Steinzeitdiät
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Steinzeitdiät
EU.L.E.N-SPIEGEL 5-6/2005 Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E.) e.V. Der EU.L.E.n-Spiegel ist unabhängig und werbefrei. 11. Jahrgang, 20. Dezember 2005 – www.das-eule.de Steinzeitdiät Der Ruf der Wildnis Von Jutta Muth Es ist schon erstaunlich, welche Blüten die Ernährungsmode derzeit treibt. Nun findet sogar eine „Steinzeitkost” Anklang – wohl aufgrund der nostalgischen Vorstellung, früher sei alles besser und vor allem natürlicher gewesen. Die Theorie der Paläotrophologen klingt zunächst schlüssig: Das menschliche Genom hat sich seit der Steinzeit kaum verändert, weshalb wir entwicklungsbiologisch an die Lebensbedingungen von vor gut 40 000 Jahren angepasst sind. Unser Körper kommt daher (noch) nicht mit den Ernährungsgewohnheiten zurecht, die sich nach der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht vor rund 10 000 Jahren eingebürgert haben, geschweige denn mit den Errungenschaften der heutigen Lebensmittelindustrie. Die Folgen sind Übergewicht und Zivilisationskrankheiten wie Arteriosklerose, Diabetes oder Krebs. Weil aber Naturvölker, die auch heute noch als Jäger und Sammler leben, von diesen „Western diseases” verschont bleiben, kann angeblich jeder durch einen kulinarischen Trip in die Vergangenheit beschwerdefrei alt werden. Ötzi an der Ostsee Steinzeitmärchen 3 1. Unsere Vorfahren aßen fettbewusst 4 2. Unsere Vorfahren aßen meistens Steaks 7 3. Unsere Vorfahren speisten maßvoll und ausgewogen 12 4. Unsere Vorfahren litten stets Hunger 16 5. Unsere Vorfahren aßen nur unverarbeitete Naturkost 19 6. Dank frischer Kost blieben alle kerngesund 22 Facts und Artefacts & In aller Kürze 33 Süße Sündenböcke Die wichtigsten Komponenten der viel gelobten Urkost sind Fleisch und Fisch. Allerdings werden sie den Ansprüchen des Steinzeitköstlers kaum mehr gerecht, da doch Züchtung, Mästung und Veterinärmedizin zu „minderwertigem” Fleisch führen, das mit der „kerngesunden” Jagdbeute der Naturvölker nur noch wenig gemein hat. Also empfehlen die Experten zuvörderst Wild oder auch Weidevieh wie z. B. den neuseeländischen Hirsch. Dass dieser gar nicht in Neuseeland heimisch ist, sondern dort als Schädling gilt, stört dabei anscheinend genauso wenig wie der ökologisch unkorrekte Fleischtransport rund um den Globus. Kunstfleisch in Test Fisch sollte im Rahmen der Steinzeitkost dreimal wöchentlich verzehrt werden und natürlich aus Wildfängen und nicht aus Teichen oder Aquakultur stammen. Da Kochsalz verpönt ist, braucht es reichlich Seefisch, um den Salzappetit des Ernährungsbewussten zu stillen. Bloß gut, dass uns heute eine moderne Die besondere Erkenntnis 44 Impressum 32 Dick durch Disstress Sorglos in Syrien Kindstod durch Clostridien Volltreffer: Pizza ist gesund! Fetter Geschmack 2 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT EDITORIAL STEINZEITDIÄT Hochseeflotte zur Verfügung steht, um so speisen zu können, wie es sich einst der stolze Besitzer eines Einbaums in seinen kühnsten Träumen gewünscht haben mag. Das dürfte vor allem für Delikatessen wie Garnelen, Kaviar, Krabben, Muscheln und Hummer gelten, die ebenfalls eine gut geführte Urküche bereichern sollen. Tja, so waren sie nun mal, die alten Steinzeitleute: Wenn Ötzi die Tiroler Alpen verließ, um an der Ostsee Badeurlaub zu machen, bestellte er flugs beim Drei-Faustkeile-Koch einen Krabbencocktail an Seezungenröllchen... Im Windschatten der Globalisierung Beim Obst haben sich die Nostalgiker in eine böse Zwickmühle manövriert: Einerseits ist Importware wegen der Kultivierung auf ausgelaugten Böden und der Ernte in unreifem Zustand vitaminarm und deshalb eines Paläoköstlers unwürdig. Andererseits hat sein Körper wegen der aktuellen Belastung durch Stress und Umweltgifte angeblich einen hohen Vitaminbedarf. Deshalb achtet er gerade im Winter darauf, genügend reifes, frisches Obst zu verzehren. Fazit: Importware nein, erntefrisches Obst im Winter ja. Nicht auszudenken, wo ein Steinzeitfan ohne Globalisierung und gut sortierte Supermärkte bliebe. Was machte der Neandertaler, wenn er nicht gerade Mammuts jagte oder Südfrüchte importierte? Klar doch: Er ging in den Wald und sammelte Pilze. Und so kommt es, dass Pilzgerichte mindestens einmal pro Woche auf dem Speisezettel des Steinzeitköstlers stehen und ihm wohl deshalb als „wichtige Mineralstoffquelle” dienen, weil sie allerlei Schwermetalle und radioaktive Elemente enthalten. Die moderne Steinzeiternährung könnte also wie folgt aussehen: Der Mann begibt sich auf die Jagd (nach Geld), um die Familie mit Hirschragout und Langustenschwänzen zu versorgen, während seine Holde mit den Kindern auf der Suche nach Preiselbeeren, Pfifferlingen und Bärlauch durchs Unterholz streift. Naturnahrung ohne Ende Viele tatsächlich wichtige Bestandteile des Speiseplans von Steinzeit- und Naturvölkern fehlen in den vorliegenden Empfehlungen völlig: Maden, Spinnen, Würmer, Heuschrecken, Schlangen, Schnecken, Eidechsen, Mäuse und Ratten. Schließlich essen die meisten Naturvölker alles, was ihnen in die Finger kommt – und das nicht mit Überwindung, sondern mit Genuss. Den Gesundköstlern böten sich also ungeahnte Jagdgründe im heimischen Revier, zum Beispiel Silberfischchen im Bad, Spinnen im Schlafzimmer, Fliegen in der Küche, Mäuse im Keller oder Ratten im Kanal. Es mangelt folglich auch ohne Steinzeit-Fertigpizza nicht an kerngesunden Wildfängen für den verwöhnten Gaumen, der sich nach dem Geschmack der Wildnis sehnt. Zu Zubereitung und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Internet-Neandertaler! EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT THEORIEN 3 STEINZEITDIÄT Steinzeitmärchen Von Udo Pollmer Die Fachwelt liebt das Spiel – aber weniger das unbefangene Entdecken der Kinder als das Glücksspiel der Zocker. Ihre Ratschläge gleichen einem Roulette, bei dem die Kugel erratisch von Theorie zu Theorie kullert. Diesmal blieb sie bei der frischen, unverfälschten Kost der Wildnis hängen: der Steinzeitdiät. Sie schenkt uns den vor Vitalität strotzenden Körper eines Winnetous, die Schönheit einer Südseeinsulanerin aus Gauguins Malkasten und die Weisheit eines alten Schamanen aus dem Esoterikratgeber. Und schon füllen sich die Fachjournale der Ernährungsszene mit Daten, Nährwerten und biochemischen Details aus der Speisekammer von Familie Feuerstein. Wen stört es da, wenn jene Fachdisziplinen, die sich seit jeher um die Urgeschichte der Menschheit bemühen, allenfalls vorsichtige Hypothesen zur Diskussion stellen? Hauptsache, die Ernährungsexperten wissen Bescheid. Sie kennen die Kochrezepte und Tischsitten prähistorischer Jäger-und-SammlerKulturen genauso gut wie das Mindesthaltbarkeitsdatum ihres Magerquarks. Die führenden Protagonisten Loren Cordain (Sportwissenschaftler an der Colorado State University) und James O’Keefe (Kardiologe am Mid America Heart Institute in Kansas) sind sich sicher: „Die typische Steinzeitkost enthielt im Vergleich zu der des Durchschnittsamerikaners 2- bis 3-mal so viele Ballaststoffe, 1,5- bis 2,0-mal mehr mehrfach- und einfach ungesättigte Fette, 4- mal so viele ω-3-Fette, aber 60 bis 70 Prozent weniger gesättigtes Fett. Die Eiweißzufuhr lag 2- bis 3-mal so hoch, die Kaliumzufuhr 3- bis 4-mal höher, während die Natriumaufnahme 4- bis 5-mal niedriger lag.”107 Klare Daten aus berufenem Munde über einen lumpigen Zeitraum von zigtausend Jahren und über die Ernährung von Völkern rund um den Globus, deren Lebensweise mal von der Arktis, mal von den Tropen, mal von den Steppen und mal vom Meer geprägt war. Einer der ersten, der diese Ernährungsform propagierte, war Boyd Eaton vom Institut für Radiologie der Emory University in Atlanta. 1985 schloss er anhand von sechs heutigen „Steinzeit”-Völkern, dass deren Nahrungsenergie zu 65 Prozent aus pflanzlicher Nahrung stammen musste. Allerdings hatte er darauf verzichtet zu erheben, was die Menschen tatsächlich aßen und legte einfach 65 Prozent pflanzliche Nahrung als „vernünftigen” Ausgangswert zugrunde. So gerüstet errechnete er sich dann den passenden Speiseplan. Zum Beispiel einen Anteil an tierischen Lebensmitteln von 35 Prozent, wodurch die tägliche Fleischportion des Mammutjägers stolze 788,2 Gramm betrug. Beim Natrium drang Eaton rechnerisch sogar bis in den Mikrogrammbereich vor38 – auch wenn bis heute niemand weiß, wie die Menschheit einst ihren Appetit auf Salz befriedigte. Das Ergebnis war zumindest politisch korrekt: Es entsprach den Empfehlungen der Ärzte und hatte auf diese Weise schnell den Status „gesicherten Wissens”. Damit war die Steinzeiternährung geboren und Eaton ihr führender Prophet. Stimmen zur Steinzeitdiät „Die weitaus längste Zeit haben wir uns vegetarisch ernährt, und das hat unsere Physiologie und Anatomie natürlich geprägt. Die sichere Basis der Ernährung des Menschen war pflanzlich.” Claus Leitzmann Mitbegründer der Vollwert-Ernährung (Eckardt F: Ernährung heute. WDR 5 Feature Serie vom 13.2.2005) „Die Menschen haben immer versucht, so viel Fleisch wie möglich zu erlangen und so viel Pflanzen wie nötig. Wenn kein Fleisch verfügbar war, hat man sich eben mit pflanzlicher Kost begnügt. Aber dominiert hat die Fleischeslust, sozusagen.” Nicolai Worm Autor von „Logi Methode - Glücklich und schlank” (Eckardt F: Ernährung heute. WDR 5 Feature Serie vom 13.2.2005) „Die Nahrung in der Altsteinzeit war ... proteinreich und relativ kohlenhydratarm.” “Der ... von der DGE propagierte hohe Konsum an Obst und Gemüse steht ebenfalls im Einklang mit der Ernährungsweise in prähistorischer Zeit.” „Zunehmend wird ... deutlich, dass eine Kost, die sich an die prähistorische Ernährungsweise anlehnt, günstige Wirkungen auf das kardiovaskuläre Risikoprofil hat.” Armin Zittermann Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen (Ernährungsumschau 2003/50/S.420-425) 4 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ERSTE THEORIE STEINZEITDIÄT Erstes Steinzeitmärchen: Unsere Vorfahren aßen fettbewusst Eatons wichtigstes Anliegen war das Fett: Er lobte die Steinzeitmenschen für ihre Einsicht, nur magerste Fleischteile zu verzehren. Die fetthaltigen Innereien, die Markknochen und den Speck ließen sie aus seiner ärztlichen Sicht links liegen. Offenbar hielt sich der Mammutjäger schon damals in vorauseilendem Gehorsam an die Empfehlungen der US-Fachgesellschaften für Kardiologie. Da Eaton den Fettgehalt des Wildes mit 3,9 Prozent bezifferte, war ein blutiges Steinzeitsteak natürlich viel gesünder als ein paniertes Schnitzel aus der überzüchteten Massentierhaltung oder eine Wurst voll versteckter Fette.38 So gut Eatons Theorie in der Ernährungsszene auch ankam, mit der Realität hatte sie kaum etwas zu tun. Beweis dafür sind die vormaligen Bewohner der nördlicheren Küsten, die in der Steinzeit nicht nur Robben, sondern sogar Barten- und Pottwale erlegten. „Die Gerippe dieser Tiere”, schreibt Eberhard Schmauderer, der die Frühgeschichte des Fettkonsums erforschte, „fand man ... in großen Abfallhaufen, die sie neben ihren Siedlungen anlegten.” Überreste von Walen und Robben sowie zahlreiche Felszeichnungen dieser Tiere übersäen die Küsten Nordeuropas in ihrem damaligen Verlauf, denn der Meeresspiegel lag seinerzeit deutlich höher als heute. Ebenso häufig sind Funde von Harpunen, zugeschliffenen Hacken zum Ablösen des Specks sowie zum Öffnen der Schädeldecken von Meeressäugern. Daneben fingen die Nordvölker reichlich Fische, Ratten und fettreichere Vogelarten wie Riesenalk oder Eiderente.128 Auch weiter südlich schätzte die Menschheit das Fett. Schmauderer: „Die frühen Jäger legten offensichtlich auf fette Beutetiere und deren fette Teile großen Wert. In den Knochenlagern ... des Solutreen, wie sie beispielsweise im ... Rhonetal entdeckt wurden, fand man die Reste des erlegten Wildes. Besonders häufig waren Höhlenbären, Mammut, Elch, Hirsch, Bison oder Wisent, Auerochse, Steinbock und Wildpferd unter der Beute, also durchweg Tiere mit einem größeren Anteil an Fettgewebe. Bezeichnenderweise sind die Röhrenknochen durchweg aufgeschlagen und vom Feuer angebrannt. Das bis zu 90 % Fett enthaltende Mark hatte man über dem Feuer herausgeschmolzen.” Nicht weniger begierig aß man damals fetthaltige Nüsse, insbesondere Wal- und Haselnüsse, wie enorme Lager an entdeckten Schalen belegen.128 Zu Gast bei Naturvölkern Da unsere fernen Vorfahren keine Menüpläne hinterließen, weiß niemand genau, wie viel Fett sie damals wirklich verzehrten. Deshalb ist es sinnvoll, die steinzeitlichen Funde mit den Kostformen so genannter Naturvölker zu vergleichen. Tatsächlich aßen und essen die meisten „Wilden” lieber die fetten Tierarten und davon mit Begeisterung die fettesten Teile: die Fettreserven unter der Haut, das Depotfett der Innereien und das Knochenfett.41 Damit ist der Hunger nach Fett eine kulturelle Konstante der Menschheit, während der Ekel davor eine historisch völlig neue und erlernte Abneigung darstellt, ähnlich der Abneigung gegenüber den meisten Insekten als Nahrungslieferanten. Die moderne Fettphobie von Amerikanern und Deutschen wird nicht zuletzt an der Umzüchtung des Hausschweins zum modernen Magerfleischlieferanten in den 60er Jahren deutlich. Bis dahin verdankte das Tier seine Beliebtheit bei praktisch allen Jäger-undSammler-Völkern, die es kannten, der kernigen Speckschicht. Doch wie sah die Ernährung der so genannten Naturvölker im einzelnen aus? Hier einige charakteristische Beispiele aus unterschiedlichen Erdteilen: z Am Polarkreis war und ist Nahrungsfett lebensnotwendig, denn es liefert die erforderliche Zusatzenergie zum Wärmen des Körpers. Da in polaren Regionen alle Lebewesen mit Fettschichten isoliert sind, stand es den Menschen seit jeher in Form von Meeressäugern, Fischen und Landtieren wie Bären zur Verfügung. Im ewigen Eis lieferte allein das Fett bis zu 80 Prozent der Kalorien.140 Der berühmte Eskimoforscher Vilhjalmur Stefansson, der viele Jahre bei den nördlichen Indianervölkern zugebracht hatte, berichtete, dass Populationen, die Karibus jagten, „das Fleisch der älteren Tiere dem von Kälbern ... vorzogen”, weil diese eine dickere Fettschicht trugen.140 Besonders mochten die Indianer das „köstliche Fett hinter den Augen”.56 Sie gewannen aber sämtliches Fett – egal ob unter dem Fell, in Innereien oder Knochen – und bewahrten es auf, um es später mit getrocknetem Fleisch zu „Pemmikan” zu mischen. Auch Kurt Hintze von der Universität Leipzig bemerkt 1934 in seinem Standardwerk Geographie und Geschichte der Ernährung über die Polarvölker: „Das Verlangen nach Fett ist ein sehr starkes.” Laut EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ERSTE THEORIE Hintze stellte sich auch bei den Europäern „trotz sonstiger Nahrung ein Fetthunger ein, der schlimmer war als der durch langes Fasten erzeugte”. Über die Jakuten in Sibirien lesen wir bei ihm: „Fett wurde bei ihnen besonders geschätzt. Das von Pferden und Rindern aßen sie ohne weitere Zutaten meistens roh, ebenso geschmolzene Butter ... Einem weinenden Säugling gaben sie ein Stück rohes Rinderfett, um ihn zu beruhigen.”56 In Nordamerika herrschte eine ähnliche Situation. Die Lachszone im Norden hielt für die Menschen fetten Fisch bereit, der ihnen nicht nur als Alltagsspeise diente, sondern auch zur Gewinnung von Öl, in das „so ziemlich alle Nahrung bei ihren Mahlzeiten eingetaucht wurde”. Um an das begehrte Öl zu gelangen, nutzten die Fischer ein aufwändiges Verfahren: „Die Fische ließ man meist vorher etwas anfaulen, tat sie in hölzerne Gefäße mit Wasser und warf dann heiße Steine hinein; das nach oben steigende Öl wurde abgeschöpft.”56 z Auch weiter südlich ernteten die Indianer nach der Jagd das Fett und ließen das schiere Fleisch von Bären, Bisons oder Karibus oft genug verwesen.49,71,118,135 Analysen von Knochenmaterial von Schlachtplätzen aus Nordamerika bestätigen, dass schon ihre Vorfahren gezielt fettes Wild gejagt hatten. Denn Knochen erlauben nicht nur die Feststellung der erlegten Tierart, sondern auch des Alters und Geschlechts und damit einen Rückschluss auf den Fettgehalt.146 Als Alexander von Humboldt zwischen 1799 und 1804 Südamerika bereiste, staunte er über die ungeheuren Schwärme fetter Enten, die vom Orinoko zum Äquator zogen und von den Indios am Rio Negro gejagt wurden. Wenn sie zurückflogen, interessierte sich niemand mehr für das Federvieh, da es im Sommerquartier abgemagert war – und das, obwohl sich damit die Fleischvorräte mühelos hätten aufstocken lassen.154 Statt magerem Entenbraten aßen die Indios dann lieber „eine Art weißen, schwarz gefleckten Teigs”. Es handelte sich um „Vachacos, große Ameisen, deren Hinterteil einem Fettnapf gleicht. Sie waren am Feuer getrocknet worden und vom Rauch geschwärzt. Wir sahen mehrere Säcke voll über dem Feuer hängen.” Das Fett wurde mit Maniokmehl verknetet und als Ameisenpaste gegessen. Die Gastgeber erklärten von Humboldt, der Boden bringe wenig Frucht, aber es sei „gutes Ameisenland, man habe gut zu leben”.154 z Die Indianer Südamerikas jagen ebenfalls Tiere entsprechend ihrem Fettgehalt.95,100 Augenzeugen 5 STEINZEITDIÄT berichten, dass die Parakana bis zum Erbrechen Tapirfett in sich hineinschlangen. War dieses nicht verfügbar, so genossen sie die auch anderswo beliebten Palmmaden mit einem Fettgehalt von bis zu 69 Prozent (i.Tr.).95 Am Amazonas lieferten Schildkröteneier die begehrte Extraportion Fett: Die Eier wurden zerschlagen, Wasser darauf gegossen und der Sonne ausgesetzt. Das nach oben steigende Fett schöpfte man ab und klärte es durch Kochen. Die Missionare, schreibt von Humboldt, schätzten das Öl „dem besten Olivenöl gleich”.154 Auf den Andamanen galt die Schildkröte ob ihres Fettgehalts als heiliges Genussmittel.2 z Aus Afrika berichtet der berühmte Forscher David Livingstone (1813-1873) über die Makololo (Sambesigebiet), die sich vorwiegend von Tieren nährten, dass sie stets zuerst das Fett aßen.108 Er selbst erhielt als Wegzehrung „Unmassen von Fett und Butter”, die dort „zu den willkommensten Geschenken gehören”.108 Georg Schweinfurth, auch als Nestor der deutschen Afrikaforschung bekannt, beobachtete auf seinen Reisen (1868-1871), dass die Mombuttu (Mangbattu) alle Speisen mit dem Öl der Ölpalme versetzten und von den Ölen aus Erdnüssen, Sesam und den Samen des Bongos(s)ibaums (Lophira alata) reichliche Fettvorräte Delikate Gourmets Die Kannibalen begründeten ihre Vorliebe für Menschenfleisch ebenfalls mit dessen hohem Fettgehalt. Der Homo sapiens schmecke „so wie das Schwein der Weißen”, formulierten es beispielsweise Angehörige der Aché in Südamerika.27 Das ist sehr eindeutig, zumal sich das domestizierte Mastschwein in erster Linie durch seinen Fettanteil vom jagbaren Wild unterscheidet. Auf Neuguinea hieß ein erlegter Mensch seit der Ankunft wohlgenährter Europäer nicht umsonst „Langschwein”. Vorher war es noch etwas poetischer zugegangen: Man tafelte, um „eine Blume zu essen”.125 Sogar dort, wo der Hunger nach Fleisch im Vordergrund zu stehen schien, waren es doch überwiegend die fetthaltigen „Teilstücke”, die sich besonderer Wertschätzung erfreuten. Bei Hintze ist zu lesen: „Detzmer, der während des [1.] Weltkrieges mehrere Jahre im Innern Neuguineas unter den Papuas lebte, führt den Kannibalismus, der überall verbreitet war, nicht zum wenigsten auf das Verlangen nach Fleisch zurück; am gierigsten darauf waren die Frauen. ... Als beste Stücke galten die Seiten, die Finger, das Gehirn und die Brüste der Frauen.”56 6 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ERSTE THEORIE hatten. „Sogar aus den fetten Leibern der männlichen Termiten wird ein nicht übel schmeckendes Fett gesotten. Ganz allgemein im Gebrauch ist Menschenfett. Der Kannibalismus der Mangbattu übertrifft den aller bekannten Völker in Afrika.” Auch die Niamniam verwerten „am häufigsten das Fett von Menschen... Dem Genuß ansehnlicher Mengen schreiben sie allgemein eine berauschende Wirkung zu.”129 z Selbst die Ureinwohner Australiens schätzten nicht das Fleisch, sondern das Depot- und Organfett am höchsten.106 Als größte Leckerei galten trächtige Dugongweibchen sowie Schildkröten, bei denen die Weibchen aufgrund des hohen Fettgehalts und der dottertragenden Eierstöcke gefragter waren als Männchen.12,62 Die Menschen gierten so sehr nach Fett, dass sie an der Küste Freudenfeuer entzündeten und große Feste feierten, wenn Wale gestrandet waren. Man könne sich, schrieb ein Augenzeuge, ihre Begeisterung nur so vorstellen wie die einer „Maus, die vor einem riesigen Kuchen sitzt”. Tagelang arbeiteten sie sich durch die Fettschicht bis zum Fleisch vor. Niemals Ungesättigte Spekulationen Die These von Eaton, dass das Verhältnis der konsumierten Fettsäuren früher viel gesünder gewesen sei als heute, ist nach wie vor populär. Fred Feuerstein tat sich demnach an 30 Prozent mehrfach ungesättigten Fettsäuren sowie 32 Prozent einfach ungesättigten gütlich38 – offenbar hatte er die Empfehlungen amerikanischer Fachgesellschaften vorausgeahnt. Verwundert es da noch, wenn Eatons Angaben gerade mal für das Unterhautfettgewebe von Eichhörnchen zutreffen, aber sonst für kaum ein jagbares Tier?41 Der Paläoexperte behauptet außerdem, die gesunden Fette hätten es den Steinzeitmenschen erlaubt, den würzigen Duft der Wildnis regelrecht zu schmecken. So verdankte das Mammut sein vollmundiges Aroma angeblich den vielen ω-3-Fettsäuren sowie „den aromatischen Ölen jener pflanzlichen Nahrung, die die Pflanzenfresser konsumierten”.107 Doch die Wirklichkeit sieht weniger romantisch aus, denn das bei der Jagd von Tieren ausgeschüttete Stresshormon Cortisol sorgt für einen eher strengen Wildgeschmack. Dazu kommt bei entsprechend langem Abhängen der Hautgout, ein Zersetzungsgeschmack, der vom Eiweißabbau herrührt und mehr mit Verwesung zu tun hat als mit frischen Wiesenkräutern. STEINZEITDIÄT würden Aborigines Verwesendes anrühren, heißt es, aber im Falle eines Wales machten sie eine Ausnahme.120 Im Landesinneren herrschte ein akuter Mangel an Fett, zumal richtig fettes Wild wie Emus, australische Trappen und Pythonschlangen nur selten anzutreffen war.120 Größeres Jagdglück versprach der Goanna. Bei der Zubereitung des Warans wurde darauf geachtet, das Fleisch nicht zu lange zu garen, damit das wertvolle Fett nicht austrat.12,62 Die „spezifische Magerkeit des australischen Großwildes”, urteilt Helmut Reim vom Museum für Völkerkunde zu Leipzig, war „auch nicht durch die klügste Ausnutzung und Auswahl der verfügbaren Nahrungstiere, wie etwa der Verwertung der in den Innereien sitzenden Fette, der zielstrebigen Erbeutung von Jungvögeln und Nestlingen, Dingowelpen u. a.” zu meistern. Deshalb verlegten sich die Australier auf fette Insektenlarven wie die „Witchetty grubs”.106,120 Daneben galt bei ihnen „menschliches Fett, insbesondere das Nierenfett, als von einer mächtigen zauberkräftigen Wirkung”.59 Da sich in der Literatur nirgends ein Hinweis findet, wonach die Naturvölker magere Fleischkost bevorzugt hätten, war der Unsinn, den Eaton in der medizinischen Fachpresse verbreitete, auf Dauer nicht zu halten. Hier kam Loren Cordain ins Spiel: Er gestand schließlich jedem zweiten Steinzeitmenschen (die andere Hälfte aß angeblich immer noch mager) eine zehnfach höhere Fettversorgung zu als Eaton, nämlich meist 36-43 Prozent der Gesamtenergie.30 Mittlerweile teilt Eaton diese Auffassung. Cordain und Eaton begründen ihre neuen Zahlen in einer gemeinsamen Publikation damit, Eaton habe bei seiner ersten Berechnung doch glatt vergessen, den Fischfang in sein Modell zu integrieren.30 Peinlich nur, dass Fische im Schnitt nicht unbedingt fetter sind als Wild. Wie es der Zufall so will, entsprechen die Zahlen nun aber exakt dem Fettkonsum der Amerikaner im 20. Jahrhundert. Viele Hasen sind des Jägers Tod Der einseitige Verzehr von magerem Fleisch, wie ihn Eaton und Kollegen propagieren, ist