FoAk Gesundheitstechnologien

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FoAk Gesundheitstechnologien
KLÖ
berlin
GTJ
Gesundheitstechnologien
NR. 51 · JAHRGANG 22 · SEPTEMBER 2006 · TU BERLIN
Die TU Berlin –
Innovationsmotor in der
deutschen Hauptstadt
D
ie Technische Universität Berlin zählt mit zirka
27 900 Studierenden und rund 320 Professorinnen und Professoren zu den größten technischen Hochschulen in Deutschland.
Die Entwicklung innovativer Technologien und zugleich die
Betrachtung von Technikentwicklung und -anwendung hinsichtlich ihrer sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Aspekte bilden den Kern von Forschung und Lehre. Das wissenschaftliche Profil wird durch ein breites Fächerspektrum der
Ingenieur-, Natur-, Planungs-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften bestimmt. Aus diesen Bereichen bildet die TU
Berlin ihre interdisziplinären Forschungsverbünde, die entscheidende Beiträge zu den relevanten ökonomischen und gesellschaftlichen Fragestellungen liefern. Ihre aktuellen Schwerpunktthemen liegen in den Forschungsfeldern Information und
Kommunikation, Verkehr und Mobilität, Energie, Wasser und
natürliche Ressourcen, Gesundheit und Ernährung, Gestaltung
von Lebensräumen und Wissensmanagement. Darüber hinaus
konnte sie mit Forschungsprojekten aus den Disziplinen Mathematik, Chemie sowie Informatik und Elektrotechnik im Exzel-
lenzwettbewerb von Bund und Ländern bereits ihre Stärken unter
Beweis stellen.
Mit Partnern aus Wirtschaft und Forschung arbeitet die Universität seit vielen Jahren eng zusammen. Ein Zeichen dafür sind
die im Jahr 2004 eingeworbenen Drittmittel in Höhe von rund 70,5
Millionen Euro. Gerade die Drittmittelzahlen erlauben einen Rückschluss auf die Aktualität von Forschungsprojekten und die Wettbewerbsfähigkeit der Wissenschaftler.
Die TU Berlin versteht sich nicht nur als Impulsgeber für
innovative Prozesse, sondern auch als Wirtschaftsmotor der
Region. Mit den eingeworbenen Drittmitteln werden zahlreiche
hochwertige Arbeitsplätze im Bereich der Forschung geschaffen.
Hinzu kommt der Innovationstransfer bei wissenschaftlichen
Ausgründungen. Viele Start-ups aus der Universität bereichern
nicht nur die Wirtschaftsbranche, sondern schaffen auch viele
Arbeitsplätze für Berlin und Brandenburg.
q www.tu-berlin.de
ZUM GELEIT
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die Technische Universität Berlin beschreitet mit ihrem 2004 verabschiedeten
Strukturplan neue Wege: Sie benennt sieben fachübergreifende Problemfelder als
Schwerpunktthemen und übernimmt damit Verantwortung für die Suche nach
Lösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft.
Gesundheit und Ernährung bilden
eines dieser Schwerpunktthemen. Dies
hat auch für unsere Region eine besondere Bedeutung, gelten Berlin und Brandenburg doch als die führende wissenschaftsgestützte
Gesundheitsregion
Deutschlands. Ihre Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und mit
innovationsorientiertem Wissen zur
Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze
beizutragen ist eines unserer erklärten
Ziele.
Aber natürlich geht es der TU Berlin
als Ideenschmiede der Region auch darum, den Stand des Wissens durch
anwendungsorientierte und Grundlagenforschung zu erhöhen. Die besondere
Kompetenz unserer Universität liegt dabei in den technischen Fächern. Viele
Ingenieure, Elektrotechniker, Informati-
ker, Wirtschafts-, Arbeits- und Werkstoffwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen haben in ihrer Forschungsarbeit auch
Bezüge zur Gesundheit. Diese wollen wir
nicht nur über die Grenzen unserer Universität und unserer Stadt hinaus sichtbar machen, sondern laden die Beteiligten im Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie (ZiG) ein, in interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppen in konstruktivem Dialog neue Themenfelder zu erschließen, Forschungsfragen aufzuwerfen und Lösungsansätze zu
suchen. So versteht sich das Zentrum für
innovative Gesundheitstechnologie als
ein Kristallisationspunkt in der Gesundheitswissenschaft, -technologie und
-wirtschaft.
Dieses Angebot stößt auf großes Interesse: Derzeit befassen sich im ZiG Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus 23 Fachgebieten u. a. mit innovativem Gesundheitsmonitoring, Rehabilitationstechnologien, digitalisierter integrierter Versorgung, der Herstellung und
Wiederaufbereitung von Medizinprodukten sowie Fragen der Finanzierung und
Vergütung von Gesundheitsleistungen.
Im Zentrum des Forschungsinteresses
steht dabei der Nutzen für die betroffenen
TU BERLIN
Menschen. Medizintechnische Fortschritte bei Diagnostik und Therapie, bei
Prävention, Gesundheitsförderung und
Nachsorge sowie bei der Bewältigung
von chronischen Krankheiten oder von
Behinderung sollen dazu einen Beitrag
leisten.
Zahlreiche Drittmittelprojekte konnten schon eingeworben werden, Förderanträge bei nationalen und internationalen Mittelgebern sind gestellt, weitere
werden vorbereitet. Das ZiG unterhält
eine Veranstaltungs- sowie eine Präsentationsreihe und präsentiert sich als eine
lebendige Einheit unserer Universität.
Ich freue mich, liebe Leserinnen und
Leser, Ihnen in der vorliegenden Ausgabe
von »Forschung Aktuell« davon einen
Eindruck vermitteln zu können. Gesundheit ist ein Thema, das uns alle angeht, sei
es als Individuen oder als Mitglieder der
Gesellschaft. Die Technische Universität
Berlin kann dabei maßgeblich zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Fortschritt beitragen.
Prof. Dr. Kurt Kutzler
Präsident
der Technischen Universität Berlin
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
1
I N H A LT
Auftakt
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32 Kampf dem Herzversagen
Stents aus Kunststoffen merken sich ihre Form und setzen gezielt
pharmazeutische Wirkstoffe frei
Manfred H. Wagner
Am Nerv des Fortschritts
Gesundheitstechnologien stehen an der Schnittstelle von Medizin,
Gesellschaft und Markt – ein Überblick
Günter Spur
34 Den Zellen auf die Sprünge helfen
Trägermaterial aus metallischen und keramischen Schäumen
eröffnet neue regenerative Therapien
Helmut Schubert, Almuth Berthold, Rolf Zehbe, Astrid Haibel und
Ulrich Gross
38 Dicke Luft im Büro
Dirk Müller, Leiter des Riechlabors, im Gespräch
Innovative medizinische Technologien
8
Vielfältige Perspektiven
Innovative medizinische Technologien vereinen viele
Fachdisziplinen – und zwingen zur Kooperation
Marc Kraft
IuK-Technologien im Gesundheitswesen
10 »Die Hersteller sind auf abgesicherte Tests angewiesen«
Ein Gespräch mit Marc Kraft, dem Leiter des Fachgebiets Medizintechnik an der TU Berlin, und seinem Mitarbeiter Peter Diesing
42 Das digitale Krankenhaus im Blick
E-Health vereinigt Informationstechnik und Gesundheitswirtschaft – und bringt Reformen voran
Axel C. Mühlbacher
12 Minispione im Körper
Endoskope erlauben tiefe Einblicke ins Innere des Patienten
Heinz Lehr und Stephan Schrader
45 Verloren im Ballungsraum der Intensivstation
16 Zunge an Großhirn …
Medizinische Geräte sind oft nur als Einzellösungen konzipiert –
sie müssen aber im Team spielen
Claus Backhaus und Wolfgang Friesdorf
Forscher spüren kaum messbare elektronische Signale
im Gewebe auf
Reinhold Orglmeister
48 Auf dem Weg zum digitalen OP
18 Am Puls des Patienten
Moderne Informationstechnik kann die Arbeit der Ärzte und
Schwestern erleichtern
Heinz U. Lemke
Biegsame Chips überwachen vitale Körperfunktionen und senden
die Daten zum Hausarzt
Herbert Reichl, Klaus-Dieter Lang und Christine Kallmayer
50 Klare Einsicht vor dem Schnitt
22 Mit Hand und Fuß
Elektronische Systeme ziehen medizinische Informationen
aus digitalen Bildern
Olaf Hellwich
Exoskelette unterstützen Schenkel, Knie oder Hände
Christian Fleischer, Andreas Wege und Günter Hommel
26 Mit spitzen Fingern an die Geräte
53 Nierenwäsche per Tastendruck
Moderne Medizinprodukte müssen nicht nur technisch ausgereift
sein, sondern wirtschaftlich in ihrer Nutzung
Marc Kraft
28 Forschungen durch Mark und Bein
Interaktive Planung und Simulation ermöglichen die Computerintegrierte Dialyse
Ulrich Geske, Stefan Jähnichen und Reinhard Mylius (†)
55 »Eine der wichtigsten Innovationen der kommenden Jahre«
Titanlegierungen sollen verhindern, dass Implantate vorzeitig
versagen
Claudia Fleck
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
Ein Gespräch mit dem Informatiker Herbert Weber über die
elektronische Gesundheitskarte
I N H A LT
» Einblick
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Gesundheitswirtschaft
Berliner Gesundheitswirtschaft –
Sprungbrett für Unternehmer
20 Prüfstelle für Medizinprodukte –
Qualität mit Brief und Siegel
58 Gesundheit in aller Munde
24 An der Schnittstelle zum Nutzer
Der Sektor ist auf dem Sprung, eine neue Wachstumsbranche
zu werden
Klaus-Dirk Henke
27 Gesundheitsstadt mit internationalem Glanz
60 Wachstum durch technologische Spitze
30 Höchste Forschungsdichte in Europa
Die deutsche Medizintechnik braucht innovative Impulse,
um sich weiterhin gut auf dem Weltmarkt zu behaupten
Kurt Hornschild
36 Forschungsverbund Lärm: ein Ohr für die WHO
44 Forschergruppe Sentha – unabhängig bis ins hohe Alter
63 Kosten, Preise und Ausgaben: eine aufsteigende Spirale?
Der Gesundheitsmarkt ist ein wesentlicher Pfeiler der deutschen
Wirtschaft
Klaus-Dirk Henke
54 Die elektronische Gesundheitskarte –
alle Daten auf einem Chip
66 Gesundheitsmarkt Deutschland:
145 Milliarden Euro im Jahr
67 Fast das ewige Leben
Eine zunehmend alternde Bevölkerung stellt das Gesundheitssystem vor grundlegende Probleme – ein Zukunftsszenario für
Deutschland
Markus M. Grabka und Gert. G. Wagner
72 Archiv für Krankenhausbau –
Spiegel des vergangenen Jahrhunderts
76 Berliner Zentrum Public Health:
öffentliche Gesundheit im Fokus
70 In menschlichen Dimensionen
Moderne Klinikarchitektur bringt die Bedürfnisse der Patienten
und die medizinische Funktionalität unter ein Dach
Christine Nickl-Weller
80 Forschungsverbund Epidemiologie:
wie sich Krankheiten ausbreiten
73 Das Genderparadox
Das moderne Gesundheitssystem muss Unterschieden zwischen
Frauen und Männern gerecht werden
Ulrike Maschewsky-Schneider
» TU-Alumni im Porträt
15 Dr. Andreas Jordan
MagForce Nanotechnologies AG
77 Hand in Hand
Mathematiker und Neurochirurgen haben eine neuartige Operationsmethode entwickelt, um verformte Schädel bei Säuglingen zu
korrigieren
Rudolf Kellermann
21 Dr.-Ing. Kai Desinger
Celon AG
25 Dr.-Ing. Michael Hasenpusch
Otto Bock HealthCare GmbH
78 Markige Versprechungen reichen nicht
Health Technology Assessment beantwortet die Frage: Wann sind
die neuen Gesundheitstechnologien ihren Preis wirklich wert?
Reinhard Busse
31 Dr.-Ing. Herwig Freiherr von Nettelhorst
getemed Medizin- und Informationstechnik AG
37 Dr. Christine Lang
81 Gesundheitswirtschaft – med in Germany
OrganoBalance GmbH
Dietrich Grönemeyer lehrt an der TU Berlin
Heiko Schwarzburger
84 Autoren
82 Ärzte als Motoren der Innovation
Die Hersteller von Medizintechnik müssen möglichst früh auf ihre
künftigen Kunden eingehen
Hans Georg Gemünden
88 Impressum
89 Das Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
3
A U F TA K T
Am Nerv des Fortschritts
Gesundheitstechnologien stehen an der Schnittstelle von Medizin,
Gesellschaft und Markt – ein Überblick
Von Günter Spur
D
as zentrale gesellschaftliche
Problem der Bundesrepublik ist die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit, auch die
Wirtschaft stagniert. Zugleich droht die
Überalterung der Bevölkerung. Jede
Strategie zur Überwindung dieser Situation schließt unternehmerisches Handeln
ein, um durch Innovationen neue Märkte
zu erschließen. Forschung und Entwicklung haben hierbei eine entscheidende
Schlüsselfunktion.
Der Fortschritt unserer technologisch
geprägten Gesellschaft hat die Ansprüche an die Lebensqualität und die Selbstverantwortung des Individuums erhöht.
Gesundheit in jeder Phase des Lebens
und Sicherheit erhalten zunehmend Aktualität. Die Verbesserung der Lebensqualität fordert alle Potenziale in Wissenschaft und Wirtschaft heraus.
Gesundheit wird den Menschen
immer erst dann bewusst, wenn sie in
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Gefahr gerät: durch Unpässlichkeit,
Krankheit oder Siechtum. In einer Gesellschaft, in der die Gesundheit an die vorderste Stelle rückt, wird die Prävention
deshalb immer wichtiger. Es ist die Aufgabe der Mediziner, der Therapeuten, der
Gesundheitswirtschaft und der Politiker,
diesen Trend innovativ aufzubereiten.
Die Gesundheitswirtschaft ist künftig
mehr denn je auf die Forscher angewiesen: als Ideengeber und Treiber des tech-
A U F TA K T
nologischen Fortschritts. Eine neue Kultur der Innovation im Gesundheitswesen
ist zur Sicherung unserer Lebensbedingungen bitter notwendig. Es liegt in der
Hand der Gesundheitswissenschaftler,
erhebliche Impulse für das Wachstum des
Wirtschaftspotenzials zu setzen. Es gilt,
den Innovationsbedarf im Gesundheitswesen rechtzeitig zu erkennen und daran
angepasste Forschungsprozesse in Gang
zu setzen.
Dazu gehören alle Maßnahmen, die
das kreative Leistungspotenzial der Institute entfalten. Alle Beteiligten sind aufgerufen, wirkungsvoll zusammenzuarbeiten. Und: Gesundheitswissenschaftliche
Forschung benötigt Visionen, um ihren
Ideenreichtum zu entfalten. Die Innovationsfähigkeit ist dann besonders hoch,
wenn sich Innovationspotenziale interdisziplinär verdichten.
Die Lebenswissenschaften sind in besonderer Weise interdisziplinär vernetzt.
Sie erforschen biologische Organismen,
die durch Stoffwechsel, Reizbarkeit,
Fortpflanzung und Wachstum gekennzeichnet sind und ihre Lebensprozesse
selbst regulieren. Objekt ihrer Erforschung sind dynamische Systeme mit
biotischen Prozessen, deren Qualität
durch Prozessparameter bestimmt wird,
die auf einen optimalen Zustand zielen,
der in seiner Normalität durch den Begriff Gesundheit umschrieben wird. Gesundheit ist der Normalzustand biotischer Systeme, in dem sie ihre Lebensfunktionen optimal aufrechterhalten. Sie
entsteht als Ergebnis der Regulierung
dynamischer Lebensprozesse, entweder
durch medizinische Behandlungen oder
durch Vorsorge.
ärztliche Entscheidung hat sich sowohl
zur Verlaufskontrolle von Behandlungen
als auch zur Beobachtung des Gesundheitszustands bewährt. Es wird geschätzt, dass den Medizinern mehrere
tausend verschiedene Labortests zur Verfügung stehen. Diese Entwicklung geht
weiter stürmisch voran. Allerdings ist es
angesichts der Komplexität nur nach längerer Erfahrung möglich, die Zuverlässigkeit der Messungen zu bewerten.
FORTSCHRITTE IN DER
DIAGNOSTIK
Trotz der kritischen Einstellungen zur Labordiagnostik bleibt festzustellen, dass
die diagnostische Medizintechnik weit
reichende Fortschritte gemacht hat. Unter Einbeziehung leistungsfähiger Informations- und Kommunikationssysteme
können zudem neue Modelle der Gesundheitsregulierung entwickelt werden. Hier
liegt ein wichtiger Schlüssel zur Rationalisierung der Kostenstruktur des Gesundheitswesens.
Die auf Gesundheit ausgerichtete Regulierung von Lebensprozessen soll Störungen abwenden. Einfachere biotische
Systeme folgen Instinkten. Höhere Systeme sind lernfähig, bis hin zum Menschen,
der sich selbst wahrnehmen und beobachten kann. Die sensorische Erfassung des Zustandes biotischer Systeme
führt zu einem Gesundheitsprofil, das als
Regulationsbasis dienen kann. Hieraus
leiten sich spezielle Gesundheitsstrategien ab, als wichtige Voraussetzung zur
gezielten Steuerung. Am Ende dieses Prozesses stehen die Heilung, die Rehabilitation und die Prävention.
Neue Chancen ergeben sich auch
durch die Fortschritte in der Informationstechnik. Sie bietet neue Medien, Verfahren und Systeme zur Kontrolle und
Optimierung von Lebensprozessen. In
Verbindung mit der medizinischen Forschung umfasst sie nicht nur die Diagnose und Therapie, sondern zunehmend
auch die Prävention.
Technik und Medizin zusammen gestalten eine neue Gesundheitstechnologie. Angesichts ihrer Komplexität und innovativen Dynamik erwächst das Bemühen um ein neues Selbstverständnis der
Medizintechnik. Dabei müssen die Forscher über das konventionelle Schema ihrer Methodik hinausgehen. Mit dem
technischen Fortschritt hat sich das Gesundheitswesen verändert: Forschung
und Technologie stehen unter einem hohen sozioökonomischen Erwartungsdruck seitens der Öffentlichkeit. Es gelten
M E H R E R E TA U S E N D
LABORTESTS
Aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat sich der Mensch ein technologisches Potenzial geschaffen, mit dem er
seine Lebenswelt umgestaltet. Als einziges Lebewesen ist er dazu fähig, seine
eigene Gesundheit technologisch zu überwachen und heilend einzugreifen.
In der Medizin haben Laboruntersuchungen für die Diagnose von Krankheiten eine große Bedeutung. Das eingespielte System der Beauftragung durch
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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In der Sterilfiltration
der Schering AG
werden flüssige
Arzneimittel
hergestellt
A U F TA K T
nicht mehr allein medizinische Grenzen,
sondern auch zunehmend ökonomische
Vorgaben. Der Fortschritt in der Gesundheitstechnologie erfordert wirtschaftlich
sinnvolle Versorgungsstrukturen, die den
technologischen Innovationsdruck verkraften und aufnehmen können. Um einen optimalen Gesundheitszustand zu erreichen und zu erhalten, braucht der
Mensch prozessorientierte Hilfsmittel,
insbesondere aber technologische Regulationssysteme.
In dieser Aufgabe liegt ein wachstumsfähiges Innovationspotenzial. Dies richtet sich nicht nur auf die Überwachung
und Behandlungen von Krankheiten,
sondern vielmehr auf die permanente
Prüfung kritischer Parameter des Gesundheitszustands.
Gesundheitsmanagement braucht
Daten, um regulativ zu handeln. Der
Fortschritt in der medizinischen Gerätetechnik bietet ein breites Sortiment von
Möglichkeiten an, die individuelle Gesundheitsüberwachung durch Messdaten zu objektivieren. Sicherlich muss ergänzend dazu Aufklärungsarbeit geleis-
tet werden und eine ärztliche Beratung
unverzichtbar bleiben. Andererseits entsteht ein Wachstumsmarkt für technologische Hilfsmittel zur Förderung der Gesundheit. Es gilt, schädlichen Wildwuchs
zu vermeiden und durch wissenschaftliche Beratung eine gezielte Gesundheitsförderung einzuleiten.
MANAGEMENT BRAUCHT
D AT E N
Die Überwachung des individuellen Gesundheitsprofils zur Förderung der
Selbstregulation ist ein interessantes Entwicklungsfeld. Die fortgeschrittenen Gesundheitstechnologien kommen als soziotechnische Reform des Gesundheitswesens zur Entfaltung. Ihr Fortschritt beruht auf Ergebnissen medizinischer Forschung, ergänzt durch den Erfindungsreichtum einer medizintechnisch orientierten Produktionswirtschaft.
Der Innovationsprozess bis zur
Markteinführung medizinischer Produkte ist mit erheblichen Risiken behaftet.
Zur Begleitung sind Spezialisten gefragt,
von Erfahrung geprägt und verantwortungsbereit für das Neue, aber auch vom
Bewusstsein bestimmt, dass Neues kein
Selbstläufer ist. Hast und Hetze sind für
das Neue verderblich. Bewährtes muss
im Neuen erhalten bleiben. Zu viel Neues erhöht die Risiken für die Funktionalität und die Umsetzung. Deshalb ist Sorgfalt geboten.
Die Bewertung gesundheitstechnologischer Innovationen erfolgt nach ihrem
individuellen Nutzen. Dieser kann sich
sprunghaft oder allmählich entwickeln.
Der Fortschritt muss sich im Markt bewähren. Innovationen sind jedoch nicht
nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich zu bewerten.
Gesundheitstechnologie entsteht nicht
durch Zufall, sie entsteht im Netzwerk
mühsamer Forschungsarbeit. Die Lösung technologischer Aufgaben ist sowohl methodisch bestimmt als auch von
kreativer Kunstfertigkeit gekennzeichnet.
q www.ipk.fraunhofer.de
» Einblick
Berliner Gesundheitswirtschaft – Sprungbrett für Unternehmer
In Berlin sind namhafte Unternehmen der Gesundheitsbranche vertreten. Mit der Bayer
Schering Pharma AG ist ein Global Player der pharmazeutischen Industrie in der Stadt präsent, der vor
allem der medizinischen Forschung wichtige Impulse verleiht und tausende Arbeitsplätze bietet. Weitere 21 Pharma-Unternehmen haben sich in Berlin oder dem Umland angesiedelt, beispielsweise Berlin Chemie. Die Medizintechnik zählt in der Region rund 150 Firmen. Weltweit führend bei Produkten
zur Elektrotherapie des Herzens und der vaskulären Intervention ist die Berliner Biotronik GmbH. Ihr
Gründer, Max Schaldach, entwickelte vor 40 Jahren den ersten deutschen Herzschrittmacher. Heute beschäftigt das Unternehmen weltweit 2500 Mitarbeiter, davon über 900 in Berlin. Die Berliner Vanguard
AG, Europas größter Dienstleistungsanbieter rund um Medizinprodukte, beschäftigt in Berlin mehr als
800 Mitarbeiter. Die Berlin Heart AG ist im Bereich der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung
von extrakorporalen und implantierbaren Herzunterstützungssystemen technologieführender Anbieter. Mit seiner implantierbaren Herzpumpe beschreitet das mit dem Deutschen Herzzentrum kooperierende Unternehmen neue Wege der Behandlung schwerer Herzerkrankungen. Weltmarktführer auf
dem Gebiet der Entwicklung und Herstellung schwach radioaktiver Strahlenquellen für therapeutische
und messtechnische Anwendungen ist die in Berlin ansässige Eckert & Ziegler AG. Die Produkte dieses Unternehmens werden vor allem in der Krebsbehandlung sowie in der Heilung von Herzkrankheiten eingesetzt. Hinzu kommen etwa 160 Unternehmen der Biotechnologie, die den medizinischen Fortschritt mit Dienstleistungen und Produkten flankieren. Insgesamt arbeiten in der Hauptstadtregion
rund 180 000 Menschen im Gesundheitssektor, darunter 17 700 Ärzte und 3700 Zahnärzte.
q www.berlin-gesundheitsstadt.de
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TU BERLIN
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
Innovative
medizinische
Technologien
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Vielfältige
Perspektiven
Innovative medizinische Technologien vereinen viele
Fachdisziplinen – und zwingen zur Kooperation
Von Marc Kraft
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TU BERLIN
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
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ie Medizintechnik ist ein interdisziplinäres Fach, das beispielsweise
von der Magnetresonanztomographie
über die Elektrostimulation von Muskeln, die Erfassung von Biosignalen im
Gehirn (EEG) oder im Herzen (EKG), die
Anwendung neuer Materialien für Implantate bis hin zur Desinfektion von
medizinischem Instrumentarium reicht.
Ein einzelnes Institut kann diese Vielfalt
weder in der Forschung noch in der Lehre abdecken.
EINSCHNITTE,
NUR MILLIMETERLANG
Ein Ziel des Zentrums für innovative Gesundheitstechnologie (ZiG) der TU Berlin ist es, die an der Universität vorhandenen und auf viele Institute und Fakultäten
verteilten Kompetenzen zu bündeln. Ein
erster Schritt bestand darin, die Forschungen in Schwerpunkten zu erfassen.
Einer dieser Schwerpunkte sind die »innovativen medizinischen Technologien«.
Er fasst alle Akteure innerhalb des Zentrums zusammen, die in der Medizintechnik forschen, darunter zu den Themen minimal invasive Techniken, Kreislaufprozesse für Medizinprodukte sowie Systemintegration und Mikrosystemtechnik,
Gebäudetechnik und Prothetik.
Unter minimal invasiven Techniken
werden in der Medizin diagnostische oder
therapeutische Maßnahmen verstanden,
die den Patienten besonders wenig belasten. Sie stehen oft konventionellen, mit
größeren Traumata verbundenen Techniken gegenüber. Sie bieten verbesserte Behandlungsmöglichkeiten und erlauben es
dem Patienten, schneller zu genesen. Die
Schmerzen während der Eingriffe und
während des Heilungsprozesses verringern sich deutlich, auch bleiben nur geringe Narben zurück. Der Patient kann
schneller entlassen werden, die Pflegezeiten und die Behandlungskosten sinken.
Weil berufstätige Patienten ihre Arbeit
früher wieder aufnehmen können, werden weiteren Kosten gespart.
Die wichtigsten Anwendungen der
minimal invasiven Techniken finden sich
heute in der Chirurgie, Gastroenterologie, Gynäkologie, Kardiologie, Radiologie und Urologie. Bei der Behandlung
verengter Herzkranzgefäße ist es heute
beispielsweise üblich, die verengten
Gefäßabschnitte durch einen Ballonkatheter aufzuweiten, oft kombiniert mit einer drahtgeflechtartigen Gefäßprothese
(Stent). Von diesen ca. 200 000 jährlichen
Eingriffen in Deutschland müssen jedoch
rund dreißig Prozent der Patienten mit einem erneuten Verschluss der Gefäße
(Restenose) rechnen. Ziel der Forschung
ist es, diese Quote zu reduzieren.
NEUE IDEEN AUS
DER TU BERLIN
Viel versprechende Ansätze liegen in der
Beschichtung von Gefäßprothesen mit
Medikamenten. Diese Forschungen sind
am Fachgebiet Polymertechnik der TU
Berlin angesiedelt, geleitet werden sie von
Manfred Wagner. Auch die Wissenschaftler des Fachgebiets Elektronik und medizinische Signalverarbeitung unter Reinhold Orglmeister haben sich bereits mit
der dreidimensionalen Rekonstruktion
des koronaren Gefäßbaumes aus Röntgen- und Ultraschallbildern des Herzens
TU BERLIN
befasst. Die Medizintechniker der TU
Berlin haben Koronarstents aus Metall
entwickelt. Zudem entwarfen sie spezielle
Prüfgeräte für Herzkatheter, zur Vermessung von Katheterballons und zur elektrischen Prüfung an Elektrodenkathetern.
Ein weiteres Anwendungsgebiet minimal invasiver Techniken ist die Gastroenterologie. Die Spiegelung des MagenDarm-Traktes erfolgte bisher durch biegsame, aus Glasfasern aufgebaute Endoskope. Therapeutische Eingriffe sind über
katheterähnliche Instrumente möglich,
welche durch Arbeitskanäle hindurch zur
Endoskopspitze geschoben werden.
Neuere Entwicklungen ersetzen die Glasfaser durch Kameras, die in der Endoskopspitze sitzen. Die Mikrotechniker
um Heinz Lehr entwickelten den Prototyp
eines Ultraschallkatheters sowie ein Videoendoskop, das aus mikrosystemtechnischen Modulen aufgebaut ist. An der
TU Berlin befassen sich 23 Fachgebiete
mit Gesundheitsthemen.
q www.ikmm.tu-berlin.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Prof. Marc Kraft:
»An der TU Berlin
befassen sich 23
Fachgebiete mit
Gesundheitsthemen.«
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
» Im Gespräch
»Die Hersteller sind auf
abgesicherte Tests angewiesen«
Die Entwicklung von Prothesen, Rollstühlen und anderen technischen Hilfsmitteln für die Patienten hat
an der TU Berlin schon eine lange Tradition. Nun erfährt das Forschungsgebiet einen neuen Aufschwung. Ein Gespräch mit Marc Kraft, dem Leiter des Fachgebiets Medizintechnik an der TU Berlin,
und seinem Mitarbeiter Peter Diesing
Wie weit reicht die Erforschung von medizinischen Hilfsmitteln an der TU Berlin
zurück?
Peter Diesing (l.) und
Marc Kraft beschäftigen sich in ihren
Forschungsprojekten
mit orthopädischen
Hilfsmitteln sowie mit
Therapien und Prophylaxe von Druckgeschwüren
Marc Kraft: Schon im Herbst 1915 gründete der berühmte Ingenieur Georg Schlesinger an der TH in Charlottenburg eine
Prüfstelle für Ersatzglieder. Darin fanden
sich Ärzte, Ingenieure und Orthopädiehandwerker zusammen, um die Kriegsopfer besser zu versorgen. Eine ihrer
Nachfolger war die Prüfstelle für Ortho-
pädische Hilfsmittel, die fast dreißig Jahre lang bis 2001 von Ulrich Boenick geleitet wurde. Es wurden verschiedene Prothesen und Rollstühle erprobt.
Peter Diesing: Ein Teil der dabei angewandten Prüfverfahren wurde am damaligen Fachgebiet Biomedizinische Technik entwickelt, beispielsweise um die Beanspruchung von Prothesen besser zu simulieren. Diese Modelle waren deutlich
komplexer und aussagekräftiger als stark
vereinfachende, genormte Prüfverfahren. Die heute als privates
Unternehmen mit Beteiligung der
TU Berlin tätige Berlin Cert –
Prüf- und Zertifizierstelle für Medizinprodukte GmbH hat das
Know-how ihrer Vorgänger übernommen.
Wo werden die Schwerpunkte des
Fachgebietes in Zukunft liegen?
Marc Kraft: Im April 2004 habe
ich das Fachgebiet in direkter
Nachfolge übernommen. Mein
Ziel ist es, die wissenschaftlichen
Grundlagen zur Prüfung und Bewertung von Hilfsmitteln weiter
auszubauen. Neben orthopädischen Hilfsmitteln wie Prothesen
oder Orthesen befassen wir uns
heute mit Hilfsmitteln, die der
Therapie oder Prophylaxe von
Druckgeschwüren dienen. In Zu-
10
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
kunft werden wir verstärkt Rollstuhlsitzkissen oder Kindersitze für Autos bewerten.
Peter Diesing: Diese Hilfsmittel unterliegen im ambulanten Bereich der Kostenerstattung durch die Krankenversicherungen. Dazu müssen sie im so genannten Hilfsmittelverzeichnis gelistet sein.
Dies erfordert neben der CE-Kennzeichnung zusätzlich einen Nachweis ihrer
Qualität, ihrer Funktionstauglichkeit und
ihres therapeutischen Nutzens. Für wichtige Hilfsmittel fehlen bisher jedoch geeignete Prüfmethoden. Sie müssen dringend entwickelt werden, um einheitliche
Qualitätsstandards zu gewährleisten.
Marc Kraft: Die Hersteller der Hilfsmittel sind darauf angewiesen, dass ihre Produkte in abgesicherten Tests im Labor, an
Probanden oder an Patienten geprüft
werden. Das erfordert eine systematische
Bewertung von mechanischen, elektrischen und hygienischen Produkteigenschaften. Hochwertige Hilfsmittel sind
heute auf eine genau spezifizierte Patientengruppe abgestimmt. Deshalb sind viele Hersteller bereit, die Forschungen an
unserem Fachgebiet zu finanzieren.
Das Gesundheitssystem befindet sich im
Wandel. Welche Bedeutung werden die
Hilfsmittel in Zukunft erlangen?
Marc Kraft: Unsere Bevölkerung wird
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
immer älter. Also werden immer mehr
Menschen auf diese Produkte angewiesen
sein. Die Versorgung zu Hause wird immer häufiger der stationären Aufnahme in
einem Pflegeheim vorgezogen, das stellt
auch an die Produkte andere Anforderungen. Ihre Prüfung und Bewertung ermöglichen dabei eine individuelle Auswahl unter Berücksichtigung einer guten Versorgung und wirtschaftlicher Kriterien.
Können Sie konkrete Beispiele nennen,
womit Sie sich im Labor beschäftigen?
Marc Kraft: Wir untersuchen beispielsweise, wie mobil Menschen sind, deren
Oberschenkel amputiert wurde und die
nun auf Prothesen angewiesen sind. Zugleich ermitteln wir, welchen mechanischen Beanspruchungen diese Prothesen
ausgesetzt sind. In den vergangenen Jahren haben sich die Prothesen deutlich verbessert, durch neue Wirkprinzipien, Konstruktionen und Materialien. Elektronik
wird integriert. Es ist völlig klar, dass
sich damit die Mobilität der Patienten
verbessert. Auch müssen die Prothesen
deutlich höhere Beanspruchungen ertragen als vor einem Vierteljahrhundert: längere Gehstrecken, schnellere Schritte
oder höhere Kräfte, beispielsweise bei
sportlichen Aktivitäten.
Peter Diesing: Auch die gesetzlichen
Vorgaben ändern sich: Alle Kostenträger
sind heute verpflichtet, zu prüfen, ob eine
neue Prothese oder die Instandsetzung
von bisher benutzten Hilfsmitteln wirtschaftlicher und gleich wirksam ist. Damit sind die früher üblichen Versorgungszeiträume von fünf Jahren infrage
gestellt. Die Auslegung von Prothesensystemen auf einen typischen Nutzungszeitraum ist also nicht mehr möglich.
Vielmehr muss je nach Nutzung und Beanspruchungen entschieden werden,
wann ein System ausgetauscht wird. Es
ist auch aus diesem Grunde von großem
Interesse, inwiefern sich die Beanspruchungen moderner Prothesen von historischen Modellen unterscheiden. Das
Fachgebiet Medizintechnik der TU Berlin führt deshalb ein Forschungsprojekt
durch, das einen Zusammenhang zwischen der prothetischen Versorgung, der
Patientenaktivität und der resultieren-
den Prothesenbeanspruchung herstellt.
Das Projekt wird von der Otto Bock HealthCare GmbH finanziert. Bisher wurde ein mobiles Messsystem entwickelt,
um die in der Prothese wirkenden Kräfte und Momente zu erfassen.
also die Temperatur und die relative
Feuchte. Dort setzen die Hilfsmittel gegen Dekubitus an, als Matratzen, Tischauflagen oder Sitzkissen. Sie reduzieren
die Druckbelastung und verbessern das
Mikroklima im gefährdeten Bereich.
Marc Kraft: Dabei kam auch eine Kooperation mit der Firma Getemed in Teltow
zustande. Das Unternehmen entwickelt
und vertreibt EKG-Langzeitschreiber, die
am Gürtel des Patienten getragen werden.
Wir nutzen diese EKG-Schreiber, um die
Messwerte für die Kräfte in der Prothese
aufzuzeichnen. Dazu haben wir einen
energetisch optimierten Datenlogger mit
einer Speicherkapazität von einem Gigabyte entwickelt. Der Prototyp hat sich im
Labor bereits bewährt. Erste Tests an Patienten stehen unmittelbar bevor. Wenn
wir wissen, wie die Prothesen wirklich beansprucht werden, können wir die derzeit
geltenden Prüfnormen kritisch bewerten.
Möglicherweise müssen sie an die höhere
Mobilität der Patienten angepasst werden. Ein ähnliches Forschungsprojekt führen wir an Komponenten für Exoprothesen
der unteren Extremität durch. Auch diese
Forschungen werden durch die Otto Bock
HealthCare GmbH finanziell unterstützt.
Marc Kraft: Seit April 2002 entwickeln
wir am Fachgebiet Medizintechnik der TU
Berlin neue Methoden, um solche Hilfsmittel gegen Wundliegen (Dekubitus) zu
prüfen und zu bewerten. Das Ziel des Projektes war es, geeignete Prüfverfahren
durch klinische Messungen zu finden und
zur Bewertung von Antidekubitussystemen heranzuziehen. Ein weiteres Ziel bestand darin, die individuelle Zuordnung
von geeigneten Produkten zu den jeweiligen Patienten zu erleichtern. Bisher konnten wir Prüfverfahren zur Charakterisierung der druckentlastenden, mikroklimatischen und anderer Eigenschaften von
Sitzkissen und Matratzen erarbeiten. Sie
wurden bereits von den Spitzenverbänden
der Krankenkassen anerkannt und als
Aufnahmeprüfung für das Hilfsmittelverzeichnis übernommen.
Nun gibt es bei den medizinischen Hilfsmitteln eine viel größere Bandbreite. Prothesen stellen nur ein Segment dar, wenn
auch ein wichtiges …
Marc Kraft: Es würde in der Tat ein einseitiges Bild unserer Forschungen vermitteln, wenn wir nur über Prothesen sprechen. Wir untersuchen auch, wie man das
Wundliegen oder die Druckgeschwüre
bei bettlägerigen oder anderen immobilen
Patienten vermindern kann. Die Ursache
ist die mangelhafte Versorgung des Gewebes mit Sauerstoff, sodass die Zellen
absterben. Man kann davon ausgehen,
dass in Deutschland jedes Jahr ca.
800 000 dieser so genannten Dekubitalgeschwüre entstehen. Jeder zehnte Patient
im Krankenhaus ist davon betroffen.
Peter Diesing: Wir wissen, dass diese
Geschwüre durch Druck und Scherkräfte
an den belasteten Knochenvorsprüngen
entstehen. Wichtig ist auch das im Kontaktbereich herrschende Mikroklima,
TU BERLIN
Welche Rolle spielte die Unterstützung
Ihrer Forschungen durch die TU Berlin
und die Industrie?
Marc Kraft: Die Voraussetzungen für die
hier durchgeführten Forschungsaktivitäten werden von der TU Berlin durch die
Grundausstattung mit Personal, Räumen
und der notwendigen Infrastruktur geschaffen. Die Otto Bock Stiftung und die
Stiftung Industrieforschung ermöglichten
es uns, Prüfvorrichtungen aufzubauen
und eine klinische Studie an drei geriatrischen Zentren in Berlin durchzuführen.
Dazu gehören das Malteser Krankenhaus
in Charlottenburg, das Vivantes Wenckebach Klinikum in Tempelhof und das
Evangelische Waldkrankenhaus in Spandau. Die Studie zeigte erwartungsgemäß,
dass klinische Studien zur Bewertung der
Qualität und des therapeutischen Nutzens
von Hilfsmitteln durch die gesetzlichen
Krankenkassen ungeeignet sind. Prüfverfahren in Laboren können diese Aufgabe
besser erledigen.
Die Fragen stellte Heiko Schwarzburger.
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Minispione im Körper
Endoskope erlauben tiefe Einblicke ins Innere des Patienten
Von Heinz Lehr und Stephan Schrader
W
as vor einigen Jahren noch
wie Science-Fiction klang, ist heute möglich: die Miniaturisierung komplexer medizinischer Instrumente. Dabei wird jedoch nicht nur die Größe der Geräte reduziert. Oft entstehen durch die Kombination von mikroelektronischen und mikrotechnischen Komponenten intelligente
Werkzeuge mit völlig neuen Eigenschaften. Beispiele dafür sind Endoskope mit
Autofokus oder auch winzige Ultraschallkatheter mit einem Mikroantrieb
an der Katheterspitze.
Endoskope erlauben minimale Eingriffe, die den Patienten von großräumigen
Schnitten oder anderen Belastungen verschonen. Die minimal invasive Chirurgie
hat in den letzten Jahren große offene
Operationen nahezu verdrängt. Diese
Fortschritte waren möglich, nachdem es
gelang, Instrumente von sehr geringer
Größe herzustellen. Die Ärzte nutzen
kleinste Schnitte oder natürliche Körperöffnungen, um optische und chirurgische
Instrumente oder Katheter über ein Endoskop in den Körper einzuführen, wobei
jede Maßnahme durch hochauflösende
Videobilder direkt aus dem Körperinnern
kontrolliert wird.
