Beruhigt euch — Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder
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Beruhigt euch — Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder
Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² HERUear EUCH Sind Beruhigungsmittel wie Temesta oder Xanax das neue Aspirin für Gefühle? Text BIRGIT SCHMID Das letzte Mal habe ich es vor einem langen Flug geschluckt. Wenn das Flugzeug abhebt, die Stadt unter mir plötzlich schief steht und ich mir ausmale, in einem Flugzeug zu sitzen, das abstürzt, kann ich mich entscheiden zwischen einer schlaflosen Nacht und einer Pille, die mich tief in den Schlaf sinken lässt. Das Gefühl geht über in den Sinkflug, und beim Aufwachen setzt das Flugzeug federnd auf. Ich habe es schon in Momenten genommen, in denen alles zu Ende schien. Ein Mensch geht, und man denkt, es wird nie mehr gut, was immer noch Gutes kommen mag. Wenn das Herz immer stärker pocht und die Gedanken rasen, kann ich mich entscheiden zwischen dem sicheren Gefühl, sterben zu müssen, und einer Pille, die den Angstkrampf löst und dem Denken wieder ein Geländer gibt. Und das ist bloss ein Milligramm und fünfzehn Minuten später. Der Wirkstoff Benzodiazepin bindet an die GABA-Rezeptoren und unterdrückt die Ausschüttung von Neurotransmittern, die sonst auf emotionale und psychische Reize antworten. Angst kann so gar nicht erst aufkommen. Ich trage es in meiner kleinen Notfallapotheke mit mir, wie ich auch Aspirin oder Ponstan zur Hand habe, falls ich im Büro plötzlich Kopfweh kriege oder mir beim Wandern das Knie aufschlage. Ich greife in meiner Tasche nach der flachen Pillenbox mit den fünf Fächern, in denen je eine Tablette für die verschiedenen Notfälle liegt. Der Temesta-Blister ist so vorgestanzt, dass man einzelne Pillen abtrennen kann, als wären sie gedacht als Tranquilizer to go, für den Einsatz bei akuter Unruhe unterwegs. Zum Glück sind diese Momente rar. Ich bin nicht süchtig nach Tabletten, eine Grippe kann ich auch nur mit Tee im Bett auskurieren. Traurigkeit darf sein, sie zieht vorüber. Ich habe Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 1/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² noch nie länger Psychopharmaka genommen, würde ich jedoch depressiv ich nähme sie ohne Scheu. Auch sie werden gegen Angst eingesetzt, jedoch dann, wenn die Angst zum beständig bedrohenden Gefühl wird und die Stimmung dunkel bleibt. Im Gegensatz zu Temesta und ähnlichen Beruhigungsmitteln beginnen Antidepressiva erst nach einigen Tagen bis Wochen Wirkung zu zeigen, und sie müssen täglich eingenommen werden, damit sie wirken. Die sogenannten Benzodiazepine, Medikamente auf Basis von Benzodiazepin, zu denen Temesta gehört, sollte man hingegen nicht regelmässig über lange Zeit und in hoher Dosis nehmen. Sie machen abhängig; schnell. Ein Freund erzählte, er habe die vielen Familienanlässe an Weihnachten nur dank Xanax überstanden. «Ich hätte mich auch betrinken können», sagte er, «aber ich denke nicht, dass mir das besser täte. Ich habe auch das Gefühl, so mehr ich selbst zu bleiben. Alkohol macht mich nur laut und ausfällig, und am Schluss bin ich verkatert.» Natürlich steht niemand öffentlich mit Namen hin, obwohl in' an sich im Vertrauen zur Selbstmedikation freimütig bekennt. Man rnacht Witze darüber, spielt es herunter, weist auf die wider- sprüchliche eigene Lebensweise hin. Denn gleichzeitig ernährt man sich ja rein biologisch und ruht dank Yoga meist in sich. Eine Kollegin, die beruflich unter Druck steht, griff vor öffentlichen Auftritten und Beförderungsgesprächen auch schon zu Temesta. «Manchmal reicht das Adrenalin aus, dass ich