lebensgefährlich, denn er führt zur so genannten Kaninchenauszehrung („rabbit starvation”). Die Krankheit verdankt ihren Namen einem Phänomen, das viele Forschungsreisende am eigenen Leibe erfahren haben und nicht wenige mit dem Leben bezahlen mussten. Den Wechsel von normaler Kost zu einer Diät, die ausschließlich aus Kaninchenfleisch besteht, beschreibt der Anthropologe Marvin Harris so: „Man ißt in den ersten Tagen EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ZWEITE THEORIE immer größere Portionen, bis man nach etwa einer Woche drei- oder viermal soviele Pfunde Fleisch verzehrt wie zu Anfang der Woche. Um diese Zeit treten dann auch sowohl Hungersymptome wie Anzeichen von Proteinvergiftung auf. Man ißt unzählige Male; jedes Mal fühlt man sich danach noch hungrig; ... Nach sieben bis zehn Tagen setzt Durchfall ein, von dem einen nur noch der Genuß von Fett befreien kann.”49 Laut Nicolette Teufel von der University of Arizona belegen völkerkundliche Berichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert, dass indianische Jäger eine Ernährung mit magerem Fleisch vermieden. „Bekannt ist, dass indianische wie auch nicht-indianische Jäger als Folge einer fettfreien Ernährung über Symptome wie Delirium, Durchfall, Schwäche und Tod berichteten.”146 Die genaue Ursache ist bis heute unbekannt. Angefangen vom „Vitaminmangel” und einer „Übersäuerung” bis hin zur Überfrachtung des Blutes mit Abbauprodukten des Eiweißstoffwechsels gibt es viele Theorien, aber kaum Beweise. Keine der Theorien erklärt, warum nur Fett heilend wirkt. Es mangelt nicht an Berichten über hungernde Menschen, die im Frühjahr, wenn das Wild abgemagert war, dieses zwar erfolgreich jagten, aber aufgrund seiner Fettarmut nicht aßen.135 Dazu Hintze: „Wenn 7 STEINZEITDIÄT die Küsteneskimos in die Kaninchengründe nach Süden ziehen, nehmen sie stets Schläuche voll Robbentran mit sich. Mit dieser Beilage sind sie imstande, monatelang von Kaninchenfleisch zu leben ... Magerfleisch kommt auf die Dauer dem Verhungern gleich. Die kanadischen Indianer, denen kein Tier zur Verfügung steht, das so fett wie der Seehund ist, heben etwas Renntierfett von den Herbstjagden auf ... als Zugabe zum Kaninchenfleisch; sie haben also dieselbe Erfahrung gemacht.”56 Dass die Kaninchenauszehrung keineswegs auf Nordamerika oder Kaninchen beschränkt war, bestätigte Hans Murschhauser 1927 im Fachblatt Die Volksernährung anhand eines Berichts über eine Expedition in das Landesinnere von Australien, „deren Teilnehmer über einen Überschuß von Fleisch durch Erlegen von Vögeln verfügten, aber trotz Aufnahme großer Quantitäten desselben unter Abmagerung zugrunde gegangen sind”.102 Demnach ist es egal, ob Kaninchen, Federvieh oder Steaks verzehrt werden: Zu viel mageres (!) Fleisch kann schon nach kurzer Zeit in eine tödliche Abmagerungskur münden.105 Und dennoch wurde diese lebensgefährliche Ernährungsform bereits als Diät empfohlen – von einem Arzt namens Maxwell Stillman.49 Zweites Steinzeitmärchen: Unsere Vorfahren aßen meistens Steaks Während Eaton die Steinzeit noch als vegetabile Phase der Menschheit ansah, erklärte sie Cordain zur Fleischzeit. Dazu drehte er Eatons Postulat vom Verhältnis von 35 Prozent tierischer zu 65 Prozent Pflanzenkost einfach um. Anhand einer Analyse von „13 bekannten quantitativen Ernährungsstudien von JägerSammler-Völkern” schloss er, „daß tierische Lebensmittel tatsächlich die Hauptenergiequelle (65 Prozent) darstellten, während die gesammelten pflanzlichen Lebensmittel den Rest ausmachten (35 Prozent)”. Außerdem beruft sich Cordain auf die Auswertungen ethnographischer Daten von 229 Sammler-JägerGesellschaften sowie die Isotopenanalysen prähistorischer Knochen.29,30 Eine Überprüfung seiner Theorie anhand der ethnologischen Literatur ergibt jedoch ein völlig anderes Bild. So herrscht beispielsweise über die Kostzusammensetzung der Aborigines in Australien hinreichend Klarheit. Dort bringen es manche Gruppen von Ureinwoh- nern in ihrem Ökosystem manchmal nur auf 20 Prozent tierische Lebensmittel, während sich andere zu 90 Prozent von Wild ernähren.62,104 Für Cordain und Eaton sind derlei Unterschiede unerheblich: Sie verordnen den Aborigines präzise 77 Prozent tierische Speisen.30 Die Ernährung der Aché am Amazonas richtete sich ebenfalls nicht nach den Zahlen von Cordain. Friedrich Christian Mayntzhusen, der das Naturvolk zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner traditionellen Lebensweise kennengelernt hatte, stellte damals fest, dass „die vegetarische Nahrung, die Erzeugnisse der Pindopalme, zusammen mit dem Honig und dem Fett der Larven, die Nahrung an Wildbret überwog”.11 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte der Steinzeitkost-Verfechter Craig Stanford von der University of Southern California. Er gibt den Anteil der Jagdbeute an der kalorischen Versorgung mit 44 Prozent an. Die Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers beziffert den Fleischanteil mit 78 Prozent allerdings weitaus höher, 8 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ZWEITE THEORIE der Rest soll sich aus wildem Honig, Insekten, Palmstärke und Früchten zusammengesetzt haben.55 Eaton und Cordain wählten für ihre Darstellung die letztgenannten Daten und frisierten sie: Sie übernahmen die 78 Prozent tierische Nahrung und erklärten alles andere zu Planzenkost.30,54 Mit Bedacht wählte Cordain seine Isotopenanalysen aus. Um einen hohen Verzehr tierischer Lebensmittel zu belegen, verweist er auf einen geeigneten Fund: Eine Höhle voll abgenagter Überreste von Wollnashörnern, Riesenhirschen und Höhlenbären. In der Tat passen auch die Isotopenbefunde dreier menschlicher Skelette dazu.30,121 Doch erlaubt dieser Einzelfall bereits einen Rückschluss auf die Durchschnittskost der Steinzeit? Umso mehr, als auch Ergebnisse vorliegen, welche die Glaubwürdigkeit der Isotopenmethode in Frage stellen (siehe „Knochendeuter und Haarspalter” auf Seite 9). So weist der „Ötzi”, der in Leder und Fell gekleidet war und Jagdwaffen bei sich trug110, die typischen Isotopenverhältnisse eines modernen und strikten Veganers auf86. Ein Ergebnis, das schon allein deshalb falsch sein muss, weil diese Art der Ernährung eigentlich nur dort praktikabel ist, wo ganzjährig eine grüne Vegetation vorherrscht, aber nie und nimmer im Alpenraum, der aufgrund anderer Analysen als Heimat des Steinzeitmannes betrachtet wird. Bei aller Liebe zum Detail haben es sowohl Eaton als auch Cordain unterlassen, das äußerst nahrhafte und weitverbreitete Grundnahrungsmittel „Insekten & Spinnen” in ihr Modell zu integrieren. Immerhin entfalten viele Völker auf der Erde großen Sammeleifer, um des Kleinviehs habhaft zu werden.94 Bei den Pygmäen beispielsweise stellt nach Angaben des Verhaltensforschers Armin Heymer „die Insektenkost einen beträchtlichen Anteil der ‚animalischen’ Nahrung, insbesondere die Raupen werden in vollen Körben nach Hause geschleppt. Den Termiten werden die Flügel ausgerissen, wenn man sie lebend verzehrt.” Beliebter jedoch sind sie geröstet: „Dann stopft man sich den Mund damit voll, bis das Fett die Mundwinkel herabläuft.”53 Insekten standen sogar schon vor der Steinzeit auf dem Speiseplan der Menschheit: Unlängst entpuppten sich vermeintliche „Grabstöcke”, die zusammen mit Knochen von Australopithecinen gefunden wurden, anhand ihrer Kratz- und Schleifspuren als Gerätschaften zur Termitenernte.9 Bis dato war die Fachwelt überzeugt, sie seien zum Ausbuddeln von pflanzlichen Knollen benutzt worden. STEINZEITDIÄT Der Schwindel mit dem Durchschnitt Die Idee der Steinzeitdiät muss zwangsläufig an den unterschiedlichen Bedingungen auf unserem Planeten scheitern. Denn je nachdem, in welchem Ökosystem die Völker siedelten, wechselten sich überwiegend pflanzlich ernährte Populationen mit solchen ab, die fast nur Tierisches aßen. Nicht der Hang zum Vegetarismus oder zum Schnitzel bestimmte den Speisezettel der Menschen, sondern vor allem Verfügbarkeit und Verdaulichkeit. Rund um den Globus wird, um den geistigen Vater der evidenzbasierten Ernährungsmedizin Werner Glatzel zu zitieren, alles gegessen, was die Menschen nicht umbringt. Wer durch die Steppen zieht, lebt vom Blut, der Milch und dem Fleisch seiner Herden. Sind die Landschaften für eine Beweidung zu karg, stehen Eidechsen, Maden, Schnecken, Käfer, Schlangen und sogar Mücken auf dem Speiseplan. In Waldregionen werden vermehrt Früchte, Insekten und sogar die inneren Schichten der Fichtenrinde gegessen, in Meeresgebieten sind Wattbewohner, Fische und Meeressäuger gefragt. Demnach existierten also sehr wohl Populationen, die sich vorzugsweise von Wild ernährten. Aber es handelte sich dabei – im Gegensatz zu den Theorien der Steinzeitköstler – bloß um eine von vielen Ernährungsformen. Was die Völker wirklich aßen, wissen wir trotz zahlreicher Berichte nicht genau, weil uns oft die nötigen Hinweise auf die Speisenzubereitung fehlen. So ist vielfach unbekannt, welche Teile verwendet und ob sie fermentiert, geräuchert oder gebacken wurden, ob sie die tägliche Kost bereicherten oder erst nach langer Lagerung als Notnahrung dienten. Andererseits führen oft schon viel einfachere Gründe zu weitreichenden Fehleinschätzungen. Manche Forscher berichteten beispielsweise, die Tschuktschen in Sibirien seien reine Fleischesser, während andere behaupteten, kein anderes Volk der Erde würde so viel Gemüse verzehren. Der Unterschied kam dadurch zustande, dass die einen im Winter und die anderen im Sommer bei den Tschuktschen zu Gast waren.56 Allen Ungereimtheiten zum Trotz steht zumindest eines fest: Da Ernährungsweisen nicht konstant sind, können sie auch nicht als Konstanten in Modelle integriert werden. Verlässt den Jäger das Jagdglück, steht Sammlerkost auf dem Speiseplan – und umgekehrt. Das war damals nicht anders als heute: Als Japan nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, seine hungernde Bevölkerung durch Walfang zu ernähren, bekamen die Menschen dort, wo Wale verarbeitet wurden, EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ZWEITE THEORIE 9 STEINZEITDIÄT Knochendeuter und Haarspalter Wie schwierig es selbst mit „seriöser” Analytik ist, korrekte Aussagen zum Speiseplan unserer Vorfahren zu treffen, zeigt die Bestimmung der Kohlenstoffisotope 13C und 14C in menschlichen Skeletten. Das Prinzip der Methode beruht darauf, dass die beiden Isotope von Pflanzen in unterschiedlicher Menge ins Gewebe eingebaut werden – und zwar je nachdem, ob die Photosynthese der jeweiligen Pflanze dem Calvinzyklus (C3-Pflanzen) oder dem Hatch-Slack-Zyklus (C4-Pflanzen) folgt. Pflanzenfresser wiederum bauen die verschiedenen Isotope in ihren Organismus ein, weshalb das im Knochen gemessene Kohlenstoffverhältnis Aufschluss über die ehemals verzehrten Gewächse geben soll. C3-Pflanzen sind für gemäßigte Klimate typisch, C4-Pflanzen wie Mais, Zuckerrohr und Hirse überwiegen in tropischen Regionen. Allerdings streuen die Werte der einzelnen Pflanzen und zu allem Überfluss gibt es auch noch solche, die zwischen den beiden Stoffwechselwegen wechseln können. Himmlische Ereignisse, irdische Unwägbarkeiten Dazu kommen die Tücken des Ökosystems: Die Isotopenverteilung des Kohlenstoffs ist beispielsweise im Regenwald eine andere als in der Steppe, sodass ohne Kenntnis der Vegetation eine Zuordnung zu C3und C4-Pflanzen beinahe unmöglich wird. Die gleiche Unsicherheit bergen Nahrungsmittel aus dem Meer, denn das Kohlendioxid im Salzwasser weist ein anderes Isotopenmuster auf als das Kohlendioxid der Luft. Hier hängen die Verhältnisse zudem davon ab, in welcher Tiefe sich die Lebewesen ernähren. Bei gleichzeitigem Verzehr von Meerespflanzen, Fischen oder Meeressäugern gehen die Schlussfolgerungen zwangsläufig ins Leere.98,130 Ohnehin setzt die Kohlenstoffmethode voraus, dass die langjährige Lagerung im Erdreich keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des analysierten Knochens hatte und die Isotopen auf der Erde früher genauso verteilt waren wie heute. Das eine ist jedoch so unwahrscheinlich wie das andere. Denn Kohlenstoffisotope entstehen durch kosmische Strahlung, die mit unterschiedlicher Intensität strahlt. Ein hochenergetischer kosmischer Gammablitz in einer Entfernung von 3000 Lichtjahren kann beispielsweise innerhalb weniger Sekunden genauso viel 14C erzeugen wie 1000 Jahre „normale” kosmische Strahlung.151 Hinzu kommt, dass Faktoren wie das Erdmagnetfeld, der Sonnenwind, ja sogar die Aktivitäten des Planktons die Bildung und Verteilung von 14C beeinflussen. 21,103,144 Doch ob himmlische Ereignisse oder irdische Unwägbarkeiten: Sie alle nähren Zweifel an der korrekten Interpretation von Knochenanalysen. Obst oder Brathähnchen? Selbst wenn ein paar Knochen die gesamte Menschheit repräsentieren würden, das Weltall frei von Gammablitzen wäre und es weder Regenwälder noch Meere gäbe: Die Isotopenbestimmung würde trotzdem keine Rückschlüsse auf das Verhältnis von ehemals konsumierter tierischer zu pflanzlicher Kost erlauben. Denn der Verzehr von Weidetieren hinterlässt ähnliche Isotopenmuster im Skelett als wenn der Jäger persönlich ins Gras gebissen hätte. Je nach Bedarf lässt sich also ein- und dasselbe Resultat als Verzehr von Rindersteaks oder als Müslikonsum (Getreide = Gräser) deuten. Im Fall von Früchte fressendem Federvieh ist der Experte frei in seiner Entscheidung, ob er den Verblichenen als Obstfreak oder eher als Freund von Brathähnchen einstufen möchte. Fischstäbchen der Steinzeit In dieser misslichen Situation sollte die Isotopenverteilung des Stickstoffs (15N zu 14N) im Kollagen des Knochens oder im Keratin des Haares mehr Licht ins prähistorische Dunkel bringen. Dessen Verteilung ist abhängig von der Herkunft des Eiweißes, das in den letzten Lebensjahren gegessen wurde. Obwohl pflanzliches Eiweiß die niedrigsten Referenzwerte besitzt und tierisches die höchsten, gibt es auch hier erhebliche Unsicherheiten bei der Zuordnung – je nachdem, wie trocken es einst war, um welche Lebewesen es geht und wo das erlegte Tier innerhalb der Nahrungskette stand. Bei Meeresprodukten hängen die Werte nicht nur davon ab, ob es sich um Nahrung aus Küstennähe oder vom offenen Meer handelt, sondern auch davon, ob die Urfischer Tang, Muscheln, Fisch, Seevögel oder Robben bevorzugten.122 Wer sich also ehemals von Pflanzen und Seegetier (heute wären das Fischstäbchen) ernährte, bewegt sich auf derselben Ebene wie der Büffeljäger. Verlässliche Aussagen sind letztlich nur dann möglich, wenn gleichzeitig genügend anderes Material wie Speisereste oder Koprolithe vorliegen.78 10 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ZWEITE THEORIE neben etwas Reis praktisch nur Wal zu essen.90 Diese Menschen haben für den Rest ihres Lebens einen unstillbaren Hunger auf Walfleisch. Zudem ist auch das Leben von Gesellschaften, die statt eines Handys eine Steinaxt nutzen, nicht zwingend von friedlicher Koexistenz geprägt – egal, ob es sich um Kopfjäger, Nomaden oder Sesshafte handelt. Die Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen oder Änderungen des Ökosystems können Kulturen ihre gewohnte Existenzgrundlage und damit ihre traditionelle Küche nehmen. Seit grauer Vorzeit kämpfen die Menschen um die besten „Futterplätze”, um die fruchtbarsten Böden und die wildreichsten Savannen. Der Stärkere verdrängt den Unterlegenen aus seiner angestammten Heimat. Die Jakuten gelangten als Schafhirten nach Sibirien, doch ihre Herden hatten in den nördlichen Waldgebieten keine Chance. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in ihrer Ernährung an die Gegebenheiten anzupassen und auf die Jagd zu verlegen.56 Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Weidegründe freiwillig aufgegeben hatten. Ähnlich dürfte es Völkern wie den Jukagiren ergangen sein, die heute am Polarkreis leben und sich Sagen von Löwen, Tigern und Perlen erzählen. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie aus südlicheren Gefilden stammen.56 Ökosysteme sind alles andere als starr und unveränderlich. „Afrikanische Gesellschaften”, schreibt Hintze, „die etwas mehr Vieh besaßen, waren ... nicht selten das Ziel der Raubzüge benachbarter Stämme, die es hauptsächlich auf das Fleisch der Schlachttiere abgesehen hatten ... Derartige Einfälle konnten in wenigen Jahren das Bild der wirtschaftlichen Verhältnisse ... wesentlich verändern und blühende Länder in eine Wüste verwandeln; Hunger, Krankheiten, erhöhte Sterblichkeit ... waren die Folgen. Die Raubzüge der Sklaven- und Elfenbeinjagden der Araber waren ein dauerndes Moment der Beunruhigung und Hemmnis einer ruhigen Entwicklung. Erst der zunehmende Einfluß der Europäer hat dem allen ein Ende gemacht.”56 Doch die brachten unwissentlich die Rinderpest mit, die die Herden des schwarzen Kontinents vernichtete. Dadurch wurden die fruchtbaren Weidegründe von Gestrüpp überwuchert und die Tsetsefliege, die Verbreiterin der Schlafkrankheit, machte anschließend das Land auch für den Menschen unbewohnbar.111 Wenn Liebe durch den Magen geht Die Vertreter der Steinzeitdiät haben kaum ernsthafte Versuche unternommen, die Ernährungsweise unserer fernen Ahnen zu erhellen. Im Gegenteil: Ihre Publikationen dienten eher dazu, Ernährungsmarotten STEINZEITDIÄT der heutigen Zeit zu rechtfertigen. Wer ein Bild von echter „Naturkost” gewinnen will, sollte lieber einen Blick in die völkerkundliche Literatur werfen. Hinweise erhält auch der Ferntourist, wenn er über eine besonders abwechslungsreiche Küche staunt. Sie ist meist ein Zeichen für die Not und den Hunger, unter denen die Generationen davor gelitten haben. Mag sein, dass die Kambodschaner während des Pol-Pot-Regimes Spinnen nur aus purer Not aßen, heute jedoch gelten geröstete Taranteln als landestypischer Leckerbissen. Für China ist sprichwörtlich, dass alles verzehrt wird, was Beine hat und kein Tisch ist. Und über die afrikanischen Bongo wird berichtet: „Von animalischen Stoffen wurde mit Ausnahme von Hundeund Menschenfleisch fast alles gegessen, gleichviel in welchem Zustande es sich befand, von Ratten und Mäusen des Feldes bis zur Schlange, vom Aasgeier bis zur Hyäne, von fetten Riesenskorpionen bis zu den Raupen und geflügelten Termiten mit ihren öligen mehlwurmartigen Leibern. Die Amphiostomawürmer [heute Amphistoma, Anm. d. Red.], welche in dieser Gegend die Magenwände der Rinder geradezu auszukleiden pflegten, streiften sie immer frisch ... ab und führten sie handvoll mit Behagen in den Mund.”56 Naschhaftigkeit war schon immer ein menschlicher Zug, selbst wenn sich die Vorstellungen vom idealen Snack global unterscheiden. Als der britische Journalist Henry Morton Stanley auf der Suche nach dem verschollenen Livingstone 1868 mit einer Privatarmee vom ostafrikanischen Bagamoyo zum Tanganjika vordrang, berichtete er von Eingeborenen, die Fleisch überhaupt nicht mochten, dafür aber mit großem Genuss Eingeweide und Föten verspeisten. Leidenschaftlich stritten sie sich um den Mageninhalt, um „frohlockend eine Handvoll dieses grünlichen breiigen Leckerbissens zum Munde” zu führen.137 Angesichts solcher traditionellen Spezialitäten wird die heutige Frage irrelevant, ob das, was einst gegessen wurde, eher pflanzlichen oder tierischen Ursprungs war. Bei den Tungusen in Sibirien dienten die in Butter gebratenen pflanzlichen Vorräte von Feldmäusen als Grundnahrungsmittel. „Die Vorräte waren so groß, daß die Tungusen oft den ganzen Winter daran genug hatten”, erläutert Hintze.56 Natürlich betrachteten sie die Mäuse ebenfalls als kleine Köstlichkeiten.47 Ein Näschen für kleine Leckereien wird auch den benachbarten Tschuktschen nachgesagt: „Die fetten Larven der Renntierfliege (Oestrus tarandi) sowie die ausgebildete Fliege wurden nicht verschmäht; selbst die ausgekämmten Läuse wurden gegessen.”56 Auch die Inuit liebten als „Dessert” die „fetten, rohen Larven von Renntierbremsen, welche aus dem Fell der ... Tiere herausgekratzt worden waren”.119 Bei den Jakuten galt EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT ZWEITE THEORIE die „gekochte Nachgeburt als besonderer Leckerbissen”, der vom „Vater des Kindes nur mit seinen besten Freunden verzehrt wurde”.47 Auch sonst „scheuten sie weder anrüchiges Fleisch noch die verschalteste Sauermilch, noch die unerträglich ranzig gewordene Butter”.155 Was dem einen verfault erscheint, hält der andere für naturgereift. Bei den Inuit gehört bis heute neben verwesenden Seehundsköpfen eine besondere Spezialität dazu: „Ein paar große Fetzen Fleisch, Fett und Haut, insbesondere ganze Walfluken, werden in speziellen, mit Blubber ausgekleideten Speisekammern gelagert, wo sie ein Jahr lang oder länger langsam altern und zu iterssoraq, ‚fermentiertem Fleisch’, werden. Die Haut ist dann leuchtend grün, der Blubber olivgrün, das Fleisch schwarz und grün marmoriert, und der Geschmack der verschiedenen Teile reicht, grob gesagt, von Brie über Roquefort und einem starken Stilton bis zum stinkenden alten Gorgonzola, eine pikante Abwechslung zu unserer üblichen faden Ernährung mit rohem oder gekochtem Fleisch und Blubber.”23 Der Weltreisende Colin Roß, der zwischen den Weltkriegen ebenso eindrucksvolle wie einfühlsame Berichte über andere Völker verfasste, beschreibt die typische Speisekammer der Eskimos so: „In einer Zeltecke lag ein Haufen Fleisch und Fisch. In einem wüsten, schmutzigen, blutigen Klumpen häuften sich mächtige Stücke Seehundsfett und Fleisch, Kariburippen und Fische jeder Größe. Das Fleisch und die Fische waren zum Teil angenagt, zum Teil frisch, zum großen Teil faulig, und alles schwamm in einer Suppe von Fett, Blut, Schmutz und Eingeweiden.” Für ihn war es am schlimmsten, „wenn man die Kleinen, die noch kaum laufen können, Fett und Eingeweide verschlingen oder rohe Fischköpfe abknappern sieht. Wie gesagt, ißt der Eskimo alles mit, das ganze Tier, das er erlegt, mit Rups und Stups...”126 Der Verdauungstrakt von Rentieren gehörte zu den höchsten irdischen Genüssen. „Die Eskimoschöne erwartet von ihrem Liebhaber in erster Linie, daß er ihr einen Renntiermagen mitbringt”, berichtet Hintze.56 Gefüllt mit den Leckereien der unberührten Wildnis und verfeinert, um ein Wort Fritjof Nansens zu bemühen, „mit Magensoße”, scheint die Liebe ihren Weg gleich durch zwei Mägen genommen zu haben. An der nordamerikanischen Westküste wurde „Lachsrogen ... in Kisten vergraben und den Einflüssen der Gezeiten ausgesetzt, um dann in etwas zersetztem Zustande genossen zu werden. Auch die Köpfe des Lachses und Heilbutts galten als Luxusgericht, wenn sie in Salzwasser leicht in Verwesung übergegangen waren.”56 In 11 STEINZEITDIÄT den amerikanischen Südstaaten ging es ähnlich zu: „Die Caohuiltecans, die im buschbewachsenen Inneren von Südtexas leben, lassen Fisch acht Tage lang vor sich hingammeln, bis sich in dem verrottenden Fleisch Larven und andere Insekten entwickelt haben. Diese werden dann zusammen mit dem faulenden Fisch als höchster Gaumengenuss verzehrt.”41 Im Landesinneren jagte man Büffel. Manche Indianer betrieben dabei eine ganz besondere Art der kalten Küche, wie Shepard Krech, Anthropologe an der Brown University (Rhode Island), mitteilt: „Die Mandan trieben im Winter große Herden auf schwache Eispartien des Missouris, sodass die Tiere einbrachen, Zu Gast bei den Wohlhabenden Das Fünf-Gänge-Menü ist keine Erfindung der Franzosen, sondern so alt wie die Menschheit. Allerdings sind die Geschmäcker verschieden. Selbst wenn in Frankreich der Verzehr von Käse bekanntlich den Magen schließt, so löst die Idee, ein verfaultes Kuhsekret essen zu müssen, in unserer Kultur gelegentlich eher eine spontane Entleerung des Magens aus – in die falsche Richtung. Ein 8-Gänge-Menü bei einem wohlhabenden Jakuten (Sibirien): 1. dick- und gelbgekochte Sahne 2. Sahne als Gefrorenes 3. gefrorene Butter in Stückchen 4. Gekochter Fisch 5. Butter in heißem Wasser zerlassen 6. Auerhahn und Rentierzunge 7. Kuhniere und Euter, fett in Butter gebraten 8. S’alamat, ein Brei aus Butter, Roggenmehl und Wasser.155 Ein 10-Gänge-Menü bei einem angesehenen Grönländer: 1. 