Dazu waren neue Verfahren zur Bildgewinnung unerlässlich. Bei der etablierten Methode leiten optische Linsen das
Bild aus dem menschlichen Körper zu einer Videokamera, die sich am Ende des
Endoskops befindet. Durch den mikrotechnischen Fortschritt lassen sich jetzt
12
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
winzige Videokameras mit CCD- oder
CMOS-Chips unmittelbar in die Endoskopspitze einbauen. Die Bildinformation wird vor Ort in Videosignale gewandelt und gelangt über ein dünnes Kabel
zum Monitor. Neben der Möglichkeit,
die Qualität des Bildes erheblich zu steigern und den Endoskopkopf zu bewegen, kann der Chirurg nunmehr auf die
teuren Linsensysteme verzichten. Weil
sich Optik und Kamerachip im Videokopf an der Spitze des Endoskops konzentrieren, eröffnen sich neue Bauformen und Beobachtungstechniken für
biegsame Endoskope.
Bei Endoskopen mit Videokopf sind
die Linsen in der Videokamera noch starr
angeordnet. Der Arzt kann deswegen das
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Instrument nur bis zu einer Entfernung
von etwa zwanzig Millimetern an das zu
untersuchende Gewebe im Körper heranführen. Bei kürzeren Distanzen wird das
Bild unscharf, da die feste Anordnung der
Kameralinsen die Tiefenschärfe begrenzt.
Um auch winzigste Unregelmäßigkeiten
sichtbar zu machen, muss man das Endoskop noch näher an die entsprechenden
Stellen bringen. Dazu ist mindestens eine
Linse des optischen Systems zu bewegen,
damit bei jedem Abstand die Scharfstellung des Bildes gelingt.
WINZIGE VIDEOKAMERAS
LIEFERN BILDER
Berücksichtigt man, dass die Endoskope,
die derzeit beispielsweise für Eingriffe im
Bauchraum eingesetzt werden, Durchmesser von maximal zehn Millimetern
aufweisen und der Trend zu Abmessungen von drei bis vier Millimetern geht,
wird deutlich, dass der Raum für einen
Antrieb, der eine oder mehrere Linsen in
der Längsachse einer Minioptik bewegt,
höchst beschränkt ist. Soll zusätzlich
noch eine automatische Scharfeinstellung
des Bildes erfolgen (Autofokus), zum Beispiel mit einem Abstandssensor, so reicht
der verfügbare Platz bei weitem nicht
aus.
Eine Forschergruppe der TU Berlin hat
einen kompakten und leicht miniaturisierbaren Antrieb entwickelt, um die Linsen in dem engen und abgeschlossenen
Gehäuse trotz Reibungskräften präzise
zu platzieren. Zur Fern- oder Nahstellung
des Endoskops wird ein Linsensystem für
die Scharfeinstellung des Bildes automatisch verschoben.
Allerdings darf die Autofokussierung
nicht zu lange dauern. Daher muss die
Linsenbewegung extrem schnell ausgeführt werden. Aus Kosten- und Platzgründen ist es günstig, das Objektiv möglichst
kurz zu gestalten, sodass auch der Verfahrweg der Fokussierlinsen im Bereich
von wenigen Millimetern liegt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Endoskope nach dem Einsatz zur Sterilisation
in einen Autoklaven gelangen, wo sie bei
etwa 134 Grad Celsius längere Zeit einem
Dampfüberdruck ausgesetzt werden.
Leider sind viele mikrotechnische Antriebsvarianten aufgrund des Verfahr-
wegs von wenigen Millimetern, der notwendigen, extrem großen Einstellgeschwindigkeit der Linsen sowie der geforderten Dampfsterilisation nicht einsetzbar. Also mussten sich die Wissenschaftler auf die Neuentwicklung eines elektromagnetischen Linearantriebs konzentrieren, der geeignete Eigenschaften aufweist.
Dieser Linearmotor besteht aus einem
winzigen Permanentmagneten als Läufer
mit Innenbohrung, der in einem Rohr
gleitet und die Fokussierlinse trägt. Drei
auf das Rohr gewickelte Spulen erzeugen
ein magnetisches Wanderfeld, mit dem
sich der Läufer schnell und hochpräzise
positionieren lässt. Rückstellkräfte fixieren dabei die Stellung des Läufers. Bei der
Bewegung tritt eine Beschleunigung auf,
die der zwanzigfachen Schwerkraft entspricht. Mit separaten Dreiergruppen
von Spulen lassen sich weitere Translatoren ansteuern, sodass, unabhängig von
der Bewegung der Fokuslinse, eine weitere Linsengruppe zum Beispiel zur Vergrößerung des Bilds nutzbar ist – als Zoomfunktion.
Derzeit haben die Videoköpfe einen
Durchmesser von sechs Millimetern. Ihre
Größe wird durch den CCD-Chip bestimmt, der einen sechstel Zoll misst. Die
nächste Stufe der Entwicklung wird mit
einem kleineren Chip ausgestattet, reduziert auf einen zehntel Zoll. Er zielt auf
Abmessungen von etwa vier Millimeter,
sodass die Videochips nach wie vor die
Größe des Videokopfs vorgeben. Bei der
weiteren Miniaturisierung ist somit ein
spannender Wettlauf zwischen Mikromechanik und Mikroelektronik zu erwarten.
NEUARTIGER LINEARMOTOR
AUS DER TU BERLIN
Der extrem kleine Bauraum an der Endoskopspitze erlaubt kein zusätzliches Sensorsystem für die Abstandsmessung.
Stattdessen nutzen die TU-Forscher die
Bildinformation des CCD-Chips zur Berechnung einer Schärfefunktion, also einen indirekten Autofokus. Die vom Chip
aufgenommenen Bilddaten gelangen zu
einem schnellen Signalprozessor, der anhand einer Graupixelauswertung die
Bildschärfe berechnet und die Leistungselektronik zur Verschiebung des Translators ansteuert. Die Linseneinstellung erfolgt innerhalb weniger Millisekunden,
sodass der Nutzer trotz einer Änderung
des Objektabstands immer den Eindruck
eines scharfen Bilds erhält.
Mit diesem neu entwickelten Direktantrieb für optische Komponenten lässt
sich eine äußerst kompakte Integration
von Mechanik und Optik erzielen, wobei
der einfache Aufbau des Linearmotors die
Anpassung für unterschiedliche Anwen-
Direktantriebe für
optische Komponenten
aus den Werkstätten
der TU Berlin
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
ten und Ultraschallkristall. Zusätzlich
zur Anwendung in der Medizin kann es
auch in Messsonden zum Einsatz kommen, um beispielsweise Werkstoffe oder
Beschichtungen zu überprüfen.
An der TU Berlin
entwickeltes Endoskop
– kleiner als ein Käfer
ÜBERGREIFEND DENKEN
dungsgebiete sehr erleichtert. Variationen des Linearmotors kommen derzeit in
der medizinischen Endoskopie sowie bei
der Inspektion von Rohrleitungen zum
Einsatz. Geplant sind Anwendungen in
der Zahnmedizin.
In der medizinischen Diagnostik werden
Ultraschallkatheter eingesetzt, um röhrenförmige Hohlorgane, wie die Blutgefäße, die Gallengänge oder die ableitenden
Harnwege, auf krankhafte Veränderungen zu untersuchen. Dabei sendet ein rotierender Kristall an der Katheterspitze
hochfrequente Ultraschallsignale aus, die
am umgebenden Gewebe reflektiert werden und dem Arzt ein Schnittbild auf einem Monitor liefern. Der Ultraschallkristall ist meist auf einer dünnen und flexiblen Welle befestigt, die sich in der Katheterhülle dreht und außerhalb des Körpers angetrieben wird. Bei sehr engen
Biegeradien des Katheters lässt sich jedoch die Drehbewegung nicht mehr
gleichmäßig übertragen, sodass Verzerrungen des Ultraschallbilds entstehen.
Anstatt der langen Drehwelle, um den
Katheter von außen anzutreiben, nutzen
wir einen Mikromotor mit lediglich 1,9
Millimetern Durchmesser als Direktantrieb für den Kristall in der Katheterspit-
ze. Ein dreistufiges Mikrogetriebe setzt
die hohe Umdrehungszahl des Motors
von 25 000 auf die erforderlichen 500 Umdrehungen pro Minute um und liefert damit so viel Drehmoment, dass der Kristall mit gleichmäßiger Geschwindigkeit
in einer Flüssigkeit rotiert, wobei er seine
elektrischen Signale über Schleifkontakte
erhält.
Auf der verlängerten Motorwelle befinden sich zwei mit dem Ultraschallkristall verbundene Schleifringe. Die elektrische Anregung des Kristalls erfolgt
über eine sehr dünne Hochfrequenzleitung und zwei Kontaktringe, deren elastische Federn die Schleifringe an mehreren
Stellen des Umfangs kontaktieren und
gleichzeitig auch als Reiblager wirken.
Die gute und kontrastreiche Darstellung des gesamten Systems lässt sich anhand von Ultraschallaufnahmen an einem Gewebephantom demonstrieren.
Hierbei handelt es sich um die Innenecke
eines Schwamms mit ähnlichen akustischen Eigenschaften wie bei biologischem
Gewebe. Das Ultraschallbild gibt die
geometrische Kontur und die Poren im
Schwamm exakt wieder.
Gegenüber Kathetern mit einer langen
und flexiblen Welle weist diese Lösung
eine deutlich bessere Biegsamkeit auf und
ist wegen der verzerrungsfreien sowie ruhigen Bilddarstellung den herkömmlichen Systemen überlegen. Das bildgebende Ultraschallmodul besteht aus Motor- und Getriebeeinheit, Schleifkontak-
14
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
A U C H U LT R A S C H A L L K AT H E T E R N U T Z E N
MIKROANTRIEB
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Wie die Endoskope und Katheter zeigen,
setzt die Entwicklung moderner Produkte ingenieurwissenschaftliches Knowhow aus ganz verschiedenen Gebieten voraus. Um im globalen Wettbewerb zu
konkurrieren, müssen wir daher bei der
Ausbildung unserer Studenten darauf
achten, nicht nur die klassischen Inhalte
zu lehren, sondern den Absolventen des
Maschinenbaus auch fundierte Kenntnisse der Elektrotechnik, der Mikroelektronik, der Optik, der Datenverarbeitung sowie der Werkstoffwissenschaften zu vermitteln.
Wesentlich ist dabei der praktische
Einsatz des erworbenen Wissens bei der
Umsetzung neuer Ideen. Ihre Kenntnisse
in marktfähige Innovationen einzubringen begeistert die jungen Ingenieure und
setzt ungeheure Potenziale frei, insbesondere dann, wenn es gelingt, das neue Produkt durch Patente zu schützen und zu
vermarkten. Voraussetzung dafür ist der
enge Kontakt mit industriellen Partnern
sowie der »Hunger« dieser Partner nach
Innovationen. Unsere Erfahrung zeigt,
dass dies hauptsächlich bei kleinen Unternehmen anzutreffen ist. Sie verfügen
allerdings kaum über einen ausreichenden finanziellen und personellen Rahmen, um den Weg vom Labormuster über
die Prototypen bis zur Markteinführung
mit größeren Stückzahlen durchzuhalten.
Wünschenswert ist daher ein Förderinstrument, das gezielt die Zusammenarbeit der kleinen und mittelständischen
Unternehmen mit den Universitäten unterstützt, Erfolgsanreize für die Studenten
setzt und parallel dazu wichtige Impulse
für die erfolgreiche Ausbildung unserer
Ingenieure liefert. Die Konzentration der
Forschungsförderung auf einige wenige
»Centers of Excellence« verspricht in diesem Zusammenhang kaum Erfolg.
q www.fmt.tu-berlin.de
» TU-Alumni im Porträt
Dr. Andreas Jordan
ist Chief Executive Officer (CEO) der MagForce
Nanotechnologies AG in Berlin. Der 47-jährige Biochemiker studierte an der Freien
Universität und an der Technischen Universität in Berlin. Nach seiner Promotion im
Jahr 1993 entwickelte Jordan ein neues Verfahren zur Bekämpfung von Tumoren mithilfe von Nanopartikeln, die durch hochfrequente Magnetfelder erhitzt werden (Hyperthermie). Es folgten mehrere erfolgreiche Firmengründungen, bis hin zur MagForce
Nanotechnologies AG. Dr. Jordan ist Autor und Koautor von mehr als 800 Fachartikeln,
davon 40 in namhaften Peer-Review-Journalen. Mehr als 40-mal war er als Experte
für Krebsbekämpfung und Hyperthermie im Fernsehen gefragt, unter anderem im ZDF,
bei Spiegel TV und in der BBC. Er hält zwölf Patente. Seine Krebstherapie wird bis
2007 marktreif sein.
q www.magforce.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Zunge an Großhirn …
Forscher spüren kaum messbare elektronische Signale im Gewebe auf
Von Reinhold Orglmeister
I
mmer, wenn wir in einen saftigen Apfel beißen, setzen so genannte Rezeptorzellen auf der Zunge elektrische
Signale ab. Sie werden über Nervenbahnen zum Gehirn geleitet und dort als Geschmack interpretiert. Das Hirn entscheidet, ob wir den Bissen schlucken. In diesem Fall gibt es die entsprechenden Steuersignale an die Muskulatur aus.
Signale spielen im Körper des Menschen eine Schlüsselrolle. Sie werden in
Sensorzellen zum Beispiel für Druck, Geschmack, Temperatur, Licht oder Schall
erzeugt, über Synapsen verschaltet und
zum Gehirn geleitet, um sie zu interpretieren. Das zentrale Nervensystem wiederum reagiert mit Steuersignalen für Muskeln oder Organe.
Die Körpersignale sind meist elektrochemischer Natur. Sie sind also mit
Stromfluss und somit auch mit elektrischen und magnetischen Feldern verbunden.
Die Forscher am Fachgebiet Elektronik und medizinische Signalverarbeitung
(EMSP) der TU Berlin beschäftigen sich
seit über zehn Jahren mit der Erfassung
von Signalen aus dem Körper und über
den Körper. Dazu gehören Nervensignale und Bildsignale.
Die Signale in der Medizintechnik
sind oft nur sehr schwach und weisen
niedrige Werte auf. Sie werden zudem von
vielen anderen Signalen und Störungen
überlagert. So kommt es beispielsweise
bei der Signalübertragung zwischen Nervenzellen des Gehirns zum Fluss von
Strömen, deren elektrische Wirkungen
auf der Kopfhaut als elektrische Potenziale gemessen werden können. Sie liegen
16
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
zwischen zwanzig und fünfzig millionstel
Volt, sind also extrem schwach ausgeprägt. Da sich unser Gehirn in seinen verschiedenen Regionen gleichzeitig mit vielen Vorgängen beschäftigt, gibt es also
viele Quellen, die elektrische und magnetische Signale erzeugen.
Die elektrischen Potenziale versucht
man mit auf der Kopfhaut verteilten
Elektroden beziehungsweise Sensoren als
das so genannte Elektroenzephalogramm
(EEG) zu erfassen. Leider streuen meist
alle Gehirnregionen in alle Elektroden ein.
Auf diese Weise ist das Signal aus einer
Quelle nie separat zu messen, sondern
nur vermischt mit anderen Signalen. Zudem werden auch alle Muskeln durch
Ströme gesteuert. Sie sind teilweise deutlich stärker als die Gehirnströme. Als Beispiel seien die Aktivitäten des Herzmus-
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
kels genannt, die als Elektrokardiogramm
(EKG) gemessen werden.
Da mit Stromfluss stets auch ein Magnetfeld einhergeht, erzeugen Nerven- und
Muskelzellen automatisch auch magnetische Felder. Sie sind jedoch milliardenfach schwächer als das Erdmagnetfeld
und noch wesentlich geringer im Vergleich zu den Magnetfeldern elektrischer
Geräte oder Energieleitungen. Um dennoch die magnetischen Effekte des Gehirns, der Nervenbahnen oder der Muskeln zu messen, muss man den Probanden und die Sensoren gut abschirmen.
Die derzeit weltbeste Abschirmkabine
steht bei der Physikalisch-Technischen
Bundesanstalt (PTB) in Berlin-Charlottenburg. Sie misst zwölf Meter in Höhe,
Breite und Länge, das entspricht einem
Volumen von 1728 Kubikmetern.
Die Abschirmung füllt diesen Raum
fast völlig aus, sodass die nutzbare Messkabine nur noch 2,5 mal 2,5 mal 2,5 Meter misst. Zur Messung der Magnetfelder
im Gehirn kommen supraleitende Quanteninterferometer (SQUID) zum Einsatz.
Ein Messkopf enthält bis zu über 300
Messkanäle, die mit solchen HightechSensoren bestückt sind. Dadurch entsteht
ein vielkanaliges Magnetoenzephalogramm (MEG). In Zusammenarbeit mit
der PTB separieren die Forscher der TU
Berlin die gemessenen Signale und werten sie aus.
Solche vielkanaligen magnetischen
und elektrischen Gehirnmessungen eröffnen neue Methoden für die medizinische Diagnostik. Seit nahezu zehn Jahren beschäftigen sich die Berliner Wissenschaftler mit der so genannten »blinden Quellentrennung«. Sie ermöglicht
es, aus der Überlagerung von mehreren
Signalen die einzelnen Quellsignale zu
extrahieren, selbst dann, wenn sich die
Messwerte der Signale um mehrere Größenordnungen unterscheiden. So können
auch in den Mischungen verschiedener
Signale und Störungen, wie sie in den
MEG-Messkanälen auftreten, die gesuchten schwachen Quellsignale ermittelt werden.
Die »blinde Quellentrennung« lässt
sich auch beim Cocktailparty-Effekt nutzen. Er bezeichnet eine Situation mit mehreren Sprechern und Störgeräuschen in einem Raum, beispielsweise einem Operationssaal. Der einzelne Sprecher ist hier nur
schwer zu verstehen.
IM STIMMENGEWIRR
E I N E R C O C K TA I L PA R T Y
Sollen nun medizinische Apparate wie Insuflatorpumpen, OP-Lampen oder Roboter durch Sprachbefehle des Operateurs
gesteuert oder sollen die Gespräche während der Operation aufgezeichnet werden,
so müssen die einzelnen Stimmen getrennt
und die Störsignale herausgefiltert werden. Nur dann kann ein automatischer
Spracherkenner fehlerfrei seine Aufgabe
erfüllen und die Sprachkommandos in digitale Steuerbefehle für die Maschinen
umsetzen.
Beim Cocktailparty-Effekt bilden besonders die Echos im Raum ein Problem.
Auch hier müssen die Signale mehrkanalig, also mit mehreren Mikrofonen, erfasst
werden, um die Mischungen später zu
trennen. Auf diesem Gebiet erhielten die
Forscher des Fachgebiets an der TU erst
kürzlich ein Patent. Sie programmieren die
umfangreichen mathematischen Algorithmen zur blinden Quellentrennung nicht
nur auf leistungsfähigen Workstations.
TU BERLIN
Das Ziel ist es auch, sie auf Strom sparenden Signalprozessoren laufen zu lassen,
um kompakte und mobile Geräte bauen zu
können. Die von den Forschern der TU
Berlin weiterentwickelten Algorithmen besitzen ein großes Potenzial für Anwendungen – nicht nur – in der Medizintechnik.
Als Beispiele seien digitale Hörhilfen oder
Multielektroden zur Erfassung von Nerven- oder Muskelpotenzialen genannt. Sie
könnten helfen, intelligente Prothesen für
amputierte Arme oder Beine zu steuern.
M I T K AT H E T E R N I N S
KÖRPERINNERE
Speziell auf der Intensivstation und im
Operationssaal werden sehr viele Geräte
eingesetzt, um den Patienten zu überwachen. In manchen Fällen ist es notwendig,
die Signale synchron darzustellen. Als
Beispiel seien Ultraschalluntersuchungen im Inneren von Blutgefäßen genannt.
Dazu werden dünne Ultraschallkatheter
in das Blutgefäß geschoben, um Ablagerungen oder andere Verengungen zu erfassen. Dabei ist es wichtig, dass zur dreidimensionalen Darstellung der Gefäße
nur Ultraschallaufnahmen – so genannte
Schnittbilder – genutzt werden, die unter
gleichen Druckverhältnissen im Gefäß
erzeugt wurden. Mit der Synchronisierung der Blutdrucksignale sowie möglicher anderer Signale mit den genannten
Ultraschallschnittbildern der Gefäße beschäftigt sich ein weiteres Projekt.
Diese Arbeit baut auf einem Projekt
zur automatischen Segmentierung der
Gefäßwände und dreidimensionalen Rekonstruktion aus Ultraschallschnittbildern aus dem Gefäßinneren auf. Dafür
entwickelten die Forscher eine Vorrichtung, um den im Blutgefäß liegenden Ultraschallkatheter mithilfe eines Elektromotors zu bewegen und die Schnittbildaufnahmen je nach Druck an verschiedenen Positionen auszulösen. Die schnelle
Verarbeitung von Bildserien wurde erst
durch die in den letzten Jahren enorm gestiegene preisgünstig verfügbare Rechenleistung möglich. An die Gefäßsegmentierung schließt sich die dreidimensionale Visualisierung an.
q www.ee.tu-berlin.de
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Am Puls des
Patienten
Biegsame Chips überwachen
vitale Körperfunktionen und
senden die Daten zum Hausarzt
Von Herbert Reichl, Klaus-Dieter Lang
und Christine Kallmayer
D
ie Mikroelektronik und das
Internet haben alle Bereiche unseres beruflichen und privaten Lebens verändert.
Die elektronische Kommunikation und
der Datenaustausch über mobile Netze
haben sich rasant entwickelt. Der Mobilfunk und neue, intelligente Endgeräte haben die Bandbreite mobiler Übertragungstechniken stark erweitert: Multifunktionale Handys oder tragbare Assistenten, sprach- und gestengesteuerte
Computer, satellitengestützte Navigationstechnik, Identifikationssysteme für
Personen und Gegenstände des täglichen
Bedarfs, Sicherheits- und Leittechnik im
Automobil, mobile Röntgen- und Diagnosegeräte, intelligente Implantate – all
diese Anwendungen sind durch die Mi-
niaturisierung der Elektronik, durch größere Speicher und höhere Rechengeschwindigkeiten möglich.
Die neuen Produkte müssen jedoch
nicht nur leistungsfähig sein, sondern
auch leicht bedienbar, autonom und mobil. Dies kann nur erreicht werden, wenn
die Systeme extrem klein, leicht, faltbar
und flexibel sind. Auf diese Weise entstehen so genannte Smart Systems, intelligente Systeme, die untereinander kommunizieren können und sich automatisch
aufeinander einstellen.
Nahezu revolutionär wird der Einsatz
dieser Smart Systems in der Medizin sein.
So können zum Beispiel Notärzte und Sanitäter künftig Verletzte an der Unfallstelle umfassend diagnostizieren, indem sie
18
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
mobile Röntgengeräte und miniaturisierte Tomographen nutzen. Per Handynetz,
Internet oder Satellit melden sie die Diagnose und die Maßnahmen der ersten Hilfe an das Krankenhaus, das die Aufnahme der Patienten sofort vorbereiten kann.
Bei Unfällen oder schweren Erkrankungen zählt jede Sekunde, um Leben zu retten. Die Helfer vor Ort nutzen elektronische Bildverarbeitungssysteme und Videokommunikation, um den Fachärzten
im Krankenhaus die Verletzungen und
den Gesamtzustand des Patienten zu
schildern. Die Klinikärzte werten die Informationen aus, leiten die Notversorgung ein, bereiten den Transport, erste
Operationen und die stationäre Aufnahme vor.
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Intelligente Sensoren überwachen permanent den Gesundheitszustand des Patienten. In Kleidung eingewebte Elektroden prüfen fortlaufend den Herzschlag
und nehmen ein EKG auf. Ein im Fingerring versteckter Analysator misst die
wichtigsten Blutwerte. Auf diese Weise
wird es auch möglich, ambulante Patienten rund um die Uhr zu beobachten. Treten ernste Probleme auf, ruft das Monitoringsystem selbstständig über Handy
beim zuständigen Hausarzt an oder – beispielsweise bei Organversagen, Herzattacken oder Schlaganfällen – alarmiert
den nächstgelegenen Notfalldienst. Aus
der elektronischen Patientenakte, auf die
er sofort zugreifen kann, erfährt der Arzt
alle wichtigen Informationen, um die Behandlung einzuleiten.
Im Zentrum des Gesundheitsmonitorings steht der Mensch, als Bürger, Krankenversicherter und Patient. Kombiniert
mit einer elektronischen Gesundheitskarte, auf der die medizinische Vorgeschichte gespeichert ist, kann das Monitoringsystem den Zustand des Patienten überwachen, als Frühwarnsystem reagieren
oder chronisch Kranke ambulant überwachen. Dazu bedarf es noch einer Reihe
von Neuentwicklungen.
HÖCHSTE ZUVERLÄSSIGKEIT
GEFORDERT
Die Schnittstellen zwischen Patienten,
niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen sind festzulegen, um eine durchgängige Informationskette zu garantieren. Noch fehlen teilweise die notwendigen Sensoren, um bestimmte physiologische Parameter zu erfassen. Sie müssen als mikrotechnische
Systeme gefertigt werden. Dazu gehört
auch Software, um die Signale zu verarbeiten und zu analysieren. Um die Kosten
in Grenzen zu halten, müssen die Integration der Sensoren, ihr mikroelektronischer Aufbau, ihre Fertigung und ihre
Montage optimiert werden. Zu guter
Letzt gilt es, die Sensoren und Monitoringsysteme in den Alltag einzuschleusen: in Fahrzeuge, in die Kleidung, in Geräte am Arbeitsplatz oder in Handys.
Um diese Visionen Wirklichkeit werden
zu lassen, arbeiten die Forscher des Fachgebiets Mikroperipherik der TU Berlin
➁
➂
➀
➃
und des Fraunhofer-Instituts für Mikrointegration daran, neue Aufbau- und Verbindungstechniken für die mikroelektronischen Komponenten zu entwickeln. Die
Systeme sind beispielsweise in der Diagnostik sehr komplex und müssen sehr
klein sein, um implantiert werden zu können. Die Anforderungen an die Zuverlässigkeit solcher Module sind ungleich höher als bei anderen Anwendungen.
Es zeichnet sich ab, dass vor allem der
Einsatz von dünnen, flexiblen Mikrochips viele Anwendungen in der Medizin
erst ermöglicht. Bereits gängige Produkte wie Hörgeräte lassen sich damit verbessern. Die elektronischen Kontakte
werden meist gelötet, um die hohen Zuverlässigkeitsanforderungen der Geräte
und besonders hermetisch gekapselter
Implantate deutlich zu erhöhen. Andererseits sind in einzelnen Fällen auch sehr
dünne geklebte Kontakte möglich, die
eine Minimierung des Volumens bei großer mechanischer Flexibilität bieten.
Zukünftig werden in der Medizin auch
neuen Technologien eingesetzt, die derzeit
für autarke Sensornetzwerkknoten in der
Kommunikation erarbeitet werden. So erreichen komplexe Module mit integrierten Sensoren heute weniger als 125
Kubikmillimeter Raum, eingesetzt beispielsweise für Sensorimplantate. Sie
könnten zum Beispiel transplantierte Organe oder künstliche Gelenke im Innern
des menschlichen Körpers überwachen.
Derartige Sensorimplantate müssen
TU BERLIN
möglichst klein sein. Der Körper darf sie
nicht als Fremdkörper betrachten, wenn
kein hermetisches Gehäuse wie beim
Herzschrittmacher möglich ist. Auch bei
Implantaten im Auge oder bei Sensoren
für das Gehirn bietet sich die Flip-Chipon-Flex-Technologie an, um einen miniaturisierten und biegsamen Aufbau zu realisieren. Die Module lassen sich falten
oder zusammenrollen, um sie leichter in
das Auge oder den Schädel einzusetzen.
Die Mikrochips werden vorzugsweise mit
Edelmetallklebern geklebt. Das hat den
Vorteil, dass nur Gold und weitere körperverträgliche Materialien zum Einsatz
kommen.
Die vier Schritte für
die Herstellung eines
Herzschrittmachers
1. Entwerfens des
Materials und der
Baugruppen
2. Herstellung
3. Bestücken der
Elektronik, Montage
der Baugruppen
4. Systemdesign und
Test
S E N S O R E N I M T- S H I R T
Biegsamer Chip aus
dem Fraunhofer-Institut
für Zuverlässigkeit und
Mikrointegration
Ein weiterer technologischer Trend ist die
Integration von Elektronik in Textilien.
Mit der Verfügbarkeit
von leitfähigen Garnen und immer kleineren elektronischen
Bauteilen gelingt es,
die Kleidung und
die Elektronik
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
19
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
so zu verweben, dass die Elektronik für
den Nutzer und den Beobachter völlig
verschwindet. Sensoren, Auswerteelektronik, Sende- und Empfangstechnik können so integriert werden, dass besonders
chronisch kranke Patienten und alte
Menschen medizinisch beobachtet und
durch Notdienste und Ärzte unterstützt
werden. Ihr tägliches Leben wird dadurch
nur geringfügig beeinträchtigt.
Eine nahe liegende Anwendung ist ein
T-Shirt, das Körperwerte misst und weiterleitet. Es kann die Signale direkt an
der Haut abnehmen, ohne den Patienten
zu beeinträchtigen. Weltweit versuchen
Forscher derzeit, ein solches T-Shirt zu
entwerfen, das ein EKG aufnehmen
kann. An der Integration weiterer Sensoren für Blutsauerstoffgehalt, Temperatur, Beschleunigung, Atmung und so
weiter wird ebenfalls gearbeitet. Noch
erreichen die textilen Sensorfelder (Pads)
für das EKG nur in Ansätzen die ge-
wünschte Funktionalität. Die Elektronik
zur Datenübertragung und Datenauswertung muss weiter schrumpfen und
gleichzeitig leistungsfähiger werden.
Das ganze System im T-Shirt muss so beständig sein, dass es sogar die Waschmaschine aushält.
Hier wird wieder die Flip-Chip-Montage auf flexiblen Folien angewendet, die
die benötigte Elektronik inklusive eines
Bluetooth-Anschlusses auf einer Fläche
von zwei mal zwei Zentimetern unterbringt, also ungefähr auf einem gängigen
Heftpflaster. Die Module werden mit leitfähigem Garn an das T-Shirt gestickt und
mit den ebenfalls gestickten Elektroden
verbunden. Anschließend wird das System mit Kunststoff verkapselt, um die
Nutzungsbelastungen (zum Beispiel
beim Waschen) zu erreichen.
q ww.izm.fraunhofer.de
» Einblick
Prüfstelle für Medizinprodukte – Qualität mit Brief und Siegel
An der TU Berlin gibt es eine anerkannte Prüfstelle in erster Linie Rehabilitationshilfen zur Kompensation motofür Medizinprodukte, die Berlin Cert GmbH. Sie prüft und
zertifiziert nach den Vorgaben des Gesetzgebers beispielsweise Prothesen oder medizinische Geräte. Die Prüfstelle wurde 1980 als Nachfolgerin der seit
1916 bestehenden „Prüfstelle für Ersatzglieder“ gegründet. In den ersten Jahren wurden überwiegend Prüfungen nach dem Gerätesicherheitsgesetz durchgeführt, die zur Verleihung des GS-Zeichens führten. Nach dem In-Kraft-Treten
der Medizingeräteverordnung im
Jahr 1986 wurde die Akkreditierung auf bauartzulassungspflichtige Geräte der Gruppe 1 der Medizingeräteverordnung erweitert.
Daneben wurden Prüfungen von
Geräten der Gruppen 3 und 4 der Medizingeräteverordnung durchgeführt, die nicht der Zulassung bedurften.
Die Prüfungen erstreckten sich aber auch auf Medizinprodukte, die nicht in der Medizingeräteverordnung zu finden sind,
20
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
rischer Behinderungen.
Seit 1997 ist die Berlin Cert eine „Benannte Stelle“ für Medizinprodukte gemäß der Richtlinie 93/42/EWG (CE-Kennnummer: 0633). In Kooperation mit dem Fachgebiet Medizintechnik der TU Berlin werden kontinuierlich Qualitätsstandards und Laborprüfverfahren erarbeitet beziehungsweise bestehende Standards überarbeitet. In zunehmendem Maße nutzen die Kunden der Berlin Cert GmbH auch die Möglichkeit,
ihre Produkte in den über 350 Quadratmeter großen Laborräumen überprüfen zu lassen, um sie danach im Hilfsmittelverzeichnis zu registrieren. Hierzu gehört neben der sicherheitstechnischen Produktprüfung meist auch die Überprüfung des
Risikomanagement-Planes und die klinische Bewertung.
Für den Hersteller ergeben sich dadurch Vorteile bei der Zulassung des Produktes auch in Ländern außerhalb der EU,
zum Beispiel in den USA. Die Berlin Cert GmbH hat 15 Mitarbeiter, die neben den Medizinprodukten auch Qualitätsmanagementsysteme nach DIN EN ISO 13485 zertifizieren (siehe
auch den Beitrag auf Seite 12).
q www.berlincert.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
» TU-Alumni im Porträt
Dr.-Ing. Kai Desinger
ist Vorstandsvorsitzender der Celon AG
medical instruments. Er hat die so
genannte bipolare Radiofrequenz-induzierte Thermotherapie (RFITT) entwickelt,
bei der krankes oder überschüssiges
Gewebe gezielt thermisch zerstört wird.
Bereits während seines Maschinenbaustudiums an der TU Berlin kam der heute
40-Jährige mit der bipolaren Hochfrequenzchirurgie in Berührung. Seine
wissenschaftliche Karriere begann im
Berliner Laser- und Medizin-Zentrum, wo er
schnell zum Bereichsleiter für »Biomedizinische Technik und Minimal-Invasive
Technologien« aufstieg. 1998 schloss er
seine Promotion mit Auszeichnung ab. Ein
Jahr später gründete er die Celon AG. Mit
einem überzeugenden Businessplan und
einer Vielzahl von Patenten konnte er
Privatinvestoren gewinnen. Im März 2000
startete Kai Desinger im brandenburgischen Teltow mit vier Mitarbeitern durch.
Im Mai 2004 erwarb das Blue-Chip-Unternehmen Olympus die Aktienmehrheit an
der Celon AG. Als Tochterunternehmen des
führenden Herstellers opto-digitaler Technologien ist Celon in Teltow seit September
2005 weltweites Olympus-Kompetenzzentrum für Forschung, Entwicklung und
Produktion neuer medizinischer Hochfrequenztechnologien. Heute beschäftigt
die Celon AG rund 40 Mitarbeiter.
q www.celon.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Mit Hand
und Fuß
Exoskelette unterstützen Schenkel,
Knie oder Hände
Von Christian Fleischer, Andreas Wege und
Günter Hommel
A
n der TU Berlin arbeiten Forscher an so genannten Exoskeletten. Der
Begriff ist aus der Biologie entliehen und
beschreibt Skelette, die den Körper von
außen stützen wie bei Insekten oder
Krebsen. Höhere Lebewesen besitzen Endoskelette, sie sind im Körper integriert,
als inneres Gerüst. Das Ziel der Wissenschaftler ist es, Menschen zu unterstützen, wenn sie durch Krankheit oder Unfall in ihren Bewegungen eingeschränkt
sind.
Bereits die antike Sagenwelt kennt Helden, die mit übermenschlichen Kräften heroische Taten vollbringen. In Science-Fiction und in Hollywoods Filmen werden
diese Kräfte häufig durch besondere Kleidung oder Ausrüstung bereitgestellt. So
verbreitet dieses Thema in der Unterhaltungsbranche auch ist, es gibt weltweit
nur wenige Forschergruppen, die sich damit beschäftigen. Serienmodelle zur aktiven und mobilen Unterstützung des Körpers sind nicht auf dem Markt. Dabei
gäbe es zahlreiche Anwendungen für Exoskelette: Menschen, deren Bewegungsmotorik durch Krankheit oder einen Unfall
eingeschränkt ist, könnten in der Rehabilitationsphase aktiv unterstützt und geführt werden. Gesunden Menschen könnten sie als Trage- oder Ausdauerhilfe bei
der Arbeit oder in der Freizeit dienen. Ältere Menschen könnten in Alltagssituationen von ihnen Gebrauch machen, etwa
beim Treppensteigen. Bei Computerspielen könnten sie helfen, dem Spieler die virtuellen Kräfte und Beschleunigungen
fühlbar zu machen.
22
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
Im Fachgebiet Robotik der TU Berlin
arbeiten die Wissenschaftler zurzeit an
zwei unterschiedlichen Exoskeletten: Ein
Modell umschließt Ober- und Unterschenkel und kann das Kniegelenk aktiv
unterstützen. Das andere Modell wird
wie ein Handschuh übergestreift und
kann jedes einzelne Fingerglied bewegen.
Obwohl beide Projekte in der Robotik angesiedelt sind, liegt das Hauptaugenmerk
doch auf dem Rehabilitationsprozess von
Patienten, was ein stark interdisziplinäres Arbeiten erfordert.
AUF DIE BEINE KOMMEN
Die Grundlage für die mechanische Konstruktion des Skeletts liefert eine handelsübliche Orthese, wie sie Medizintechniker nutzen. Diese Orthesen werden direkt
vom Bein des Patienten abgeformt, um
optimalen Tragekomfort zu bieten. Sie
stabilisieren das Kniegelenk, etwa nach
einer Operation oder um die Folgen einer
Krankheit oder angeborenen Fehlstellung zu lindern.
Ausgestattet wurde diese Orthese nun
mit einem Linearantrieb, der die Schalen
des Oberschenkels und Unterschenkels
miteinander verbindet. Mithilfe eines integrierten Elektromotors ändert dieser
Antrieb seine Länge, indem er einen Kolben ausfährt. Dadurch wird eine Beugung oder Streckung des Kniegelenks bewirkt. Ein Computer übernimmt die
Steuerung des Elektromotors und fährt
die gewünschte Bewegung ab.
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Doch woher weiß der Computer, welche Bewegung gewünscht ist? Die
Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist ein zentrales Problem dieser
Technik: Sie muss fehlerfrei erkennen,
welche Bewegung durchgeführt werden
soll (aufstehen, hinsetzen, laufen, Treppen steigen …). Sie muss robust sein gegen äußere Einflüsse durch Bodenkontakt, Anfassen eines Geländers oder Erschütterung. Werden diese Bedingungen
nicht erfüllt, so kann es im günstigsten
Fall zu einer holprigen Bewegung führen.
Im schlimmsten Fall könnte der Träger
der Orthese stürzen und sich verletzen.
Informationen detailliert genug abgeleitet
werden. Hat sich der Muskel erst einmal
angespannt und eine Bewegung ausgeführt, könnte mithilfe eines Kraftsensors
zwischen dem Bein des Patienten und
dem Exoskelett diese Bewegung analysiert werden, allerdings stark gestört
durch äußere Einflüsse.
Glücklicherweise gibt es aber eine weitere Möglichkeit: Wird ein Muskel angespannt, so ist auf der Haut oberhalb des
Muskelkörpers eine leichte elektrische
Spannung messbar, nur wenige Mikro-
vität des Muskels rechtzeitig signalisieren. Ein Computer fragt sie tausendmal
in der Sekunde ab, filtert die Ergebnisse
und wertet sie aus. Die gewünschte Bewegung wird berechnet und an einen
Regler weitergegeben, der den Motor antreibt: Das Knie bewegt sich.
Leider kann man damit keinem Patienten helfen, dessen Beine gelähmt sind. In
solchen Fällen sind das Gehirn oder die
Nervenbahnen auf dem Weg zum Muskel
bereits geschädigt. Die Informationskette ist vor den Sensoren innerhalb des
volt. Diese Spannung ist umso höher, je
stärker der Muskel angespannt wird. Dabei muss nicht einmal eine Bewegung
ausgeführt werden: Der Muskel kann zu
schwach oder die Bewegung durch Hindernisse eingeschränkt sein. Dennoch
lässt sich daraus der Wunsch nach einer
Bewegung erfassen.
Beim Exoskelett am Bein sind an den
wichtigsten Oberschenkelmuskeln spezielle Sensoren angebracht, die eine Akti-
Menschen unterbrochen. Noch fehlt einiges, um die angetriebene Orthese – das
Exoskelett – einem Patienten ans Bein zu
binden oder Versuche damit durchzuführen: Die Handhabung muss vereinfacht
werden und bestimmte Mechanismen
müssen sicherstellen, dass der Patient geschützt ist und ihn keine Fehlfunktion in
Mitleidenschaft zieht. Bislang wurden
die Modelle nur an gesunden Testpersonen geprüft.
