriminalistischen Ermittlerin in eigener Sache.
Psychiaterin gerät in Konflikt
Unterstützt von ihrer Praktikantin Kerstin verbeisst Kassandra Berger sich in
den Fall, den alle anderen längst zu den
Akten gelegt haben. Sie vernachlässigt
Familie und Beruf und gerät dabei
immer tiefer in den Konflikt zwischen
beruflicher Distanz und persönlichem
Engagement.
Was gibt mir als Ärztin das Recht,
fragt sie sich, als Wahn abzutun, was
vielleicht grausame Wirklichkeit ist? Ist
die Patientin, nur weil sie an Schizophrenie leidet und Drogen konsumiert,
weniger glaubwürdig als andere? Und
hat es ihr Mann nicht vielleicht genau
darauf angelegt, wenn er sich der behandelnden Ärztin gegenüber als der fürsorgliche Gatte aufspielt, der seine unzurechnungsfähige Frau vor sich selbst
schützen muss?
Esther Pauchard war als Ärztin vermutlich noch nie mit einem Kriminalfall
konfrontiert. Über die Fragen jedoch,
die sich Kassandra Berger in ihrem
Roman stellt, denkt sie zweifellos nicht
zum ersten Mal nach. Und auch die
ständige Überforderung durch Beruf,
Ehe, Haushalt und Mutterschaft kennt
sie sehr wahrscheinlich aus eigener Anschauung.
Finale furioso
Vancouver 1958. Ein Afroamerikaner geht mit Tochter
und Hund spazieren. An den chinesischen
Ladenschildern ist ablesbar, dass wir uns wohl kaum
in der teuren City befinden. Aber Anzug, Hut und
Krawatte, der ganze Auftritt zeigen ein
Selbstbewusstsein und eine Lust an der eigenen
Inszenierung, wie wir sie aus den fünfziger Jahren in
dieser Schicht kaum erwartet hätten, auch wenn die
Aufnahme nicht aus den USA mit ihren Rassenkonflikten, sondern aus Kanada stammt. Zur
Stimmung tragen entschieden die Farben bei. Das
Sonnenlicht hebt die Blau-, Rot- und Grüntöne so
hervor, dass der Passant wie im Rampenlicht und
Dekor einer Bühne auftritt.
Als Fred Herzog in den fünfziger Jahren begann,
solche Strassenszenen auf Kodachrome-Filmen
festzuhalten, wurde er Pionier der Farbfotografie,
lange bevor die Stars der New Color Photography wie
William Eggleston, Stephen Shore und Helen Levitt
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
ihren Siegeszug gegen die Dominanz der SchwarzWeiss-Bilder antraten.
Gleich nach seiner Auswanderung aus Deutschland
1953 begann Herzog zu fotografieren, «weil die
Menschen später sonst in Zeitschriften schauen
müssten, um herauszufinden, wie die Leute früher
aussahen». Wenn wir diese Aufnahmen heute sehen,
faszinieren sie durch den Reichtum an Details, die
ganze Geschichten erzählen. Eine alte Frau schaut an
der Bushaltestelle neugierig die bandagierte Hand
eines Mannes an. Schaufenster und Werbeflächen
zeigen eine vergangene Kultur. Es sind Ikonen des
Alltags und seiner Vergänglichkeit. Fred Herzog blieb
lange fast unbeachtet. Der kleine Band entdeckt die
wunderbaren Bilder nun erstmals für ein
deutschsprachiges Publikum. Gerhard Mack
Fred Herzog: Photographs. Hrsg. Felix Hoffmann.
Hatje Cantz, Ostfildern 2010. 192 Seiten,
98 Abbildungen, Fr. 43.50.
Dass es ihr gelingt, aus der persönlichen
Lebens- und Arbeitswelt heraus eine
spannende und in sich stimmige Kriminalgeschichte zu entwickeln, macht den
unverwechselbaren Reiz ihres Buches
aus. Die Autorin Esther Pauchard beherrscht ihr Fach, das ärztliche wie das
kriminalistische, und sie hat gründlich
recherchiert: im Berner Drogenmilieu
ebenso wie auf dem Gebiet der Medikamenten-Interaktion oder der InternetPornographie. Ihre Figuren haben Profil, die politischen Verhältnisse in der
scheinbar heilen Welt wohlhabender
Berner Landgemeinden sind gut beobachtet.
Die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit sieht man der Autorin deshalb
gerne nach. Gegen Schluss häufen sie
sich zwar, und auch wo der Schuldige zu
suchen ist, wird bald einmal klar. Doch
das ändert nichts daran, dass sie die
Spannung stetig zu steigern vermag und
ihr zu guter Letzt ein fulminantes Finale
gelingt, das alles umfasst, was zu einem
guten Krimi-Schluss gehört: Lebensgefahr für die Ermittlerin und die Überführung des Täters. ●
Internatsroman Raffiniert verpackte Kritik an Irlands mangelhafter Vergangenheitsbewältigung: Der
Zweitling von Paul Murray überzeugt trotz spärlicher Handlung
Hormone, Medikamente
und andere Drogen
– Liebeskummer – für seinen Suizid, der
den Ruf der altehrwürdigen Institution
zu ruinieren droht und den die reichen
Eltern seiner Mitschüler «als ein unanständiges Wort» sehen, «das jemand
mutwillig in die glatte schwarze Politur
ihres Lebens geritzt hat». Im Übrigen
geht man in Seabrook mit dem Todesfall
um wie mit anderen schwierigen Ereignissen: Man verschweigt ihn: «Man
redet nicht darüber und auch nicht darüber, dass man nicht darüber redet.»
Dass Skippy noch ganz andere Gründe hatte für seine Tat – eine sterbende
Mutter und eine traumatische Missbrauchserfahrung, welche die Schulleitung mit allen Mitteln zu vertuschen
sucht – hatte er totgeschwiegen. Ebenso
wie Ruprecht seinen ArbeiterklasseHintergrund verschweigt, Carl seine
zerschnittenen Unterarme, Pater Green
seine sexuellen Fantasien und Howard
seine gescheiterte Beziehung.
Paul Murray: Skippy stirbt. Aus dem
Englischen von Rudolf Hermstein und
Martina Tichy. Antje Kunstmann,
München 2010. 782 Seiten, Fr. 38.90
Von Simone von Büren
Buchpreis-Nomination
Gefürchteter Vertreter der alten Garde
ist der ehemalige Missionar Pater Green,
von den Schülern «Père Vert» genannt,
der an den Verben an der Tafel «herumschrubbt, als seien es Schandflecke auf
seiner Seele. Aus der jungen Laiengeneration stellt uns Murray – neben einem
hinkenden Schwimmtrainer und einigen
Lehrerinnen, «die selbst für einen Vierzehnjährigen nur schwer als geschlechtliche Wesen erkennbar sind» – den Geschichtslehrer Howard vor, einen gescheiterten Investmentbanker, der an
Internat steht für Irland
PATRICK FRILET / REX / DUKAS
Der ungeduldig erwartete Zweitling des
Iren Paul Murray spielt in einer Internatsschule. In Seabrook College, einer
alten katholischen Privatschule für Knaben in Irland, geht es nicht viel ruhiger
zu als in Harry Potters Hogwarts, wenn
hier auch statt kauzigen Geistern Gipsmadonnen «kokett schmollend auf die
ausser Rand und Band geratene Männlichkeit hinabblicken» und Zauber
höchstens in Computerspielen vorkommt. Aber die Schüler finden durchaus Wege, in andere Universen, veränderte Zustände und grosse Gefahr zu
kommen: Medikamente, Drogen, geheime physikalische Experimente und Hormone, die dank der benachbarten Mädchenschule St. Brigids regelmässig in
Wallung geraten.
Der 35-jährige Autor schildert den
Mikrokosmos der Schule aus rund
zwanzig mit verblüffender Leichtigkeit
ineinandergewobenen Erzählperspektiven von Schülern, Lehrern, Rektoren
und Priestern. Im Zentrum steht der fragile Skippy aus der achten Klasse, ein
begnadeter Schwimmer, der aber partout nicht am Schwimmwettbewerb teilnehmen will. Skippy träumt von Lori
aus St. Brigids, die aber niemals «mit so
einem mickrigen Loser» wie ihm gehen
würde und auf die es auch Carl abgesehen hat – ein älterer Mitschüler, der mit
Drogen handelt, Lehrer bedroht und
«öfter mal nicht weiss, was er tut». Unterdessen arbeitet Skippys übergewichtiger Zimmergenosse Ruprecht, der «im
Alleingang den Notendurchschnitt in
seinem Jahrgang um sechs Prozent anhebt», an der Erschliessung paralleler
Universen mittels elektromagnetischer
Wellen.
Die Mädchenschule
bringt die Hormone
im benachbarten
Knabeninternat in
Wallung.
die Schule zurückkehrt, «an die er einst
geschickt wurde, um sozial aufzusteigen, an der zu arbeiten nun aber als Karriererückschritt betrachtet wird.»
Für seine 780 Seiten enthält der quirlige Roman, der auf der Longlist des
Man-Booker-Preis 2010 stand und nun
von Neil Jordan verfilmt werden soll,
wenig äussere Handlung: Eine Halloweenparty mit St. Brigids, ein Weihnachtskonzert, einige Beziehungsdramen, einige gescheiterte wissenschaftlichen Experimente, eine unbewilligte
Exkursion, einen Brand – und schliesslich einen Todesfall. Letzterer ist weniger dramatischer Höhepunkt als stiller
Kern der Geschichte. Er wird im Titel
angekündigt und gleich auf den ersten
Seiten geschildert: Skippy stirbt während eines Doughnut-Wettessens mit
Ruprecht an einer Überdosis Tabletten.
Seine Tragik entfaltet dieses Ereignis,
wie so vieles aus Murrays humorvoller
Feder, erst mit der Zeit.
«Sag Lori» schreibt Skippy in seinen
letzten Sekunden mit Himbeermarmelade auf den Boden und liefert der Schulleitung damit ein willkommenes Motiv
Der Geist all dieser verdrängten Fakten,
Erfahrungen und Schuldgefühle strudelt
durch die Flure «wie Giftgas» und hat
verheerendere Auswirkungen auf die Figuren als Skippys Tod. Feinfühlig und
humorvoll erkundet Paul Murray das
daraus entstehende psychische Leid, das
sich in Selbstverletzungen, Drogenmissbrauch, Essstörungen, Angeberei und
Paranoia äussert und über das wiederum niemand spricht.
Wie in seinem international gefeierten Début «An Evening of Long Goodbyes» gelingt es Murray, anhand der authentisch gezeichneten Schicksale seiner Figuren auch Kritik am System zu
üben. Denn Seabrook steht für ganz Irland und dessen Umgang mit den heikleren Kapiteln der eigenen Geschichte.
Und das Tragische in der irischen Vergangenheit ist – genau wie im Roman –
weniger das schwierige Ereignis an sich,
als vielmehr «der furchtbare Preis», zu
dem es über Generationen hinweg verschwiegen wird. Dass es Murray gelingt,
diesen Bezug verstörend, aber frei jeden
Moralisierens zu schaffen, macht «Skippy stirbt» zu viel mehr als einem höchst
unterhaltsamen und brillant gebauten
Roman.
Dazu kommt Murrays durch Schwung,
Wortwitz und poetische Metaphern bestechende Sprache, die eine Klasse «wie
einen murmelnden Umhang» hinter
dem Lehrer herwogen und «dicke
Haarknäuel wie ertrunkene Meerjungfrauen im Abflussgitter der Duschen zittern» lässt. Spätestens in dieser verschlungenen Sprache ist er dann doch
zu finden, der Zauber. ●
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Neuübersetzung In einem wiederentdeckten Roman erzählt der deutsch-amerikanische Autor
Ludwig Lewisohn die Geschichte eines Ehekrieges
Sie machte das Leben zur Hölle
Ludwig Lewisohn: Der Fall Crump.
Nachwort von Thomas Mann. Neu
übersetzt aus dem Amerikanischen von
Christian Ruzicska. Secession, Zürich/
Berlin 2010. 340 Seiten, Fr. 37.90.
Der Befreiungsschlag kommt ganz am
Ende. «Er wusste nicht, dass er nach
dem Messinggriff des Schürhakens gegriffen hatte. Er wusste gar nichts, bis er
den knirschenden Aufprall seines Hiebes hörte.» Denn nachdem er sich von
einer Frau mit zwielichtiger Vergangenheit hatte verführen lassen, sie dann aus
gesellschaftlicher Konvention geheiratet und die Ehe aus emotionaler Trägheit jahrelang und unter Selbstaufopferung aufrechterhalten hatte, findet Herbert Crump schliesslich die Kraft, dem
unglücklichen Leben zu entkommen.
Den «Fall Crump» entfaltet der
deutsch-amerikanische Autor Ludwig
Lewisohn aus erzählerischer Distanz.
Lewisohn, 1882 in Berlin geboren, 1890
nach Charleston, North Carolina, ausgewandert, hatte in New York studiert und
in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Publizist (er war
Redaktor der Zeitschrift «The Nation»)
und Übersetzer ein gewisses Renommee erlangt, das mehrere Romane, Erzählungen und Essays vergrösserten.
Dennoch wurde er, der Mitgründer der
Brandeis University war und dort bis zu
seinem Tod 1955 unterrichtete, in den
fünfziger Jahren als Schriftsteller vergessen.
Im Lügennetz gefangen
«Der Fall Crump» erschien 1926 in
Paris, 1928 in Deutschland, schliesslich
1947 in den USA. Darin erzählt Lewisohn die Geschichte einer unmöglichen Ehe und zugleich eine Entwicklungsgeschichte: Der junge, unerfahrene
Herbert Crump kommt aus einer Kleinstadt im Süden nach New York, um
Komponist zu werden, und gerät dort in
die Fänge einer manipulativen älteren
Frau, gegen die er sich nicht zu wehren
weiss. «Seine Unerfahrenheit lehrte ihn
nicht, dass seine Depression und seine
Unruhe der Tatsache geschuldet waren,
dass er Anne nicht liebte, dass die vielen
leidenschaftlichen Umarmungen ihn
nicht befriedigten.» Crump erliegt dem
Unglück und findet in der Musik eine
Zuflucht und auch jene Zufriedenheit,
die ihm sonst verwehrt bleibt.
Nur sehr langsam und um den Preis
der eigenen Jugend entwirrt er das Netz
aus Lügen und Täuschung, in das er sich
hat verfangen lassen. Das emotionale
Heranreifen spiegelt sich in seinen
Kompositionen wider, die subtiler und
zugleich dramatischer werden, und er
macht in New York Karriere. Als aber
die nörgelnde Ehefrau mit einem öffent10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
PICTORIAL PRESS LTD. / ALAMY
Von Stefana Sabin
Ludwig Lewisohn
schildert das Leben
im New York der
1920er Jahre, wo
sein Protagonist als
Musiker Karriere
macht.
lichen Skandal droht, verliert er die Fassung und schlägt zu. «Langsam ging er
zum Telefon, nahm den Hörer ab und
verlangte die Polizeizentrale.» Mit diesem letzten Satz, der die Selbstverwirklichung in Selbstanzeige verwandelt,
mutiert der Roman zu einer Fallbeschreibung, auf die sowohl der deutsche
wie der englische Originaltitel schon
hindeuten: «Der Fall Crump» – «The
Case of Mr. Crump» suggerieren einen
zu verhandelnden gerichtlichen Fall.
