Die Revanche der Bananenrepubliken: Vom Reggaetón, Raggatón
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Die Revanche der Bananenrepubliken: Vom Reggaetón, Raggatón
ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft Die Revanche der Bananenrepubliken: Vom Reggaetón, Raggatón und anderen Neologismen Beigesteuert von Viktor Coco Tuesday, 30. June 2009 Während elektronische Musik die europäische Clubszene dominiert, ist aus Panama und Puerto Rico ein Musikstil ausgebrochen, der als Emblem einer Generation Lateinamerikas gelten könnte: Reggaetón ist cool genug, um mit den übermächtigen Amis mitzuhalten, aber reserviert sich dennoch eine gehörige Portion Sexappeal, um eine LatinoIdentität zu bewahren. „Das Leben ist nicht nur Raggatón“ versucht mich mein Freund Claus gefühlte hundert Male in Buenos Aires zu belehren. Claus, eigentlich Claudio, grandioser Fotograf, fanatischer Jünger angelsächsischer Popdiven und großer Fan von diversen deutschen Elektro-DJs, von denen ich noch nie gehört habe. Er schwärmt vom Winter und deutscher Organisation und ist einer jener Latinos, die keinen Bock mehr auf Körperkontakt- Klischees von ihrem Kontinent haben. Claus versteht jeglichen karibischen Krach umfassend als Raggatón, ein Neologismus seinerseits, der mir beweist, dass Reggaetón nun auch in der südlichsten Hauptstadt Lateinamerikas endgültig angekommen Zu behaupten Reggaetón sei ein völlig neues Musikphänomen, ist mittlerweile sicherlich falsch. Trotzdem findet seine Betrachtung bisher nahezu völlig auf der populären Ebene statt. Während die Universitätsbibliothek Heidelberg und der Online-Buchhändler Amazon nicht einmal eine handvoll Schriftstücke führen, spuckt Google vierzehn Millionen Ergebnisse im Internet aus und auf der Video-Plattform YouTube sind über 120.000 Clips mit Reggaetón getaggt. Dabei war in den Anfangsjahren des Genres nicht einmal eine einheitliche Orthographie klar. Der Akzent auf der Endsilbe sollte beibehalten werden, um den hispanischen Charakter zu verdeutlichen. Gleichzeitig entfernte sich aber Reguetón als hispanisierte Schreibweise zwar nicht in der Aussprache, aber doch auf den ersten Blick zu weit von den Wurzeln dieses Musikstils, die sehr wohl im Reggae liegen. Offbeat und Raggamuffin – Musikalische Brücke zwischen Jamaika und Panama Ende des 19. Jahrhunderts kamen tausende jamaikanische Gastarbeiter ins mittelamerikanische Panama, um dort beim Bau des Kanals, der den Pazifik mit dem Atlantik verbinden sollte, ihr Geld zu verdienen. Jahrzehnte später brachten sie den Offbeat aus ihrer Heimat dorthin und schafften so eine bis heute andauernde musikalische Brücke zwischen beiden Ländern. Panama beheimatet daher eine der vitalsten Szenen im spanischsprachigen Reggae und eine große Rastafari-Gemeinschaft. Dem Reggae folgte seine jüngere, ausgeflippte, leicht bekleidete Schwester auf das amerikanische Festland: Dancehall is big in Panama und während nur wenige Länder Lateinamerikas am ersten Hype dieser urbanen jamaikanischen Klänge teilnahmen, fanden Dancehall-Artists wie Buju Banton oder Shabba Ranks bis Anfang der 90er Jahre dort bereits großen Anklang. Letzterer veröffentlichte 1990 auf dem von Bobby Digital Dixon produzierten Dem Bow Riddim einen gleichnamigen Hit, der sich aber im schnelllebigen Dancehall nicht zum Status eines Klassikers durchringen konnte. Anders in Panama, wie Ethno-Musikologe Wayne Marshall schreibt, wo der Loop des Dem Bow das Grundgerüst der Plena wurde, ein in den 90er Jahren aufstrebendes Subgenre. Im anglophonen Sprachraum wohl als Raggamuffin wahrgenommen, entwickelten sich ähnliche Spielarten des Sprechgesangs interessanterweise parallel in anderen hispanischen Ländern, zum Beispiel die Champeta in Kolumbien. Der Dem Bow als Wiege des Reggaetón in Puerto Rico http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:07 ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft Die zweite Brutstätte des Reggaetón ist aber eindeutig das US-amerikanische Außengebiet Puerto Rico, östlichste Insel der Großen Antillen in der Karibik. Ähnlich klein wie Jamaika, fasziniert auch dort die musikalische Produktivität der boricua, wie sich die Bewohner Puerto Ricos selbst nennen. Ricky Martin oder Jennifer Lopez schafften es in weltweite Popcharts; viele US-amerikanische Latino-Hiphop Künstler, wie zum Beispiel der bekannte New Yorker DJ Tony Touch, haben ihre Wurzeln im Freistaat. Als Hiphop Head wird auch einer der Vorreiter der dortigen Reggaetón-Szene katalogisiert: Vico C begann seine Bilderbuch-Rapkarriere in den 80er Jahren, strudelte im Drogensumpf, landete in Florida im Gefängnis und performt mittlerweile als bekehrter Christ für die Evangelisten-Kirche vor Hunderttausenden auf Bühnen in ganz Lateinamerika. Immer wieder finden sich auf seinen Alben Lieder mit dem klassischen Dem Bow in der Beat-Struktur. Im Unterschied zu den in späteren Jahren folgenden puristischen Reggaetón-Stars, greifen seine Texte häufig gesellschaftskritische Themen auf und kritisieren die Unterdrückung der sozial-benachteiligten Bevölkerung in Puerto Rico und ganz Lateinamerika. Zwar verschaffte Vico C dem Reggaetón als klar definiertes Genre keinen Durchbruch, aber Ende der 90er hatte sich der Dem Bow in den Diskos Lateinamerikas bereits warmgetanzt: Plena-Sänger aus Panama wie Aldo Ranks („Mueve Mami“) oder El General („El Meneaito“) schufe Jahre taugliche Klassiker für die Tanzflächen und selbst Europa erfuhr in den Hotelanlagen des Mittelmeers dank Lornas „Papi chulo“ erstmals diesen modernen, hüft-intensiven Tanz. Der Durchbruch dank Daddy Yankee Die Körperlichkeit stand also in den Folgejahren deutlich im Vordergrund. Neue Lieder brachten immer ausgefeiltere Tanzanweisungen mit Texten weit unter der Gürtellinie mit sich. Der typische Tanzschritt hatte sich herauskristallisiert, fast bevor sich das Genre Reggaetón überhaupt selbst einen Namen gemacht hatte. Man kannte mittlerweile den Rhythmus, aber es dauerte bis 2004, als sich „Gasolina“ über große Teile des spanischen Sprachraums ergoss und einen Flächenbrand entfachte. Der Puerto-Ricaner Ramón Luis Ayala RodrÃ-guez, besser bekannt als Daddy Yankee, war es, der mit seinem von Eddie Dee geschriebenem Hit einen Meilenstein setzte. Monatelang schallte der von seiner Landsfrau Glory gesungene, eindeutig zweideutige Refrain über die Vorliebe der Mädels für Benzin aus allen Lautsprechern von Tijuana bis Feuerland. Schnell folgten weitere Hits von Don Omar („Dale Don dale“), Wisin y Yandel („Rakata“) oder Hector y Tito („Baila Morena“) , allesamt boricua durch und durch, wobei bis heute für einen Groà musikalischen Produktionen das in der Dominikanischen Republik geborene, aber in San Juan, Puerto Rico, aufgewachsene Duo Luny Tunes verantwortlich ist. Interessant ist dabei, dass sie teils sehr orientiert an US-Hiphop Beats arbeiten, andererseits in vielen Stücken karibische Elemente wie Salsa oder Merengue einbringen. Und: Sie verlangsamten von Anfang an den omnipräsenten Dem Bow im Vergleich zu den Plena-Hits der 90er. Lateinamerika tanzt Perreo Ob in Hispano-Kreisen der USA, in Kolumbien oder Venezuela: Der Hype war unaufhaltsam. In Chile zum Beispiel, wo Trends aus dem Ausland von der Masse oft gern und gierig geschluckt werden, hatte Reggaetón voll eingeschlagen und selbst standhaften Rockern, fernsehfremden Dreads und kommerz-abweisenden Hiphoppern blieb nichts anderes übrig, als den perreo – Doggy Style – zu tanzen. „Auf Kuba“, so erzählt Eudys Morales, Bassist der Rapformation M http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:07 ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft Limpia, „hat Reggaetón Salsa längst verdrängt. Salseros sind zwar die kompletteren Musiker, aber sie spielen hauptsächlich nur noch für die Touristen in den Hotels. Nationale Reggaetón-Gruppen wie Gente de Zona beherrschen die Massen.