M U S K E L S PA N N U N G : N U R
W E N I G E M I K R O V O LT
Zudem bleibt wenig Zeit für die Erkennung der gewünschten Bewegung: Innerhalb weniger Millisekunden müssen die
gewünschte Richtung und Bewegungsstärke erkannt werden. Eine Verzögerung
etwa beim Laufen könnte dazu führen,
dass der Fuß nicht rechtzeitig auf den Boden gesetzt wird und dadurch die Körperbalance kippt. Das wäre ein kleiner Fehler, aber mit schwerwiegenden Folgen.
Deshalb muss das System in Echtzeit arbeiten. Das heißt: Die Berechnungen
müssen innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne abgeschlossen sein.
Aber wo genau müsste eine solche
Schnittstelle beim Menschen ansetzen?
Die Bewegungen des Menschen sind oft
hoch dynamisch. Um sie zu überwachen,
ist ein so genanntes intuitives Interface
notwendig.
Das Gehirn kennt die gewünschte Bewegung, nimmt die Umgebung wahr,
etwa den Bodenkontakt durch die Fußsohle oder den Rempler eines ungestümen Passanten, und kontrolliert das eigene Gleichgewicht. Über die Nervenbahnen werden die Muskeln aktiviert, die
sich anspannen und zusammenziehen,
sodass die gewollte Bewegung entsteht.
Innerhalb dieser Kette muss eine technische Unterstützung die Bewegung erkennen, je früher und genauer, desto besser.
Leider sind die Techniken zur Auswertung der Gehirnaktivitäten noch nicht
weit genug fortgeschritten, um dort direkt den Bewegungswunsch abzulesen.
Auch aus den Nervenbahnen können die
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Mechatronisches
Exoskelett für die
menschliche Hand,
entwickelt und
getestet an der
TU Berlin
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Da die Bandbreite der Schädigung von
Patienten sehr groß ist, muss sich im
Rahmen von Studien zeigen, für welche
Gruppe eine Anwendung tatsächlich
möglich und sinnvoll ist, denn das Exoskelett stellt relativ hohe Ansprüche: Der
Orthesenträger muss selbstständig in der
Lage sein, das Gleichgewicht zu halten
und die nicht unterstützten Gelenke entsprechend zu bewegen. Ist dies aber erst
einmal gegeben, können realitätsnahe
Bewegungen eingehend trainiert werden,
um die ursprüngliche Mobilität wieder zu
erlernen. Daran anschließend kann das
System mit den traditionellen Rehabilitationsmethoden verglichen werden, um zu
sehen, inwiefern mit seiner Hilfe Verbesserungen erzielt werden können.
K R Ä F T I G Z U PA C K E N : T R O T Z
FILIGRANER TECHNIK
Auch das Exoskelett für die Hand und die
Finger ist vorwiegend für die Rehabilitation gedacht. Die Befestigung an der
Hand wird ähnlich wie die am Bein von
einem Orthopädietechniker gefertigt.
Aufgrund des begrenzten Platzes und der
vielen möglichen Bewegungen, die ein
Mensch mit der Hand ausführen kann,
sind die Antriebe im Unterschied zum
Exoskelett am Bein jedoch nicht direkt an
den Gelenken untergebracht. Die einzel-
nen Gelenke werden deshalb über
Bowdenzüge bewegt. Diese Bowdenzüge
sind ähnlich denen, wie man sie von der
Fahrradbremse kennt. Ein solcher Seilzug erlaubt jedoch nur, Zugkräfte zu
übertragen. Um eine Bewegung der Fingergelenke in beiden Richtungen zu ermöglichen, werden jeweils zwei Bowdenzüge pro Fingergelenk verwendet: einer,
um das Gelenk zu strecken, und einer, um
es zu beugen. Motoren, die neben der
Hand aufgestellt werden, ziehen an den
Bowdenzügen und erlauben es, bis zu
vier Freiheitsgrade für jeden Finger anzusteuern.
Für das Bewegen der Finger durch den
Computer sind natürlich noch Sensoren
notwendig. Sie erfassen die Winkel der
Fingergelenke. Mit dieser Rückmeldung
ist es dem Computer möglich, nahezu beliebige Bewegungsmuster der Hand zu
erzeugen.
Wie könnte man nun ein solches Gerät
in der Rehabilitation einsetzen? Heutzutage wird die Rehabilitation von Handverletzungen manuell von Physiotherapeuten durchgeführt. Das Ziel dieser Therapie ist es zum Beispiel, eine Vernarbung
zu verhindern, die sonst eine freie Bewegung der Gelenke behindern könnte. Die
Physiotherapeuten werden auch durch so
genannte Bewegungsschienen unterstützt. Diese Geräte bewegen die Finger
der Hand ähnlich wie das Exoskelett in
vorgegebenen Bahnen. Leider sind sie jedoch nicht individuell für die einzelnen
Fingergelenke wählbar. Dies wäre nur
durch ein speziell angepasstes Exoskelett
möglich. Weitere Sensoren zum Messen
der Kräfte können zusätzliche Rückmeldung über den Fortschritt des Patienten
liefern. Außerdem wäre über das Auswerten dieser Daten auch eine automatische
Anpassung der Übungen an den RehaFortschritt des Patienten denkbar. Letztendlich soll das Exoskelett auch das Wiedererlernen komplexer Bewegungsabläufe unterstützen, wie es zum Beispiel nach
Schlaganfällen notwendig ist.
Bis das Exoskelett für die Hand an
Patienten erprobt werden kann, muss
jedoch noch einiges an Entwicklungsarbeit geleistet werden. Ähnlich wie beim
Bein muss die Sicherheit der Patienten
garantiert werden. Mit einer gesunden
Hand ist es möglich, ungewollten Bewegungen durch eventuelle Fehlfunktionen zu widerstehen. Für Patienten muss
dies jedoch nicht gelten. Auch muss die
Bedienung für Ärzte und Patienten vereinfacht werden. Ein Traum wird es vorerst jedoch bleiben, mit dem Exoskelett
Klavier zu spielen. Dabei würde die
komplexe Mechanik des Gerätes zu
sehr stören.
q www.cs.tu-berlin.de
» Einblick
An der Schnittstelle zum Nutzer
Mitte der 90er-Jahre gründete die TU Berlin das
Zentrum Mensch-Maschine-Systeme (ZMMS), um die Forschungen an der Nahtstelle zwischen Technik und Nutzer zu intensivieren. Das Zentrum verbindet die klassischen Ingenieurdisziplinen mit den Humanwissenschaften. Gleichzeitig wurde
die Einrichtung des Fachgebietes Mensch-Maschine-Systeme
beschlossen. Im ZMMS werden Forschungsvorhaben aufgenommen, die durch Dritte gefördert werden, etwa die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) oder die Industrie. Die Forscher erhalten Räume und Kommunikationstechnik. Bisher liefen Vorhaben zu Berichtssystemen, Verlässlichkeit und Sicherheitsmanagement, Entscheidungsanalyse und Unterstützungssystemen, Kognitiver Modellierung und Kompetenzentwicklung, Sprachverarbeitung und multimodalen Schnittstellen und
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Systemevaluation. Zurzeit arbeitet am ZMMS die Forschergruppe »Mensch-Maschine-Interaktion in kooperativen Systemen der Flugsicherung und Flugführung«, die von der DFG finanziert wird. Die Volkswagen-Stiftung fördert eine Nachwuchsgruppe zu »Methoden zur Bedienermodellierung in dynamischen Mensch-Maschine-Systemen«. Im Herbst 2004
startete das Graduiertenkolleg »Prospektive Gestaltung von
Mensch-Technik-Interaktion«, das gleichfalls von der DFG unterstützt wird. Alle drei Jahre unterzieht sich das ZMMS der Bewertung durch internationale Gutachtergruppen. Deren Empfehlungen entsprechend beschloss die TU Berlin im Frühjahr
2004, das ZMMS mindestens bis 2007 fortzuführen.
q www.zmms.tu-berlin.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
» TU-Alumni im Porträt
Dr.-Ing. Michael Hasenpusch
ist seit Mai 2001 Chief Technology Officer der Otto Bock HealthCare GmbH in Duderstadt.
Dort zeichnet er für Forschung und Entwicklung verantwortlich. Sein Rüstzeug erwarb er sich zwischen 1982 und 1989 bei einem Studium der Feinwerktechnik an der TU Berlin. Danach forschte er fünf Jahre lang an der Universität, wo er auch promovierte. Von 1995 bis 1998 führte er die Geschäfte
der HASCI Ingenieurgesellschaft GmbH in Berlin. Seit September 1998 ist er auch Technischer Leiter bei der Otto Bock Orthopädische Industrie GmbH &
Co. in Duderstadt. Die Otto Bock HealthCare Gruppe ist ein weltweit führender Anbieter von innovativen Produkten für Menschen mit eingeschränkter
Mobilität. Mit qualitativ hochwertigen und technologisch ausgefeilten Produkten und Dienstleistungen trägt sie dazu bei, dass Menschen ihre
Bewegungsfreiheit erhalten oder wiedererlangen. Im Jahr 2005 erwirtschaftete die Firmengruppe rund 434 Millionen Euro Umsatz, mit knapp 3600
Mitarbeitern weltweit.
q www.ottobock.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
D
er in der Sozialgesetzgebung
verankerte Anspruch auf eine »dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten« steht im Konflikt mit seiner Finanzierung. Die Einführung des neuen Entgeltsystems auf der
Basis von Fallpauschalen führt zu einer
verstärkten Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit: Die Kostenträger erstatten
nicht die tatsächlichen Ausgaben für medizinische Leistungen, sondern einen diagnoseabhängigen Festbetrag. Leistungserbringer, denen es gelingt, medizinische Maßnahmen preiswert bei gleicher
oder sogar steigender Qualität anzubieten, können einen Gewinn verbuchen.
Andere arbeiten unwirtschaftlich und
werden langfristig nicht bestehen können.
Die Grenze der »fachlich gebotenen
Qualität« ist nicht immer genau zu definieren. Sie wird mit dem medizinischen
Fortschritt immer weiter verschoben. Um
bei gleichen Kosten eine immer bessere
Versorgung zu gewährleisten, muss die
Behandlung effektiver werden. Man
kann dazu die Kosten von Arzneimitteln
und eingesetzten technischen Geräten
senken oder die Behandlungs- und Pflegezeiten bzw. den Personalaufwand reduzieren.
U LT R A S C H A L L R E I N I G T
GERÄTE
Mit spitzen Fingern
an die Geräte
Moderne Medizinprodukte müssen nicht nur technisch
ausgereift sein, sondern wirtschaftlich in ihrer Nutzung
Von Marc Kraft
26
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
Eine Senkung der Kosten eines Gerätebzw. Instrumenteneinsatzes pro Behandlung ist durch die Ausschöpfung
aller Möglichkeiten der Aufbereitung
und des erneuten hygienisch und funktionell sicheren Einsatzes erreichbar.
Mehrere Forschergruppen des Zentrums für innovative Gesundheitstechnologie der TU Berlin haben ihre Aktivitäten auf die Entwicklung derartiger
Kreislaufprozesse für Medizinprodukte
konzentriert.
Zu den Medizinprodukten, die besonders hohe Anforderungen an ihre Aufbereitung stellen, gehören zahlreiche Instrumente der Chirurgie, auch so genannte
Langschaftinstrumente für die minimal
invasive Chirurgie. Ihre Reinigung kann
kritisch sein, da sie enge und lang gestreckte, oft nicht einsehbare Hohlräume
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
enthalten, in denen sich
Krankheitserreger befinden
können.
Die mechanische Reinigung
von Oberflächen, auch innerhalb von Hohlräumen, lässt
sich beispielsweise durch Ultraschall verbessern. Je nach Intensität oder Frequenz entstehen lokale Druckdifferenzen,
die Verunreinigungen lösen.
Innerhalb eines durch die
Vanguard AG finanzierten Forschungsprojektes am Fachgebiet Medizintechnik werden
derzeit solche neuen ultraschallgestützten Reinigungsverfahren entwickelt. Neben der bisher
üblichen Reinigung in Tauchbädern soll
der Ultraschall auch in anderen Automaten zur Reinigung und Desinfektion nutzbar gemacht werden, ohne die Instrumente und ihre Oberfläche zu beschädigen.
Zu lösen ist bis dahin unter anderem die
Frage, wie der Ultraschall in diesen Automaten erzeugt oder die Sonotrode untergebracht wird. Auch die Schallübertragung und ihre Wirkung auf die Oberflächen verschiedener Materialien gilt es zu
erforschen.
Zur Aufbereitung von Medizinprodukten gehört der Nachweis, dass sie uneingeschränkt und sicher funktionieren, in der
Regel durch spezielle Prüfverfahren. Die
Entwicklung derartiger Prüfverfahren war
und ist der Inhalt weiterer Forschungsprojekte im Auftrag der Vanguard AG. So
konnten die Medizintechniker der TU Berlin ein Gerät für die elektrische Funktionsprüfung von Elektrophysiologie- und Ablationskathetern fertig stellen und übergeben. Eine Vorrichtung für die Vermessung
und Bildqualitätsprüfung von verschiedenen Ultraschallkathetern befindet sich in
der Entwicklung.
WIE ÜBERPRÜFT
MAN HYGIENE?
Auch die Überprüfung der hygienischen
Sicherheit nach der Reinigung besitzt
noch erhebliche Optimierungspotenziale.
Bisher wird dabei mit verschiedenen Lösungsmitteln gearbeitet. Zum Einsatz
kommen mikrobiologische oder nasschemische Verfahren. Eine deutliche Verein-
» Einblick
Gesundheitsstadt mit
internationalem Glanz
Berlin kann auf eine lange medizinische Tradition
fachung könnte man durch optische
Messverfahren erreichen, die die Oberflächen auf Kontaminationen scannen, etwa
durch Nutzung von Fluoreszenz oder optischer Absorption. Solche Verfahren
könnte man zugleich in der Pharma- und
in der Lebensmittelindustrie einsetzen.
Die Entwicklung dieser Technologie ist
Gegenstand eines geplanten Verbundprojektes, an dem sich drei Fachgebiete der
TU Berlin beteiligen. Das Projekt wird
im Rahmen des Förderprogramms »Innovationen als Schlüssel für die Nachhaltigkeit in der Wirtschaft« beim Bundesforschungsministerium beantragt.
Neben der Aufbereitung von Instrumenten und Geräten bieten auch medizinische Großgeräte erhebliche Potenziale,
um durch Kreislaufprozesse Kosten einzusparen. Dies betrifft insbesondere
bildgebende Systeme, wie Computertomographen (CT), Magnetresonanztomographen (MRT) und Röntgenanlagen. Durch geeignete Produkt- und Produktionsgestaltung sowie durch Strategien und Prozesse zur Aufbereitung, Demontage und Remontage können medizintechnische Großgeräte in neue Nutzungszyklen überführt und neue Märkte
für preisgünstige Geräte zum Beispiel in
Entwicklungsländern erschlossen werden. Neben dem Wirtschaftlichkeitsgebot und der Qualitätssicherung ist auch
die Abfallvermeidung bei der Aufbereitung und dem Wiedereinsatz von Medizinprodukten von erheblicher Bedeutung.
zurückblicken. Berühmte Ärzte wie Rudolph Virchow, Emil
von Behring, Robert Koch und Paul Ehrlich wirkten in der
Stadt und haben Medizingeschichte geschrieben. Sie begründeten den Ruf Berlins als internationales Zentrum der
medizinischen Lehre und Forschung, der Medizintechnik,
der Krankenversorgung und pharmazeutischen Industrie.
Auch mit zahlreichen Hospitälern ist der Ruf Berlins als
Zentrum des Gesundheitswesens eng verbunden. Stellvertretend ist die Charité zu nennen, das größte Forschungskrankenhaus Europas. Sie wurde 1710 gegründet. Hier
arbeiteten unter anderem berühmte Wissenschaftler wie
Johannes Müller, Emil Du Bois-Reymond, Hermann von
Helmholtz, Christoph Hufeland, Albrecht von Graefe und
Ferdinand Sauerbruch.
Vierzehn Nobelpreisträger aus der klinischen Medizin,
Physiologie und Chemie hatten und haben enge Verbindungen zur Berliner Medizin, unter anderem Emil von Behring
(Nobelpreis 1901), Robert Koch (1905) und Paul Ehrlich
(1908). Der Elektrotechniker Ernst Ruska erfand 1931 in Berlin das Elektronenmikroskop.
q www.berlin-gesundheitsstadt.de
q www.ikmm.tu-berlin.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Forschungen durch Mark
und Bein
Titanlegierungen sollen verhindern, dass Implantate vorzeitig versagen
Von Claudia Fleck
D
ie Medizin hat im letzten
Jahrhundert große Fortschritte gemacht.
Krankheiten, die früher lebensbedrohlich
waren, sind heute heilbar. Veränderte Lebensbedingungen und höhere Lebenserwartung rücken jedoch Krankheiten in
den Vordergrund, denen früher eine geringere Bedeutung zukam. Hierzu gehören beispielsweise Erkrankungen und
Verletzungen des Bewegungsapparates,
die heutzutage im Vergleich mit konservativen Behandlungsmethoden oft besser
mit Implantaten versorgt werden.
Darunter versteht man Bauteile, die
für einen bestimmten Zeitraum oder dauerhaft die Funktion geschädigter Organe
im Körper übernehmen. Mit großem Erfolg werden beispielsweise Knochenbrüche mit Metallplatten geschient oder
schmerzhafte Hüft- oder Kniegelenke
durch Prothesen ersetzt. Trotz verbesserter Operationstechniken, Implantatwerk-
stoffe und Implantatkonstruktionen kann
es noch immer passieren, dass Implantate vorzeitig versagen.
Das menschliche Skelett und damit die
Implantate sind hohen Beanspruchungen
bis zum Sechsfachen des Körpergewichts
ausgesetzt. Knochen sind in idealer Weise an diese Belastungen angepasst. Sie
haben Strukturen, in denen die maximale
Festigkeit in Belastungsrichtung durch
minimalen Materialeinsatz erreicht wird.
Dies zeigt sich besonders deutlich an den
Knochenbälkchen der Knochensubstanz
(Spongiosa), die sich entsprechend den
vorherrschenden Kraftlinien ausrichten.
Doch auch die mikroskopische Knochenstruktur selbst passt sich der Beanspruchung an. Forschungen an der TU
Berlin zielen darauf, die Reaktion des
Knochens auf die Implanate besser zu
verstehen. Knochen lässt sich als komplexer Verbundwerkstoff beschreiben, bei
28
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
dem sehr dehnbare Eiweißstrukturen, so
genannte Kollagenfasern, in einer organischen Matrix eingebettet und mit mineralischen Kristallen aus Calciumphosphat
verstärkt sind. Die Kollagenfasern verleihen dem Knochen seine Dehnbarkeit und
Zugfestigkeit, die Mineralpartikel die
Druckfestigkeit. Entsprechend sind die
Kollagenfasern in überwiegend zugbeanspruchten Knochenbereichen parallel, in
druckbeanspruchten senkrecht zur Lastrichtung ausgerichtet. Es ergeben sich lokal angepasste Werte für Steifigkeit und
Festigkeit des Knochens.
Durch das Einbringen eines Implantats werden die im Knochen herrschenden Belastungen in einer Weise verändert, die kaum noch den natürlichen Gegebenheiten entspricht. Die heute eingesetzten Implantatwerkstoffe sind in der
Regel wesentlich steifer als der Knochen,
sodass dieser von den auftretenden Las-
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
ten regelrecht abgeschirmt wird. Zum Erhalt seiner Funktionsfähigkeit muss der
Knochen jedoch innerhalb enger physiologischer Grenzen wechselnd beansprucht werden. Liegen die auftretenden
Lasten sowohl oberhalb als auch unterhalb dieser Grenzen, baut sich der Knochen von selbst ab.
So kann beispielsweise nach dem Entfernen einer Frakturplatte an einem gerade verheilten Knochen ein Ermüdungsbruch auftreten, da die Platten – zu Anfang des Heilungsprozesses erwünscht –
einen großen Teil der Last tragen. Im Falle von Endoprothesen, zum Beispiel
künstlichen Hüftgelenken, kommt noch
hinzu, dass sich an der Grenzfläche zwischen Implantat und Knochen eine Bindegewebsschicht bildet. Sie entsteht als
natürliche Reaktion des Körpers auf Abriebpartikel, Mikrobewegungen oder
mangelhafte Biokompatibilität des Implantats. Ihre Dicke nimmt im Laufe der
Zeit zu, während ihre mechanische Festigkeit abnimmt. In der Folge lockern sich
beispielsweise Hüftenendoprothesen vor
allem im gelenknahen Bereich, was im
schlimmsten Fall zum Ermüdungsbruch
des Prothesenschaftes führt.
Zur Erhöhung der Lebensdauer von
Implantaten ist es deshalb notwendig, die
Eigenschaften des Knochens, der Implantatwerkstoffe und des Knochen-Implantat-Verbundes unter zyklischer Beanspruchung zu kennen. Eine dauerhafte
Verankerung des Implantats im Knochen
ist nur möglich, wenn die Reaktionsweise des Knochens auf wechselnde, so genannte Ermüdungsbeanspruchungen bekannt ist.
MÜDE FUSSKNOCHEN
Ermüdungsuntersuchungen an Knochen
sind auch aus anderen Gründen wichtig.
Beispielsweise treten bei Rekruten nach
langen, ungewohnten Märschen, bei Marathonläufern oder bei jungen Rennpferden Ermüdungsbrüche der Fußknochen
auf. In den oben genannten Fällen reicht
die Regenerationsgeschwindigkeit des
Knochens offensichtlich nicht aus, um die
durch die wechselnde Beanspruchung
hervorgerufenen
mikrostrukturellen
Schädigungen rechtzeitig zu kompensieren. Ein Ermüdungsversagen wird im We-
sentlichen durch die Bildung und die Ausbreitung von mikroskopisch kleinen Rissen an den inneren Grenzflächen des
Knochens ausgelöst. Darüber hinaus
wird der Knochen durch die Umbauvorgänge, die unter Umständen von diesen
Mikrorissen ausgelöst werden und der
Reparatur dieser Schäden dienen, zunächst lokal geschwächt. Abgestorbener
Knochen weist diese Regenerationsfähigkeit nicht mehr auf. Dadurch kommt es,
zum Beispiel im Falle einer Hüftkopfnekrose, nach zirka zwei Jahren zum Ermüdungsbruch des Oberschenkelhalses.
Detaillierte mikrostrukturelle Erkenntnisse bezüglich der Ermüdungseigenschaften auch des toten Knochens sind
deshalb notwendig, um eine Schädigung
rechtzeitig zu diagnostizieren und zu bewerten. Darauf aufbauend können dann
therapeutische Maßnahmen festgelegt
werden, um ein katastrophales Versagen
des Knochens zu vermeiden.
HOHE LASTEN TRAGEN
Auch die orthopädischen Implantate
müssen die hohen und zeitlich veränderlichen Lasten in stark korrosiver Umgebung ohne Bruch ertragen. Aufgrund ihrer plastischen Verformbarkeit, die eine
Sicherheit gegen plötzliches sprödes Versagen bietet, werden lasttragende Strukturen von Implantaten in erster Linie aus
Metalllegierungen gefertigt. Im orthopädischen Bereich kommen neben Memorylegierungen überwiegend rostfreie Stähle, Kobaltbasislegierungen sowie Titan
und Titanlegierungen zum Einsatz. Titanwerkstoffe zeichnen sich hierbei durch
ihre herausragende Bioverträglichkeit,
ihre sehr gute Korrosionsbeständigkeit
und ihre hohe mechanische Belastbarkeit
aus. Die beiden erstgenannten Eigenschaften sind im Wesentlichen auf eine
sehr fest anhaftende, wenige Nanometer
dicke Oxidschicht zurückzuführen. Vorteilhaft für medizinische Anwendungen
ist, dass sich diese Passivschicht nach einer Verletzung, wie sie während einer
Operation aufgrund von Reibung am
Knochen oder Kontakt mit Instrumenten
kaum vermeidbar ist, sogar in Medien
mit einem sehr geringen Sauerstoffgehalt
innerhalb von Millisekunden neu aufbaut.
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Ziel der TU-Forscher
ist die Erhöhung der
Lebensdauer von
Implantaten, wie von
künstlichen Hüftköpfen
(S. 28) oder künstlichen Kniegelenken
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Um einem Verschleiß der Oxidschicht
während des Einbaus oder der Beanspruchung sowie einer Ermüdungsschädigung durch die physiologische Beanspruchung vorzubeugen, kann es wünschenswert sein, die natürliche Oxidschicht zu
verdicken. Dies ist möglich, indem der Titanwerkstoff bei hohen Temperaturen in
sauerstoffhaltiger Atmosphäre geglüht
oder in geeigneten Elektrolytlösungen
anodisch oxidiert wird. Die Struktur dieser Schichten ist in rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen gut zu erkennen. Die thermische Oxidation führt
zu einer sehr feinen, glatten Oxidschicht.
Auch die anodisch oxidierte Schicht ist
sehr gleichmäßig, weist aber kleine Poren
auf.
Die mechanische Beständigkeit der
Schichten lässt sich untersuchen, indem
man sie in quasiphysiologischen Medien
vorsichtig anritzt. Thermisch oxidierte
Schichten verhalten sich eher spröde,
platzen im Verformungsbereich der Ritzspur partiell ab und bilden zahlreiche Ris-
se. Anodische Schichten verformen sich
mit dem darunter liegenden Metallsubstrat. Die durch das Anritzen freigelegte
Metalloberfläche reagiert mit dem Umgebungsmedium. Enthält diese Lösung Calcium- und Phosphationen, so werden diese in die neue Oxidschicht eingebaut.
Dieser Einbau von körpereigenen Ionen
in die Oxidschicht spielt eine wichtige
Rolle bei der Ausbildung der Grenzfläche
zum Knochen, da sie eine direkte Anbindung von Proteinstrukturen des Knochens ermöglichen.
SCHICHTEN VORSICHTIG
ANRITZEN
Wird das Implantat wechselnd belastet,
wird auch die Passivschicht zyklisch gedehnt und dadurch aktiviert. Außerdem
können sich bei verformungsfähigen Metalllegierungen bei einer Ermüdungsbeanspruchung Verformungsspuren auf der
Oberfläche ausbilden, an denen die Er-
müdungsrissbildung beginnt. Diese Prozesse können durch Potenzial- und
Strommessungen nachgewiesen werden.
Neben der korrosiven und der Ermüdungsbeanspruchung müssen insbesondere Implantate im Knochenkontakt
auch Reibung und Verschleiß ertragen,
die an allen Grenzflächen im ImplantatGewebe-System, also an der Grenzfläche zwischen dem Knochen und dem
Implantat, aber auch zwischen verschiedenen Komponenten des Implantats
selbst auftreten. Aufgrund der Verschleißprozesse entstehen Partikel, die
zu einer Fremdkörperreaktion führen
können. Diese Partikel entstehen insbesondere auch an künstlichen Gelenkflächen, wie beispielsweise zwischen Kopf
und Pfanne eines künstlichen Hüftgelenks, und werden für die Lockerung von
Hüftendoprothesen verantwortlich gemacht.
q www.tu-berlin.de/fak3/fgwt
» Einblick
Höchste Forschungsdichte in Europa
D
ie Vernetzung der Gesundheitsforschung mit der
Gesundheitswirtschaft, der Biotechnologie und der Medizintechnik macht Berlin zur Hauptstadt auch in Sachen Medizin
und Gesundheit. Schwerpunkte sind unter anderem das
Therapieforschungszentrum für klinische Studien, die bildgebenden Verfahren (Magnetresonanzbilder und molekulare Diagnostik) und die Entwicklung einer modernen IT-Infrastruktur für ein leistungsfähiges Klinikum (digitales Krankenhaus). Dreh- und Angelpunkt sind in Berlin die Lebenswissenschaften, angeführt vom Universitätsklinikum Charité. Es reorganisiert derzeit seine Kliniken und Institute und fasst sie in
17 interdisziplinären Zentren zusammen. An den Berliner
Hochschulen und den 70 außeruniversitären Forschungsinstituten der Stadt werden alle wissenschaftlichen Facetten abgedeckt: von der klinischen Medizin zur Grundlagenforschung,
über Physiologie, Biologie, Chemie, Pharmazie, Medizintechnik, Physik, Nanotechnologie, Mikrosystemtechnik, Informationstechnologie sowie Bioethik, Philosophie und Theologie.
Rund 50 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind
in der Gesundheitsforschung im weiteren Sinne tätig.
q www.berlin-gesundheitsstadt.de
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» TU-Alumni im Porträt
Dr.-Ing. Herwig Freiherr von Nettelhorst
ist Vorstandsvorsitzender der getemed Medizin- und Informationstechnik AG in Teltow. Der 61-jährige Ingenieur erlernte sein Handwerk zwischen 1967 und 1971 an der Ingenieurakademie in Hannover. Nach einer
kurzen Tätigkeit bei AEG Telefunken setzte er sein Studium an der TU Kaiserslautern fort. Seine Promotion zum Dr.-Ing. erlangte er am Institut für
Biomedizinische Technik der TU Berlin. Von 1979 bis 1984 war er Bereichsleiter für Forschung und Entwicklung bei der Firma Biotronik GmbH &
Co. KG, gleichfalls in Berlin. Von 1984 bis 2000 leitete Dr. von Nettelhorst die GeTeMed GmbH als geschäftsführender Gesellschafter. Im August 2000
übernahm er den Vorsitz im Vorstand der getemed Medizin- und Informationstechnik AG. Die getemed Medizin- und Informationstechnik AG entwickelt,
produziert und vertreibt tragbare Monitore zur Überwachung von Vitalfunktionen sowie Systeme für nichtinvasive Elektrokardiogramme (EKG). Die
Firma konzentriert sich auf zwei Kerngeschäftsfelder: auf den netzwerkfähigen kardiologischen Funktionsmessplatz CardioOffice und auf tragbare
Monitore zur Überwachung von Risikopatienten. Diese Geräte überwachen die Herztätigkeit, die Sauerstoffsättigung und erkennen Atemstillstand
(zentrale Apnoen). Die Überwachungsgeräte sind mit Speichern und Grafikdisplays zur Darstellung der überwachten Parameter sowie einem PC-Interface ausgestattet. Die getemed-Monitore wurden bisher bevorzugt zur häuslichen Überwachung von Neugeborenen eingesetzt. Als Pionier in der Telemedizin liefert getemed in Zukunft telemedizinfähige Monitore zur Risikominimierung des Patienten unter Beibehaltung seiner Mobilität. Getemed ist
Marktführer und Anbieter für Langzeit-EKG-Systeme und Home-Monitoring von Neugeborenen in Deutschland.
q www.getemed.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Kampf dem Herzversagen
Stents aus Kunststoffen merken sich ihre Form und setzen gezielt
pharmazeutische Wirkstoffe frei
Von Manfred H. Wagner
W
enn das Herz versagt: Die
Verengung der Herzkranzgefäße (Stenose) gilt als eine der häufigsten Todesursachen in den westlichen Industrienationen. Sie entsteht durch Ablagerungen
(Plaques) von Fetten und Kalk sowie dadurch, dass sich vermehrt Muskelzellen
und Bindegewebe an der inneren Gefäßwand bilden. Ist die Arteriosklerose
schon fortgeschritten, verringert sich der
Durchlass des Gefäßes dramatisch. Der
Herzmuskel wird nicht mehr ausreichend
mit Sauerstoff versorgt. Der schweizerische Mediziner Andreas Grünzig wagte
vor 25 Jahren ein ungewöhnliches Experiment: Er brachte einen dünnen Ballon in
die betroffene Herzkranzarterie eines Patienten, pumpte den Ballon mit Kochsalz-
lösung auf und beseitigte so die Verstopfung in dem lebenswichtigen Gefäß. Dies
war die Geburtsstunde der so genannten
Perkutanen Transluminalen Coronaren
Angioplastik (PTCA). Innerhalb weniger
Jahre etablierte sich das Verfahren. Im
Jahr 2001 wurden in Deutschland bereits
knapp 200 000 solcher Eingriffe durchgeführt.
Ist der Prozess der Arteriosklerose jedoch schon sehr weit fortgeschritten,
reicht die PTCA oft nicht aus. Die Gefäßwand könnte kollabieren und die Arterie
vollständig verstopfen. Zur dauerhaften
Wiederherstellung des Gefäßes führt
man daher eine auf einen Ballonkatheter
aufgepresste Hülse (Stent) in die verengte Stelle ein und dehnt diesen in dem be-
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
troffenen Gefäßabschnitt auf. Stents bestehen aus einem röhrenförmigen metallischen Drahtgitter, das in das Blutgefäß
eingesetzt wird, um es zu stützen und offen zu halten. Jährlich werden weltweit
bereits mehr als eine Million Herzpatienten mit solchen Stents versorgt. Um die
Erfolge dieser Therapie zu verbessern,
werden die Gefäßstützen laufend weiterentwickelt. Seit kurzem gibt es polymerbeschichtete Metallstents, deren Beschichtungen medizinische Wirkstoffe
enthalten. Sie sollen vermeiden, dass sich
Blutgerinnsel (Thrombosen) oder Entzündungen bilden. Dabei ist wichtig,
dass die Wirkstoffe in einer genau festgelegten Zeitspanne freigesetzt werden. Polymerbeschichtete Metallstents können
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
allerdings nur wenige Milligramm eines
Wirkstoffs aufnehmen. Die Stents könnten viel mehr Wirkstoff enthalten, wenn
man als Gefäßstütze ein Implantat einsetzen könnte, das vollständig aus Polymer
besteht.
Polymerforscher der TU Berlin haben
gezeigt, dass bestimmte Polyurethane in
der Lage sind, sich allein durch die Körperwärme des Patienten aufzuweiten. Ein
solcher Stent aus Polymer besitzt also bei
entsprechender Konditionierung ein eigenes Formgedächtnis. Er ist grundsätzlich
geeignet, auch mit Wirkstoffen beladen
zu werden.
STENTS, DIE MEDIKAMENTE
E N T H A LT E N
Im Rahmen eines vom Bundesforschungsministerium und von der Industrie geförderten Forschungsprojektes wurde die
Machbarkeit eines derartigen Polymeren
Stents bis hin zum Einsatz im Tiermodell
nachgewiesen. Dazu war es notwendig,
die Glasübergangstemperatur des Polyurethans genau zu kennen. Sie gibt an, bei
welcher Temperatur das Formgedächtnis
des Polymers durch die Körperwärme des
Patienten aktiviert wird und seine Form
an das Blutgefäß anpasst.
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt
war es, das Formgedächtnis des Polyurethans in Abhängigkeit von Verfahrensparametern wie Recktemperatur, Reckgeschwindigkeit, Fixiertemperatur etc. zu
untersuchen. Die Wissenschaftler des
Fachgebietes Polymertechnik und Polymerphysik der TU Berlin entwickelten
dazu einen speziellen Prüfstand.
Untersucht wurde auch, wie man Polymere Stents herstellen kann: durch Extrusion, durch Spritzgießen und durch
Tauchen. Insbesondere das letztgenannte
Verfahren ermöglicht es, den gegebenenfalls temperaturempfindlichen Wirkstoff
ohne schädliche Temperaturbelastung in
den Stent einzubringen. Fertigt man den
Stent aus mehreren Schichten, die unterschiedliche Medikamente enthalten können, so lassen sich unterschiedliche medizinische Wirkungen zur Gefäßwand oder
zum Blut hin erzielen.
Man kann das Implantat flexibler oder
steifer gestalten, indem man Schichten mit
unterschiedlicher Steifigkeit kombiniert.
Durch die sorgfältige Auswahl der Wirkstoffkonzentration und durch den Einbau
unbeladener Schichten lässt sich zudem
genauer einstellen, mit welchem Zeitprofil
die Wirkstoffe freigesetzt werden. Eingehend untersucht wurde die Freisetzung eines Modellwirkstoffs (Dexamethason).
Schließlich wurde eine Methode entwickelt, um Polymere Stents in das betroffene Gefäß einzusetzen, denn sie können
nicht mithilfe eines Ballonkatheters implantiert werden. In Zusammenarbeit mit
dem Deutschen Herzzentrum Berlin und
der Tierexperimentellen Abteilung der
Charité erprobten die Wissenschaftler
das neue Verfahren am Tiermodell.
ERFOLGREICHE
ERPROBUNG AM TIER
Den Forschern gelang es, vier Stents in
den Herzkranz eines Schweins einzusetzen. Um das Langzeitverhalten der Polymeren Stents im Körper zu beurteilen, ob
mit oder ohne Wirkstoffbeladung, sind
weitere Studien erforderlich. Die bisherigen Forschungen der TU Berlin lassen jedoch bereits das große Potenzial Polymerer Stents mit Formgedächtnis als viel
versprechende Therapie für Herzpatienten erkennen.
Neben der Behandlung von koronaren
Herzkrankheiten eröffnen sich den Polymeren Stents weitere interessante Anwendungsgebiete in der Therapie von Stenosen in peripheren Gefäßen, in der Krebsmedizin und bei Erkrankungen der Galle
und der Bauchspeicheldrüse. Um beispielsweise Verengungen im Gallengang
zu behandeln, bevorzugt man derzeit
über den Verdauungstrakt eingeführte
Stents aus Kunststoff oder aus Metall.
Die Kunststoffprothesen sind einfach zu
TU BERLIN
handhaben und kostengünstig. Allerdings besteht bei ihnen die Gefahr, dass
sie verstopfen, denn aufgrund ihres geringen Innendurchmessers von zwei bis drei
Millimetern lagern sich Gallensäuren ab.
Daher müssen die Stents im Abstand von
drei bis vier Monaten ausgetauscht werden, was die Patienten erheblich belastet.
Die selbstexpandierbaren Metallstents
besitzen zwar einen erheblich größeren
Innendurchmesser von rund zehn Millimetern. Sie sind allerdings erheblich teurer und lassen sich nach dem Einsetzen
nicht wieder entfernen. Ein einwachsender Tumor kann ihren Durchfluss erheblich verringern. Polymere Stents mit
Formgedächtnis würden es erlauben, die
positiven Eigenschaften der Kunststoffprothese und der Metallstents zu kombinieren. Sie erreichen wesentlich größere
Durchmesser, dadurch sinkt das Risiko
eines späteren Verschlusses. Auch lassen
sie sich jederzeit auswechseln. Zusätzlich
könnten sie lokal Wirkstoffe freisetzen
und so die Gefahr eines Wiederverschlusses vermindern.
q www.tu-berlin.de/fb6/polymer
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Aufweitung eines
verengten Blutgefäßes
mithilfe eines Stents
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Den Zellen auf die
Sprünge helfen
Trägermaterial aus metallischen und keramischen
Schäumen eröffnet neue regenerative Therapien
Von Helmut Schubert, Almuth Berthold, Rolf Zehbe, Astrid Haibel
und Ulrich Gross
N
eue Blutzellen, Knorpelzellen
oder Gewebe, um geschädigte Organe zu
reparieren: Dafür braucht man bestimmte Trägermaterialien, um die Zellen unter
weitgehend natürlichen oder der Natur
zumindest ähnlichen Bedingungen zu
züchten. Das Spezialgebiet, das sich mit
den Trägermaterialien befasst, nennt man
Tissue Engineering. Werkstoffforscher
der TU Berlin befassen sich seit einiger
Zeit damit, neue Materialien für die Kultivierung von Blutstammzellen oder Knochenersatz zu synthetisieren. Das Materialkonzept orientiert sich weitgehend am
biologischen Vorbild. Seine Morphologie,
die Ausbildung von Texturen und die
Wahl der chemischen Komponenten müssen die Besiedlung durch die Zellen er-
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
möglichen, ihnen eine Leitstruktur geben,
dann aber vom Körper verstoffwechselt
werden. Das Material muss stabil genug
sein, belastbar und dennoch hinreichend
Angriffspunkte bieten, damit der Körper
das Trägermaterial mit der Zeit biologisch abbauen kann. Dieser Gegensatz
wird durch neuartige Keramik-Biopolymere gelöst.
In Kooperation mit den Strukturforschern um John Banhart am Hahn-Meitner-Institut wurden die beiden Zellträgermaterialien im Synchrotron Bessy in Berlin-Adlershof untersucht und in Computertomographen analysiert. Dabei nutzten die Materialforscher den Effekt, dass
die Röntgenstrahlung des Synchrotrons
im Zellträger unterschiedlich stark absorbiert wird – je nach Dichte und Konzentrationsvariationen. Die daraus resultierende Intensitätsschwankung wird von
einem Spezialgerät in Licht umgewandelt. Eine Kamera nimmt dann digitale
Bilder auf. Wird das Probenmaterial
schrittweise im Röntgenstrahl gedreht,
lässt sich ein dreidimensionales Abbild
rekonstruieren. Diese Synchrotron-To-
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
mographie bietet somit eine zerstörungsfreie Untersuchungsmethode für die
Strukturaufklärung von Werkstoffen. Die
biologische und medizinische Prüfung
der Materialien erledigte eine Forschergruppe an der Charité.