Ein gerissenes Weib
Die Geschichte von Crumps Verführung
und von seinem langen Unglück fungiert dann als Darstellung der strafmildernden Umstände, die den schliesslichen Befreiungsschlag nachvollziehbar
machen. So als müsste sich eine Jury –
der Leser – ein unabhängiges Urteil
über die Tat bilden, versucht Lewisohn
einen distanzierten Erzählton zu finden
und aufrechtzuerhalten. Er verzichtet
auf psychologisierende Figurencharakterisierung und auf wertende Kommentare. Doch ist eine unterschwellige Empathie mit dem Unglück und der Hilflosigkeit des Herbert Crump zu erkennen
– und entsprechend ein verbrämter Widerwille gegen die Gerissenheit seiner
Frau. Erkennen lässt sich auch, dass
Crump dem Unglück nicht einfach ausgeliefert ist, sondern dass er sich immer
wieder der Realitätsprüfung verweigert.
«Möglich, dass eine letzte Eitelkeit in
ihm ihn genau daran hinderte, glauben
zu wollen, dass er ein völliger Narr gewesen war.»
Lewisohn gestaltet den Fall Crump
aus vielen Einzelheiten und versucht,
sowohl einen Eindruck von den allgemeinen gesellschaftlichen Zwängen als
auch von den besonderen Charaktermerkmalen der Figuren zu vermitteln.
Er versucht, den gemächlichen Alltag in
einer Kleinstadt der Südstaaten und das
gehetzte Leben in New York zu beschreiben und dabei auch ein Bild von
der Musikszene der zwanziger Jahre zu
liefern. Aber die Handlung ist wenig
mehr als eine lange Reihe von ähnlichen
Episoden, deren Dramatik sich in der
Wiederholung verbraucht; den Figuren
fehlt es an durchgehender Glaubwürdigkeit, und der Sprache – jedenfalls in der
jetzigen Neuübersetzung – fehlt es an
metaphorischer Kraft.
Zwar gibt es immer Anlass, vergessene Romane wiederzuentdecken, wie es
sich der 2009 gegründete Zürcher Secession-Verlag zur Aufgabe gemacht hat.
Der Verlag will Romane veröffentlichen,
die Geschichten über die Bedingungen
der Liebe erzählen, und dieser Vorgabe
entspricht Lewisohns Roman, indem er
von fehlender Liebe erzählt. Als Beschreibung «des Lebens als Ehehölle»
hatte ihn denn auch Thomas Mann in
seinem Vorwort zur ersten deutschen
Ausgabe, das in der jetzigen Ausgabe als
Nachwort dient, gelobt. ●
Roman Ein Tunesier und eine Pariserin;
kann das gut gehen?
Bittersüsse
Multikulti-Liebe
Kurzkritiken Belletristik
Martin Suter: Allmen und die Libellen.
Kriminalroman. Diogenes, Zürich 2010.
197 Seiten, Fr. 25.90.
Thomas Bernhard: Autobiographische
Schriften. Residenz, St. Pölten 2010.
5 Bände, ca. 640 Seiten, Fr. 81.90.
Habib Selmi: Meine Zeit mit Marie-Claire.
Aus dem Arabischen von Regina
Karachouli. Lenos, Basel 2010.
246 Seiten, Fr. 29.50.
MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF
Von Susanne Schanda
«Meine Zeit mit Marie-Claire» ist eine
bittersüsse Liebesgeschichte aus Paris,
die durch die Tatsache, dass ihr Ende bereits auf der zweiten Seite vorweggenommen wird, nichts von ihrem Zauber
einbüsst. Wir sehen Marie-Claires rundes, sommersprossiges Gesicht, das vor
Glück strahlt, wenn sie mit ihrem Geliebten frühstückt. Wir riechen ihre entblössten Achselhöhlen, die eine wohlige
Geborgenheit bei ihm auslösen. Wir
hören sie lachen und schimpfen. In
einem Café hat der aus Tunesien stammende Machfudh sie kennengelernt.
Bald zieht sie bei ihm ein und stellt seine
Wohnung und sein Leben auf den Kopf.
Er nimmt es hin, Hauptsache, sie ist bei
ihm. Vorsichtig geht er jeder Auseinandersetzung aus dem Weg, versucht, das
Glück dieser Liebe im Schwebezustand
zu bewahren, und trägt gerade durch
sein Schweigen zur Entfremdung bei.
«Mühelos, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, trennte sie sich von mir»,
stellt der Ich-Erzähler fest.
Der 1951 in Tunesien geborene und
seit rund dreissig Jahren in Frankreich
lebende Autor Habib Selmi erzählt seine
interkulturelle Liebesgeschichte sinnlich, ehrlich und mit einer Leichtigkeit,
wie sie bei dieser Thematik selten anzutreffen ist. Dabei vermeidet er Spektakuläres und simple Klischees über arabische Machos und die Unvereinbarkeit
der Kulturen. Fein beobachtend, mit
Wehmut und leisem Humor lässt der
Ich-Erzähler seine verlorene Liebe in
der Erinnerung aufleben, nimmt jedes
Detail des gemeinsamen Alltags unter
die Lupe, auf der Suche nach einer Erklärung: «Ich stocke und höre auf, die
toten Blätter einzusammeln. Und ich
konzentriere meine ganze Aufmerksamkeit auf den Namen der Pflanze, die
Marie-Claire mir geschenkt hat. Lange
versuche ich, ihn wiederzufinden,
aber es will mir nicht gelingen.»
Die Auseinandersetzung mit
dem Westen ist eines der
grossen Themen der arabischen Gegenwartsliteratur. Selmi hat es in seinem Roman sensibel
umgesetzt – ohne jede
Bitterkeit.
In der arabischen Welt
hat Habib Selmis Buch grosse Aufmerksamkeit erregt
und wurde 2009 für den
arabischen
Bookerpreis
nominiert. ●
Martin Suter auf allen Kanälen: im Kino,
am Fernsehen, im Theater. Wer trotzdem noch nicht genug hat, sah sich unlängst mit einem neuen Büchlein des
Erfolgsautors beglückt. Die 194 locker
bedruckten Seiten hat man indes schnell
gelesen, da vieles vertraut ist: sowohl
der Held wie auch die kunstlose Sprache. Johann Friedrich von Allmen ist
ein geistiger Verwandter des «Letzten
Weynfeldts» aus Suters vorletztem Roman. Mit dem Unterschied, dass Lebemann von Allmen sein Vermögen verprasst hat und sich durch Tricks über
Wasser hält. Im Laufe des Buches (er)findet er sich einen Job: Ermittler für gestohlene Kunstwerke. Auch die vielen
Wiederholungen und die Suter-typische
Schubladisierung (mittels Beschreibung
von Äusserlichkeiten) statt psychologische Charakterzeichnung verkürzen die
Lektüre. Futter für die Fans oder eine
Zugfahrt lauwarme Unterhaltung für alle.
Regula Freuler
Die Schule war die Hölle, Bücher hat er
gehasst, erst eine schwere Krankheit hat
ihn dazu gebracht, diesen Hass durch
Schreiben zu überwinden. Heute gehört
er zu den berühmtesten deutschsprachigen Schriftstellern, und am 9. Februar
würde er seinen 80. Geburtstag feiern,
wäre er 1989 nicht den Folgen eines
Lungenleidens erlegen. Schimpfen und
Leiden prägen auch Bernhards Bücher.
Am besten erfährt man den Grund dafür
aus den fünf berührenden autobiographischen Werken «Die Ursache», «Der
Keller», «Der Atem», «Die Kälte» und
«Ein Kind», die anlässlich des Jahrestags gebunden im Schuber erschienen
sind. Die Bände können auch einzeln
(Fr. 20.50, bei dtv Fr. 13.90) erworben werden, sind allerdings als «Autobiographie» günstiger in einem Band (Fr. 37.90),
ebenfalls bei Residenz, erhältlich. In welcher Form auch immer, unverzichtbar
sind diese Schriften auf jeden Fall.
Regula Freuler
Philipp Luidl: Was zu merken ist. Miniaturen. Illustriert von Cornelia von Seidlein. Maro, Augsburg 2010. 78 S., Fr. 27.90.
Dirk von Petersdorff: Nimm den langen
Weg nach Haus. C. H. Beck, München
Das dichterische Werk Philipp Luidls ist
schmal, aber gewichtig. Bisher umfasst
es vier Lyrikbände, die alle im durch
Charles Bukowski bekannt gewordenen
Augsburger Kleinverlag Maro erschienen sind. Nun kommt ein Bändchen mit
autobiographischen Prosa-Miniaturen
hinzu. Auch in ihnen zeigt sich der inzwischen 80-jährige gelernte Schriftsetzer, der drei Jahrzehnte lang als Dozent
für Typographie an der Akademie für
das Grafische Gewerbe in München
wirkte, als Virtuose der Verknappung. In
kleinen Szenen lässt er seine Kindheit
und Jugend während des Dritten Reiches
auferstehen. Seine Prosa ist so eindringlich wie lapidar. «Genauere Exerzitien
des Auges gibt es in der deutschen Poesie dieser Zeit nicht», hat der HanserVerleger Michael Krüger einmal über
Luidls Gedichte geschrieben. Der Satz
lässt sich auch auf die poetischen Erinnerungen des Kleinmeisters anwenden.
Manfred Papst
Der 1966 geborene deutsche Schriftsteller Dirk von Petersdorff, der an der Universität Jena lehrt, hat bereits mit mehreren Gedichtbänden («Zeitlösung»,
1995, «Wie es weitergeht», 1998, «Bekenntnisse und Postkarten», 1999, «Die
Teufel in Arezzo», 2004), mit zeitkritischen Essays («Verlorene Kämpfe»,
2001) und erzählender Prosa («Lebensanfang», 2007) auf sich aufmerksam gemacht. In seinem neuen Buch vereint er
Gedichte aus seinen früheren vier Lyrikbänden mit neueren Arbeiten, insbesondere Liebesgedichten, die ihn als formbewussten «poeta doctus» in der Nachfolge Enzensbergers zeigen. Im Zentrum
der Sammlung steht der Sonett-Zyklus
«Die Vierzigjährigen». Von Petersdorffs
Gedichte sind zugleich ernsthaft und
leicht, konzentriert und gelassen, verständlich und tiefsinnig. Die Vielfalt der
Formen wirkt so wenig aufgesetzt wie
das Geflecht der Anspielungen.
Manfred Papst
2010. 101 Seiten, Fr. 25.90.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
2011 ist für die Schweizer Literatur das Max-Frisch-Jahr. Was hat uns
dieser Autor heute noch zu sagen? Andreas Isenschmid hat sein Werk neu
gelesen, erst mit Befremden, dann mit Jubel
Seine Meisterschaft
erlangte er
erst nach sechzig
Hat jemand einmal die unzähligen Gläser, Flaschen und Tassen gezählt, die bei Max Frisch
Werk um Werk in massloser Wut gegen die
Wände, Schüttsteine und Cheminées geschmettert werden? Hat jemand die Katzen und Hunde
gezählt, die Frisch in seinen Büchern zu Tode
bringt? Gibt es ein Verzeichnis der Morde,
Selbstmorde und entsprechender Fantasien in
all seinen Bänden?
Der Schreibende hat Frischs Bücher einige
Jahre ruhen lassen. Frischs Äusserungen zur
Schweiz hatten ihn gelangweilt. Ihre Wahrheiten enthielten zu viel Ressentiment. Und
Frischs Frauenbild nervte. Nun hat er aus gegebenem Anlass zwei Wochen nicht viel anderes
getan, als kreuz und quer in den sieben Bänden
von Frischs «Gesammelten Werken» herumzulesen. Es waren zwei Wochen, die mit Befremden begannen und im Jubel endeten. Doch
durch beides hindurch zeigte Frisch – untrügliches Zeichen klassischer Qualität – dem Schreibenden sich von Seiten, die ihm früher nicht ins
Auge gefallen waren. Am auffälligsten war
dabei das schiere Ausmass von Gewalt in seinen Werken.
Was sind das für Männer, die den halben
«Stiller» und «Gantenbein» hindurch in wortlosem Zorn Gläser und Flaschen «en suite» zerschlagen? Welches ist ihr Leiden? Was lässt sie
Max Frisch (1911−1991)
Am 15. Mai wäre Frisch 100 geworden, am
4. April jährt sich sein Todestag zum 20. Mal.
Das Frisch-Porträt von Volker Weidermann
(Kiepenheuer & Witsch) ist schon erschienen.
Bald folgen die Frisch-Studie von Beatrice von
Matt (Nagel & Kimche) und die Biografie von
Julian Schütt (Suhrkamp).
Am 16. März eröffnet die Frisch-Ausstellung
im Museum Strauhof, Zürich.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
mit der Welt so zerfallen, dass sie Katzen in
Kühlschränke sperren oder sie töten und braten, was lässt sie Hunde umbringen? Natürlich
sind die Auslöser dafür nicht selten die Eheund Liebeskrisen, als deren Darstellung man
Frischs Romane durchaus lesen kann. Aber die
Aggressivität bei Frisch geht ja über alle Ehekrisen weit hinaus. Allenthalben schlägt die
Fremdaggression in Selbstaggression um. Stiller will sich nicht wegen Julika in der bei weitem tiefsten Szene des Romans das Leben nehmen. Marion eröffnet das erste «Tagebuch»
nicht wegen einer Ehekrise damit, dass er seinen Hund erwürgt und sich erhängt. Und auch
«der Goldschmied» hat andere Gründe, wenn
er das zweite «Tagebuch» mit einer schreckerregenden Liste von Selbstmordarten beginnt:
«Zündkapsel in den Mund», Erschiessen, Erhängen, «Sprung von einem Aussichtsturm»,
«Gashahn», «Schlafmittel-Methode, die er unmännlich findet».
Untergangsfantasien
Überhaupt sind es nicht nur die Männer, die
sich auslöschen – ist es nicht die Welt schlechthin, die sich auflöst? Was sagt der Staatsanwalt
im «Öderland», als er seine Sympathie für den
«Mord einfach so» (im Gegensatz zu dem «aus
Gewinnsucht» oder «aus Eifersucht») bekennt?
«Das ist wie ein Riss in der Mauer. Man kann
tapezieren, um den Riss nicht zu sehen. Der
Riss bleibt. Man fühlt sich nimmer zuhaus in
seinen vier Wänden.»
Der Riss bleibt nicht nur, er taucht nach 28
Jahren auch wieder auf. In Frischs so hinreissendem Spätwerk «Der Mensch erscheint im
Holozän», das so anders ist als alles vorherige
und in dem doch einmal mehr Tassen fliegen,
Katzen sterben und Herr Geiser, der allenthalben Risse sieht, sucht und findet, über seine
Auslöschung durch Selbstmord nachdenkt. Zugleich hat Frisch in diesem Werk die Selbstauslöschung eines Einzelnen in eine Vision von
der Auslöschung der ganzen Menschheit einge-
bettet. Natürlich kann man die Sintflut-Fantasie
im «Holozän» ökologisch lesen. Aber man griffe damit zu kurz. Frisch hat seiner Untergangsfantasie deutlich eine metaphysische und religiöse Dimension gegeben. Herr Geiser fragt
sich wie Frisch andernorts auch, ob es «Gott
gibt, wenn es einmal keine Menschen mehr
Im Spätwerk «Der Mensch
erscheint im Holozän» hat
Frisch die Selbstauslöschung
des Einzelnen in eine Vision
der Auslöschung der ganzen
Menschheit eingebettet.
gibt». Und der Autor selbst hat sein Werk doppelt in Beziehung zur biblischen Schöpfungsgeschichte gesetzt. Erst lässt er Geiser als ersten
von vielen Zetteln den Anfang der Genesis an
die Wand pinnen: «Die Erde war aber wüst und
öde, und die Finsternis lag auf der Urflut.» Und
dann inszeniert er sein Werk, in recht kühner
Ausdeutung seiner Schöpferrolle, als negative
Schöpfungsgeschichte. Plötzlich leben mit Geiser auch Feuersalamander im Haus, ja Geiser
fühlt sich wie ein Lurch, bekanntlich ein Amphibium. Der Mensch geht, in den erzählerischen
Obertönen, also erst zurück ins Wasser «mit
webenden und lebendigen Tieren», wie die
Bibel sagt. Und der Regen macht sich dran, die
göttliche Unterscheidung von Wasser und Festland zu widerrufen.
