Der Kinderdieb

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Der Kinderdieb
Zusatzmaterial zum Hörbuch:
Der Kinderdieb
VON BROM
GESPROCHEN VON UVE TESCHNER
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Nachbemerkung des Autors
oder: Ein Lobgesang auf Peter Pan
W
ie so viele vor mir fasziniert mich die Geschichte von Peter Pan sehr, die romantische Idee einer niemals endenden Kindheit auf dem magischen Spielplatz von Nimmerland. Doch wie so viele andere hatte ich ein Bild von
Peter Pan im Kopf, das ihn als liebenswerten, koboldhaften Scherzbold zeigte, was dem unguten Einfluss zu vieler
Disney-Filme und Werbespots für Erdnussbutter geschuldet ist. Jedenfalls so lange, bis ich den ursprünglichen Peter Pan
las, nicht die entschärfte Fassung, die man heutzutage in vielen Kinderbuchabteilungen findet, sondern das nicht bereinigte Original von James Barrie. Da bemerkte ich die dunklen Untertöne und lernte zu schätzen, was für eine wunderbar gefährliche und zuweilen auch grausame Gestalt Peter Pan eigentlich ist.
Schon allein die Vorstellung von einem unsterblichen Jungen, der an Kinderzimmerfenstern herumhängt, Kinder von
ihren Familien weglockt, um sein Ego zu bauchpinseln und sie gegen seine Feinde kämpfen zu lassen, ist – wenn man
einmal darüber nachdenkt – verstörend. Allerdings ist das zumindest halbwegs verständlich, wenn man »Der kleine
weiße Vogel« liest (die Geschichte, in der Peter Pan zum ersten Mal auftaucht) und erfährt, dass er als Säugling aus
seinem eigenen Kinderzimmer abgehauen ist, um mit den Feen im Park zu spielen, und bei seiner Rückkehr das Fenster
verschlossen vorfand und feststellen musste, dass seine Mutter einen anderen kleinen Jungen stillte. So eine traumatische Erfahrung würde wohl bei jedem gewisse Spuren hinterlassen. Solcherart zurückgewiesen, kehrt Peter Pan in die
Feenwelt zurück und kommt offenbar zu dem Schluss, dass es mit ein paar Spielgefährten viel lustiger wäre. Und weil er
sich nicht lange mit Nettigkeiten aufhält, entführt er sich einfach welche.
Aber was wird danach aus diesen Kindern? Hier ein Zitat aus dem Originalbuch: »Die Anzahl der Jungen auf der Insel variiert natürlich, je nachdem, wie viele getötet werden und derlei. Und wenn sie den Eindruck machen, dass sie erwachsen werden, was
gegen die Regeln verstößt, jätet Peter sie aus. Aber derzeit waren es sechs, wenn man die Zwillinge als zwei zählte.«
Er »jätet sie aus«? Wie bitte? Was soll das heißen? Tötet Peter sie, wie wenn man eine Herde ausdünnt? Schickt er sie
irgendwohin? Wenn ja, wohin? Oder bringt er sie einfach in tödliche Gefahr, sodass er seine Vorräte immer wieder
aufstocken muss?
Dieser eine Absatz sollte mein Bild von Peter Pan nachhaltig verändern. Er war nun kein übermütiger Lausbub mehr,
sondern eine deutlich zwielichtigere Gestalt. Er »jätet sie aus« – ich bekam den Satz einfach nicht mehr aus meinem Kopf.
Wie viele Kinder hatte Peter gestohlen, wie viele waren gestorben, wie viele ausgejätet worden? Peter selbst sagt dazu:
»Das Sterben wird ein Riesenabenteuer.«
Zweifellos fließt in Peter Pan mehr als genug Blut: Piraten massakrieren Indianer und derlei mehr, aber das sind Erwachsene, die sich gegenseitig umbringen – das Übliche also. Sehr viel ungewöhnlicher erscheint mir dagegen der mordende Kindertrupp namens »verlorene Jungen«. Mit ihnen macht Peter Pan das Blutvergießen zum Sport. Er hat ihnen
nicht nur beigebracht, gewissenlos und ohne Reue zu töten, sondern auch jede Menge Spaß dabei zu haben.
Einmal diskutieren die Jungen stolz darüber, wie viele Piraten sie gerade abgeschlachtet haben: »Waren es fünfzehn oder
siebzehn?« Und welches Kind würde keine Freude haben an Sätzen wie: »Sie waren leichte Beute für die Degen der anderen
Jungen«, oder: »Er hob einen der Jungen mit seinem Haken in die Höhe und benutzte ihn als Schild, und ein weiterer, der gerade
Mullins mit dem Schwert durchbohrt hatte, sprang in die Bresche.« Nichts bringt mehr Freude in die Bude als umherspritzende Innereien.