gerade noch gut bin», sagt sie. «Wenn ich aber merke, jetzt beginne ich zu schwitzen, ist das puschende Mass der Nervosität überschritten. Dann macht mich eine Pille besser.» Ein Bekannter, er ist über achtzig, liegt nachts wach. Wenn der Schlaf nicht kommt, bricht bald die Angst aus: Er denkt an den Tod. Sein Hausarzt verschreibt ihm für diese Momente das Benzodiazepin L,exotanil, ein Name, dessen Klang schon eine relaxierende Wirkung hat. Man muss kein psychiatrischer Fall sein, um diese sofortige biochemische Hilfe zu schätzen. Sogar mein Zahnarzt hat eine Schachtel Midazolam in der Schublade, ein weiteres Benzo, falls ein Patient vor Angst den Mund nicht aufbringt. Ärzte selber schlucken sie: Warum sollen die hilflosen Helfer nicht von den Beruhigungsmitteln Gebrauch machen, die sie ihren Patienten verschreiben? Sie sind im Umlauf, sie sind verbreitet, und, vor allem, man teilt sie grosszügig. An einem Abend sass eine Freundin bei mir in der Küche, sie hatte soeben entdeckt, dass ihr Freund sie betrügt. Ich hätte ihr auch Wein nachschenken können, damit sie ihre Ver- Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 2/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² zweiflung ertränken könnte, stattdessen bot ich ihr ein Temesta an. Man hilft Freunden, die Hilfe brauchen, und tut dies bestimmt auch deshalb so freigebig, weil die Medikamente billig sind. Eine Packung mit zwanzig Tabletten kostet 8.10 Franken. Der Gang zum Psychiater kostet erst noch viel mehr Zeit. Öffne ich meine kleine Notfallapotheke ausnahmsweise für andere, dann übernehme ich gerne die Stimme der Ärztin: Man solle es doch zuerst einmal mit einer halben Tablette versuchen. Überhaupt, falls sich die Krisen häufen, wäre vielleicht fachliche Hilfe angebracht. Mit einer Pille sei es nicht getan. Es braucht keine Zahlen, um zu belegen, dass Beruhigungsund Schlafmittel genommen werden. Was besagen Statistiken von ärztlichen Verschreibungen, wenn siebzig Prozent der im Internet angebotenen Psychopharmaka Benzodiazepine sind? Noch haben wir nicht ein so lockeres Verhältnis wie die Amerikaner zu ihren «happy pills»; für sie sind die Namen Xanax und Prozac, Letzteres ein Antidepressivum, zu Synonymen für einen Lifestyle geworden, bei dem man seine Stimmung medikamentös optimiert, ohne als krank zu gelten. Im Unterschied zu den übersichtlichen Blistern in Europa werden die Pillen in den USA wie Kaugummi in Dosen aufbewahrt, das macht den Konsum niederschwelliger, dazu passt, wie sie es nennen, «to Pop a pill». Wachsein tut weh Obwohl sie mehr oder weniger unhinterfragt auch in unseren Alltag gehören, werden Benzodiazepine in Schweizer Apotheken, Spitälern oder von Ärzten nicht häufiger abgegeben als vor zehn Jahren. Die Zahlen gehen eher zurück, rechnet Interpharma vor, der Verband der Pharmafirmen. Auch Rechtsmediziner weisen sie nicht öfters nach bei Todes- oder Verkehrsunfällen. «Sie tauchen auf, da sie häufig verordnet werden», sagt Thomas Krämer von der Universität Zürich. Sie sind im Spiel, wenn wieder jemand an einem Medikamentencocktail stirbt, viele hörten dank Whitney Houston und Michael Jackson zum ersten Mal von Xanax. An einer Überdosis Benzodiazepine kann man normalerweise nicht sterben, doch kombiniert mit anderen Substanzen, etwa mit Alkohol, werden sie giftig. Die Wirkungen der Substanzen verstärken sich gegenseitig. Wenn sich ein Schlaf- und Beruhigungsmittel in den letzten Jahren durchsetzte, dann Zolpidem, bei uns besser bekannt als Stilbox. Es wird in Europa und den USA am häufigsten verschrieben. Schlaflosigkeit ist die grösste Angstproduzentin. Stilnox gehört zu den sogenannten «Z-Drugs», die als Nachfolger