Festlicher Existenzialismus
«Der Mensch erscheint im Holozän» ist Frischs
letztes, schönstes und umfassendstes Bild für
sein gar nicht so heimliches Lebensthema der
existenziellen Unbehaustheit des Menschen.
Dies Thema gibt den dunklen Grund für Frischs
SIGRID ESTRADA
Essay
Schreiben sei «Kommunikation mit dem Unaussprechlichen», meinte Max Frisch. (New York, 1981).
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
KPA / KEYSTONE
Essay
Die Autoren Max Frisch, Barbara König und Walter Höllerer diskutieren in einer ZDF-Sendung im Dezember 1972 über
das Thema «Sind Tagebücher zeitgemäss?».
so licht- und lebenszugewandten Existenzialismus, wie ihn Beatrice von Matt in einem schönen Kapitel ihres Anfang Februar erscheinenden Frisch-Buches herausarbeitet. «Frischs
Existenzialismus hat eine festliche Note»,
schreibt Beatrice von Matt. Der Mensch sei für
Frisch «nicht ein geworfener», «als absurd»
könne «Frisch die menschliche Existenz nicht
verstehen». Doch wer so viele seiner Helden in
realen oder gedachten Selbstmorden am Sinn
verzweifeln lässt, ist dem Absurden vielleicht
doch nicht ganz fern.
Auffällig ist indes, wie eng das Finstere der
Gewalt und des Selbstmords bei Frisch verschwistert ist mit der lichtvollen und beglückenden Erfahrung der Neugeburt. Und wie er
die Auslöschung des Menschen im «Holozän»
an die religiöse Sprache angelehnt hat, so tut er
es auch mit der komplementären Erfahrung des
verwandelten Neugeborenseins. Davon sprechen die intimsten Seiten des «Stiller».
Polemik gegen die Schweiz
Man kann den «Stiller» natürlich auch als
schweizkritischen Roman lesen. Kapitelweise
finden sich Predigten gegen die Engstirnigkeit,
Putzwut, Selbstgerechtigkeit der Schweizer,
gegen ihren mangelnden Wagemut, ihr Klammern an die Vergangenheit, ihr Ausklammern
der Zukunft. Aber erstens würde ein Roman,
der so sehr von einer lediglich zeittypischen
Schweizkritik lebt, rasch sein historisches Verfallsdatum erreichen. Und zweitens fällt doch
auf, dass je mehr Stiller in die Tiefen seines Lebens hinabsteigt, desto weniger von der
Schweiz die Rede ist. Als Stiller in einem singulären Akt die Freundschaft annimmt, die ihm
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
Rolf, sein Staatsanwalt, anbietet, redet er nicht
von der Schweiz, sondern von «meinem Engel»:
«Wenn Sie mein Freund sind, dann müssen Sie
auch meinen Engel in Kauf nehmen.» Und zu
diesem ersten Bezug auf religiöse Sprache wird
er bald einen zweiten fügen: «Näher bin ich
dem Wesen der Gnade nie gekommen», wird er
sagen, als er dem Freund seinen Engel erläutern
will. Bis es so weit ist, warten auf den Leser
indes gleich zwei der bekannten Gewalteruptionen. Gegen die Schweiz polemisiert Stiller
Auffällig ist, wie eng bei
Max Frisch das Finstere der
Gewalt und des Selbstmords
verschwistert ist
mit der beglückenden
Erfahrung der Neugeburt.
zwar gern in Worten, aber wenn’s ans handfeste
Zerstören geht, hält er sich nicht an die Schweiz,
sondern an sein Selbst. Erst zerstört er sein
Atelier und die dort noch vorhandenen Kunstwerke, also sein vergegenständlichtes Selbst.
Und dann schildert er seinen Versuch, durch
Selbstmord sein eigentliches Selbst abzuwerfen. Das glückt und missglückt ihm zugleich.
Die Kugel streift den Kopf nur, und Stiller gerät
in einen erleuchteten Zustand zwischen Tod
und Leben. «Ich wusste, dass dies nicht der Tod
ist, auch wenn ich jetzt sterbe.» Dieser Schrecken einer «Ohnmacht bei vollkommenem
Wachsein» ist es, «was ich meinen Engel
nenne». Diese «Gnade» gibt Stiller die «Empfindung, jetzt erst geboren zu sein». Nun nimmt
er in «ungeheurer Freiheit» sich als den Menschen an, als der er eben geboren worden ist,
bereit, kein anderes Leben zu suchen als dieses.
Diese Erzählung einer Selbstannahme rechnet zu den schönsten und tiefsten Passagen im
«Stiller». Sie gehört als Beispiel einer Theologie ohne Gott in jedes theologische Lesebuch.
Sie steht im «Stiller» übrigens durchaus in
einem theologischen Zusammenhang. Stiller
antwortet mit seinem Bericht auf die von seinem Freund Rolf im Geist von Kierkegaards
Sündentheologie vorgetragene Mahnung, sich
selbst anzunehmen.
Im übrigen geht der Weg, der von der Gewalt
zur Gnade führt, noch ein Stück weiter. Es führt
vom Engel und der Gnade nämlich eine direkte
Linie in den Kern von Frischs literarischer Ästhetik. Frisch dachte, wenn er übers Schreiben
schrieb, meist nicht an die literarische Gesellschaftskritik, derentwegen ihn so viele lieben.
Auch der Satz «Du sollst Dir kein Bildnis machen», der im Mittelpunkt seiner Ästhetik
steht, stammt ja nicht aus einem Traktat gegen
den Abbildrealismus, sondern aus der Bibel. Im
«Stiller» fliessen die Überlegungen über die
Gnade und die übers Schreiben fast ineinander.
Über seinen Engel sagt Stiller, man könne
«etwas Unverständliches nicht verständlich
machen, ohne es gänzlich zu verlieren». Fast
das Gleiche sagt er übers Schreiben: Es sei
«Kommunikation mit dem Unaussprechlichen.
Je genauer man sich auszusprechen vermöchte,
um so reiner erschiene das Unaussprechliche.
Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.»
Diese Überlegungen beschäftigten Frisch
schon im 1947 bei Atlantis veröffentlichten «Tagebuch mit Marion». «Zur Schriftstellerei» notiert er da: «Was wichtig ist: das Unsagbare, das
Weisse zwischen den Worten.» Das lasse sich
aber «bestenfalls umschreiben». Auch hier bedient sich Frisch theologischer Ausdrücke, um
seine schriftstellerische Reflexion zuzuspitzen.
Vom Unsagbaren, nie Abzubildenden, nur zu
Umschreibenden sagt er auch, es sei «Gott als
das Lebendige in jedem Menschen, das, was
nicht erfassbar ist». Wer es fassen wolle, «versündige» sich.
Meisterschaft im Alter
Der Schreibende war bei seiner Relektüre von
Frisch erst befremdet von der Gewalt, die ihm
entgegenschlug, dann beeindruckt von ihrer
Verwandlung in Gnade, schliesslich beglückt
von den Büchern, die Frisch, produktiv wie der
alte Philip Roth, zwischen seinem 60. und seinem 70. Geburtstag publiziert hat – «Tagebuch
1966–1971», «Montauk», «Triptychon», «Holozän». Hier hat Frisch in der Wiedergabe des
«Weissen zwischen den Zeilen» eine unvergleichliche Meisterschaft erlangt. Nach den Experimenten mit der Skizzenform und der Ablösung der «Dramatik der Peripetie» durch eine
offene «Dramatik der Permutation» fand Frisch
nun mehr Weisses als je zuvor im einzelnen
Satz. Seine Sätze wurden, paradox genug, zugleich knapper und aussagekräftiger. Sie kamen
ihrem Gegenstand weder zu nah, noch blieben
sie ihm zu fern.
Zugleich bleiben diese kargen Sätze in der
Schwebe, weil Frisch eine Gabe für den abgebrochenen Satz und eine Gabe für die Berechnung der vielsagenden Lücken zwischen den
Sätzen hat. Manche dieser kunstvoll verknappten Sätze beginnt man, wie es sonst eher bei
Lyrik geschieht, unwillkürlich laut zu lesen.
Man sollte dann nicht ganz vergessen, dass hinter dieser unablässig betriebenen Erforschung
des Weissen zuletzt ein theologischer Urantrieb steckt. l
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Ich habe in meinem
Leben noch nie ein
Buch gelesen. Ich habe
einfach keine Zeit.
Charles Lewinsky,
64, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Seine Adventsparodie
«Der Teufel in der
Weihnachtsnacht»
ist 2010 bei Nagel &
Kimche neu aufgelegt
worden.
Kurzkritiken Sachbuch
Willi Wottreng: Zigeunerhäuptling. Das
Schicksal des Robert Huber. Orell Füssli,
Zürich 2010. 224 Seiten, Fr. 39.90.
Stephan Pörtner: Hosenlupf. Eine freche
Kulturgeschichte des Schwingens. Walde +
Graf, Zürich 2010. 232 Seiten, Fr. 58.-.
Zuerst handelte er mit Chlüppli, dann
mit Seilen, später mit Alteisen und Antikem. In die Ferien flog er nach Kenia
und Thailand und beim eigenen Gerichtsprozess fuhr er im Amischlitten
vor. Er besass zwar fast immer einen
Wohnwagen, doch bis der Jüngste aus
der Schule war, lebte er mit seiner Familie durchaus sesshaft: Robert Huber, mit
drei Jahren von der Pro Juventute «versorgt», durchlief siebzehn Pflege- und
Heimplätze, um als junger Erwachsener
den Weg zurück zu den Fahrenden zu
finden. Als Präsident ihrer «Radgenossenschaft» wird er zu ihrem Sprecher.
Das liebevolle, akribisch dokumentierte
Porträt dieses Mannes bietet weit mehr
als der Titel vom Zigeunerhäuptling
verspricht: nebst der Geschichte der
unseligen Aktion «Kinder der Landstrasse» der sechziger Jahre auch jene
der Jenischen in der Schweiz und ihrer
Protestbewegung zur Verteidigung ihrer
Lebensweise und Kultur.
Kathrin Meier-Rust
«Tradition ist, was bleibt, wenn die
Moden vorbei sind», rief SP-Bundesrat
Willy Ritschard den Besuchern des
Eidg. Schwing- und Älperfests 1977 zu.
Auch Ritschards Freund, der Schriftsteller Peter Bichsel, geht seit Jahren an
Schwingfeste, um «einen friedlichen
Sonntag unter freundlichen Menschen»
zu erleben. Heute erfreut sich der urschweizerische Hosenlupf – genau wie
der Jodel und das Alphornblasen – einer
neuen Beliebtheit, auch im städtischen
Milieu. In der reich bebilderten Chronik
kommen Schwinger-Legenden wie Karl
Meli, Ernst Schläpfer, Jörg Abderhalden
und Kilian Wenger zu Wort. Die Rede ist
auch vom Kampfgericht, vom Sägemehl
und von der urchigen Zwilchhose. Ein
besonderes Lob gebührt dem Illustratoren-Trio Paula Troxler, Chrigel Farner
und Noyau: allein schon ihre liebevollnostalgischen Zeichnungen rechtfertigen die Anschaffung dieses wunderbaren Buches.
Urs Rauber
Irène Speiser: Hausauflösung.
Stroemfeld, Frankfurt am Main 2010.
119 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 24.Ω.
James Palmer: Der blutige weisse Baron.
Eichborn. Die Andere Bibliothek. Frankfurt,
2010. 383 Seiten, Fr. 45.90.
Anhand einer Wohnung die Familiengeschichte erkunden. Irène Speiser (51),
freie Autorin und zeitweilige NZZ-Korrespondentin in New York, folgt den
Spuren ihrer Grossmutter (1902Ω1998),
die als Tochter einer wohlhabenden
jüdischen Familie aus Worms in die
Schweiz heiratete und über 70 Jahre in
einem herrschaftlichen Jugendstilhaus
in Zürich lebte. Die schöne «Granny»
war Bratschistin in einem Damen-Quartett, modellierte Köpfe und verkehrte
mit Persönlichkeiten wie Pablo Casals,
Max Planck und Chaim Weizmann. Ein
Besuch bei ihr war ein Ritual, «die Stunden waren mit Bedacht platziert, seziert,
dividiert». In einer behutsam literarischen Sprache erzählt die Enkelin vom
Haus mit vielen Räumen, Treppen und
Winkeln. Und von Personen, die hier
verkehrten. Mit leiser Wehmut verlässt
man die Villa, die nach dem Tod der kultivierten Dame abgerissen wurde.
Urs Rauber
Der Historiker James Palmer stellt uns
die ebenso surreale wie reale Biografie
eines baltischen Barons mit deutschem
Stammbaum namens Roman Nikolaj
Maximilian von Ungern-Sternberg vor.
Ein gescheiterter zaristischer Offizier,
der nach der russischen Revolution
an der sibirisch-chinesischen Grenze
strandete. Die Stunde des fatalistischen
Draufgängers schlug, als im Strudel der
russischen Revolution entlang der transsibirischen Eisenbahn ein mörderischer
Bandenkrieg entbrannte. Mit einem versprengten Kosakentrupp errichtete er
in der Steppe ein Terrorregime und
wollte 1921 als wiedergeborener Dschingis Khan ein mongolisches Grossreich
schaffen. Der Blutrausch endete nach
wenigen Monaten mit seiner Gefangennahme und Erschiessung durch die Sowjets. Die Fakten dieser bizarren Episode hat Palmer aus russischen und mongolischen Quellen zusammengetragen.
Geneviève Lüscher
Victoria Beckham
Keine Proteste, bitte! Auch das ist ein
Autorenzitat und gehört damit in «Bücher am Sonntag».
Zugegeben, Victoria Beckham hat
noch keinen Literaturnobelpreis gewonnen. (Obwohl man die Möglichkeit
nach manchen Entscheidungen des
Stockholmer Komitees nicht ganz ausschliessen sollte.) Aber sie hat immerhin zwei Bücher geschrieben, die beide
in den Bestsellerlisten gelandet sind.
Naja, «geschrieben» ist vielleicht viel
gesagt. In ihren Kreisen erledigt man
gröbere Arbeiten nicht persönlich.
Mrs. Beckham hat schreiben lassen.
Sie putzt ihr Klo ja auch nicht selber.
Dabei muss sie sich einen der besseren Ghostwriter geleistet haben. Ein
Titel wie «That Extra Half An Inch:
Hair, Heels And Everything In Between», der muss einem erst einmal
einfallen. So was Fetziges hat Thomas
Mann nie geschafft. Wobei Victoria
Beckham wahrscheinlich nicht weiss,
wer Thomas Mann ist. Weil der ja nicht
bei Real Madrid spielt.
Womit wir jetzt endgültig zum lehrreichen Teil dieser Kolumne kommen.
Wer keine Bücher liest, merkt euch das,
liebe Kinder, der ist noch schlimmer
dran als einer, der seinen Spinat nicht
isst. Weil nur Bücher jene lebenswichtige Hirnnahrung enthalten, ohne die
man eines Tages so wird wie Victoria
Beckham. Und eine Spice-Girlisierung
ist so ziemlich das Schlimmste, was
einem Menschen zustossen kann.