Ein für den Ersatz von Knorpelgewebe
geeignetes Material muss mit natürlichem Knorpel biochemisch, strukturell
und biomechanisch übereinstimmen.
Den TU-Forschern gelang es, ein solches
Material aus kollagenbasierten Lösungen
zu erhalten, die elektrolytisch zersetzt
und anschließend eingefroren wurden.
Kollagen ist ein Strukturprotein des Bindegewebes. Im menschlichen Körper ist
Kollagen mit mehr als dreißig Prozent am
Gesamtgewicht aller Proteine das verbreitetste Eiweiß. Nach dem Gefriertrocknen der Materialien entstand eine charakteristische vertikale Porenstruktur – ein
keramischer Schaum.
EINE IDEE WIRD ZUM
PAT E N T
Daneben arbeitet das TU-Team seit einiger Zeit an der Herstellung von künstlichem und biokompatiblem Hybridmaterial, um es als Träger für Knorpelzellen zu
nutzen. Es besteht gleichfalls aus Kollagen beziehungsweise aus Gelatine und
kann zusätzlich das im chemischen Sinne
knochenähnliche Calciumphosphat Hydroxylapatit enthalten. Auf dieses Verfahren meldeten die TU-Forscher ein Patent
an. Dabei wird zunächst das Wasser in
einer Kollagenlösung elektrolytisch zersetzt und anschließend auf einer Kälteplatte erstarrt. Weil während dieses Prozesses Elektrolysegase aufsteigen, werden die Polymerketten in eine bestimmte
Richtung ausgerichtet. Während des anschließenden Gefriertrocknens wachsen
Eiskristalle, die dazu führen, dass sich in
den Kollagen- und Gelatinestrukturen
Hohlräume bilden, die natürlichem Knorpelgewebe sehr ähnlich sind.
Durch Substanzen, die im natürlichen
Knorpel und Knochen vorkommen, erhält
die Besiedlung des Hybridmaterials mit
Knorpelzellen beste Bedingungen. Das so
erzeugte Kompositmaterial wird auf molekularer Ebene quervernetzt, um zu verhindern, dass es sich wieder in Wasser auflöst. Die Bilder aus dem Computertomo-
graphen zeigen parallele Porenkanäle, die
auf dem anorganischen Calciumphosphat
aufgewachsen sind. Je nach Grad der Unterkühlung entsteht auch eine teilweise lamellenartige Struktur.
Kultivierungsversuche mit menschlichen Knorpelzellen, den so genannten
Chondrozyten, haben ergeben, dass das
Material aus den TU-Laboren das Anwachsen der Zellen gut unterstützt. Die
Kultivierungsversuche wurden in Zusammenarbeit mit der Codon AG in Teltow durchgeführt.
Ä H N L I C H W I E N AT Ü R L I C H E R
KNORPEL
Das mit Zellen besiedelte Material wurde
nach drei Tagen histologisch untersucht,
um die Reaktion der Zellen auf das Material zu charakterisieren. Das Ergebnis: Die
Zellen entwickelten sich wie die natürliche
Zellform, die Chondrozyten. Sie waren –
wie ihre natürlichen Vorbilder – in kettenförmigen Zellclustern ausgerichtet. Neben
den biologischen wurden auch die biomechanischen Eigenschaften der dreidimensionalen Trägermatrix charakterisiert. Sie
weisen ähnliche Werte auf wie natürlicher
Gelenkknorpel. Durch Mikrowellenschäumung und Sintern gelang es, aus
proteinbasierten keramischen Suspensio-
TU BERLIN
nen eine dem menschlichen Knochen ähnliche Struktur zu erhalten.
In weiteren Versuchen wurden keramische Schäume aus Aluminiumoxid und
Hydroxylapatit und metallische Schäume
aus einer Titanlegierung erzeugt. Das
Verfahren ist vergleichsweise einfach:
Alle Bestandteile werden in einem Schritt
nassgemahlen. Als Resultat ergibt sich
eine keramische Suspension, deren Konsistenz mit Schlagsahne vergleichbar ist.
Diese Suspension wird in einer Industriemikrowelle verfestigt. Dabei wird ausgenutzt, dass infolge der Erwärmung des
Wassers in der Mikrowelle der Dampfdruck innerhalb der Poren ansteigt. Dadurch entstehen Blasen. Gleichzeitig wird
das enthaltene Protein zersetzt, wodurch
ein handhabbares Material entsteht, der
so genannte Grünkörper.
Darüber hinaus kann der Druck in
der Mikrowellenkammer abgesenkt werden, wenn zum Beispiel sehr große Poren
bei hoher Porosität angestrebt werden.
Metallische Schäume lassen sich nicht in
der Mikrowelle erzeugen. Sie entstehen
bei Temperaturen um 100 Grad Celsius
in Luft. Um stabile Formkörper zu erzielen, werden die organischen Bestandteile
anschließend ausgebrannt und der
Schaum verfestigt, beispielsweise durch
Sintern bei geeigneten Temperaturen.
Die metallischen oder keramischen
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Poröse keramische
Substanz als Ersatz
von natürlichem
Knochengewebe
I N N O VAT I V E M E D I Z I N I S C H E T E C H N O L O G I E N
Schäume wurden sowohl unter dem Rasterelektronenmikroskop als auch am
Synchrotron und dem Tomographen analysiert. Dabei wurde offensichtlich, dass
sich Porosität und Porengröße durch die
Art der verwendeten Proteine, den Feststoff- und Proteingehalt und Prozessparameter, wie Druck und Dauer der Mikrowelleneinstrahlung, variieren lassen.
Bei den untersuchten Schäumen handelt
es sich also um ein Multiparametersystem, das einerseits durch die Wahl der
Ausgangsmaterialien beeinflussbar ist,
andererseits durch prozesstechnische
Größen. Als Schwerpunkte weiterer Untersuchungen wurden die Nassmahlung
und die mikrowelleninduzierte Proteindenaturierung identifiziert.
Die Synchrotrontomographie liefert –
anders als das Rasterelektronenmikroskop – eine vollständige dreidimensionale Struktur. Einzelne Einflussfaktoren und
ihre Auswirkung auf die Mikrostruktur
der Probe können gut verfolgt werden. So
zeigte sich deutlich, dass die Poren bereits
in der Mahlung entstehen und die Erwärmung in der Mikrowelle die Größenverteilung der Poren verschiebt. Erst danach
entsteht ein Netzwerk. Um zu zeigen, ob
sich diese Schäume grundsätzlich als Trägermaterialien für menschliche Zellen
eignen, wurden sie mit Blut bildenden
Zellen kultiviert. Bisher wurden die Zellen bis zu vier Wochen lang kultiviert.
Beim vorläufigen Stand der Untersuchungen kann gesagt werden, dass die
zur Besiedelung ausgewählten Stammzellen sich in verschiedene Zelllinien differenzieren: zum Beispiel in rote Blutkörperchen (Erythrozyten), weiße Blutkörperchen (Leukozyten) und die so genannten Riesenzellen im Knochenmark (Megakaryozyten). Über die Funktionalität
der Zellen kann im Moment noch keine
Aussage getroffen werden. Hier müssen
weiter reichende Untersuchungen folgen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die regenerative Medizin verschiedene Materialien benötigt, die im
Körper abgebaut und verstoffwechselt
werden können, ohne toxische Nebenprodukte. Die Materialien müssen dennoch
biomechanisch belastbar sein. Und sie
müssen den Zellen des heilenden Gewebes die richtigen Differenzierungssignale
vermitteln. Hierzu sind mechanische Eigenschaften wie Steifigkeit oder Porengrößenverteilung von größter Bedeutung.
Die Materialien werden nicht mehr allein
aus technischer Sicht beurteilt. Sie müssen bereits in ihrer Entwicklung auf die
Wirkung im Körper oder unter ähnlichen
Bedingungen abgestimmt werden.
q www.tu-berlin.de/~keramik
» Einblick
Forschungsverbund Lärm: ein Ohr für die WHO
Lärm ist ein weit verbreitetes Problem: Umfragen zufolge leiden 70 Prozent der Bevölkerung unter
Verkehrslärm, 22 Prozent davon stark. 42 Prozent der
Menschen sind störendem Fluglärm ausgesetzt, neun
Prozent davon stark. Jugendliche sind insbesondere
Lärm in der Freizeit ausgesetzt, ebenso kann Lärm am
Arbeitsplatz die Gesundheit erheblich belasten. Wenig
bekannt ist, dass Lärm nicht nur eine kurzfristige Belästigung ist, sondern auch langfristige Gesundheitsschäden nach sich ziehen kann. Neben Gehörschäden treten
insbesondere Schlafstörungen und Erkrankungen des
Herz-Kreislauf-Systems auf. Darüber hinaus gibt es
Hinweise, dass Lärm den Hormonhaushalt und das Immunsystem stören kann. Im Oktober 2002 wurde am
Berliner Zentrum Public Health ein interdisziplinärer
Forschungsverbund Lärm und Gesundheit gegründet.
Mit seiner Hilfe wollen Mediziner und Ingenieure ein
Netzwerk der Lärmforschung knüpfen. Der Forschungsverbund steht Einzelpersonen und Institutionen
gleichermaßen offen. Ein Schwerpunkt liegt auf tieffrequentem Lärm mit Frequenzen von unter 200 Hertz:
Quellen sind zum Beispiel Pumpen, Heizungen oder
schwere Fahrzeuge. Im klassischen Schallschutz bleibt
die Dämmung dieser Frequenzen meist unbefriedigend.
Daher werden neue technische Konzepte (Prinzip: Anti-
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
schall) zur Dämmung erforscht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich in ihrer Freizeit lauter Musik mit besonders gehörgefährdenden Schallpegeln aussetzen. Am
IFV Lärm und Gesundheit spielt die Lärmprävention für
Kinder und Jugendliche eine herausragende Rolle. Der
Verbund arbeitet neben der zielgruppenspezifischen
Aufklärung auch auf eine Anpassung der gesetzlichen
Vorgaben hin. Außerdem beteiligen die Mitglieder sich
an der durch die Berufsgenossenschaften und das Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin organisierten Arbeitsgruppe »Lärm in Bildungsstätten«.
Als Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
hat der Berliner Verbund internationales Ansehen erlangt: Gemeinsam mit anderen Partnern gelang es unter
anderem, ein praktikables Erhebungsinstrument zu entwickeln, mit dem der Wohnungsbestand in europäischen
Städten und Regionen bewertet und die Auswirkungen
des Wohnumfeldes auf die Gesundheit eingeschätzt werden. Durch den epidemiologischen Ansatz der Studie
wurden neben dem Verkehrslärm insbesondere die gesundheitlichen Auswirkungen von Nachbarschaftslärm
dokumentiert.
q www.tu-berlin.de/bzph/laerm-gesundheit
» TU-Alumni im Porträt
Dr. Christine Lang
gründete 2001 die Berliner Organo
Balance GmbH, um mikrobiologische
Produkte für Gesundheit, Kosmetik und
Ernährung zu entwickeln. Das Unternehmen erschließt das Potenzial probiotischer Bakterien und Hefen für
neue Anwendungen. Aus einer Vielzahl
von Mikroorganismen werden diejenigen gefiltert, die ein mikrobielles
Schutzschild etablieren und Störungen
ausbalancieren. So entsteht eine neue
Generation von Probiotika, die unter
anderem gegen Erkrankungen der
Haut und der Schleimhäute eingesetzt
werden. Die Biologin promovierte 1985
in Bochum, zur Molekulargenetik der
Pilze. Danach arbeitete sie zehn Jahre
lang in der Industrieforschung bei der
Hüls Chemie Forschungsgesellschaft
mbH, für die sie in Berlin eine Arbeitsgruppe für Genetik und Molekulargenetik aufbaute und leitete. Anschließend wechselte sie zur TU Berlin, um
sich in Mikrobiologie und Molekulargenetik zu habilitieren. Im März 2006
wurde Dr. Lang zur außerplanmäßigen
Professorin an der TU Berlin ernannt.
q www.organobalance.de
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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» Im Gespräch
Dicke Luft im Büro
Berliner Wissenschaftler entwickeln eine elektronische Nase
Am Hermann-Rietschel-Institut der TU Berlin sind besonders feine Riecher gefragt, denn dort laufen
zukunftsweisende Forschungen zur Luftqualität in Arbeitsräumen. Zahlreiche Probanden unterstützen
die Wissenschaftler bei ihren Analysen. Das Ziel sind »elektronische Nasen«, um die Raumluft in
Flugzeugen, Zügen, Büros und Krankenhäusern zu überwachen. Der Ingenieur und Professor Dirk Müller,
der das Riechlabor des Instituts leitet, schärfte seine Sinne und stand Heiko Schwarzburger Rede und
Antwort.
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Wie entsteht schlechte Luft, und wie wirkt
sich schlechte Luft aus?
Dirk Müller: Die Luftqualität in Bürogebäuden wird im Wesentlichen durch die internen Schadstoffquellen und die Lüftung
bestimmt. Schadstoffquellen sind dabei sowohl die Raumnutzer und die Raumausstattung als auch die verwendeten Baumaterialien. Ein Bürogebäude oder eine Fabrikhalle mit schlechter Luftqualität ist aus
gesundheitlicher und betriebswirtschaftlicher Sicht nicht empfehlenswert. Hohe Geruchsbelastungen führen zu gesundheitlichen Beschwerden – das so genannte Sick
Building Syndrome – und senken die Arbeitsleistung der Gebäudenutzer.
Sick Building Syndrome – was verstehen
Sie darunter?
Dirk Müller: Untersuchungen zeigen,
dass die Europäer rund neunzig Prozent
ihrer Arbeitszeit in Innenräumen verbringen. Werden die Gebäude mangelhaft gelüftet oder geben beispielsweise die Baumaterialien schädliche Substanzen ab,
können Krankheiten auftreten, die sich
eindeutig auf das Gebäude zurückführen
lassen. In Bezug auf die Luftqualität beschreibt das Sick Building Syndrome die
Wirkung von Schadstoffen in der Innenraumluft, die in typischen Gebäuden entstehen, auf das Wohlbefinden der Menschen. Auswertungen von Feldexperimenten und Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Sick Building Syndrome und
der empfundenen Luftqualität gibt. Bisher
kann diese von Personen wahrgenommene Luftqualität nicht direkt mit einem
Messgerät erfasst werden. Messbare Parameter, wie zum Beispiel ein steigender
Kohlendioxidgehalt in der Büroluft, sind
nur einfache Indikatoren, die auf eine unzureichende Lüftung hinweisen. Es kommt
jedoch – falls keine unzulässig hohen
Schadstoffkonzentrationen vorliegen –
auf die empfundene Luftqualität an.
ten sich die Arbeiten im Bereich der Luftqualität vor allem auf die Messungen von
Kohlendioxidkonzentrationen, auf die
Luftfeuchte und die Temperatur der
Raumluft. Mittlerweile wissen wir aus
der Literatur und eigenen Arbeiten am
Hermann-Rietschel-Institut der TU Berlin, dass vor allem flüchtige organische
Verbindungen in der Raumluft die Geruchsbelastung und damit die Wahrnehmung der Luftqualität erheblich beeinträchtigen. Es kann davon ausgegangen
werden, dass weit über hundert dieser
Substanzen in der Innenraumluft eine
Rolle spielen. Sie treten teilweise in sehr
geringen Konzentrationen auf, aber die
menschliche Nase ist ein sehr feines
Messgerät.
Woher stammen diese organischen Stoffe
in der Raumluft?
Dirk Müller: Sie entstehen durch Ausdünstungen von Personen, durch die verwendeten Materialien und natürlich
werden sie auch beim Lüften von draußen in das Gebäude transportiert. Eine
wichtige Frage für uns ist: Welche Substanzen spielen bei der Wahrnehmung
der Luftqualität eine besondere Rolle,
worauf reagiert die Nase besonders sensibel? Die Nase nimmt einige Stoffe
schon bei sehr geringen Konzentrationen
wahr, sodass oft der messtechnische
Nachweis dieser Komponenten sehr
schwierig ist. Bei anderen Substanzen
hingegen reagiert sie nicht einmal auf
hohe Konzentrationen. Die menschliche
Nase ist somit ein sehr selektives Messgerät, das zudem zwischen zehn- und
zwanzigtausend Gerüche unterscheiden
kann.
Die Nase trägt ein sensibles Sinnesorgan,
das von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt ist. Wie wollen Sie die
Wahrnehmung der Gerüche objektiv messen?
Dirk Müller: Wir haben an der TU Berlin ein Luftqualitätslabor entwickelt und
aufgebaut, in dem wir zahlreiche Probanden beschäftigen, die verschiedene Geruchsproben bewerten. Unser Ziel ist es,
eine elektronisches Messverfahren so
weit zu bringen, dass die aufwändigen
Probandenexperimente langfristig durch
eine elektronische Nase ersetzt werden
können. Dazu beteiligen wir uns unter
Wovon hängt die Empfindung der Luftqualität maßgeblich ab?
Dirk Müller: Dieses Forschungsgebiet
ist noch relativ jung. Früher konzentrier-
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Zukunftsweisende
Forschungen zur Luftqualität in Büro- und
Arbeitsräumen:
Prof. Dirk Müller im
Riechlabor der
TU Berlin
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Flugzeugen zum Einsatz, um beispielsweise im Fahrzeug den Umluftbetrieb
bei einer Tunnelfahrt zu aktivieren.
Komplizierter wird die Sache, wenn Sie
in einem beliebigen Raum ein Messsignal für die empfundene Luftqualität haben möchten. Besondere Gebäude, wie
beispielsweise ein Krankenhaus, haben
natürlich noch zusätzliche Anforderungen. Hier sollte eine elektronische Nase
zusätzlich biologische Verunreinigungen erkennen, die den Patienten gefährden können.
Ein Arzt wird kaum die Zeit haben, über
die empfundene Luftqualität im Krankenhaus zu grübeln …
In dieser Testkammer
untersuchen
Probanden die
verschiedensten
Gerüche
anderem an einem europäischen Projekt,
das ab September 2006 drei Jahre speziell
die Wahrnehmung, die Sensortechnik
und die Signalverarbeitung behandeln
wird. Gemeinsam mit Partnern in Dänemark, Finnland, Frankreich und Schweden wollen wir bestehende elektronische
Sensorsysteme für Gerüche verfeinern
und die dafür notwendigen Algorithmen
in Software umsetzen.
Das klingt technisch. Können Sie uns ein
konkretes Beispiel nennen?
Dirk Müller: Zum Beispiel gehen wir im
Bereich der Wahrnehmung der Frage
nach, ob sich Gerüche sortieren und klassifizieren lassen. Für die visuelle Wahrnehmung gibt es beispielsweise den Farbkreis, in dem Sie alle bekannten Farben
unterbringen können. Wir wollen wissen,
ob es so etwas auch für Gerüche gibt.
Oder: Die Farbenlehre kennt Grundfarben, aus denen sich die anderen Farben
zusammensetzen. Gibt es Basisgerüche,
aus denen sich alle anderen Gerüche ableiten lassen? Wie sehen die Additionsregeln für Gerüche aus?
40
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Was könnte man mit einer elektronischen
Nase machen?
Dirk Müller: Stimmt, deshalb muss man
im Krankenhaus einen viel höheren Aufwand treiben, damit die notwendige Luftqualität erreicht wird. In der Zukunft
wird vielleicht die Luftreinigung einen
größeren Stellenwert insbesondere im
Gesundheitssektor erhalten. In den Vereinigten Staaten konnte in einem Experiment der Keimtransport zwischen Personen durch ultraviolettes Licht im Deckenbereich von Patientenzimmern reduziert
werden.
Wir führen zurzeit ein Forschungsprojekt für die deutsche Industrie durch, in
dem wir handelsübliche Luftreinigungssysteme in Hinblick auf die Verbesserung
der empfundenen Luftqualität bewerten.
In neuen Versuchseinrichtungen können
wir typische Innenräume wie Büroräume,
Zug- und Flugzeugkabinen nachbilden.
In dieses Experiment fließen auch Ergebnisse aus anderen Forschungsvorhaben
ein. Ein anderes Beispiel: Das Umweltbundesamt finanzierte an unserem Institut ein Vorhaben, das sich mit der geruchlichen Bewertung von Emissionen aus
Bauprodukten beschäftigt hat. Die chemischen Analysen sind parallel von der
Bundesanstalt für Materialforschung
und -prüfung durchgeführt worden. Sie
sehen, auch in Zukunft werden unsere
Probanden an dicker Luft schnuppern
müssen. Sei es im Rahmen von grundlegenden Arbeiten oder für die Entwicklung neuer Reinigungsverfahren.
Dirk Müller: Einfache Multigassensoren kommen heute bereits in Autos oder
Vielen Dank für das Gespräch!
Wie entsteht aus den Antworten auf diese
Fragen eine elektronische Nase?
Dirk Müller: Einfache elektronische Nasen gibt es bereits. Darin stecken so genannte Multigassensoren, die verschiedene Spurengase in der Luft messen können. Die Software, die diese Sensoren verschaltet und ihre Ergebnisse auswertet,
arbeitet mit Methoden der Mustererkennung oder der neuronalen Netze. Derzeit
forschen wir mit einem System, das uns
das Forschungszentrum Karlsruhe zur
Verfügung gestellt hat. Dieses Messsystem nutzt 38 Sensoren. In dem europäischen Forschungsprojekt wollen wir prüfen, ob mit einer höheren Anzahl von Sensoren und Sensortypen typische geruchsrelevante Substanzen an ihrer Wahrnehmungsschwelle erfasst und erkannt werden können.
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
IuK-Technologien im
Gesundheitswesen
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Das digitale
Krankenhaus
im Blick
G
E-Health vereinigt Informationstechnik und
Gesundheitswirtschaft – und bringt Reformen voran
Von Axel C. Mühlbacher
42
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
esundheitswirtschaft und
IuK-Technologien – zwei Wachstumsbranchen, die sich annähern. Eine neue
wissenschaftliche Disziplin entsteht: EHealth. Darunter versteht man die Nutzung des Internets und anderer, ähnlicher
Technologien, welche die Verfügbarkeit
klinischer Daten erhöhen, die Transaktionskosten innerhalb medizinisch-pflegerischer Prozesse senken und damit die Effektivität für Krankenhäuser, Ärzte, Apotheken, Kassen und Patienten verbessern. Wissenschaftler der Arbeitsgruppe
E-Health und digitalisierte Prozesse am
Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie der TU Berlin arbeiten an neuen
Informations- und Telekommunikations-
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
technologien für das Gesundheitswesen.
Wächst hier zusammen, was zusammengehört? Die IuK-Technologien versprechen im Gesundheitsmarkt ein enormes Innovations- und Geschäftspotenzial. Zahlreiche Experten gehen davon aus,
dass das Gesundheitswesen durch eine
hohe Innovationsdynamik gekennzeichnet sein wird. E-Health trägt dazu wesentlich bei: durch die elektronische Erfassung, Digitalisierung und Übermittlung von Daten im Gesundheitswesen.
Der Versicherte steht im Mittelpunkt:
Kostenersparnis, bessere medizinischpflegerische Versorgung und mehr Eigenverantwortung der Patienten sind das
Ziel. Die Nutzer erwarten von E-HealthLösungen eine verbesserte Verfügbarkeit,
Aktualität und Transparenz von gesundheitsrelevanten Daten. Kritiker verweisen auf die Probleme der Datensicherheit
und steigende Aufwendungen für die Verwaltung.
WERKZEUGE ZUR
GESUNDHEITSREFORM
Die Gesundheitsbranche wird, wie kaum
eine andere Branche, in den nächsten Jahren von strukturellen Veränderungen betroffen sein. Ein steigendes Finanzierungsdefizit der gesetzlichen Krankenkassen und die desolate Organisation der
Versorgung erhöhen den Handlungsdruck zur Restrukturierung des Gesundheitssystems in Deutschland. Das Volumen des Gesundheitsmarktes wird heute
mit 260 Milliarden Euro beziffert. Allein
in Krankenhäusern, dem größten Teilmarkt im Gesundheitswesen, werden 65
Milliarden Euro umgesetzt. Das Investitionsbarometer „E-Health Deutschland
2005/2006“ zeigt, dass Krankenhäuser,
Krankenkassen und Apotheken verstärkt
in IuK-Technologien investieren.
Die Bedeutung digitalisierter Datenerfassungs- und Kommunikationsprozesse im Gesundheitswesen wird zunehmen.
Bereits heute stehen sie bei der Reform
des deutschen Gesundheitswesens im
Mittelpunkt. Im Rahmen des Gesetzes
zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenkassen wurde die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für
Krankenversicherte, das elektronische
Rezept und eine verteilte Patientenakte
initiiert. Eine bundesweite Telematikplattform soll medizinische Daten bereitstellen. Hinzu kommen Veränderungen
bei der Organisation der Leistungserstellung. Die so genannte integrierte Versorgung soll die Qualität und Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssystems verbessern.
Neue Geschäftsfelder und eine neue Wettbewerbssituation sorgen für Innovationsimpulse. Durch die gesetzlichen Vorgaben auf der einen Seite und die wirtschaftliche Situation der Versorger auf der anderen Seite ist es unbedingt notwendig,
die Versorgungsprozesse zu digitalisieren. Eine organisationsübergreifende
Nutzung von Patientendaten setzt bei den
Leistungserbringern eine gut funktionierende elektronische Infrastruktur voraus.
In zehn Jahren profitieren wir von einem drahtlos vernetzten Gesundheitssystem. Wir werden auf einem globalen
Marktplatz Gesundheitsprodukte einkaufen und medizinische Dienstleistungen nachfragen, ohne dabei Praxisräume
von Fachärzten, Krankenhäusern oder
Apotheken betreten zu müssen. Die
Transaktionskosten für Ärzte und Patienten werden sinken, da der Patient nicht
mehr weite Entfernungen zurücklegen
muss und wichtige medizinische Dienstleistungen räumlich und zeitlich entkoppelt werden können. Mobile, benutzerfreundliche Computer werden uns in un-
TU BERLIN
serer Lebensumwelt begleiten – in der
Kleidung und in unserer Arbeits- und
Freizeitumgebung. Mithilfe von Communikatoren und Mobiltelefonen werden wir
zum Manager unserer eigenen Gesundheit. Auch chronisch Kranke werden in
der Lage sein, Beruf und Freizeit aktiv zu
gestalten. E-Health wird diagnostische
und therapeutische Prozesse vereinfachen und eine bessere Kommunikation
mit dem Patienten ermöglichen – nicht
zuletzt wird so die Eigenverantwortung
gestärkt. Die Mobilität von chronisch
und schwer kranken Menschen wird
durch GPRS, Internet, Mobiltelefonen,
und Handhelds verbessert.
S E N S O R E N Ü B E R WA C H E N
V I TA L F U N K T I O N E N
Bei akuten gesundheitlichen Problemen
ermitteln sie sofort den Aufenthaltsort
und benachrichtigen automatisch einen
Arzt. Die Gesundheitsversorgung durch
Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser,
Labore und Einrichtungen der Rehabilitation wird optimal aufeinander abgestimmt. Es entstehen neue, an den Patienten orientierte Versorgungskonzepte.
Die Mikrosystemtechnik und neue
Sensoren ermöglichen eine ständige
Überwachung der Vitalfunktionen – heu-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
te bereits erprobte Push-Techniken übermitteln diese an die zuständigen Ärzte
und Krankenhäuser. Der Versicherte
wird individuell mit Wissen und Dienstleistungen versorgt – er ist besser in die
Versorgung integriert und versteht die
Notwendigkeit gesundheitserhaltender
Maßnahmen. Versicherte werden über
das Internet betreut und erhalten im Bedarfsfall über webbasierte Tools eine telemedizinische Beratung.
Die Technologien des E-Health ermöglichen heute bereits eine reibungslose
überbetriebliche Vernetzung: Das Internet stellt ein global verfügbares Kommunikationsnetz bereit. Für viele betriebliche Prozesse gibt es Standardlösungen.
Zukünftig stellen die Netzwerke der unterschiedlichen Leistungserbringer gemeinsam ihre Dienstleistungen bereit.
Dem Patienten bleiben so die sektoralen
Grenzen und Organisationsstrukturen
des Gesundheitssystems verborgen, denn
er erhält eine speziell für ihn konfigurierte Leistung, die alle notwendigen Behandlungsschritte umfasst. Aus der Perspekti-
ve der Leistungserbringer werden die einzelnen Teilleistungen auf mehrere rechtlich selbstständige Organisationen oder
Personen verteilt – jeder erbringt arbeitsteilig die Leistung, auf die er sich spezialisiert hat. Nach dem Konzept der virtuellen Organisation bündeln die Partner ihr
Wissen und treten gegenüber dem Patienten als Einheit auf.
REIN ELEKTRONISCHE
K O M M U N I K AT I O N
Dieses Innovationspotenzial wird zuerst
in den Krankenhäusern umgesetzt. Ein digitales Krankenhaus verzichtet weitgehend auf den Einsatz traditioneller Übertragungsmedien und setzt auf eine rein
elektronische Kommunikation. Mit der
Einführung der Computertomographie
als erstem digitalem bildgebendem Verfahren stiegen auch die Anforderungen an
die digitale medizinische Bildverarbeitung. Das PACS (Picture Archiving and
Communication System) dient dem Ra-
diologen als Bildbetrachtungs- und Befundungsarbeitsplatz. Mit der digitalen
Archivierung von Bildern und ihrer elektronischen Verteilung im Krankenhaus
müssen digitale Bilder auch zwischen Geräten verschiedener Hersteller ausgetauscht werden. Hierzu bedarf es einheitlicher Kommunikationsstandards, HL7
(Health Level Seven) und Dicom (Digital
Imaging and Communications in Medicine) haben sich derzeit als Standards
durchgesetzt. Zukünftig müssen neben
der Übertragung und Speicherung von
Bildern auch Laboraufträge, Leistungsabrechnungen und Diagnosen elektronisch
ablaufen. Ein Krankenhausinformationssystem führt die Sicht auf den Patienten
und die betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge des Krankenhauses zusammen. Mithilfe einer elektronischen Patientenakte wird die Behandlungs- und Pflegeplanung dokumentiert und die Kontrolle der klinischen Prozesse ermöglicht.
q www.fh-nb.de
» Einblick
Forschergruppe Sentha – unabhängig bis ins hohe Alter
In der Zukunft wird der Anteil der Senioren an der
Gesamtbevölkerung wachsen. Im Jahr 2000 stellten sie etwa
ein Viertel der deutschen Bevölkerung, im Jahr 2030 werden es
mehr als ein Drittel sein. Die Lebenserwartung ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark gestiegen. Das Alter wurde
zu einem eigenständigen Lebensabschnitt. Aber besonders im
höheren Alter können die körperlichen und geistigen Fähigkei-
ten eingeschränkt sein. Das erschwert eine selbstständige
Haushaltsführung und macht sie unter Umständen sogar unmöglich. Obwohl die Zahl der älteren Menschen wächst, fehlen oft altersgerechte Haushaltsgeräte oder speziell auf die Bedürfnisse dieser Nutzer zugeschnittene Produkte.
Die Forschergruppe Sentha (Seniorengerechte Technik im
häuslichen Alltag) an der TU Berlin wählt einen innovativen
Zugang: Sie orientiert die Entwicklung neuer Haushaltsgeräte stärker an den älteren Menschen. Die Forscher erkennen,
welche Schwierigkeiten diese Nutzergruppe hat, und analysieren die Schwachstellen. Das Ziel ist es, Geräte der Haushaltstechnik zu optimieren und innovative Produkte bis zum Prototyp zu entwickeln und zu testen. Die Forschergruppe Sentha
wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt.
Daran sind neben der TU Berlin auch das Berliner Institut für
Sozialforschung, das Deutsche Zentrum für Alternsforschung
in Heidelberg, die Universität der Künste in Berlin, die Brandenburgische Technische Universität in Cottbus und das
Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin beteiligt.
q www.sentha.tu-berlin.de
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Verloren im
Ballungsraum
der Intensivstation
Medizinische Geräte sind oft nur als
Einzellösungen konzipiert –
sie müssen aber im Team spielen
Von Claus Backhaus und Wolfgang Friesdorf
B
allungsraum Intensivstation.
Das Szenario: Eine unüberschaubare
Menge von Schläuchen, Kabeln, Leitungen, die mindestens ebenso viele Sensoren, Apparate, Geräte oder irgendein anderes technisches Equipment miteinander
verbinden. In der Mitte der »Patient«, alles erduldend, hilflos gefesselt an die zum
Leben benötigte Technik.
Moderne Hochleistungsmedizin ist
ohne den Einsatz von Technik nicht mehr
vorstellbar. Medizinischer und technischer Fortschritt sind eng miteinander
verbunden, technologische Innovationen
häufig Keimzellen medizinischen Fortschritts. Doch ist diese Technik auch sicher? Deutschland verfügt bezüglich der
technischen Sicherheit von Medizinprodukten über eines der besten Qualitätssysteme der Welt. Die Zahlen zu Vorkommnissen und Zwischenfällen belegen, dass die eingesetzte Technik sehr sicher ist. Unsicherheiten bringt der
Mensch in das System. Auf der einen Seite verhält sich der Patient nicht wie ein
Messobjekt, denn er bewegt sich (zum
Glück) und stört auf diese Weise die vom
Ingenieur konzipierte Überwachung sensibler physiologischer Parameter, er löst
»unnötige« Alarme aus und wehrt sich
(unbewusst) gegen die Behandlung. Auf
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
der anderen Seite bringen Ärzte und Pflegekräfte Unsicherheit in die Geräteanwendung. Sie können wichtige Details
übersehen, sich in der Wahl oder Dosierung eines Medikamentes irren oder Informationen falsch oder unvollständig
weitergeben.
Schätzungen gehen bundesweit von einem ernsten Zwischenfall pro Patient und
Tag aus! Wen wundert’s angesichts der –
aus ergonomischer Sicht – nur als chaotisch zu bezeichnenden Arbeitsplätze, an
denen nicht selten mehr als zwanzig Einzelgeräte gleichzeitig zum Einsatz kommen. Jedes Gerät ist zwar für sich ergonomisch gestaltet, aber nicht auf ein Zusammenwirken mit anderen Geräten an einem Arbeitsplatz ausgelegt. Das Berücksichtigen von klinischen Behandlungsabläufen oder übergeordneten Strukturen
an einem Arbeitsplatz bei der Auslegung
und Gestaltung von Medizingeräten ist
weitgehend unbekannt. So gehört
menschliches Versagen zu den häufigsten
Fehlerursachen beim Einsatz von Medizintechnik. Experten schätzen, dass bei
bis zu 80 Prozent aller kritischen Zwischenfälle eine schlecht gestaltete Benutzeroberfläche oder eine unzureichende
Systemintegration den Störfall zumindest
mitverursacht hat. Wir sind an einem
Punkt angelangt, an dem durch singuläre Funktionssteigerung alleine keine Verbesserung der Behandlungsergebnisse
mehr zu erreichen ist. Neue technologische Innovationen müssen sich am Behandlungssystem und den Erfordernissen
der klinischen Arbeitsprozesse und der
involvierten Menschen – Patienten und
Personal – ausrichten.
Die Wissenschaftler des Fachgebiets
Arbeitswissenschaft und Produktergonomie der TU Berlin konzentrieren sich auf
klinische Arbeitssysteme und medizintechnische Produkte. Die Analyse klinischer Arbeitsabläufe steht dabei an erster
Stelle. Dabei werden die Arbeitsprozesse
nicht nur beobachtet und aufgezeichnet,
sondern gemeinsam mit dem klinischen
Personal analysiert und auf Schwachstellen und mögliche Verbesserungen durch
Technik, Organisation und Qualifikation
untersucht. Dadurch wird nicht nur die
Bereitschaft der beteiligten Klinikmitarbeiter erhöht, ihre Arbeitsabläufe nachhaltig zu verbessern, sondern auch ein wesentlich präziseres Abbild des Arbeitsflusses erstellt, als dies durch eine reine Beobachtung oder das einfache Dokumentieren messbarer Kenngrößen möglich wäre.
Auf dieser Grundlage wird dann ein
Pflichtenheft erstellt, welches dem Gerätehersteller die Möglichkeit bietet, sein Produkt optimal auf die Bedürfnisse und Anforderungen der klinischen Praxis abzu-
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
FEHLENDES
ZUSAMMENWIRKEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
stimmen. Empathische Produktentwicklung ist gefordert, das heißt, die Entwickler sollen sich in die Behandlungsabläufe
hineindenken, sollen erkennen, welche
Teilaufgabe ihr Gerät erfüllen kann und
wie das Gerät das klinische Personal bestmöglich bei der Behandlung unterstützt,
ohne dem Patienten zu schaden.
Zusätzlich liefern die Prozessanalysen
auch Anregungen für Neuentwicklungen
oder die funktionale Erweiterung bestehender Produkte. Denn sie zeigen auf, wo
der Arbeitsprozess durch den Einsatz von
Technik optimiert werden kann.
B E R AT E R I N D E R P R O D U K T ENTWICKLUNG
Im Verlauf der Produktentwicklung werden sowohl Experten für Ergonomie als
auch potenzielle Anwender immer wieder
als Berater in den Entwicklungsprozess
integriert. Nur durch eine möglichst gute
Kommunikation zwischen Anwender und
Entwickler lässt sich sicherstellen, dass
ein Medizinprodukt später über eine ergonomisch gut gestaltete Benutzerschnittstelle verfügt, die ins Arbeitssystem passt. Für eine gute Kommunikation
zwischen Mensch (Anwender) und Maschine (Medizintechnik) ist also immer
erst einmal eine hinreichende Kommunikation zwischen Anwender und Entwickler erforderlich.
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Während der Produktentwicklung
helfen eine Vielzahl von Methoden, die
Gebrauchstauglichkeit von Medizintechnik schrittweise zu verbessern. So ermöglichen beispielsweise strukturiert
durchgeführte Interviews in frühen Phasen der Produktentwicklung, die Anwenderakzeptanz für unterschiedliche Lösungskonzepte zu bewerten. In späteren
Phasen der Produktentwicklung, in der
bereits detaillierte Prototypen oder Vorserienmodelle eines Gerätes existieren,
können zum Beispiel durch Handhabungstests der Einsatz und die Bedienung eines Gerätes genau untersucht
werden. Dadurch lassen sich potenzielle
Bedienschwachstellen eines Medizinproduktes frühzeitig erkennen und das Design der Benutzeroberfläche rechtzeitig
korrigieren. Eine besondere Bedeutung
kommt diesem Vorgehen bei der Entwicklung von Medizinprodukten mit einem
hohen Risikopotenzial zu. Hier helfen
Benutzertests, die in einer simulierten
Anwendungsumgebung durchgeführt
werden, den Einsatz von Medizintechnik
unter zeitkritischen Bedingungen – zum
Beispiel während eines Notfalls – zu erproben. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Geräte in der späteren Anwendung schnell und sicher eingesetzt
werden können.
Ideal ist es, wenn die Einbindung von
Anwendern und Ergonomieexperten bereits zu Beginn des Entwicklungsprozes-
ses erfolgt. Dadurch werden Fehlentwicklungen vermieden und Entwicklungszeiten sowie Kosten reduziert.
Wichtig für eine benutzerzentrierte Produktentwicklung ist dabei die Nähe zum
Anwender. Hierzu verfügt das Fachgebiet Arbeitswissenschaft und Produktergonomie der TU Berlin zusätzlich zu seinen Kooperationskliniken in Berlin über
eine enges Netz von klinischen und wissenschaftlichen Kooperationspartnern in
Europa, Amerika und Japan.
EIN EXPERIMENTELLER OP
Gemeinsam mit international tätigen
Wissenschaftlern, Ärzten und Ingenieuren können so neue Trends und Entwicklungen diskutiert, erprobt und bewertet
werden. In einer Datenbank des Fachgebietes sind über 1000 Anwender von Medizintechnik unterschiedlicher Disziplinen und Anwendungsgebiete gespeichert, um bei Bedarf gezielt Versuchspersonen und Experten für die Evaluation eines Produktes zu gewinnen. So wurde
beispielsweise im Rahmen einer ergonomischen Untersuchung von Blutzuckermessgeräten die Gebrauchstauglichkeit
ausgewählter Geräte gemeinsam mit
mehr als 280 Diabetespatienten untersucht. Mit der Gestaltung von Technik
speziell für ältere Menschen beschäftigt
sich eine eigene Seniorenforschergruppe
TU BERLIN
des Fachgebietes, die aus zwanzig aktiven Mitgliedern besteht.