2. 3. 4. 5. 6. gedörrte Heringe getrockneter Seehund gekochter Seehund halb roher und verfaulter Seehund gekochte Alken Höhepunkt der Mahlzeit: ein Stück von einem halbverfaulten Walfischschwanz 7. gedörrter Lachs 8. gedörrtes Rentierfleisch 9. Krakebeeren mit dem Mageninhalt von Rentier vermischt 10. Ebendasselbe mit Tran angemacht.134 12 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT DRITTE THEORIE ertranken und flußabwärts an Land gezogen wurden, wo man sie liegen ließ, damit sie Geschmack bekommen. Manche Indianer schätzten ertrunkene Büffel mehr als jede andere Nahrung.” Krech zitiert als Zeitzeugen McKenzie: „Wenn die Haut angehoben wird, sieht man, dass das Fleisch einen grünlichen Schimmer hat und bereit ist, bei der geringsten Sonneneinwirkung lebendig zu werden; es ist so reif, so zart, dass man es kaum zu kochen braucht.” Daraus wurde „flaschengrüne Suppe” zubereitet, die als Delikatesse galt. Die Mandan schätzten „verfaultes Fleisch” so STEINZEITDIÄT sehr, „dass sie den ganzen Winter hindurch Tierkadaver begruben, um sie im Frühjahr zu essen”.71 Die Büffeljagd gab auch Anlass zu einem beliebten kulinarischen Wettkampf: Zwei Personen nahmen je ein Ende eines langen Stücks vollen Büffeldarms in den Mund. Wer sich zuerst bis zur Mitte durchgefuttert hatte, galt als Sieger. Ein Sioux-Medizinmann namens John Lame Deer erklärte dazu: „Diese Büffeldärme waren voll von halb vergorenen, halb verdauten Gräsern und Kräutern; wenn man sie verzehrte, brauchte man keine Pillen und keine Vitamine mehr.”41 Drittes Steinzeitmärchen: Unsere Vorfahren speisten maßvoll und ausgewogen Die ökologischen Gegebenheiten zwangen die Menschen oft genug, das zu essen, was gerade verfügbar war und nicht das, was ihnen in ihren Wachträumen als Schlaraffenland vorschwebte. Ihre Kost war also notgedrungen alles andere als „ausgewogen”. Sicher hätten unsere Vorfahren einen wohlsortierten Supermarkt bevorzugt, der ein üppiges Angebot hygienisch sicherer Produkte aus aller Welt bereit hält, statt eigenhändig einem Höhlenbären zu zeigen, was ein Faustkeil ist – um dann wochenlang nur noch „Bär” zu kauen. Neben den Inuit gab es natürlich auch andere Populationen, die sich praktisch ausschließlich von tierischer Kost und damit recht einseitig ernährten.1 „Bei den Massai bildeten Milch und Blut und halbrohes Fleisch die einzige Nahrung eines jungen Kriegers während seiner drei Jahre dauernden Ausbildungszeit”, so Hintze. „Das hier häufig vorkommende Salz sowie pflanzliche Nahrungsmittel waren ihnen nicht gestattet. Blut war die beliebteste und vornehmste Nahrung ... Nur den alten Männern waren pflanzliche Nahrungsmittel erlaubt und den Weibern.”56 Die Prärieindianer der Great Plains ernährten sich zeitweise vornehmlich von der Büffeljagd, nachdem ihnen die weißen Siedler das fruchtbare Ackerland weggenommen hatten.51 Die Arapaho-Indianer hingegen schätzten Hundefleisch so sehr, „dass sie von ihren Nachbarn ‚Hundeesser’ genannt wurden”.51 Um schwer kontrollierbare Völker zur Assimilation zu zwingen, haben Regierungen solche traditionellen Ernährungsweisen nicht selten sogar per Gesetz verboten, wobei sie auch schon mal den Druck von westlichen Umwelt-, Tier- und Naturschutzorganisationen zum Anlass nahmen. Die Jagdverbote untergraben gleichzeitig das Wirtschaftssystem und berauben die Menschen ihrer Identität. Dieses Schicksal ereilte auch das Volk der Masarwa, das an der Grenze von Botswana und Zimbabwe lebt. Der Cambridge Encyclopedia of Hunters and Gatherers entnehmen wir folgendes Zitat von Mmiseng Debe, Segoro, Botswana: „Unser Leben hängt vor allem vom Fleisch ab, und die Gesetze hindern uns am Essen. Als Gott den Menschen schuf, schuf er, so glaube ich, auch Wildtiere als Nahrung für die Masarwa. Die Bamangwato nutzen ihre Rinderherden als Nahrung. Die Kalanga ernähren sich von ihren Feldfrüchten. Weiße leben von Geld, Brot und Zucker. Das sind die traditionellen Nahrungsmittel dieser Völker, und daher kann jedermann sehen, dass das Gesetz gegen uns, gegen die Masarwa, gerichtet ist, weil es uns daran hindert zu essen. Die Menschen, die das Gesetz gemacht haben, wussten, dass sie uns unsere Nahrung nahmen. Wenn wir Vieh züchten, dann nicht so gut wie die Bamangwato. Wir können nicht Felder bestellen wie die Kalanga. Wir können auch nicht Geld machen, wie es die Weißen tun. Das ist die Art und Weise anderer Völker. Die Tradition, die Gott uns, den Masarwa, gab, ist es, Fleisch zu essen. Fleisch ist unser Leben. Kleine Tiere bedeuten uns nichts, wir essen jeden Morgen Kudu, Ducker, Steinböckchen und Vögel. Was wir wirklich mögen, sind große Tiere. Das ist unsere Nahrung. Wenn man uns das Fleisch nimmt, nimmt man uns das Leben und die Tradition, die Gott uns gegeben hat.”32 Essen zu dürfen, was man gewohnt ist, ist folglich weniger eine Frage der Gesundheit, als vielmehr der Menschenwürde. EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT DRITTE THEORIE Dass sich ganze Populationen völlig einseitig ernährten, noch dazu bei ebenso guter Gesundheit wie andere mit reich gedeckter Tafel, war kein Sonderfall. So verzehrten „Naturvölker” wie die Todas im südlichen Indien fast ausschließlich die Milch ihrer Wasserbüffel.2 Die Kost der Gond und Bhumia in Zentralindien galt ebenfalls als „extrem monoton”, da sie an den meisten Tagen des Jahres aus Kodahirse (Paspalum scrobiculatum) oder Rispenhirse (Panicum miliaceum) bestand.45 Haben sie genug zu essen, dann sind viele Gesellschaften alles andere als bescheiden. Laut Kuczyniski aß der Kirgise täglich mindestens zwei, meistens vier bis fünf Pfund Fleisch, hauptsächlich Hammel, seltener Pferd. Er „ißt jegliches Fleisch, auch das gefallener Tiere und sogar an Milzbrand verendeter”. Es wird dann nur etwas länger gekocht. Dazu trinkt er „am Tage kaum unter 9, meist 12-15, aber auch noch mehr Liter” Kumys mit einem Alkoholgehalt von drei bis sechs Prozent.56 Bei den recht häufigen Festmahlzeiten stieg der Verbrauch sogar bis auf 20 Pfund Fleisch und 20 Liter Kumys.74 Selbst wenn sich eine kalorienzählende Ernährungsberaterin angesichts solcher Zahlen verwundert die Augen reiben mag: Es liegen reichlich Berichte von Augenzeugen vor, die bei einer Vielzahl von Völkerschaften diese und noch erstaunlichere Verzehrsmengen beobachtet haben. Als die nordamerikanischen Indianer Bisons jagten, aßen sie normalerweise zwölf Pfund Fleisch am Tag, aber auch weitaus höhere Mengen.71 Von Melanesien berichtet Hintze: „Von tierischer Nahrung waren Schweine und Hunde besonders geschätzt und bildeten die Festspeise. Bei den Festschmäusen wurden unglaubliche Mengen davon vertilgt, bis der Vorrat vollständig verzehrt war ...”40,56 Bei den Mbía in Bolivien beobachtete ein Ethnologe, wie vier Personen an einem Tag elf Brüll- und Klammeraffen aßen, dazu einen Kaimanschwanz sowie etliche Hokko-Hühner und Fische. Außerdem gab’s reichlich Maniok.68 Einseitige Kost findet man bis in die jüngste Vergangenheit sogar in unserem Kulturkreis. Murschhauser führt beispielhaft den „Irländer” sowie den „ostpreußischen Landarbeiter” an, die noch 1927 beide eine „tägliche Kartoffelration von mindestens 9 Pfund” vertilgten – und sonst so gut wie nichts anderes. „Was dem Iren die Kartoffel geworden, das ist dem chinesischen Kuli ... der Reis.” Er ernährt sich „fast ausschließlich” von einer „Tagesration von 1.200 gr Reis” – gewöhnlich in Form von Weißreis, der gekocht etwa vier Kilogramm ergibt. „Der tägliche Verbrauch an Reis übersteigt, die Kinder miteingerechnet, in Hinterindien ein Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung”, so Murschhauser.102 13 STEINZEITDIÄT Fallbeispiel: Eskimos Einseitigkeit und Maßlosigkeit kennzeichnet die traditionelle Ernährung der Inuit. Nach Steffansson gab es unter den nordamerikanischen Eskimos Gruppen, die pflanzliche Nahrung generell verabscheuten.56 Auf Grönland verzehrte nach Murschhauser ein „junger, kräftiger Eskimo in den Zeiten, da Robben nach Belieben erjagt werden können, Monate hindurch täglich 8 Pfund und mehr Fleisch”.102 Roß schreibt: „Fünf Pfund Fleisch sind für den Eskimo eine Kleinigkeit”, und acht Pfund Fett am Tag seien nichts Besonderes.126 Gibt es Fisch, dann werden, wie Houben berichtet, „15 Pfund Lachs pro Mann” als „normale Mahlzeit” angesehen.58 „In der Zeit der Legeperiode (von Eiderenten und Vitamin C: Skorbut? Fehlanzeige! Wie deckt ein traditionell lebender Eskimo seinen Bedarf an „lebenswichtigem” Vitamin C? Vermutlich über das rohe Fleisch. Der Name „Eskimo” bedeutet soviel wie „Rohfleischesser”, abgeleitet vom Algonkinausdruck „Ayaeskimeow”.126 Wenn Vitamin C lebenswichtig ist und alle Tiere außer Meerschweinchen und Menschen Vitamin C bilden können, muss es vor allem in solchen Organen angereichert sein, in denen es eine wichtige biologische Aufgabe erfüllt, z. B. in den Nebennieren. Anscheinend ist es aber nicht nur dort anzutreffen, denn als Mittel gegen Skorbut wurde von vielen Polarvölkern neben dem Mageninhalt und dem Blut der Rentiere auch gefrorener Fisch und Walfleisch angesehen.75,142 Weil Fleisch aber nun mal nicht gesund sein kann, halten die Vitaminforscher stattdessen die Rausch- oder Trunkelbeere (Vaccinium uliginosum) für die wichtigste Vitamin-C-Quelle der Inuit. Allerdings gibt es an ihrer Wirkung erhebliche Zweifel: „Da der Eskimo aber die Gewohnheit hat, die Beeren wie Pillen zu verschlucken, so verlassen sie meist völlig unverändert den Darmkanal”, heißt es in der Schrift über den grönländischen Eskimo. In Alaska wiederum scheint die so genannte Lachsbeere sehr begehrt gewesen zu sein. Doch auch hier gibt es Ausnahmen: „Die Eskimos am Coronationgolf [lebten] mitten im Überfluß dieser Beeren, ohne sie zu benutzen.”56 Den Beweis, dass pflanzliche Kost nicht zur Gesunderhaltung des Menschen erforderlich ist, erbrachte Stefansson zusammen mit seinem Kollegen Andersen, die ein volles Jahr unter ärztlicher Aufsicht ausschließlich sehr fettes, rohes Fleisch aßen und sich dabei bester Gesundheit erfreuten.81 14 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT DRITTE THEORIE Möwen) werden auch deren Eier in enormen Quantitäten, und zwar in rohem Zustande, verzehrt, und es kommt dem Bewohner der Arktis nicht darauf an, sie auch dann zu genießen, wenn sie bereits beträchtliche Zeit ausgebrütet waren.”102 In der eisigen Kälte der Polarregionen scheint der Eskimo von einer massiven Fett- und Eiweißkost eindeutig zu profitieren. Seinen typischen Tagesablauf erläutert Murschhauser wie folgt: Das „Frühstück STEINZEITDIÄT besteht aus einer Tasse Wasser, Suppe oder heutigen Tages gewöhnlich Kaffee. Er zieht auf die Jagd entweder ohne jedwede Nahrung oder nur mit einem kleinen Stück getrockneten oder gefrorenen Fleisches versehen. Kehrt er in den Nachmittagsstunden gegen 3 oder 4 Uhr in sein Zelt zurück, so füllt er seinen Magen bis zu den Grenzen der Aufnahmefähigkeit mit gekochtem Fleisch, um sich alsdann hinzulegen und für einige Stunden zu schlafen. Gegen Abend steht er auf, unter- Vitamin A: Blind durch Lehrbücher Aber lesen wir nicht regelmäßig von Kindern in Asien, die wegen der einseitigen Reiskost erblinden? In der Tat enthält geschälter Reis nur wenig β-Carotin. Ob die Dosis ausreicht, hängt jedoch davon ab, ob nur das sprichwörtliche „Schüsselchen” gegessen wird oder die besagte Tagesration von 1,2 Kilogramm Rohreis. Auch wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Augenlicht und β-Carotin gibt, so gehen die meisten Formen von Blindheit (v. a. Xerophthalmie) in der Dritten Welt nicht auf einen Vitaminmangel zurück. Das gilt selbst dann, wenn das aus β-Carotin gebildete Vitamin A therapeutisch wirksam ist. Ein paar Beispiele aus aktuellen Publikationen: z Eine Untersuchung der angeblich Vitamin-Abedingten Nachtblindheit bei Kindern aus Tansania fand im Vergleich zu Gesunden keine Unterschiede im Vitamin-A-Spiegel des Blutes. Fazit: „Berichte über Nachtblindheit sind ein schlechter Hinweis auf einen Vitamin-A-Mangel in dieser Population.”159 z Die Autoren einer aktuellen Studie aus Kambodscha kommen zu dem Schluss: „Xerophthalmie-Cluster bei Müttern und Kindern in Kambodscha gehen mit Durchfallerkrankungen einher.”132 z Das Ergebnis einer Untersuchung aus dem Irak mit 1- bis 3-Jährigen lautet: „Es bestand eine signifikante negative Korrelation zwischen Xerophthalmie und Stillen, eine höchst positive Korrelation hingegen mit häufigen Kinderkrankheiten, wie Masern, Durchfall und Atemwegsinfektionen.”3 Als sich eine Gruppe westlicher Mediziner in Bangladesh die Volksmeinung über die Ursachen von Nachtblindheit einholte, wurde diese von der Bevölkerung auf einen Mangel an anständigem Essen zurückgeführt. Die Mediziner konnten sich damit anfreunden und unterstellten sogleich, dass speziell Blattgemüse gemeint sein müssten. Die Angaben zum möglichen Grund einer Xerophthalmie passten weniger in das z Schema. Denn statt die „richtige” Antwort „Vitamin-AMangel” zu nennen, erklärten die Befragten, die Erkrankung würde in erster Linie von der „Hitze” herrühren, „die von akuten Infektionen (insbesondere Masern) hervorgerufen wird”.17 Unter der Überschrift „Masernblindheit” schreiben Augenärzte der Johns Hopkins University in Baltimore: „Masernblindheit ist die einzige Hauptursache für Blindheit unter Kindern in Ländern mit niedrigem Einkommen.”132 z Für die häufigen Augenschäden in der Dritten Welt sind demnach vor allem Infektionen und Durchfälle verantwortlich sowie der Verzicht auf das Stillen. Da die Vitamin-A-Spiegel von Kranken denen von Gesunden entsprechen, spielt das Vitamin nur eine untergeordnete Rolle. Vermutlich wäre es besser, den gefährdeten Menschen statt Vitaminpillen oder gentechnisch verändertem Reis („Goldener Reis”) ein Stück Seife zu stiften. Dieses vermochte die Kindersterblichkeit durch Infektionen nämlich dramatisch zu senken und war zudem spottbillig.85 Wirklich frei ist geschälter Reis übrigens nicht von β-Carotin, sondern von einem ganz anderen Vitamin: der Ascorbinsäure. Dennoch wird heute bei einseitiger Reiskost aus unerfindlichen Gründen zwar Nachtblindheit beobachtet, nicht aber Skorbut. Schon wieder so ein Wunder der Vitaminforschung! In den Industrieländern steht bei Augenschäden ebenfalls kein Vitamin-A-Mangel im Vordergrund. Hier reichen die Ursachen vom Sjögrens Syndrom und Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse über Essstörungen sowie Magen-Bypass-Operationen bis hin zur Einnahme von Valproat während der Schwangerschaft.18,25,26,64,80,145,152 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT DRITTE THEORIE hält und vergnügt sich in seiner Art und pflegt vor dem endgültigen Schlafengehen eine zweite Mahlzeit zu sich zu nehmen, wobei er jetzt, selbst wenn Fleisch vorhanden, den Genuß des Fisches vorzieht.”102 Zum Reinigen der fettigen Finger wurde eine Schüssel mit frisch gelassenem Urin herumgereicht, den die Frauen „auch als Schönheitswasser” benutzten.56 “Zieht er im Winter mit seinen Schlittenhunden auf die Jagd nach dem Norden”, so Murschhauser weiter, „versieht er sich mit getrocknetem oder gefrorenem Fleisch und Speck. Hat er gegen Abend seine Vollmahlzeit aus gefrorenem Fleisch (bei – 30° und kälter) beendet, so wird er, wie auch seine Hunde ... zunächst von einem Kälteschauer mit Schüttelfrost befallen; aber schon nach einer halben Stunde, sobald Verdauung und Verbrennung der Nahrung in Gang gekommen, erfüllt ihn ein Wärmegefühl, das Mann und Hunde dazu befähigt, die Nacht im Freien schlafend zu verbringen.”102 Genussmittel: Moral statt Wissen Zum Vorbildcharakter des „guten Wilden” gehört nicht nur der Hinweis, er habe eine gesunde Vollwertkost beherzigt und auf Völlerei verzichtet. Aus Sicht des christlichen Abendlandes trotzte er zudem erfolgreich den „Suchtgiften”. Angeblich bestimmten nicht Ekstase oder Rausch die Wünsche der „Wilden”, sondern ein entsagungsvolles Leben nach Art Johannes des Täufers in Einklang mit jener Natur, die sich ökologische Märchenerzähler westlicher Prägung zusammenphantasiert haben. Diese Vorstellungen bedienen auch Eaton und seine Mitstreiter: Ihrer Ansicht nach enthielten sich die Menschen der Steinzeit des Zuckers, blieben stets nüchtern und waren dem Tabak abhold.37,165 Zur Belohnung wurden sie von unseren modernen Zivilisationskrankheiten verschont. Dieses Paradies auf Erden haben wir uns wohl mit unserem Hang zum verfeinerten Geschmack endgültig verdorben. Monsieur Brillat-Savarin darf sich im Grabe umdrehen. Doch war der Zucker wirklich so verpönt oder bloß eine exotische Ausnahme, an dem nur der Häuptling an hohen Feiertagen lecken durfte? Im Gegenteil: Honig ist nach wie vor überall auf der Welt begehrt. So berichtet der Verhaltensforscher Armin Heymer, dass die Ituri-Pygmäen im afrikanischen Regenwald systematisch Honig sammeln und dafür in den Monaten Mai bis Juli spezielle Honiglager organisieren. „Der eingesammelte Honig wird nach bestimmten sozialen Regeln unter den Mitgliedern einer Wohngemeinschaft aufgeteilt und beträgt in dieser Jahreszeit etwa 70% 15 STEINZEITDIÄT des Gesamtgewichtes der eingebrachten Nahrung; das entspricht sogar 80% der von den Pygmäen aufgenommenen Kalorien.”53 Allerdings besteht die süße Kost nicht nur aus purem Zucker, denn die Pygmäen genießen die in den Waben enthaltene Bienenbrut gleichermaßen. Erleichtert wird ihnen die Suche durch den Honiganzeiger (Indicator indicator), einen Vogel, der auch Honigdachsen oder Pavianen den Weg zum nächsten Bienenstock weist. Während sich Mensch und Säugetier am frischen Honig laben, erhält der Honiganzeiger stets Wabenwachs und Larven als Finderlohn.63 Für die Arawete, die im Regenwald des Amazonas leben, ist der Honig so wichtig, dass sie über 45 Klassifikationen dafür verfügen.95 In Australien liefern neben Bienenhonig auch Honigameisen einen substanziellen Beitrag zur Ernährung.106 Ein Komantschenstamm liebte den Honig so sehr, dass er sogar den Namen „Honigesser” bekam.51 Im hohen Norden Amerikas genossen die Indianer während der Ahornzuckerernte einen Monat lang fast ausschließlich den süßen Saft der Bäume (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2004/ H.1/S.15). Gegen diese Zuckerorgien verblasst unser weihnachtlicher Süßwarenkonsum, dessen Zuckeranteil erheblich niedriger liegt und der selbst im ungünstigsten Fall nach wenigen Tagen zugunsten von Bratwurst, Pommes und Pizza aufgegeben wird. Auch die Vorstellung vom abstinenten Steinzeitmenschen ist ziemlich weltfremd. Schließlich verfügen viele Naturvölker über reichlich Erfahrung, aus den unterschiedlichsten stärke- oder zuckerhaltigen Rohstoffen berauschende Getränke herzustellen.141 Die Fermentation ist eine der ältesten Formen der Lebensmittelverarbeitung35, wobei sich eine alkoholische Gärung kaum vermeiden lässt.65 Obst beispielsweise geht noch am Baum oder als Fallobst in Gärung über. Kaum vorstellbar, dass der Steinzeitmensch dies aus Überlegungen der Gesundheit und des Jugendschutzes links liegen ließ – vor allem dann, wenn er Hunger hatte. Ein gewisser Hang zum Alkohol ist sogar den Tieren zueigen: Es mangelt nicht an Berichten über Vögel und Säuger, die im Herbst vergorene Früchte suchen, um danach besoffen durch die Gegend zu flattern oder zu torkeln.22 Sollte der doofe Mammutjäger davon tatsächlich nichts mitgekriegt oder gar bewusst jegliches Vergären seiner gesammelten Früchte vermieden haben? Beim Tabakkonsum ist die Datenlage eindeutig. Nein, es war nicht Kolumbus, der das Nikotin der Alten Welt verfügbar machte. Denn aus aller Welt, nicht nur aus Südamerika, sondern auch aus China, Österreich 16 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT VIERTE THEORIE und Ägypten liegen Analysen prähistorischer Knochen vor, die manchmal erkleckliche Mengen an Cotinin aufweisen. Cotinin ist ein Metabolit des Nikotins und dient als Beweis für einen Nikotinkonsum während des Lebens. Zwar gab es damals noch keine Zigarettenautomaten, aber Tabakpflanzen waren wohl weiter verbreitet als die Geschichtslehrer ahnen. Nachweise liegen für Amerika, Südostasien, Australien und sogar das südliche Afrika vor. In Europa werden die Cotiningehalte in den Knochen auf den Konsum von Bauern- STEINZEITDIÄT tabak, Nicotiana rustica (Machorka), zurückgeführt, der vor der Entdeckung der Neuen Welt in den pharmakologischen Werken als „Gelber Bilsam” firmierte.10,116 Wann immer unsere Vorfahren an Drogen – gleich welcher Art – kamen: Sie haben diese mit Begeisterung genutzt, um mit den Geistern in Verbindung zu treten oder das Glücksgefühl auszukosten. Das calvinistische Ideal der lebenslangen Selbstkasteiung ist den meisten Kulturen außerhalb der protestantischen Einflusssphäre völlig fremd. Viertes Steinzeitmärchen: Unsere Vorfahren litten stets Hunger Angeblich ist der moderne Mensch ein Opfer seiner Steinzeitgene. Während seine Ahnen noch Hungertücher benagten, lebt er plötzlich in einem unverdienten Wohlstand, mit dem er nicht klarkommt. Die Folgen sind Fettsucht, Diabetes, Herzkrankheiten, Alzheimer, ja sogar der Tod. Diese Idee fällt in protestantischen Gesellschaften gewöhnlich auf fruchtbaren Boden. Nur: Welche Gene sich durchsetzen konnten, hing wesentlich von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Und da war der Überfluss mindestens genauso oft Begleiter der Menschheit wie der Hunger – und damit auch die Anpassung an den Wohlstand. Bernard Arcand von der Laval University in Quebec ist überzeugt, dass der Überfluss, wie ihn beispielsweise die Cuiva in Kolumbien und Venezuela kennen, typischer für Jäger-Sammler-Kulturen ist als der Mangel. Aus unserer Perspektive leben die Cuiva im Hinblick auf ihre Technik „primitiv”, aber jeder Erwachsene verzehrt täglich 400-500 Gramm Fleisch sowie reichlich Obst und Gemüse. Er arbeitet dafür lausige 15-20 Stunden die Woche, der Rest steht seinen kollektiven oder persönlichen Vergnügungen zur Verfügung.7 Gunter Kroemer, der viele Jahre mit entlegenen Indiovölkern des Amazonas arbeitete, beschreibt dieses Phänomen so: „Es gibt einen Überschuss, der nicht ausgenützt wird. Solche Gesellschaften sind ‚Gesellschaften des Überflusses’. Sie sind Beispiele von technologisch einfachen Gesellschaften, die nicht am Rande des Elends leben, sondern die, was Arbeit und Ernährung angeht, gut leben.”73 Ähnliche Berichte liegen über die Hadza in Tansania oder die austronesischen Seenomaden vor.36 Bei einer Studienreise durch die Kirgisensteppe schwärmt Max H. Kuczynski von „der Fruchtbarkeit der Steppe, die einen gewaltigen Überschuß erzeugt”.74 Auch Armin Heymer, der die Pygmäen begleitete, weist die üblichen Darstellungen eines von Mangel und Not bestimmten Lebens zurück: Vielmehr erfreuten sich die Pygmäen bei einer gemütlichen Lebensweise eines guten Ernährungszustandes, der „im allgemeinen besser ist als jener der seßhaften Hackbauern oder auch sonst Landwirtschaft betreibender Völker Afrikas”.53 Die Ju/’hoansi in Namibia wurden von Ethnologen sogar als „das Original einer Überflußgesellschaft” bezeichnet.15 An zwei bis drei Tagen ist ihre Arbeit für die ganze Woche getan. Über die Aborigines bemerkt Isaacs, ihr „oberstes Ziel” bestehe darin, „unnötige Arbeit zu vermeiden”62 – ein Wohlstand, der selbst modernen Industriegesellschaften fremd ist und natürlich dem christlichen Ethos von „ora et labora” widerspricht. Dass unsere Gesellschaft meist etwas mitleidig auf die „Steinzeitkulturen” von „Jägern und Sammlern” herabblickt, hat seinen Grund. Schließlich sind wir stolz auf die technischen Errungenschaften, mit denen wir uns umgeben und die unser Leben bestimmen, sowie einen Markt, der unsere Wünsche und unser Denken zwangsläufig auf Materielles lenkt. Was aber, wenn sich das hohe Wohlstandsniveau vieler „primitiver” Völker gerade darauf gründet, dass