Moderne Mythen: Von Spinnenbissen und Erdnussdosen
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Moderne Mythen: Von Spinnenbissen und Erdnussdosen
ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft Moderne Mythen: Von Spinnenbissen und Erdnussdosen Beigesteuert von Caro Kim Monday, 17. December 2007 In unseren Ohren klingt der Begriff Mythos ein wenig verstaubt. Aufgeklärte moderne Städter, die an Wissenschaft glauben, haben mit Mythen nichts am Hut. Doch so manch einer wird sich wundern: Begibt man sich auf die Suche, findet man unzählige „sagenhafte“ Geschichten auch im Großstadtdschungel. Die Bekannte meiner Nachbarin hat Unglaubliches erlebt. Sie war im Urlaub in Südamerika, wo sie von einer Spinne gebissen wurde. Als sie zurückkam, war der Biss zu einer richtig großen Beule angeschwollen. Da es immer schlimmer wurde, ist sie schließlich zum Arzt gegangen. Naja, der Arzt hat die Beule dann aufgeschnitten und es sind hundert kleine Spinnen rausgeklettert. Die Spinne hatte ihre Eier hineingelegt! Wie ekelig! Seitdem fährt meine Nachbarin nur noch innerhalb Europas in Urlaub. Komisch, ihr kennt auch jemanden, der jemanden kennt, dem schon Ähnliches passiert ist? Muss wohl eine gängige Krankheit in den Tropen sein. Oder ein weit verbreiteter Mythos der Moderne. Geschichten dieser Art nennen sich Urban Legends - zu Deutsch auch Großstadtmythen oder Wandersagen. Der Begriff Mythos wie er umgangssprachlich oft gebraucht wird, ist eigentlich irreführend: Urban Legends handeln im Gegensatz zu Mythen nicht von Göttern, Ãœbernatürlichem oder dem Ursprung einer Gesellschaft. Urban oder Contemporary Legends, die modernen Nachkommen der Sagen, sind im Kern uralt. Sie passen sich aber der Zeit an, in dem sie immer wieder modernisiert werden. Ihre Themen sind zeitlos, sie erzählen von Alltäglichem: Geschichten, die jemandem wie dir und mir im vertrauten Umfeld geschehen – in Kaufhäusern, im Straßenverkehr, auf der Arbeit, zu Hause oder auch - wie oben gesehen - allzu gerne im Urlaub. Und dennoch oder gerade deshalb sagen sie viel über das urbane und moderne Leben aus. Es gibt sie in jeder modernen Gesellschaft, sagt der bekannteste Urban Legends Forscher Jan Harold Brunvand, ehemals Professor an der Universität Utah. Sie behandeln geläufige Ängste, Sorgen und Hoffnungen und verarbeiten neue Ereignisse. Dabei sind sie oft belehrend oder enthalten einen simplen moralischen Anspruch. Darüber hinaus stellen sie Zeitzeichen dar, denn nach großen Ereignissen, die die Menschen bewegen, entstehen oft neue moderne Sagen als „erzählerische Reaktion“ den 80ern entstanden Legenden um mit Aids verseuchte Spritzen in Kinosesseln, nach dem 11. September kursierten Wandersagen zu Terroranschlags-Warnungen netter Araber und es gibt sogar schon zu Legenden gewordene Erzählungen als Reaktionen auf den Hurrikan Katrina. Neben etwas plumper Moral („Lass deine Kinder nicht aus den Augen“ oder „Fahr nicht alleine im Dunkeln nach Hause werden in Urban Legends gelegentlich auch xenophobe Stereotype transportiert. Dass es sich um eine bloße Projektion der gängigen Vorurteile handelt sieht man daran, dass die in der Geschichte diskriminierten Nationalitäten je nach Ort des Erzählens einfach ausgetauscht werden. So wurden bereits in etlichen pakistanischen Restaurants in England, südostasiatischen Imbissbuden in Kanada und Dönerbuden in Deutschland angeblich Sperma oder Rattenreste im Essen gefunden. Wären dies keine Wandersagen, wäre es sicherlich schon zur Schließung eines dieser Restaurants gekommen. Auch die oben erzählte Sage des Spinnenbisses impliziert die Angst vor dem Fremden und die Nachricht, dass es in anderen Ländern unsauberer zuginge als im vertrauten Umfeld. Dabei muss es nicht immer Südamerika sein, es gibt auch Versionen der Geschichte, bei der die Spinne in Spanien zugebissen hat. So spiegeln sich in den Urban Legends alltägliche Themen der Gesellschaft wider – folglich auch rassistische Vorurteile. Doch meist geht es um Machenschaften großer Firmen, vergiftetes Essen, gruselige Gestalten in der Nacht, bizarre Morde und gefährliche Vorkommnisse, die Menschen versuchen durch Erzählungen zu verstehen und zu verarbeiten. Am