Nur schon die körperlichen Veränderungen. Wie der Suppenkaspar (von
dem Frau Beckham auch nichts weiss)
wird man dünner und dünner, bis man
schliesslich aussieht wie ein Kleiderständer auf einem Flachbildschirm.
Damit nicht genug! Von Büchern
wird man erhoben, während man ohne
Bücher nur geliftet wird, und zwar so
regelmässig, bis auch der in solchen
Dingen unerfahrene Betrachter merkt,
dass das niedliche Grübchen am Kinn
früher mal der Bauchnabel gewesen
sein muss.
Und auch der Geist leidet unter längerer Leseabstinenz. Nach Geburten
hat man Aussetzer und nennt seine
Söhne Brooklyn, Romeo und Cruz.
Und irgendwann verliert man dann
jede Scham und gesteht der prominentengeilen Welt, dass man noch nie ein
Buch gelesen hat.
Immerhin: Frau Beckham hat gemerkt, dass man damit nicht gut ankommt. Deshalb hat sie ihre Aussage
auch gleich wieder eingeschränkt. Es
sei ja nicht so, dass sie
überhaupt nicht lese. Modezeitschriften, hat sie
gesagt, die interessierten
sie durchaus.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
USA Der amerikanische Starreporter Bob Woodward, der den Watergate-Skandal aufdeckte,
beobachtet und analysiert auch Präsident Obamas Politik
Chronik der
zögerlichen
Entscheidungen
Bob Woodward: Obamas Kriege.
Zerreissprobe einer Präsidentschaft.
DVA, München 2011. 490 S., Fr. 38.90.
Von Peter Studer
Eine Reuters-Agenturmeldung von Anfang Januar: In Afghanistan seien während des Jahres 2009 fast 10 000 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen
– darunter mehr als 5200 Aufständische,
1300 afghanische Polizisten, 2000 Zivilisten. Das erklärte das afghanische Innenministerium. Reuters rechnet auf:
«Die Gewalt am Hindukusch befindet
sich seit 10 Jahren – also seit Beginn des
amerikanischen Einmarschs – auf einem
Rekordhoch: und das trotz der Präsenz
von 150 000 Nato-Soldaten».
Einer, der diesen Saldo mit grösstem
Unbehagen zur Kenntnis genommen haben muss, ist Präsident Barack Obama,
der die oberste Verantwortung für das
amerikanische Engagement bei seinem
Amtsantritt vor genau zwei Jahren angetreten hat. Die aussenpolitische Hauptplanke in seinem Wahlkampf hatte gelautet: So rasch als möglich die Zelte im
eroberten Irak abbrechen; dafür den
Einsatz in Afghanistan und an der pakistanischen Grenze aufbauen. Das sei die
wirkliche strategische Gefahrenzone.
Bob Woodward, Starreporter der
amerikanischen Politberichterstattung,
hat sich des Themas angenommen. Der
akademisch gebildete Ex-Marine und
sein ungehobelter Partner Carl Bernstein, Aspiranten an der «Washington
Post», waren an einem langweiligen
Sonntag 1972 auf Pflichtdienst – und
stolperten in den «Watergate»-Skandal
hinein. Ein seltsamer Einbruch in das
Wahlhauptquartier der Demokraten, als
dessen Drahtzieher viel später der republikanische Präsident Richard Nixon
sichtbar wurde. Die Recherchen des fanatischen Reporters Woodward und des
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
chaotischen Stilisten Bernstein weckten
die Wachhunde im Kongress, und zwei
Jahre später musste Nixon zurücktreten.
Alan Pakulas grosser Film «All the
President’s men» (1976) mit Robert
Redford und Dustin Hoffman erzählt
diese Episode nach.
Seither brilliert Woodward, der stets
betont, er sei seit Kindsbeinen «eben ein
Reporter», auf andere Weise. Er sichert
sich das privilegierte Entrée zum prominentesten politischen Milieu, dem Weissen Haus. Und er gräbt sich während
einiger Monate in ein Kernthema des
Präsidenten und des ihn umgebenden
Hofstaats ein. Diesmal, mit dem – wenn
ich richtig zähle – zwölften Band, hat er
18 Monate lang Obamas Entscheidbildung rund um Afghanistan beobachtet.
Woodwards Text beginnt zwei Tage
nach Ende des Wahlkampfs 2008: Der
neue Präsident, der ja erst Ende Januar
2009 das Amt antritt, erhält in Chicago
ein Briefing durch den Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, Vizeadmiral Michael McConnell.
Drama in 31 Kapiteln
Ernüchternd: Am 10. Juli 2010 führte
Woodward ein letztes Interview mit
Präsident Obama. Der Präsident erinnerte ihn an die erste aussenpolitische
Rede des jungen Senators Obama, die
damals (2002) Aufsehen erregte: Obama
warnte vor «einer amerikanischen Besetzung des Irak, von unbestimmter
Dauer, mit unbestimmbaren Kosten und
Folgen». Dann fuhr er fort: «Der Krieg
ist die Hölle. Sind die Hunde des Kriegs
mal ab der Leine, weiss niemand, wo’s
hinführt» – berühmtes Zitat von General Tecumseh Sherman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Den beiden
Kriegspräsidenten der allerjüngsten
Zeit, George W. Bush (Irak) und Lyndon
B. Johnson (Vietnam), wäre eine solche
Reminiszenz kaum eingefallen. Obama
fuhr nachdenklich fort: «Nächstes Jahr
Weiter spielen mit der Hofstaat: Die
Männer, die Obama als Wahlkampfleiter
ins Weisse Haus gehievt hatten; alle besorgt, dass die Militärs Obama zu einer
Truppenaufstockung nötigen (traumatisiert vom Vietnam-Krieg 1965/75, den
sie alle nicht mehr aktiv erlebt hatten).
Dann die Generäle: Admiral Michael
Mullen, Vorsitzender der Stabschefs,
bürokratischer Motor der Truppenaufstockung. General Stanley McChrystal,
der 40 000 Mann Verstärkung verlangte
und immerhin 30 000 bekam, aber
wegen eines «Rolling Stone»-Artikels
voller verächtlicher Zitate über die
«Zivilisten» entlassen wurde. General
David Petraeus, ein politisch sensibilisierter General der neuen Generation
mit Erfolgen im Irak (jetzt Kommandierender in Afghanistan). Und viele andere, wie es im Theaterprogramm jeweils
heisst. Eine Konstante war die Empörung über die korrupte Regierung Karzai
und über den pakistanischen Geheimdienst- und Politikerklüngel, der im
Grenzgebiet nicht aufräumt, weil er die
Hauptgefahr im Erzfeind Indien sieht.
Präsident Obama, Adressat all dieser
widersprüchlichen Forderungen, hörte
während fast eines quälenden Jahres zu,
gab weitere Gutachten in Auftrag, stellte
Fragen. Bis er sich ermannte und Ende
November 2009 ein meisterhaft redigiertes strategisches Papier verteilte,
das einen Teil der Militärforderungen
erfüllte, aber gleichzeitig den Horizont
eines Abzugs ab Juli 2011 festlegte. Hätte
er viel früher tun können – so ungefähr
frotzelten der kürzlich verstorbene Krisendiplomat Richard Holbrooke und
CIA-Direktor Leon Paletta.
Durch die endlosen Sitzungsgespräche wabern immer wieder Erinnerungen an die Debatten während des Vietnam-Kriegs, wobei das heutige Personal
– trotz vieler oberflächlicher Ähnlichkeiten – weniger ideologisch und politisch differenzierter argumentiert als
seine Vorgänger.
11. August 2010 im
Situation Room des
Weissen Hauses:
Barack Obama berät
mit Joe Biden und
dem nationalen
Sicherheitsrat die
Lage im Irak.
Protokolle, Briefe, Gespräche
PETE SOUZA / REUTERS
ist’s zehn Jahre her, dass wir in Afghanistan sind. Unser längster Krieg …».
Und jetzt das Zwischenresultat, das
Reuter meldet!
Die 31 Kapitel zwischen Anfang und
Ende des Woodward-Protokolls laufen
wie die Dramaturgie eines Dramas in
(fast nur) einem Dekor ab – in den Sitzungszimmern des Weissen Hauses. Es
treten verschiedene Handlungsgruppen
auf. Politiker: Vizepräsident Joseph R.
Biden, belächelt als Schwätzer, voller
Misstrauen gegen militärische Hybris
und Afghanistans Korruption der Regierung Karzai. Dissidente Militär- und
Diplomatiekader munitionierten ihn.
Aussenministerin Hillary Clinton, JaSagerin zum Irak-Krieg, Supporterin der
Generalsvorschläge. Verteidigungsminister Robert Gates, übernommen aus
dem Bush-Kabinett. Er sagte: «Unser
Plan sollte einen Horizont von 18–24
Monaten haben. Dann beginnen wir
unsere Kräfte auszudünnen.» Obama
schloss sich ihm schliesslich an: Nach
peinlich genau nacherzählten Sitzungen, am 29. November 2009.
Wie arbeitet Woodward? Natürlich sass
er nicht unter den Teilnehmern der
hochgeheimen Meetings am Konferenztisch des Präsidenten. Im «Hinweis an
die Leser» schreibt Woodward: «Der
Kern des Buchs beruht auf schriftlichen
Unterlagen: Sitzungsprotokollen des
Nationalen Sicherheitsrats, Briefen, EMails, persönlichen Gesprächsnotizen»
usw. Er ist berühmt dafür, dass er einem
Gesprächspartner hellwach zuhört,
nach Hause eilt und aus dem Gedächtnis
ein langes Gesprächsprotokoll in den
Computer hackt.
Die Vereinbarung lautet jeweils:
«Hintergrundgespräch» – Inhalt frei,
ohne Quellenangabe. Bei einigen Informanten häuften sich bis zu 300 Seiten
aus mehreren Gesprächen an. Kein
Gegenlesen und Autorisieren, das sich
im deutschsprachigen Raum zu einer
eigentlichen Interviewfalle ausgewachsen hat. Dafür skrupulöse Fairness, die
republikanische wie demokratische Präsidenten samt ihren Hofstaaten, Generäle und Zivilisten, Parteisoldaten und
Service-Public-Missionare
hinhalten
liess, immer wieder.
Artikulierte Proteste nach Publikation sind ganz selten (Ronald Reagan
reklamierte einmal gegen eine «frei erfundene Passage», die sich später aber
als richtig erwies). Am meisten Skepsis
äussern die Kollegen: Geht’s hier auch
um «embedded journalism»? Sympathisiert Woodward mit den offenherzigsten
Informanten? Merkt er, wenn jemand
die Story zurechtbiegt, um vor «der Geschichte» gut dazustehen?
Vielleicht ist Woodwards Fleiss – um
nicht zu sagen: der Furor seiner Recherche in alle Richtungen – ein Korrektiv.
Sodass man hinnimmt, wenn er den Eindruck erweckt, er sei «als Fliege an der
Wand» dabeigewesen und habe den
schrillen Ton des einen, das irritierte
Stirnrunzeln des anderen erlebt. Dabei
hat er nur davon gehört. ●
Peter Studer war USA-Korrespondent des
«Tages-Anzeigers» in Washington zur
Zeit der Watergate-Affäre, später
Chefredaktor des TA und des Schweizer
Fernsehens.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Porträt Ein neues Buch rehabilitiert Umberto Eco als Romancier. Und eine Gesprächssammlung zeigt
ihn einmal mehr als brillanten Geist und anekdotischen Erzähler
Das Feuilleton hat ihn verspottet
schen und narrativen Meisterschaft und
der philosophischen Dimension seines
Werkes sollte man jedoch zurückhaltend mit solchem Urteil sein». Wer hier
vermessen ist und hätte Zurückhaltung
üben sollen, bleibt wohl die Frage.
Ansonsten kommt auch einiges zu
kurz in Nerlichs Biografie. Das gilt vor
allem für Ecos auf wenigen Seiten abgehandelte Zeichentheorie, die als Harmonisierung strukturalistischer und hermeneutischer Ansätze in ihrer Originalität bis heute nicht genug gewürdigt
wird. Das gilt aber auch für den Versuch,
eine besonnen vermittelnde Position
zwischen Buch und Internet in einer
webbasierten Gutenberg-Galaxis einzunehmen: eine Position, die Ecos neueste
Publikation «Die grosse Zukunft des Buches» illustriert. Versammelt sind Gespräche mit dem grossen französischen
Drehbuchautor Jean-Claude Carrière,
die unter der Moderation von Jean-Philippe de Tonnac aufgezeichnet (und hinterher offenbar stark redigiert) worden
sind – und in denen sich Eco nicht selten
als überlegener Dialogpartner eines keineswegs dummen Pendants erweist.
Michael Nerlich: Umberto Eco. Die
Biografie. Francke, Tübingen 2010.
350 Seiten, Fr. 43.50.
Umberto Eco, Jean-Claude Carrière: Die
grosse Zukunft des Buches. Hanser,
München 2010. 288 Seiten, Fr. 29.90.
Von Thomas Köster
Als der Weltbestseller «Der Name der
Rose» des heute 79-jährigen italienischen Romanciers, Zeichentheoretikers,
Kolumnisten, Kulturphilosophen und
Medienwissenschafters Umberto Eco
1982 auf Deutsch erschien, hallte ein
Aufschrei des Entsetzens durchs gesamte bundesrepublikanische Feuilleton.
Ein «geschwätziges und spitzfindiges
Konglomerat» sei das Buch, das vordergründig die Aufklärung einer Mordserie
in einer norditalienischen Benediktinerabtei des 14. Jahrhunderts behandelt: ein
«ambitiöser Gelehrtenscherz», blutleer
und substanzlos, «mit jedem Satz ein
Professorenroman». Wie Michael Nerlich in seiner Biografie Umberto Eco
herausstellt, war diese einhellig vernichtende Kritik inmitten internationaler Begeisterung ebenso einzigartig wie
engstirnig: Heute gilt das Buch als vielschichtige und anspielungsreiche, ästhetisch innovative und geschichtlich
absolut fundierte Neubelebung des historischen Romans.
LEA CRESPI / LUZPHOTO
Buch hat Zukunft
Vielseitig und engagiert
Es ist ein grosses Verdienst von Nerlichs
Biografie, Eco vom immer noch gerne
kolportierten Image des professoralen
Hobbyliteraten, der vom Semiotiker
zum Schriftsteller mutierte, glaubhaft
zu befreien. Stattdessen porträtiert sie
den extrem vielseitigen Autor als einen
vom italienischen Faschismus und Katholizismus geprägten, linksintellektuell
beeinflussten und politisch überaus engagierten Literaten aus dem Umfeld der
sprachexperimentellen «Gruppo 63»,
der selbst sein wissenschaftliches Interesse aus einem lebenslangen Faible fürs
Erzählen entwickelt hat.
Folgerichtig stehen bei Nerlich Ecos
grosse Romane «Der Name der Rose»
(1980), «Das Foucaultsche Pendel»
(1988), «Die Insel des vorigen Tages»
(1994), «Baudolino» (2000) und «Die
geheimnisvolle Flamme der Königin
Loana» (2004) im Zentrum, denen ausführliche und teils gekonnt interpretierende Kapitel gewidmet sind. Letzteres
gilt vor allem für die Analyse des im
deutschen Feuilleton als «Trivialbarock» verspotteten Romans «Die Insel
des vorigen Tages»: Dessen «blödsinniger Plot» rund um den in der Südsee
gestrandeten Briefeschreiber Roberto
de La Grive entpuppt sich als raffinierte,
postmodern-avantgardistische Erzählstrategie, die nicht die Hauptfigur, son18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
dern das gesamte Wissen des 17. Jahrhunderts zum Helden hat.