“ Einige der erwähnten Superstars versuchen sich auf dem profitablen US-Markt zu bewähren. Daddy Yankee hat mit verschiedenen Black Music-Größen kollaboriert, einen Kinofilm veröffentlicht und ist zur Zeit vielleicht der erfolgreichste spanischsprachige Künstler der modernen Musikwelt. Sein MySpace zählt bis heute über 24 Millionen Profilaufrufe; mehr als die deutschen Musikgeschenke an die Welt Kraftwerk und Tokio Hotel zusammen, mehr als Größen wie Oasis oder Madonna.  Beim kontinentalen Erfolg ist noch unbedingt Calle 13 aus Puerto Rico zu erwähnen. Ein Duo, das sich eigentlich von den Klischees der Reggaetoneros distanziert, in dessen vor Kreativität und Innovation strotzenden Produktionen sich aber in einigen Liedern dennoch ein gehöriger Anteil Dem Bow heraushören lässt. Sie brachten die seit Vico C scheinbar verschwundenen Inhalte in die Texte zurück und rebellieren mit voller Wucht und großem Mundwerk gegen die in Puerto Rico dominierende Gringo-US- Kultur. Und warum schaffte Reggaetón nie den Durchbruch in Europa? Wahrscheinlich weil es für Leute, die keinen Bezug zu Lateinamerika haben, zu fremd klingt. Ebenso ist es beispielsweise auf dem deutschen Musikmarkt schwer, das Primat der englischsprachigen Popmusik zu brechen. Außerdem machen Party-Veranstalter hier den Fehler, es kulturell neben Salsa und Bachata einzuordnen, anstatt es musikalisch zwischen Hiphop und Dancehall zu promoten. Und vielleicht ist der Tanzstil und das Ambiente des Reggaetón schlicht und einfach zu sinnlich, zu freizügig für mitteleuropäische Tanzflächen. Eine deutsche Freundin, die mich in Buenos Aires besuchte, war erst geschockt und dann genervt von bauchfreien Tops und eindeutigen Tanzbewegungen. Dort, in Argentiniens Hauptstadt, hatte es übrigens zwei Jahre länger gedauert, bis der Gasolina-Tank explodiert war. Für über ein Jahrzehnt regierte dort der klapprige Sound der Cumbia Villera die urbane Jugend der unteren Mittelschicht. Wenn ich davon meinem Freund Claus vorschwärme, schlägt er völlig verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen: „Das ist ja noch schlimmer!“, verflucht er meinen Musikgeschmack. Ihm fällt es schließlich schon schwer genug zu begreifen, dass für Millionen auf dem gesamten Kontinent zumindest auf der Tanzfläche Reggaetón alles im Leben ist.     {slide=Zum Weiterlesen}  Ribera, Marshall, Pacini Hernandez (Hg.): Reggaetón. Duke University Press, 371 Seiten. 19,99€. Für völlig neue Latinophile ist vielleicht der Hit „12 Discipulos“ ein angebrachter Ãœberblick über die Crème de la Crème des puerto-ricanischen Reggaetóns und der Start einer ausführlichen Youtube-Recherche. {/slide} Der Halb-Sizilianer Viktor Coco stammt aus Schwerte und studiert seit 2006 in Heidelberg Romanistik und Ethnologie. Eigentlich hält er sich aber lieber in Südamerika auf, wo er zwischen Chile und Argentinien insgesamt fast drei Jahre seines Lebens verbrachte. Dort hat er sein Herz an den Fußball verloren, so einige Berichte über die Fußballkultur Südamerikas im Magazin 11 Freunde veröffentlicht und als einer von drei Betreibern füttert er regelmäßig den Blog http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:07 ethmundo.de - Online-Magazin für Kultur und Gesellschaft argifutbol.com mit News aus Argentinien. Außerdem beschäftigt er sich intensiv mit nicht-gitarrenlastiger Musik, berichtete z.B. für die Heidelberger Studierendenzeitung Ruprecht von einem Forró-Tanzfestival in Brasilien und arbeitete knapp ein Jahr beim argentinischen Radiosender FM La Tribu in der Reggae/Dancehall Sendung Noches Contra Babylon. http://www.ethmundo.de Powered by Joomla! Generiert: 16 January, 2017, 00:07