Besten verbreiten sich Urban Legends nämlich gerade dann, wenn sie starke Emotionen wie Angst, Ekel oder Empörung wecken. Man erfreut sich an dem überraschenden Element, am gruseligen Schauer und an der Sensationslust. Und vor allem darüber, dass es nicht einem selbst geschehen ist. A friend of a friend of mine... Urban Legends sind ein interessantes Phänomen: Jeder kennt die eine oder andere städtische Sage, doch niemand hat sie selbst erlebt. Trotzdem hat jeder irgendeinen Bekannten, der jemanden kennt, der persönlich dabei gewesen ist. Deswegen nennt man diese Sagen auch FOAF-tales – friend of a friend’s tales. http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:03 ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft Sie erzählen Geschichten, die vermeintlich wahr sind. Eigentlich glaubt man nicht daran, aber das Faszinierende ist, dass sie theoretisch wahr sein könnten... Und genau das sorgt dafür, dass sie ständig weiterverbreitet werden: eine gute Story die unglaubwürdig klingt, aber im Bereich des Möglichen liegt. Hinzu kommt, dass Urban Legends meist mündlich – face-to-face kommuniziert werden. Also aus einer greifbaren und zuverlässigen Quelle stammen. Die Verlässlichkeit hat einen wichtigen Stellenwert bei der Verbreitung einer Legende. Dass eine über maximal zwei Ecken bekannte Person, das Erzählte miterlebt hat oder zumindest bezeugen kann, ist vertrauenswürdig. Oft glauben die Erzähler selbst daran, dass die von ihnen erzählte Geschichte wahr ist. Die Zeugen-Kette verlängert sich aber beim Weitererzählen nicht automatisch, sondern wird zugunsten der Einfachheit und Glaubwürdigkeit auf höchstens zwei „Zwischenstationen“ verkürzt. Und so verbreiten sich diese (un)glaubwürdigen Geschichten und bleiben gleichzeitig immer nah, lokal, persönlich und verlässlich. Die Legende passt sich den lokalen Begebenheiten an: aus einer Shopping Mall in Kalifornien wird der Supermarkt von nebenan und aus Taco Bell wird Kochlöffel. Urban Legends sind oft international verbreitet, lediglich Namen und Orte ändern sich, um das Lokale beizubehalten. Jeder (Weiter-)Erzähler personalisiert seine Legende – er schmückt sie mit Details oder unterschlägt andere unbewusst. So kursieren viele unterschiedliche Versionen ein und derselben Legende mit gleich bleibendem Kern. Jeder Erzähler hilft, sie am Leben zu halten: Gerade durch die kontinuierliche Wiederholung und Wieder-Erkennung steigt die Glaubwürdigkeit immer mehr. Modernisierung der modernen Sagen Urban Legends gehören zur mündlichen Tradition unserer Gesellschaften, schaffen es aber in seltenen Fällen auch in die Zeitung und werden als „Enten“ übernommen. Sogar die Times und BBC sollen einer urbanen Legende aus den 80ern aufgesessen sein. Sie berichteten damals, dass der Büroangestellte George Turklebaum fünf Tage lang tot im Bürostuhl saß, bevor er gefunden wurde. Bei dem einsamen Toten handelte es sich jedoch eine lupenreine Legende, bei der Berichterstattung der Medien nicht – davon ist zumindest auszugehen. Teilweise werden Enten auch absichtlich platziert. Wenn (Boulevard-)Redakteuren der Stoff ausgeht, erfinden sie Namen, Orte, Dialoge und Details für eine Geschichte, die dann als Nachricht abgedruckt wird. So angeblich geschehen in einem Artikel der Bildzeitung vom 20.09.1981 mit der Wandersage der schwangeren Katze – nachzulesen in der Encyclopedia of Urban Legends (s.u.). Oft finden die Plots der modernen Sagen ihren Weg in Literatur oder Film. Die Autoren der US-Serie „Akte X“ haben sich in vielen der Drehbücher von Urban Legends inspirieren lassen und in der Horror-Trilogie „Düstere Legenden“ bringt der Mörder seine Opfer nach bekannten Legenden-Mustern um. Die Legende des Haustiers (je nachdem Hamster oder Katze), das zum Trocknen in die Mikrowelle gesteckt wird, hat es sogar bis in Computerspiele geschafft. In Amerika gibt es auch zwei TV-Shows, die sich mit Urban Legends beschäftigen und diese auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Zwar leben alle Urban Legends von ihrem Wahrheitsanspruch, trotzdem sind die meisten frei erfunden. Manche jedoch beruhen auf wirklichen Begebenheiten, oder weisen zumindest einen Funken Wahrheit