Leider gelingt Nerlich die Ehrenrettung Ecos nicht immer derart überzeugend. Das hat vor allem damit zu tun,
dass der Biograf dem Werk des Autors,
der «wie kein anderer den LiteraturNobelpreis verdiente», mit ungebremster, teils in Superlativen gefasster Bewunderung entgegentritt. Da wird «Der
Name der Rose» schon mal als «absolut
offenes Kunstwerk» im Eco’schen Sinne
auf eine Stufe mit den grossen formalexperimentellen Werken der Moderne wie
«Finnegans Wake» gestellt. Wie der
Don Quichotte habe das Buch «die Romanproduktion in der gesamten Welt
massgeblich beeinflusst und verändert»,
muss man erstaunt zur Kenntnis nehmen. Und «Die Insel des vorigen Tages»
wird kurzerhand «einer der realistischsten psychologischen Geschichtsromane
aller Zeiten».
Unbewiesen bleibt auch die Unterstellung, Eco habe mit seinem literarischen Werk (berechtigterweise) vorgehabt, «ein zweiter Dante» zu werden:
«Das mag vermessen anmuten, angesichts der unendlichen Menge an Wissen, angesichts seiner poetisch-rhetori-
«Ich lese aus
Lust am Lesen»:
Umberto Eco ist
Zeichentheoretiker,
Philosoph, Erzähler
und Kolumnist.
Dabei geht es nicht nur um die im Titel
prophezeite Zukunft des Buches, sondern vor allem auch um dessen Vergangenheit. Es geht um die Tragödie des
Vergessens und den Fluch der Erinnerung, um Zensur, Kontrolle und brennende Bibliotheken, um die Geschichte
des Buchdrucks und die fruchtbare Auseinandersetzung mit menschlicher
Dummheit, um ungelesene Romane
oder nie gesehene Filme, um unbekannte Meisterwerke und die einsame Jagd
des Sammlers nach kostbaren Kodizes.
Und es geht um die Borniertheit Berlusconis, E-Books und die neuen Chancen
des World Wide Web.
Besonders eindrucksvoll gerät «Die
grosse Zukunft des Buches» vor allem
dann, wenn Eco seine Argumentation
anekdotisch oder biografisch unterfüttert – etwa in jener Passage, in der er
seine These von der grösseren Beständigkeit des Gedruckten am Verlust der
auf Diskette gespeicherten Urschrift des
Foucault’schen Pendels deutlich macht:
«Hätte ich den Roman auf der Maschine
getippt, wäre das Manuskript noch da».
Einmal berichtet Eco auch von den
jährlichen Buchgeschenken einer Nachbarin zur Weihnachtszeit. «Eines Tages
fragte sie mich: ‹Sag mal, Umbertino,
liest du, um zu erfahren, was in dem
Buch steht, oder aus Liebe zum Lesen?›
Und ich musste zugeben, dass ich nicht
immer gefesselt war von dem, was ich
las. Ich las aus Lust am Lesen. Das ist
eine der grössten Offenbarungen meiner Kindheit.» An Stellen wie diesen
zeigt sich, dass Eco auch mündlich ein
grossartiger Erzähler ist. ●
Biografie Die Wagner-Sängerin Marta Fuchs machte ihre
grosse Karriere im Dritten Reich
Roswitha von dem Borne, Johannes Lenz:
Marta Fuchs 1898–1974. Das
schwäbische Götterkind. Mayer,
Stuttgart 2010. 373 Seiten, Fr. 40.50.
Von Kathrin Meier-Rust
Marta Fuchs hatte nicht nur eine grosse
Stimme, sondern offenbar auch eine
atemberaubende Bühnenpräsenz . Die
Tochter eines sangesfreudigen Malermeisters debütierte als Konzertsängerin, um später ihre Altstimme zu einem
dramatischen Sopran umzubilden. Ab
1930 war sie eine gefeierte Opernsängerin an den Staatsopern in Dresden und
Berlin, von 1933 bis 1942 stand sie im
Mittelpunkt der Bayreuther Festspiele,
wo sie als grösste Wagner-Sopranistin
ihrer Generation hymnische Rezensionen erntete. Auch in Zürich, wo «die
Bayreuther Hochdramatische mit der
edlen Gestik» 1944 als Isolde gastierte.
Marta Fuchs war als junge Frau in
Stuttgart der anthroposophischen Kirche der Christengemeinschaft beigetreten und blieb dieser bis an ihr Lebensende sehr eng verbunden. Zwei anthroposophische Autoren widmen ihr deshalb nun eine erste Biografie, die mit
zahlreichen Bühnenfotos des Stars den
schwülstigen Wagner-Geschmack jener
Zeit wunderbar wiedergibt. Mangels
schriftlicher Zeugnisse der Künstlerin
selbst ziehen die Autoren neben zahllosen Kritikerstimmen vor allem auch
Anekdotisches bei. So etwa ein legendäres Gespräch mit Hitler: Auf einem
Empfang in Bayreuth soll sie dem Führer 1938 gesagt haben, dass er «no koin
Krieg anfange soll». Um dann auf seine
Beschwichtigungen zu antworten: «I
trau Ihne net.»
Solch zwinkernde Bodenständigkeit,
die sich der Star gefahrlos erlauben
konnte, nun zu Mut zu stilisieren, ebenso wie die Bemühungen der Sängerin,
JOHANNES LENZ
Ein Götterkind, das
mit Hitler scherzte
Bayreuth 1937:
Marta Fuchs (4. von
rechts) und Wilhelm
Furtwängler (ganz
rechts).
über ihre Beziehungen zu Nazi-Grössen
das Verbot anthroposophischer Einrichtungen abzuwenden, zeigt allerdings die
hochproblematischen Seiten dieser Biografie. Die der Karriere dienliche Naivität des «schwäbischen Götterkindes» –
so Ex-Königin Charlotte von Würtemberg – mag mit Nachsicht beurteilt werden. Keine Nachsicht verdient jedoch
eine ebenso naive wie verharmlosende
Darstellung dieser Karriere im Dritten
Reich. Geradezu grotesk wird es, wenn
die Erinnerungen von Marcel ReichRanicki an die Konzerte im Warschauer
Ghetto zitiert werden, um den Trost zu
illustrieren, den auch die Musik in Bayreuth den Menschen in schwieriger Zeit
geboten habe. ●
Offizielle Sondermünze 2011
100. Geburtstag von
Max Frisch
Zürich, Rom, New York, Berlin und Berzona TI sind die prägenden Stationen
im Leben des grossen Schriftstellers und kritischen Geistes des 20. Jahrhunderts. Den Weltbürger und Literaten Max Frisch ehrt die Schweizerische
Eidgenossenschaft im Jubiläumsjahr mit einer Sondermünze aus edlem
Silber. Erhältlich bei Banken, Münzenhandel und www.swissmint.ch.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MjKzMAMAspyxJQ8AAAA=</wm>
<wm>10CEXKMQ6AIBBE0RNBZpEB1i0RK2KhxhMYa-9faWws_qt-70aPr9qWva0mQKSTEFJJRqUPOdmg6lOhQSSGl1FIkFqy_berk9uAGTgg_j6vB1t5EcJdAAAA</wm>
Schweizerische Eidgenossenschaft
Confédération suisse
Confederazione Svizzera
Confederaziun svizra
Limitierte Auflage. Jetzt bestellen: www.swissmint.ch
Ich bestelle gegen Vorausrechnung, zzgl. Versandkosten
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Max Frisch
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30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Schweizer Aussenpolitik Der frühere Botschafter Kurt O. Wyss setzt sich kritisch mit EDA-Chef
Flavio Cotti und mit Thomas Borer auseinander
Selbstinszenierung von Diplomaten
Ankara – ein Diplomatenleben.
Stämpfli, Bern 2011. 334 Seiten, Fr. 39.–.
Von Paul Widmer
Es kommt immer wieder mal vor,
dass Schweizer Diplomaten Memoiren
schreiben. Meist handeln sie von den
Freuden und Leiden des Berufs. Man berichtet von Versetzungen in ferne Länder, von berühmten Besuchern, noblen
Empfängen und feinen Bekanntschaften,
und wirft ein paar Streiflichter auf das
jeweilige Gastland, verbunden mit etwas
Landeskunde – biedere Geschichten auf
gediegenem Niveau. Solche findet man
auch bei Kurt O. Wyss. In seinen Erinnerungen blickt er auf eine erfolgreiche
Karriere in der Schweizer Diplomatie
zurück: Dem Schreinersohn aus Burgdorf war nicht in die Wiege gelegt, dass
er sein Berufsleben als Botschafter in
der Türkei abschliessen sollte.
Doch das soeben erschienene Buch
bietet mehr. Im Grunde beschreibt Wyss
anhand seines eigenen Beispiels, wie
der diplomatische Dienst in der Schweiz
funktioniert. Er greift über die individuelle Erfahrung hinaus und erfasst auch
das administrative Umfeld. Das beginnt
mit den Aufnahmeprüfungen. Der Autor
schildert nicht nur, wie es ihm ergangen
ist, sondern erläutert detailliert die Anforderungen an Diplomaten. Über die
Posten, die er in Bern absolvierte, vermittelt er mehrere Innenaufnahmen aus
dem Eidgenössischen Departement für
auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Diese sind persönlich gehalten, in der
Schilderung eines offenen Konflikts mit
einem Vorgesetzten sogar sehr persönlich. Doch immer bezieht Wyss auch die
Verwaltung mit ihren Strukturen und
Regeln ein. Schliesslich lenkt er auch
auf den Botschaften – sei es in Singapur,
Damaskus oder Ankara – den Blick auf
die Arbeitsabläufe im diplomatischen
Alltag.
Ein weiterer Zug ist hervorzuheben.
Wyss hat, was man im EDA wusste, Zivilcourage. Deshalb wohl übertrug ihm
Bundesrat Flavio Cotti eine ganz besondere Aufgabe: nämlich ein diplomatisches Inspektorat aufzubauen. Als Erster hatte er das Betriebsklima auf den
Aussenposten und in einzelnen Abteilungen der Zentrale zu untersuchen.
Das erlaubte Wyss einen tiefen Einblick
in den diplomatischen Dienst.
Umso schwerer wiegt seine heftige
Kritik an EDA-Chef Flavio Cotti – meines Wissens die erste schriftliche Abrechnung aus Diplomatenkreisen. Er
nennt ihn «janusköpfig»: freundlich und
umgänglich zur Presse und den Parla-
Bundesrat Flavio
Cotti (links) setzt
Thomas Borer als
Chef der Task Force
«Vermögenswerte
Naziopfer» ein,
25. Oktober 1996.
KEYSTONE
Kurt O. Wyss-Labasque: Paradiesvogel
im goldenen Käfig. Singapur, Damaskus,
mentariern, machtbesessen und griesgrämig mit den Mitarbeitern, stets fordernd, aber nie fördernd. Dieses harsche
Urteil dürfte von den meisten ehemaligen Mitarbeitern im Bundeshaus-West
geteilt werden. Cottis Misstrauen gegenüber seinen Diplomaten kam auch
darin zum Ausdruck, dass er Quereinsteiger von aussen auf Botschafterposten hievte. Wyss sieht in diesem Vorgang, den er vielleicht etwas überbewertet, einen gezielten Angriff auf die Karrierediplomaten. Als Inspektor bestand
er darauf, auch die von Quereinsteigern
geleiteten Missionen zu inspizieren. Das
Resultat war ernüchternd.
Kein Blatt vor den Mund nimmt Wyss
auch, wenn er auf Thomas Borer zu
sprechen kommt. Die Bilanz dieses
«Überfliegers» ist durchzogen. Insgesamt hätten die Selbstinszenierungen
des Botschafter-Glamourpaars mehr
Schaden als Nutzen angerichtet. Als
Kontrast widmet er den Diplomatengattinnen ein eigenes Unterkapitel. Diese
wirken meistens in aller Stille als Gastgeberinnen – eine Aufgabe, die von der
Öffentlichkeit vorausgesetzt, aber kaum
je gewürdigt wird.
Wer sich für die Schweizer Diplomatie interessiert, erhält in diesen Memoiren eine gute Einführung in das EDA.
Studienabgängern, die eine diplomatische Laufbahn in Betracht ziehen, seien
sie zur Lektüre empfohlen. Kurt Wyss
hat ein Buch vorgelegt, das ganz auf
seine Biografie zugeschnitten ist, aber
weit darüber hinaus reicht. Ein ehrliches
Buch gefüllt mit Informationen und
reich an Wertungen, dazu sorgfältig und
gut leserlich geschrieben. ●
Paul Widmer ist Autor von «Schweizer
Aussenpolitik und Diplomatie» (2003).
Zeitgeschichte Noch immer pflegt Russland einen zwiespältigen Umgang mit dem Stalinismus
Held und Monster, damals wie heute
Irina Scherbakowa: Zerrissene
Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus
und Zweitem Weltkrieg im heutigen
Russland. Wallstein, Göttingen 2010.
149 Seiten, Fr. 23.50.
Von Reinhard Meier
«Womit lassen sich die Ergebnisse der
Umfragen erklären, nach denen heutzutage 50 Prozent der Befragten Stalin für
einen weisen Führer halten, der die
UdSSR zu Macht und Blüte brachte»,
fragt Irina Scherbakowa in ihrer vielschichtigen Studie über Russlands Umgang mit der Geschichte des Zweiten
Weltkrieges. Die in Moskau lebende Autorin begnügt sich nicht mit plakativen
Antworten. Sie kennt die Widersprüchlichkeiten und Schizophrenien um den
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
Stalin-Mythos aus der Geschichte der
eigenen Familie.
Ihre Grosseltern und Eltern jüdischer
Herkunft waren mindestens streckenweise überzeugte Stalin-Verehrer, obwohl sie gleichzeitig über den diabolischen Terror seiner Herrschaft angstvoll Bescheid wussten. Ein Gespräch
mit der Autorin über biografische Zugänge zur Geschichte der sowjetischen
Repression gehört zu den eindrucksvollsten Kapiteln des faktenreichen Buches.
Dass der Stalin-Kult auch im postsowjetischen Russland weiterflackert,
ist selbst für den distanzierten Beobachter nicht völlig unfassbar. Stalin mag ein
ebenso monströser Diktator gewesen
sein wie Hitler – aber er gehörte im
Zweiten Weltkrieg zu den grossen Siegern. Und Sieger werden in den nationa-
len Geschichtsbildern meist nachsichtiger oder jedenfalls zwiespältiger dargestellt als totale Verlierer wie Hitler.
Hinzu kommt allerdings – und davon
ist Irina Scherbakowa, eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation
Memorial, tief enttäuscht –, dass in der
Ära Putin die Tendenz zur Stalin-Verklärung wenigstens punktuell begünstigt
wird. Allerdings sind auch hier die Realitäten widersprüchlicher als mitunter
kolportiert. So hat unlängst die russische Duma in aller Form bestätigt, dass
das Massaker von Katyn an 20 000 polnischen Offizieren im Sommer 1940 auf
einen ausdrücklichen Befehl Stalins zurückgeht. Und eine gekürzte Fassung
von Solschenizyns «Archipel Gulag»
über das sowjetische Lagersystem ist inzwischen in russischen Schulen Pflichtlektüre geworden. ●
AMW PRESSEDIENST / ULLSTEIN
Psychologie Der Reporter Eugen Sorg schreibt über Kriegsverbrecher und Alltagsgewalt. Sein
Fazit: Grausamkeit entspringt nicht sozialen Defekten, sondern der Lust am Bösen
Übeltäter werden entschuldigt
Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum
Gewalt nicht heilbar ist. Nagel &
Kimche, München 2011 (erscheint am
7. Februar). 157 Seiten, Fr. 22.90.
Von Urs Rauber
Über das Böse haben sich unzählige
Philosophen, Kirchenlehrer, Psychologinnen und Ethikkommissionen geäussert. Das neue Buch des Zürcher Publizisten Eugen Sorg nähert sich dem
Thema von der empirischen Seite. Der
promovierte Psychologe fuhr als Delegierter des Internationalen Komitees
des Roten Kreuzes (IKRK) und später
als Journalist in Krisengebiete: nach
Bosnien, Jemen, Afghanistan, in den
Sudan, in die Unruheherde an den Rändern des Westens.