der Benzodiazepine erfunden wurden und genau gleich wirken. Sie kamen auf den Markt, weil man sich schwächere Nebenwir- Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 3/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² kungen versprach. Die Pharmaforscher irrten, wie so oft, wenn sie diese Substanzen verbessern wollen. Das Versprechen hat sich nicht erfüllt. Wir sind überzeugt: Die Unruhe in der Kultur ist grösser denn je. Deutet denn nicht die chemische Einstellung unseres Körpers, die Zurichtung der Gefühle mittels Medikamente, daraufhin, dass wir permanent überfordert werden? Man beginnt nach den Ursachen zu fragen: Leben wir in einem Zeitalter der Angst, in dem man lieber nichts mehr fühlt, als das der Situation Angemessene zu fühlen? Wovor fürchten wir uns? Warum müssen wir uns beruhigen? Wofür mussten zu viel Arbeit und zuwenig, der ii. September und das Internet schon alles herhalten. Aber was haben Beschleunigung und Entfremdung, die zeitkritischen Begriffe, mit meiner Angst zu tun? Mit dem Konsum von Beruhigungsmitteln lässt sich kein epochales Gefühl erklären. Angst ist intim und persönlich. Unsere Angst wird besser diagnostiziert und behandelt, aber sie muss deshalb nicht grösser sein als jene der Leute im Mittelalter, die Pest und Hölle fürchteten. Hat man sich nicht immer berauscht und betäubt, um das Leben auszuhalten? Wachsein tut weh. Die Erinnerung plagt: allein daran, dass wir sterblich sind. Man verdrängt und will in einem traumlosen Schlaf vergessen. Wenn das nicht gelingt, zieht man den kleinen Pillentod dem Schmerz der Erkenntnis vor. Das erste Beruhigungsmittel kam 1955 unter dem Namen Miltown auf den Markt, und innert kurzer Zeit wurde das «Aspirin für Gefühle» zu einem der meistverkauften Medikamente in den USA. An Miltown-Partys dopten sich die Leute locker, man wurde geschmeidig, es half im Umgang. Wenig später wurde das erste Benzodiazepin erfunden, das verträglicher schien: Der Chemiker Leo Sternbach synthetisierte 1960 für die Schweizer Firma Hoffmann-La Roche Librium, 1963 folgte Diazepam, sein berühmtestes Kind, besser bekannt als Valium. Ende der Siebzigerjahre war Valium das weltweit am häufigsten verschriebene Medikament. Weil es bei Frauen beliebt war, geriet es bald in Kritik, Feministinnen sahen darin ein Machtmittel des Patriarchats, unzufriedene Hausfrauen mhigzustellen. Die Rolling Stones sangen «Mother's Linie Helpen>. Das ist bis heute gleich geblieben, Frauen schlucken gegen Angst noch immer eher Tabletten, zwei von drei Verschreibungen gehen an sie. Für die Studie, die das zeigt, wurden vor sechs Jahren mehr als eine halbe Million Patienten in der Schweiz be- fragt, nicht ganz jeder Zehnte hatte in den vergangenen sechs Monaten ein Benzo-Rezept erhalten, oft einmalig und niedrig dosiert. Während Frauen stiller leiden und scheinbar harmlo- Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 4/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² sere Mitteln nehmen, reagieren Männer aggressiver, wählen illegale Substanzen, die stimulieren: Ritalin, Kokain, Amphetamin. Oder sie trinken gegen ihre Ängste an, Männer und Frauen. Erst leisten, dann beruhigen Arud, das Zentrum für Suchtmedizin, liegt hinter dem Zürcher Hauptbahnhof unweit des Platzspitz, wo sich vor 2.5 Jahren die Heroinabhängigen zu Tode spritzten. Junkies taumeln hier noch immer durch die Tür. Benzos sind bei Süchtigen beliebt, sie senken den Druck, wenn sie auf Entzug sind und es in ihnen brodelt. Sie fangen die depressive Verstimmung auf, etwa nach dem Koksen. Das wissen wiederum die Geschäftsleute und Banker, die hier Rat suchen. Thilo Beck, Chefarzt der Beratungsstelle, sitzt am