auf. Die „Big Urban Myths Show“ durchforstet Akten und befragt Zeugen, um nach Beweisen für die unglaublichen Geschehnisse zu suchen. Die „MythBusters“ experimentieren hingegen, ob bestimmte Sagen überhaupt wahr sein könnten - z.B. ob man jemanden mit einer Spielkarte töten oder mit einer Wunderkugel eine Explosion im Bauch auslösen kann. In den ersten beiden Staffeln gab es hier noch eine promovierte Volkskundlerin, die Ursprung und Bedeutung der Mythen erklärte. Ihr Verschwinden in Staffel 3 bleibt unverständlich – vielleicht Anlass zu einer neuen Legende? Mit dem Internet eröffnen sich der Wandersage ganz neue Möglichkeiten: Ãœber Emails werden sie nun in Windeseile verbreitet, oft mit der dringenden Aufforderung, diese an möglichst viele Leute weiterzuleiten. Meist handelt es sich um Petitionen, Viruswarnungen, Suche nach Knochenmarkspendern, Handy- oder Geldgeschenke von Nokia und Microsoft, Solidaritätsaktionen mit krebskranken Kindern. Na, da hört sich was bekannt an, oder? Bei all diesen Email-Sagen, oder auch hoax (engl.=Scherz) genannt, wird der angebliche Wahrheitsgehalt besonders hervorgehoben und zudem von (erfundenen) wissenschaftlichen Institutionen bezeugt. Ort- und Zeitpunkt bleiben hingegen nicht nachvollziehbar. Die Urban Legends werden auf ein neues Medium übertragen, ihm angepasst und nutzen dessen Möglichkeiten. Diese Popularisierung und (Wieder-)Erfindung von volkstümlichen Traditionen ist kein neues Phänomen, sondern bekannt z.B. bei Volksliedern und Feiertagen (Halloween). Und trotz der rasanten Entwicklung der Medien in einer Zeit, wo wir eigentlich keine mündlich überlieferten Geschichten mehr bräuchten, verlieren die persönlich erzählten urbanen Legenden nicht an Faszination. Sie zeigen uns, dass auch eine moderne, http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:03 ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft vermeintlich rationale Welt in der Lage ist, skurrile und schockierende Ereignisse zu produzieren. Aha-Effekte Bei näherer Beschäftigung mit dem Thema fallen einem immer mehr Urban Legends ein, mit denen man unbewusst im Laufe seines Lebens in Kontakt gekommen ist. Ich z.B. habe jahrelang Wrigley’s Kaugummi-Papierchen gesammelt und anschließend an eine Bekannte weitergegeben. Sie wollte sie einem Jungen zukommen lassen, der von Wrigley’s einen Rollstuhl gesponsert bekäme, sobald er eine Millionen Papierchen beisammen hätte. Eigentlich eine gute Werbung für Wrigley’s, aber diese Legenden werden nicht von den Firmen selbst in Umlauf gebracht. Und ebenso wenig stammen die rufschädigenden Geschichten von Rattenzähnen bei McDonalds und Kentucky Fried Chicken von der Konkurrenz. Meist merkt man gar nicht, dass es sich um eine Urban Legend handelt, bis man die geglaubte „Tatsachenerzählung“ in einem anderen Zusammenhang wieder findet. Dass Michi jemanden kennt, der bei einer Erdnussfirma arbeitet und weiß, dass in Erdnussdosen auch diverse Körperflüssigkeiten landen, habe ich zumindest für bahre Münze genommen. Weitererzählt auch. Zum Schluss noch ein paar Aha-Effekte, die mir beim Schreiben des Artikels aufgegangen sind: Man kann die chinesische Mauer nicht vom Mond sehen. Niemand rennt mit Aids-verseuchten Spritzen durch Diskos. Nein, liebe Simpsons-Gucker, auf der anderen Seite des Äquators fließt das Wasser nicht gegen den Uhrzeigersinn ab. Und doch: Bielefeld gibt es. Oder doch nicht? Jedenfalls macht es Spaß, über all diese Möglichkeiten nachzudenken. Quellen: Brednich, Rolf Wilhelm (1999): Der Dauerbrenner. Sagenhafte Geschichten von heute. München. Brednich, Rolf Wilhelm (1996): Der Ratte am Strohhalm. Allerneueste sagenhafte Geschichten von heute. München. Brunvand, Jan Harold (2001): Encyclopedia of Urban Legends. California. Brunvand, Jan Harold (2001): Too good to be true. The colossal book of urban legends. New York. Brunvand, Jan Harold (1989): The Vanishing Hitchhiker. American Urban Legends and Their Meanings. o.O. Harder, Bernd (2005): Das Lexikon der Großstadtmythen. Unglaubliche Geschichten von Astralreisen bis Zombies. Frankfurt. www.snopes.com de.wikipedia.org/wiki/Moderne_Sage http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:03