Im Sommer 1992 besuchte Sorg als
IKRK-Delegierter ein Gefangenenlager
im bosnischen Bosanski Brod. Lagerkommandant war ein 23-jähriger Kroate,
Ante Culap, der zuvor als Buffetbursche
in Bellinzona gearbeitet hatte. Strotzend
vor Selbstbewusstsein führte der jugendliche Milizionär die Besucher im
Lager herum, das er sichtlich mit harter
Hand führte. Unter den 80 Gefangenen
hatte er sich eine junge Frau zur Freundin genommen. «Wahrscheinlich werden Culap und seine Kumpane den
Krieg als beste Zeit ihres Lebens in Erinnerung behalten.» Genau wie jene Taliban-Krieger, die Sorg drei Jahre später
in Afghanistan, oder die Rebellen im
Südsudan, die er zu Beginn der neunziger Jahre getroffen hatte.
Bestürzende Einsichten
Sorgs Erlebnisse, seine Gespräche mit
Opfern und Tätern von Gewaltexzessen,
Genoziden und Bürgerkriegen führten
ihn weg von einem idealistischen Menschenbild zu bestürzenden Einsichten:
Nicht übersteigerter Nationalismus, Religion, koloniale Unterdrückung oder
soziale Ungerechtigkeiten seien die primären Antriebskräfte für Folter, Mord
und Einschüchterung. Nein, an erster
Stelle stünden niedrige menschliche
Motive wie Habgier, Eifersucht, Rache,
Lust, Gewaltrausch. Und die freche Gewissheit, bei Aggressionen nicht gestoppt zu werden. «Die meisten Menschen berauschen sich nicht an Ideen,
sondern sie benutzen Ideen, um ihren
Rausch zu legitimieren.»
Der Autor ist überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren Bodensatz an Asozialen,
Psychopathen und Mördern hat, der in
aufgewühlten Zeiten an die Oberfläche
gespült wird. Menschen seien mit einem
genuinen Hang zum Bösen ausgestattet.
Als Adolf Ogi zu Beginn der neunziger
Jahre die etwas undiplomatische Aussage machte, dass die Jugoslawen, die sich
jetzt die Köpfe einschlagen, zum Teil
selber schuld seien, rührte er an ein
Denkverbot. Denn das aufklärerische
Denken geht davon aus, dass die Humannatur primär gutartig ist und das
Böse eine Folge von Vorurteilen, Aberglauben und Unwissen.
Von Kriegsgräueln im Balkan springt
Sorg zu den «Todesengeln» in Spitälern
und Heimen. So erlebte der 36-jährige
Luzerner Krankenpfleger Roger A., der
24 Insassen von Seniorenheimen umgebracht hat, gemäss eigenen Worten
jeden Mord als «Befreiungsschlag». Die
vier Wiener Krankenschwestern aus
den achtziger Jahren töteten hingegen
«aus Mitleid und Barmherzigkeit». Als
ihre Fälle bekannt wurden, suchten Medien und Öffentlichkeit fieberhaft nach
den «wahren Ursachen». Rasch wurde
man fündig: beim beruflichen Stress, bei
Problemen im Team, fehlender Gesprächskultur, narzisstischen Kränkungen oder im gesellschaftlichen Umfeld.
Doch keine Analyse und kein Kommentar stellte die Frage, «ob die Tötungen
auch aus Lust am Töten begangen worden sein könnten». Aus einem Gefühl
der Allmacht, aus dem Rausch der Megalomanie heraus. Der Luzerner Krankenpfleger zum Beispiel kam nach seinen Taten jeweils pfeifend aus dem Zimmer seiner Opfer.
Auch von Jugendgewalt ist die Rede
– von den fünf Schweizer Berufsschü-
«Todesengel»:
Die vier Wiener
Krankenschwestern
töteten in den
1980er-Jahren über
40 Patienten «aus
Mitleid».
lern, die im Sommer 2009 in München
mehrere Unbeteiligte grundlos spitalreif prügelten, und von den beiden
Münchner S-Bahn-Schlägern, die im
gleichen Jahr einen 50-Jährigen zu Tode
brachten. Die Fantasie, andere zu töten,
zu erniedrigen, zu schädigen, hätten die
meisten Menschen schon einmal gehabt, so Sorg: «Der Wunsch ist nicht
böse. Erst die Tat ist es.»
Das Böse ist nicht heilbar
Eugen Sorgs Beobachtungen sind treffend, seine Analysen messerscharf und
überzeugend. Aber auch schmerzhaft,
weil sie die Frage nach der wirkungsvollen Gegenwehr offen lassen. Er zieht
einen Bogen vom Gemetzel zwischen
Tutsi und Hutu in Ruanda bis zum Rudelkampf von Hooligans und Politkrawallanten. Auch letztere – sei es am
1. Mai, sei es nach einer Abstimmungsniederlage – geilten sich an der Lust auf,
gesellschaftliche Barrieren nieder zu
reissen. Die Auffassung, die Kräfte der
Destruktion seien eine Art Fehlverhalten, das mit sozialpädagogischen Remeduren allein zum Verschwinden gebracht werden könne, sei «der Vodoo
der aufgeklärten Eliten.»
Im letzten der 14 anschaulich erzählten Kapitel interpretiert er Max Frischs
Theaterstück «Biedermann und die
Brandstifter» (1958) als eine Parabel
des Bösen und des blinden Vertrauens
gegenüber Übeltätern. «Der Biedermannsche Pazifismus des Westens reagiert auf hässliche Gewaltvorkommnisse mit reflexartigem Wegschauen
und zwanghaften Beschwichtigungen.
Je abscheulicher eine Tat ist, desto weniger ist der Täter dafür verantwortlich
– dies gilt als Universaldiagnose für
tödliche U-Bahnschläger und Terrorgruppen wie die Hamas.» Sein Fazit:
Das Böse begleitet die Geschichte des
Menschen, es «ist nicht heilbar, nicht
umerziehbar, nicht wegfinanzierbar»,
da es Bedingung der menschlichen
Freiheit sei. Das Böse zu erkennen,
wenn es auftauche, sei jedoch von entscheidender Wichtigkeit. ●
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Geografie Toby Lester erzählt die aufregende Geschichte der alten «Waldseemüllerkarte»
Wie das Bild
der Welt sich rundete
Toby Lester: Der vierte Kontinent. Wie
eine Karte die Welt veränderte. Berlin
Verlag, Berlin 2010. 527 Seiten, Fr. 56.90.
Von Kirsten Voigt
Man kann mit Landkarten reisen – an
fremde Orte, durch die Welt oder durch
die Zeit. Toby Lesters Buch widmet sich
der 1507 entstandenen «Waldseemüllerkarte» und unternimmt mit ihr universalistische Expeditionen durch eineinhalb Jahrtausende Welt- und Wissenschaftsgeschichte. Diese heute nur noch
in einem Exemplar überlieferte Weltkarte verzeichnete erstmals «Amerika»
und gab dem Erdteil seinen Namen.
Vorweg: Der Verlag hat mit seiner
«Übersetzung» des Untertitels das
Thema des Buches um mindestens so
viele Längengrade verfehlt wie Kolumbus Indien. Im Deutschen macht er darauf gespannt: «Wie eine Karte die Welt
veränderte». Das englische Original
heisst: «The Race to the Ends of the
Earth, and the Epic Story of the Map
That Gave America its Name». Dies nun
trifft Anlage und Inhalt dieser abenteuerlich komplexen, kenntnisprallen Darstellung präzise.
Es geht nicht um die Wirkung der
Karte auf die Nachwelt – lediglich ein
Kapitel nährt Spekulationen darüber, ob
Kopernikus durch sie mit zur Erkenntnis fand, dass die Erde um die Sonne
kreist. Detailliert ausgebreitet wird vielmehr die lange Vorgeschichte ihrer Entstehung. Dazu gehört die Entwicklung
der Kartografie; noch mehr Wissenswertes trägt der Autor aber über die ihr
zu Grunde liegenden antiken, christlichen und frühneuzeitlichen kosmologischen Vorstellungen zusammen. Unabdingbar sind dafür selbstredend die
spannenden Schilderungen der Entdeckungsreisen – nicht nur nach Westen
und damit nach Amerika, sondern an
der Küste Afrikas entlang, nach Indien
und China –, auf denen diese Hypothesen überprüft wurden.
Man erfährt, wie Kolumbus sich –
vielleicht strategisch – die Welt klein
rechnete, um für seine Expeditionen
Unterstützung zu erhalten. Und da man
auf diesen Reisen nicht nur geografische Fakten, sondern auch Schätze,
Geldquellen, Verbündete, fantastische
Lebewesen und neue Herrschaftsgebiete suchte, geht es um Mönche und Mongolen, Kaiser, Könige und Päpste, die
Geschichte von Kreuzzügen und Erfindungen – wie die des Kompasses –, die
Gründung früher Welthandelsimperien
wie jenes der Familie Marco Polos, den
Beginn des portugiesischen Sklavenhandels 1441, um See- und Landkarten, die
als Staatsgeheimnisse gehütet und aus22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
spioniert wurden, und vor allem um das
aufregende Erwachen der kritischen
Vernunft im Humanismus.
Lesters initiales Interesse datiert aus
dem Jahr 2003. Damals erwarb die «Library of Congress» für zehn Millionen
US-Dollar die 137 mal 243 Zentimeter
grosse, aus zwölf Blättern zusammengefügte «Waldseemüllerkarte». Jahrhundertelang war sie verschollen, galt als
«Gral» der Kartografie und wurde erst
1901 von dem österreichischen Jesuitenpater Josef Fischer im oberschwäbischen Schloss Wolfegg wiederentdeckt.
Fast genau vierhundert Jahre zuvor
hatten im lothringischen Saint-Dié-desVosges der Kartograf Martin Waldseemüller und der Gelehrte Matthias Ringmann dieses neue «Weltbild» entworfen, gestützt auf die Schriften des Ptolemäus und tatsächliche oder ihm zugeschriebene Texte des Amerigo Vespucci.
Im Einklang mit Dogmen
Rätselhaft und frappierend bleibt die
Tatsache, dass Waldseemüller und Ringmann Amerika schon ganz von Wasser
umgeben zeigten – entweder ging dies
auf heute verschollene Berichte einer
vielleicht geheimen portugiesischen Expedition zurück, oder wissenschaftliche
Spekulation bildete die Basis. Erst sechs
Jahre nach der Veröffentlichung sah Balboa vom Festland aus als erster Europäer den Pazifik. Magellan befuhr ihn 1520.
Karten hatten im Mittelalter in Einklang zu stehen mit religiösen Überlieferungen, Dogmen oder Prophezeiungen. In ihnen spielte etwa jener Ort eine
Rolle, an dem die kriegerischen Völker
von Gog und Magog siedelten, oder das
legendäre Königreich eines sehnlich erwarteten Priesterkönigs aus dem Fernen
Die lange
verschollene
«Waldseemüllerkarte» aus dem
Jahre 1507. Sie zeigt
Amerika ganz von
Wasser umflossen.
Osten mit Namen Presbyter Johannes,
der die Muslime besiegen und Jerusalem befreien sollte. Eine wichtige theologische Frage war überdies jene nach
der Lage des irdischen Paradieses.
Amerika verschwindet
Ein Schlüsselkapitel widmet sich Claudius Ptolemäus und der Wiederentdeckung seiner «Geographia». Um 1300
fand der byzantinische Mönch Maximos
Planudes eine Kopie. Fast ein Jahrhundert später gelangte die «Geographia»
nach Florenz. Ariost und Alberti erwähnen sie, Leonardo bezog sich in seiner
Anatomie – der Darstellung des menschlichen Mikrokosmos – explizit auf diese
Strukturierung des Makrokosmos. Ptolemäus hatte nicht nur alle ihm bekannten Teile der Welt kartografiert, sondern
schon dargelegt, dass der Erdumfang
etwa 40 000 Kilometer messe. Er empfahl zur Berechnung von Entfernungen
ausserdem ein Gitter aus Breiten und
Längen. Mutmassungen, die Entwicklung der Zentralperspektive in Florenz
könnte durch die ptolemäische mathematische Methodik mit angeregt worden sein, wirken nicht abwegig.
Merkwürdig: Für kurze Zeit nach
Ringmanns Tod 1511 verschwand der
Name «Amerika» von Neuauflagen der
Karte – ebenso der Pazifik. Hatten Waldseemüller Zweifel befallen? Der Name
«Amerika» war und blieb dennoch in
der Welt. Toby Lester zeigt souverän,
wie Kenntnisse über diese Welt unter
bewundernswerten Anstrengungen gesammelt und verteidigt wurden, bis sich
das Bild rundete – und er zeigt an individuellen Schicksalen auch den oft von
Zufällen, Irrtümern und Ungerechtigkeiten bestimmten «Lauf der Welt». ●
Nationalsozialismus Nach seiner Himmler-Biografie präsentiert Historiker Peter Longerich sein
nächstes monumentales Werk: über Hitlers Propagandaminister
Mit Goebbels in der Psychoanalyse
über blumenbestreute Strassen fahren
liess und schliesslich im Februar 1943 im
Berliner Sportpalast ein «Plebiszit für
den totalen Krieg inszenierte» (Longerich).
Zugleich gewinnt das Psychogramm
des Propagandaministers an Konturen,
wenn Longerich erzählt, wie sich nicht
nur Goebbels, sondern auch Hitler in
die spätere Magda Goebbels verliebte,
wie Hitler seine Ansprüche zurückstellte und als ständiger Gast zu einem Mitglied der Familie Goebbels wurde. Dabei
kann Longerich deutlich machen, dass
Peter Longerich: Goebbels. Biografie.
Siedler, München 2010. 910 S., Fr. 58.90.
Von Andreas Tobler
Papstbilder Meistfotografierter Mensch der Welt
ARTURO MARI / AP
«Wollt ihr den totalen Krieg?» Mit dieser Suggestivfrage hat sich Joseph Goebbels als Einpeitscher der Massen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wie
wurde der kleingewachsene, klumpfüssige, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Goebbels zum Volksverführer? Was trieb ihn an? Antworten auf
diese Fragen gibt der in London lehrende NS-Forscher Peter Longerich in seiner monumentalen Goebbels-Biografie,
in der er die erst seit 2006 vollständig
gedruckt vorliegenden Tagebücher des
Propagandaministers auswertet.
Wie bei seiner 2008 erschienenen
Himmler-Biografie diskutierte Longerich auch bei der Arbeit an «Goebbels»
mit einer Gruppe von Psychoanalytikern über das Innenleben des Porträtierten. Während bei Himmler eine
Bindungsstörung festgestellt werden
konnte, diagnostiziert Longerich bei
Goebbels einen krankhaft ausgeprägten
Narzissmus, der sich in einem unstillbaren Bedürfnis nach Anerkennung gezeigt habe und auf eine gestörte Autonomieentwicklung im frühen Kindesalter
zurückzuführen sei.