Zum Nachstellen klinischer Behandlungsabläufe, um den Einsatz neuer Technologien zu erproben, existierten im Versuchsfeld des Fachgebietes ein experimenteller Operationssaal sowie eine simulierte intensivmedizinische Behandlungseinheit. Stipendiaten und Doktoranden aus
China, Korea und Palästina helfen, interkulturelle Brücken zu schlagen, und unterstützen deutsche Medizintechnikhersteller
bei der Anpassung ihrer Geräte an die Erfordernisse neuer Märkte. Auch hier zählt
der Systemgedanke mehr als das schnell
verkaufte Einzelprodukt. Meist fehlt es in
Schwellenländern an der geeigneten Infrastruktur zur Schulung, Aufbereitung,
Wartung oder Instandsetzung von Medizintechnik. Bleibt dies bei der Beschaffung
unberücksichtigt, steht die moderne Technik bald nutzlos herum, weil es an qualifizierten Anwendern, den benötigten Einmalartikeln oder Ersatzteilen fehlt. Viele
Hersteller fangen gerade erst an zu erkennen, dass es nicht um die Lösung einzelner
technischer Probleme geht, sondern um
die möglichst ganzheitliche Integration
von Technik in die Behandlung der Patienten. In vielen Bereichen stehen wir mit dieser Wahrnehmung sicher noch ganz am
Anfang.
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FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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Prof. Wolfgang
Friesdorf (Bild oben:
rechts) und Claus
Backhaus im
Versuchs-OP an
der TU Berlin
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Auf dem Weg zum digitalen OP
Moderne Informationstechnik kann die Arbeit der Ärzte
und Schwestern erleichtern
Von Heinz U. Lemke
C
hronisch überlastete Ärzte,
erschöpfte Schwestern: Das medizinische
Personal in deutschen Krankenhäusern
arbeitet an der Leistungsgrenze. Experten
zufolge wird das Arbeitspensum der Chirurgen bis zum Jahr 2020 weiter zunehmen – zwischen 14 und 47 Prozent. Die
Engpässe, die sich schon jetzt im Operationssaal bemerkbar machen, werden
deutlich zunehmen.
Das Problem lässt sich nur lösen,
wenn moderne Informationstechnik und
mechatronische Systeme den Chirurgen
die Arbeit erleichtern. Unter Mechatronik versteht man die Kombination von
mikroelektronischen und mechanischen
Technologien, sie bestimmt wesentlich
die Entwicklungstrends in der Medizintechnik. Da Operationssäle und bildgestützte Abteilungen die kostenintensivsten Bereiche eines Krankenhauses sind,
ist die Optimierung der Arbeitsabläufe
für die Gesundheitsversorger von größter
Bedeutung. Besondere Aufmerksamkeit
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GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
schenken Chirurgen, Informatiker und
Ingenieure vor allem komplexen digitalen
Infrastrukturen, der minimal-invasiven
Chirurgie oder der interventionellen Radiologie.
Die Analyse der Situation offenbart erhebliche Schwachstellen: Bisher werden
die Arbeiten im OP durch ergonomische
Mängel behindert. Die Daten aus den
Bildern haben nicht die benötigte Qualität, es fehlen einheitliche Verfahren und
Arbeitsabläufe. Auch die Integration der
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
chirurgischen Hilfsmittel und Systeme ist
unzureichend standardisiert. Besonders
zwischen den Chirurgen und den Radiologen erfolgt die Kommunikation nur lückenhaft, dort liegen erhebliche Reserven, um die Qualität der Kooperation
zu verbessern.
Die Aufgabe besteht darin, die Daten
zum Gesundheitszustand des Patienten
möglichst in Echtzeit zu erfassen. Die
Kommunikationstechnik und die mechatronischen Systeme sind möglichst nahtlos in den OP und die Arbeit der Chirurgen zu integrieren, unter besonderer Berücksichtigung der Anforderung an bildgebende Verfahren. Die digitale Bildgebung im OP ist bereits heute ein integraler
Bestandteil vieler chirurgischer Arbeitsabläufe. Dahinter verbirgt sich das Konzept des chirurgischen PACS. Dieses Kommunikationssystem zur Bildakquise verbessert die bildgestützte Chirurgie. Auch
für den digitalen Operationssaal stellt es
die nötige Infrastruktur zur Verfügung.
Um gemeinsame Schnittstellen für die
Bildakquise und die Kommunikation
mithilfe der digitalen Bilder festzulegen,
muss eine entsprechende PACS-Architektur entwickelt werden.
BILDER FÜR DEN
D I G I TA L I S I E R T E N O P
Die TU Berlin arbeitet dabei eng mit Forschern der Universität Leipzig zusammen. Bisher wurden beispielsweise
Werkzeuge entwickelt, um die chirurgischen Arbeitsprozesse zu modellieren.
Auch wurden die ersten Schritte gemacht, um einen einheitlichen Standard
für die digitale Bildkommunikation in
der Chirurgie zu entwerfen. Dabei ging
es darum, die Korrelation von Arbeitsabläufen bei verschiedenen chirurgischen
Eingriffen zu erkennen. Durch Simulation lassen sich gleiche oder ähnliche Abläufe identifizieren.
TU BERLIN
Danach galt es, Konzepte und Daten bereitzustellen, um die chirurgischen Prozesse mit Kommunikationstechnologie
und mechatronischen Hilfsmitteln zu verbinden.
Bisher wurden eine Reihe chirurgischer Arbeitsabläufe aus der alltäglichen
Praxis in eine formale, elektronisch verarbeitbare Darstellung aufgenommen.
Wissenschaftler der TU Berlin und der
Universität Leipzig erstellen derzeit eine
Datenbank, die chirurgische Arbeitsabläufe und ausgewählte Simulationen im
Operationssaal anbietet.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der
Standardisierung im digitalen Operationssaal. In diesem Zusammenhang übernahm die TU die Federführung in der Dicom Working Group »Dicom in Surgery«, an der sich mehr als fünfzig Institutionen weltweit beteiligen.
q www.cg.cs.tu-berlin.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Klare Einsicht vor dem Schnitt
Elektronische Systeme ziehen medizinische Informationen aus digitalen Bildern
Von Olaf Hellwich
F
ür viele Aspekte des menschlichen Lebens ist das Sehen der dominierende der menschlichen Sinne. Der
Grund dafür liegt offensichtlich in der im
Vergleich mit anderen Sinnen erheblich
höheren Dichte und Präzision von Information über die Umwelt, die in den gesehenen Bildern enthalten sind. Diesen Vorteil macht sich der Mensch auch in technischen Systemen durch bildgebende
Sensoren zunutze.
Besonders vielfältig sind die Arten
verwendeter Bilder in der Medizin. Bildgebende Sensoren erlauben häufig eine
vertiefte Beurteilung der menschlichen
Gesundheit und die Messung diverser
Parameter des Körpers, seiner Form und
seiner Funktionen. Der Einblick ins Innere des Menschen ist ohne bildgebende
Sensoren sehr schwierig, wenn nicht gar
undenkbar.
Wie viele Menschen täglich am eigenen Leib erfahren, ist die Gesundheit
nicht nur vielfältig und komplex. Fragen
der Mediziner können häufig nicht hinreichend beantwortet werden, um Gesundheitsprobleme präzise zu identifizieren,
Risiken korrekt einzuschätzen und über
die richtige Therapie zu entscheiden. Wenigstens bei der Erhebung des aktuellen
Gesundheitszustands kann die medizinische Bildverarbeitung helfen, diese unbe-
50
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
friedigende Situation zu verbessern.
Dazu stellt sie ein ganzes Arsenal von
Sensoren und Methoden zur Verfügung.
Von Infrarot- und Ultraschall- über Röntgenaufnahmen bis zu dreidimensionalen
Bildern aus dem Computer und dem
Magnetresonanztomographen (MRT)
reichen die verschiedenen Verfahren.
Die Wissenschaftler des Fachgebiets
»Computer Vision« der Fakultät für
Elektrotechnik und Informatik der TU
Berlin haben sich die Aufgabe gestellt,
moderne Verfahren zur Auswertung medizinischer Bilddaten zu entwickeln. Dabei setzen sie die neuesten methodischen
Erkenntnisse zur automatischen Gewin-
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
nung der Informationen aus den Bildern
ein. Einerseits geht es darum, die medizinische Interpretierbarkeit der Daten
durch eine geeignete Visualisierung zu
verbessern. Der Arzt muss in die Lage
versetzt werden, die gesuchte Information schnell und sicher aus den Bildern zu
entnehmen.
Im Zentrum der Forschungen steht
aber die automatische Extraktion von Information aus den medizinischen Bilddaten. Stark vereinfacht dargestellt, beginnt
die Analyse der Daten mit der so genannten Segmentierung, das heißt, der Identifizierung zusammenhängender homogener
Abschnitte in den Bildern. Diese können
beispielsweise Organen oder Gewebe entsprechen, deren räumliche Anordnung im
Körper sich dann daraus exakt rekonstruieren lässt. Oft liegt das Ziel der Analyse
darin, bestimmte Organe automatisch zu
erkennen und zu charakterisieren, das
heißt, ihre quantitativen Eigenschaften zu
bestimmen. Damit die neuen Verfahren in
den medizinischen Arbeitsalltag integriert
werden können, sind zusätzlich geeignete
Benutzeroberflächen beziehungsweise
Möglichkeiten zum interaktiven Eingriff
bereitzustellen. Sie werden in die Software
der Mediziner integriert.
REALE UND VIRTUELLE
W E LT V E R B U N D E N
Ein typisches Beispiel für die Forschungen an der TU Berlin ist die Kooperation
mit dem Zentrum für Weltraummedizin
Berlin. Das Zentrum untersucht die Auswirkungen der Gravitation auf den
menschlichen Organismus unter medizinischen, physiologischen und psychologischen Aspekten. In einer langfristig angelegten »BedRest«-Studie wird der Aufenthalt im Weltraum durch eine mehrwöchige Bettlägerigkeit simuliert. Neben
vielen anderen Messungen und Untersuchungen interessiert die Physiologen vor
allem, wie sich die Beine der Testpersonen
in Volumen und Gestalt verändern.
Mithilfe von Messkameras und Laserscannern können die relevanten Körperbereiche dreidimensional und berührungslos rekonstruiert werden. Anhand der Ergebnisse erfährt der Physiologe nicht nur,
wie stark sich das Volumen ändert, sondern kann direkt ablesen, an welchen
Stellen sich das Gewebe
diesbezüglich verändert. Weitere Rückschlüsse lassen die direkte Kombination der
geometrischen Daten
mit den Bildern einer
Thermalkamera
zu.
Das Thermalbild einer
Infrarotkamera wird direkt der dreidimensionalen Rekonstruktion
überlagert, um die Zusammenhänge
zwischen Temperatur und
Volumen zu erkennen.
Im Ergebnis dieser Datenanalyse entsteht die
räumliche Visualisierung des Körpers eines
Probanden, in Abhängigkeit von der
Oberflächentemperatur zu jedem Zeitpunkt der Studie.
Ein weiteres Beispiel bieten die so genannten Augmented-Reality-Techniken
in der Leberchirurgie. Bei einem solchen
System werden reale Bilder durch zusätzliche Informationen ergänzt. Augmented
Reality verbindet somit die reale und die
virtuelle Welt. Im klinischen Alltag der
Chirurgie sind präoperative Daten aus
der Computertomographie oder Ultraschallaufnahmen eine unverzichtbare
Hilfe für den Operateur. Beispielsweise
können dem Arzt in Computertomographien erkannte Tumore als virtuelle Daten während der Operation sichtbar gemacht werden. Durch eine Kombination
dieser Daten mit so genannten navigierten chirurgischen Instrumenten, deren
Positionen und Bewegungen automatisch
vermessen werden, können Sicherheit
und Genauigkeit einer Operation erhöht
werden. Die virtuellen Daten mit dem
realen Organ im Körperinnern zu überlagern stellt dabei eine wichtige Herausforderung dar. Sie erfordert das Verständnis
des praktischen klinischen Gesamtszenarios, die Auswahl geeigneter Technologie
(Hardware wie Displays, Trackingsysteme und Sensoren), die mathematische
Modellierung der Zusammenhänge und
eine entsprechende Umsetzung in Software.
Die Forscher am Fachgebiet »Computer Vision« arbeiten eng mit der Abteilung Medizinische und Biologische Infor-
TU BERLIN
matik des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg zusammen. Diese Abteilung sowie die Chirurgische und
Radiologische Klinik der Universität
Heidelberg haben den Prototypen eines
bildgestützten Navigationssystems für
die onkologische Leberchirurgie entwickelt. Dieses so genannte Image-guided
Surgery System (IGSS) versetzt den Chirurgen in die Lage, sein Instrument bei
der Behandlung von Tumoren an oder in
der Leber punktgenau zu führen. Dazu
muss er die präoperativ erfassten Daten
exakt auswerten: beispielsweise die Segmentierung der Lebergefäßbäume. Für
eine erfolgreiche Entfernung eines Lebertumors ist die Kenntnis der genauen Lage
des tumorösen Gewebes und des notwendigen Sicherheitsabstandes zu den gesunden Zellen erforderlich. Die bisherige
computergrafische Präsentation erfolgte
mithilfe eines Stereo-Bildschirms, auf
dem ohne die Verwendung weiterer Hilfsmittel – beispielsweise Brillen – dreidimensionale Darstellungen betrachtet
werden können.
PROTEINMUSTER FINDEN
Die Forscher der TU Berlin wollen nun
ein Augmented-Reality-Szenario für diese Umgebung bereitstellen. Ihr Ziel ist es,
die virtuellen Daten der präoperativen
Planung direkt in das Sichtfeld des Chirurgen zu projizieren. Ein solches System
bezeichnet man als See-Through-Head-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
51
Vorderansicht des
Kopfgestells (Headset), um medizinische
Bilder in das Gesichtsfeld des Chirurgen zu
projizieren
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Headset für einen Arzt
in der Laborerprobung
Mounted-Display. In Kooperation mit
dem Deutschen Herzzentrum in Berlin
werten die Forscher derzeit Bilddaten aus
einem Magnetresonanztomographen
(MRT) aus. In einem gerade begonnenen
Projekt geht es um die Identifikation von
Proteinmustern, die mithilfe von Kontrastmitteln sichtbar gemacht werden
und es erlauben, stabile und instabile
Plaques zu unterscheiden. Plaques sind
Gefäßablagerungen, die beim Zerreißen
dazu führen können, dass sich Blutgerinnsel bilden. Diese Gerinnsel können die
Gefäße verschließen und Herzinfarkte
auslösen. Die Wissenschaftler konnten
zeigen, dass nur die stabilen Plaques solche Rupturen verursachen. Stabile und
instabile Plaques unterscheiden sich in
vielerlei Hinsicht. Sie genau zu charakterisieren ist daher ein wichtiges Mittel zur
Prävention, Therapie und Sekundärprophylaxe in breiten Bevölkerungsgruppen.
Die nicht invasive Darstellung und Charakterisierung der Plaques im menschlichen Herzen ist bisher noch unbefriedigend gelöst, da der schnelle Herzschlag
und die Atmung die tomographischen
Bilder verzerren. Die technische Entwicklung und neue wissenschaftliche Ergebnisse der kardialen Magnetresonanztomographie lassen die Probleme jedoch
lösbar erscheinen. Deshalb hat sich ein
Konsortium aus dem Deutschem Herzzentrum, dem Universitätsklinikum
Charité, der Schering AG und der Forschergruppe der TU Berlin gebildet. Es
hat sich das Ziel gesetzt, ein Verfahren
zur Identifikation, Lokalisation und Analyse von gefäßverengenden Plaques bis
zur Praxisreife zu entwickeln.
52
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
S C H N E L L E A N A LY S E V E R FA H R E N G E S U C H T
Die Aufgabe der TU-Gruppe ist es dabei,
geeignete Bildanalyseverfahren zur Darstellung und Charakterisierung der
Plaques zu entwickeln. Die zu entwickelnde Software wird es geschulten Spezialisten erlauben, die Visualisierung variabel
zu gestalten und die Plaques interaktiv zu
beurteilen. In Kombination mit der automatischen Bildanalyse entsteht ein hohes
Potenzial zur wirtschaftlichen Nutzung
der Erkenntnisse. Im Einzelnen umfassen
die Aufgaben eine quantitative Farbdarstellung von MRT-Daten, die es erlaubt,
Details kontrastreich zu erkennen und
physikalische Parameter abzulesen. Eine
darüber hinausgehende Klassifikation
der Gewebe liefert automatisch semantische Information, beispielsweise die Identifikation krankhafter Veränderungen.
In der Genom- beziehungsweise Proteomforschung werden die in großer Vielfalt im menschlichen Körper auftretenden
und oft noch unbekannten Proteine analysiert. Dabei ist man wegen der Vielzahl
der Proteine auf schnelle Analyseverfahren angewiesen. In einer Kooperation mit
der Fachgruppe Proteomics von Prof.
Erich Wanker am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in BerlinBuch untersuchen die Wissenschaftler
der TU Berlin mikroskopische Aufnahmen einzelner Zellen. Ihr Ziel ist es, darin
Proteine zu identifizieren. Die Forschungen gründen sich auf der Annahme, dass
ein bestimmtes Protein entsprechend seiner Funktion in der Zelle ausschließlich
oder wenigstens bevorzugt an bestimmten Orten oder Organellen auftritt. Das
Protein kann in einer durch Antikörper
oder Farbstoffe präparierten Probe in den
mikroskopischen Bildern sichtbar werden. Mithilfe von Verfahren der Mustererkennung wäre es möglich, die Proteine
automatisch zu identifizieren. Werden die
Bildmerkmale im Zusammenhang mit
den Organellen der Zelle analysiert, wird
auch eine weiter gehende Beschreibung
der Proteine möglich. Das Ziel der Arbeiten ist es, ein automatisches Bildanalyseverfahren zu entwickeln, das die Bearbeitungszeiten zur Identifikation und Charakterisierung von Proteinen stark verkürzt.
Vorgehensweise und Zielrichtung in
dem zuletzt genannten Projekt sind typisch für das in Computer-Vision-Verfahren liegende Innovationspotenzial. Denken wir an das menschliche Sehvermögen, so wird deutlich, dass die Informationsgewinnung aus Bilddaten dem Menschen auf der Grundlage seines visuellen
Sinns – im Alltag wie auch in der Wissenschaft – erlaubt, komplexe Sachverhalte
innerhalb kürzester Zeit zu verstehen und
zu analysieren. Gelingt es, diese Leistung
mithilfe von Computern – also automatisiert – zu vollbringen, rückt die Lösung
von Problemen in greifbare Nähe, die bisher für den Menschen unzugänglich waren. Beispielsweise könnten umfangreiche Informationen über menschliche Körperfunktionen, etwa das schlagende
Herz, erfasst und analysiert werden.
q www.cv.tu-berlin.de
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
N
Nierenwäsche
per Tastendruck
Interaktive Planung und Simulation
ermöglichen die Computerintegrierte Dialyse
Von Ulrich Geske, Stefan Jähnichen und
Reinhard Mylius (†)
TU BERLIN
iereninsuffizienz: An dieser
Krankheit leidende Patienten sind in
mehrfacher Hinsicht belastet. Zwar können sie durch ständige Blutwäschen
mithilfe der so genannten Künstlichen
Niere relativ gut behandelt werden. Aber
sie verbringen viel Zeit in den Dialysestationen: jeweils mehrere Stunden, rund
dreimal in der Woche – über Jahre hinweg. Da die Patienten häufig gesundheitlich nicht sehr stabil sind, ist es wichtig,
ihnen möglichst immer den gleichen Behandlungsplatz, das gleiche Behandlungsgerät und die gleiche betreuende
Schwester zu bieten, um nur geringe Abweichungen im Behandlungsrhythmus
zuzulassen.
Niereninsuffizienz ist zunehmend eine
Zivilisationskrankheit. Bei vielen Patienten können die Behandlungen unter den
gewünschten Vorgaben kaum noch von
Hand geplant werden, zumal der Kostendruck im Gesundheitswesen steigt. Eine
Software könnte in die Bresche springen
und diese Aufgabe übernehmen. Sie muss
auch und vor allem die ständig erforderlichen Umplanungen beherrschen, denn
manchmal steht ein bestimmtes Dialysegerät nicht zur Verfügung, die Patienten
verspäten sich oder die Parameter der Dialyse müssen verändert werden. Forscher
der TU Berlin entwickeln und erproben
seit einiger Zeit eine softwaretechnische
Lösung, die es auch ermöglicht, in die Planung interaktiv einzugreifen. Das nächste
Ziel ist, der leitenden Schwester ein über
die grafische Benutzeroberfläche einfach –
ohne Informatikwissen – zu bedienendes
Werkzeug für die Planungen in die Hand
zu geben. Die Kombination von interaktiver und automatischer Planung hat den
Vorteil, dass die Software flexibel ist.
Jede Software, die in der Medizin eingesetzt wird, muss viele Faktoren berücksichtigen: die Regeln und Vorgänge zur
Abrechnung oder die Dokumentation der
Behandlung oder die Medikation des Patienten. Damit diese Vielfalt gewährleistet werden kann, ist solche Software modular aufgebaut. Um in der Dialyse mit
dem technischen Fortschritt auf Augenhöhe zu bleiben, die steigende Patientenanzahl zu bewältigen und die Kosten zu
reduzieren, sind sowohl in der Software
als auch bei der Hardware ständig bessere Lösungen gefordert. Sie sollen die vielen Informationen bündeln und verarbei-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
53
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
ten. In der Dialyse geht es vor allem
darum, die Qualität der Blutwäsche zu sichern und die Leistung ordnungsgemäß
abzurechnen. Die Software muss auch in
der Lage sein, die Diagnostik zu effektivieren, die Daten aus dem Labor zu verarbeiten, die Briefe der Ärzte zu schreiben
und die betriebswirtschaftliche Seite der
medizinischen Praxis zu unterstützen.
Die Computer-integrierte Dialyse erfasst auch die Krankenversicherungskarte des Patienten und seine Stammdaten.
Des Weiteren gehören dazu eine Datenbank für Medikamente, ein Modul für die
Leistungsziffern, die Zuordnung der
Krankenart, die Krankenakte und das Abrechnungsmodul. Die Patienten werden
einem bestimmten Dialyseplatz zugeordnet, alle relevanten Ereignisse werden aufgenommen und gespeichert. Innerhalb der
Computer-integrierten Analyse wird aus
den Planungsdaten für die Dialyse auch
ermittelt, welche Kapazitäten bereitgestellt werden müssen: Hilfsstoffe, Schwestern und Ärzte. Ein Teil der Software übernimmt die Qualitätssicherung, das Controlling und führt eine Statistik, um die
Abrechnung und die wirtschaftlichen
Aspekte der Behandlungen zu ermitteln.
Zur Nierenersatztherapie wurde eine
Vielzahl von Verfahren entwickelt, die
Gerätehersteller haben leistungsfähige
und sichere Apparate entwickelt. Somit
ist eine individuell auf den Patienten zu-
geschnittene Dialyse möglich, deren Planung und Ablauf immer komplexer und
aufwändiger zu steuern sind.
Um die Dialyse simulieren, planen
und optimieren zu können, muss man die
Prozesse auf der Basis von Zeit, Kapazität, Qualität und Kosten modellieren. Die
hohe Komplexität des Optimierungsproblems hat zur Folge, dass genaue und optimale Lösungen oft nicht schnell oder –
wie es bisher der Fall war – überhaupt
nicht erzeugt werden können. Um einen
geordneten Ablauf in der Dialyse zu erreichen, sind die Behandlungszeiten der
Patienten zu planen, mit ihrem Dialyseplatz, dem richtigen Verfahren und der
geeigneten Maschine. Das notwendige
Material und das Personal sind gleichfalls bereitzustellen.
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
KOMMT ZUM ZUGE
Spezielle Suchverfahren bewältigen diese
komplexe Aufgabe am besten. Sie gehören zur künstlichen Intelligenz und können alle Kriterien berücksichtigen, ohne
dass Konflikte entstehen. Sie erkennen
frühzeitig, wenn ein Planungslauf in die
Sackgasse zielt und wählen selbstständig
Alternativen. Sogar in sehr kurzer Zeit erstellen sie eine Planung, die nahe am Optimum liegt. Es reicht zum Beispiel aus,
die verfügbaren Dialysegeräte, die Patienten und die Behandlungsdauer anzugeben, um zufrieden stellende Behandlungstermine zu erreichen – aus Sicht der
Patienten. Zugleich sorgt die Computerintegrierte Dialyse dafür, dass die Geräte
wirtschaftlich ausgelastet werden. Jeder
Patient wird dabei von »seiner« Schwester betreut.
Dieses System kann auch kritische Situationen simulieren. Was muss zum Beispiel unternommen werden, wenn ein Gerät und eine Schwester gleichzeitig nicht
zur Verfügung stehen? Die Patientenbetreuung wird vom verbleibenden Personal übernommen, die Geräte den Patienten neu zugeordnet. Nur für wenige Patienten ändern sich die Termine.
Bei der Planung muss es gelingen, die
große Zahl der möglichen Planungen einzugrenzen und die unwirtschaftliche Nutzung von Ressourcen zu vermeiden. Die
Software muss in der Lage sein, Lösungen
zu generieren und dabei falsche, gefährliche oder unökonomische Varianten zuverlässig auszusortieren oder zumindest zu
melden und dabei das fachliche Wissen
des Planers zu integrieren. Dadurch hat
der menschliche Bearbeiter immer Gelegenheit, die automatisch erzeugte Problemlösung zu beeinflussen.
q www.first.fraunhofer.de
» Einblick
Die elektronische Gesundheitskarte – alle Daten auf einem Chip
Ein wichtiger Eckpfeiler der Reformen im deutschen Krankenversichertenkarte erfüllen, darüber hinaus jedoch mit
Gesundheitswesen ist die elektronische Gesundheitskarte, die
nach der Testphase ab 2006 schrittweise für alle rund 80 Millionen Krankenversicherten im Land eingeführt werden soll.
Der Erfolg des Projektes hängt davon ab, ob die notwendigen
rechtlichen Voraussetzungen und die technische Infrastruktur
für den elektronischen Datenverkehr zwischen Patienten, Ärzten, Kliniken und Kassen rechtzeitig geschaffen werden. Die
Karte soll die persönlichen Gesundheitsdaten der Versicherten
speichern. Sie ist auf verschiedene Ausbaustufen konzipiert,
sodass später unter anderem ganze Patientenakten auf dem
Chip gespeichert werden könnten. Geplant sind zunächst
Tests in mehreren Modellregionen. In ihrer ersten Ausbaustufe wird die Karte die Verwaltungsfunktionen der heutigen
54
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
neuen Funktionen ausgestattet sein. So kann sie die Versichertendaten online abgleichen und elektronische Rezepte speichern. Freiwillige Funktionen wie Daten zu Arzneimitteln oder
für den Notfall werden später verfügbar sein.
Die elektronische Gesundheitskarte fügt sich ein in eine Digitalisierungswelle, die das Gesundheitssystem effizienter und
kostengünstiger machen soll. So ist beispielsweise auch geplant, einen elektronischen Heilberufeausweis einzuführen,
der zum Beispiel Ärzte und Apotheker zum Zugriff auf medizinische Daten berechtigt.
q www.die-gesundheitskarte.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
» Im Gespräch
»Eine der wichtigsten Innovationen
der kommenden Jahre«
Die elektronische Gesundheitskarte wurde von Berliner Forschern maßgeblich mitgestaltet
B
undesweit gibt es rund
123 000 niedergelassene Ärzte, 65 000
Zahnärzte, 22 000 Apotheken, 2200 Kliniken und rund 300 Krankenkassen. Ihnen
stehen rund 80 Millionen Versicherte gegenüber. Mit der elektronischen Gesundheitskarte und einer telematischen Infrastruktur sollen sie alle ein gemeinsames
Informationsnetz nutzen. Die wichtigsten
Vorarbeiten dafür liefen am Berliner
Fraunhofer-Institut für Software und Systemtechnik, unter der Leitung von TUProfessor Dr. Herbert Weber. Er berichtet
über die Chancen und Probleme einer der
wichtigsten Innovationen der kommenden Jahre.
nischen Daten zwischen Patienten, Ärzten und Kassen elektronisch zu übertragen und auszuwerten.
Wie viel Zeit hatten Sie?
Herbert Weber: Wir hatten nur vier
Monate, um das Projekt zu bearbeiten
und die Ergebnisse zu veröffentlichen.
Während der Projektlaufzeit musste ein
Team aus den Mitarbeitern von drei
Fraunhofer-Instituten aufgebaut und koordiniert werden. Aus den Instituten waren 35 Mitarbeiter beteiligt, zeitweise
wurden sie von bis zu 100 Experten aus
dem Gesundheitswesen und der Industrie
unterstützt. Die Koordination oblag einer
Gruppe im Bundesgesundheitsministerium sowie einem Architektur-Board und
einem Steering Board. Sie können sich
vorstellen, welchen Abstimmungsaufwand eine solche Mammutaufgabe verursachte. Auch die unterschiedlichen Interessen der Vertreter in den Entscheidungsgremien bewirkten zusätzlichen
Aufwand. Dennoch haben wir es geschafft: Die Ergebnisse liegen auf dem
Tisch und stehen jetzt zur weiteren Verwendung zur Verfügung.
Geldkarten, biometrische Pässe,
Bonuskarten – und jetzt auch
noch eine elektronische Gesundheitskarte: Wozu?
Herbert Weber: Das Ziel
der geplanten elektronischen
Gesundheitskarte ist es, die
Ärzte, Apotheken, Krankenkassen und Patienten
miteinander zu vernetzen.
Ohne eine solche Vernetzung ist die dringend
notwendige Reform des
Gesundheitswesens
nicht denkbar. Die Gesundheitskarte ist eine
der wichtigsten Innovationen in den kommenden Jahren, sie wird
nicht nur der Informationstechnik einen gewaltigen Schub verleihen.
An ihr hängt eine flächendeckende
Infrastruktur, um die medizi-
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
55
IuK-TECHNOLOGIEN IM GESUNDHEITSWESEN
Wie weit sind die technischen Voraussetzungen der Gesundheitskarte gediehen?
Herbert Weber: Die grundsätzliche Architektur der Karte und des telematischen Netzes ist vorhanden. Das Berliner Fraunhofer-Institut für Software und
Systemtechnik hat sie gemeinsam mit
zwei weiteren Fraunhofer-Instituten, der
Industrie und Experten des Gesundheitswesens schon vor mehr als einem
Jahr entwickelt und an Bundesministerin Ulla Schmidt übergeben. Jetzt geht es
darum, die Gesundheitskarte zu entwickeln und die telematische Infrastruktur
aufzubauen.
Welche Effekte könnte eine solche Karte
bringen?
Herbert Weber: Experten schätzen,
dass in Deutschland in jedem Jahr mehr
als 10 000 Menschen an unerwünschten
Wirkungen von Arzneimitteln sterben,
weil die verschreibenden Ärzte nicht
wussten, dass die Patienten noch andere
Medikamente nehmen. Das sind mehr
Tote als im Straßenverkehr. Mit der elektronischen Gesundheitskarte wird beispielsweise die Information über alle verordneten Medikamente ermöglicht, um
gefährliche Komplikationen zu vermeiden. Andere Vorteile sind eher wirtschaftlicher Natur. Die Karte hilft, unnötige
Mehrfachuntersuchungen zu vermeiden,
weil alle Daten der Krankengeschichte
und der Diagnose allen Ärzten zugänglich sind – natürlich nur mit Einverständnis des Patienten.
Patienten und seinem Zuzahlungsstatus.
Hinzu kommen Daten über Medikamente, um die Verschreibung zwischen Ärzten, Apotheken und Versicherungen lückenlos abzurechnen. Künftig werden
Medikamente nur noch elektronisch verordnet. Auch die Einweisung in ein Krankenhaus oder die Verschreibung anderer
Hilfsmittel läuft über die Gesundheitskarte. Das System lässt sich ausbauen,
bis hin zu einem persönlichen Arzneimittelregister und einer elektronischen Patientenakte. Das Recht des Versicherten,
über die Verwendung seiner Daten selbst
zu entscheiden, bleibt jedoch gewahrt.
Sie erwähnten wirtschaftliche Effekte:
Was versprechen sich die Experten genau
von der neuen Karte?
Herbert Weber: Man schätzt die möglichen Einsparungen in der ersten Ausbaustufe auf über 80 Millionen Euro pro
Jahr. Wenn alle wichtigen Teile des Gesundheitssystems durch eine gemeinsame
elektronische Infrastruktur vernetzt sind
und die Patienten ihre Daten immer aktuell zur Verfügung haben, kann man viele
der heute mit Papier, ausgedruckten Formularen und der Post organisierten Abläufe rationalisieren. Das spart erhebliche
Mittel und vor allem Zeit. Natürlich muss
man die Administration der Prozesse
dann auf die neuen technischen Möglichkeiten hin umgestalten. Nicht mehr Bürokratie, sondern weniger, das ist das Ziel
der elektronischen Gesundheitskarte.
Nicht mehr Aufwand, sondern weniger.
Welche rechtliche Grundlage gibt es für
die Gesundheitskarte?
Welche Probleme mussten Sie bei der Entwicklung der Lösungsarchitektur bewältigen?
Herbert Weber: Zur Einführung der
elektronischen Gesundheitskarte hat der
Bundestag im Jahr 2003 ein Gesetz verabschiedet, das die Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung regelt.
Darin wurde der Rahmen für die technische Ausgestaltung der Gesundheitskarte und der telematischen Infrastruktur
festgelegt. Das Gesetz gibt vor, welche
Daten erfasst und gespeichert werden.
Dazu gehören administrative Angaben
zur Person, zur Krankenversicherung des
Herbert Weber: Die Lösungsarchitektur beschreibt die Nutzung der Karte und
der elektronischen Dienste in einer medizinischen Informations- und Kommunikationsinfrastruktur. Die Infrastruktur
umfasst die IT-Systeme der Arztpraxen,
der Apotheken und Krankenhäuser und
gestattet die reibungslose Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Das medizinische Personal, die Patienten, die Versicherungen und die kassenärztlichen
Vereinigungen finden in dieser Infra-
56
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
struktur eine gemeinsame Sprache, eine
gemeinsame Kommunikation.
Das klingt nach der Freizügigkeit des Internets, in dem sich jeder tummeln kann,
wie er will …
Herbert Weber: Der Zugang ist natürlich auf registrierte Nutzer beschränkt,
denn medizinische Daten sind sensibel
und sehr intim. Sie werden nur dann lesbar sein, wenn gleichzeitig eine gültige
Gesundheitskarte und ein Heilberufeausweis vorliegen, die sich gegenseitig authentifizieren und den Zugriff ermöglichen. Darüber hinaus bietet die Lösungsarchitektur eine Sicherheitskonzeption
und Mechanismen, um die maximale Sicherheit der Daten zu gewährleisten.
Ist die Arbeit nun getan?
Herbert Weber: Sie fängt eigentlich erst
an. Das Projekt hat innovative Lösungen
für eine Vielzahl von technischen – insbesondere sicherheitstechnischen – Problemen geschaffen. Dazu gehören das Konzept des virtuellen Dateisystems und ein
zugeordnetes Ticketsystem, das den Zugang zu den medizinischen Anwendungsdaten absichert. Die entwickelte Lösungsarchitektur entkoppelt die elektronischen Dienste weitgehend von den
Partnern, welche die Kommunikationsinfrastruktur anbieten. Dadurch wird das
System sicherer. Außerdem erleichtert es
Erweiterungen oder spätere Entwicklungen, wenn sich neue Anwendungen ergeben oder neue Technologien ins Spiel
kommen. Wir haben versucht, in der ersten Version die Komplexität möglichst
niedrig zu halten, um die grundsätzliche
Tauglichkeit zu erproben. Mit wachsenden Anforderungen kann das System
aber entsprechend aufgerüstet werden.
Die Lösungsarchitektur ist flexibel, wir
können sie später an die praktische Nutzung anpassen, etwa durch veränderte
Parameter im Ticketmanagement. Dadurch erhalten wir Spielräume für die
Phase des Aufbaus und des anfänglichen
Betriebs der Infrastruktur.
Die Fragen stellte Heiko Schwarzburger.
Gesundheitswirtschaft
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Gesundheit in aller Munde
Der Sektor ist auf dem Sprung, eine neue Wachstumsbranche zu werden
Von Klaus-Dirk Henke
D
ie Gesundheitswirtschaft wird
innerhalb unserer Dienstleistungsgesellschaft an Bedeutung gewinnen. Sie spielt
international oder regional, zum Beispiel
in Berlin und Brandenburg, eine nicht zu
unterschätzende Rolle. Nicht nur für die
Krankenversorgung und die Prävention,
kurative Behandlung, Rehabilitation,
Pflege und Palliativmedizin ist sie unverzichtbar. Eine sozial ausgewogene Gesundheitswirtschaft gehört wegen des demographischen Wandels auch zu einer der
wenigen personalintensiven Wachstumsbranchen in unserer Volkswirtschaft.
Die wichtigsten Innovationen in der
Entwicklung der Zivilisation folgen der
so genannten Theorie der langen Wellen.
Sie wurde von Nikolai Dimitrijewitsch
Kondratieff aufgestellt. Nach seinem Modell kommt es alle dreißig bis fünfzig Jahre zu einer grundlegenden Erfindung, die
dem technischen und gesellschaftlichen
Fortschritt neuen Schwung verleiht. Früher zählten dazu die Dampfmaschine,
58
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Stahl, Eisenbahnen, Erdölchemie, das Automobil und die Computer. Nun steht die
Menschheit vor einem neuen KondratieffZyklus. Darin wird nach Ansicht vieler
Fachleute die Gesundheit eine wesentliche Rolle als besonders innovative Branche spielen.
Nicht zuletzt aufgrund der steigenden
Lebenserwartung hat sich das Gesundheitsbewusstsein der Deutschen stark
verändert. Es entsteht eine aktive Nachfrage nach Leistungen, die ein möglichst
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
gesundes Leben, auch im Alter, ermöglichen. Gesunde Ernährung, Wellness und
Fitness sind mehr als nur Schlagworte einer Gesundheitswirtschaft, die nach neuen Ideen außerhalb der Sozialversicherung sucht. Medizintechnische Innovationen werden für wirtschaftliches
Wachstum sorgen. Privat finanzierte Angebote, deren Inanspruchnahme der eigenverantwortlichen Vorsorge überlassen
bleiben, nehmen zu. Schon heute arbeiten
im deutschen Gesundheitswesen mehr
Menschen als beispielsweise in der Automobilindustrie. Die meisten Arbeitsplätze, die durch einen wachsenden Gesundheitssektor entstehen, werden in Dienstleistungsberufen geschaffen.
GESUNDHEITSÖKONOMIE
WÄCHST WEITER
Vor diesem Hintergrund überrascht es
nicht, dass betriebs- und volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen
auch im Gesundheitswesen an Bedeutung gewinnen. Dazu gehören Krankheitskostenstudien, um die volkswirtschaftliche Auswirkung von Krankheiten zu ermitteln. Oder man vergleicht die
Gesundheitssysteme verschiedener Länder, beispielsweise innerhalb der Europäischen Union. Hersteller von Medizintechnik analysieren die Märkte, um Nischen für ihre Produkte und Dienstleistungen zu finden. Im Rahmen des Health
Technology Assessment werden neue
Produkte überprüft. Kosten-Nutzen-Berechnungen von Programmen zur Prävention oder von Behandlungsmethoden
für bestimmte Krankheiten spielen
gleichfalls eine wichtige Rolle, um die
Ausgaben für Schlaganfälle oder Krebs
zu ermitteln.
Um den komplexen medizinisch-technischen Fortschritt zu beurteilen, müssen
Ingenieure, Mediziner und Ökonomen
eng zusammenarbeiten.
Künftig wird das so genannte Usability Engineering in den Vordergrund treten.
Damit lassen sich wirtschaftliche Risiken
bei der Entwicklung neuer medizintechnischer Geräte gut abschätzen. Die Ärzte
selbst werden sich in die Innovationsprozesse einbringen, denn sie werden die
neuen Geräte als so genannte Lead User
anwenden. Möglicherweise wird es bald
den an den technischen Universitäten
ausgebildeten Mediziningenieur geben,
der die Patienten und Versicherten bei ihrer Behandlung unterstützt.
Die Gesundheitsökonomie wird als
wissenschaftliche Disziplin wachsen –
weltweit, sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der angewandten Forschung. Die Anzahl neuer Zeitschriften
auf diesem Gebiet ist kaum noch zu übersehen und zeigt eindrucksvoll die vielfältigen wissenschaftlichen Herausforderungen.
Nach der Reform ist vor der Reform:
Dieser Satz trifft angesichts der hohen
Komplexität des Gesundheitswesens zu.