sie aus innerer Überzeugung auf Technik und Geld verzichten? Sie häufen keine Besitztümer an und bauen keine Paläste – nicht, weil sie es nicht könnten, sondern weil sie sich nicht zum Gefangenen materieller Güter oder gar des Schuldendienstes machen möchten.36 Weder Gewinn noch materielle Zukunftssicherung gelten ihnen als Lebensziele. Das Maß aller Dinge sind die persönliche Freiheit und das selbstverständliche Vertrauen in die Zukunft, die so genannte Kohärenz (siehe Seite 27). EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT VIERTE THEORIE Der Preis von Freiheit und Wohlstand Doch nicht alle Gesellschaften hatten das Glück, im Wohlstand leben zu dürfen. Viele verbrachten ihr Leben in Regionen, in denen der Nahrungserwerb alles andere als gesichert war. Typisches Beispiel sind die Südseeatolle, die regelmäßig von Hungersnöten heimgesucht wurden, da sie kaum Möglichkeiten für Landwirtschaft oder andere alternativen Nahrungsquellen bieten. Blieben die Fischschwärme aus, verhungerten die Bewohner. Deshalb ist hier ein spezielles „Energiespar-Gen” verbreitet. Es bewirkt nicht nur eine besonders gute Futterverwertung, was zu „Übergewicht” führt, sondern hat auch seinen Preis: Viele Inselbewohner erkranken um das 50. Lebensjahr an Diabetes.123 Selbst im Überfluss sind gelegentliche Hungersnöte nicht ausgeschlossen. Deshalb versuchen Naturgesellschaften stets sicherzustellen, dass die kommende Generation genug zu essen hat. Allerdings tun sie das auf andere Weise als arbeitsteilige oder globalisierte Populationen, die ihre Nahrung auf einem Weltmarkt einkaufen. Die Maßnahmen der „Wilden” wirken mitunter schockierend, da sie unseren Werten widersprechen. Jedes Ökosystem vermag nur eine begrenzte Zahl von Menschen zu ernähren. Im Regenwald erlaubt die verfügbare Nahrung meist nur einer Person pro Quadratkilometer ein gutes Auskommen. Wenn die Bevölkerung wächst, herrscht alsbald Hunger. In Gesellschaften, die dem technischen Fortschritt abhold sind, lässt sich eine Überbevölkerung auf lange Sicht nur durch Krieg, Kindstötung oder Kannibalismus vermeiden. Letzteres bietet aus ernährungsphysiologischer Sicht ein absolut vollwertiges und noch dazu fettes, sprich besonders schmackhaftes Lebensmittel. Je knapper die Nahrung, desto größer ist der Anreiz, die Nahrungskonkurrenten zu verspeisen. Wer will, kann in diesem Kontext durchaus von einer „nachhaltigen” Bevölkerungspolitik sprechen. Auf der Südseeinsel Tahiti wurde eine Option genutzt, die Hintze so beschreibt: „Trotz der anscheinend durchaus nicht ungünstigen Ernährungsverhältnisse wurden etwa zwei Drittel aller Kinder, besonders Mädchen umgebracht; die ersten drei Kinder und Zwillingskinder immer; mehr als zwei oder drei zog niemand auf; künstlicher Abort war häufig. Man wollte offenbar die Zahl der Bewohner nicht zu sehr ansteigen lassen.”56 Soviel zur Realität einer Naturgesellschaft, deren Bild in der Öffentlichkeit von der Phantasie Gauguins sowie von Reiseprospekten geprägt wird. Bei den südamerikanischen Yanomami stirbt jedes zweite Mädchen im ersten Lebensjahr, in mehr 17 STEINZEITDIÄT als der Hälfte der Fälle durch Kindstötung.40 Nicht anders bei den Aborigines: Um zu überleben, trieben sie bis zur Hälfte aller Föten ab.40 Über die Inuit schreibt Roß: „Die Eskimo sind so zärtliche Eltern, wie die meisten Primitiven. Aber bereits heute müssen sie zeitweise ihre Zuflucht zum Kindesmord nehmen, wenn die Familie eine Grenze überschreitet, die nicht mehr ernährt werden kann. Es werden, genau wie bei den Chinesen, nur neugeborene Mädchen umgebracht, wenn sie noch keinen Namen, also nach ihrer Vorstellung auch noch keine Seele haben.” Da dies die Zahl der heiratsfähigen Frauen vermindert, „werden Kinder bereits im Mutterleib verlobt, für den Fall, daß sie als Mädchen geboren werden sollten. Ist aber auch bei der Geburt noch kein zukünftiger Freier in Sicht und den Eltern noch kein Sohn geboren, so wird häufig ... das Neugeborene erstickt, ... indem man ihm die dicke, warme Karibudecke ... bis über den Kopf zieht.”126 Die Hawaiier sollen „den größten Teil der Kinder gleich nach der Geburt töten und namentlich weibliche lebendig begraben”.134 Der dänische Polarforscher Knud Rasmussen (18791933) berichtet von der Boothia-Halbinsel, dass dort nicht nur die Mädchen erdrosselt werden, um die Zahl der essenden Münder zu verringern. Es sei auch „ein allgemeiner Brauch, daß alte Leute, die sich nicht mehr selbst helfen können, ihrem Leben durch Erhängen ein Ende machen”.119 Grausame Realität Nach Agatharchides, Geograph und Historiker am Hof der Ptolemäer (200-120 v.u.Z.), erwürgten die in den Höhlen am Roten Meer wohnenden Troglodyten ihre Alten, Kranken und die sonst zur Arbeit untauglichen Personen mit Ochsenschwänzen. Auch die afrikanischen Barotse im Marutse-Mambunda-Reich übergaben „kranke Leute, die durch lange Krankheit ihrer Umgebung zur Last fielen, dem Scharfrichter zum Ertränken”.70 Von den Massagetae, die östlich des Kaspischen Meeres lebten, berichtet der griechische Historiker Herodot, dass sie ihre Alten im Kreise ihrer Angehörigen töteten, um sie dem Kochtopf zu überantworten. Sein Kollege Strabo ergänzte: „Für den schönsten Tod halten sie es, wenn sie hochbejahrt mit Hammelfleisch zusammengehackt und damit zugleich verspeist werden. Die an Krankheit Verstorbenen werfen sie hin wie Übeltäter und wert von wilden Tieren gefressen zu werden.”166 Über die in Indien lebenden Padaier lesen wir bei Herodot, dass sie ihre Kranken töteten, um zu verhindern, dass sie verfaulten. Dann wurden sie verzehrt. Auch die indischen Kallatier pflegten ihre bejahrten Eltern zu verspeisen.60 18 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT VIERTE THEORIE John Koty, der zur Sitte der Kranken- und Altentötung eine Fülle von Material zusammengetragen hat, beschreibt die Situation auf den Inseln der FidschiGruppe so: „Alle gebrechlichen, kranken und alten Personen wurden durch einen Keulenhieb getötet oder, häufiger noch, lebendig begraben.” Anders bei den Vao-Insulanern in Polynesien. Sie „bereiten den Alten, die sich nicht mehr selbst helfen können, ein sanftes Ende” und tun dies blutenden Herzens, indem sie sie „nach einem letzten guten Mahle erdrosseln oder begraben”.70 Die Ostfinnen kochten dem Greis vor dem Tode einen Brei, setzten ihn an den Rand einer Grube und schlugen ihn mit einer Keule tot.70 In den tropischen Waldgebieten Südamerikas werden Todkranke einfach im Wald ausgesetzt und mit einem Dach über dem Kopf sowie etwas Nahrung versehen. Auch pflegt man aufgegebene Kranke an den Fluss zu tragen, mit Tabak zu betäuben und ins Wasser zu werfen.40 Diese Berichte sind keineswegs repräsentativ für alle Naturvölker. Aber sie gehören zur Realität vieler Gesellschaften, die entweder den Wohlstand wahren wollten oder dem Hunger zu entgehen suchten. Derartige Praktiken gab es natürlich auch in unserem Kulturkreis. In Sparta wurde jedes Neugeborene einem Gremium von Greisen vorgelegt. Der griechische Schriftsteller Plutarch schildert die grausame Auslese: „Die Ältesten besichtigten das Kind ganz genau und wenn es stark und wohlgebaut war, ließen sie den Vater es aufziehen ... War es aber schwach und unschön gestaltet, ließen sie den Säugling in ... ein tiefes Loch am Taygetosgebirge werfen.”158 Einem etwas aktuelleren Werk von 1684 entnehmen wir folgende Zeilen: „Die alten Preußen haben nicht allezeit erwartet, bis daß ein Mensch natürlichen Todes gestorben, auff daß sie ihn begruben, sondern sie haben offt, wenn sie gemercket, daß die Krankheit tödlich oder auch nur landwürdig und gefährlich, den Kranken Hand angeleget.” Gewöhnlich wurden sie mit einem Kissen erstickt. Übler erging es dem Gesinde: Sind Sie noch kein Leser des EU.L.E.n-Spiegels? Für nähere Informationen zum Abonnement oder zur Fördermitgliedschaft siehe Impressum auf Seite 32 STEINZEITDIÄT „Dieses aber ist das größte und schröcklichste Barbaries, daß sie ihre lahme, blinde, alte oder kranke Knecht haben auff die Bäume zu hängen pflegen, damit sie nicht dürfften umbsonst versorgen.”50 In Erinnerung an die Sitte, jene Senioren zu töten, die der Gemeinschaft zur Last fielen, trugen nicht wenige Felsen und Klippen in Europa den Namen „Greisenfels”. Mancherorts wurden die Alten mit eigens dafür bestimmten Keulen totgeschlagen. Koty: „Die Sitte des Tötens mit einer Keule scheint eine weitere Verbreitung gehabt zu haben. Am Stadttor mehrerer schlesischer und sächsischer Städte hingen noch bis in das letzte Jahrhundert hinein solche Keulen, die der Überlieferung nach zu diesem Zweck dienten.” Als Wahrzeichen von Jüterbog diente ebenfalls eine Keule zusammen mit einer Inschrift, die eindeutig auf ihren Zweck hinwies.70 Kondome im Stadtwappen Wer diese Art von Menschentötungen ablehnt, muss sich zu einer Wirtschaftsweise durchringen, die in der Lage ist, eine wachsende Zahl hungriger Münder zu sättigen. Ackerbau und Viehzucht öffneten den Weg dazu, denn auf einer gerodeten Fläche ist es möglich, eine viel größere Zahl von Menschen zu ernähren als im Regenwald. Bei der Rodung wird jedoch zwangsläufig Natur zerstört – was satte Menschen in den Industrieländern immer wieder dazu veranlasst, den Zeigefinger zu erheben und die Wahrung der Schöpfung anzumahnen. Wer aber die Menschen in der Dritten Welt daran hindert, sich Nahrung zu verschaffen, zwingt sie letztlich, auf Praktiken zurückzugreifen, die aus unserer Sicht alles andere als menschenwürdig sind. Natürlich vermochte auch die intensive Landwirtschaft nicht alle Ernährungsprobleme zu lösen, wie die immer wiederkehrenden Hungersnöte in der Geschichte belegen. Doch meist dauerte es nicht lange und der Ackerboden ernährte mehr Menschen als zuvor. Insgesamt müssen wir trotz Bevölkerungsexplosion anerkennen, dass die Produktivität unserer Landwirtschaft erstaunlich gut mitgehalten hat. Ein wichtiger Faktor war der Kunstdünger, der auch in Ländern ohne Viehhaltung, d. h. ohne Naturdünger enorme Ernten ermöglichte. Inzwischen hat diese Entwicklung eine neue Wendung genommen: Die Weltbevölkerung wächst langsamer, vor allem weil wirksame Verhütungsmittel eine im großen und ganzen überschaubare Familienplanung ermöglichen. Statt Keulen gehören heute also eher Kunstdünger und Kondome ins Stadtwappen. EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT FÜNFTE THEORIE 19 STEINZEITDIÄT Fünftes Steinzeitmärchen: Unsere Vorfahren aßen nur unverarbeitete Naturkost Die Märchenfiguren der Steinzeitdiät haben bekanntlich nur die frische Nahrung gegessen, die Mutter Natur ihren Adepten reichte: knackige Salate, blutige Steaks und frische Vollkornähren. Kein Wunder, dass diese Gesellschaften bei all der kaum verarbeiteten, vollwertigen und vitaminreichen Kost frei von Diabetes und Herz-Kreislauf-Leiden blieben. Krebs kannten sie nicht und auch bei den Infektionskrankheiten mussten sie sich wenig Sorgen machen, schließlich hatten sie ein starkes Immunsystem. Und Parasiten gab es dort, wo die natürlichen Kreisläufe noch funktionierten, offenbar sowieso nicht. „Bis vor 500 Generationen”, glauben O’Keefe und Cordain107 zu wissen, „konsumierten alle Menschen nur natürliche und unverarbeitete Nahrung, die sie rundum gesammelt oder erjagt hatten. Ihre Kost enthielt daher viel mageres Eiweiß, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (besonders Omega-3-Fettsäuren), einfach ungesättigte Fette, Ballaststoffe, Vitamine, Mineralien, Antioxidanzien und andere gesundheitsfördernde biologisch aktive Substanzen. Historische und anthropologische Studien zeigen, dass Jäger und Sammler in der Regel gesund, fit und weitgehend frei von degenerativen kardiovaskulären Krankheiten sind, wie sie in modernen Gesellschaften häufig vorkommen.” Katharine Milton, Anthropologin in Berkley an der University of California, pflichtet ihnen bei: „Wahrscheinlich litt keine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft, ungeachtet des konsumierten Anteils an Makronährstoffen, an Zivilisationskrankheiten.” Und wem hatten sie das zu verdanken? „Die meisten natürlichen Nahrungsmittel enthalten wenig Energie, und diese Tatsache dürfte zusammen mit der langsamen Passage von Nahrungspartikeln durch den menschlichen Verdauungstrakt als natürlicher Schutz vor Fettleibigkeit und anderen Zivilisationskrankheiten gedient haben.”96 Wenn Mutter Natur den Tisch deckt, dann können die Menschenkinder offenbar hemmungslos schlemmen. Doch glauben die Experten wirklich, dass Robbenspeck, Fleisch, Honig oder Ahornsirup, die von den verschiedensten Völkern in enormen Mengen verschlungen wurden, kalorienarm und ballaststoffreich sind? Und bezweifeln sie ernsthaft, dass die Menschheit seit jeher nach Möglichkeiten gesucht hat, um an sättigende und damit schmackhafte Speisen zu gelangen? Wie beliebig die Theorien sind, zeigt die Vorstellung von Cordain und Kollegen, dass Getreide vor der neolithischen Revolution, also vor der Erfindung des Ackerbaus, keine Rolle gespielt hat, während andere Autoren gerade die regelmäßige Ernte von wildwachsenden Beständen als Voraussetzung für ihre Inkulturnahme ansehen. Vollkorn: mitten ins Herz Doch unabhängig davon, welche der beiden Theorien die damalige Realtität nun besser beschreibt: Bemerkenswert ist zumindest die Überlegung von Cordain, wonach Körnerkost koronare Herzerkrankungen verursacht und damit an der Entstehung von Zivilisationskrankheiten beteiligt ist. Seine These gründet sich auf der Beobachtung, dass nur jene Tierarten an Arteriosklerose erkranken, die von Natur aus kein Getreide fressen. Die Krankheit tritt erst dann auf, wenn solche Tiere eine artherogene Diät auf Getreidebasis erhalten. Der Originalquelle, die Cordain zitiert, entnehmen wir: „Unter Vögeln sind diejenigen Arten nicht anfällig, deren natürliche Nahrung aus Körnern besteht, während die anfälligsten Arten diejenigen sind, die sich normalerweise von Früchten und frischer tierischer Nahrung ernähren. Unter Säugern sind die Primaten, einschließlich des Menschen, am anfälligsten ... Ratten und Mäuse hingegen, die natürliche Körnerfresser sind, sind nicht anfällig für Atherome. Das Hausschwein, das weitgehend unnatürlich mit Getreide ernährt wird, leidet unter Atheromen, während Wildschweine, die sich von Schösslingen und Knollengewächsen ernähren und als tierische Frischbeilage Ratten und Schlangen töten, nur selten davon betroffen sind.”42 Die Schlüsselrolle für den artherogenen Effekt weist Cordain dem Weizenkeimlektin (WGA) zu: Es gelangt durch die Darmwand in den Blutstrom, aktiviert dort die Blutplättchen und bindet an die Makrophagen der Arterien sowie an die Rezeptoren für Insulin und IGF. Dieses Bild deckt sich mit klinischen Erfahrungen, wie sie beispielsweise von Karl Pirlet, ehemals Ordinarius an der Uniklinik Frankfurt, gemacht wurden: Bei Patienten, die sich seit langem „vollwertig” ernährt hatten, beobachtete er massive arteriosklerotische Veränderungen.114 Für eine ursächliche Rolle der Lektine spricht auch, dass Erdnussöl zu den artherogensten Fetten gehört – aber weniger wegen seiner gesättigten Fettsäuren, sondern wegen seines Lektins. Das Erdnusslektin bindet wie das WGA an die Arterien. Entfernt man es z. B. durch Raffination, so schwinden die Effekte auf das Herz-Kreislauf-System.72 20 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT FÜNFTE THEORIE Kochkunst: Erfindung der Steinzeit Vielen Menschen erscheint es logisch, dass die Steinzeitvölker notgedrungen nur Rohkost gegessen haben. Die aufwändige Kochkunst konnte sich dem- STEINZEITDIÄT nach erst viel später entwickeln. Allerdings definiert die Nutzung des Feuers den Status der Menschwerdung. Dabei ging es sicherlich weniger um die Beleuchtung nächtlicher Aktivitäten oder das Verscheuchen wilder Tiere: Das Feuer erlaubte den Aufschluss der Stärke in Das Geheimnis des Kochens Es spricht viel dafür, dass die Kochkunst bereits zu Zeiten erfunden wurde, als noch keine geeigneten Gefäße und speziellen Herde zur Verfügung standen. Bei den Aborigines beispielsweise wird auf heißer Holzkohle geröstet, in Asche gebacken oder in Erdöfen gegart. Es gibt viele verschiedene Arten von Erdöfen. Peter Beveridge beschreibt sie wie folgt: Wenn die Aborigines einen geeigneten Platz gefunden haben, graben sie ein Loch von etwa 90 Zentimeter Durchmesser und 60 Zentimeter Tiefe. Sie füllen es mit Feuerholz auf und platzieren darüber ausgewählte Lehmstücke oder Bruchstücke von Termitenbauten. Wenn das Feuer abgebrannt ist, sind die Erdklumpen nicht nur verbacken, sondern auch glühend rot. Diese werden zunächst entfernt und die Feuerstelle gesäubert. Nun kommt eine dünne Grasschicht auf den Boden. Darauf legt man das Wild und bedeckt es erneut mit feuchtem Gras. Am Ende werden die rotglühenden Lehmbrocken hineingegeben und darüber Erde oder Sand verteilt, damit kein Dampf entweicht.14 Vom Erdloch zum Tongefäß Diese Öfen eignen sich nicht nur für Kleinvieh und Knollen, sondern auch für großes Wild wie Kängurus. Um den aufsteigenden Dampf im Ofen einzuschließen, wird die Öffnung schnell mit der Rinde des Melaleuca-Baums abgedichtet und mit Sand oder Erde bedeckt. Mehrere Personen halten während der Garzeit Ausschau nach austretendem Dampf. Gelegentlich muss dann erneut Erde nachgefüllt werden. Fällt diese auf die zu garenden Speisen, dann gilt das als Zeichen schlechter Kochkunst. Es gehört viel Erfahrung dazu, den Ofen zum richtigen Zeitpunkt zu öffnen, denn dieser hängt nicht nur von der Art und Menge des Gargutes ab, sondern auch von der Größe der Grube, der Zahl der Steine und der Hitze, die sie aufgenommen haben. Wird zu früh geöffnet, so entweicht der Wasserdampf und es ist aufgrund des Feuchtigkeitsverlustes nicht mehr möglich, den Ofen erneut zu schließen und das Gargut zuende zu kochen. Außerdem eignet sich nicht jedes Holz für diese Art von Ofen, da manche Hölzer Toxine beinhalten.12,62 Denkbar, dass die ersten Tongefäße auf diesem Wege entstanden sind: Wurden mit Lehm ausgekleidete Kochmulden immer wieder genutzt, wurde zwangsläufig auch die Erde ringsherum immer weiter eingetreten. Dabei blieb der durch das Kochfeuer gebrannte Lehmrand erhalten. Auf diese Weise erhielt man nach einiger Zeit eine Art Tongefäß. Danach war es relativ einfach, durch „Brennen” gezielt Gefäße zu erzeugen.52 Kostbare Kochsteine Aus den Erdöfen könnte sich auch die Praxis der Kochsteine entwickelt haben – ein Garverfahren, das auf der ganzen Welt üblich war. Dabei werden ausgewählte faust- bis kopfgroße Steine stark erhitzt und dann in das Essen gegeben, welches sich in speziellen Erdgruben, eigens dafür geflochtenen Kochkörben oder sonstigen Gefäßen wie Bisonmägen befindet. Durch ständiges Rühren verhindert man, dass die Kochkörbe Schaden nehmen. Mancherorts wurden ovale Steine direkt in die ausgenommene Körperhöhle von Vögeln gelegt, um diese zu garen. Zum Kochen eignen sich nur ausgewählte Steine: Sie dürfen weder in der Hitze noch bei der Zugabe zu kalter Flüssigkeit platzen und sollten natürlich den Geschmack der Speisen nicht nachteilig beeinflussen. Am besten werden diese Anforderungen offenbar von Basalt erfüllt. Kalifornische Indianer betrachteten Kochsteine als Familienbesitz und vererbten sie von Generation zu Generation weiter.5 Vom Kochstein zum Kochen mit Wasser war es nur noch ein kleiner Schritt. Vermutlich ist diese Praxis unabhängig an vielen Orten der Erde entstanden. Einen Entstehungsweg legen Beobachtungen bei den Yanomami am Amazonas nahe. Sie graben an einem sandigen Ufer ein Loch, das sich mit Wasser füllt. Dies kleiden sie mit Bananenblättern aus, und geben die zu garende Speise dazu. Dann legen sie die glühend heißen Kochsteine hinein.52 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT FÜNFTE THEORIE Knollen und die Zerstörung zahlreicher hitzelabiler Giftstoffe. Eine weitere Methode der Verarbeitung war die Fermentation. Sie erhöhte die Verdaulichkeit durch enzymatischen Aufschluss. Zugleich wirkte sie entgiftend. So zerstören beispielsweise die Sauerteigmikroben das Gluten des Getreides, das sonst Zöliakie verursachen kann.34 Durch eine Entgiftung per Hitze und Fermentation konnte die Menschheit ihren Speiseplan erheblich ausgeweiten. Das erlaubte es ihr, den gesamten Globus zu besiedeln. Und woher haben die ersten Menschen gewusst, dass sie ihre Nahrungsmittel vor dem Verzehr entgiften müssen? Diese Notwendigkeit war damals längst bekannt – und zwar bis hinein ins Tierreich. Es ist gewiss kein Zufall, dass etwa Blattschneiderameisen in großem Stil Fermentation betreiben. Oder dass Neuntöter giftige Insekten auf Dornen aufspießen und sie erst fressen, wenn deren Gift durch enzymatische Prozesse abgebaut ist. Papageien wiederum praktizieren Geophagie: Sie fressen gezielt eine bestimmte Art von Erde – nicht etwa, um Mineralstoffmangel auszugleichen, sondern um damit Giftstoffe wie Alkaloide in ihrer Nahrung zu binden. Gleiches wurde auch bei Affen beobachtet. Pica, wie die Geophagie beim Menschen genannt wird, ist bei vielen Naturgesellschaften verbreitet. Sie können dadurch giftige Pflanzennahrung wie alkaloidhaltige Nachtschattengewächse schadlos verzehren.115 Auch so genannte Naturvölker essen alles andere als unverarbeitete Nahrung. So „primitiv” ihre technischen Fähigkeiten ansonsten wirken mögen: Ihre Lebensmittelzubereitung befindet sich gewöhnlich auf einem hohen Niveau, vor allem wenn Pflanzen auf dem Speiseplan stehen, also wenn Antinutritiva entgiftet werden müssen. Typisches Beispiel sind die Aborigines Australiens, denen eine besonders „gesunde” Ernährung nachgesagt wird. Die Kargheit des Landes zwingt sie dazu, alle irgendwie nutzbaren Rohstoffe auszuschöpfen. Gleiches wird von den Indianern Nordamerikas berichtet.5 Das bedeutet nicht selten eine aufwändige „Genießbarmachung”, die sich für jede Speise ein wenig anders gestaltet. Das küchentechnische Wissen und die Erfahrung, die zur Zubereitung der vielen Lebensmittel erforderlich sind, entsprechen in ihrem Umfang mindestens den Lerninhalten, die sich ein Koch hierzulande aneignen muss. Im Falle von Yams entscheidet die Pflanzenart über die angewandte Technik. Die Aborigines beispielsweise entgiften die Yamswurzel Dioscorea bulbifera, indem sie die Knollen kochen und anschließend in Asche rösten, schälen, zerreiben und zerstoßen. Am Ende wird das Produkt mindestens einen Tag in flie- 21 STEINZEITDIÄT ßendem Wasser eingeweicht. Beim Ostindischen Pfeilwurz (Tacca leontopetaloides) kann das Kochen und Rösten den giftigen Bitterstoffen nichts anhaben. Deshalb lassen die australischen Ureinwohner die Knollen zunächst in der Sonne trocknen, um sie dann in ein Behältnis zu schaben und unter Wasserzugabe durch einen Grasmaschenkorb zu sieben. Diesen Prozess wiederholen sie so lange, bis das Wasser nicht mehr bitter schmeckt. Schließlich wird die gewonnene Stärke an der Sonne getrocknet und zu Kugeln geformt.61,62 Kochen und Evolution Dass der Mensch seine Nahrung von Anfang an in aller Regel verarbeitete, belegen die anatomischen Besonderheiten seines Verdauungstraktes. Dieser unterscheidet sich deutlich von dem seiner nächsten Verwandtschaft: Im Vergleich zu den Menschenaffen verfügt der Homo sapiens nicht nur über ein zierlicheres Gebiss, sondern auch über einen etwa auf die Hälfte reduzierten Enddarm. Das bedeutet, dass Schwerverdauliches wie Rohkost oder Körner in unserer Ernährung seit langem keine große Rolle spielen können. Unser Dünndarm hingegen, der der Aufnahme leicht verdaulicher, d. h. aufgeschlossener Nahrung dient, ist gut doppelt so lang wie bei Gorilla, Orang Utan und Schimpanse.96,97 Diese Verschiebung in der Länge der Darmabschnitte setzt einen küchentechnischen Aufschluss unserer Nahrung voraus. Demnach ist der Mensch an die Küche nicht nur angepasst, sondern benötigt diese auch tatsächlich, um nicht artgerechte Nahrung wie Rohkost oder Körner verzehren zu können. Das entscheidende Kriterium für ein „unschädliches” und im weitesten Sinne „gesundes” Lebensmittel stellt folglich seine korrekte Verarbeitung dar und keinesfalls seine Naturbelassenheit! Wer keine Küche hat, verbringt notgedrungen viel Zeit mit der Verdauung. Bonobos und Gorillas sind täglich nicht nur viele Stunden mit Nahrungssuche beschäftigt, sondern benötigen gleichermaßen ausgedehnte Verdauungspausen.33,44 Der geringere verwertbare Nährstoffanteil von Rohkost und der größere Aufwand bei ihrem Aufschluss kostet unsere äffische Verwandtschaft Zeit und bindet Kräfte. Die Erfindung von Herd und Küche markiert deshalb einen Wendepunkt in der Evolution des Menschen. Die Nahrungsaufnahme beschränkt sich seither auf wenige Stunden, Magen und Darm werden entlastet. Außerdem steht damit Zeit für andere, schöpferische Tätigkeiten zur Verfügung. Ohne Küche gäbe es keine kulturelle Evolution. Ihre Bedeutung ist vergleichbar der Erfindung der Schrift. 