Auf den ersten Blick wirkt Longerichs
Diagnose kühn, denn Goebbels’ Kindheit kann mangels aussagekräftiger Dokumente gerade nicht rekonstruiert
werden. Ausserdem könnte man im lebenslangen Streben Goebbels nach Anerkennung auch eine Reaktion auf seinen Klumpfuss sehen, der in der frühen
Kindheit wohl infolge einer Stoffwechselstörung auftrat. Diesen Einwänden
hält Longerich entgegen, dass der junge
Goebbels trotz seiner körperlichen Behinderung Anerkennung fand und auch
Erfolg bei Frauen hatte. Im grossen
Bogen seiner Biografie kann Longerich
dann zeigen, dass das psychische Profil,
das er auf der Grundlage der 1924 begonnenen Goebbels-Tagebücher präzise
herausarbeiten kann, geradezu lehrbuchhaft auf das eines Narzissten zutrifft. Typisch für einen Narzissten
machte sich Goebbels zur Stärkung seiner eigenen, als unzureichend empfundenen Persönlichkeit auf die Suche nach
einem Gegenüber, das ihm die nötige
Anerkennung und Bestätigung entgegenbrachte. Für Goebbels war dies Hitler, ein – gemäss Tagebuch – «divinatorisches Genie», das seinen «Schrei nach
Erlösung» (Goebbels in einem frühen
Artikel) erhörte.
In den folgenden Jahren stellte sich
der Narzisst ganz in den Dienst seines
Erlösers: Minutiös und auf dem Stand
der aktuellen Forschung schildert Longerich Goebbels Aufstieg vom Gauleiter
Berlins zum Propagandaminister, der
Hitler nach dem Sieg über Frankreich
Goebbels durch sein unermüdliches
Streben nach Anerkennung und durch
den engen, fast täglichen Kontakt sich
schliesslich ganz in die psychische Abhängigkeit seines Erlösers begab, aus
der er sich nicht mehr befreien konnte
– auch nicht nach Hitlers Tod: Goebbels
war der einzige aus der NS-Führungsriege, der nach Hitlers Selbstmord im
Führerbunker verblieb. Und er war der
einzige, der seinem «Führer» folgend
seine ganze Familie – seine Frau Magda
und die sechs Kinder – mit in den Tod
nahm. ●
In assortierten weissen Jogging-Schuhen zur weissen
Soutane wandert ein Heiliger Vater durch Nordspanien, auf dem alten Pilgerweg nach Santiago de
Compostela. Es war im August 1989 und der
päpstliche Leibfotograf Arturo Mari war wie immer
dabei – fünf Millionen Bilder soll er allein von
Johannes Paul II. geschossen haben. Seit Johannes
XXIII. erstmals intime Fotos aus der Nähe zuliess,
setzt die katholische Kirche ganz bewusst auf Bilder
vom Heiligen Vater: Der Mann in Weiss ist heute der
meistfotografierte Mensch der Welt. Rückwärts, das
heisst beginnend mit dem heutigen Papst Benedikt
XVI. und endend bei den düsteren, prunkvollen
Fotografien von Pius IX. (Papst von 1846–78), zeigt
der Bildband von Helge Sobik spezielle Momente aus
dem Leben aller Päpste «seit Anbeginn der Fotografie». Leider fehlen nicht nur oft die Jahreszahlen,
sondern auch die Namen der päpstlichen Fotografen,
die im Begleittext enthusiastisch gepriesen werden.
Kathrin Meier-Rust
Helge Sobik: Päpste seit Anbeginn der Fotografie.
Feymedia, Düsseldorf 2010. 287 Seiten, Fr. 69.90.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Wall Street Niemand sah die Finanzkrise voraus – ausser
ein paar Spekulanten, die daran riesig verdienten
Michael Lewis: The Big Short.
Wie eine Handvoll Trader die Welt
verzockte. Campus, Frankfurt 2010.
336 Seiten, Fr. 37.90.
Von Sebastian Bräuer
Im Januar 2007 sagte Charlie Ledley zu
seiner Mutter: «Ich glaube, wir stehen
kurz vor dem Aus des demokratischen
Kapitalismus.» Er war sicher, dass sich
auf dem amerikanischen Häusermarkt
eine Blase von gigantischen Ausmassen
gebildet hatte, deren Platzen das globale
Finanzsystem ins Wanken bringen
würde – 20 Monate vor dem Kollaps von
Lehman Brothers. Doch seine Mutter
zweifelte an seinem Verstand. «Sie
meinte nur: ‹Ach, Charlie›, und riet mir
dringend, es doch einmal mit Lithium zu
versuchen.»
Nicht nur Ledleys Mutter lag falsch.
Fast niemand war Anfang 2007 der gleichen Ansicht wie der damals völlig unbekannte Spekulant aus dem kalifornischen Berkeley. Die grossen Banken investierten in den amerikanischen Häusermarkt, als könnten Immobilien gar
nicht an Wert verlieren, und Anleger aus
aller Welt spielten mit. Nur eine kleine
Gruppe von Investoren wettete offen
gegen den billionenschweren Markt
minderwertiger Hypotheken – allesamt
Aussenseiter, die vom Establishment
nicht ernst genommen wurden, was
ihren spektakulären Erfolg überhaupt
erst ermöglichte. Sie sind die Gewinner
der Finanzkrise.
«Die Katastrophe war vorhersehbar,
doch nur eine Handvoll Menschen registrierte das auch», stellt Michael
Lewis in seinem Buch fest, «mehr als
zehn, doch weniger als 20 Investoren».
Er porträtiert einige der zurecht pessimistischen Spekulanten und beschreibt
aus ihrer Perspektive die Jahre bis zum
grossen Knall. Lewis konnte sich ausführlich mit allen Protagonisten unterhalten und hat intensiv in ihrem Umfeld
recherchiert. Deswegen gelingt ihm eine
ungewöhnlich detaillierte Darstellung
der Ereignisse, teilweise brüllend komisch und trotz der trockenen Materie
durchgehend unterhaltsam zu lesen.
Laien bekommen einen lehrreichen, akkuraten Einblick in die Welt der Collaterized Debt Obligations und Credit Default Swaps, werden aber nicht mit Details überfordert.
Lewis stilisiert die Hauptfiguren seines Buches nicht zu Helden. So unbestritten ihr Mut war, sich gegen den
Mainstream zu stellen, so messerscharf
ihre Analysen des Hypothekenmarktes
sein mochten, so schlecht ausgeprägt
waren ihre sozialen Kompetenzen. Über
Ledley schreibt Lewis etwa: «Selbst auf
eine einfache Frage hin starrte er stumm
Löcher in die Luft, nickte und blinzelte
mit den Augen wie ein Schauspieler, der
seinen Text vergessen hatte.» Weitere
Charaktere sind Steven Eisman, der regelmässig Kunden mit seinem rüpelhaf-
SUSAN WALSH / AP
Krisengewinnler
Richard S. Fuld, Chef
von Lehman Brothers,
kurz nach dem
Konkurs der Bank,
6. Oktober 2008 in
Washington.
ten Verhalten vergraulte, Michael Burry,
ein notorischer Einzelgänger, der schon
als Kind keine Freunde hatte, und Greg
Lippmann, der sich bei seinem Arbeitgeber beschwerte, sein 50-MillionenDollar-Bonus sei zu gering.
Aus jedem Kapitel trieft beissender
Spott über das Wall Street-Establishment. Ihr kollektives Versagen, die Risiken des Hypothekenmarktes richtig einzuschätzen, wirkt geradezu grotesk vor
dem Hintergrund, dass dies den namenlosen Spekulanten mit dem merkwürdigen Sozialverhalten perfekt gelang.
Lewis war in den 80ern selbst Investmentbanker. Auch deswegen schafft er
es, seine Schilderungen in einer Authentizität zu formulieren, die sein Buch zu
einem der besten Werke über die Finanzkrise macht. Auch Lewis’ erstes
Werk «Wall Street Poker» gehört seit
seinem Erscheinen im Jahr 1989 zu den
Klassikern der Finanzliteratur. Nun beweist Lewis, dass die Branche in den
vergangenen 20 Jahren weniger dazugelernt hat, als er selbst gehofft hatte. ●
Wirtschaftsgeschichte Wie die Familie Badrutt im Engadin die Wintersaison erfand
Eine Hoteldynastie prägt ein ganzes Tal
Susanna Ruf: Fünf Generationen Badrutt.
Hotelpioniere und Begründer der
Wintersaison. Schweizer Pioniere der
Wirtschaft, Band 91. Verein für
wirtschaftshistorische Studien,
Zürich 2010. 104 Seiten, Fr. 25.–.
Von Charlotte Jacquemart
Waren sie es oder waren sie es nicht, die
Schöpfer der touristischen Wintersaison in der Schweiz, ja gar in Europa? Der
neue Band der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik», der
sich den fünf Generationen Badrutt widmet, meint ja: Die Familie Badrutt hat im
Engadin Spezielles aufgebaut, geleistet,
hinterlassen. Das Vermächtnis der Hoteldynastie Badrutt ist gleichzusetzen
mit dem Mythos St. Moritz, der bis heute
nichts von seinem Glanz und seiner
Anziehungskraft eingebüsst hat. Keiner
anderen Region wird in den Medien derart viel Aufmerksamkeit geschenkt wie
dem Bündner Hochtal Engadin. Die
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
Reichen und Schönen geben sich jedes
Jahr von neuem ein Stelldichein im
Oberengadin – dessen Wurzeln gehen
zurück auf den Pioniergeist von Johannes Badrutt Senior (1791–1855), der die
Grundsteine der später zur Blüte gelangenden Hoteldynastie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegt
hat.
Der Pionierband zeichnet die Geschichte der fünf Generationen Badrutt
bis zum heutigen Tage nach. Wie man es
sich von der Serie «Schweizer Pioniere»
gewohnt ist, wird der Text durch eine
reiche Bebilderung ergänzt, die alleine
schon die «Lektüre» rechtfertigt. Oder
haben Sie gewusst, dass zwischen
St. Moritz-Dorf und St. Moritz-Bad 1896
das erste Tram der Schweiz verkehrte?
Die Autorin Susanna Ruf erkürt Johannes Badrutt Junior (1819–1889) zum Hotelpionier und eigentlichen Erfinder der
Wintersaison.
Sein erstes Kaffee- und Gasthaus «La
Vue Du Bernina» eröffnete Johannes
Badrutt Junior in Samedan, doch bald
schon zielten seine Pläne auf St. MoritzDorf. Dieses hatte damals St. MoritzBad mit den Heilbädern und Hotels für
die bessere Gesellschaft noch nichts
entgegenzusetzen. Mit dem Verkauf der
Pension Faller an Badrutt begann für
St. Moritz der Aufbruch in ein neues
touristisches Zeitalter: Bald hiess das
Faller «Engadiner Kulm»; Badrutt erweiterte es Stück für Stück zum dominierenden Hotelkomplex hoch oberhalb des Sees.
Die Kundschaft war international.
Weil der Visionär keine Heilbäder vor
der Türe hatte – die in erster Linie im
Sommer Kundschaft anzogen –, setzte
er auf etwas Neues, Unbekanntes: die
Wintersaison. Badrutt warb in ganz Europa mit Curling, Schlitteln, Winterspaziergängen fürs Engadin. Mit Erfolg:
Sein Sohn Caspar (1848–1904) war es
folglich, der kurz vor der Jahrhundertwende den Bau des Palace-Hotels
wagte, diese Mischung aus Burg und
Schloss, wie es heute noch trutzig am
Hang von St. Moritz klebt. ●
Sachbuch
Geschichte Die mittelalterlichen Kreuzzüge handelten meist vom Krieg gegen Andersgläubige.
Christen und Muslime lebten damals aber zeitweise friedlich nebeneinander
Sinnlose Schlachten im Orient
Cotta, Stuttgart 2010. 807 S., Fr. 56.90.
Von Geneviève Lüscher
Das Datum 1291 kennt jedes Schweizer
Schulkind, es ist das legendäre Geburtsjahr der Alten Eidgenossenschaft. Dass
im gleichen Jahr auch die Hafenstadt
Akkon im Heiligen Land in die Hände
der Mamluken fiel, und damit nach
200jährigem Ringen das Ende der
Kreuzzüge besiegelt war, ist hingegen
kaum bekannt. Im Gegensatz zum Rütlischwur ist der Fall von Akkon aber ein
historisches Faktum.
Thomas Asbridge, britischer Historiker an der Londoner Universität, zeigt
uns in seiner neuen, episch angelegten
Geschichte der Kreuzzüge, wie es zu diesem Abenteuer in Outremer gekommen
ist. Wie es geschehen konnte, dass zwei
Weltreligionen Gewalt im Namen Gottes
predigten. Wie Tausende von Christen
und Muslime überzeugt waren, der
Kampf um den Glauben würde ihnen das
Paradies öffnen. Und er fragt sich: War
die Zeit der Kreuzzüge ein durchgehend
feindlicher «Zusammenstoss der Kulturen» oder gab es damals auch Möglichkeiten der Koexistenz oder gar eines
Kulturaustauschs?
Zersplitterter Islam
Es fing mit einer Brandrede an: Im November 1095 hielt Papst Urban in Clermont eine derart emotional geladene
Predigt gegen den Islam, dass sich Tausende begeistert aufmachten, Jerusalem
von den Heiden zu befreien. Warum rief
der Papst zum Heiligen Krieg auf? Asbridge zeigt, dass kein äusserer Grund
vorlag. Jerusalem befand sich zwar tatsächlich in muslimischer Hand, aber das
schon seit 400 Jahren. Und weder planten die muslimischen Herrscher im Vorderen Orient eine Offensive, noch verfolgten sie die Christen. Der Grund war:
Das Papsttum befand sich in einer
schweren Krise, und der Papst wollte
mit diesem Schachzug seine Autorität
festigen. Dass seinem Aufruf fast 100000
Menschen folgen würden, hatte er allerdings nicht vorausgesehen.
Der bewaffnete Pilgerzug wurde ein
Erfolg. Am 15. Juli 1099 konnte Jerusalem
eingenommen werden, und die Eroberer gründeten in Outremer verschiedene Kreuzfahrerstaaten. Der Erfolg war
der Zersplitterung des Islams zu verdanken. Die Region war kein muslimischer
Block, sondern ein Flickenteppich aus
verschiedensten Gruppen. Die wichtigsten waren die sunnitischen Seldschuken
und die schiitischen Fatimiden. In der
Levante lebten auch viele Christen –
Griechen, Armenier, Syrer und Kopten
– sowie Juden, die aber alle von den
Kreuzfahrern nicht geschont wurden.
Im 12. Jahrhundert
tobten im Heiligen
Land die Kreuzfahrerschlachten.
Die Lage im Vordern Orient blieb
indes prekär, und 1147 startete ein zweiter Kreuzzug, der aus dem Ruder lief
und vor Damaskus in einem Desaster
endete. Im dritten Kreuzzug 1189 begegnen wir König Richard Löwenherz und
Sultan Saladin. Asbridge nimmt ihnen
aber den Glorienschein: Weder ist Saladin der «edle Heide», noch Löwenherz
der «edle Ritter». Im grausigen Blutrausch blieben sich die beiden nichts
schuldig. Saladin hatte den längeren
Atem und eroberte Jerusalem zurück.
Der vierte Kreuzzug 1198 gelangte gar
nicht erst bis ins Heilige Land, plünderte
dafür 1204 das christliche Konstantinopel, was so nicht geplant war. 1219 folgte
ein fünfter erfolgloser Kreuzzug. Erst
zehn Jahre später gelang es ausgerechnet dem exkommunizierten Stauferkaiser Friedrich II., Jerusalem ohne Blutvergiessen zu erobern, was den Papst
nicht daran hinderte, zu einem Kreuzzug gegen den Kaiser aufzurufen.