Es gilt daher, die ständigen Veränderungen in der Gesundheitstechnologie und in
der Gesundheitsversorgung im In- und
Ausland zu verfolgen. Das Ziel ist es, den
Einfluss von gesetzlichen Vorgaben, Kassenbudgets und anderen Rahmenbedingungen auf die Einführung neuer Produkte und Verfahren abzuschätzen. Speziell das Sozialrecht und das europäische
Wettbewerbsrecht bestimmen das Spielfeld der Gesundheitswirtschaft maßgeblich mit. Dabei spielt auch der Vergleich
der nationalen Gesundheitssysteme eine
zunehmende Rolle, denn europaweit wird
es zu einem Benchmarking kommen. Wer
heute Spitze sein will, der muss sich mit
den exzellenten Regionen nicht nur in
Deutschland, sondern in ganz Europa
und darüber hinaus messen.
Die wichtigste Frage aber wird sein,
wie man innovative Gesundheitstechnologien künftig bezahlen kann. Angesichts
knapper werdender Ressourcen rückt die
Frage der Finanzierung mehr und mehr in
den Vordergrund. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht sind neben dem gesetzlichen Rahmen durch das Sozialrecht,
Privatrecht, Krankenhausrecht oder
Wettbewerbsrecht vor allem die Mittelaufbringung durch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, Prämien oder Selbstbeteiligung entscheidend. Zugleich müssen die Gesundheitsleistungen abgerechnet und honoriert werden.
Diese doppelte (äußere und innere) Finanzierung unterscheidet die Krankenversicherung von der Rentenversicherung, wenn man von den Rehabilitationsleistungen einmal absieht. Durch ökonomische Anreize ausgelöstes Fehlverhalten, Risikoselektion in der Krankenversi-
TU BERLIN
+ 1000 %
+ 900%
+ 800 %
+ 700 %
+ 600 %
+ 500%
+ 400 %
+ 300 %
+ 200 %
+ 100 %
1970
1975
1980
1985
1990
cherung und die asymmetrische Informationsverteilung zwischen Arzt und Patient und Versicherung und Versicherten
gehören zu den Problemen, die mit den
verschiedenen Formen von Finanzierung
und Vergütung verbunden sind und die
Wirtschaftlichkeit (Effizienz) einer sozialen Gesundheitswirtschaft beträchtlich
beeinflussen. Derzeit werden die Leistungen des Gesundheitswesens unterschiedlich finanziert, je nachdem, ob sie der
Pflege-, der Kranken-, der Unfall- oder
der Rentenversicherung zuzuordnen
sind. Hinzu treten die privaten Krankenversicherungen.
K O N Z E N T R AT I O N S P R O Z E S S E
E R WA R T E T
Weiterhin gibt es Abrechnungsunterschiede zwischen dem ambulanten und
dem stationären Sektor. Abgesehen von
den noch begrenzten wettbewerblichen
Formen der Vergütung sieht das so genannte Vertragsrecht innerhalb der Sektoren zwischen Leistungserbringern und
Krankenkassen noch zu viele gemeinsame und einheitliche Abrechnungen vor.
Schließlich ist mit der sich zurzeit verändernden Abrechnungsstruktur im Krankenhaus durch Fallpauschalen mit einem
weiteren Konzentrationsprozess zu rechnen. Überkapazitäten werden abgebaut,
die Kliniken werden sich spezialisieren
und die Verweildauer der Patienten im
Krankenhaus wird sinken. Die getrennte
Finanzierung von laufenden Betriebsausgaben und von Investitionen ist angesichts der Finanznot der öffentlichen
Haushalte reformbedürftig.
q http://finance.ww.tu-berlin.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
59
1995
2000
2005
Ausgaben und
Leistungen der
gesetzlichen
Krankenversicherung(Veränderung gegenüber 1970 in Prozent)
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Wachstum durch
technologische Spitze
Die deutsche Medizintechnik braucht innovative Impulse,
um sich weiterhin gut auf dem Weltmarkt zu behaupten
Von Kurt Hornschild
Deutschland knapp 150 000 Personen in
11 000 Unternehmen beschäftigt. Die
Branche ist durch mittelständische Unternehmen geprägt. Neben wenigen großen gibt es viele mittelgroße und kleine
Unternehmen. Etwa 60 000 Personen arbeiten in Untenehmen mit weniger als
zwanzig Beschäftigten. Die Produktion
der Medizintechnik in Deutschland
nahm im Zeitraum von 1998 bis 2002
jährlich um 6,1 Prozent, die Ausfuhr sogar um 12,4 Prozent zu. Die Medizintechnik zählt damit zu den wenigen Industrien, die in Deutschland bis zuletzt hohe
Produktionszuwächse erzielten und
gleichzeitig ihre Beschäftigung ausgeweitet haben. Dynamisch war mit einer Zunahme von jährlich 10,6 Prozent aber
auch die Entwicklung der Einfuhr, während die inländische Nachfrage mit 3,3
Prozent nur vergleichsweise gering expandierte. Höhere Zuwachsraten bei Exporten und Importen als bei der inländischen Nachfrage zeigen, dass die Märkte
für Erzeugnisse der Medizintechnik einem erheblichen Wandel unterliegen: Um
Wettbewerbsverluste im Inland und die
ohnehin vergleichsweise geringe Nachfrage im Inland zu kompensieren, müssen
die Unternehmen zunehmend auf ausländischen Märkten erfolgreich sein.
Die weltweit steigende Nachfrage
nach Gesundheitsleistungen spricht dafür, dass die Medizintechnik generell gute
Wachstumschancen hat. Ob die Branche
allerdings den überdurchschnittlichen
Wachstumskurs der letzten Jahre fortsetzen kann, hängt von vielen Faktoren ab:
60
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
In der Medizintechnik sind in
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung,
den Reformen in den Gesundheitssystemen, der anhaltenden Internationalisierung der Märkte und nicht zuletzt auch
davon, wie Unternehmen und die Politik
in Deutschland auf diese Herausforderungen reagieren. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit hatte das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin beauftragt, die Perspektiven der Medizintechnik in Deutschland
zu analysieren. Die im November 2005
fertig gestellte Analyse ist die Grundlage
dieses Beitrags.
Mit einem Anteil von zwei Prozent an
den industriell Beschäftigten zählt die
Medizintechnik in Deutschland zwar zu
den kleineren Industriebranchen, doch
weist sie eine Reihe von Besonderheiten
auf, die ihr aus dem Blickwinkel der
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Volkswirtschaft besondere Bedeutung
geben: Mit einer Quote von 58 Prozent ist
sie überdurchschnittlich auf Export orientiert,
Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung erreichen rund acht Prozent des
Umsatzes. Damit gehört die Medizintechnik zum innovativen Hochtechnologiesektor der Wirtschaft. Die Unternehmen sind einem sehr starken technologischen Wettbewerb ausgesetzt, was sich
unter anderem auch daran zeigt, dass innovative Medizintechnikprodukte einen
extrem kurzen Lebenszyklus von manchmal nur zwei Jahren haben. Dies, die hohen qualitativen Anforderungen in der
Anwendung sowie der Einsatz einer Vielzahl von anspruchsvollen Technologien
(Elektrotechnik, Elektronik, Optik, Materialforschung, Feinmechanik) machen sie
zu einer Schlüsselbranche. Regionale
Schwerpunkte befinden sich vor allem im
Raum München, Stuttgart, Berlin,
Frankfurt, Düsseldorf und Hamburg. Sie
bieten aufgrund einer ausprägten Forschungsstruktur und eines sehr dichten
gesundheitlichen Versorgungsnetzes vielfältige Standortvorteile.
EXPORTSCHLAGER
MEDIZINTECHNIK
Eine weitere Besonderheit der Branche
ist, dass sie weit stärker als andere Industrien der staatlichen Regulierung unterliegt. Bevor Medizinprodukte in den
Verkehr gebracht werden, durchlaufen sie
einen aufwändigen Zulassungsprozess.
Zunächst ist die technische Marktzulassung zu erreichen. Durch die im europäischen Binnenmarkt getroffenen Vereinbarungen werden nationale Zulassungen
sowie die dahin führenden Prozesse von
den jeweiligen Ländern anerkannt. Sie
werden durch die CE-Kennzeichnung bestätigt und in Deutschland durch das Medizinproduktegesetz geregelt. Dieses Zulassungsverfahren soll dafür sorgen, dass
Sicherheit, Eignung und Leistung der
Medizinprodukte sowie die Gesundheit
und der erforderliche Schutz der Patienten gewährleistet sind. Als zweite Hürde
ist die Vergütung der Leistungen durch
die nationalen Leistungsnehmer (zum
Beispiel gesetzliche Krankenkassen) zu
erreichen. Die Aufnahme in den Leis-
tungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung schafft in der Regel erst die
Voraussetzung für den möglichen Markterfolg.
A U F D E M W E LT M A R K T G U T
BEHAUPTET
Der Weltmarkt für Medizinprodukte
wird auf ein Volumen von rund 200 Milliarden Euro geschätzt. Er ist in den 90erJahren mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von knapp elf Prozent kräftig expandiert. Auch in den Jahren von
2000 bis 2002 war mit 6,8 Prozent jährlich ein zwar deutlich abgeschwächtes,
aber immer noch beachtliches Wachstum
zu verzeichnen. Davon profitierte die
Medizintechnik in Deutschland, die hinsichtlich ihres Produktionsvolumens in
der Welt den dritten Platz einnimmt. Im
Jahr 2004 erreichte es 15,1 Milliarden
Euro.
Die Exporte der Länder mit der größten medizintechnischen Produktion dominieren auch den Welthandel. Die drei
größten Produzenten sind die USA, Japan und Deutschland. Sie bestreiten gut
zwei Fünftel der Weltexporte. Bei den Exporten rangiert Deutschland im Weltmarkt hinter den USA sogar an zweiter
Stelle. Die japanische Medizintechnik,
weit weniger exportorientiert als die deutsche, hatte im Zeitraum von 1995 bis
2003 besonders hohe Einbußen bei den
Weltmarktanteilen zu verzeichnen. Aber
auch die Medizintechnik Deutschlands
hatte in diesem Zeitraum trotz insgesamt
hoher Exportdynamik in Landeswährung
bei den in US-Dollar bewerteten Exporten kräftige Anteilsverluste. Allerdings
sind diese zu einem großen Teil Resultat
des in diesem Zeitraum hoch bewerteten
US-Dollar und weniger einer verringerten Wettbewerbsfähigkeit. So hat die Medizintechnik in letzter Zeit im Zuge des
gegenüber dem US-Dollar gestiegenen
Werts des Euro erhebliche Weltmarktanteile zurückgewonnen.
Ein Land, das sich als Standort in letzter Zeit weit nach vorne geschoben hat,
ist Irland. Insbesondere die US-amerikanische Industrie hat die sich dort bietenden Steuer- und Investitionsanreize genutzt und kräftig investiert. Diese Entwicklung zeigt, dass zumindest Teile der
TU BERLIN
Produktion von medizintechnischen Erzeugnissen der Standortkonkurrenz ausgesetzt sind und grundsätzlich verlagert
werden können. Aussagen von befragten
Unternehmen zeigen, dass auch die deutsche Medizintechnik die Niedrigkostenvorteile der nahe gelegenen Volkswirtschaften inzwischen nutzt. Zu den Investoren zählen neben den großen auch mittelständische Unternehmen.
Im Zuge der Entwicklung, bei der Exporte und Importe seit geraumer Zeit
deutlich rascher expandieren als der Inlandsmarkt, nimmt die Spezialisierung
der Standorte zu und verliert der inländische Markt zunehmend seine Schub- sowie Schutzfunktion. Am ausgeprägtesten
ist diese in Deutschland bei Gütern aus
dem Bereich »Bildgebende Röntgenverfahren und Strahlentherapie«, zu dem
zum Beispiel die bekannten Computertomographen gehören. Diese am Umsatz
gemessen gewichtigste Produktgruppe
war zwischen 1996 und 2004 mit einem
jährlichen Produktionswachstum von 8,9
Prozent nicht nur überdurchschnittlich
expansiv, sondern sie zeichnet sich auch
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
61
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Produktionsanlage für
schwach radioaktive
Implantate bei
Prostatakrebs, Firma
Eckert & Ziegler AG
Dazu ist es erforderlich, dass sie mehr als
eine Spitzentechnologie beherrschen und
diese in ihr Leistungsspektrum integrieren. Befragte Unternehmen wenden
schon heute die als zentral angesehenen
Schlüsseltechnologien an und erwarten,
dass diese in den nächsten fünf Jahren
deutlich an Bedeutung gewinnen werden.
Dies sowie die überdurchschnittlich intensive Kooperation der Unternehmen
dieser Branche untereinander sowie mit
Institutionen der Forschung zeigen, dass
die Medizintechnik in vielfältiger Weise
mit dem nationalen Innovationssystem
verknüpft ist. Der zwischen dem Forschungsbereich und den Unternehmen
stattfindende rege Wissensaustausch befruchtet die technologische Leistungsfä-
higkeit der Volkswirtschaft insgesamt
und stärkt die Innovationskraft der Branche.
Der Einsatz modernster Technik und
die Einbindung in das Innovationssystem
stellen insbesondere für die vielen kleineren Unternehmen eine große Herausforderung dar. Analysen ergaben unter anderem, dass Produkte deutscher Unternehmen zwar technologisch oftmals eine
internationale Spitzenstellung einnehmen. Die in der Regel größeren US-amerikanischen Wettbewerber besetzen aber
die führende Markstellung. Die befragten
Unternehmen kooperieren national und
international mit Hochschulen und anderen Unternehmen. Insbesondere die kleineren Unternehmen bemängeln die
Schwierigkeiten, die sich oftmals in der
Zusammenarbeit mit deutschen Hochschulen auf administrativer und juristischer Ebene ergeben. So seien die Hochschulverwaltungen oftmals überfordert,
Kooperationsverträge abzuschließen.
Hinzu kommt, dass von den Kunden –
beispielsweise den Kliniken – zunehmend
so genannte Problemlösungen verlangt
werden, bei denen die Unternehmen eine
Leistung anbieten müssen, die aus einer
Kombination von leistungsfähigem Produkt ergänzt um eine Dienstleistung besteht.
Die Medizintechnik in Deutschland
hat sich bislang im Wettbewerb zwar gut
behauptet, hat aber auch Schwachstellen.
Probleme ergeben sich vor allem aus der
absehbar schwachen Entwicklung der inländischen und europäischen Nachfrage
nach medizintechnischen Erzeugnissen
und aus der Unternehmensstruktur. Insbesondere die kleineren Unternehmen
und Start-ups benötigen vielfach den Inlandsmarkt als Sprungbrett. Der Zwang
zum Sparen im Gesundheitswesen, der
sich zunehmend dämpfend auf die Nachfrage nach hochwertigen Produkten der
Medizintechnik auswirken wird, führt zu
einer Verschlechterung der Marktbedingungen für kleinere Unternehmen. Bedenklich stimmen muss auch, dass die
Unternehmen dieser Branche in Deutschland gegenüber den US-amerikanischen
Firmen im Durchschnitt nicht nur deutlich kleiner sind, sondern auch eine erheblich geringere Produktivität aufweisen. Damit sind sie nur bedingt gewappnet, um im zunehmend internationalen
62
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
dadurch aus, dass einer starken Exportdynamik annähernd stagnierende Importe gegenüberstehen. Die Entwicklung der
anderen Produktgruppen ist geprägt
durch hohe Zunahmen bei Exporten und
Importen. Importüberschüsse bestehen
vor allem bei Produkten der konventionellen Technologie. Wollen die Unternehmen im Innovationswettlauf bestehen,
müssen sie immer wieder aufs Neue ihre
Innovationskraft unter Beweis stellen.
RASANTER TECHNOL O G I S C H E R WA N D E L
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Wettbewerb zu bestehen. Ob es bei dem
damit einhergehenden Konzentrationsprozess den hier ansässigen kleineren
Unternehmen gelingt, ihre Selbstständigkeit zu bewahren, oder ob sie von anderen
Unternehmen übernommen werden, ist
eine offene Frage.
Daraus folgt: Wenn Deutschland die
Potenziale der Medizintechnik ausschöpfen will, müssen im Markt für Gesundheitsleistungen mehr Anreize für Innovationen und privates Kapital geboten werden. Wie dies geschehen kann und welche
Maßnahmen geeignet wären, um die Medizintechnik in Deutschland zu stärken,
wird in dem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ausführlicher behandelt. Auf jeden Fall sollte Gesundheit – wie dies bisher der Fall ist –
nicht länger nur als Kostenfaktor betrachtet werden, sondern es sollten Bedingungen geschaffen werden, die es ermöglichen, die zwischen Nachfrage und
Angebot bestehenden Wechselwirkungen
sowie die Potenziale in der Technologie
und Wirtschaft besser zu nutzen. Zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der
Medizintechnik gehört auch eine Politik,
die Anreize für das Zusammenspiel von
industrieller Forschung, klinischer Erprobung und Marktzugang schafft.
MEHR ANREIZE FÜR
I N N O VAT I O N E N S E T Z E N
Ein besonderes Augenmerk sollte danach
den Start-ups und den kleinen und mittelständischen Unternehmen geschenkt
werden. Sie haben in der Medizintechnik
im Innovationsprozess und für die Qualität des Standorts zwar eine wichtige
Funktion, sie sind aber mit dem Problem
eines besonders langwierigen Prozesses
der Markteinführung konfrontiert. Zu
forcieren sind auch Maßnahmen, die
dazu beitragen, dass integrierte Versorgungssysteme entstehen. Für solche
Maßnahmen, zu denen auch regionale Pilotprojekte gehören, bietet Berlin als Region mit seiner ebenso differenzierten wie
hochwertigen Gesundheitsversorgung
und Gesundheitsforschung vielfältige
Anknüpfungspunkte.
q www.diw.de
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Kosten, Preise und Ausgaben:
eine aufsteigende Spirale?
Der Gesundheitsmarkt ist ein wesentlicher Pfeiler der deutschen Wirtschaft
Von Klaus-Dirk Henke
D
ie Ausgaben im Gesundheitswesen bestimmen seit Jahren das politische Geschehen. Ihre Entwicklung wird
häufig im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt oder zu einer anderen Sozialproduktsgröße betrachtet. Diese so genannten Gesundheitsquoten nehmen in aller
Regel zu. Deshalb mutiert die Ausgaben-
entwicklung in der öffentlichen Diskussion zu einer Kostenexplosion. Anfang der
70er-Jahre des letzten Jahrhunderts gab
es tatsächlich zweistellige Zuwachsraten
bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Wegen dieser
Entwicklung kam es zu dem ersten Kostendämpfungsgesetz im Jahre 1977, in
TU BERLIN
dem die so genannte Beitragsstabilität in
der GKV zum Ziel der Gesundheitspolitik wurde.
Seit nunmehr fast dreißig Jahren stehen die Gesundheitsausgaben im Vordergrund. Die Einnahmen werden durch die
Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur gesetzlichen Krankenversiche-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
63
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
rung festgelegt. Obwohl sich die erstattungsfähigen Leistungen und die Beitragseinnahmen in der GKV mit jeder
Reform verändert haben, blieb die Beitragsstabilität ein zentrales Ziel, das immer bedeutsamer wurde, aber bis heute
keine statistische Bereinigung erfahren
hat. Von Jahr zu Jahr wird sie mehr zu einem politischen Ziel als zu einer wirklich
vergleichbaren Größe, wie beispielsweise
die Stabilität der Preise, das Wirtschaftswachstum oder die Beschäftigung.
Ähnlich wie der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung gerät der
Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung zu einem Politikum. Eine
völlig andere Perspektive ergibt sich,
wenn man das Gesundheitswesen als Gesundheitsmarkt oder Gesundheitswirtschaft versteht. Dann erkennt man einen
der größten Teilmärkte der deutschen
Volkswirtschaft, der knapp zehn Prozent
der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt, also etwa 4,2
Millionen Menschen. Der Umsatz liegt,
je nach Abgrenzung, bei etwa 240 Milli-
arden Euro und macht somit elf Prozent
des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Potenziale dieses Sektors, der größer und
bedeutender ist als die gesamte Automobilbranche, werden kaum erkannt, wenn
das Gesundheitswesen immer nur als
Kostenfaktor und nicht als personalintensive Dienstleistungsbranche gesehen
wird. Allein in der deutschen Medizintechnik wird von einem Investitionsstau
von zehn bis 15 Milliarden Euro gesprochen. Damit werden enorme Chancen für
Wachstum und Beschäftigung gefährdet.
Hinzu kommen die demographische Entwicklung, der medizinisch-technische
Fortschritt und die steigende Nachfrage
nach modernen Behandlungsmethoden,
die das Gesundheitswesen zur Wachstumsbranche machen. In jedem anderen
Wirtschaftszweig gelten steigende Ausgaben beziehungsweise Umsätze, eine
höhere Beschäftigung und steigende Gewinne als etwas Positives. Nur im Gesundheitswesen sind diese Begriffe von
vornherein negativ besetzt.
Dem Kostenfaktor Gesundheitswesen
steht also die personalintensive Dienstleistungsbranche gegenüber. Kernelement jeder Reform wird daher die Sicherung der Effizienz des Systems sein. Wirtschaftlichkeitsreserven gilt es permanent,
64
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GROSSER TEILMARKT DER
DEUTSCHEN WIRTSCHAFT
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
wie in allen anderen Branchen auch, zu
mobilisieren. Und diese Sicherung kann
nur in einer für alle ausreichenden medizinischen Grundversorgung mit entsprechenden Qualitätsstandards bestehen.
Eine solide Finanzierung gehört genauso
dazu wie die Stärkung des Wettbewerbs.
Die Gesundheitspolitik sollte sich auf die
Gestaltung der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen und entsprechender
Anreize konzentrieren. Dazu gehören
mehr Möglichkeiten einer marktwirtschaftlichen Erneuerung des Systems und
genügend Gestaltungsspielräume für
sektorübergreifende wettbewerbliche
Strukturen. In ihren Grundelementen
wurden diese Möglichkeiten mit dem geltenden GKV-Modernisierungsgesetz
(GMG) von Anfang 2004 bereits in Ansätzen geschaffen.
UNEINIGKEIT ZWISCHEN
DEN ENTSCHEIDERN
Die zukünftige Rolle des Staates besteht
darin, eine Konzentration der gesetzlich
vorgeschriebenen Aufgaben auf die medizinisch notwendigen und nach bestimmten Finanzierungsregeln zu vergütenden
Leistungen vorzunehmen. Bei der Ver-
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
wirklichung dieses Ziels besteht allerdings immer wieder Uneinigkeit. Dennoch steht die Politik in der Verantwortung, die öffentlichen Kassen und die Unternehmen zu entlasten und das Potenzial für private Vorsorge zu verwirklichen.
Bei dieser Herausforderung muss der medizinisch-technische Fortschritt nicht allein an seinen Kosten, sondern auch an
seinem Nutzen gemessen werden. Dazu
bedarf es neuer Begriffe bei der Bestimmung von Kosten und Nutzen, da die
Sicht der Krankenkassen allein zu eng ist,
um den Fortschritt in dieser Branche zu
beurteilen. Technologie- und Innovationsförderung dürfen von den Krankenkassen also nicht deshalb behindert werden,
weil sie vermeintlich die Kosten und Ausgaben treiben. Eine Förderung sollte sich
auf viel versprechende Zukunftstechnologien konzentrieren oder – besser noch –
nur die Rahmenbedingungen und Anreize dafür entwickeln. Die Qualität von Gesundheitsleistungen muss zum wichtigsten Parameter des Wettbewerbs werden.
In diesem Zusammenhang gehört die
Doppelnatur der großen Anzahl der gesetzlichen Krankenversicherungen als
hoheitlicher Funktionsträger einerseits
und Großunternehmer andererseits ebenfalls auf den Prüfstand. Mit dem zunehmenden Wettbewerb in der Erbringung
ärztlicher Leistungen ist eine weitere Entstaatlichung der Trägerstrukturen, wie
sie zum Beispiel im Krankenhausbereich
zu beobachten ist, erforderlich.
KOSTENTRÄGER TRAGEN
KEINE KOSTEN
Auch die Dualität von privater und gesetzlicher Krankenversicherung wird in
ihrer historisch gewachsenen Form keinen Bestand haben. Der Krankenversicherungsschutz sollte sich perspektivisch
dem Modell einer gesetzlich vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung annähern.
Das würde eine gesetzlich vorgeschriebene (Mindest-)Versicherungspflicht, wie zum Beispiel in den Niederlanden, bedeuten und zu einer Grundsicherung bei einer Vielzahl von Versicherungsunternehmen mit unterschiedlichen
Angeboten führen. Bisher wurde nur von
Kosten und Ausgaben gesprochen. Während die Gesundheitsausgaben leicht zu
ermitteln sind, ist der Kostenbegriff nicht
nur schwer zu erfassen. Er wird auch uneinheitlich benutzt. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht handelt es sich bei den
Kosten um den bewerteten Verzehr von
Produktionsfaktoren und Dienstleistungen, der in Personal-, Werkstoff- oder
Dienstleistungskosten
untergliedert
wird. Auch lassen sich die Kosten nach
Beschaffung, Fertigung, Vertrieb und
Verwaltung unterteilen.
ÖKONOMISCHE RANGFOLGE
DER KRANKHEITEN
Spricht man bei den Krankenversicherungen von den so genannten Kostenträgern,
so ist das irreführend, weil sie nicht die
Kosten im eigentlichen Sinne tragen, sondern die Ausgaben. Zu ihnen gehören die
gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, die gesetzlichen Unfall- und
Pflegeversicherungen, die öffentlichen
Haushalte, die gesetzliche Rentenversicherung sowie die privaten Haushalte
und Unternehmen. Dort fallen die tatsächlichen Ausgaben an, die allerdings in
der gesundheitsökonomischen Literatur
und bei bestimmten Berechnungen des
Statistischen Bundesamtes als direkte
Kosten definiert werden. Sie entstehen als
Produkt der erbrachten Gesundheitsleistungen mit den dafür in Rechnung gestellten Preisen. Die Bezahlung, Honorierung, Vergütung oder Entgeltung von erbrachten Leistungen sind in aller Regel in
der einen oder anderen Form hoheitlich
vorgeschrieben, so dass es im Gesundheitswesen kaum Marktpreise gibt, wie
wir sie zum Beispiel aus dem Einzelhandel kennen.
In den Studien zu den Krankheitskosten, wie sie das Statistische Bundesamt
regelmäßig veröffentlicht, gibt es daneben noch die indirekten Kosten. Sie entstehen durch die durch Krankheit und
vorzeitigen Tod verloren gegangene Wertschöpfung beispielsweise dadurch, dass
den kranken Menschen wertvolle Lebensbeziehungsweise Arbeitsjahre verloren
gehen oder sie nicht erwerbstätig sind.
Schließlich gibt es die so genannten psychosozialen Kosten. Dazu gehört unter
anderen die sich vermindernde Produktivität ohne völlige Arbeitsunfähigkeit. Es
ist bisher nicht möglich, die psychosozia-
TU BERLIN
len Kosten, die aus humanitärer Sicht im
Vordergrund stehen, mit ökonomischen
Kennziffern zu erfassen.
Studien zu den Krankheitskosten sind in
der medizinischen und gesundheitsökonomischen Literatur weit verbreitet. Ihr
Ziel ist es, alle Kosten einer bestimmten
Krankheit oder aller Krankheiten in einem Land nach den genannten Kategorien zu ermitteln. Die direkten und indirekten Kosten stellen eine Schätzung der
gesamten Krankheitslast für eine Volkswirtschaft dar.
Aus diesen Studien lässt sich eine
Rangfolge nach Krankheiten entnehmen.
Herz-Kreislauf-Krankheiten verursachen
die höchsten Ausgaben und kosten die
meiste Lebenszeit. Bei den verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren stehen die Verletzungen und Vergiftungen an erster Stelle.
Deutlich geringer schlagen die direkten
Kosten der Verletzungen und Vergiftungen zu Buche. Den geringsten Ausfall bei
der Erwerbstätigkeit sowie bei den verlorenen Lebensjahren verursachen die Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen. Zusammenfassend zeigt
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
65
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
sich eine ganz unterschiedliche Bedeutung der Krankheiten, je nachdem, ob die
direkten Kosten, verlorene Erwerbstätigkeitsjahre oder verlorene Lebensjahre als
Indikatoren ausgewählt werden.
Es ist weitgehend anerkannt, dass eine
Schätzung dieser volkswirtschaftlichen
Kosten für die Politikberatung ein nützliches Instrument darstellen kann. Internationale Organisationen, wie zum Beispiel
die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation, wenden diese Methode an.
Das Statistische Bundesamt hat sie seit
kurzem in seine Berichterstattung aufgenommen.
Die Ergebnisse geben Anlass für die
Frage, ob wir möglicherweise am falschen Ende sparen, wenn in der gesundheitspolitischen Diskussion die tatsächlichen Ausgaben allein im Vordergrund stehen und die indirekten Kosten kaum eine
Rolle spielen. Wenn man sich die verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre durch Verletzungen und Vergiftungen vor Augen
führt, ergeben sich neue Anreize für die
Prävention. Wenn man erkennt, dass hinter dem zweitgrößten Posten die zahnmedizinische Behandlung steht, stellt sich
auch die Frage nach dem Verhältnis von
Zahnmedizin zur Humanmedizin. Ist eine
solche Verteilung von knappen Ressourcen im Rahmen einer Pflichtversicherung
überhaupt gerechtfertigt? Mit der Verwendung der Mittel ist auch ihre Finanzierung angesprochen und damit wiederum die Verwendung für die Krankenversorgung und gesundheitliche Betreuung
der Bevölkerung. Bei der Finanzierung
und Vergütung handelt es sich um die äußere und innere Finanzierung des Gesundheitswesens.
STEUERN ODER BEITRÄGE?
Um die notwendigen Mittel aufzubringen
(äußere Finanzierung), greifen Großbritannien und die skandinavischen Länder
vor allem auf Steuern zurück. In Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Japan kommt das Geld aus der Sozialversicherung, die durch Beiträge gespeist
wird. Steuerfinanzierte Systeme stehen
also im Wettbewerb mit Sozialversicherungssystemen. Hinzu kommen oft risikoorientierte Prämien bei privaten Krankenversicherungen. Weitere Formen der
Finanzierung stellen die Selbstbeteiligung, die Zuzahlungen und die Konsumausgaben für Gesundheitsgüter und
-dienstleistungen dar, zum Beispiel im
Fitness- und Wellnessbereich oder bei der
Ernährung.
Zur Vergütung (innere Finanzierung)
kommt es im Zusammenhang mit den erbrachten Gesundheits- und Pflegeleistungen und mit der Honorierung von
ärztlichen Leistungen oder ambulanten
Pflegediensten. Diese »doppelte Finanzierung«, also die Finanzierung von außen und von innen, ist eine Besonderheit
in der Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. Beiträge werden erhoben und
dann für die erbrachten oder eingekauften Gesundheitsleistungen verwendet. In
der Rentenversicherung kommt es zu dieser Form der Mittelverwendung nur bei
Rehabilitationsleistungen, nicht jedoch
bei den normalen Rentenbeiträgen und
Rentenauszahlungen. Dort entscheiden
die privaten Haushalte selbst über die
weitere Verwendung der Auszahlungen,
entweder zu Konsumzwecken oder zur
Bildung von Ersparnissen.
Abschließend bleibt die Frage, wie viel
Geld eine Gesellschaft für ihre Gesundheit ausgeben will. Hierauf gibt es keine
Antwort. Eine optimale Gesundheitsquote kann wissenschaftlich nicht abgeleitet
werden. Allerdings liegt ein zunehmendes
Wertschöpfungspotenzial im Humanvermögen, und dazu zählt neben der Bildung
auch die Gesundheit.
q http://finance.ww.tu-berlin.de
» Einblick
Gesundheitsmarkt Deutschland: 145 Milliarden Euro im Jahr
Im Geschäft mit der GeDeutschland dürfen Apotheker
sundheit geht es um Milliarden:
Im Jahr 2005 gaben die Krankenkassen rund 145 Milliarden Euro
aus. Etwa 25 Milliarden Euro von
dieser Summe flossen in Arzneimittel. Um die Höhe möglicher
Einsparungen streiten sich die Experten: zwischen 20 und 30 Milliarden Euro. Allein bei der Verschreibungspraxis für Medikamente könnten die Kassen drei
Milliarden Euro sparen, wenn immer die preisgünstigste Pille verschrieben würde. Der Apothekenmarkt ist streng reglementiert. In
66
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
höchstens vier Filialen besitzen.
An den 2166 deutschen Krankenhäusern arbeiten rund
130 000 Ärzte. Hinzu kommen
ungefähr 120 000 niedergelassene Mediziner. Haben sie eine
Kassenzulassung, sind sie über
Kollektivverträge der kassenärztlichen Vereinigungen mit
den Krankenkassen verbunden. Die Ballungsgebiete sind
in der Regel mit Medizinern
überversorgt, während in einigen ländlichen Regionen die
Hausärzte fehlen.
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Fast das ewige Leben
Eine zunehmend alternde Bevölkerung stellt das Gesundheitssystem
vor grundlegende Probleme – ein Zukunftsszenario für Deutschland
Von Markus M. Grabka und Gert. G. Wagner
D
er Anteil älterer Menschen in
unserer Gesellschaft nimmt zu. Werden
wir deshalb verstärkt von Krankheiten
und Siechtum geplagt werden? Schließen
Alter und Gesundheit gar einander aus?
Sicherlich nicht, denn Alter ist längst
nicht gleichbedeutend mit Krankheit,
Leid oder Pflegebedürftigkeit. So sind
zum Beispiel nur fünf Prozent der über
60-Jährigen heute aufgrund ihrer
schlechten Gesundheit pflegebedürftig.
Trotzdem ist es notwendig, dass wir uns
um den Alterungsprozess Gedanken machen.
Zuerst einmal: Wann ist überhaupt der
Mensch alt? Nach einer alten Definition
der Weltgesundheitsorganisation WHO
gilt als alt, wer das 65. Lebensjahr vollendet hat. Der Anteil der Alten liegt in
Deutschland dabei heute bei knapp 19
Prozent. Mitverantwortlich für diesen hohen Anteil ist die gestiegene Lebenser-
wartung der Bevölkerung. Lag die mittlere Lebenserwartung eines neugeborenen
Jungen um 1900 gerade einmal bei 45
Jahren (48 Jahre bei Mädchen), ist sie
heute auf 75 Jahre (bzw. 81 Jahre) angestiegen.
Folgt man den Angaben der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausrechnung
des Statistischen Bundesamtes, so wird
die mittlere Lebenserwartung eines Neugeborenen bis 2050 um weitere sechs Jahre zunehmen. Verbunden mit einer niedrigen Geburtenrate stiege damit der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen um
mehr als die Hälfte auf knapp 40 Prozent.
Der Anteil der über 80-Jährigen wird sich
bis 2050 sogar mehr als verdreifachen.
Der Gewinn an zusätzlichen Lebensjahren wird wahrscheinlich überwiegend
in gesunden Lebensjahren verbracht werden, da die Morbidität und Mortalität ins
hohe bis sehr hohe Lebensalter zurückge-
TU BERLIN
drängt werden. Eine der Ursachen für
diese Entwicklung ist der medizinischtechnische Fortschritt. Zu Beginn des
letzten Jahrhunderts sank die Sterblichkeit unter Säuglingen und Kindern erheblich. Die Gründe dafür lagen in verbesserter Hygiene und medizinischen Erfolgen. Auch die ab Mitte des letzten Jahrhunderts reduzierte Morbidität und Mortalität im mittleren Lebensalter gehen auf
die Erfolge der Medizin zurück.
Weitere Erfolge zeichnen sich bereits ab
und geben einen Einblick in die künftigen
Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. Dabei wird zum Beispiel die »Ersatzteilmedizin« aus körpereigenem Zellmaterial eine zunehmende Bedeutung
erhalten. So manipulierte ein deutsch-spanisches Forscherteam Blutzellen, um sie in
die Lage zu versetzen, die Aufgabe der Leber oder der Bauchspeicheldrüse zu übernehmen. Diese Idee wird Diabetikern und
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
67
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Leberkranken eine Alternative zu Insulinspritzen und zur Organtransplantation
bieten. Einer der Vorzüge dieser Methode
besteht darin, dass die veränderten Zellen
vom Patienten selbst stammen. Damit
werden sie vom Körper nicht als fremdes
Material abgestoßen. Dadurch entfallen
teure Medikamente, die die Abstoßung
durch das Immunsystem unterdrücken
und lebenslang eingenommen werden
müssen. Auch das Problem von Wartelisten auf Spenderorgane würde entfallen.
Die Fortschritte auf diesem Gebiet lassen
hoffen, dass die Ergebnisse auf andere Organe übertragbar sind und der Mediziner
bald seinem Patienten ein reiches Repertoire an speziell gezüchteten »Ersatzteilen«
anbieten kann.
Weitere Fortschritte der Medizin werden künftig vorwiegend nur noch bei
Menschen erzielt, die ohnehin bereits
sehr alt sind. Damit besteht auch die Gefahr, dass chronische – und damit teure –
Erkrankungen zunehmen, beispielsweise
Herz-Kreislauf-Krankheiten, Stoffwechselerkrankungen, Muskel- und Skelettkrankheiten, bösartige Neubildungen
und Demenz. Peter Zweifel, Mitverfasser
des einschlägigen Lehrbuchs »Gesundheitsökonomie«, spricht daher vom Sisyphus-Syndrom der modernen Medizin: Je
mehr Krankheiten die Ärzte behandeln
können, desto mehr erhalten die Menschen Gelegenheit, andere, bislang weniger verbreitete und behandelbare Krankheitsbilder zu entwickeln. Dies zeigt sich
nicht zuletzt in der Zunahme von Multimorbidität, das heißt mehreren Krankheiten gleichzeitig, oder von psychischen
Störungen, insbesondere Demenz und
Depression, die im höchsten Altersbereich der über 85-Jährigen weit verbreitet
sind.
Diese neuen Herausforderungen an
den medizinischen Fortschritt werden mit
großer Wahrscheinlichkeit insgesamt gesehen jede Menge Geld kosten. Ein Zugewinn an Lebensqualität im höheren Alter
wird daher auch eine Frage der Finanzierung der Gesundheitsversorgung sein.
68
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
FORTSCHRITT KOSTET JEDE
MENGE GELD
Nach Statistiken, die auf den Abrechnungsprozeduren der Krankenkassen beruhen (»Risikostrukturausgleich«), besteht ein enger Zusammenhang zwischen
Alter und Gesundheitsausgaben. Ab dem
45. Lebensjahr nehmen die Ausgaben
deutlich zu. Maßgeblich für ihre Höhe ist
aber vor allem die Nähe zum Tod, also
nicht das Alter, sondern die Jahre, die jemand noch zu leben hat, wie kürzlich von
dem Gesundheitsökonomen Stefan Felder
ermittelt. Somit schwächt sich der Zusammenhang zwischen dem Alter und
den Gesundheitsausgaben ab, denn auch
bei steigender Lebenserwartung werden
nur die letzten Jahre vor dem Tod medizinisch richtig teuer werden. Der rein demographische Effekt der Ausgabensteigerung dürfte daher künftig eher moderat
ausfallen.
So kommt zum Beispiel das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
in Berlin zu dem Ergebnis, dass rein de-
mographisch bedingt die Krankenhausfälle bis zum Jahr 2020 um 15 Prozent
steigen werden und im anschließenden
Zeitraum bis 2050 nur um weitere vier
Prozent zunehmen. Allerdings beeinflussen neue Diagnosemethoden und Therapien ebenfalls die Kosten für die medizinische Versorgung. Auch der medizinischtechnische Fortschritt hat in der Vergangenheit weit stärker zur Kostenentwicklung beigetragen als allein der demographische Wandel. Insofern ist die demographische Alterung nicht der eigentliche
Grund, der die Kosten des Gesundheitswesens wirklich deutlich in die Höhe treiben kann. Ein eindeutiger Altersgradient
ist aber bei den künftigen Pflegekosten zu
erwarten, denn eine älter werdende Bevölkerung mit vielen Hochaltrigen wird
Pflegeleistungen verstärkt nachfragen.
Freilich könnten neue therapeutische Verfahren, die zum Beispiel Demenz zurückdrängen, auch hier entlastend wirken.
Zunehmende Alterung steigert freilich
nicht nur die Ausgaben, wenn auch nur
moderat, sondern verringert auch die Einnahmen, denn im gegenwärtigen System
der Krankenversicherungen zahlen alte
Versicherte aufgrund ihrer relativ niedrigen Einkommen (meist Renten) weniger
als junge. Deswegen geht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinen Projektionen davon aus, dass im Jahre 2040 ein Beitragssatz zur gesetzlichen
Krankenversicherung von 26 Prozent bis
36 Prozent zu erwarten ist. Allein die große Spannweite macht deutlich, dass die
entscheidende Determinante die schwer
zu prognostizierende Kostenentwicklung
ist. Hinzu käme ein deutlicher Beitragssatzanstieg in der Pflegeversicherung.