22 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE STEINZEITDIÄT Sechstes Steinzeitmärchen: Dank frischer Kost blieben alle kerngesund Die Fachwelt hat eine klare Vorstellung, wie der Mensch seine Gesundheit verlor: Durch den Sündenfall in Form einer verfeinerten Küche. Nicht der frische Apfel aus dem Paradies, sondern die duftende Apfeltasche aus dem Fast-Food-Restaurant brachte Unheil über die Völker. Nancy McGrath-Hanna von der University Alaska Fairbanks glaubt: „Der Wandel der traditionellen Ernährung hat bereits zu einem Anstieg von Gesundheitsproblemen wie Fettsucht, Herz-KreislaufErkrankungen und Diabetes geführt; gleichzeitig hat sich auch die seelische Gesundheit der zirkumpolaren Völker substanziell verschlechtert ... das zeigt sich an der Zunahme von Depressionen, jahreszeitlich bedingten depressiven Störungen (SAD), Angstzuständen und Selbstmorden ...”91 So oder so ähnlich lauten die Einsichten der Experten auch aus anderen klimatischen Zonen. Kurzum: Das Essen ist an allem schuld. Dennoch liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Wildnis bekanntermaßen niedriger als in der Zivilisation. Auch wenn unsere Gesellschaft gerne über die „bedrohliche Zunahme” von Zivilisationskrankheiten klagt, ist sie gleichermaßen besorgt über die wachsende Zahl der „fitten Alten”, denen sie bis ins hohe Alter Renten zahlen muss. Woran aber sind eigentlich die „gesunden Wilden” damals gestorben? Wurden sie vielleicht von Eisbären oder Löwen gefressen, während sie ihrem gefährlichen jagdlichen Handwerk nachgingen? Wohl kaum, denn Jäger kennen ihr Terrain wie ihre Hosentasche und ihre Jagd hat wenig mit unserer Vorstellung von Rotkäppchen gemein, das sich im finstren Tann verirrt und dort dem bösen Wolf begegnet. Großwild wird auch nicht nach Art der Gladiatoren im offenen Zweikampf mit dem Kurzschwert erlegt, sondern mit Heimtücke: mit Fallen, Feuer oder Giftpfeilen. Alkohol statt Fleisch Die Berichte über den Gesundheitszustand naturverbundener Völker streuen genauso stark wie die über ihre Essgewohnheiten. Das liegt nicht nur daran, dass es zwischen den verschiedenen Gesellschaften gesundheitliche Unterschiede gegeben haben muss, sondern gleichermaßen an der Erwartung des Beobachters. Wie ein roter Faden zieht sich die Auffassung durch die Literatur, dass Krankheiten entweder unbotsamem Verhalten gegenüber den aktuellen Gottheiten oder einer liederlichen Ernährung entspringen. So behauptete 1925 der Pathologe Max H. Kuczynski über das kirgisische Volk, sein Gesundheitszustand werde durch den übermäßigen Konsum tierischer Nahrung ungünstig beeinflusst, zumal die körperliche Tätigkeit wohlhabender Kirgisen sehr gering sei. Als Folgen nennt Kuczynski eine verringerte Fruchtbarkeit, Störungen des Cholesterinstoffwechsels, frühzeitiges Altern (Arcus senilis), Arteriosklerose sowie „Neurasthenie” und „exsudative Diathese”. Sein Fazit: „Man schwelgt nicht ungestraft in Hämmeln und Kumys.”74 Den verweichlichten Kirgisen stellt der Autor ein vor Gesundheit strotzendes Völkchen entgegen: die russischen Bauern. Im Alter von 70 (!) Jahren seien das immer noch „Männer mit voller nicht ergrauter Behaarung, erhaltener Geschlechtsfunktion, jugendlichem Aussehen. Niemals üppig ernährte Leute, fast immer stärkste Alkoholiker, Männer, die sich von ... recht wenig Fleisch ernährten und sämtlich beständig körperlich gearbeitet haben.”74 Es sei dahingestellt, ob die Jugendlichkeit des russischen Bauern wirklich daher rührte, dass er sich keinen Braten leisten konnte und sein Los nur ertrug, weil er soff. Wäre der Vergleich zwischen Kirgisen und Russen genau umgekehrt ausgefallen, hätte es natürlich auch an der Ernährung gelegen: In diesem Fall wäre die hochwertige Fleischkost der Grund für Gesundheit und der Schnapskonsum die Ursache von Neurasthenie und Diathese gewesen. Aus Sicht des Abendlandes kann allein eine entsagungsvolle Kost wahre Gesundheit ermöglichen. Man denke nur an die Tungusen, die den Mäusen ihre Vorräte wegaßen – eine Kost, die sogar den wilden Honig und die Heuschrecken von Johannes dem Täufer in den Schatten stellt. Prompt will 1875 der baltisch-deutsche Zoologe Alexander von Middendorff bei diesem Volk einen vorzüglichen Gesundheitszustand festgestellt haben. Er traf sogar „rüstige Greise”, die sich als Väter von Säuglingen vorstellten. Selbst der unerträgliche Zeltrauch vermochte ihren guten Augen bis ins hohe Alter nichts anzuhaben.155 So abenteuerlich Middendorffs Darstellungen auch wirken mögen: Sie könnten durchaus der Realität entsprechen. Denn chronische Krankheiten wurden in der Wildnis ganz anders „behandelt” als in einem modernen Sozialstaat mit Rehakliniken und Krankengeld. EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE Wer in der Südsee, im Urwald oder im ewigen Eis an Diabetes erkrankte, starb daran recht bald. In vielen Gesellschaften war es zudem üblich, Kranke und arbeitsunfähige Alte auszusetzen oder zu töten. Wenn aber Sieche den Bären als Futter angeboten wurden, trifft der Beobachter auf eine erstaunlich gesunde Population, in der sogar die wenigen alten Menschen ziemlich fit sind. Wobei niemand weiß, wie jung jene wirklich waren, die so aussahen wie „rüstige Greise”. Selbst heute ist nur rudimentär bekannt, wie es um die Gesundheit von Ureinwohnern steht. Australische Aborigines, die noch ihre traditionelle Lebensweise praktizieren, sollen vor allem durch Tuberkulose, Arteriosklerose, Infekte sowie durch Unfälle und Gewalttaten zu Tode kommen. Daneben sind offenbar auch Erkrankungen durch Parasiten wie Bandwürmer, Peitschenwürmer und Hakenwürmer relativ häufig.99 Werden die Menschen zur Aufgabe ihrer traditionellen Lebensweise genötigt, dann ändert sich das Krankheitsspektrum erneut. Eine kanadische Studie erläutert dazu: „Die bei weitem wichtigste Gruppe von Gesundheitsproblemen sind die so genannten Sozialpathologien – Gewalt, versehentliche Verletzungen und die negativen Effekte von Alkohol und Drogen. Bei den Aborigines sind Verletzungen im Allgemeinen für rund ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich.”162 Diese Wirkungen der Zivilisation sind verheerend, aber nicht aufgrund von Würfelzucker oder Dosenfisch, sondern wegen der offensichtlichen Entwurzelung der Menschen. Der Polarforscher Jean Malaurie, der über 30 Expeditionen in die Arktis unternahm, fasst die Folgen in wenigen Zahlen zusammen: „In den Jahren 19901992 lag die Selbstmordquote [= Suizide pro 100 000 Einwohnern, Anm. d. Red.] bei den Inuit nach offizieller kanadischer Statistik bei 39,7 Prozent ... In Grönland kamen von 1962-1966 auf 100.000 Einwohner 19,4 Selbstmorde, 1980-1986 waren es 114,1. Wir haben diesem Volk einen tödlichen Virus übertragen.”88 Kaputte Zähne und perverser Sex Der Mythos vom „gesunden Wilden” wurde vor allem von den Arbeiten des Zahnarztes Weston A. Price geprägt. Er untersuchte systematisch die Gebisse unterschiedlichster Völker und dokumentierte die Ergebnisse in seinem Werk Nutrition and Physical Degeneration, das erstmals 1939 in den USA erschien.118 Seine Beobachtung: Bei natürlicher Kost waren die Zähne weitgehend frei von Karies, und die Menschen hatten ausnahmslos gesunde Kiefer mit breiten Zahnbögen, in denen die Zähne wohlgeordnet 23 STEINZEITDIÄT und ohne jede Verwachsung hervorblitzten. Die Küche der Weißen hingegen führte zu deformierten Kiefern, schiefen Zähnen und kariösen Gebissen. Diese Erkrankungen blühten auch den Einheimischen, wenn sie sich zu der ungesunden Kost hinreißen ließen. Dabei ist schwer vorstellbar, dass die von Price fotografierten verformten Kiefer von Zuckerkonsum und Vitaminmangel durch Weißmehl rühren sollen. Den Beweis liefert Price selbst, wenn er auf die Behandlung seiner Patienten mit hochdosiertem Lebertran verweist. Wie er schreibt, sei diese Methode gerade bei Karies sehr erfolgreich gewesen und habe bei Konsum während der Schwangerschaft zu einem wohlgeformten Gebiss des Nachwuchses beigetragen. Das spricht für das Vorliegen einer Rachitis, d. h. eines Mangels an Licht. Bei der Lebensweise der von Weston Price beobachteten Eingeborenen ist dieser Mangel eher unwahrscheinlich. Deformierte Knochen bzw. schiefe Kieferformen sind ansonsten eher eine typische Folge von Hunger, Infektionskrankheiten, Parasiten und Toxinen während der Schwangerschaft. Price berichtet beispielsweise von seiner Afrikaexpedition, dass die Darminfektionen so häufig und auch so schwerwiegend waren, dass er nichts aß, was nicht gründlich gekocht worden war.118 Es ist also kein Wunder, wenn die Nachkommen der Kolonialisten unter den unbekannten und für sie oft lebensfeindlichen Bedingungen ihrer neuen Heimat nicht besonders gesund aussahen. Aber wohl kaum, weil sie Marmeladenbrötchen aßen. Dass die Ankunft von Forschern, Missionaren und Soldaten auch für die Einheimischen alles andere als „gesund” war, ist eine Binse. Schließlich schleppten die Fremden jede Menge neue Krankheitserreger und Parasiten ein, die dann die Urvölker dezimierten. Price ist der geistige Vater der Vollwerternährung. Er war es, der mit seinen Gebissfotos den sichtbaren Beweis erbringen wollte, dass Zucker und Weißmehl zur Degeneration der Völker führen. Mit Zeitungsausschnitten versuchte er zu belegen, dass teilwertige Kost nicht nur die Gebisse verformt, sondern auch zu bösen Taten verleitet. Unter einer Fotoserie lesen wir: „Kriminelle. Rührten ihre unsozialen Züge direkt von einer unvollständigen Gehirnorganisation im Zusammenhang mit vorgeburtlichen Schäden her?” Woher die fehlende Organisation des Gehirns herrührt, ist dem Leser natürlich klar: vom Vitaminräuber Zucker. Price denkt ganzheitlich: Eine falsche Kost führt sowohl zu „körperlichem” als auch zu „geistigem und moralischem Verfall”. Ein paar Seiten weiter tauchen Fotos mongoloider Patienten auf, deren Kieferform klar 24 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE auf „Verhaltensstörungen” hinweist. In einem Fall erwähnt Price sogar „perversen Sex” als Ernährungsfolge. Sein Fazit: „Das Durchschnittsniveau der allgemeinen Fähigkeiten in diesem Land nimmt mit jeder Generation weiter ab. Sollten nur diejenigen Bürger ein Wahlrecht haben, die für sich selbst sorgen können?” Mit anderen Worten: Das Wahlrecht nur noch für Vollwertköstler? Price hatte bei seinen ausgedehnten Reisen durch eine unbekannte Wildnis mit großem Fleiß alles zusammengetragen, was aus seiner Sicht bewies, dass die moderne Kost die Ursache für allerlei Zivilisationskrankheiten bildet und dass dies über kurz oder lang zum Untergang des Abendlandes führen musste. Seine Beobachtungen ergänzte er mit Versuchen an Ratten, denen er entweder Weizen, Weißmehl oder die Randschichten fütterte. Während die erste Gruppe fröhlich gedieh, zeigten sich bei den beiden letzteren massive Gedeihstörungen. Im Gegensatz zur Auffassung von Price, Kollath oder Bruker lässt sich daraus aber nicht schließen, dass die Menschheit durch Weißmehl Schaden nimmt und durch Vollkorn genesen könnte, sondern lediglich, dass die Ratte ein Nagetier ist. Natürlich gibt es neben Beispielen für kariöse Zähne durch Zucker oder Stärke auch Völker, die ganz im Sinne von Price praktisch nie Fruchtsäuren, Stärke oder Zucker zu essen bekamen, so dass Karies bei ihnen so gut wie unbekannt war. Über die indigenen Völker des Amazonas-Regenwaldes heißt es, dass die meisten Gruppen sehr gute Zähne hatten – bis auf die Arawete, die ein auffällig schlechtes Gebiss aufwiesen. Letztere aßen vor allem Mais, ein traditionelles Grundnahrungsmittel des Kontinents.95 Bei den Polarvölkern wiederum waren die Zähne durch das ständige Weichkauen von Fellen und Sehnen zur Herstellung von Kleidung komplett abgewetzt, weshalb schließlich nur noch ein schmaler weißer Saum über dem Zahnfleisch hervorlugte.127 Prähistorische Funde belegen, dass die Menschheit zu allen Zeiten in der Geschichte an Karies litt, wenn auch meist seltener als heute. Zahnfäule trat früher bevorzugt als Wurzelkaries und Periodontitis auf.8,48 So lebte der älteste Hominide mit Paradontose vor drei Millionen Jahren.79 Bei den ob ihrer gesunden Ernährung gern zitierten Trobriandern (Melanesien) ist Karies zwar selten, die Parodontose dafür weit häufiger.19 Manche Experten führen dieses Phänomen auf das Mahlen von Körnern aller Art zurück: Der dabei aufgetretene feine Abrieb der Mahlsteine soll beim Verzehr die Zahnkrone und damit das Werk der Kariesbakterien stets von neuem abgeschliffen haben.8,112 STEINZEITDIÄT Krank durch Zivilisation? Um es mit einem Musiktitel der Gruppe Fury in the Slaughterhouse zu sagen: „Every generation got it’s own disease”. Zivilisationskrankheiten sind Krankheiten infolge von Lebensbedingungen, die es vielen Menschen erlauben, ein hohes Alter zu erreichen – selbst dann, wenn an diesen Krankheiten auch jüngere Menschen leiden. In aller Regel ist die Zunahme an Lebenserwartung eine Folge von reichlich verfügbarer Nahrung und nachhaltiger Hygiene. Dabei sind Zivilisationskrankheiten alles andere als neu. So litt bereits der naturverbundene „Ötzi”, dem neuerdings eine vegane Ernährung angedichtet wird, an Arteriosklerose und Arthritis.20 Ein einschlägiges Lehrbuch der Paläopathologie des Menschen widmet nicht umsonst dem Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder endokrinologischen Malaisen ebenso viel Aufmerksamkeit wie Infektionen oder Parasitosen.8 Die sterblichen Überreste von Menschen, die bei Ausgrabungen zutage gefördert werden, sind daher wie zu erwarten kein Beispiel für einen Tod bei exzellenter Gesundheit. Das gilt nicht nur für mittelalterliche Friedhöfe oder ägyptische Mumien: Auch bei jenen Populationen, die von europäischen oder amerikanischen Ärzten als Musterbeispiel für jegliche Freiheit von Zivilisationskrankheiten angeführt werden, litten zumindest die Vorfahren nachweislich unter diesen Krankheiten. Über die Häufigkeit lässt sich allerdings keine Aussage treffen. Da im Falle von Naturgesellschaften weder Diagnosen nach westlichen Maßstäben noch Totenscheine vorliegen, hängt die Interpretation ihrer Krankheitsarten und -häufigkeiten meist von der persönlichen Meinung des Beobachters ab. Wie sonst ist wohl zu erklären, dass beispielsweise Diabetes bei den Inuit dermaßen unterschiedlich verteilt auftritt, dass die Erkrankungsrate in Alaska 50-mal so hoch liegt wie bei den benachbarten sibirischen Tschuktschen?39,161 Ausschlaggebend dürften hier die Unterschiede in der Diagnostik sein: US-Ärzte sind offenbar eher auf der Suche nach einer „benachteiligten” Klientel, während sich die Moskoviter nicht so sehr dafür interessieren, wo in Sibirien der Schuh drückt. Daneben könnten genetische Unterschiede eine Rolle spielen, denn die „Eskimos” sind eine bunte Mischung von Völkern unterschiedlichster Abstammung. Nicht zuletzt wurden einige dieser Gesellschaften entwurzelt und fristen nun ihr Leben in Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Disstress jedoch ist ein entscheidender Faktor für den Ausbruch von Diabetes.92 Ein hartnäckiger Mythos besagt, dass in der Wildnis EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE keine Krebserkrankungen vorkommen. Der Eskimoforscher Vilhalmur Stefansson verfasste sogar ein Buch mit dem Titel Cancer: A Disease of Civilization?.138 Gleiches behaupten die Ärzte Albert Schweizer über die Afrikaner und Robert McCarrison über die Hunza. McCarrison begründet seine These damit, dass die Hunza „weit entfernt von den raffinierten Lebensmitteln der Zivilisation leben”.124 Doch Krebs ist nicht etwa eine neuzeitliche Strafe für das kulinarische Sündenbabel des Westens, sondern vielmehr Millionen Jahre vor dem Erscheinen des Menschen auf der Erde nachweisbar. Bereits Versteinerungen von Dinosauriern aus der Kreidezeit erlauben zweifelsfrei die Diagnose Knochenkrebs8 – wobei es eher unwahrscheinlich sein dürfte, dass die Dinos eine Zivilisation, geschweige denn Weißmehl und raffinierten Zucker besaßen ... Unter den zivilisationsfernen Naturvölkern sind wohl die !Kung in der Kalahari am besten untersucht. Hier geht man bei traditioneller Lebensweise von knapp zehn Prozent der Todesfälle durch kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs aus, die wichtigsten Todesursachen sind Infektionen, Parasitosen und Unfälle.28 Bei kanadischen Eskimos wird heute deutlich seltener Krebs diagnostiziert als bei ihren weißen Landsleuten. Allerdings führt er bei den Ureinwohnern häufiger zum Tode.87 Die geringere Krebshäufigkeit ist aber nicht etwa einer gesünderen Kost zu verdanken; ebenso wenig liegt die höhere Sterblichkeit an einer schlechteren ärztlichen Versorgung. Entscheidend ist lediglich die Tatsache, dass es bei den Inuit keine Früherkennung gibt. Einerseits kommt es dadurch zu weniger falsch-positiven Befunden, also zur Diagnose „Krebs” ohne tatsächliche Erkrankung, weshalb die Krebsrate niedriger ausfällt. Andererseits liegt der Anteil der tödlichen Erkrankungen entsprechend höher. Bei den Aborigines in Australien gilt Krebs ebenfalls als selten. Gleichzeitig weisen Völkerkundler darauf hin, dass sich hier vor allem ältere Kranke scheuen, einen Arzt aufzusuchen – auch aus der Angst heraus, schließlich im Krankenhaus fern ihrer Familie sterben zu müssen.99 Diese Interpretation erklärt, warum europäische oder nordamerikanische Ärzte, die irgendwo im Busch eine Krankenstation betreiben, manche Krankheiten nur selten zu Gesicht bekommen und dann von einer krebs- oder von sonstwas-freien Population schwärmen. Damit ist allerdings nicht auszuschließen, dass manche dieser Krankheiten bei den Naturvölkern – auch alterstandardisiert – tatsächlich seltener auftreten. 25 STEINZEITDIÄT Endlich sesshaft Welche Folgen hatte der Übergang vom Jäger-undSammler-Dasein zur Sesshaftigkeit? Er verkürzte zunächst deutlich die Lebensdauer. Zahlreiche archäologische Funde in aller Welt belegen, dass die Bauern zunächst kränker waren als die Wildbeuter.28,40 Von den Gesundheitsrisiken des sesshaften Lebens zeugen beispielsweise zwei prähistorische Stätten in Kentucky: Während die Menschen von Indian Knoll halbnomadische Jäger und Sammler waren, lebten die Bewohner im nahe gelegenen palisadenumzäunten Hardin Village von der Landwirtschaft. Die Skelettfunde belegen, dass die Lebenserwartung bei den Bauern niedriger lag als bei den Wildbeutern. Außerdem starben bei den Sesshaften mehr Kinder. Erst nach etwa acht Generationen lebten die Landwirte so lange wie die Halbnomaden.24 Wie aber konnte die frühe Landwirtschaft dazu führen, dass sich der Gesundheitszustand verschlechterte? Nun: Damals kam es zu einer Zunahme von Störungen der Knochenbildung, z. B. Hyperostosen (porotic hyperostosis) oder siebartig perforierten Augenhöhlendächern (cribra orbitalia), die bisher meist als Folge falscher Ernährung, insbesondere als „Eisenmangel” interpretiert wurden. Der tatsächliche Grund für die Krankheit sind allerdings Parasiten wie Bandwürmer, Plasmodien oder Tuberkelbazillen.13,16,28,157 Das verwundert kaum, denn bei sesshaften Populationen nimmt die Durchseuchung zwangsläufig zu. Wie die heute verstärkt propagierte Massengeflügelhaltung im Freiland beweist, kommt es eben vermehrt zum „Recycling”, wenn Lebewesen am gleichen Platz koten und fressen. Überdies erweitert sich das Erregerspektrum durch den Kontakt zu Wildtieren wie Nagern und Vögeln, die ebenfalls vom Futter angelockt werden (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2003/H.1). Neben den Krankheitserregern spielte der Hunger eine zentrale Rolle. Denn dieser schadet im Gegensatz zum Überfluss tatsächlich der Gesundheit. Wer Ackerbau betreibt, ist abhängig vom Ertrag seiner Kulturen. Im Fall einer Missernte – und dafür gab es viele Ursachen – (ver)hungerten die Menschen. Anders als die Bauern konnten die Sammler und Jäger zwischen vielen verschiedenen essbaren Pflanzen bzw. Tieren wählen und waren längst nicht so stark vom Wetter oder Schädlingen abhängig. Belegen lässt sich dies anhand der so genannten Stresshypoplasie, die wiederum mit einer erniedrigten Lebenserwartung einhergeht. Dabei handelt es sich um Veränderungen an den Zähnen, die durch massiven körperlichen Stress während der Wachstumsphase entstehen. Die wichtigsten 26 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE Auslöser der Hypoplasie sind Hungersnöte und schwere Infektionen in der Kindheit.8,48 Mit zunehmender Hygiene änderte sich das Krankheitsspektrum erneut. Denn der Sieg über Infektionserreger und Parasiten hatte ebenfalls einen Preis: Unser Körper ist so sehr auf diese immerwährende Bedrohung fixiert, dass er ersatzweise nach einem neuen Feindbild sucht. Auf diese Weise soll die „Zivilisationskrankheit” Allergie entstanden sein. Inzwischen gibt es immer mehr Belege, wonach ein Fehlen von Parasiten und Krankheitserregern auch bei Autoimmunerkrankungen wie Diabetes eine wichtige Rolle spielt. Damit wären die Zivilisationskrankheiten weniger eine Strafe für das verspielte Paradies, als vielmehr der Tribut für eine höhere Lebenserwartung. Zauberhafte Südsee In der Fachpresse ist seit einiger Zeit von einem neuen Wundervölkchen die Rede. Diesmal sind es nicht die rüstigen Greise aus dem Hunzatal, sondern die legendären Trobriander der Südsee. Sie waren schon mal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten, als nach dem Ersten Weltkrieg der polnische Forscher Bronislaw Malinowski die Geheimnisse ihres Liebeslebens in Erfahrung brachte und damit Experten in Erregung versetzte: Da gab es am Ende der Welt doch tatsächlich Menschen, die meinten, dass nur die konsequente Befeuchtung den Mädels eine geschmeidige und gesunde Vagina beschert – weshalb sich das Leben der Insulaner vorzugsweise um die Gesunderhaltung der holden Weiblichkeit gedreht haben soll.89 Und nun vermeldet Staffan Lindeberg von der Universität Lund, dass auf der Trobriand-Insel Kitava (Melanesien) selbst heute keinerlei Zivilisationskrankheiten bekannt seien: „In unserer Gesundheitsstudie ... stellten wir fest, daß die Population frei von Übergewicht, Bluthochdruck, Hyperinsulinämie, ischämischen Herzerkrankungen, Schlaganfall und Fehlernährung war. Auffällig war das Fehlen des metabolischen Syndroms.”82,83 Noch verblüffender erscheint das im Lichte dieser Erkenntnis: „Der Anteil der Raucher lag bei Männern bei 75 Prozent, bei Frauen bei 80 Prozent ... das geschätzte Niveau der körperlichen Aktivität ... ist etwas höher als bei westlichen Populationen mit vorwiegend sitzender Betätigung.”82 Für Lindeberg ein Beweis, dass gesunde Kost sogar vor den Folgen eines ungesunden Lebensstils schützt. Immerhin wird er in einem Punkt von anderen Beobachtern bestätigt: Das Rauchen sowohl in dieser als auch in anderen Naturgesellschaften soll nicht die nachteiligen Effekte haben wie in industrialisierten Ländern.4,66,150,160 STEINZEITDIÄT Deutsche Ärzte, die auf den Inseln arbeiteten, stimmen in das Loblied Lindebergs von den gesunden Eingeborenen ein: Klassische Zivilisationskrankheiten wie