Die Bühne der Weltgeschichte wurde
zunehmend unübersichtlich, zumal
auch die Gegenseite in innerislamische
Kämpfe verwickelt war. Asbridge versucht zwar, den roten Faden nicht zu
verlieren, aber die endlosen Schlachten,
Allianzen, Fehden und diplomatischen
Schachzüge über viele hundert Seiten
verwirren, die Orientierung in Zeit und
Raum droht verloren zu gehen. Fast ist
man froh, dass um 1291 mit Akkon endlich die letzte christliche Bastion fällt.
Trotz der Langfädigkeit, die der penetranten Vorliebe für schmückende Adjektive geschuldet ist, liest sich das Buch
leicht. Spannung verleihen ihm der
Wechsel zwischen christlicher und islamischer Perspektive und das Einstreuen
amüsanter Episoden. So erfährt man,
dass Ritter Raimund von Toulouse auf
einer Pilgerfahrt ein Auge ausgerissen
worden ist; den vertrockneten Augapfel
trug er fortan bei sich, um seinen Hass
gegen den Islam wachzuhalten.
Interreligiöse Arrangements
Asbridge zeigt aber auch, dass sich
Kreuzritter und Muslime nicht nur auf
grausamste Art niedermetzelten, sondern sich auch arrangieren konnten,
dass sie Handelsbeziehungen pflegten,
gemeinsam den Hamam besuchten und
wenn nötig gar unheilige Allianzen –
zum Beispiel gegen den christlichen
Kaiser von Byzanz – schmiedeten.
Laut Asbridge gerieten die Unternehmen in Outremer nach Akkon rasch in
Vergessenheit, sie hatten keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Erst
im 19. Jahrhundert entstand der Begriff
«Kreuzzug». Anfang des 20. Jahrhunderts stilisierten sich Kaiser Wilhelm II.
oder Lloyd George im Vorderen Orient
zu Kreuzzugführern, während sich in
der arabischen Welt die Widergänger
von Saladin mehrten; Saddam Hussein
war der letzte. Und nach 9/11 feiern die
gottbefohlenen Kreuzzüge sogar in
Übersee wieder unfröhlich Urständ.
Aber, schliesst Asbridge sein Werk:
Die Geschichte soll man nicht instrumentalisieren und die Kreuzzüge dort
lassen, wo sie hingehören, ins Mittelalter – womit er wohl recht hat. ●
PHILIP JAMES LOUTHERBOURG / BRIDGEMAN
Thomas Asbridge: Die Kreuzzüge. Klett-
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Film Ein Erinnerungsband an Hollywood ist Emigrations- und Liebesgeschichte zugleich
Wo die Manns und Chaplins verkehrten
Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz.
Nachwort von Michael Lentz. Eichborn,
Frankfurt am Main 2011. 507 Seiten,
Fr. 48.90.
Von Martin Walder
«Eines Morgens klingelte Rainer Maria
Rilke an meiner Tür»: Zwar wimmelt es
in diesen neu aufgelegten und von Michael Lentz klug situierten und auch
kommentierten Erinnerungen der 1889
geborenen und 1978 in Klosters gestorbenen Schauspielerin und Drehbuchautorin Salka Viertel nur so von Namen.
Doch illuminieren sie beim Lesen sehr
anschaulich ein Emigrantenleben zwischen Europa und Amerika im letzten
Jahrhundert.
Eine Frau beugt sich über ihren bis
zum Rand mit Briefen, Notizheften und
Tagebüchern vollgestopften Koffer und
lässt ihr Leben Revue passieren. Und je
länger man ihrem ruhigen, episodischen
Bericht folgt, desto näher – aber in keinem Moment zu nahe – kommt uns eine
genaue, wache, starke, mit trockenem
Witz gesegnete und unsentimentale
Person. Nach ihrem Weg durch deutschsprachige Bühnen landete Salka Viertel
auf einen Ruf von F. W. Murnau an ihren
Mann, den Dichter, Autor und Regisseur
Berthold Viertel, in Hollywood. Da zog
sie drei Söhne gross, spielte da und dort
ein paar Rollen und entkam der deprimierenden Arbeitslosigkeit durch ihre
Freundschaft zu Greta Garbo – als Autorin und eine Art Drehbuch-Gewissen
des Stars. Was solches in der «Traumfabrik» Hollywood bedeutete, liest sich
mit Schaudern.
Den späteren Flüchtlingen des NaziTerrors stand das Haus der Viertels
offen: Die Manns, die Brechts, Chaplins,
Werfels gingen an der Mabery Street 165
in Santa Monica ein und aus. Man
kommt da auch anekdotisch auf seine
Rechnung. Köstlich, wie der MGMFilmmogul um Schönberg wegen seiner
«entzückenden Musik» buhlt, dieser
«uneingeschränkt über die Tonstruktur
des Films, Dialog inbegriffen» bestimmen will – die gegenseitige Konsternation ist mit Händen zu greifen.
In seinem schönen, starken Kern aber
ist dieses 1969 erschienene Buch die Geschichte einer grossen Liebe über Zeiten und Kontinente. Das Leben liess
Salka und Berthold auseinanderdriften
und neue Bindungen eingehen. Doch
aus den eingewobenen Briefauszügen
scheint eine tiefe Verbundenheit auf.
Berthold Viertel starb in Wien, bevor
Salka nach dem Tod ihrer betagten Mutter und im Kalten Krieg gepiesackt von
McCarthys Ausschuss für unamerikanische Umtriebe, ebenfalls zurück nach
Europa kam. ●
Die Journalistin Isabel Wilkerson
zitiert gerne Leo Tolstoi, der Kunst als
die Übertragung von Emotion von
einer Person zu einer anderen definiert
hat. Nach fünfzehnjähriger Recherche
ist ihr nun mit The Warmth of Other
Suns. The Epic Story of America’s
Great Migration (Random House
2010, 622 Seiten) ein ausserordentlich
reichhaltiges und anrührendes Paradebeispiel für Tolstois Kunstbegriff
gelungen. Die amerikanische Kritik
lobt das Buch durchweg als Meisterwerk. Wilkerson erzählt anhand dreier
ausgewählter Biografien die Geschichte der grossen Wanderbewegung
von sechs Millionen Afroamerikanern,
die von 1915 bis 1970 aus den ehemaligen Sklavenstaaten im Süden in den
industrialisierten Nordosten, Norden
und Westen der USA gezogen sind. Sie
beschreibt diese Migration als Exodus,
der die USA – und die Afroamerikaner
– so tiefgehend verändert hat, dass er
meist gar nicht als historisches Einzelphänomen begriffen wird.
1994 als erste Afroamerikanerin mit
dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, lehrt
Wilkerson heute an der Boston University Geschichte und Publizistik. Sie vergleicht die «grosse Migration» etwa
mit der Einwanderung Millionen russischer Juden aus dem Zarenreich um
1900 und macht zunächst die Brutalität
der Lebensverhältnisse greifbar, unter
denen Schwarze in den Südstaaten bald
nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei
leiden mussten. Ab 1877 nahmen die
«Jim Crow»-Gesetze in Florida, Alabama oder Mississippi den Afroamerikanern ihre neuen Bürgerrechte und
lieferten sie der Willkür weisser Arbeitgeber und Lynchmobs aus. Als sich
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011
JACK DELANO / LIBRARY OF CONGRESS
Das amerikanische Buch Die grosse Migration der Afroamerikaner
Eine schwarze Familie
verlässt den Süden
der USA in Richtung
Norden, Juli 1940.
Autorin Isabel
Wilkerson (unten).
mit Beginn des Ersten Weltkriegs
Arbeitsmöglichkeiten ausserhalb des
Südens boten, flohen erst Einzelne,
dann Tausende von Schwarzen nach
New York, Detroit oder Los Angeles.
Zählten nördliche Metropolen wie
Chicago um 1915 kaum ein Prozent afroamerikanischer Bürger, stieg deren Anteil bis 1970 auf ein Drittel an. Wilkerson
weist nach, dass die Migranten im «gelobten Land» von Philadelphia oder
Milwaukee für überseeische Einwanderer charakteristische Verhaltensweisen
an den Tag legten, indem sie etwa nach
Herkunftsorten «Wohnkolonien» in bestimmten Nachbarschaften bildeten.
Wie die überwiegende Mehrheit der
heutigen Afroamerikaner stammt die
Autorin von Migranten aus dem Süden
ab. Sie hat über 1200 Zeitzeugen inter-
viewt und drei herausgegriffen, deren
Lebenswege für die Herkunftsregionen
und verschiedene Generationen der
Auswanderer stehen. So schildert sie
mitreissend, wie Ida Mae Gladney 1937
mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen
Kindern aus dem Baumwollland im
Nordosten von Mississippi flieht, nachdem Weisse einen Verwandten aufgrund eines Bagatelldiebstahls, den
dieser gar nicht begangen hatte, zum
Krüppel schlugen. Heimlich musste die
Familie ihre spärliche Habe verkaufen
und sich von einem Freund zu einem
entfernten Bahnhof fahren lassen, um
dort Karten nach Milwaukee zu kaufen.
George Starling rettete sich 1947 mit
knapper Not aus dem Zitrusanbaugebiet im Zentrum Floridas nach Harlem,
nachdem ihn Schergen von Plantagenbesitzern als Wortführer streikender
Orangenpflücker ausgemacht hatten.
Und 1953 brach der Militärarzt Robert
Joseph Pershing Foster von Louisiana
nach Los Angeles auf, um dort in Freiheit praktizieren zu können.
In diese Biografien webt Wilkerson die
Ergebnisse der einschlägigen Forschung ein, um mit Legenden wie der
aufzuräumen, dass die Migranten dank
ihrer «Rohheit und ihres Mangels an
Bildung für die Verelendung der
Schwarzen im Norden verantwortlich
waren». Laut Wilkerson war dass Gegenteil der Fall: Wie bei anderen Immigrantengruppen waren es meist die
mutigsten und energischsten Schwarzen, die ausserhalb ihrer bedrückenden
Heimat ihr Glück suchten – und dies oft
dank ihres für Einwanderer typischen
Fleisses auch fanden. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Foto und Lyrik Die Kunst des genauen Blicks
Agenda Februar 2011
Mittwoch, 2. Februar, 19 Uhr
Angelika Overath: Alle
Farben des Schnees. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
KIRILL GOLOVCHENKO
Basel
Donnerstag, 10. Februar, 19 Uhr
Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Lesung,
Fr. 17.Ω. Literaturhaus (s. oben).
Sonntag, 20. Februar, 15.15 Uhr
Von Eis und Schnee. Lesung für Kinder
ab 5 Jahren. Gratis-Zvieri. Literaturhaus
(s. oben). Anmeldung: www.ed.bs.ch.
Bern
Mittwoch, 2. Februar, 17.30 Uhr
Judith Giovannelli-Blocher: Die einfachen Dinge. Lesung. Diakonissenhaus,
Schänzlistrasse 43, Tel. 031 337 77 00.
Freitag, 18. Februar, 20 Uhr
Der 1950 in Kehrsatz bei Bern geborene Künstler
Werner Gadliger ist gelernter Fotograf, hat sich aber
auch mit phantasievollen, vom Surrealismus
inspirierten Zeichnungen und Collagen einen Namen
gemacht. Als Fotograf steht Gadliger in jener grossen
Schweizer Tradition, die Poesie mit Exaktheit, den
raschen Blick fürs Ungewöhnliche mit der geduldigen
Arbeit in der Dunkelkammer verbindet. Für sein
neuestes Buch mit Schwarzweissbildern aus den
verschiedensten Weltgegenden hat er sich mit Nura
Iuga zusammengetan, der Grande Dame der
rumänischen Lyrik. Sie ist 80 Jahre alt und kein
bisschen weise; ihre Verse überzeugen durch
eigenwillige Dynamik und tabulose Neugier. Alles in
ihnen ist Fluss. Im Dialog mit Werner Gadligers Kunst,
die den magischen Moment aufs Papier bannt,
entfaltet sie ihren ganz eigenen Reiz. Manfred Papst
Werner Gadliger (Fotografien), Nora Iuga (Gedichte):
Vom Süden her kommt ein Herz auf Stelzen.
Waldgut, Frauenfeld 2011. 96 Seiten, Fr. 29.−.
Hanns-Josef Ortheil: Die Nacht des
Don Juan. Lesung. Podium. Waisenhausplatz 29. Reservation: Tel. 031 310 85 85.
Sonntag, 20. Februar, 10 Uhr
Lika Nüssli erzählt und zeichnet Geschichten für Kinder von 5 bis 10 Jahren.
Fr. 10.Ω/25.Ω inkl. Frühstücksbuffet. Kornhausbibliothek, Kornhausplatz 18. Billette im Vorverkauf: Tel. 031 327 10 10.
Zürich
Donnerstag, 3. Februar, 19 Uhr
Bestseller Januar 2011
Juli Gudehus: Das Lexikon der visuellen
Kommunikation. Musikalische Buchpremiere. Museum für Gestaltung, Ausstellungsstrasse 60, Tel. 044 251 15 84.
Sachbuch
1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90.
2 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70.
3 Blanvalet. 512 Seiten, Fr. 28.80.
4 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 32.50.
5 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 34.50.
6 Wörterseh. 216 Seiten, Fr. 36.90.
7 DTV. 460 Seiten, Fr. 21.80. .
8 Manhattan. 464 Seiten, Fr. 22.80.
9 Springer. 528 Seiten, Fr. 10.Ω.
10
1 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90.
2
AT. 144 Seiten, Fr. 39.80.
3 Edition A. 192 Seiten, Fr. 29.90.
4 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90.
5 List. 220 Seiten, Fr. 33.90.
6 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90.
7 DVA. 464 Seiten, Fr. 35.90.
8 Heyne. 736 Seiten, Fr. 40.90.
9 Fona. 236 Seiten, Fr. 19.90.
. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.
10
Martin Suter: Allmen und die Libellen.
Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf.
Sandra Brown: Süsser Tod.
Martin Suter : Der Koch.
Ken Follett : Sturz der Titanen.
Susanna Schwager: Ida.
Jussi Adler-Olsen: Schändung
Sophie Kinsella : Mini Shopaholic.
Karen Rose: Todesschrei.
Fay Weldon: Spa-Geflüster.
Rhonda Byrne: The Power.
Anna Staiger Eichenberger, Annette Gröbly:
tibits at home.
Elfriede Vavrik: Nacktbadestrand.
Guinness World Records 2011.
Freitag, 4. Februar, 20 Uhr
Harry Rowohlt liest und erzählt.
Fr. 25.Ω. Rote Fabrik, Aktionshalle,
Seestrasse 395. Reservation:
konzeptreservation@rotefabrik.ch.
Mittwoch, 9. Februar, 20 Uhr
Beatrice von Matt: Mein Name ist Frisch.
Buchvernissage und Lesung, Fr. 18.Ω inkl.
Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Donnerstag, 10. Februar, 20 Uhr
Natascha Kampusch: 3096 Tage.
Georg Klein: Roman unserer Kindheit.
Lesung, Fr. 18.Ω, inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben).
Jamie Oliver : Jamies 30-Minuten-Menüs.
Mittwoch, 16. Februar, 20 Uhr
Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab.
Keith Richards : Life.
Thomas Wyss: Sammelsurium Schweiz.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung.
25. Auflage
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18. 1. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Axel Hacke & Giovanni di
Lorenzo: Wofür stehst du?
Gemeinsame Lesung,
Fr. 35.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1,
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Bücher am Sonntag Nr. 2
erscheint am 27. 2. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
ANGELIKA WARMUTH / EPA
Belletristik
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