Damit stehen die Krankenversicherung
und die Pflegeversicherung mit großer Sicherheit vor dem Dilemma, entweder die
Beitragssatzstabilität aufgeben zu müssen oder Leistungen zu rationieren. Letzteres hätte eine unzureichende gesundheitliche Versorgung zur Folge. Von einer
denkbaren Rationierung dürften vor allem ältere Patienten betroffen sein, da
sich teure Apparate für eine Behandlung
im hohen Alter – rein »betriebswirtschaftlich« betrachtet – wenig lohnen.
Um eine massive Rationierung von Gesundheitsleistungen künftig zu vermeiden, kann man bei der Einnahme- und
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Ausgabenseite ansetzen. Stabile Beiträge
kommen einer Deckelung der Einnahmen
gleich. Das ist gesundheitsökonomisch
nicht haltbar. Vielmehr besteht in reichen
Gesellschaften – zu denen Deutschland
nach wie vor und auch in Zukunft gehört –
ein zunehmender Wunsch der Menschen
nach optimaler medizinischer Versorgung.
Man kann dies in Deutschland zum Beispiel an steigenden privaten Ausgaben für
medizinische Dienste und Wellnessangebote ablesen. Die Forderung nach stabilen
Beitragssätzen ist einzig der Tatsache geschuldet, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung an die Lohnkosten gekoppelt sind. Die Politik hat dies
erkannt und versucht – freilich mit sehr
unterschiedlichen Konzepten wie Bürgerversicherung und Kopfpauschale – diese
Koppelung zu lockern oder aufzulösen.
Um soziale Ungleichheit bei der medizinischen Versorgung zu vermeiden, ist die
Entkopplung der Krankenkassenbeiträge
von den Lohnkosten in der Tat dringend
notwendig. Denn wenn die Gesundheitsausgaben nicht mehr automatisch die
Lohnnebenkosten belasten, kann das Gesundheitswesen menschenwürdig bleiben – und sogar zu einem Wachstumsmarkt werden. Die Politik ist enorm gefordert, doch der Koalitionsvertrag der neuen
Bundesregierung, der keinerlei Weg aufzeigt, ist in dieser Angelegenheit nicht ermutigend.
ERHEBLICHES POTENZIAL
Z U R R AT I O N A L I S I E R U N G
Setzt man Reformen auf der Ausgabenseite an, dann besteht in der deutschen Gesundheitsversorgung im Prinzip ein erhebliches Rationalisierungspotenzial, das
niedrigere Kosten ermöglicht, ohne dass
die Qualität der Versorgung leidet. So soll
zum Beispiel die Einführung der Gesundheitskarte einen wichtigen Beitrag zum
Abbau von Informationsverlusten im Behandlungsprozess leisten. Vor allem ist
aber an den Abbau von Über-, Unter- und
Fehlversorgung zu denken, wie dies der
Sachverständigenrat für die konzertierte
Aktion im Gesundheitswesen in seinem
Gutachten 2001 zur Bedarfsgerechtigkeit
und Wirtschaftlichkeit ausführlich darlegte. Denn gemessen an dem finanziellen
Aufwand weist das deutsche Gesundheits-
system eine unterdurchschnittliche Ergebnisqualität auf. Durch eine Ausrichtung
nach strukturierten Behandlungsprogrammen oder Formen der integrierten
Versorgung ließen sich Defizite – auch unter Kostengesichtspunkten – reduzieren.
In einem menschenwürdigen Gesundheitswesen wird eine gewisse Verschwendung, an der Grenze zum Tod, freilich nie
zu vermeiden sein.
GESUNDHEITSTOURISMUS
NIMMT ZU
Im Rahmen einer kostenoptimierenden
Behandlung wird auch der Gesundheitstourismus an Bedeutung gewinnen. Planbare medizinische Eingriffe, wie eine
zahnmedizinische Untersuchung oder
einfache ambulante Operationen, dürften
künftig verstärkt im preiswerten Ausland
durchgeführt werden. Die Kuration mit
anschließendem Urlaub am Strand unter
Palmen bliebe nicht nur auf den Wellnessbereich beschränkt.
Eine zweite Strategie zur Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen ist der
Ausbau der Prävention. Gerade chronisch degenerative Erkrankungen wie
Herzinfarkt oder Diabetes haben ihre
Ursachen oft in einem ungesunden Lebensstil, der durch gezielte Präventionsmaßnahmen geändert werden kann. Gesunder Lebensstil mit sportlicher Betätigung, gesundheitsbewusster Ernährung
und nicht zuletzt sozialer Aktivität leistet
einen wichtigen Beitrag für gesundes Altern. Besonderes Präventionspotenzial
besteht für Menschen mit niedrigem sozialem Status, da in dieser Schicht gesundheitsschädliches Verhalten wie Zigarettenrauchen, Alkoholkonsum und
Bewegungsarmut besonders verbreitet
ist. Freilich darf man von der Prävention
keine Wunderdinge erwarten: Schwierige Arbeitsbedingungen machen gesundheitsbewusstes Verhalten oft sehr
schwer.
Es ist die Konsequenz eines längeren
Lebens, dass sich Krankheiten entwickeln, die früher keine Chance hatten.
Dies spricht nicht gegen die Prävention.
Sie ist auf jeden Fall sinnvoll, weil sie ein
gesünderes und längeres Leben ermöglicht. Aber mehr Prävention bedeutet
nicht automatisch, dass die Gesundheits-
TU BERLIN
kosten insgesamt sinken. Ein starker Bedarf ist künftig für die Pflege zu erwarten.
Nach Berechnungen des DIW dürfte es
2020 rund eine Million mehr pflegebedürftige Menschen geben – eine Zunahme um mehr als 50 Prozent. Im Jahre
2050 wird die Zahl der Pflegebedürftigen
mit 4,7 Millionen sogar das 2,5fache des
heutigen Niveaus erreichen. Der Grad
der durchschnittlichen Pflegebedürftigkeit dürfte sich dabei überproportional erhöhen und damit die Nachfrage nach stationären Pflegediensten stärker zunehmen als die nach ambulanter Betreuung.
Dieser Herausforderung stellt sich das
von der Robert Bosch Stiftung geförderte
interdisziplinäre Graduiertenkolleg »Gesundheit und Pflege: Multimorbidität im
Alter und ausgewählte Pflegeprobleme«,
angesiedelt am Zentrum für Human- und
Gesundheitswissenschaften der Charité.
Das Kolleg bindet Ärzte und Forscher aus
den Berliner Hochschulen und dem Berliner Zentrum Public Health ein. Im Zentrum der Forschungen steht die Perspektive der Betroffenen, die nach ihren Qualitätsurteilen und ihren Erwartungen an
Pflege und Medizin befragt werden.
Denn es besteht erheblicher Forschungsbedarf zur Pflegequalität und zum individuellen Pflegebedarf von Personen, die
Pflege erhalten. Der Bedarf ist bereits
heute beachtlich: Fast zwei Drittel der
über 90-Jährigen sind pflegebedürftig.
q www.diw.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
69
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
In menschlichen
Dimensionen
Moderne Klinikarchitektur bringt die Bedürfnisse der Patienten
und die medizinische Funktionalität unter ein Dach
Von Christine Nickl-Weller
D
erzeit verfolgen uns fast täglich Überschriften wie »Die neuen Gesundheitskonzerne«, »Die deutsche
Krankenhauslandschaft ist im Umbruch« bis hin zu »An den Armen und Alten vorbei«. Sie zeigen die Irritationen in
der Entwicklung des Gesundheitssystems. Die einzig überschaubare Tatsache
scheint zu sein, dass in den nächsten Jahren jede vierte Klinik in Deutschland verschwinden wird. Zurzeit gibt es bundesweit rund 2200 Krankenhäuser und Kliniken.
Die gesundheitspolitische Wende ist
deutlich erkennbar: Zum einen zieht sich
der Staat immer mehr aus seiner Versorgungspflicht zurück und überlässt das
Terrain dem freien Markt. Insbesondere
die Krankenhäuser entwickeln sich zu
Unternehmen, die sich dem Wettbewerb
stellen müssen. Außerdem rückt die Gesundheit verstärkt ins Bewusstsein der
Menschen: In den Medien ist sie ein nahezu allgegenwärtiges Thema.
Gleichzeitig verändert der rasante
technische und pharmakologische Fortschritt die Medizin sehr stark. Beispiele
sind die minimal invasive Chirurgie oder
die radiologische Diagnostik. Althergebrachte Abteilungen in den Krankenhäu-
70
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
sern verschwinden, neue entstehen. Auch
die Verweildauer der Patienten sinkt.
Durch die demographische Entwicklung
der Bevölkerung gewinnen andere
Krankheitsbilder an Bedeutung, die auch
andere Aufgaben für das Gesundheitswesen nach sich ziehen.
Für die Architekten und Planer von
Krankenhäusern ergeben sich daraus
neue Anforderungen, denn die Architektur einer Klinik kann – wie Architektur
überhaupt – Stimmung und Psyche positiv wie negativ beeinflussen. Sie wirkt auf
die Gesundheit und hat für jeden Menschen eine sehr konkrete Bedeutung. Der
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Architekt rührt mittels der Formen des
Baus intensiv an die menschlichen Sinne
und erweckt das Gefühl für die Gestaltung. Im Unterbewusstsein differenzieren
die Menschen zwischen Wohlklang und
Disharmonie. Trotz der Kenntnis dieser
Zusammenhänge wurde die gestalterische Qualität im Krankenhausbau bisher
nur stiefmütterlich behandelt. Oft beschränkte sie sich auf eine farbige Gestaltung der Geschosse.
Die herkömmliche Klinikarchitektur
hat sich auf den reibungslosen Ablauf
medizinischer Prozeduren konzentriert,
ohne zu berücksichtigen, wie sie auf den
Patienten wirkt. Das Ergebnis sind oft
künstlich beleuchtete Katakomben für
die Apparatemedizin, grell belichtete Flure nach DIN-Vorschrift oder kahle, hallige Krankenzimmer, die jegliche Intimsphäre vermissen lassen. All dies irritiert
die Patienten ebenso wie das Personal
und die Besucher. Die Gesundung wird
verzögert statt gefördert.
KRANKENHAUS ODER
M E D I Z I N FA B R I K ?
Zahlreiche Studien belegen, wie bedeutend beispielsweise Tageslicht für den Organismus ist oder wie richtig ausgewählte Farben die Stimmung aufhellen und
damit zu Heilung und Genesung beitragen. Die medizinische Funktionalität ist
künftig also nur noch ein und nicht mehr
der bestimmende Aspekt des Entwerfens.
Gefragt wird nach der Lebensqualität im
Krankenhaus – für Patienten, Besucher
und Personal.
Was ist ein Krankenhaus? Ein Haus
für Kranke oder ein krankes Haus? Statistisch gesehen vielleicht sogar ein Haus,
das krank macht! Hochgerechnet gibt es
bundesweit etwa 600 000 Menschen, die
an so genannten nosokomialen Infektionen erkranken, die Erreger also im Krankenhaus aufnehmen. Das sind hundertmal so viele Menschen, wie im Straßenverkehr oder bei tödlichen Unfällen im
Haushalt verunglücken.
Jeder von uns kennt Krankenhäuser.
Es sind Funktionsbauten, dazu gedacht,
kranke Menschen gesund zu machen und
gesunden Menschen einen Arbeitsplatz
zu bieten. In einem Funktionsbau muss
alles funktionieren, auch die Kranken: Sie
sollen möglichst rasch genesen. Nachgeholfen wird mit viel Technik und noch
mehr Chemie. Bis in die kleinste Körperzelle wird alles vermessen, analysiert und
behandelt.
B E I S P I E L A G AT H A R I E D
An der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert waren die Kliniken durch Backsteinarchitektur und reiche Gründerzeitgebäude gekennzeichnet. In den 1970er-Jahren tendierten die Krankenhäuser zu gigantischen Bauten, ein Beispiel ist das
Klinikum in Aachen. Damals waren die
Häuser geprägt von starren Elementen,
die auch aus Kostengründen künftige
Veränderungen gar nicht ermöglichen
sollten. Erst kurz vor der Jahrtausendwende wurde der Mensch im Krankenhausbau als Individuum neu entdeckt.
Unter dem Druck der ökonomischen Vorgaben werden zwangsläufig neue Bauformen, Typologien und Visionen nötig. Die
Architekten haben der Frage nachzugehen, was gute Krankenhausarchitektur
ausmacht und welches die zukunftsweisenden Tendenzen sein können.
Ein Beispiel für ein Krankenhaus der neuen Generation ist das Agatharied, das
Krankenhaus des Landkreises Miesbach
bei Bad Tölz. Seine Funktionalität ist nur
noch ein und nicht mehr der bestimmende Aspekt des Entwurfs. Neben der Betreuung der Patienten ist es ein akademisches Lehrkrankenhaus, an dem junge
Mediziner der Ludwig-Maximilian-Uni-
TU BERLIN
versität München ihr Handwerk erlernen.
Ein solches Krankenhaus ähnelt einer
kleinen Gemeinde: Auf 500 Betten kommen etwa 1000 Bedienstete und täglich
700 Besucher. Das neue Krankenhaus
Agatharied sollte sich selbstbewusst in
die Umgebung einfügen. Der Patient
sollte einen möglichst großen Individualbereich innerhalb der stringenten Vorgaben zur Raumnutzung erhalten. Für die
Patienten und das Personal war es vorrangig, grundsätzlich tagesbelichtete
Räume und Flure zu schaffen, um Tagesund Jahreszeiten widerzuspiegeln. Licht
und Überschaubarkeit schaffen emotionale Sicherheit, menschliche Dimensionen, Offenheit, entspannte Atmosphäre
und Privatsphäre. Lieb gewonnene Elemente wie Kirche, Wirtshaus, Wiedererkennungswerte vermitteln Wohlbefinden,
erinnern an häuslich Gewohntes.
In Agatharied ist Technik kein notwendiger Zusatz, sondern integrierter Bestandteil der Architektur. Die Anforderungen an moderne Bettenhäuser ähneln
den Erwartungen an Hotels. Aufgrund
der demographischen Entwicklung könnte das Erdgeschoss als geriatrische Einrichtung betrieben werden. Die medizinischen Bereiche fädeln sich entlang einer
»Mall« auf, sind zweiseitig erschlossen
und lassen so eine maximal flexible Nutzung zu – vielleicht ein erster Ansatz hin
zum Gesundheitssupermarkt.
q www.healthcare-tub.com
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
71
Krankenhaus Agatharied bei Bad Tölz:
luftig, hell und
patientengerecht
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
» Einblick
Archiv für Krankenhausbau – Spiegel des vergangenen Jahrhunderts
Im Jahr 1988 wurde an der TU
Berlin ein Archiv für Krankenhausbauten
des zwanzigsten Jahrhunderts gegründet.
Das Architekturarchiv sammelt Informationen zur Planung, zum Bau und zum Betrieb von Krankenhäusern sowie von anderen Gebäuden des Gesundheitswesens.
Neben den eigenen Archivalien verweist
das Archiv auf relevantes Material in anderen Archiven, bei Behörden, Krankenhausträgern und Architekten.
Den Grundstock des Archivs bildeten
das Archiv Riethmüller und die Bestände
des Instituts für Krankenhausbau (IFK),
die von 1950 bis 2000 datieren. Hans-Ullrich Riethmüller war Facharzt für Innere
Medizin und später als Planungsberater
für Krankenhausbau tätig. Einen weiteren
Baustein der Sammlung stellt das Archiv
von Richard-Joachim Sahl dar. In den Jahren 1984 bis 1997 war er Vorsitzender des
Arbeitskreises Krankenhausbau und Gesundheitswesen (AKG) im Bund deutscher Architekten (BDA). Das Archiv
Heinz Goerke umfasst die Jahre 1968 bis
1986, es beinhaltet Notizen zum Krankenhausbau und Medizinrecht. Professor
Goerke war Mitglied des Ausschusses Medizin des Wissenschaftsrats. Hans-Georg
Schwartz war seit 1966 als Architekt auf
dem Gebiet des Krankenhausbaus aktiv.
Im Archiv Erich Will findet man vor allem
Bücher und Zeitschriften zur Architektur
in der DDR von 1950 bis 1970. Erich Will
war Architekt an der Bauakademie Berlin.
Von 1978 bis 1987 leitete er die Gutachtenstelle des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR. Hinzugekommen sind
die Archive Joachim Glomb und Roland
Jaenisch. Beide Architekten waren in leitenden Positionen des Instituts für Technologie des Gesundheitswesens der DDR tätig. Neu erworben wurden auch das Archiv Krankenwohnung sowie das Archiv
der Architekten für Krankenhausbau und
Gesundheitswesen (AKG).
q www.xxarchiv.de
72
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Das Genderparadox
Das moderne Gesundheitssystem muss Unterschieden zwischen
Frauen und Männern gerecht werden
Von Ulrike Maschewsky-Schneider
G
esundheit hat für den Einzelnen und die Gesellschaft einen hohen
Wert. In Deutschland stellt ein hoch entwickeltes Versorgungssystem sicher,
dass die Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Hintergrund die notwendige gesundheitliche
Betreuung erhalten. Leistungen zur Vorsorge sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere die sozial bedingte Ungleichheit von
Gesundheitschancen vermindern. Ein
Präventionsgesetz wird zukünftig einen
umfassenden Rahmen zur Verhütung von
Krankheiten und zur Förderung der Gesundheit setzen. Wenn also der Zugang
aller zur gesundheitlichen Versorgung gesichert ist, warum spielen dann Geschlechterfragen in der Versorgung eine
Rolle? Anhand ausgewählter wissenschaftlicher Erkenntnisse zur gesundheitsbezogenen Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin soll gezeigt
werden, dass die Berücksichtigung von
Unterschieden und Besonderheiten in der
Gesundheit von Frauen und Männern
TU BERLIN
eine wesentliche Voraussetzung für eine
bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte
Gesundheitsversorgung und Verhütung
von Krankheiten ist. Geschlecht ist aber
nur eine Determinante für Gesundheit.
Soziale Lage, Generationenzugehörigkeit, familiäre und berufliche Lebenslagen
sind weitere wesentliche Faktoren, die für
Männer und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sind.
Die Gesundheitsdaten zeigen ein zunächst paradox erscheinendes Phänomen: Frauen in den reichen Industriena-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
73
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
tionen leben mehr als sieben Jahre länger
als Männer. Gleichzeitig nehmen sie
mehr und häufiger gesundheitliche Versorgung in Anspruch. Sie scheinen sich
subjektiv kränker zu fühlen als Männer.
Frauen gehen häufiger zum Arzt. Sie geben einen schlechteren Gesundheitszustand an, äußern mehr gesundheitliche
Beschwerden und Schmerzen und haben
einen höheren Gebrauch an psychotrop
wirkenden Medikamenten. Dazu gehören
insbesondere Schlafmittel, Schmerzmittel
und Beruhigungsmittel. Gleichzeitig führen Frauen ein gesünderes Leben: Sie trinken weniger Alkohol, ernähren sich gesünder, sind seltener übergewichtig und
zeigen ein deutlich weniger riskantes Verhalten im Straßenverkehr.
Diese zunächst paradox erscheinenden
Daten haben international zu einer stärkeren Erforschung von Geschlechterunterschieden in Gesundheit und Krankheit
geführt. In den USA wurden große Forschungsprogramme aufgelegt, um die
Defizite aufzuholen. Die weltweit größte
Studie in diesem Kontext ist die Women’sHealth-Initiative, die kürzlich durch die
Veröffentlichung ihrer Ergebnisse zu den
Gesundheitsrisiken der Hormonersatztherapie für Brustkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen Aufsehen erregte. Für
Deutschland wurden die wichtigsten Erkenntnisse und Daten zur Frauengesundheit im ersten Frauengesundheitsbericht
veröffentlicht. Darin wurden die epidemiologischen Erkenntnisse zur gesundheitlichen Situation von Frauen und
Männern und zu den unterschiedlichen
Risiken und Schutzfaktoren für die Gesundheit beider Geschlechter dargelegt.
Theoretische Erklärungsmodelle konnten
mehr Klarheit in das genannte Genderparadox bringen, und die Entwicklung von
Methoden zum Erkennen von geschlechtsbezogenen Verzerrungen und
blinden Flecken in der Gesundheitsforschung schaffte die Grundlage für verbesserte Forschungsansätze. Die Bedeutung dieser Ergebnisse für eine qualitätsund bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung von Männern und Frauen wurde
erkannt und es wurden Vorschläge für
ihre Verbesserung formuliert.
Die entscheidenden Impulse, um die
Forschung zu verstärken, ihre Ergebnisse
74
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GROSSE FORSCHUNGSPROGRAMME AUFGELEGT
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
zu veröffentlichen und einen gesundheitspolitischen Diskurs zu initiieren, gingen
von den Gesundheitswissenschaften
(Public Health) aus. Zunehmend befassen sich inzwischen auch die Medizinerinnen mit Geschlechterfragen. Einige
medizinische Fakultäten wie die Charité
richteten sogar Zentren für die Geschlechterforschung in der Medizin ein.
Hinweise auf Gründe und Ursachen
für Geschlechterunterschiede und damit
auf Ansätze für die Versorgung und Verhütung von Krankheiten geben die Daten zur
gesundheitlichen Lage. Die geringere Lebenserwartung der Männer ist vor allem
ihrer Frühsterblichkeit am Herzinfarkt geschuldet. Er gilt als Todesursache bei 11,4
Prozent der unter 65 Jahre verstorbenen
Männer, aber nur bei fünf Prozent der
Frauen. Hinzu kommt die hohe Rate an
jungen männlichen Unfalltoten im Straßenverkehr. 13,9 Prozent der unter 65 verstorbenen Männer kamen im Straßenverkehr um, aber nur 8,9 Prozent der Frauen.
Bei den unter 65-jährigen Frauen bildet
der Brustkrebs mit zwölf Prozent die häufigste Todesursache. Bei den Frauen wurde in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Lungenkrebserkrankungen um ein
Drittel beobachtet. Die Zahl der Herzinfarkte in Deutschland ist in den 90er-Jahren zurückgegangen, bei den Frauen unter
55 Jahren nahm sie jedoch zu.
ZWEI DETERMINANTEN:
GESCHLECHT UND SOZIALE
S I T U AT I O N
Ausgehend von diesen Daten lassen sich
einige grundsätzliche Unterschiede in den
Gesundheitsrisiken zwischen Frauen und
Männern ausmachen. So wird vermutet,
dass die Frühsterblichkeit der Männer an
Herzinfarkt in hormonellen Eigenheiten
begründet ist. Bei Frauen scheinen die
Östrogene ein Schutzfaktor gegen den
frühzeitigen Herztod zu sein. Auch andere
genetische und biologische Faktoren wie
die unterschiedliche Verstoffwechslung
von Medikamenten spielen eine Rolle.
Zahlreiche weitere Ergebnisse der Medizin
und Biologie konnten inzwischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen. Einen starken Einfluss haben die anfangs erwähnten gesundheitsbezogenen
Verhaltensweisen, die bei den Männern
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
ungünstiger ausgeprägt sind als bei den
Frauen. Allerdings beobachten wir seit einigen Jahren auch bei den Frauen negative Entwicklungen, insbesondere eine Zunahme des Rauchens, was die steigenden
Trends beim Lungenkrebs und den HerzKreislauf-Erkrankungen bei den jüngeren
Frauen erklärt.
Für die meisten Erkrankungen und Todesursachen wurde ein Zusammenhang
mit der sozialen Situation beobachtet: Sozial benachteiligte Gruppen und besonders arme Menschen tragen ein deutlich
erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko.
Das gilt auch für Langzeitarbeitslose,
verwitwete und geschiedene Menschen
und Menschen mit einem gering ausgeprägten sozialen Netz. Diese Faktoren
scheinen bei Männern allerdings in stärkerem Maße als bei Frauen die Gesundheit zu verschlechtern.
Soziale Risiken sind neben den materiellen Nachteilen besonders in den spezifischen Arbeitsbedingungen und Auswirkungen auf die Gesundheit begründet.
Der Frauengesundheitsbericht belegte
bei Männern ein erhöhtes Unfallrisiko
am Arbeitsplatz (viermal höher als bei
Frauen) und höhere Arbeitsbelastungen
durch Lärm, gesundheitsschädigende
Stäube oder Asbest. Bei den Frauen ist
der Umgang mit gefährlichen Stoffen vor
allem in den Reinigungsberufen, aber
auch bei den Warenkauffrauen und in den
Gesundheitsberufen gegeben. Dort können riskante Stoffe zur Erwerbsunfähigkeit aufgrund allergischer Atemwegserkrankungen, Hauterkrankungen und Infektionen führen.
und Konzentrationsanforderungen, Konflikte mit Vorgesetzten oder Kollegen) als
auch in Ängsten um die Sicherheit des Arbeitsplatzes begründet sein kann. Bei der
Arbeitsunfähigkeit stehen psychische Erkrankungen als Ursache inzwischen an
vierter Stelle – Tendenz steigend. Bei der
Erwerbsminderung nehmen sie mit Abstand den ersten Platz ein, bei der Frühverrentung den zweiten. Bei Frauen sind
sie häufiger Grund für Erwerbsminderung (35 Prozent im Vergleich zu 24 Prozent bei den Männern) und Frühverrentung (24 Prozent zu 14 Prozent). Zehn
Prozent der berufstätigen Männer und 18
Prozent der berufstätigen Frauen geben
in Befragungen an, unter Depressionen
zu leiden. Affektive Störungen und Depressionen beziehungsweise Neurosen
und Belastungsstörungen stellen die
Hauptdiagnosen bei den durch psychische Erkrankungen bedingten Arbeitsausfällen und Krankenhausbehandlungen. Bei den Männern stehen bei den stationären Behandlungen allerdings die
Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen
obenan. Suizidraten nehmen bei Männern
ab dem mittleren Lebensalter zu und liegen deutlich höher als bei Frauen, während Frauen mehr Suizidversuche ohne
Todesfolge aufweisen. Deutlich schlechter
schneiden arbeitslose Frauen und Männer
ab. 24 Prozent der langzeitarbeitslosen
Männer und 39 Prozent der Frauen leiden
unter Depressionen. Psychische Störungen sind bei den Männern mit Abstand
die häufigste Ursache für lange Krankenhausaufenthalte und machen bei ihnen
mehr als doppelt so viele Krankenhaustage aus wie bei Frauen. Zwei Trends spielen hier eine Rolle: Einerseits erhöht eine
schlechte gesundheitliche Lage das Risiko
für den Arbeitsplatzverlust.
FRAUEN KOMMEN MIT
ARBEITSLOSIGKEIT
BESSER KLAR
Davon sind vor allem ältere Arbeitnehmer betroffen. Sie haben ungünstige
Chancen am Arbeitsmarkt und einen altersbedingt schlechteren Gesundheitszustand. Andererseits ist davon auszugehen, dass die Arbeitslosigkeit zu einer
Verschlechterung der Gesundheit, insbesondere der psychischen Gesundheit
führt. Gerade bei Männern, die häufiger
als Frauen auf eine lebenslange Berufstätigkeit zurückblicken, kann der ungewoll-
K R A N K E N S TA N D I S T
RÜCKLÄUFIG
Der Krankenstand ist in Deutschland in
den vergangenen Jahren erheblich zurückgegangen. Insbesondere die Dauer
der Krankheitstage sank bei den Frauen
stärker als bei den Männern. Orthopädische und rheumatische Erkrankungen
und Verletzungen sind die häufigsten
Gründe, sich krank oder arbeitsunfähig
zu melden. Sie kommen bei Männern
häufiger vor als bei Frauen. Zunehmend
gewinnt psychischer Stress an Bedeutung, der sowohl in den Arbeitsprozessen
selbst (durch Arbeitshetze, Flexibilitäts-
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
75
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
te Verlust der Berufsarbeit mit einem Verlust an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl verbunden sein. Dadurch steigt
das Risiko für psychische und psychosomatische Erkrankungen.
Studien deuten darauf hin, dass Frauen die mit der Arbeitslosigkeit verbundenen Belastungen besser kompensieren als
Männer. Viele Frauen verbinden bewusst
die berufliche und familiäre Lebensperspektive, sodass die Familie möglicherweise als psychologischer Puffer oder
Ressource gegen die durch Arbeitslosigkeit hervorgerufenen psychischen Belastungen wirkt.
Die Studien zur ungünstigen sozialen
und gesundheitlichen Situation von allein
erziehenden Frauen zeigen im Vergleich
sowohl zu den in Partnerschaften lebenden Müttern als auch zu den allein erzie-
henden Männern, dass diese positiven
Wirkungen familiärer Einbindung nur in
einer materiell gesicherten Lebenssituation und bei befriedigender sozialer Unterstützung gelten. Soziale Determinanten
spielen eine bedeutende Rolle für Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung bei Frauen und Männern. Es lassen sich Determinanten ausmachen, die
für beide Geschlechter mit ungünstigen
gesundheitlichen Folgen verbunden sind.
GESUNDHEIT UND GENDER
SIND NICHT ZU TRENNEN
Gleichzeitig sind Unterschiede zwischen
den Geschlechtern mit ihrer Stellung in
der Gesellschaft und darin eingebundenen Geschlechterrollen, Anforderungen,
Erwartungen und Belastungen verbunden. Die dargestellten Ergebnisse belegen
einen geschlechtsspezifisch ausgerichteten Präventions- und Versorgungsbedarf
im Gesundheitswesen.
Gesundheit als Thema der Genderforschung ist eine Aufgabe, die sich nicht
aus einem abstrakten Gleichheitsgebot
heraus begründet. Vielmehr zielt sie auf
wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine
bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte
Gesundheitsversorgung möglich machen. Für die Forschung gibt es Methoden, Konzepte und Theorien, die dieses
Erkenntnisinteresse führen und leiten
können. Es gilt, sie in der Gesundheitsforschung zu nutzen!
q www.ifg-gs.tu-berlin.de
» Einblick
Berliner Zentrum Public Health: öffentliche Gesundheit im Fokus
Die Gesundheit rückt immer mehr in den
Mittelpunkt der Gesellschaft. Immer mehr Menschen wollen gesundheitsbewusst leben, das Gesundheitswesen ist ein Dauerbrenner in der politischen Debatte. Das Forschungsgebiet, das sich mit
der Krankheitsverhütung, der Lebensverlängerung,
höherer Lebensqualität und der Gesundheitsförderung befasst, heißt Public Health. Schon frühzeitig
haben die drei großen Berliner Universitäten den
Trend in der gesellschaftlichen Entwicklung erkannt:
1991 hoben sie eine Koordinationsstelle Public
Health aus der Taufe. 1996 gründeten sie das Berliner
Zentrum Public Health, das mittlerweile 73 Mitglieder aus allen relevanten Disziplinen zählt – aus den
Universitäten und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens. Es berät seine Mitglieder bei der
Akquisition wissenschaftlicher Projekte, im Qualitätsmanagement und in der Methodik. Das Zentrum
übernimmt auch das Projektmanagement und informiert über die Möglichkeiten zur Forschungsförderung. Die Vernetzung der Forscher erfolgt durch Arbeitsgruppen, Newsletter per E-Mail sowie Symposien und Konferenzen. Mittlerweile haben die Mitglieder über 200 Forschungsprojekte mit einer Gesamtfördersumme von mehr als 40 Millionen Euro
durchgeführt.
q www.bzph.de
76
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Hand in Hand
Mathematiker und Neurochirurgen haben eine neuartige Operationsmethode
entwickelt, um verformte Schädel bei Säuglingen zu korrigieren
Verformter
Stirnschädel
H
ans Lamecker erinnert sich
noch gut daran, als ihn Hannes Haberl
vom Universitätsklinikum Charité anrief. Der Mediziner fragte, ob er ihm helfen könne, chirurgische Operationen an
verformten Schädeln bei Säuglingen zu
planen – in 3-D am Computer. »Ich war
schnell angetan von dem Thema«, sagt
der Physiker, der gemeinsam mit Kollegen im Projekt CranioSynos am
DFG-Forschungszentrum MATHEON
„Mathematik für Schlüsseltechnologien“
in Berlin arbeitet. Die TU Berlin hat beim
Matheon die Sprecherschaft inne. Die
Freie Universität und die Humboldt-Universität sowie zwei Forschungsinstitute
sind ebenfalls beteiligt. Nach nur zwölf
Monaten hat Lameckers Modell den Praxistest bestanden: Die weltweit erste
Operation mit der für die Babys äußerst
schonenden Methode ist gelungen.
Schädelverformungen bei Säuglingen
(Craniosynostosen) entstehen meist, weil
die nach der Geburt offenen Schädelnähte
zu schnell verwachsen. Neueste Studien
aus Frankreich belegen, dass diese Unregelmäßigkeit die weitere Entwicklung der
Babys entscheidend behindern kann,
ganz zu schweigen von den ästhetischen
Problemen. Für die Korrektur der verformten Knochen wird zunächst die
Schädeldecke der Patienten entnommen.
Danach werden die Knochenfragmente
verschoben, in die gewünschte Form gebracht und schließlich verschraubt. Dabei sind die Details der Umformung bisher dem Empfinden des jeweiligen Chirurgen überlassen. »Dies verhindert eine
objektive Bewertung des therapeutischen
Erfolgs und erschwert die Ausbildung
unerfahrener Chirurgen«, sagt Hannes
Haberl.
Grundlage der neuen Operationsmethode ist die statistische Auswertung von
MRT-Aufnahmen gesunder Kinderschädel. Daraus erstellte Hans Lamecker eine
Datenbank und errechnete mit ihrer Hilfe charakteristische Schädelmuster. »Für
mich war es ein Vorteil, dass wir am
MATHEON und am Berliner KonradZuse-Zentrum bereits die Grundlagen geschaffen hatten, aus den Bildern der
Kernspintomographie akkurate Daten zu
filtern und zu analysieren«, sagt Hans Lamecker.
Auf dieser Basis entwickelte er ein 3D-Modell des Schädelknochens. Die Herausforderung aus mathematischer Sicht
bestand darin, übereinstimmende Punkte auf den Schädeloberflächen unterschiedlicher Patienten anhand nur weniger anatomischer Vorgaben, wie zum
TU BERLIN
Beispiel der Eingänge zum Gehörkanal
oder des Nasensattelpunkts, zu identifizieren.
Hannes Haberl kann nun ein Muster
auswählen, das dem Kopf des Patienten
am nächsten kommt. Daraus entsteht ein
Modell, das Haberl mit in den Operationssaal nimmt. Auf dem Modell werden
während des Eingriffs die Knochen geformt und angepasst. Die Operationszeit
kann sich bis um die Hälfte verringern.
Durch die kürzere Zeit der Betäubung
werden die Kinder viel geringer belastet,
der Blutverlust reduziert sich und der
Heilungsprozess wird beschleunigt.
Beim ersten auf der Basis des Modells
von Hans Lamecker operierten Säugling
jedenfalls haben sich die medizinischen
Hoffnungen von Hannes Haberl bestätigt. »Das behandelte Kind hat die Operation ohne Schwierigkeiten überstanden und konnte nach einer Woche die
Klinik verlassen«, erzählt er. Auch Hans
Lamecker ist um viele Erfahrungen reicher. »Ich glaube, dass wir mit unserer
Methode der Visualisierung noch viele
Probleme in der Medizin lösen können«,
sagt er.
Rudolf Kellermann
q www.matheon.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
77
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Markige
Versprechungen
reichen nicht
Health Technology Assessment beantwortet
die Frage: Wann sind die neuen Gesundheitstechnologien ihren Preis wirklich wert?
Von Reinhard Busse
D
ie Gesundheitstechnologien
zeigen sich vielschichtig: Einerseits sollen sie große Erwartungen erfüllen, Diagnostik und Therapie verbessern und sichere Arbeitsplätze schaffen. Andererseits wird der medizinische Fortschritt
als hauptsächlicher Kostentreiber im Gesundheitssystem gesehen. Damit stellt
sich immer mehr das Problem, nützliche
von unnützen Erfindungen abzugrenzen.
Auch geht es darum, unter den nützlichen Innovationen diejenigen zu finden,
die kostenwirksam sind, das heißt im
wahrsten Sinne des Wortes »ihren Preis
wert sind«.
Dazu dient das so genannte Health
Technology Assessment (HTA). Es soll
effektive Innovationen fördern und
Scheininnovationen blockieren. Unter
HTA versteht man die systematische Bewertung der Anwendung medizinischer
Technologien auf die Gesundheit, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft.
Das vorrangige Ziel – egal, ob es sich um
Arzneimittel, medizinische Geräte oder
neue Organisationsformen handelt – ist
die Verbesserung der Gesundheit und der
Lebensqualität der Bürger.
Health Technology Assessment stellt
umfassende Informationen bereit, um die
Entscheidungsfindung auf den verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems
zu unterstützen. Die Bewertung der Technologien folgt einer wissenschaftlichen
Methodik, die auf einer systematischen
Suche nach der besten verfügbaren Information (in der Fachsprache »Evidenz« genannt) beruht. Zieldimensionen sind dabei die Sicherheit der Technologie (für Patienten und Anwender), ihre Wirksamkeit, die Konsequenzen für Ärzte und das
Gesundheitssystem (werden zum Bei-
78
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
spiel Ärzte arbeitslos, weil eine Tablette
eine Operation ersetzt?) bis hin zu ökonomischen Konsequenzen. Es entstehen so
genannte HTA-Berichte, eine Art Gutachten, in dem die für Entscheidungsträger relevanten Informationen transparent
und verständlich dargestellt sind.
Das wesentliche Entscheidergremium
in Deutschland ist der gemeinsame Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenversicherung, in dem Vertreter von Krankenkassen, Ärzte, Krankenhausmanager
und Patienten sitzen. Der Ausschuss vergibt Aufträge an das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität, das die Wirksamkeit bestimmter Arzneimittel evaluiert oder auch feststellt, ob bestimmte
neue Therapien die Betreuung der Patienten tatsächlich verbessern. Das Institut
wiederum arbeitet mit wissenschaftlichen Partnern zusammen, die bei diesen
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Evaluationen über die methodische und
fachliche Expertise verfügen.
Die Forscher des Fachgebietes Management im Gesundheitswesen an der
TU Berlin gehören eindeutig dazu. Bereits seit Jahren spielen sie international
eine Rolle in der Entwicklung von HTA.
Sie leiten bedeutende Arbeitsgruppen auf
internationaler Ebene oder knüpfen länderübergreifende Netzwerke wie zurzeit
das European Network for HTA. Diese
Aktivitäten erreichten ihren bisherigen
Höhepunkt im Juni 2002, als TU-Forscher die jährliche Konferenz der International Society of Technology Assessment
in Health Care ausrichteten und bei der
Auswahl der rund 500 wissenschaftlichen
Beiträge maßgeblich beteiligt waren.
Innerhalb Deutschlands sind die TUForscher eine der wichtigsten Autorengruppen für HTA-Berichte, auch für die
Industrie und für Institutionen, die dem
Bundesgesundheitsministerium zugeordnet sind. Seit 2002 haben die Wissenschaftler zahlreiche Innovationen bewertet, von Lasern im Einsatz gegen Kurzsichtigkeit über Dünnschichtpräparate
bei Abstrichen am Gebärmutterhals bis
hin zu neuartigen Tomographieverfahren
in der Diagnostik von Prostatakarzinomen. Diese Liste lässt sich fortsetzen.
VERGLEICH ZWISCHEN
A LT E R N AT I V E N
Derzeit untersuchen die Forscher beispielsweise, ob künstliche Herzkammern
bei Herzschwäche tatsächlich helfen. Sie
analysieren, ob Gingkopräparate gegen
Alzheimer wirken oder die Demenz zumindest verlangsamen. Auf der Themenliste stehen auch Gutachten über neue
medizinische Methoden bei der Behandlung von Multipler Sklerose, in der Chirurgie oder bei der Behandlung von Asthma. Der Schwerpunkt liegt zurzeit deutlich bei der Bewertung von Arzneimitteln.
Sie dürfen nur dann frei bepreist werden,
wenn es sich tatsächlich um eine echte Innovation handelt, also die medizinische
Wirkung besser ist als bei Vorläuferpräparaten. Erfüllen sie dieses Kriterium
nicht, gelten sie als »Scheininnovation«
TU BERLIN
und werden nur bis zur gleichen Höhe erstattet wie alteingeführte Präparate. In
fast allen Industrieländern sind solche
vergleichenden Evaluationen schon länger üblich – in Großbritannien etwa beschäftigen sich zwei Drittel aller HTABerichte mit Arzneimitteln.