Konferenztisch, an der Wand hängt das Foto eines Mannes, der vor einer Alphütte sitzt. Beruhigt euch: Temesta zu schlucken, Xanax und wie sie alle heissen, ist uncool. In der Zeit liegen leistungssteigernde Medikamente, keine Schlaftabletten. «Benzos», sagt der Psychiater, «haben, wie Heroin, heute eher einen Verliererruf, denn sie sind nicht leistungsfördernd.» Sie würden insofern einen Trend abbilden, als dass man sich selber behandeln will. «Menschen haben vermehrt den Anspruch, sich zu verbessern. Einerseits will man die Leistung steigern, andererseits Schwächen und Ängste ausgleichen und abdämpfen. Man beschäftigt sich mit seiner Psyche, und wenn etwas nicht ist, wie es sein sollte, nimmt man es selber in die Hand.» Der Begriff «Enhancement» wurde wichtig in der Debatte um Ritalin, das gesunde Erwachsene nehmen, um sich anzutreiben und mehr leisten zu können. Die Selbstmedikation mit Beruhigungsmitteln gehört dazu. Medikamente werden immer feiner abgestimmt auf an sich normale Befindlichkeiten. Man schluckt Drogen, wie man Kleider trägt: wenn es kalt wird, den Wintermantel, bei Sonne das T-Shirt. Wenn man wach sein muss, zehn Milligramm Ritalin, wenn man müde werden will, ein Milligramm Temesta. Wer sich unpässlich fühlt, passt sich an. «Manchmal sorge ich mich etwas, dass wir unsere Selbstwirksamkeit verlieren», sagt Thilo Beck. «Man hält Angst nicht mehr aus und weiss: Wird sie zu gross, gibt es dagegen ein Mittel. Man glaubt nicht mehr an die eigenen Möglichkeiten und traut sich weniger zu, als man vielleicht aushalten könnte.» Er fügt an: «Andererseits, warum sollten wir nicht von etwas Gebrauch machen, das es gibt. Bei Kopfschmerzen sind wir ja auch nicht so hart mit uns.» Ist man schon gefährdet, wenn man mehr auf die chemischen Angstkiller setzt als auf Bachblüten und Steinmassagen und der Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 5/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² nächste Berggipfel auch nicht um die Ecke liegt, um den Blick schweifen zu lassen? Nein, sagt der Psychiater. Weil sie so schnellwirken, hat man zwar schneller das Gefühl, sie zu brauchen; deshalb können sie schnell abhängig machen, vor allem Leute, die auch sonst suchtanfällig sind. Ansonsten seien Benzodiazepine aus dem Gesundheitssystem nicht mehr wegzudenken. «Viele dieser Substanzen werden als Krisenintervention verschrieben, und das ist in meinen Augen absolut unproblematisch. Man will ja helfen. In der Psychiatrie und Notfallmedizin, wo man mit agitierten Menschen zu tun hat, könnten wir ohne sie nicht arbeiten, man käme nicht an die Leute heran.» Trotzdem, vermutet er, lassen sich Ärzte wohl auch unter Druck setzen und stellen Rezepte unkritisch und zu häufig aus. Benzodiazepine fallen unter das Betäubungsmittelgesetz, man erhält kein Dauerrezept dafür. Die Ärzte mögen aber durchaus berührt sein von der Angst und Unruhe ihrer Patienten, verdienen tun sie ja kaum daran, Benzos sind billig, die Marge ist klein. Was sie damit anrichten, kann man im Drogenforum «EvE & Rave» nachlesen. Sie müssen ihren Arzt oder Apotheker nicht mehr fragen, die User hier, sie wissen ja bestens Bescheid. Wie es klingt, wenn das Verhältnis zu den «chill pills» zu innig wird, zeigte kürzlich die Umfrage: «Welches Benzo ist dein Lieblings?» «Oxazepam. Weils nicht so dicht klatscht.» «Tetrazepam Weil es ein wunderschönes Körpergefühl auslöst, ohne zu sehr zu sedieren. Ich fühle mich dann wie nach einer Massage.» «Rohypnol. War aber auch der härteste Entzug, den ich je hatte.» Sie werden fast liebevoll verteidigt, die «Diaz», «Flunis», «Loras», von denen Diazepam (Valium), Flunitrazepam (Rohypnol) und Lorazepam (Temesta) die meisten Stimmen erhielten. Man diskutiert, wie sie sich unterscheiden. Man stellt fest, dass das bei jeder Person wieder anders ist. Benzos unterscheiden sich auch darin, wie schnell sie im Gehirn wirken, «anfluten» im Jargon; und ebenso in der Dauer. Valium, das über 48 Stunden lang wirken kann, hat auch den Ruf, aus Menschen Zombies zu machen. Die schlaflosen Alten Unter akutem Einfluss wird man nicht gefühllos, aber gleichgültiger. Es fühlt sich einfach nicht mehr an, als schleiften sich die Gedanken ins Gehirn ein. Man wird vergesslicher, vor allem bei häufiger Einnahme, das Gedächtnis wird jedoch nicht nachhal- Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 6/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² tig geschädigt. Man spricht undeutlicher, manchmal wirr, auch kann es vorkommen, dass man über die eigenen Füsse stolpert, weil auch die Körperspannung nachlässt. Das riskieren vor allem ältere Leute, und gerade sie haben Beruhigungs- und Schlafmittel gern. Die Hälfte der Patienten der Studie von 2007 waren 65 und älter. Beim Suchtmonitoring Schweiz 2011 sagten 14 Prozent der befragten Frauen über 75, dass sie täglich etwas nehmen. Sie bekommen die Mittel von ihrem Hausarzt verschrieben. Die meisten Rezepte für Benzodiazepine stellen Allgemeinprak- tiker aus, obwohl es sich um Psychopharmaka handelt. Mein achtzigjähriger Bekannter will wegen seines Herzklopfens nicht gleich zum Psychiater. Er schläft ja nicht nur nicht, weil er an die Zeit denkt, die ihm bleibt. Sondern weil mit einem alten Körper nicht mehr so gut zu ruhen ist. Mit seiner Freundin, sie ist bald neunzig, unterhielt er sich kürzlich über Medikamente, die sie nehmen, ein Pingpong von Namen, die sich Wache nicht besser merken könnten. Lodine gegen Bluthochdruck. Betaserc gegen Schwindel. Cordarone zur Stärkung des Herzens. Stilnox um zu schlafen. Voltaren gegen Rheuma. Rohypnol um zu schlafen. Sie schlucke das Rohypnol nie, ein starkes Schlafmittel, sagte die Freundin. Sie beruhige ihren Hausarzt, der ihr offenbar vertraut, dass es zu ihrer Beruhigung diene, es im Haus zu haben. Ihr Freund, sorgloser im Umgang, hat sich vor kurzem die Hüfte gebrochen, bloss, sagt er, weil der Bus ruppig angefahren sei, bevor er sich festhalten konnte. Ob sie wissen, dass Pillen das Sturzrisiko erhöhen können? «Ach was», sagt die Freundin, «bei uns im Heim stürzen die Alten auch ohne etwas im Blut und manchmal mitsamt dem Rollator.» Muss man es nicht etwas entspannter sehen? Ist es denn so schlimm, wenn sich alte Leute ab und zu in Watte hüllen, um vergessen und schlafen zu können? In den Altersheimen kiffen sich die Alt-Hippies auch dem Tod entgegen wer mag es ihnen verdenken. Das sieht die Hausärztin Margot Enz Kuhn anders. Dass man Benzos als Schlafmittel bei anhaltenden Schlafstörungen verschreibe, diese Zeit sei vorbei, nur noch ein paar ältere Arztkollegen tun das bei ihren ausgebrannten Patienten in verantwortungsvollen Managerjobs, da diese das Gefühl hätten, sie könnten nicht mehr leben ohne. «Es gibt bessere Medikamente, die genauso angstlösend sind, ohne süchtig zu machen», sagt sie. Sie Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 7/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² gibt dann lieber ein Medikament gegen Depressionen, das aber auch bei körperlichen Schmerzen hilft, die eine psychische Ursache haben, und bei Angst. Auch die Allgemeinpraktikerin in Baden hat immer eine Packung Temesta in ihrer Praxis und verschreibt es bei klarer Indikation: dem Mann, dessen Frau in die Psychiatrie eingewiesen wurde und der nun allein zu den Kindern schauen muss. Er hatte Kopfweh, ihm war übel, er schlief