Noch erschreckender ist jedoch Peters Fähigkeit, all diese Dinge – Kindesentführung, Mord – zu tun, ohne auch nur eine
Spur von Gewissensbissen zu zeigen. »›Sobald ich sie getötet habe, vergesse ich sie wieder‹, antwortete er achtlos.«
Als ich anfing, über die beunruhigenden Aspekte dieses Kinderbuchs nachzudenken, fragte ich mich, wie es wäre, den
Schleier von James Matthew Barries poetischer Sprache beiseitezuziehen und die sich dahinter verbergende Gewalt und
Barbarei ungeschminkt zu zeigen.Wie würden Kinder wirklich reagieren, wenn man sie entführen und in so eine Situation bringen würde? Wie leicht oder schwer wäre es für sie, dem Bann eines charismatischen Soziopathen zu erliegen,
die moralischen Fesseln unserer Zivilisation abzustreifen und zu kaltblütigen Mördern zu werden? Angesichts dessen,
was im modernen Bandenwesen vor sich geht, und wenn man bedenkt, wie schnell Teenager sich zuweilen ihre eigene
Moral schaffen, um jede noch so grausame Tat zu rechtfertigen, behaupte ich, dass es ihnen wahrscheinlich nicht besonders schwerfallen würde.
Bonusmaterial zum Hörbuch: Der Kinderdieb
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Nachbemerkung des Autors
oder: Ein Lobgesang auf Peter Pan
Diese Überlegungen stellten den Keim für Der Kinderdieb dar.
Ich wusste, dass ich Barries Peter Pan nicht einfach nacherzählen, sondern meinen eigenen Peter und meine eigene Welt
erschaffen wollte – und mit ihr die dunklere Geschichte hinter dem Kindermärchen. Ich vertiefte mich also in ebenjene
schottischen Märchen, Mythen und Legenden, von denen sich auch James Barrie inspirieren ließ. Zu meinem Entzücken
stieß ich auf einen wahren Schatz an Volksmärchen, aus denen ich die Mythologie für Der Kinderdieb zusammenstellen
konnte. Da diese Legenden mir dabei geholfen haben, den Kurs für diesen Roman zu bestimmen und ihn zu entwickeln,
interessiert sich vielleicht der eine oder andere dafür, weshalb ich sie hier aufführe.
Ich habe festgestellt, dass diese Mythen sich je nach Quelle oder Region in Details unterscheiden, und von vielen dieser
Varianten habe ich in Der Kinderdieb ausgiebig Gebrauch gemacht. Hier seien die geläufigsten Erzählstränge und Elemente benannt, auf die ich zurückgegriffen habe:
Avalon: Avalon, walisisch »Ynys Afallach«, ist eine Insel der Anderwelt. Ursprünglich beherrschten sie Avallach und
seine Tochter Modron. Dort wurde Caliburn (Excalibur) geschmiedet, und dorthin brachte Morgan le Fay (Modron) nach
der Schlacht von Camlann König Artus, um seine Wunden zu heilen. Wie der Name Avalon (von afal oder Apfel) ist auch
der Apfel eines der bekanntesten Symbole für diese Insel und findet sein Gegenstück in den griechischen Hesperiden,
den altnordischen Äpfeln der Jugend und der judäochristlichen Frucht vom Baum des Lebens.
Avalon steht in engem Zusammenhang mit einer ähnlichen Insel der Anderwelt, Tír na nÓg, die auf Englisch Land der
ewigen Jugend oder Land der ewig Jungen heißt, weshalb ich diese beiden mythischen Inseln in gewissem Maße zusammengefasst habe. Tír na nÓg ist wahrscheinlich am bekanntesten für die Legende von Oisin, einem der wenigen Sterblichen, die dort gelebt haben, und von Niamh mit dem Goldhaar. Dort ließen sich die Tuatha Dé Danann oder Sidhe nieder, als sie die Oberwelt von Irland verließen. Tír na nÓg galt als Ort, der weit im Westen lag, jenseits aller Karten. Er
war entweder durch eine entbehrungsreiche Reise oder durch eine Einladung von einem seiner Feenbewohner zu erreichen. In den im Mittelalter beliebten Echtrae- und Immram-Geschichten wird diese Insel von verschiedenen irischen
Helden aufgesucht. In Tír na nÓg existiert weder Krankheit noch Tod. Es ist ein Ort ewiger Jugend und Schönheit.