Einen wichtigen Teil eines anspruchsvollen HTA-Berichtes bilden die so genannten gesundheitsökonomischen Evaluationen. Sie stellen fest, ob eine Innovation ihren Preis wert ist. Obwohl heute fast jeder
von Kosteneffektivität redet, sind wesentliche Grundannahmen vielen nicht bekannt. Unter Kosteneffektivität versteht
man die Bewertung der Resultate im Vergleich zu den eingesetzten finanziellen
Mitteln. Die Kosteneffektivität eines Systems oder einer Innovation ist umso höher, je besser das Ergebnis bei gleichem finanziellem Einsatz ist. Es sei an dieser
Stelle betont, dass es keine wissenschaftliche Grenze gibt, ab der eine Innovation
kosteneffektiv ist. Für die Bewertung ist
vielmehr der Vergleich zwischen zwei
oder mehr Alternativen notwendig. Am
Beispiel von Arzneimitteln lässt sich die-
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
79
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
ses Problem vielleicht am besten veranschaulichen: Der Vergleich eines neuen
Medikamentes mit einem Placebo – wie
für die Zulassung von neuen Arzneimitteln vorgeschrieben – fällt im Normalfall
ganz anders aus als ein Vergleich mit der
derzeit geltenden Standardtherapie.
DAS PLACEBO IM VERGLEICH
Placebos sind meistens kostengünstiger
und weniger wirksam, das neue Medikament scheidet gegen sie deutlich besser
ab. Für die Krankenkassen oder die Ärzte ist aber viel wichtiger, ob ein neues Medikament die Therapie über die gültigen
Standards hinaus verbessert. Gesundheitsökonomische Evaluationen spielen
zunehmend eine Rolle bei den Leistungskatalogen, in denen die erstattungsfähigen Medikamente aufgelistet sind. Neue
Arzneimittel werden dabei mit relevanten
Alternativen verglichen. Das können andere Medikamente, chirurgische Eingriffe oder Bestrahlungen sein. Oder einfach
nur: nichts zu tun, um beispielsweise auf
die Selbstheilungskräfte des Körpers und
die Zeit zu setzen. Bezüglich der Effekte,
also der gesundheitsrelevanten Resultate, sind gesundheitsökonomische Studien
darauf angewiesen, dass die klinische
Wirksamkeit anderweitig erwiesen ist: in
Studien oder aus Langzeitbeobachtungen
unter der Bevölkerung. Häufig liegen jedoch nur Daten zur Wirksamkeit unter
Laborbedingungen vor.
Sind Kosten und Effekte erhoben, eröffnen sich meist mehrere Alternativen: Die
betrachtete Innovation ist entweder günstiger und wirksamer zugleich, könnte aber
auch teurer sein. Oder sie ist teurer und
schlechter. Sie kann auch nur genauso gut
wirken wie billigere Vorläufer.
Während in den ersten beiden Fällen
die Entscheidung klar ist, sollte sich in
den beiden letzten Fällen eine vertiefende
gesundheitsökonomische Studie anschließen. In diesem Fall sollte nicht mehr
die durchschnittliche Kosteneffektivität
betrachtet werden, sondern die so genannte inkrementelle Kosteneffektivität.
I N T E R N AT I O N A L E
UNTERSCHIEDE
Dabei wird betrachtet, wie viel mehr
Effektivität pro Kosteneinheit gewonnen
wird, also zum Beispiel wie teuer die Vermeidung eines Krankheitsschubes bei
Patienten mit Multipler Sklerose ist.
Während solche Ergebnisse in Deutschland noch nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen werden, ist dies in
vielen Nachbarländern bereits üblich.
Je nach Untersuchungsgegenstand und
Herangehensweise beeinflussen eine Rei-
he von Faktoren die Übertragbarkeit der
Ergebnisse von gesundheitsökonomischen Evaluationen. Kein Land gleicht
dem anderen, also ist bei binationalen
oder internationalen Vergleichen stets
Vorsicht geboten. Schon innerhalb eines
Landes wie der Bundesrepublik spielen
regionale Unterschiede bei den Kosten
eine Rolle. Das ist insbesondere dann zu
beachten, wenn die Evaluation auf Studien und nicht auf Erfahrungen aus dem
Alltag basiert. Da die Entscheidungsträger häufig die an anderer Stelle gesammelten Ergebnisse für ihre Entscheidung
nutzen möchten, ist es wichtig, die Faktoren zu kennen, welche die Verallgemeinerbarkeit beziehungsweise Übertragbarkeit
einschränken können. Zwischen den Regionen verteilen sich bestimmte Krankheiten anders, auch zwischen Altersgruppen oder sozialen Schichten. Hinzu kommen der Bedarf, die Nachfrage und Präferenzen von Seiten der Patienten. Gesundheitsökonomisch spielen die Entscheidungswege in den Kliniken und ihre
Prioritäten eine ganz wesentliche Rolle.
Auch die Struktur des Gesundheitswesens, seine Aufgabenverteilung zwischen
den Berufsgruppen, seine Finanzierung
und die Preisbildung variieren unter Umständen stark, vor allem über Ländergrenzen hinweg.
q www.mig.tu-berlin.de
» Einblick
Forschungsverbund Epidemiologie: wie sich Krankheiten ausbreiten
Der Interdisziplinäre Forschungsverbund Epidemio- denkbar. EpiBerlin bearbeitet drei Schwerpunkte: Versorlogie Berlin (EpiBerlin) hat das Ziel, die in der Berliner Region tätigen Epidemiologen zusammenzuführen, um sie mit Informationen zu versorgen und zu vernetzen. Er ist Ansprechpartner für alle Akteure des Gesundheitswesens, die für ihre
Forschungen auf diese epidemiologische Kompetenz zurückgreifen wollen und eine wissenschaftliche Begleitung oder
Partner für ihre Projekte suchen.
Epidemiologen befassen sich mit der Frage, wie sich Krankheiten in der Bevölkerung verteilen und welche Ursachen diese Verteilung hat. Belastbare Aussagen zum Gesundheitszustand der Menschen, zu den Kosten, zum Versorgungsbedarf
und zu künftigen Entwicklungen, aber auch tragfähige politische Entscheidungen sind ohne epidemiologische Daten nicht
80
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
gungsepidemiologie und klinische Epidemiologie, soziale Epidemiologie sowie Pharmako-Epidemiologie. In der Versorgungsforschung wird vor allem die Betreuung von Patienten
mit Herzinfarkt untersucht: In Kooperation mit dem Berliner
Herzinfarktregister stehen dafür exzellente Daten zur Verfügung.
EpiBerlin entstand auf Initiative des Berliner Zentrums
Public Health. Beteiligt sind die Freie Universität Berlin, die
Humboldt-Universität zu Berlin, die TU Berlin und das Robert-Koch-Institut. Er wird durch den Berliner Senat und die
Bund-Länder-Kommission gefördert.
q www.epiberlin.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Gesundheitswirtschaft –
med in Germany
Dietrich Grönemeyer lehrt an der TU Berlin
R
enommierter Arzt, erfolgreicher Autor, Erfinder der Mikrotherapie,
Streiter für eine patientengerechte
Reform des Gesundheitswesens – und
nun auch Dozent an der TU Berlin: Prof.
Dr. med. Dietrich H. W. Grönemeyer hat
seit einem Jahr einen Lehrauftrag im
Fachgebiet Finanzwissenschaft der TU
Berlin inne. Sein Spezialthema sind Innovationen im Gesundheitswesen – med in
Germany. Auch im Wintersemester 2006/
2007 wird Professor Grönemeyer wieder
vor die Berliner Studenten und die Öffentlichkeit treten.
Dietrich Grönemeyer wurde 1952
geboren und studierte zunächst Medizin
in Kiel, wo er 1982 auch promovierte.
Danach arbeitete er als Radiologe. 1990
habilitierte er sich an der Universität in
Witten/Herdecke. Seit 1996 bekleidet er
den Wittener Lehrstuhl für Radiologie
und Mikrotherapie, den ersten Lehrstuhl
dieser Art weltweit. Darüber hinaus hat
er zahlreiche Gastprofessuren inne, unter
anderem an der Harvard Medical School
in Boston, an der Georgetown University
in Washington und an der SteinbeisHochschule in Berlin. Seit 1997 leitet
Dietrich Grönemeyer sein privatwirtschaftlich geführtes „Grönemeyer Institut für Mikrotherapie“ in Bochum. Innerhalb eines Jahrzehnts schuf das Institut
auf dem Campus der Ruhr-Universität
rund 200 Arbeitsplätze.
Dietrich Grönemeyer steht für ganzheitliche Vorstellungen von der Medizin.
Er geht dabei über die klassischen biomedizinischen Verfahren (so genannte Hightech-Medizin), Naturheilkunde und die
Medizin anderer Kulturkreise (zum Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda) hinaus. Sein Ziel ist eine
am Menschen orientierte Medizin, die
eine Person auch in ihren psychischen
und intellektuellen Eigenschaften sowie
gesellschaftlichen und kulturellen Bezügen wahrnimmt. Vor diesem Hintergrund
ist Dietrich Grönemeyer nicht nur als
Mediziner tätig, sondern sieht in seinem
Beruf als Arzt auch eine politische Verantwortung.
Die von Professor Grönemeyer entwickelte Mikrotherapie führt die interventionelle Radiologie, die minimal invasive Chirurgie und die Schmerztherapie
zusammen. Sie wird bei Erkrankungen
des Bewegungsapparates, der Blutgefäße
und Krebs angewendet. Zahlreiche Gast-
TU BERLIN
vorlesungen in aller Welt haben zur Verbreitung der Mikrotherapie beigetragen.
Grönemeyer ist weit über Deutschlands
Grenzen hinaus bekannt: In den USA
wurde er im Jahr 2000 zum „Man of the
Year“ gekürt. In England wurde er drei
Jahre später gar „Man of the Millennium“. Er ist Träger des World Future
Award 2003, der von einer Jury unter dem
Vorsitz von Michail Gorbatschow verliehen wurde.
Heiko Schwarzburger
q www.microtherapie.de
q http://finance.ww.tu-berlin.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
81
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
Ärzte als Motoren
der Innovation
Die Hersteller von Medizintechnik müssen möglichst früh
auf ihre künftigen Kunden eingehen
Von Hans Georg Gemünden
82
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
D
ie Entwicklung neuer medizintechnischer Geräte ist kaum möglich,
ohne die Ärzte in den Innovationsprozess
einzubinden. Sie sind nicht nur die späteren Anwender der Erfindungen, sondern
bringen essenzielle Kompetenzen in die
Entwicklung ein. Einerseits besitzen sie
das medizinische Wissen, andererseits
verfügen ausgewählte Ärzte über umfangreiche technische Kompetenzen und
sind fähig, die notwendigen Netzwerke
für eine neue Idee, eine neue Entwicklung
oder ihre Vermarktung aufzubauen. Inno-
GESUNDHEITSWIRTSCHAFT
vationsprozesse verlaufen daher kooperativ zwischen Herstellern und Ärzten. Es
müssen unterschiedliche Akteure mit
komplementären Fähigkeiten im Innovationsprozess tätig sein, da keine Seite alle
benötigten Informationen und Fähigkeiten vereint.
Wenn man die Ärzte frühzeitig am Innovationsprozess beteiligt, lassen sich
neue Ideen schneller finden und bewerten. Die Aufwendungen für die Entwicklung und das Marketing sinken, Pilotkunden sind schneller bei der Hand, um
das neue Gerät in den medizinischen Alltag einzubringen. Daraus resultiert eine
höhere Effektivität der entwickelten Produkte und Dienstleistungen, das wirtschaftliche Risiko verringert sich. Ärzte
können helfen, Bedürfnisse des Marktes
zu identifizieren. Sie gestalten das neue
Produkt mit und entwickeln selbstständig umfassende Problemlösungen. Ärzte
sind unschätzbare Quellen von Wissen
über die medizinische Anwendung, und
sie helfen als erste Kunden, Widerstände
gegen die Innovation zu überwinden.
Um die Rolle der Ärzte im Innovationsprozess zu untersuchen, wurden am
Lehrstuhl für Innovations- und Technologiemanagement der TU Berlin folgende
Fragen analysiert: Was versetzt Ärzte in
die Lage, sich produktiv am Innovationsprozess zu beteiligen? Wie müssen die
Hersteller mit den Ärzten kooperieren,
um von ihnen zu profitieren? Wie wirkt
sich die Einbindung der Ärzte als Anwender auf den Erfolg der Innovationsprojekte aus? Um Antworten auf diese Fragen
zu finden, wurde der Innovationsprozess
in drei Phasen unterteilt: in die Ideenfindung, die Entwicklungsphase und die
Testphase. Die Fragen wurden anhand
von fünf Fallstudien untersucht. Dabei
handelt es sich um die Entwicklung eines
chirurgischen Robotiksystems, um zwei
neue computergestützte Navigationssysteme, ein völlig neuartiges Röntgenverfahren sowie ein biokompatibles Implantat.
ÄRZTE GEBEN IDEEN
Die Fallstudien zeigen, dass bestimmte
Ärzte in allen drei Phasen bedeutende
Beiträge zur Entwicklung leisteten. In
vier der fünf Fälle waren sie sogar die Er-
finder der radikalen Innovationen. Insbesondere Ärzte, die unter extremen Bedingungen arbeiten, bilden demnach eine
Gruppe, die neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen ist. Ebenso lassen die Fallstudien erkennen, dass die kreativen Anwender in der Entwicklungsphase zum
Teil klassische Herstellerfunktionen
übernehmen. Dies äußert sich darin, dass
diese Ärzte selbstständig die erforderlichen Netzwerke knüpfen, um ihre Ideen
zu verwirklichen. Bestimmte Anwender
sind zudem in der Lage, produktive Entwicklungsbeiträge zu realisieren.
Weiterhin zeigte sich, dass in allen drei
Phasen die direkte, persönliche Interaktion mit den Ärzten erforderlich ist. Die
Ursache hierfür besteht in der Komplexität der zu transferierenden Informationen. Darüber hinaus erscheint es vorteilhaft, in der frühen Phase der Innovation
nur eine sehr kleine, ausgewählte Gruppe
von Ärzten zu konsultieren.
M I TA R B E I T A N P R O T O T Y P E N
Welche positiven Wirkungen die Ärzte
entfalten, lässt sich gut anhand des computergestützten Navigationssystems für
die Neurochirurgie belegen. Dabei entwickelte ein Team von Ärzten selbstständig
den Prototypen. Der Hersteller konnte
durch die Zusammenarbeit nicht nur die
Idee, sondern auch den ersten Prototyp
übernehmen. Das sparte Entwicklungszeit und viel Geld. Ein besonderes Augenmerk auf die Rolle von Ärzten im Innovationsprozess wurde auch bei vier Studien
gelegt, die sich mit der Telemedizin, der
elektronischen Kommunikation zwischen
medizinischen Dienstleistern und der integrierten Versorgung beschäftigten. Sie
liefen im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium geförderten Projektes »Erfolgreiche Geschäftsmodelle telemedizinischer Dienstleistungen«.
Ärzte, die einen medizintechnischen
Prototyp erstellt haben, besitzen mehrere
Optionen. Sie können Unternehmen
gründen, die Innovationen an Gerätehersteller lizenzieren oder sie frei an Hersteller weitergeben. Gleichzeitig unternehmen einige Ärzte große Anstrengungen,
um die Kommerzialisierung voranzutreiben. Andere Ärzte nehmen eine eher passive Rolle ein. Ziel aktueller Forschungen
TU BERLIN
ist es, die Rolle der Anwender bei der Vermarktung ihrer Ideen und Entwicklungen
besser zu verstehen. Sie sind in der Lage,
anspruchsvolle Innovationen umzusetzen. Dabei spielen die Art der Innovation,
die Branche sowie das technische und regulatorische Umfeld eine wichtige Rolle.
Auch ist bedeutsam, in welchen sozialen
Netzwerken die Ärzte verankert sind und
wie intensiv sie mit anderen potenziellen
Innovatoren kommunizieren. Weiterhin
bestehen noch Unklarheiten, wie Medizintechnikhersteller die Beiträge von Ärzten innerhalb der Entwicklung und Kommerzialisierung von Medizinprodukten
gezielt nutzen können. Finden sie keine
gemeinsame Sprache, kann eine Innovation nicht gelingen. Diese Aspekte werden nun durch empirische Studien, kombiniert mit Patentanalysen, untersucht.
Dabei stehen innovative Gesundheitstechnologien im Mittelpunkt. Abschließend soll demnächst die Rolle von Ärzten
in der Telemedizin, in der integrierten
Versorgung und im Export von Krankenhausdienstleistungen erforscht werden.
q www.tim.tu-berlin.de
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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AUTOREN
Autoren
Dr.-Ing. Claus Backhaus studierte 1989 bis 1993 Maschinenbau an der Fachhochschule in Wiesbaden. Danach nahm er an
der Fachhochschule Lübeck ein zweijähriges Zusatzstudium im
technischen Gesundheitswesen auf. 1995 bis 1998 arbeitete er im
technischen Aufsichtsdienst der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen. Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter
und Lehrbeauftragter am Fachgebiet Arbeitswissenschaft und
Produktergonomie der TU Berlin. 2004 schloss er seine Promotion ab und hält seitdem an der TU Berlin eigene Vorlesungen zu
Arbeitsschutz und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren.
✉ claus.backhaus@awb.tu-berlin.de
Prof. Dr. med. habil. Wolfgang Friesdorf studierte 1967 bis
1972 Elektrotechnik an den technischen Universitäten in Stuttgart
und München. Es schloss sich ein zweijähriges Aufbaustudium in
Arbeitswissenschaften an. Danach studierte er Medizin an den
Universitäten in Regensburg und Ulm. 1980 bis 1985 bildete er
sich zum Facharzt für Anästhesiologie weiter. 1981 erfolgte die
medizinische Promotion. Von 1986 an arbeitete er zehn Jahre lang
als Oberarzt für Anästhesiologie am Universitätsklinikum in
Ulm. Seit 1997 hat er den Lehrstuhl für Arbeitswissenschaft und
Produktergonomie an der TU Berlin inne.
✉ wolfgang.friesdorf@awb.tu-berlin.de
Prof. Dr. med. Reinhard Busse ist Professor für Management
im Gesundheitswesen und Dekan der Fakultät für Wirtschaft
und Management an der TU Berlin sowie Forschungsdirektor
des European Observatory on Health Systems and Policies.
Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitssystemforschung sowie Health Technology Assessment (HTA). Er hat
Medizin und Public Health in Marburg, Boston, London und
Hannover studiert und habilitierte sich 1999 für Epidemiologie,
Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung. Von 1999 bis
2002 arbeitete er für die Weltgesundheitsorganisation.
✉ mig@tu-berlin.de
Prof. Dr. rer. oec. habil. Hans Georg Gemünden hat den Lehrstuhl für Innovations- und Technologiemanagement der TU Berlin inne. Zwischen 1988 und 2000 leitete er das Institut für Angewandte Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensführung der
Universität in Karlsruhe. Er publizierte mehrere Bücher und
zahlreiche Artikel zu Innovations- und Technologiemanagement,
Projektmanagement, Unternehmensführung, Organisation,
Marketing, Personal und Rechnungswesen.
✉ hans.gemuenden@tim.tu-berlin.de
Peter Diesing (38) studierte bis 1995 Maschinenbau und Biomedizinische Technik an der TU Berlin. Danach war er fünf
Jahre als Marketingmanager bei der B. Braun Melsungen AG
tätig, einem großen deutschen Hersteller für Medizinprodukte.
Seit 2000 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet
Medizintechnik der TU Berlin. Seine Dissertation ist fertig, das
Promotionsverfahren steht vor dem Abschluss.
✉ info@www.medtech.tu-berlin.de
Prof. Dr.-Ing. Claudia Fleck studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität in Karlsruhe. Danach forschte sie an
der University of Surrey im englischen Guildford, als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).
Es folgte die Promotion am Lehrstuhl für Werkstoffkunde der
Universität Essen zum Thema »Ermüdungseigenschaften von
Knochen«. Anschließend arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin am Lehrstuhl für Werkstoffkunde der
TU Kaiserslautern, wo sie eine Arbeitsgruppe für Biowerkstoffe
aufbaute. Seit Oktober 2004 hält sie eine Professur für Werkstofftechnik am Institut für Werkstoffwissenschaften der TU
Berlin.
✉ Claudia.Fleck@TU-Berlin.de
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Prof. Dr. Ulrich Geske studierte Anfang der 60er-Jahre
zunächst Strahlenmesstechnik an der TU in Dresden. Zwischen
1962 und 1967 folgte ein Studium der Physik an der Berliner
Humboldt-Universität. 1970 promovierte er. Danach forschte er
an der Akademie der Wissenschaften der DDR und lehrte an der
Humboldt-Universität. 1988 übernahm er an der HumboldtUniversität eine Professur in der Informatik. Seit 1992 ist er bei
der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung
(GMD) tätig, die 2001 in das Fraunhofer-Institut First eingegliedert wurde. Seit 2002 hat er eine Informatikprofessur an der Universität in Potsdam inne.
✉ geske@first.fhg.de
Prof. Dr.-Ing. Olaf Hellwich studierte 1982 bis 1986 Vermessungswesen an der FH Hamburg. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Inpho GmbH in Stuttgart. 1990 bis
1992 folgte ein Studium im Vermessungswesen an der Universität von New Brunswick im kanadischen Fredericton, danach
Forschungen an der Ohio State University in Columbus im USBundesstaat Ohio. Anschließend forschte er an der TU München, wo er 1997 promovierte. 2001 übernahm er die Professur
für Photogrammetrie und Kartographie an der TU Berlin, seit
2004 ist er Professor für Computervision und Fernerkundung an
der TU Berlin.
✉ hellwich@cs.tu-berlin.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
AUTOREN
Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke hat seit 1995 den Lehrstuhl für
Öffentliche Finanzen und Gesundheitsökonomie an der TU Berlin inne. Seit 1984 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium der Finanzen. Von 1987 bis 1998 war er
Mitglied und von 1993 bis 1998 Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Seit
2004 ist er ein Sprecher des Zentrums für Innovative Gesundheitstechnologie (ZiG) an der TU Berlin. Er arbeitet hauptsächlich in der Gesundheitsökonomie, zur sozialen Sicherung und
europäischen Integration sowie zu finanzwissenschaftlichen
Fragestellungen.
✉ K.Henke@finance.ww.tu-berlin.de
Prof. Dr.-Ing. Dr. h. c. Günter Hommel erhielt 1970 an der TU
Berlin sein Diplom als Elektroingenieur. Anschließend promovierte er. 1978 ging er ans Kernforschungszentrum nach Karlsruhe, wo er auf dem Gebiet der Echtzeitsysteme arbeitete. Von
1980 an forschte er bei der Gesellschaft für Mathematik und
Datenverarbeitung (GMD) in Bonn. 1982 erhielt er eine Professur an der TU München, seit 1984 hat er eine Professur an der
TU Berlin inne. 2004 wurde er zugleich als Professor der Jiao
Tong University in Shanghai berufen. Seit 2005 leitet er das
gemeinsame Forschungszentrum der TU Berlin und der JiaoTong-Universität für Informationstechnik in Shanghai. Seine
Koautoren Christian Fleischer und Andreas Wege sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Informatik und Mikroelektronik der TU Berlin.
✉ hommel@cs.tu-berlin.de
Dr. Kurt Hornschild wurde 1944 in Prag geboren. 1965 bis
1970 studierte er Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität
in Berlin. Danach arbeitete er drei Jahre lang als Assistent der
Geschäftsleitung in einem Berliner Unternehmen. 1974 ging er
als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. 1985 promovierte er an
der FU Berlin. Seit 1991 leitete er am DIW verschiedene Forschungsabteilungen.
✉ k.hornschild@diw.de
Prof. Dr. Stefan Jähnichen wurde 1947 in Chemnitz geboren.
Er absolvierte 1974 ein Studium zum Elektroingenieur an der TU
Berlin, wo er 1979 auch promovierte. Er forschte später an der
Universität in Karlsruhe, dort übernahm er 1988 eine Professur
für das Fachgebiet Computertechnik. 1991 wechselte er als Professor an die TU Berlin, wo er die Fachgruppe für Softwareentwicklung leitet. Seit 2001 ist er zugleich geschäftsführender und
wissenschaftlicher Direktor des Fraunhofer-Instituts für Computerarchitektur und Softwaretechnologie (First) in Berlin.
✉ jaehn@cs.tu-berlin.de
Dr. Christine Kallmayer erhielt 1994 ihr Diplom in Experimentalphysik an der Universität Kaiserslautern. Danach war sie
als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt
»Technologien der Mikroperipherik« der TU Berlin tätig. Seit
1998 ist sie für die Gruppe »System Integration on Flex« des
Fraunhofer-Instituts für Zuverlässigkeit und Mikrointegration
(IZM) verantwortlich, die sich vor allem mit Aufbau- und Verbindungstechniken auf flexiblen Schaltungsträgern beschäftigt.
Zu ihren Arbeitsgebieten gehören Entwicklungen im Bereich
Klebetechnologien für Smart Cards und Smart Labels sowie in
der Aufbau- und Verbindungstechnik für Medizinprodukte,
intelligente Textilien und die entsprechende Zuverlässigkeitsanalytik.
✉ kallmayer@izm.fraunhofer.de
Prof. Dr. Marc Kraft wurde 1967 in Hennigsdorf geboren. Er
war zunächst Militärflieger und schloss danach ein Zweitstudium im Maschinenbau ab. Es folgten 1999 die Promotion und
eine fünfjährige Tätigkeit als Entwicklungsleiter bei der Berliner
Vanguard AG beziehungsweise bei der Otto Bock HealthCare
GmbH in Duderstadt. Seit 2004 ist er Universitätsprofessor und
Leiter des Fachgebietes Medizintechnik der TU Berlin. Marc
Kraft ist einer der Sprecher des Zentrums für innovative
Gesundheitstechnologie (ZiG) der TU Berlin.
✉ marc.kraft@tu-berlin.de
Dr.-Ing. Dr. sc. techn. Klaus-Dieter Lang wurde 1956 geboren.
Von 1976 bis 1981 studierte er Elektrotechnik an der HumboldtUniversität zu Berlin. Von 1981 bis 1991 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Elektronik der Humboldt-Universität tätig, wo er 1985 promovierte und sich 1989
habilitierte. 1991 bis 1993 wirkte er am Aufbau eines Bereiches
für Mikrofügetechnik und optische Verbindungstechnik der SLV
Hannover mit. 1993 wechselte er wieder nach Berlin, als Gruppenleiter am Bereich Chipverbindungstechnik des FraunhoferInstituts für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM). 2001
übernahm er den Aufbau und die Leitung der interdisziplinären
Projektgruppe »Microsystem Engineering« am IZM und des
TU-Forschungsschwerpunkts »Technologien der Mikroperipherik« in Berlin-Adlershof. Seit März 2003 ist er Stellvertreter
des Institutsleiters am Fraunhofer IZM.
✉ kdlang@izm.fraunhofer.de
TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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AUTOREN
Prof. Dr. Heinz Lehr wurde 1947 in Speyer am Rhein geboren.
Er studierte Physik an der TU und an der FU Berlin und promovierte 1981 am Hahn-Meitner-Institut über die Fusion schwerer
Ionen. Danach wechselte er zum Elektronenbeschleuniger Bessy.
1986 konzipierte er an der Europäischen Speicherringlichtquelle
ESRF in Grenoble ein Synchrotron. Ab 1991 baute er am Institut
für Mikrotechnik in Mainz (IMM) neue mikro- und feinwerktechnische Fertigungslinien auf und wurde zum Forschungsdirektor und Prokuristen ernannt. Heinz Lehr entwickelte und
patentierte Produkte der Mikrotechnik für die Automobil-,
Medizin- und Kommunikationstechnik. Seit 1997 leitet er das
Fachgebiet Mikrotechnik an der TU Berlin. Er plante das
Anwenderzentrum Mikrotechnik bei Bessy (AZM) und baute es
zusammen mit seiner Mannschaft sowie der Bessy GmbH auf.
Heinz Lehr ist Sprecher des Netzwerkes für Medizinische Mikrosystemtechnik und Mitglied im Zentrum für Mikrotechnik
(ZemiI) in Berlin-Adlershof.
✉ lehr@iridium.fmt.tu-berlin.de
Prof. Dr.-Ing. Heinz U. Lemke wurde 1941 geboren. Ende der
60er-Jahre studierte er Computerwissenschaft an den Universitäten in London und Cambridge, wo er 1970 auch promovierte.
Seit 1974 ist er Professor für Informatik an der TU Berlin. In diesem Jahr wurde er emeritiert. Er ist außerdem Gastprofessor in
den USA, Japan, China, Ägypten und der Schweiz.
✉ hul@cs.tu-berlin.de
Prof. Dr. phil. Ulrike Maschwesky-Schneider wurde 1947
in Bielefeld geboren. Nach einem Soziologiestudium und der
Promotion an der FU Berlin im Jahr 1979 wandte sie sich
gesundheitswissenschaftlichen Themen zu. Von 1984 bis 1996
leitete sie die Abteilung für Epidemiologie am Bremer Institut für
Präventionsforschung und Sozialmedizin. Seit 1996 ist sie Professorin am Institut für Gesundheitswissenschaften der TU Berlin. Sie ist Sprecherin des Berliner Zentrums Public Health.
✉ ums@ifg.tu-berlin.de
Prof. Dr. Axel Mühlbacher, Jahrgang 1970, lehrt und forscht
im Fachgebiet Volkswirtschaftslehre, Gesundheitsökonomie und
Ökonometrie an der Fachhochschule Neubrandenburg, am
Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie (ZiG) an der
TU Berlin und am Berliner Zentrum für Public Health.
AxelMuehlbacher@finance.ww.tu-berlin.de
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
Prof. Dr.-Ing. Dirk Müller studierte zwischen 1989 und 1995 an
der RWTH in Aachen. 1999 promovierte er und arbeitete danach
bis 2002 in der Forschungszentrale der Robert Bosch GmbH als
Projektleiter für die Analyse und Modellierung von Strömungen.
Danach forschte er ein Jahr lang bei der Behr GmbH als Prozessleiter für Simulationsverfahren. 2004 wurde er als Professor
ans Hermann-Rietschel-Institut/Institut für Energietechnik der
TU Berlin berufen.
✉ dirk.mueller@tu-berlin.de
Dr. rer. nat. Reinhard Mylius (†), studierte zu Beginn der 70erJahre an der TU Dresden das Fach Fertigungsprozessgestaltung. Danach war er an der Humboldt-Universität in Berlin
tätig, wo er promovierte. Seit 1994 war er Projektmanager und
Administrator im Dialysecentrum am Treptower Park in Berlin.
Prof. Christine Nickl-Weller wurde 1951 in Bad Reichenhall
geboren. Sie studierte Architektur an der TU München und legte
1977 die zweite Staatsprüfung ab. Bis 1989 forschte sie an der TU
München, danach nahm sie eine freischaffende Tätigkeit als
Architektin auf. Seit Februar 2004 ist sie Professorin auf dem
Lehrstuhl für den Entwurf von Krankenhäusern und Bauten des
Gesundheitswesens an der TU Berlin.
✉ mail@healthcare-tub.com
Prof. Dr.-Ing. Reinhold Orglmeister studierte Elektrotechnik
an der TU Berlin. Dort promovierte er 1985 über elektromagnetische Felder. Anschließend war er über fünf Jahre am Forschungsinstitut sowie im Geschäftsbereich Mobile Kommunikation der
Robert Bosch GmbH in Berlin tätig. 1991 folgte er dem Ruf an die
TU Berlin, wo er als Geschäftsführender Direktor das Institut für
Energie- und Automatisierungstechnik leitet und das Fachgebiet
Elektronik und medizinische Signalverarbeitung vertritt.
✉ Reinhold.Orglmeister@tu-berlin.de
Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E. h. Herbert Reichl wurde 1945 in München geboren. Zwischen 1966 und 1970 absolvierte er ein Studium
der Elektrotechnik an der dortigen TU, wo er 1974 auch promovierte. Seit 1971 forschte er am Fraunhofer-Institut für Festkörpertechnologie (IFT), wo er 1977 die Leitung der Abteilung
»Halbleitertechnologie und Sensorik« übernahm. 1981 folgte die
Berufung an die Fachhochschule München, 1987 übernahm er
eine Professur für Aufbau- und Verbindungstechnik an der TU
Berlin. Zugleich wurde er Leiter des Forschungsschwerpunktes
»Technologien der Mikroperipherik« an der TU Berlin. Seit 1993
leitet er in Personalunion zugleich das Fraunhofer-Institut für
Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) in Berlin.
✉ reichl@tu-berlin.de
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
AUTOREN
Prof. Dr. Helmut Schubert leitet das Fachgebiet Keramik am
Institut für Werkstoffwissenschaften der TU Berlin. Seine Koautoren Almuth Berthold und Rolf Zehbe sind wissenschaftliche
Mitarbeiter am Institut. Dr. Astrid Haibel arbeitet in der Strukturforschung (Werkstoffe) am Hahn-Meitner-Institut in Berlin.
Ullrich Gross erforscht neue Biomaterialien an der Charité,
Campus Benjamin Franklin.
✉ schubert@ms.tu-berlin.de
Prof. em. Dr. h.c. mult. Dr.-Ing. E.h. mult. Dr.-Ing. Günter Spur
wurde 1928 in Braunschweig geboren. Er studierte Maschinenbau an der TH in Braunschweig. Nach einer kurzen Industrietätigkeit bei der Firma Gildemeister kehrte er zur TH zurück
und promovierte dort 1960. Danach arbeitete er wieder bei Gildemeister als Konstruktionsdirektor. 1965 übernahm er das
Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb (IWF) der
TU Berlin. 1976 gründete er das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) in Berlin.
1997 übergab er die Institute an seinen Nachfolger. Zwischen
1991 und 1996 war Spur Gründungsrektor der TU in Cottbus.
✉ spur@ipk.fraunhofer.de
Prof. Dr. rer. oec. Gert G. Wagner ist Lehrstuhlinhaber für
Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik an der
TU Berlin sowie am DIW Berlin Leiter der Längsschnittsstudie
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) und Forschungsdirektor. Er
ist Vorsitzender des »Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten«,
Mitglied des Wissenschaftsrats und des »Statistischen Beirats«.
Wagner ist Mitglied der Arbeitsgruppe »Chancen und Probleme
einer alternden Gesellschaft« der Deutschen Akademie der
Naturforscher Leopoldina und acatech. Er arbeitet in mehreren
nationalen und internationalen Forschungsnetzwerken mit: Berliner Zentrum für Public Health (BZPH) und Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn, und Centre for Policy Research (CEPR) in London. Wagner war 1997 bis 2002 Lehrstuhlinhaber an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)
und 1992 bis 1997 an der Ruhr-Universität Bochum. Er war
Gastprofessor an der Cornell University, Syracuse University
und American University in Washington. Sein Koautor Dr. Markus M. Grabka ist ein auf Public Health spezialisierter Mitarbeiter am DIW. Er wurde an der TU Berlin promoviert.
✉ G.Wagner@ww.tu-berlin.de
Prof. Dr.-Ing. Manfred H. Wagner, geboren 1948 in Stuttgart,
studierte Physik und Physikalische Chemie an der Universität
Stuttgart und der Oregon State University in Corvallis, USA.
Nach der Promotion im Jahre 1976 war er bis 1979 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Polymere der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Danach folgte
eine neunjährige Tätigkeit bei der damaligen Hoechst-Tochter
Sigri GmbH (heute SGL Carbon AG). Daneben war er Lehrbeauftragter an der Universität Erlangen-Nürnberg für das Fachgebiet Rheologie der Polymerschmelzen und an der Fachhochschule Offenburg für Kunststofftechnik und Grundlagen der
Chemie. 1988 wurde er an die Universität Stuttgart auf die Professur für Numerische Strömungsmechanik und Rheologie berufen. 1999 folgte er einem Ruf an die TU Berlin und leitet seitdem
das Fachgebiet Polymertechnik und Polymerphysik des Instituts
für Werkstoffwissenschaften.
✉ manfred.wagner@tu-berlin.de
Prof. Dr. Herbert Weber wurde 1940 geboren. 1967 diplomierte er an der TU Berlin in der numerischen Mathematik, wo
er 1970 auch promovierte. Danach forschte er am Massachusetts
Institute for Technology (MIT) in Boston und bei IBM im kalifornischen San José. Anschließend arbeitete er am Hahn-Meitner-Institut in Berlin. 1983 erhielt er den Lehrstuhl für Softwaretechnologie an der Universität in Dortmund. 1992 übernahm er
die Leitung des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik (ISST) in Berlin und eine Professur für Computergestützte Informationssysteme an der TU Berlin. Im Herbst 2005
wurde er emeritiert.
✉ hweber@cs.tu-berlin.de
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FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
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IMPRESSUM
Impressum
HERAUSGEBER
Technische Universität Berlin, Presse- und Informationsreferat,
Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin
☎ (030) 314-2 39 22, -2 29 19, I (030) 314-2 39 09
✉ pressestelle@tu-berlin.de
q www.tu-berlin.de, q www.tu-berlin.de/forschung-aktuell
REDAKTION
Heiko Schwarzburger, Stefanie Terp (CvD),
Dr. Kristina R. Zerges (Chefredaktion)
BILDNACHWEIS
U2, U4, S. 1, 12, 13, 14, 22, 23, 33 oben, 35, 40, 46, 47, 49, 50, 51, 52: TU Berlin
S. 36, 55, 58, 73, 74, 75: TK
S. 4, 16, 26, 42, 43, 44, 45, 63, 64, 65, 66, 68, 69, 78, 79: AOK
S. 18, 19 oben, 20: Fraunhofer IZM,
S. 8, 9, 10, 31, 37, 39: Ulrich Dahl
S. 32, 33 unten: Kardiologische GP Bielefeld
S. 5, 6, 34: Schering AG
S. 27, 67, 76: DAK; S. 38, 83: DAK/Wigger; S. 48,53, 82: DAK/Scholz
S. 27: Berliner Universitätsklinikum Charité
Titelbild, S. 28, 29: BV Med
S. 21: Celon AG
S. 25: Otto Bock Health Care GmbH
S. 19 unten: Heiko Schwarzburger
S. 15: Magforce Nanotechnologies AG
S. 30: GS Berlin
S. 60, 61, 62: Eckert & Ziegler AG
S. 70, 71: Nickl & Partner
S. 77: Matheon
S. 81: Grönemeyer Institut für Mikrotherapie
Grafik S. 59: dtf
S. 72: Bernadette Grimmenstein
L AY O U T U N D G E S A M T H E R S T E L L U N G
deutsch-türkischer fotosatz, Berlin (dtf),
Markgrafenstraße 67, 10969 Berlin,
(030) 25 37 27-0, satz@dtf-berlin.de
VERTRIEB
Ramona Ehret, Presse- und Informationsreferat
Auflage: 5500 Exemplare
Erscheinungstermin: September 2006
ISSN 0176-263X
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TU BERLIN
FORSCHUNG AKTUELL 2006
GESUNDHEITSTECHNOLOGIEN
Das Titelbild von »Forschung Aktuell«
zeigt einen künstlichen Hüftkopf, dessen
Metallschaft in den Oberschenkelknochen eingesetzt wird. Die Kugel greift
als Gelenk in die Hüftpfanne. Davon
werden allein in Berlin jedes Jahr rund
4000 Stück eingesetzt.
Zentrum für innovative
Gesundheitstechnologie
an der TU Berlin
D
as Zentrum vereint Ingenieure, Mediziner und Ökonomen mit dem Ziel, die in der Gesundheitsstadt Berlin vorhandenen umfangreichen Kompetenzen in den Bereichen Gesundheitstechnologie und Gesundheitswirtschaft zu bündeln und
weiter auszubauen. Es wurde im Oktober 2004 an der TU Berlin
gegründet und ermöglicht die interdisziplinäre Zusammenarbeit
von 23 Fachgebieten der Universität.
Der Gegenstand: Gesundheitstechnologie
• Nutzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in Verbindung mit erfinderischem Handeln
• Technologischer Fortschritt für eine bedarfsorientierte und
kostengünstige Gesundheitsversorgung
• Neue Fragestellungen führen zu innovativen Forschungsrichtungen und -ergebnissen
• Interdisziplinäre Ansätze als Schlüssel zum Erfolg
• Umsetzung in Prävention, Diagnose, Therapie und
Rehabilitation
• Innovative Gesundheitstechnologie als Markt der Zukunft
Die Kompetenzen
• Digitales Krankenhaus
• E-Health
• Gesundheitswirtschaft
• Innovative medizinische Technologien
• Werkstoffe im Zellkontakt
Die Zukunftsthemen
• Kreislaufprozesse für Medizinprodukte
• Digitalisierte integrierte Versorgung
• Innovatives Gesundheitsmonitoring
• Finanzierung, Vergütung und Steuerung
Die Ziele
• Bündelung der einschlägigen TU-Kompetenzen
• Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren,
Medizinern und Ökonomen aus Wissenschaft, Wirtschaft
und Praxis
• Gemeinsame Realisierung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten
Kontakt
Geschäftsstelle: Technische Universität Berlin
Zentrum für innovative Gesundheitstechnologie (ZiG)
Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin
✉ zig@tu-berlin.de
☎ (030) 314 -2 19 70 (Sekretariat)
(030) 314 -2 16 18
I (030) 314- 2 15 78
q www.zig-berlin.de/