nicht mehr «ldare körperliche Symptome bei unmittelbarer Belastung». Der Frau, einem Opfer von Mobbing, die am ganzen Körper zitterte, sich erbrach und nur noch liegen konnte. Dem Mann im Notfall, er kam mit einem Druck auf der Brust und dem Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen: «ein Temesta, und der Spuk war vorbei». Und ja, sie gibt es auch mal bei Flugangst ab, «zurückhaltend und höchstens eine kleine Packung pro Jahn>. Denn letztlich, das sagt sie auch der Patientin, die schon beim Anblick einer Pille in Panik gerät und meint, sie vergifte sich damit: Letztlich schadet man sich mehr, wenn man eine Flasche Wodka leert. «Da kann ich guten Gewissens ab und zu eine Pille geben.» Es wird genommen, und die meisten, die es sich hin und wieder selbst verordnen, übertreiben wohl nicht damit. Es gibt diese Möglichkeit, wenn uns etwas bedroht und ängstigt, und wir haben mit der Möglichkeit leben gelernt. Die chemischen Angsthemmer erleichtern uns den Alltag, wie ihn auch die Waschmaschine oder Kontaktlinsen erleichtert haben. Es ist kaum zu befürchten, dass deshalb nur noch komatöse Geister herumlaufen. Denn dem schnellen Griff zur Pille steht ein waches Bewusst- sein entgegen: Wir leben heute gesund und nachhaltig, haben Angst vor Pestiziden, wollen unsere Kinder nicht impfen, gebären ohne Schmerzmittel. Man möchte unberührt bleiben von Chemie, und diese Reinheit soll künftige Umweltkatastrophen verhindern und einen vor gesundheitlichen Schäden schützen. Zu Pillen, die auf unsere Psyche einwirken, haben wir ein zwiespältigeres Verhältnis als zu Aspirin. Man kämpft mit sich, spricht es an, nimmt sich zurück, während man sich bekennt. Wie kann jemand, der keine Tiere isst, überhaupt Medikamente schlucken? Ich stelle mir nicht gerne vor, dass Tiere in Versuchen leiden müssen, bloss damit ich selber weniger leide, falls meine Katze von einem Auto totgefahren wird. Bei den Beruhigungsmitteln immerhin, als diese erforscht wurden, ist beruhigend zu wissen, dass sich die gestressten Laborratten unter Einfluss des Wirkstof- fes entspannten: Er wirkte. Ja, man sollte es selten nehmen wenn man es braucht, und nicht, wenn man es will. Denn die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Menschen Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 8/9 Datum: 01.02.2014 Tamedia AG 8021 Zürich 044/ 248 45 01 www.dasmagazin.ch Medienart: Print Medientyp: Publikumszeitschriften Auflage: 382'885 Erscheinungsweise: wöchentlich Themen-Nr.: 728.4 Abo-Nr.: 1090645 Seite: 10 Fläche: 192'743 mm² nihiggestellt werden, betäubt und dumpf hinleben, ist schrecklich. Einer Gesellschaft, in der es keine Gefühle wie Angst mehr gibt, ebensowenig Schmerz und Trauer. Ich möchte kein angstfreies Leben haben, sediert und wohltemperiert, ohne Ausschläge des Pulses. Es geht nicht darum, jedes Mal abzuschalten, abzudichten, wenn die Haut immer dünner wird im Zustand todmüder Wachheit. Nein, ich möchte nur wissen: Wenn eines Tages ein Anruf kommt oder wenn mich nachts die Stille umschliesst; wenn ich fürchte, den Morgen nicht zu ertragen, an dem das Grelle und Graue hereinbricht dann ist es da wie ein Freund, im Badezimmer, im Apothekenschrank, in einer Packung im Blister. Es ist da und verspricht eine Pause, es bringt Ruhe und Vergessen, wie eine tröstende Hand auf dem Haupt. BIRGIT SCHMID ist stellvertretende Chefredaktorin des «Magazins». birgit.schmid@dasmagazin.ch Medienbeobachtung Medienanalyse Informationsmanagement Sprachdienstleistungen ARGUS der Presse AG Rüdigerstrasse 15, Postfach, 8027 Zürich Tel. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01 www.argus.ch Argus Ref.: 52697502 Ausschnitt Seite: 9/9