Avallach: Der keltische Unterweltgott (auch Afallach oder Avalloc) war der Sohn des Nodens, Gott der Heilung. Er herrschte über Avalon, wo er mit seiner Tochter Modron und ihren Schwestern lebte.
Modron: In der walisischen Mythologie war Modron (die göttliche Mutter) eine Tochter Avallocs und leitete sich von der
gallischen Göttin Matrona her. Sie gilt als Urform der Dame vom See, Morgan le Fay, aus der Artussage. Sie war die Mutter Mabons, der als »Mabon ap Modron« (Mabon, Sohn der Modron) ihren Namen weiterträgt.
Mabon: In der walisischen Mythologie ist Mabon (Gottessohn) der Sohn Modrons. Er ist gleichbedeutend mit dem alten
britischen Gott Maponos und entspricht wahrscheinlich auch dem irischen Gott Aengus Mac Og. Mabon wurde seiner
Mutter drei Tage nach seiner Geburt gestohlen. Von da an lebte er in Annwn, bevor ihn Culhwch rettete. Wegen seiner
Zeit in Annwn blieb Mabon für immer ein junger Mann.
Der Gehörnte: Die Figur des Gehörnten habe ich zum Teil auf der Grundlage des Großen Gehörnten Gottes geschaffen,
einer modernen synkretistischen Gestalt, die bei den vom Wicca­kult beeinflussten Neuheiden auftaucht. In ihr sind
zahlreiche männliche Naturgötter aus verschiedensten Mythenkreisen ­zusammengefasst, wie zum Beispiel der keltische
Cernunnos, der Jäger Herne (aus englischen Legenden), der hinduistische Pashupati und der griechische Pan. Eine Reihe
von Figuren aus der britischen Folklore, die allerdings normalerweise ohne Hörner dargestellt werden, gelten ebenfalls
als verwandt, darunter Puck, Robin Goodfellow und der Grüne Mann. Für die Christen ist der Gehörnte Gott der Teufel.
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Nachbemerkung des Autors
oder: Ein Lobgesang auf Peter Pan
Weitere Einflüsse:
Der Name Tanngnost (der »Zahnknirscher« bedeutet) und der seines Bruders Tanngrisnir (was »Zahnmalmer« heißt)
stammen von den beiden Ziegenböcken, die Thors Streitwagen ziehen.
Ginny Grünzahn (oder Jenny Grünzahn) ist eine Flusshexe aus englischen Volksmärchen, die ähnlich wie die Peg Powler
Kinder und Alte unter Wasser zieht und sie ertränkt. Oft wird sie als grünhäutig und mit langem Haar und scharfen
Zähnen beschrieben.
Der Barghest, der in Nordengland große Bekanntheit genießt, ist eine Art schwarzer Geisterhund oder hundeartiger Unhold.
Der Hiisi ist ein schalkhafter Naturgeist oder Gott aus der finnischen Folklore.
In irischen und schottischen Volksmärchen sind die Sluagh ruhelose Totengeister. Einige sind der Meinung, dass sie die
Seelen der von ihnen gefangenen Unschuldigen bei sich tragen.
Bei den Örtlichkeiten in und um New York habe ich mir viele Freiheiten genommen, aber es gibt zwischen den Wolkenkratzern von Lower Manhattan tatsächlich eine alte Kirche mit einem weißen Kreuz. Sie befindet sich direkt gegenüber
des Battery Park und der Fährstation der Staten-Island-Fähre. Im Bogen an der Kirchturmspitze steht eine engelsgleiche
Statue der heiligen Elizabeth Ann Seton, die die Arme weit ausbreitet und Pilger auf Abwegen in der Heimat willkommen heißt.
Die alten Märchen dienten oft zur Warnung und nahmen ein grausiges Ende, um Jungen wie Alten eine Lehre zu sein.
Ich für meinen Teil glaube, dass alle Mythen und Legenden ursprünglich auf irgendein wahres Ereignis, eine tatsächlich
lebende Person … oder auf etwas anderes zurückgehen. Solltest du dich also plötzlich allein in einem dunklen Winkel des
Prospect Park wiederfinden – oder an einem anderen wilden, ungezähmten Ort –, sollten die Glühwürmchen plötzlich
kühner heranflitzen und ein silbriger Nebel durch die Luft wirbeln, dann spitze die Ohren, denn vielleicht hörst du in
der Ferne einen Jungen lachen. Was auch immer du dann als Nächstes tust, denk dran, dass man dich gewarnt hat.
Brom
20. Februar 2009
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