Herzinfarkt, Diabetes oder Krebs seien auf Kitava sehr selten und Übergewicht völlig unbekannt.19,67 Dafür litten die Insulaner jedoch an „wurmbedingten Anämien, Tuberkulose und Polyarthritis rheumatica” sowie an Infekten, Verletzungen, infizierten Wunden, Malaria, Hexenschuss, Kopfweh und Arthritis.19 Ihr tatsächlicher Gesundheitszustand lässt sich also nur schwer einschätzen – vor allem, weil Trobriander-Frauen im Gegensatz zu Männern nicht gerne zum Arzt gehen. Insgesamt, so ein deutscher Mediziner, zeigten die Inseln das typische Krankheitsspektrum eines DritteWelt-Lands.19 Wie es dazu kommt, dass die Südseebewohner relativ schlank, aber nicht unterernährt sind, ist bislang unklar. Neben genetischen Gründen könnte auch der weit verbreitete Drogenkonsum (Kauen von Betel)67 eine Rolle spielen, der bekanntermaßen das Hungergefühl unterdrückt. Keinesfalls aber lassen sich die Beobachtungen auf Kitava verallgemeinern, schließlich ist die Fettsucht auf anderen Inseln Ozeaniens wie beispielsweise den Fidschi-Inseln relativ häufig. Traditionell wurden dort beleibte Menschen geschätzt, denn Körperfülle war ein Zeichen für einen gesunden Körper. Gewichtsverlust hingegen galt als Krankheit, die mit appetitsteigernden Kräutern bekämpft werden musste. Fest steht zumindest, dass die Trobriander ein biologisches Merkmal aufweisen, das Naturgesellschaften auf der ganzen Welt von Zivilisationen unterscheidet: Sie leiden nicht unter Bluthochdruck. Ihre Werte steigen zudem nicht mit dem Alter an, sondern entsprechen denen ihrer Jugend.46,76,77,93,101,109,143,163,164 Diese Tatsache wird gewöhnlich mit einem bescheidenen Salzkonsum begründet. Als Beweis sollten die Kuna-Indianer von den San-Blas-Inseln vor der Küste Panamas dienen. Doch das misslang gründlich: Als die Kuna Handelsbeziehungen zum Festland aufnahmen, stieg zwar ihr Salzkonsum – ihr Blutdruck blieb jedoch unverändert. Bei solchen Indianern hingegen, die in der Hauptstadt Panama City lebten, entsprachen die Blutdruck- und BMI-Werte denen der übrigen Großstädter. In Kuna Nega, einem Vorort von Panama City, in dem die Kuna mehr oder weniger so lebten wie früher, lagen die Werte genau zwischen denen, die in den beiden anderen Untersuchungen ermittelt wurden.57,117 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE Von Wilden, Nonnen und Voodoo Ähnliche Ergebnisse kommen aus dem modernen Europa. Als Wissenschaftler 30 Jahre lang statt so genannter „Wilder” italienische Nonnen begleiteten, stellten sie fest, dass sich deren Blutdruck genauso verhielt wie bei den Kuna-Indianern: er stieg über die Jahre nicht an und es kam bei ihnen auch seltener zu kardiovaskulären Todesfällen als bei einer Vergleichsgruppe von Italienerinnen. Da in Italien selbst in den Klöstern italienisch gegessen wird, dürfte der Unterschied wohl kaum an der Küche liegen. Den Autoren blieb schlussendlich nichts anderes übrig, als „psychosoziale Faktoren” und den „überkommenen friedlichen Lebensstil der Nonnen” für die Unterschiede verantwortlich zu machen.147,148 Dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zufolge ist ein starkes Kohärenzgefühl für die Erhaltung der Gesundheit unentbehrlich. Kohärenz beinhaltet die Zuversicht, dass es auch bei unvorhergesehenen und belastenden Ereignissen Möglichkeiten der Bewältigung gibt oder das Vertrauen, aus eigener Kraft oder mit fremder Unterstützung künftige Lebensaufgaben meistern zu können.6 Beste Voraussetzung dafür ist das Gefühl, in seiner Welt geborgen zu sein. Angehörige von Naturgesellschaften legen nicht selten ein Vertrauen an den Tag wie bei uns allenfalls die Kinder. Es geht dabei weniger um das „Soziale”, sondern um das Gefühl der Geborgenheit, der Berechenbarkeit der Zukunft, um ein kohärentes gedankliches System, das die Welt erklärt. Versucht man die auslösenden Faktoren von Bluthochdruck zu definieren, scheinen die immer wieder betonten sozialen Aspekte nicht so wichtig zu sein.31 Schließlich gibt es auch in Zivilisationen wirksame Sozialsysteme, intakte Familien und hilfreiche Nachbarschaften – und dennoch ist der Blutdruck in urbanen Gesellschaften höher.43,69,82,83,84,131 Neben dem Disstress, der zweifellos eine wichtige Rolle spielt149, wurden als Einzelfaktoren die Existenz einer Geldwirtschaft sowie „Multikulti” ermittelt. Der Grund: Je mehr Kontakte zu Menschen anderer Kulturen bestehen und damit zu deren Vorstellungen und moralischen Normen, welche wiederum die eigene Lebensanschauung in Frage stellen können, desto höher der Blutdruck.156 Wichtig scheint auch die Einstellung der jeweiligen Gesellschaft zum Tod zu sein. Wer die Toten nicht am Friedhof vergisst oder sie in einem fernen abstrakten Himmel wähnt, wo sie auf das Jüngste Gericht warten, sondern wer in einer Welt lebt, in der die Ahnen stets gegenwärtig sind, weil sie die Menschen durch das Leben begleiten, wer sie in den Bäumen und Tieren 27 STEINZEITDIÄT wiederzuerkennen glaubt, der empfindet eine ganz andere Geborgenheit in der Welt, in der er lebt. Folglich geht es dabei weniger um die Art der Religion als vielmehr um ihren Inhalt. Denkbar ist auch, dass die Einstellung zur Sexualität eine Rolle spielt. Denn die meisten Naturgesellschaften – nicht nur die Trobriander – gehen mit ihr etwas unverkrampfter um als viele „zivilisierte” Kulturen oder halten sie sogar für einen zentralen Lebensinhalt ihrer Gesellschaft. Krankheitsdrohung – Genesungswunsch Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Bedeutung der Kohärenz am so genannten Voodoo-Tod. Dort, wo der Glauben an Geister noch tief verwurzelt ist, kann der Medizinmann einen Menschen töten, indem er ihn verflucht. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft, der Verlust sämtlicher sozialer Bindungen und die feste Überzeugung, dass er nun sterben muss, bedeuten für das Opfer das Ende jeglicher Kohärenz. Der seelische Schock ist so groß, dass der Betroffene innerhalb weniger Stunden bis Tage tatsächlich an den Folgen massiver körperlicher Stressreaktionen stirbt. Herbert Basedow, Geologe, Arzt, Anthropologe und Chief Protector der Aborigines, beschreibt einen solchen Vorfall bei den Aborigines: „Der Mann, der bemerkt, daß man mit dem Knochen auf ihn zeigt [ihn verflucht], bietet einen wahrhaft jämmerlichen Anblick. Voller Entsetzen starrt er den heimtückischen Gegner an und hebt die Hände, als ob er das Gift, von dem er glaubt, daß es nun in ihn eindringe, dadurch abwehren könne. Seine Wangen sind bleich, seine Augen werden glasig und sein Gesichtsausdruck verzerrt sich in schrecklicher Weise ... Er versucht zu schreien, aber gewöhnlich bleibt ihm der Ton im Halse stecken, und allenfalls ist Schaum vor dem Mund zu erkennen. Sein Körper beginnt zu zittern, und die Muskeln zucken unwillkürlich. Er schwankt und fällt rückwärts zu Boden, bald darauf scheint er ohnmächtig zu sein. Aber kurze Zeit später krümmt er sich wie im Todeskampf und beginnt zu stöhnen, während er sein Gesicht mit den Händen bedeckt ... Schon bald wird sein Tod eintreten.”12 Solche Phänomene sind nicht nur aus der Wildnis bekannt, sondern auch aus unserer modernen Welt. Als Forscher an der University of California in San Diego die Zahl der Herztoten asiatischer Herkunft mit der von Personen europäischer Abstammung verglichen, stellten sie fest, dass bei den Asiaten am Vierten des Monats 27 Prozent mehr Herztote zu verzeichnen waren als an anderen Tagen.113 Die „logische” Ursache: Im Chinesischen klingt das Wort „vier” wie 28 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT SECHSTE THEORIE das Wort „Tod”, weshalb die Zahl Vier als Unglücksbringer gilt. Der Glaube an die todbringende Kraft einer Zahl ist zur sich selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Vor diesem Hintergrund werden die aktuellen „Warnungen” auf Zigarettenpackungen zu Krankheits- und Todeswünschen. Warum wünscht man den Rauchern nicht einfach „Gesundheit!”? Es liegt viel näher, den Schilderwald in unseren Straßen, die ständigen Warnungen vor belanglosen Gefahren, undurchsichtige Gesetzeswerke oder einen kafkaesken Verwaltungsapparat als Ursache von „Zivilisationskrankheiten” anzusehen, als den Tatbestand, dass die Menschen satt werden. Vielleicht ist für jene Zeitgenossen, die in freier Natur geboren wurden und lebten, der Verlust des vertrauten und gewohnten Weltbildes ein Stressor ersten Ranges. Wenn es bei den Aborigines nach der Übernahme der westlichen Lebensweise verstärkt zu Bluthochdruck, Fettsucht am Stamm, Diabetes, HerzKreislauf-Erkrankungen und Insulinresistenz kommt106, dann deutet dies auf die Wirkung von Glucocorticoiden wie Cortisol hin. Von Schamanen und Missionaren Aber auch ein in der Wildnis praktizierender Schamane garantiert nicht zwangsläufig Geborgenheit. Als Knud Rasmussen einen Geisterbeschwörer nach den Lebensregeln der Inuit befragte, bekam er zur Antwort, dass man sich in erster Linie „fürchte”: vor dem Wetter, der Erde, dem Hunger, der Krankheit, den Seelen der getöteten Tiere und vor den „Geistern der Erde und der Luft”. Dazu kommen zahllose Tabus, die auf Schritt und Tritt Ängste auslösen.119 Edgerton folgert im Rahmen einer Analyse, die klären sollte, ob Naturvölker tatsächlich in Frieden und im Einklang mit der Natur leben oder in Unverständnis, gravierenden Fehleinschätzungen und Angst: „Vieles von dem, was die Menschen in Naturvolkgesellschaften glauben und praktizieren, schadet der Gesundheit. Doch manche Gesellschaften schützen ihre Mitglieder vor den Belastungen des Lebens, indem sie Glaubensvorstellungen und Praktiken aufrechterhalten, die das Wohlbefinden erhöhen.”40 Allerdings scheint die Zahl derer, die in Verzweiflung leben, infolge der Blutbäder der Kolonialisten gestiegen zu sein. Die Onge auf den Andamanen erzählen aus ihrer Vergangenheit, als sie noch Wildschweine, Seekühe und Schildkröten jagten: „Damals waren wir viele Onge, wir hatten keine Angst vor dem Nachtgeist und gingen nachts in den Wald. Wir hatten überhaupt keine Angst. Damals lebten die Onge über- STEINZEITDIÄT all, es gab viele Gemeinschaften. Wir waren so viele.”153 Jetzt leben sie in Angst, allerdings sind keine Blutdruckwerte bekannt. Die schlimmsten Verheerungen haben weder die Waffen noch die Seuchen angerichtet, sondern die Missionare, die den Menschen ihr Verständnis der Welt austrieben und die Sozialsysteme aus „moralischen” Gründen zerschlugen. Die nächste Welle an wohlmeinender Hilfe beraubte die Naturvölker dann auch noch ihrer Identität und des Glaubens an sich selbst. Der vorhin erwähnte Polarforscher Jean Malaurie bringt es so auf den Punkt: „Die Kinder haben in der Schule erfahren, wie ‚primitiv’ ihre Väter und Mütter sind. Und die Eltern übernehmen unter Schmerzen das verheerende Bild, das ihre Kinder ihnen vermitteln. Der Inuit entdeckt durch ihren Blick den ‚Haß auf sich selbst’. Wenn eine Generation nicht mehr durch die Unterstützung ihrer Kinder vorwärts getragen wird, verkommt sie.”88 Und was treiben unsere Ernährungsmediziner? Sie entdecken flugs eine neue Klientel. Aufgrund der kürzeren Lebenserwartung und den zunehmenden Zivilisationskrankheiten müsse man die Leute aufklären, Kalorientabellen verteilen, Diätprogramme gegen Übergewicht ins Leben rufen und Vorsorgeuntersuchungen gegen Krebs durchführen. Der Effekt: Der Angstpegel steigt und die Gesundheit nimmt erneut Schaden. Natürlich hat auch das Essen einen Einfluss – aber wahrscheinlich einen ganz anderen als gemeinhin vermutet. Werden Populationen von Nahrungsmittelhilfe abhängig gemacht, z. B. weil Umwelt- und Naturschützer die Jagd erschweren, so verlieren sie nach ihrem Land und ihrer Identität auch noch die Menschenwürde, weil sie nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Alsbald fordern die üblichen Verdächtigen mehr Ernährungsberater und Ärzte, um endlich auch die Dritte Welt mit ihren Vitaminpillen und Ernährungspyramiden auf Kosten der Allgemeinheit missionieren zu können. Der weitgereiste Colin Roß warnt vor dem Glauben, man würde den Naturvölkern etwas Gutes tun, wenn man ihnen unsere bewährten kulturellen Errungenschaften schenkt: „Die europäische Schule kann das Eskimokind nichts lehren, was es für das Leben braucht, das es später doch einmal führen muß. ... Sie kann es im Gegenteil nur dafür verderben.” Gleichermaßen zweifelt Roß am Nutzen unserer Vorstellung von medizinischer Versorgung. Er bittet die europäischen Ärzte, nie zu vergessen, dass angesichts der völlig anderen Lebensbedingungen „die ärztliche Für- EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT FAZIT 29 STEINZEITDIÄT sorge mehr schadet als sie nützt”.126 Literatur Als Beleg nennt er ein Krankenhaus, das Philanthropen in der kanadischen Arktis errichteten. Dummerweise gab es dafür keine Kranken, außer einem Jungen mit einer harmlosen Haarkrankheit. Ärzte, Schwestern samt Köchin mühten sich rührend um ihn. Aus einem „gräßlich schmutzigen, von rohem Fisch und Seehundsfett lebenden Eskimojungen” wurde ein verwöhnter Fratz: „Der kleine Eskimoprinz führt in dem Hospital ein Leben, das ... ihn für sein ganzes weiteres Dasein restlos ungeeignet macht. Er wird dort an ein Maß an Bequemlichkeit gewöhnt, das in krassem Gegensatz zu den harten Anforderungen steht, die das Leben im elterlichen Zelt oder im Iglu an ihn stellt ... Kein Wunder, daß er sich zum Dauerpatienten entwickelt – ich täte das auch an seiner Stelle.” Nur, „er kann nicht ewig dort sitzen, und kommt er heraus, so wird aus dem Eskimoprinzen ein Eskimoproletarier, ein Bettler der Zivilisation, der gleiche Bettler wie die Indianer, der Australier und die meisten Südseeinsulaner, die alle einst stolze, selbständige Völker waren.”126 1) Abrams HL: Anthropological research reveals human dietary requirements for optimal health. Journal of Applied Nutrition 1982/16/S.38-45 2) Abrams HL: The preference for animal protein and fat: a cross-cultural study. In: Harris M. Ross EB (Eds): Food and Evolution. Temple University Press, Philadelphia 1987/ S.207-223 3) Al-Kubaisy W et al: Xerophthalmia among hospitalized Iraqi children. Eastern Mediterranean Health Journal 2002/8/ S.496-502 4) Anderson HR et al: Prospective study of mortality associated with chronic lung disease and smoking in Papua New Guinea. 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Ihre Nahrung widerspricht radikal unseren Vorstellungen von hygienisch sauberen, frischen und ästhetischen Produkten. Allein Anblick und Geruch ihrer Speisen würden viele Ernährungsberaterinnen für den Rest ihres Lebens traumatisieren. Die Idee vom „gesunden Lebensstil” der Naturvölker ist eine primitive Idealisierung. Denn dazu gehören vielfach auch die Tötung von Kindern, Kranken und Alten sowie der Kannibalismus. Es wäre verhängnisvoll, unsere Kost anderen Völkern aufzunötigen. Nicht, weil sie ungesund ist, sondern weil es zur persönlichen Freiheit gehört, das zu essen, was der eigene Körper kennt und wonach er verlangt. Genauso problematisch ist es, unseren Mitbürgern eine vermeintliche Kost aus der Steinzeit andienen zu wollen. Eine Steinzeiternährung gibt es nicht: Die Ernährung der Menschen war zu jenen Zeiten ebenso unterschiedlich und vielfältig wie heute. 30 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 STEINZEITDIÄT LITERATUR syndrome. 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Treffauerstr. 30, D-81373 München Internet: http://www.das-eule.de Vorstand und V.i.S.d.P.: Josef Dobler, München Kontakt: Redaktion: Prof. Dr. Herman Adlercreutz, Helsinki Prof. Dr. Michael Böttger, Hamburg Dr. Hans F. Hübner, MD, Berlin Prof. Dr. Heinrich P. Koch, Wien Prof. Dr. Egon P. Köster, Dijon Prof. Dr. Karl Pirlet, Garmisch-Partenkirchen EU.L.E. e.V. ist als gemeinnützig und besonders förderungswürdig anerkannt. Spenden sind steuerabzugsfähig. Konto 111 128 906, BLZ 701 500 00, Stadtsparkasse München Der Abdruck einzelner Beiträge ist erwünscht, jedoch nur mit Genehmigung durch das EU.L.E. und bei entsprechender Quellenangabe gestattet. Erbeten werden zwei Belegexemplare. Der EU.L.E.n-Spiegel oder Teile daraus dürfen nicht zu Werbezwecken eingesetzt werden. STEINZEITDIÄT Bezug: IMPRESSUM Schloßberg 2, 69117 Heidelberg Fon: ++49/(0)6221/40810-0, Fax: -1 E-Mail: GFrank@das-eule.de Dipl. oec. troph. Tamás Nagy (Chefredaktion) E-Mail: TNagy@das-eule.de Dipl.-Biol. Andrea Fock Dipl. agr. biol. Anna Lam Dipl. oec. troph. Jutta Muth Dipl. oec. troph. Brigitte Neumann Lebensmittelchemiker Udo Pollmer Dr. med. Dipl. Ing. Peter Porz (Internist) Dipl.-Lebensmitteltechnologin Ingrid Schilsky Dipl.-Biol. Susanne Warmuth Dipl.-Biol. Christiane Weigner Bezug des EU.L.E.n-Spiegels durch Fördermitgliedschaft oder Abonnement möglich. Studenten, Azubis und Arbeitslose erhalten Ermäßigung gegen Nachweis. Die Fördermitgliedschaft kostet 92.- Euro für Privatpersonen und 499.- Euro für Firmen. Nähere Info: Jutta Muth, Heinrich-Hesse-Straße 9, 35108 Rennertehausen, Fon ++49/(0)6452/7624, E-Mail: JMuth@das-eule.de EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS Süße Sündenböcke Berkey CS et al: Sugar-added beverages and adolescent weight change. Obesity Research 2004/12/S.778-788 Softdrinks gelten schon lange als Dickmacher schlechthin. Kein Wunder, denn Cola und Co. enthalten jede Menge Kalorien in Form von Zucker. Dazu kommt, dass sie häufig zusammen mit Fast-Food verzehrt werden, das ebenfalls als Hauptverdächtiger in Sachen Übergewicht gilt. An amerikanischen Schulen ist der Verkauf süßer Getränke bereits untersagt. Nun will eine Forschergruppe aus Harvard erstmals einen Beleg für den Effekt von Softdrinks auf das Körpergewicht erbracht haben. Die Wissenschaftler verglichen die BMIs von 10 000 Schülern im Alter von 9 bis 14 Jahren mit deren Verzehrsgewohnheiten. Nach drei Jahren zeigte sich jedoch, dass zuckerhaltige Limos den BMI auch nicht mehr ansteigen ließen als gewöhnliche Milch. Außerdem konsumierten übergewichtige Kinder genauso viele Softdrinks wie normalgewichtige. Auch wenn sich die Autoren bemühen, diese Ergebnisse anders zu verkaufen: Ihre Studie beweist, dass zuckerhaltige Limos keinen nennenswerten Effekt auf die Körpermasse entfalten. Anmerkung: Einen massiven Einfluss auf den BMI hatten allerdings Diätlimos, mutmaßlich in erster Linie Diätcola. In den Rohdaten ist der Gewichtseffekt frappierend. Doch die Autoren griffen zu einer List: Sie kalkulierten den Einfluss der Kalorien auf die Gewichtszunahme und konnten damit alle Diätprodukte aus ihrer Verantwortung entlassen. Es steht zu erwarten, dass der Masteffekt von Lightprodukten mit diesem statistischen Kunstgriff auch in künftigen Studien verschleiert wird. Dick durch Kalorienbetrug? Davidson TL, Swithers SE: A pavlovian approach to the problem of obesity. International Journal of Obesity 2004/28/S.933-935 „Manipulationen an der Fähigkeit, aus der Süße und der Viskosität von Nahrungsmitteln auf die spätere Kalorienaufnahme zu schließen, können zu erhöhter Nahrungsaufnahme und zur Gewichtszunahme führen.” Zu dieser Erkenntnis kommen zwei Forscher von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana. Ihrer Ansicht nach lernen Tiere wie Menschen bereits zu Beginn ihres Lebens, dass süße Milch mehr Kalorien hat als weniger süße und dass dickflüssige Milch energiereicher ist als dünnflüssige. Als Beweis führen sie zwei Rattenversuche an. In einem bekamen Nager jeweils mit Zucker oder mit Süßstoff versehene isokalorische Getränke vorgesetzt, im anderen dünnoder dickflüssigen Kakao. Am Ende wogen die Ratten, die süßstoffhaltige sowie dünnflüssige Getränke konsumierten, mehr als die Vergleichsgruppe. Daraus folgern die Wissenschaftler, dass die biologisch-kalorische „Pawlowsche Konditionierung” des Menschen durch Diätgetränke und Softdrinks überlistet wird, was unweigerlich zu Übergewicht führt. 33 IN ALLER KÜRZE Darmkrebs: Schutz durch Butter Fettreiche Milchprodukte haben sich in einer Untersuchung mit über 60 000 Schwedinnen als Schutz vor Dickdarmkrebs entpuppt. Zwei zusätzliche Portionen an fettem Käse oder Butter pro Tag verringerten das Krebsrisiko um 13 Prozent. Da dies nicht an den gesättigten tierischen Fetten liegen darf, führen die Autoren den Effekt auf die konjugierte Linolensäure zurück. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/S.894-900) Darmkrebs: kein Schutz durch Isoflavone Die viel gelobten Isoflavone aus Soja sind nicht in der Lage, die Proliferation von Epithelzellen im Dickdarm zu hemmen. Im Gegenteil: Die sekundären Pflanzenstoffe sorgten für eine zusätzliche Zellproliferation im sigmoidalen Kolon. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/S.620-626) Darmkrebs: Vitamin D zwecklos Die Annahme, dass die Zufuhr von Vitamin D und Calcium vor dem Kolonkarzinom schützt, hat sich als Irrtum erwiesen. Die prospektive Women’s Health Study mit knapp 40 000 Teilnehmerinnen konnte den beiden Stoffen keinerlei antikanzerogene Effekte bescheinigen. Das ist auch kein Wunder, denn der Vitamin-D-Status wird im Wesentlichen vom UV-Licht und nicht von der Ernährung beeinflusst. (American Journal of Epidemiology 2005/161/S.755-764) Darmkrebs und Ballaststoffe: aus der Traum Eine Metaanalyse von 13 prospektiven Studien widerlegt die weit verbreitete Auffassung, dass Ballaststoffe vor Kolonkrebs schützen. Das Krebsrisiko lässt sich auch dann nicht senken, wenn sie in großen Mengen und über einen langen Zeitraum verzehrt werden. (JAMA 2005/294/S.28492857) Fluor: Nulleffekt auf Knochen Der Fluorgehalt des Trinkwassers wirkt sich weder auf die Knochendichte noch auf das Frakturrisiko aus. Das ergab eine US- 34 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE Studie, an der 1300 Frauen aus drei unterschiedlichen Regionen teilgenommen hatten. Die mit dem Trinkwasser aufgenommenen Fluorkonzentrationen reichten von 50 bis 210 Mikromol pro Liter. (Journal of Nutrition 2005/135/S.2247-2252) Zink: durchgefallen Zink reduziert weder die Dauer noch die Menge wässriger Durchfälle bei Säuglingen. Zu diesem Ergebnis kommt eine doppelblinde, randomisierte und placebokontrollierte Studie aus Bangladesh. Die Dosis betrug bis zu 20 Milligramm pro Tag. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/ S.605-610) Glykämischer Index: reingefallen Der glykämische Index (GI) von Mahlzeiten wird stärker vom Gehalt an Fetten und Proteinen als von den Kohlenhydraten beeinflusst. Die weit verbreiteten GI-Tabellen geben folglich keinerlei Aufschluss über die Blutzuckerwirkung von Speisen. Bleibt die Frage, ob der GI überhaupt seinen Namen verdient. (British Journal of Nutrition 2004/91/S.979-989) Unbedenklich: Protein für Niere „Zur Behandlung einer bestehenden Nierenerkrankung kann eine Beschränkung der Eiweißzufuhr durchaus sinnvoll sein. Für eine Schädigung der Nierenfunktion von Gesunden dagegen lässt sich auch nach Jahrhunderten eiweißreicher westlicher Ernährung kein signifikanter Beweis finden.” So lautet das Fazit einer aktuellen Metaanalyse an der University of Connecticut zur Beziehung zwischen Proteinzufuhr und Nierenerkrankungen. (Nutrition & Metabolism 2005/2:25) Mit Würmern gegen Raupen Die Verwendung von Wurmkompost verringert den Schädlingsbefall im Gemüsebau. Durch die geringere Anzahl an Kohlweißlingsraupen und Blattläusen fiel der Ertrag höher aus. (Bioresource Technology 2005/96/S.1137-1142) FACTS & ARTEFACTS Anmerkung: Offenbar haben sich die beiden US-Forscher mit ihren Versuchen selbst ausgetrickst. Sollte der Mensch tatsächlich so geeicht sein, dass er süßere, also mit Süßstoff versetzte Limonaden für kalorienreicher hält als weniger süße, dann müsste er von den Diätgetränken weniger konsumieren. Doch genau das Gegenteil trifft zu: Der Organismus merkt offenbar recht zuverlässig, wie viele Kalorien er aufnimmt und gleicht die Zufuhrmengen entsprechend an. Als plausibler Mechanismus bleibt wieder einmal der Kopfphasenreflex. Dabei kommt es infolge der Wahrnehmung von Süße auf der Zunge zu einer schnellen ersten Insulinausschüttung, die den Blutzuckerspiegel absenkt. Die Folge ist Heißhunger (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1999/H.5). Kunstfleisch im Test Edelmann PD et al: In vitro-cultured meat production. Tissue Engineering 2005/11/S.659-662 Die Fleischproduktion im Bioreaktor als Alternative zur Tierhaltung nimmt immer konkretere Formen an. Inzwischen wurden geeignete Basiszellen aus Huhn, Pute, Schwein, Lamm und Kalb isoliert, um daraus unter Laborbedingungen essbares Gewebe zu züchten. Bei der bisher üblichen Gerüstmethode reifen auf Kollagengewebe embryonische oder regenerative Muskelzellen zu Fasern heran, die sich zu einer Fleischmasse für Hamburger oder Würste verarbeiten lassen. Da die Zellen auf ihrer Grundlage jedoch nur zweidimensional wachsen, entstehen keine richtigen Fleischstücke wie z. B. ein Steak (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2003/H.2/S.16). Für ein dreidimensionales Wachstum wäre eine zusätzliche Nährstoffversorgung der inneren Zellen nötig, etwa durch ein essbares Gerüst aus elastischem und porösem Material, das die Nährlösung verteilt. Es könnte aus einer Gussform entstehen, die mit Kollagen besprüht wird. Nach Aushärtung des Kollagens würde das Trägermaterial aufgelöst und zurück bliebe ein beliebig erweiterbares Röhrensytem. Bislang scheint dieses Vorhaben für die Massenfertigung jedoch zu aufwändig. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Kulturzellen zur Neubildung von Blutgefäßen anzuregen und damit ein eigenes Versorgungssystem zu entwickeln. Die Entwicklung eines geeigneten Nährmediums macht ebenfalls Fortschritte. Während ursprünglich noch Rinderserum zum Einsatz kam, das für eine Massenproduktion zu teuer ist, experimentiert man inzwischen mit serumfreien Lösungen wie z. B. mit Maitake-Pilz-Extrakt oder mit Lipiden, die teilweise höhere Wachstumsraten der Zellkultur bewirken. Zusätzlich zur Nährstoffversorgung ist die Beigabe von Wachstumsfaktoren erforderlich. Weil Leberzellen den nötigen Insulinähnlichen Wachstumsfaktor 1 produzieren, dürften sie sich als „Co-Kultur” eignen. Die Zellteilung wiederum könnte durch einen mechanischen Trick angeregt werden. Dazu reicht es aus, das Trägermaterial in zehnminütigem Abstand in die Länge zu ziehen und wieder zu entspannen. Auch magnetische oder elektrische Fel- EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS der fördern die Teilung der Zellen. Obwohl man die Teilungshäufigkeit der meisten für die Fleischzucht verwendbaren Zellarten noch nicht kennt, ist davon auszugehen, dass schon wenige Zellen ausreichen, um riesige Fleischmengen herzustellen. Dick durch Disstress Steptoe A et al: Central adiposity and cortisol responses to waking in middle-aged men and women. International Journal of Obesity 2004/28/S.1168-1173 Eine Studie aus London bestätigt einmal mehr, dass negativer Stress auf den Bauch schlägt. Wie Cortisolmessungen bei über 170 Teilnehmern ergaben, wird die Waist-to-Hip-Ratio (WHR) maßgeblich durch die Ausschüttung des Stresshormons in der ersten halben Stunde nach dem Aufwachen beeinflusst. Während der Bauchumfang der männlichen Teilnehmer umso größer war, je höher ihr morgendlicher Cortisolspiegel ausfiel, korrelierte die Leibesfülle bei den Frauen nicht mit dem Hormonausstoß. Ansonsten zeigten die über den Tag gemessenen und zum Abend hin sinkenden Blutwerte weder bei Männern noch bei Frauen einen Zusammenhang mit der Körperform. Da hohe Cortisolspiegel in den ersten 30 Minuten nach dem Aufwachen als Indikator für große psychische Belastungen gelten, scheint Übergewicht eine physiologische Reaktion auf Disstress zu sein, der zugleich ein wichtiger Auslöser von Diabetes ist. Wenn das metabolische Syndrom aber durch eine gestörte endokrine Regulation des Cortisols entsteht, dann wäre Übergewicht in erster Linie eine kompensatorische Nebenwirkung und kein Risikofaktor. Interessantes Nebenergebnis: Im Gegensatz zur WHR korrelierte der BMI nicht mit dem Cortisolspiegel. Anmerkung: Dass der Effekt nur bei Männern, nicht aber bei (postmenopausalen) Frauen gefunden wurde, könnte damit zusammenhängen, dass der weibliche Bauchumfang (WHR) stärker von den Sexualhormonen beeinflusst wird. Während hier zunächst Schwangerschaften die Bauchform prägen, sorgen die hormonellen Veränderungen im Klimakterium später ebenfalls für einen dickeren Rumpf, ohne dass dafür die Hormone der Nebennieren benötigt würden. 35 IN ALLER KÜRZE Grillhähnchen: keimfrei durch Phagen Um den Campylobacter-Befall von Hühnern mit in den Griff zu bekommen, raten Wissenschaftler von der Universität Nottingham zum Einsatz von Bakteriophagen. Die Wirksamkeit der Therapie soll von der Wahl effektiver Phagenstämme und deren Dosis im Futter abhängen. (Applied and Environmental Microbiology 2005/71/S.6554-6563) Brustkrebs: kein Risiko durch Pestizide Die Brustkrebsrate ist in Gebieten mit hohem Pestizideinsatz nicht erhöht. Zum Beleg wurden sämtliche Brustkrebsfälle überprüft, die im Bundesstaat Kalifornien zwischen 1988 und 1997 aufgetreten waren. (Environmental Health Perspectives 2005/113/S.993-1000) Lungenkrebs durch Diazinon Das häufig eingesetzte Insektizid Diazinon verursacht womöglich Lungenkrebs und Leukämie. Diesen Hinweis liefert die Agricultural Health Study, an der über 23 000 Feldarbeiter aus den US-Bundesstaaten Iowa und North Carolina teilgenommen haben. (American Journal of Epidemiology 2005/162/S.1070-1079) Karies per Kaiserschnitt Kariesbakterien treten im Mund von Kleinkindern früher auf, wenn diese mittels Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurden. Zu einer rascheren Besiedlung mit Streptococcus mutans kam es auch, wenn die Mutter selbst Karies hatte, wenn sie früher einmal an einer Geschlechtskrankheit erkrankt war und bei niedrigem Familieneinkommen. (Journal of Dental Research 2005/84/S.806-811) Brustkrebs, Ballaststoffe & faule Statistik Mattisson et al: Intakes of plant foods, fibre and fat and risk of breast cancer – a prospective study in the Malmö Diet and Cancer Cohort. British Journal of Cancer 2004/90/S.122-127 Eine prospektive Untersuchung aus Schweden bestätigt das Ergebnis der großen EPIC-Studie: Obst und Gemüse schützen tatsächlich nicht vor Brustkrebs. An der Malmö Diet and Cancer Study nahmen über 11 700 Frauen im Alter von 49 Jahren aufwärts teil. Da sich allen statistischen Bemühungen zum Trotz kein Zusammenhang zwischen ihrem Obst- bzw. Gemüsever- Missbrauchte PET-Flaschen In Schweden haben wiederholte Verbraucherbeschwerden über den Gestank beim Öffnen frischer Mineralwasser- und Limonadenflaschen die Lebensmittelkontrolleure auf den Plan gerufen. Als potenzielle Übeltäter entpuppten sich unter anderem Fuselöle, Petroleumprodukte und Rückstände aus Reinigungsmitteln. Die 36 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE Autoren vermuten, dass die PET-Flaschen von Konsumenten für andere Zwecke missbraucht und danach wieder dem Recycling zugeführt worden waren. (Food Additives & Contaminants 2005/22/S.681-692) Rotwein: Mumpitz Polyphenole Die werblich wertvolle Vorstellung, Rotwein sei dank seiner Polyphenole gesünder als andere Alkoholika, hat einen deutlichen Rückschlag erlitten: In einem CrossoverVersuch mit Bier und Wein stieg der Blutdruck der Probanden an, bei Rotwein sogar stärker als bei Bier. Entalkoholisierter Wein hatte keinen Effekt. Fazit: Alkohol bleibt Alkohol. (Hypertension 2005/45/S.874-879) Verkehrstod durch Toxoplasmen Die latente Toxoplasmose fördert Verkehrsunfälle. Das ergab eine türkische Studie, die bei ehemaligen Unfallopfern weitaus häufiger entsprechende Immunglobulinwerte (IgG und IgM) fand als bei einer Kontrollgruppe. Eine unbemerkte Infektion mit Toxoplasma gondii verlangsamt die Reflexe und verzögert die Reaktionszeit, so die Autoren. (Forensic International Science doi:10.1016/j.forsciint.2005.11002) Holländische Teilzeitsäuger In Holland erproben Agrarforscher das Teilzeitsäugen. Dabei werden die Ferkel ab dem elften Lebenstag täglich für zwölf Stunden von der Muttersau getrennt. So lernen sie, schneller feste Nahrung (Prestarter) zu sich zu nehmen. Dummerweise kommt dabei jede vierte Sau noch während des Säugens in die Rausche. Nun soll die Rausche synchronisiert werden, um die Sauen schon während der Säugezeit erneut besamen zu können. (DLG-Mitteilungen 2005/H.9/ S.8) Apfelallergien sortenabhängig Bei Apfelallergien spielt die Fruchtsorte offenbar eine wichtige Rolle. Während Golden Delicous oder Gala stark allergen sind, rufen Santana, Braeburn oder Elize nur selten Reaktionen hervor. (Journal of Allergy and Clinical Immunology 2005/116/S.1080-1086) FACTS & ARTEFACTS zehr und dem Erkrankungsrisiko herstellen ließ, konzentrierten sich die Autoren letztlich auf Ballaststoffe und Fett. Das gewünschte Ergebnis, also weniger Brustkrebs bei vermehrtem Ballaststoff- und vermindertem Fettkonsum, war jedoch nur dann signifikant, wenn die 50-jährigen Teilnehmerinnen und jene mit Krebs im Anfangsstadium herausgerechnet wurden. Anmerkung: Die vorliegende Studie beweist allenfalls, dass Ernährung und Brustkrebs nichts miteinander zu tun haben. Denn im Durchschnitt ernährten sich die erkrankten Frauen genauso wie die gesunden – das galt sowohl für die Verzehrsmengen an Obst und Gemüse als auch für die Zufuhr an Ballaststoffen aus Brot oder Getreide. Wohl um zu gewährleisten, dass ihre Arbeit dennoch von den Medien aufgegriffen wird, haben die Autoren dieses wichtige Detail bei der Bewertung ihrer Daten stillschweigend übergangen. Endoskopie: Da ist der Wurm drin Toro C et al: High prevalence of seropositivity to a major allergen of Anisakis simplex, Ani s 1, in dyspeptic patients. Clinical and Diagnostic Laboratory Immunology 2004/11/S.115-118 Der Verzehr von rohem oder ungenügend erhitztem Fisch geht öfter mit Parasitosen einher als gedacht. Das ist das Ergebnis einer Studie aus Spanien mit über 170 Teilnehmern, die sich zur Abklärung von Magenbeschwerden bereits zuvor einer Endoskopie unterzogen hatten. Obwohl diese Methode keinen einzigen Parasitenbefund erbringen konnte, kam ein neuer serologischer Test zu ganz anderen Ergebnissen. Er basiert auf dem Nachweis eines Immunglobulins, das speziell gegen ein Eiweiß des Heringswurms (Anisakis simplex) gerichtet ist. Danach reagierten knapp 14 Prozent der Probanden positiv auf das Protein Ani s 1. Eine zusätzliche Befragung ergab, dass das Risiko für eine Wurminfektion bei Genuss von rohem, sauer eingelegtem oder geräuchertem Fisch stark erhöht war. Anmerkung: Anisakis simplex ruft beim Menschen eine Erkrankung hervor, die bereits einige Stunden nach Verzehr des Wurmes zu Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und allergischen Reaktionen (Urtikaria) führen kann. In der Regel kommt es dabei zu Fehldiagnosen (z. B. Darmkrebs). Die meisten Fälle von Anisakiasis sind aus Ländern mit häufigem Rohfischkonsum wie Japan, Hawaii oder südamerikanischen Küstenstaaten bekannt, wurden aber auch in den Niederlanden, der Schweiz, Spanien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland dokumentiert. Weil der Erreger weder im Blut noch im Stuhl nachweisbar ist, galt die Endoskopie bislang als zuverlässiges Diagnosemittel – zu Unrecht, wie die Autoren der vorliegenden Studie nahelegen. Ihren Resultaten zufolge lassen sich mit der optischen Untersuchung nur schwere Fälle aufdecken, die meisten – und vor allem leichte – Formen der Parasitose bleiben dabei jedoch unbemerkt. Die Daten legen zudem die Vermutung nahe, dass so mancher „Fischallergiker” weniger auf Proteine aus Fischen denn auf solche aus Parasiten reagiert. EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS Blausucht: Nitratzufuhr überbewertet Fewtrell L: Drinking-water nitrate, methemoglobinemia, and global burden of disease: a discussion. Environmental Health Perspectives 2004/112/S.1371-1374 Zunehmende Nitratmengen im Trinkwasser gelten bekanntlich als Ursache für Methämoglobinämie. Nun ergab eine im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation durchgeführte Literaturanalyse von Veröffentlichungen der letzten zwölf Jahre, dass nur wenige Blausuchtfälle mit erhöhter Nitratzufuhr (über 50 Milligramm pro Liter Wasser) einhergehen. Im Gegenteil: Seit den frühen 90er Jahren sanken die Fallzahlen vielerorts trotz weiterhin hoher Nitratgehalte. Aufgrund der Datenlage, so der Autor, ist es notwendig, auch an andere Krankheitsursachen zu denken als nur an den Nitratgehalt des Trinkwassers. Die WHO beispielsweise weist darauf hin, dass Methämoglobinämie vor allem bei Kindern in Entwicklungsländern auftritt, die häufig kein sauberes Wasser zur Verfügung haben und an Durchfall leiden. Bereits in den 40er Jahren, als erstmals über die Methämoglobinämie durch Trinkwasser berichtet wurde, gab es Vermutungen, wonach Probleme und Infektionen des MagenDarm-Trakts eine ursächliche Rolle bei dieser Krankheit spielen könnten. Als möglicher Auslöser wird das Stickoxid NO diskutiert, welches von etlichen Gewebearten als Antwort auf Infektionen und Entzündungen gebildet wird. Dem Nitrat bzw. Nitrit aus Trinkwasser und Nahrung könnte dabei die Rolle eines Co-Faktors zukommen, der den Verlauf und die Symptome der Krankheit verstärkt. Sorglos in Syrien Smriga M et al: Lysine fortification reduces anxiety and lessens stress in family members in economically weak communities in Northwest Syria. PNAS 2004/101/S.8285-8288 Fladenbrote und Weizengerichte sind die Hauptnahrung der armen Bevölkerungsschichten in weiten Teilen Vorderasiens. Die eher knappe Proteinversorgung dieser Menschen soll die Gefahr eines Lysinmangels in sich bergen, zumal Lysin als limitierende Aminosäure im Weizen gilt. Nachdem ein Tierversuch ergeben hatte, dass Lysinentzug bei Ratten ein Verhalten auslöst, das als Zeichen von Angst und Depressionen gilt, probierten Wissenschaftler die Wirkung von Lysingaben an Syrern nahe der Stadt Aleppo aus. Sie gaben 45 Familien aus fünf verschiedenen Dörfern lysinangereichertes Mehl zum Brotbacken, 48 Familien erhielten gewöhnliches Mehl. Nach drei Monaten sollte ein psychologischer Test Aufschluss über die Befindlichkeit der Probanden liefern. Das Ergebnis: Stark angstbesetzte Männer erzielten signifikant bessere Resultate als zu Beginn des Experiments. Jedoch ging das Angstempfinden auch in der Vergleichsgruppe zurück, die 37 IN ALLER KÜRZE Haltbar durch Propolis Alkoholische Extrakte aus (türkischem) Propolis haben sich als vorzügliche Konservierungsmittel erwiesen. Sie unterdrückten bereits in einer Konzentration von 0,1 Promille das Wachstum von Schimmelpilzen, die der Fruchtsaftindustrie erheblichen Schaden zufügen. (Archiv für Lebensmittelhygiene 2005/56/S.87-90) Braun durch Carbonstrahler Das nachträgliche Bräunen von Fertiggerichten war bisher unbefriedigend gelöst, da die üblichen Heißluftöfen häufig zum Nachkochen der bereits fertigen Waren führten. Durch den Einsatz mittelwelliger Carbon-Infrarotstrahler lassen sich die Produktoberflächen nun gezielt und gleichmäßig erhitzen bzw. bräunen. (dei 2005/H.3/ S.59) Ochratoxin A auf Rosinen Bei einer Analyse von knapp 300 Rosinen-, Sultaninen- und Korinthenproben stellte die Lebensmittelüberwachung in zehn Prozent der Fälle eine Überschreitung der Höchstmenge (10 ppb) für Ochratoxin A fest. Angesichts des Risikos, das von dem Schimmelgift ausgeht und des Tatbestandes, dass gerade Kinder zum Konsumentenkreis gehören, fordern die Lebensmittelkontrolleure eine Senkung der Höchstmenge auf die Hälfte. (Lebensmittelchemie 2005/ 59/S.3) Ciguatera auf den Kanaren Im spanischen Urlaubsparadies vor der Küste Westafrikas wurden erstmals Ciguatera-Vergiftungen beobachtet. Die schwere und oft falsch diagnostizierte Fischvergiftung (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1995/H.6/S.10f) war bisher auf die tropischen Gewässer Ozeaniens und der Karibik beschränkt. (Emerging Infectious S.1981-1982) Diseases 2005/11/ Schweine übertragen Noroviren Durchfälle werden oft von Noroviren verursacht. In den USA sollen sie jährlich für über 20 Millionen Krankheitsfälle verant- 38 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE wortlich sein. Nun entpuppten sich Mastschweine als natürliches Reservoir der ebenso robusten wie infektiösen Viren. Bei den Rüsseltieren verläuft die Infektion meistens symptomlos. (Emerging Infectious Diseases 2005/11/S.1874-1881) FACTS & ARTEFACTS genauso unter Depressionen gelitten und kein zusätzliches Lysin bekommen hatte. Auf den Cortisolspiegel der Herren hatte die Aminosäure keinen Effekt. Bei den Frauen sank er zwar signifikant ab, es war aber kein antidepressiver Effekt nachweisbar. Die Hypothese der Autoren, dass eine Lysinanreicherung die Ängste und Sorgen der Menschen vertreiben könnte, hat sich demnach als ernährungswissenschaftliche Illusion erwiesen. Sport: unsinnig bei Krebs In einem Versuch mit krebskranken Mäusen hatte Sport (Schwimmen bzw. Laufradjogging) keinen günstigen Einfluss auf das Krankheitsgeschehen: „Im Gegenteil, eine verstärkte Hyperämie dürfte das Wachstum [der Tumoren] eher beschleunigt als gehemmt haben.” (Tierärztliche Umschau Kindstod durch Clostridien Bartram U, Singer D: Säuglingsbotulismus und plötzlicher Kindstod: Eine kritische Bestandsaufnahme. Klinische Pädiatrie 2004/216/ S.26-30 Fischer D et al: Plötzlicher Tod bei Zwillingen: Botulismus durch Kontamination von Gemüsebrei. Klinische Pädiatrie 2004/216/S.31-35 2005/60/S.690-692) Mitchell WG et al: Catastrophic presentation of infant botulism may obscure or delay diagnosis. Pediatrics 2005/116/S.438-438 Herzgesundheit: keine Glaubenssache Müller-Bunke et al: Säuglingsbotulismus. Monatsschrift Kinderheilkunde 2000/148/S.242-245 Um den Zusammenhang zwischen Religion und Herzkrankheiten auszuloten, haben Wissenschaftler knapp 300 Herzinfarktpatienten in Albanien nach ihrem Glauben befragt. Dabei stießen sie auf ein wenig überraschendes Ergebnis: Weder das Herz von Christen noch das von Muslimen schlägt gesünder. (Croatian Medical Journal Nevas M et al: Infant botulism acquired from household dust presenting as sudden infant death syndrome. Journal of Clinical Microbiology 2005/43/S.511-513 2005/46/S.977-983) Pilze gegen Hepatitis Im Kampf gegen Virenerkrankungen könnte sich der Glänzende Lackporling (Ganoderma lucidum) als wahres Wundermittel erweisen. Bei Hepatitis-B-Patienten bewirkte eine zwölfwöchige Therapie mit Polysacchariden des Pilzes teilweise signifikant erniedrigte Serumspiegel an Antigenen und Viren-DNA. Ein antivirales Potenzial hatte Ganoderma bereits in Tierversuchen und in vitro bei Herpes, Hepatitis und HIV gezeigt. (Food Reviews International 2005/21/S.27-52) Turbokühe durch Propionibakterien Die Verfütterung von ausgewählten Mikroorganismen an Kühe hat eine vermehrte Milchproduktion zur Folge. Eine regelmäßige Dosis an Propionibakterien steigerte die Milchrate von Holsteinrassen nach 32 Wochen um bis zu 8,5 Prozent. (Journal of Dairy Science 2006/89/S.111-125) Pickett J et al: Syndrome of botulism in infancy: clinical and electrophysiologic study. New England Journal of Medicine 1976/295/ S.770-772 Die Suche nach den möglichen Ursachen des plötzlichen Kindstodes verlief bislang ebenso spektakulär wie erfolglos. Zwar wurden in der Vergangenheit diverse Risikofaktoren beschrieben wie z. B. eine Bauchlage des Säuglings, schwere Decken oder rauchende Eltern – allerdings konnte damit nur ein Teil der Fälle erklärt werden. Inzwischen gibt es zahlreiche Hinweise, wonach der mysteriöse Tod vielfach durch eine Infektion mit Clostridium botulinum ausgelöst werden könnte. Anders als bei Erwachsenen führen oral aufgenommene Clostridien beim Säugling zu einer Infektion. Weil er noch wenig keimhemmende Gallensäuren bildet, können sich die Keime in seinem Darm vermehren und Neurotoxine produzieren, die zu Lähmungen führen. Die Giftmenge entscheidet über den Schweregrad der Erkrankung: Mal zeigen sich nur leichte Symptome, die nicht einmal zur stationären Aufnahme des Säuglings Anlass geben, mal kommt es zum schweren Verlauf, der eine wochenlange Intensivtherapie erfordert. Bei der schwersten Form des Säuglingsbotulismus kommt es innerhalb weniger Stunden zur Ateminsuffizienz und damit zum plötzlichen Tod. Unterschiedlichen Angaben zufolge ließen sich in Deutschland und anderen Ländern bei 15-30 Prozent unerwartet verstorbener Säuglinge sowohl Clostridien als auch deren Toxin in Darm und Leber nachweisen. Ärzte vom Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Magdeburg entdeckten die Bakterien im Stuhl von knapp zwei Jahre alten Zwillingsschwestern, welche nicht mehr aus dem Mittagsschlaf erwacht waren. Die Mediziner führen den Befund auf den Verzehr clostridienhaltiger Babynah- EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS rung zurück, die sie im Haushalt fanden. Eine andere Studie bestätigte bei der Untersuchung des plötzlichen Todes eines elf Wochen alten Säuglings, dass die Clostridien in seinem Darm genetisch mit jenen Keimisolaten übereinstimmten, welche im Hausstaub der elterlichen Wohnung gefunden wurden. Volltreffer: Pizza ist gesund! Gallus S et al: Pizza and risk of acute myocardial infarction. European Journal of Clinical Nutrition 2004/58/S.1543-1546 Pizza schützt das Herz. Wer mindestens einmal im Monat eine Pizza verdrückt, hat ein um 22 Prozent verringertes Infarktrisiko. Und wer sich mehrmals pro Woche eine Pizza gönnt, senkt sein Risiko sogar um stolze 56 Prozent. Das errechneten italienische Wissenschaftler aus einem Vergleich der Verzehrsgewohnheiten von über 500 Herzinfarktpatienten mit ebenso vielen gesunden Italienern. Ist der Effekt aber auf die Tomatensauce zurückzuführen oder darauf, dass die Italiener ihre Pizza in einer Pizzeria und nicht am Fast-Food-Stand essen? Oder ist die Pizza das bisher ungelüftete Geheimnis der herzgesunden mediterranen Diät? Anmerkung: Da es sich hier um eine Fall-Kontroll-Studie handelt, kann sie keinen ursächlichen Zusammenhang beweisen. Für einen Zufallseffekt spricht, dass eine Berechnung der Signifikanz fehlt. Ebenso wenig geben die Autoren die Gesamtmortalität an, was die Einordnung des Ergebnisses erschwert. Doch wirklich bemerkenswert ist etwas ganz anderes: Hätte die Studie einen negativen Effekt erbracht, dann wären weder die Schlagzeilen über die Gefahr durch Pizza und Pasta ausgeblieben noch entsprechende Warnungen an die Jugend. So aber bleibt den Gesundheitswächtern nichts anderes übrig, als sich in betretenes Schweigen zu hüllen. Gluten: Ataxie statt Zöliakie Hadjivassiliou M et al: The immunology of gluten sensitivity: beyond the gut. Trends in Immunology 2004/25/S.578-582 Bislang galt eine Glutenunverträglichkeit in erster Linie als Auslöser von Zöliakie. Inzwischen ist bekannt, dass sich bei vielen Menschen selbst dann Antikörper gegen das Getreideprotein nachweisen lassen, wenn sie nicht über Beschwerden im Verdauungstrakt klagen und ihr Darm keine Anzeichen einer Zöliakie zeigt. Immerhin tragen schätzungsweise 5-10 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung Glutenantikörper in sich, gleichzeitig leidet aber nur etwa ein Prozent an Zöliakie. Mittlerweile weiß man, dass Gluten auch für die Hauterkrankung Dermatitis herpetiformis sowie die Nervenerkrankungen Gluten-Ataxie und Gluten-Neuropathie verantwortlich ist. In diesen Fällen findet man typischerweise ebenfalls Antikörper gegen Gluten und positive Auswirkungen einer glutenfreien Diät auf die Symptomatik. 39 IN ALLER KÜRZE Lungenkrank trotz Vitamin A Vitamin-A-Supplemente bieten keinen zusätzlichen Nutzen zur Antibiotikatherapie bei einer Lungenentzündung. Das ergab eine Studie mit knapp 300 Kindern in Ecuador, die täglich bis zu 100 000 IU des Vitamins erhielten. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/S.1090-1096) Vitamine: wirkungslos bei Lungenkrebs Fazit einer Auswertung von acht prospektiven Studien zum Thema Lungenkrebs aus Nordamerika und Europa: „Die Aufnahme von Vitaminen aus Nahrungsergänzungsmitteln ging in multivariaten Analysen nicht mit einem verminderten Risiko für Lungenkrebs einher. Die Anwendung von Multivitaminpräparaten und spezifischen Vitaminsupplementen korrelierte nicht signifikant mit dem Risiko für Lungenkrebs.” (The International Journal of Cancer 2005/118/ S.970-978) Vitamine: nix für die Prostata Vitamine senken das Risiko für Prostatakrebs nicht, das ergab eine prospektive Untersuchung an knapp 500 000 Männern im Rahmen der Cancer Prevention Study. Das Schlusswort deutet eher auf das Gegenteil hin: „Die regelmäßige Einnahme von Multivitaminpräparaten ging in unserer Studie mit einer leichten Erhöhung der Prostatakrebsmortalität einher...” (Cancer Causes Control 2005/16/S.643-650) Vitamine: Vorsicht bei Alzheimer Eine groß angelegte Literaturrecherche konnte weder Vitamin C noch Vitamin E einen Nutzen bei Alzheimer bescheinigen. Stattdessen warnen die Autoren: „Solange keine randomisierten, kontrollierten klinischen Studien vorliegen, die belegen, dass der Nutzen die kürzlich nachgewiesenen Erkrankungs- und Sterberisiken überwiegt, sollten Vitamin-E-Supplemente weder für die primäre noch für die sekundäre Prävention der Alzheimerkrankheit empfohlen werden. Die Risiken von hochdosiertem Vitamin C sind zwar geringer als die von Vitamin E, doch fehlen konsistente Wirksamskeitsnachweise dafür, dass die Alzheimer- 40 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE krankheit mit Vitamin C verhindert oder behandelt werden kann; das sollte Anlass geben, von einer routinemäßigen Anwendung für diesen Zweck abzusehen.” (The Annuals of Pharmacotherapy 2005/39/ S.2073-2079) AIDS: kein Vitaminmangel Aidskranke sind eine wichtige Zielgruppe der Vitamindealer. Doch die Supplemente ändern nichts an der Morbidität und Mortalität erwachsener HIV-Patienten. Zu diesem Resultat kommt eine Analyse von 15 Studien unter Einbeziehung der CochraneDatenbank. (Cochrane Database of Systematic Reviews 2005/Oct 19 (4):CD003650) Nierensteine durch Vitamin C In einem Stoffwechselexperiment mit 48 Probanden, die täglich zwei Gramm Ascorbinsäure erhielten, ist es zu einem deutlichen Anstieg der Oxalsäureausscheidung im Harn gekommen. Die Autoren warnen deshalb vor der Bildung von Nierensteinen. FACTS & ARTEFACTS Bei der sporadischen idiopathischen Ataxie weisen 41 Prozent der Patienten Glutenantikörper auf, weshalb Ende der 90er Jahre die Bezeichnung Gluten-Ataxie vorgeschlagen wurde. Heute hat sich die Beweislage für die eigenständige Existenz dieser Krankheit so sehr verdichtet, dass sie allgemein akzeptiert wird. Der mögliche Pathomechanimus: Die Glutenantikörper reagieren mit Nervenzellen in der Kleinhirnrinde (Purkinje-Zellen), welche dadurch irreparabel geschädigt werden. Auch gegen GAD (Glutaminsäuredecarboxylase) bilden Patienten mit Gluten-Ataxie häufig Antikörper. GAD ist für die Entstehung des Neurotransmitters GABA verantwortlich, der den Informationsfluss im Nervengewebe gewährleistet. Anmerkung: Beim Vorliegen einer Ataxie oder Neuropathie ungeklärter Ursache sollte routinemäßig überprüft werden, ob eine Sensibilisierung gegenüber Gluten vorliegt. Eine glutenfreie Diät kann in diesen Fällen rasch und effektiv helfen: Sie verbessert nicht nur die Symptomatik, sondern verhindert auch dauerhafte Schäden im Nervengewebe. Eine traditionelle Verarbeitung von Getreide (Sauerteigführung) vermag dessen Glutengehalt soweit abzubauen, dass es von den Betroffenen vertragen wird. (Applied and Environmental Microbiology 2004/70/S.1088-1096) Bäckerasthma: die Amylase war’s (Journal of Nutrition 2005/135/S.1673-1677) Smith TA: Preventing baker´s asthma: an alternative strategy. Occupational Medicine 2004/54/S.21-27 Nierenschäden durch Supplemente Die hohe Asthmarate im Bäckereigewerbe beschäftigt die Wissenschaft schon lange. Vom so genannten „Bäckerasthma” sind nicht nur Bäcker betroffen, sondern alle Berufsgruppen, die mit Mehlstaub in Berührung kommen. In Großbritannien ist Mehlstaub die zweithäufigste Asthmaursache mit jährlich 811 neuen Fällen pro Million Angestellte. Innerhalb der Getreide verarbeitenden Industrie tritt das Bäckerasthma je nach Sektor unterschiedlich häufig auf: Bei den Brotbäckern erkranken jährlich 2240 von einer Million Angestellten, während es bei den Müllern oder Keksbäckern nur 330 sind. Da Müller und Feinbäcker nicht weniger Mehlstaub einatmen als Brotbäcker, müssen zusätzliche Faktoren für das Asthma verantwortlich sein. Ein Fallbericht aus Japan bestätigt, dass eine hohe Zufuhr an Vitamin- und Calciumpräparaten die Nieren schädigt. Die Autoren schlagen vor, den klinischen Terminus „Supplementnephropathie” einzuführen. (Clinical Nephrology 2005/64/S.236-240) Ranziges Hirn dank Vitamin C Eine Kombination aus Laufradtraining und Vitamin-C-Supplementen führt im Rattengehirn zu einer erhöhten Konzentration an oxidierten Fetten. Die Folgerung der Autoren: Vitamin-C-Präparate schützen das menschliche Gehirn nicht gegen oxidative Schäden durch Sport, sondern wirken vielmehr selbst prooxidativ. (Molecular and Cellular Biochemistry 2005/280/S.135-138) Nutrigenomics: Vitamine überbewertet Die Interaktion zwischen Vitaminen und Genen hat sich im Rahmen einer Fall-Kontroll-Studie nicht als Einflussfaktor von Kolonkrebs erwiesen. Überprüft wurden vier unterschiedliche Polymorphismen und Mittlerweile ist bekannt, dass die beim Brotbacken eingesetzte α-Amylase allergenes Potenzial besitzt. Wie die vorliegende Arbeit zeigt, gehen etwa 65 Prozent aller Fälle von Bäckerasthma auf das Enzym zurück. Mehlstaub hingegen wurde bei lediglich 16 Prozent der Untersuchten als Ursache erkannt, für die restlichen zwölf Prozent war eine Kombination beider Faktoren verantwortlich. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn bisher groß angelegte Initiativen zur Verringerung der maximalen Mehlstaubkonzentration in der Branche nicht den erwarteten Erfolg brachten. Erfolgreich war indes eine englische Lebensmittelfirma, als sie zusätzlich zur Reduktion der Mehlstaubexposition ihrer Arbeiter auch die Luftkonzentration an Backmitteln verringerte. Daraufhin fielen die internen Fallzahlen EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS 41 IN ALLER KÜRZE in zehn Jahren von ursprünglich 2085 pro Million Angestellte und Jahr auf 405. die Zufuhr an Vitamin B2, B6, B12 sowie Folsäure. (Nutrition and Cancer 2005/53/S.42-50) Fetter Geschmack Kopftücher: riskanter Vitaminmangel Hiraoka T et al: Effects of oral stimulation with fats on the cephalic phase of pancreatic enzyme secretion in esophagostomized rats. Physiology & Behavior 2003/79/S.713-717 Der Geschmackseindruck eines Lebensmittels entsteht aus dem Zusammenspiel seiner süßen, sauren, salzigen und bitteren Komponenten. Jedenfalls lernt man das so im Biologieunterricht. Warum aber empfinden wir fettige Speisen als attraktiv, obwohl das Fett selbst doch als geschmacksneutral gilt? Gibt es neben den bekannten Geschmacksrezeptoren auch solche für „fettig”? Aus früheren Versuchen ist bekannt, dass Ratten auf süßen Geschmack mit einer vermehrten Enzym- und Insulinausschüttung sowie erhöhter Thermogenese reagieren. Die Reaktion erfolgt binnen Minuten, also noch bevor die Substanz verdaut wird. Um herauszufinden, ob sich ein solcher „bedingter Reflex” auch durch Fett auslösen lässt, träufelten japanische Wissenschaftler ihren Versuchstieren etwas Fett ins Maul. Damit ein möglicher Effekt nur von Rezeptoren im Mundraum vermittelt werden konnte, wurde den Nagern vorher die Speiseröhre durchtrennt. Das Ergebnis war eindeutig: Die Ratten reagierten genauso schnell und heftig auf die Applikation langkettiger Fettsäuren (Öl-, Linol- und Linolensäure) wie auf eine Zuckerlösung. Kurz- und mittelkettige Fettsäuren hingegen hatten keine oder nur eine geringe Pankreassekretion zur Folge. Die Autoren folgern, dass im Mundraum spezifische Rezeptoren für Fettsäuren vorhanden sein müssen. Wie diese Rezeptoren aussehen, ist derzeit unbekannt. Auch lässt sich noch nicht beantworten, warum nur langkettige Fettsäuren erkannt werden. Vielleicht, weil sie für den Körper wichtiger sind? Oder weil sie sich „technisch” einfacher erfassen lassen und stellvertretend die Zufuhr von Fett signalisieren? Jedenfalls gibt es auch an inneren Geweben Rezeptoren für langkettige Fettsäuren, beispielsweise im Dünndarm oder am Herzmuskel. Anmerkung: Der Hunger nach Fett scheint körperlich genauso ausgeprägt zu sein wie der nach Süßem. Bisher ging man davon aus, dass die cremige Konsistenz fettiger Speisen über einen physikalischen Eindruck für ein angenehmes Empfinden sorgt. Doch die unterschiedliche Reaktion auf einzelne Fettsäuren widerlegt diese Vorstellung. Demnach bleibt der Geschmackseindruck von Fettersatzstoffen stets unvollständig bzw. unbefriedigend. Und: Wenn Fett tatsächlich zu einer schnellen Insulinausschüttung führt, dann widerspricht das erstens der Theorie vom glykämischen Index und hätte zweitens den gleichen Einfluss auf den Serotoninspiegel wie Süßes. Als klaren Risikofaktor für einen VitaminD-Mangel bei jungen Türkinnen haben Wissenschaftler nicht etwa eine falsche Ernährung, sondern die religiös motivierte Körperverhüllung identifiziert. Statt mehr Sonne empfehlen sie jedoch Vitaminsupplemente. (British Journal of Nutrition/91/S.979-989) Rastlos durch Muttermilchentzug Eine zu kurze Stillzeit könnte das Auftreten von Hyperaktivität (ADHD) begünstigen. Das legt eine polnische Studie nahe, bei der 60 hyperaktive Kinder mit einer Kontrollgruppe verglichen wurden. Danach waren die jungen ADHD-Patienten als Säuglinge im Durchschnitt etwa 35 Tage früher entwöhnt worden als symptomfreie Kinder. (Roczniki Akademii Medyczney w Bialymstoku 2005/50/S.302-306) Kein Krebs durch Acrylamid Die Acrylamidaufnahme über Lebensmittel führt nicht zu Darmkrebs. Das geht aus der prospektiven Swedish Mammography Cohort Studie hervor, an der über 60 000 Frauen bis zu 16 Jahre lang teilnahmen. (International Journal of Cancer 2006/118/ S.169-173) Und wieder kein Krebs durch Acrylamid Eine große italienische Fall-Kontroll-Studie konnte ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen dem Acrylamidverzehr und der Krebshäufigkeit feststellen. Die Autoren gingen besonders gründlich vor und untersuchten auf Mundraum-, Rachen-, Kehlkopf-, Speiseröhren-, Brust-, Eierstock- und Prostatakrebs. (International Journal of Cancer 2006/118/S.467-471) Weniger Brustkrebs dank Kaffee Kaffee senkt das Brustkrebsrisiko vor der Menopause. In einer Fall-Kontroll-Studie aus den USA verringerte der tägliche Genuss von vier oder mehr Tassen das Risiko um 40 Prozent. Entkoffeinierter Kaf- 42 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE FACTS & ARTEFACTS fee hatte keinen Effekt. (The Journal of Nutrition 2006/136/S.166-171) Noverr MC et al: Does the microbiota regulate immune responses outside the gut? Trends in Microbiology 2004/12/S.562-568 Nussgenuss ohne Reue Nüsse sollen wegen ihrer pflanzlichen Inhaltsstoffe einerseits gesund sein, andererseits gelten sie ob ihres Fettgehalts als Dickmacher. Eine US-Studie hat nun zumindest letzteres widerlegt: Der tägliche Verzehr von bis zu 56 Gramm Walnüssen führte bei 90 Probanten innerhalb eines Jahres zu keiner nennenswerten Gewichtszunahme. (British Journal of Nutrition 2005/94/ S.859-864) Calcium bringt dem Knochen nix Der Knochen besteht offenbar nicht nur aus Calcium. Das ist das Ergebnis einer placebokontrollierten Interventionsstudie mit 150 jungen Frauen. Trotz geringer Calciumzufuhr über die Nahrung hatte das tägliche Schlucken von Calciumtabletten (500 Milligramm) keinerlei messbare Auswirkungen auf das Skelett. (Journal of Nutrition 2005/135/S.2362) Fleisch statt Calcium Auch eine prospektive Studie mit Kindern aus Deutschland bestätigt, dass die Calciumzufuhr keine positive Auswirkungen auf die Knochengesundheit hat. Dafür staunten die Forscher aus Dortmund und Köln nicht schlecht, als die Daten einen ganz anderen Schutzfaktor preisgaben: das Eiweiß. Je mehr davon verzehrt wurde, desto stabiler waren die Knochen. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/ S.1107-1114) Käse statt Calciumtabletten Eine aufwändige finnische Studie sollte klären, ob man Calcium besser mit Tabletten oder über Käse in Kinderknochen bekommt. Kleinlautes Ergebnis: „Die Erhöhung der Calciumzufuhr durch den Konsum von Käse scheint das Wachstum der kortikalen Knochenmasse mehr zu fördern als der Konsum von Tabletten...” (American Journal of S.1115-1126) Clinical Nutrition Darmflora als Allergiebremse 2005/82/ Die Bedeutung der Darmflora für das Immunsystem ist, wenn auch noch nicht ganz verstanden, so doch unbestritten. Nach Meinung der Autoren spielt sie auch außerhalb des Verdauungstraktes eine wichtige Rolle, insbesondere bei überschießenden Immunreaktionen des Körpers. Ihre Hypothese: Die Entstehung von Allergien wird weniger durch einen Mangel an Krankheitserregern gefördert, sondern vielmehr durch eine Veränderung der Darmflora bei westlichem Lebensstil. Die Wissenschaftler aus Michigan tragen eine Reihe von epidemiologischen Studien zusammen, welche zeigen, dass Allergiker tatsächlich eine veränderte Darmflora aufweisen. So fand man bei allergischen Kindern weniger anaerobe Keime wie Bifidobakterien und Enterokokken, dafür aber mehr aerobe wie Clostridien. Zu den Faktoren, die eine Veränderung der Darmflora bewirken, zählen größere Kostumstellungen, Flaschenernährung statt Stillen und der Einsatz von Antibiotika. Dass Antibiotika das Allergierisiko bei Kindern steigern, wurde ebenfalls mehrfach beobachtet. Die Autoren erklären den zugrunde liegenden Mechanismus so: Da unser Körper im Darm auch artfremde Nahrungseiweiße akzeptieren muss, die noch nicht durch die Verdauungsenzyme abgebaut wurden, ist es für ihn notwendig, die normalerweise stattfindenden Entzündungsreaktionen zu blockieren. Hier kommt die Mikroflora ins Spiel, denn sie beeinflusst die Reifung von dendritischen Zellen. Während unreife dendritische Zellen über die Bildung von regulatorischen T-Zellen eine Entzündung ausbremsen, bewirken reife Zellen das Gegenteil. Von Lactobazillen weiß man, dass sie die Reifung von dendritischen Zellen in vitro verzögern. Durch Breitbandantibiotika geförderte Pilze wie z. B. Candida albicans produzieren prostaglandinähnliche Substanzen, die regulatorische T-Zellen hemmen. Die Zellwand von Pilzen enthält außerdem Glucane, die Entzündungsreaktionen der Darmwand anregen. Doch nicht nur Nahrungsbestandteile werden vom Körper geduldet, auch Stoffe aus der Atemluft dürfen nicht automatisch zu Entzündungsreaktionen führen. Obwohl die Atemluft in die Lunge gelangt und die Toleranzentwicklung deshalb im Lungengewebe stattfinden müsste, scheint der Darm sogar hier eine wichtige Funktion zu haben: Da alle inhalierten Stoffe schon nach kurzer Zeit im Darmtrakt nachweisbar sind, ist davon auszugehen, dass sie dort aktiv präsentiert werden, um eine angemessene Immunreaktion (Toleranz oder Angriff) starten zu können. Anmerkung: Wenn die Darmflora dafür sorgt, dass der menschliche Körper unbedenkliche Stoffe aus Nahrung oder Atemluft toleriert, dann tut sie dies wohl kaum aus reiner Nächstenliebe. Vermutlich bremst sie die Immunreaktion des Körpers, EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 FACTS & ARTEFACTS um ihr nicht selbst zum Opfer zu fallen. Das wäre durchaus sinnvoll, schließlich kämpfen die Darmbewohner gegen ihre Konkurrenten wie Bakterien, Pilze oder Viren ebenfalls aktiv an, indem sie spezielle Abwehrstoffe bilden. Salmonellen für den Salat Islam M et al: Fate of Salmonella enterica Serovar Typhimurium on carrots and radishes grown in fields treated with contaminated manure composts or irrigation water. Applied and Environmental Microbiology 2004/90/S.2497-2502 Salmonellen sind oft für eine Schlagzeile gut – zumindest dann, wenn sie über den Verzehr von Hähnchen, Eiern oder Hack in Krankenhauskantinen oder Altersheimen zu Todesfällen führen. Die Tatsache, dass sich die Keime auch auf biologisch angebauter Pflanzenkost tummeln und so zu Infektionen führen können, wird dabei gerne verschwiegen. Wie überlebensfähig krankheitserregende Serovare im Erdboden und darin wurzelnden Gemüsepflanzen sind, haben Forscher im US-Bundesstaat Georgia gezeigt. Dazu versetzten sie verschiedene mit Tierdünger hergestellte Komposte sowie Bewässerungswasser mit Salmonellen und brachten diese auf landwirtschaftlichen Flächen aus, in die sie einen Tag später Gemüse einsäten. Das Resultat: Die Salmonellen waren mindestens 203 Tage lang in allen vermischten Erdproben nachweisbar, in solchen mit Kompost aus Geflügeldung überlebten sie sogar bis zu 231 Tage. Natürlich befanden sich die Mikroorganismen auch auf dem angebauten Rettich und den Karotten. Unklar blieb lediglich, ob die Salmonellen – ähnlich wie EHEC-Erreger – aktiv von der Gemüsepflanze aufgenommen wurden. Salmonellen für die Ratte Painter JA et al: Salmonella-based rodenticides and public health. Emerging Infectious Diseases 2004/10/S.985-987 Da sich Ratten schnell an Gifte adaptieren, setzen Fachleute auf biologische Waffen im Kampf gegen die Schadnager. In vielen asiatischen und südamerikanischen Staaten ist es nach wie vor üblich, Rattenköder gezielt mit Salmonellen zu beimpfen. Auch wenn behauptet wird, die verwendeten Serovare seien nur für Ratten und nicht für Menschen gefährlich: Tatsache ist, dass alle Salmonellen ein humanpathogenes Potenzial besitzen. Vor diesem Hintergrund warnt die Weltgesundheitsorganisation bereits seit den 50er Jahren vor der Gesundheitsgefahr, die von infizierten Ratten und deren Ausscheidungen auf dem Acker und im Viehstall ausgeht. Sie fordert vehement ein Verbot von salmonellenhaltigen Ködern, da es genügend wirksamere und weniger riskante Nagerbekämpfungsmittel gibt. 43 IN ALLER KÜRZE Hepatitis A durch Zwiebeln Im Falle einer lebensmittelbedingten Hepatitis A ist nicht nur an Meeresfrüchte zu denken, sondern auch an Salat: In den USA wurde ein Massenausbruch mit 600 Fällen auf den Genuss von Salatzwiebeln in einem Restaurant zurückgeführt. Drei Patienten verstarben. (New England Journal of Medicine 2005/353/S.890-897) Der Mythos von der Mittelmeerdiät Eine griechische Untersuchung räumt mit dem Vorurteil auf, dass Menschen, die sich an die traditionelle Kost des Mittelmeerraumes halten, auch schlanker sind. Es fand sich kein Zusammenhang zwischen Ernährung und BMI. Fazit: „Übergewicht stellt in Griechenland ein ernsthaftes Problem dar und vielleicht auch in anderen mediterranen Ländern”. (American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/S.935-940) Schimmelpilzgifte falsch erfasst Analytische Chemiker aus Südafrika werfen ihrer Zunft vor, dass die übliche Methode zur Fumonisinbestimmung zu falsch-positiven Befunden führt. 30 Proben, die im Rahmen der amtlichen Prüfung teilweise erhebliche Rückstandsgehalte aufwiesen, lagen bei einer zuverlässigeren Messtechnik unter der Nachweisgrenze. (Journal of Agricultural and Food Chemistry 2005/53/S.9293-9296) Schweinischer Pfeffer Weißer Pfeffer wird aus reifen Früchten gewonnen, deren Schale sich durch zweiwöchiges Einweichen entfernen lässt. Im Gegensatz zu schwarzem Pfeffer leidet er recht häufig unter Fehlgerüchen nach Käse, Pferdestall oder Schweinegülle. Als Ursache für die unerwünschten Duftnoten haben nun Garchinger Lebensmittelchemiker abgestandenes Einweichwasser ausfindig gemacht. Sie schlagen vor, das Wasser regelmäßig zu wechseln und nur absolut reife Pfefferfrüchte zu fermentieren. (Journal of Agricultural and Food Chemistry 2005/53/ S.6056-6060) 44 EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de 11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005 IN ALLER KÜRZE Zelltod durch Fischöl Pflanzenöle, Fische und Schalentiere haben eines gemeinsam: Wegen ihrer langkettigen ungesättigten Fettsäuren gelten sie als besonders gesund. Dumm nur, dass sich die begehrten Fette bei einer Oxidation schnell in zytotoxische Aldehyde wie 4-Hydroxy-2-alkenale verwandeln. Das gesundheitliche Risiko durch diese Stoffe kann noch nicht quantifiziert werden. (Food Additives & Contaminants 2005/22/S.701-708) Bedenklich: Rohkost für Tiere Bei der Überprüfung von 25 unterschiedlichen Rohfutterwaren für Katzen und Hunde sind kanadische Wissenschaftler auf allerlei Krankheitserreger gestoßen. In den Proben fanden sich unter anderem Escherichia coli, Salmonella spp., Clostridium perfringens, C. difficile sowie Staphylococcus aureus. Der Verzehr von Rohkost ist demnach nicht nur für Menschen problematisch, sondern auch für seine Haustiere. (Canadian Veterinary Journal 2005/46/S.513-516) Hundegrippe auf dem Vormarsch Während Europa noch sein Federvieh hinter Schloss und Riegel bringt, um eine Infektion mit der Vogelgrippe zu vermeiden, haben Wissenschaftler in den USA die Herkunft eines tödlichen HundegrippeVirus ermittelt. Das Virus H3N8, das sich seit 2004 an der Ostküste der USA ausbreitet, wurde ursprünglich von Pferden übertragen und gehört ebenso wie der Auslöser der Vogelgrippe H5N1 zum Typ A. (Tierärztliche Umschau 2005/60/S.638) Veganer: wie gewonnen, so zerronnen Das ernüchternde Fazit einer Studie zum kardiovaskulären Risikoprofil bei 154 deutschen Veganern lautet: „Obwohl die Werte für Gesamtcholesterin und LDL günstig waren, waren die niedrigen HDL- sowie die erhöhten Homocystein- und Lipoprotein-α-Werte ungünstig. Insgesamt bestätigen diese Befunde die Feststellung, dass eine vegane Ernährung zu wenig Vitamin B12 enthält, was sich unter Umständen ungünstig auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auswirkt.” (Annals of Nutrition and Metabolism 2005/49/S.366-372) DIE BESONDERE ERKENNTNIS Die besondere Erkenntnis Harte Männer durch schlaffe Nudeln Für alle Männer, die ihre Identitätsfindung durch bewusste Ernährung vertiefen wollen, lohnt ein Besuch der Internetseite des Instituts für regionale Innovation und Sozialforschung (Iris e.V.). Hier finden sich originelle Rezepte einer „männergerechten Küche”, ausgearbeitet von ehrgeizigen Hobbyköchen, die „am Herd ihren Mann stehen”. So sollen gegarte süß-saure Möhren durch eine „Balance zwischen Weichkochen und knackig bleiben” ausgleichend und harmonisierend wirken, während ein Kalbsbraten aus holländischer Massentierhaltung dank seines Östrogengehalts die „weiblichen Anteile” im Manne weckt. Allerdings warnen die Köche vor häufigem Konsum, zumal „in Regionen, in denen zuviel Kalbfleisch konsumiert wird, die Zahl der Transvestiten signifikant zunimmt”. Als Antidot raten sie zu Spätzle, da Spätzlepressen in Fachkreisen als Form des Bodybuilings angesehen werde. Spätzle seien auf jeden Fall männergerecht, weil sie „mal lang und dünn, mal kurz und hart sind.” Ganz besonders legen die Soziologen den Herren eine Spinatquiche ans Herz. Sie wecke Assoziationen an die bärenstarke Comicfigur Popeye, deren emanzipatorischer Charakter schon allein durch den Verzicht auf „traditionell männlich konnotierte Nahrungsmittel” sichtbar werde. „Dieser Hintergrund eignet sich auch als ... Vertiefungsdimension in Männergruppen und bei Männermahlzeiten”. Als Dessert folgen Windbeutel, „weil sie männliche Größenphantasien bedienen, um sie gleichzeitig neu zu erden (‚Häufchen auf ein Blech setzen’)”. www.iris-egris.de/jungen/praxis/maenner_kueche.phtml Aus dem Institut Ab sofort steht unseren Mitgliedern, Abonnenten und Lesern ein aktualisiertes Jahresregister des EU.L.E.n-Spiegels zur Verfügung. Es ist im Internet unter www.das-eule.de abrufbar und lässt sich bequem nach Stichworten durchsuchen. Bei Bedarf versenden wir einen ungebundenen Ausdruck des neuen Jahresregisters per Post. In diesem Fall wenden Sie sich bitte an: Jutta Muth, Heinrich-HesseStraße 9, 35108 Rennertehausen. Wir wünschen allen EU.L.E.n-Spiegel-Lesern einen guten Start in das neue Jahr 2006!