Steinzeitdiät

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Steinzeitdiät
EU.L.E.N-SPIEGEL
5-6/2005
Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes
für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E.) e.V.
Der EU.L.E.n-Spiegel ist unabhängig und werbefrei.
11. Jahrgang, 20. Dezember 2005 – www.das-eule.de
Steinzeitdiät
Der Ruf der Wildnis
Von Jutta Muth
Es ist schon erstaunlich, welche Blüten die Ernährungsmode derzeit treibt.
Nun findet sogar eine „Steinzeitkost” Anklang – wohl aufgrund der nostalgischen
Vorstellung, früher sei alles besser und vor allem natürlicher gewesen. Die Theorie der Paläotrophologen klingt zunächst schlüssig: Das menschliche Genom
hat sich seit der Steinzeit kaum verändert, weshalb wir entwicklungsbiologisch
an die Lebensbedingungen von vor gut 40 000 Jahren angepasst sind. Unser
Körper kommt daher (noch) nicht mit den Ernährungsgewohnheiten zurecht, die
sich nach der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht vor rund 10 000 Jahren
eingebürgert haben, geschweige denn mit den Errungenschaften der heutigen
Lebensmittelindustrie. Die Folgen sind Übergewicht und Zivilisationskrankheiten
wie Arteriosklerose, Diabetes oder Krebs. Weil aber Naturvölker, die auch heute
noch als Jäger und Sammler leben, von diesen „Western diseases” verschont
bleiben, kann angeblich jeder durch einen kulinarischen Trip in die Vergangenheit beschwerdefrei alt werden.
Ötzi an der Ostsee
Steinzeitmärchen
3
1. Unsere Vorfahren aßen
fettbewusst
4
2. Unsere Vorfahren aßen
meistens Steaks
7
3. Unsere Vorfahren speisten
maßvoll und ausgewogen
12
4. Unsere Vorfahren litten
stets Hunger
16
5. Unsere Vorfahren aßen nur
unverarbeitete Naturkost
19
6. Dank frischer Kost
blieben alle kerngesund
22
Facts und Artefacts
& In aller Kürze
33
Süße Sündenböcke
Die wichtigsten Komponenten der viel gelobten Urkost sind Fleisch und
Fisch. Allerdings werden sie den Ansprüchen des Steinzeitköstlers kaum mehr
gerecht, da doch Züchtung, Mästung und Veterinärmedizin zu „minderwertigem”
Fleisch führen, das mit der „kerngesunden” Jagdbeute der Naturvölker nur noch
wenig gemein hat. Also empfehlen die Experten zuvörderst Wild oder auch Weidevieh wie z. B. den neuseeländischen Hirsch. Dass dieser gar nicht in Neuseeland heimisch ist, sondern dort als Schädling gilt, stört dabei anscheinend genauso wenig wie der ökologisch unkorrekte Fleischtransport rund um den Globus.
Kunstfleisch in Test
Fisch sollte im Rahmen der Steinzeitkost dreimal wöchentlich verzehrt werden und natürlich aus Wildfängen und nicht aus Teichen oder Aquakultur stammen. Da Kochsalz verpönt ist, braucht es reichlich Seefisch, um den Salzappetit des Ernährungsbewussten zu stillen. Bloß gut, dass uns heute eine moderne
Die besondere
Erkenntnis
44
Impressum
32
Dick durch Disstress
Sorglos in Syrien
Kindstod durch Clostridien
Volltreffer: Pizza ist gesund!
Fetter Geschmack
2
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STEINZEITDIÄT
EDITORIAL
STEINZEITDIÄT
Hochseeflotte zur Verfügung steht, um so speisen zu können, wie es sich einst der stolze Besitzer eines Einbaums in seinen kühnsten Träumen gewünscht haben mag. Das
dürfte vor allem für Delikatessen wie Garnelen, Kaviar, Krabben, Muscheln und Hummer gelten, die ebenfalls eine gut geführte Urküche bereichern sollen. Tja, so waren sie
nun mal, die alten Steinzeitleute: Wenn Ötzi die Tiroler Alpen verließ, um an der Ostsee
Badeurlaub zu machen, bestellte er flugs beim Drei-Faustkeile-Koch einen Krabbencocktail an Seezungenröllchen...
Im Windschatten der Globalisierung
Beim Obst haben sich die Nostalgiker in eine böse Zwickmühle manövriert: Einerseits ist Importware wegen der Kultivierung auf ausgelaugten Böden und der Ernte in
unreifem Zustand vitaminarm und deshalb eines Paläoköstlers unwürdig. Andererseits
hat sein Körper wegen der aktuellen Belastung durch Stress und Umweltgifte angeblich
einen hohen Vitaminbedarf. Deshalb achtet er gerade im Winter darauf, genügend reifes, frisches Obst zu verzehren. Fazit: Importware nein, erntefrisches Obst im Winter ja.
Nicht auszudenken, wo ein Steinzeitfan ohne Globalisierung und gut sortierte Supermärkte bliebe.
Was machte der Neandertaler, wenn er nicht gerade Mammuts jagte oder Südfrüchte importierte? Klar doch: Er ging in den Wald und sammelte Pilze. Und so kommt es,
dass Pilzgerichte mindestens einmal pro Woche auf dem Speisezettel des Steinzeitköstlers stehen und ihm wohl deshalb als „wichtige Mineralstoffquelle” dienen, weil sie
allerlei Schwermetalle und radioaktive Elemente enthalten. Die moderne Steinzeiternährung könnte also wie folgt aussehen: Der Mann begibt sich auf die Jagd (nach
Geld), um die Familie mit Hirschragout und Langustenschwänzen zu versorgen, während seine Holde mit den Kindern auf der Suche nach Preiselbeeren, Pfifferlingen und
Bärlauch durchs Unterholz streift.
Naturnahrung ohne Ende
Viele tatsächlich wichtige Bestandteile des Speiseplans von Steinzeit- und Naturvölkern fehlen in den vorliegenden Empfehlungen völlig: Maden, Spinnen, Würmer, Heuschrecken, Schlangen, Schnecken, Eidechsen, Mäuse und Ratten. Schließlich essen
die meisten Naturvölker alles, was ihnen in die Finger kommt – und das nicht mit Überwindung, sondern mit Genuss. Den Gesundköstlern böten sich also ungeahnte Jagdgründe im heimischen Revier, zum Beispiel Silberfischchen im Bad, Spinnen im Schlafzimmer, Fliegen in der Küche, Mäuse im Keller oder Ratten im Kanal. Es mangelt folglich auch ohne Steinzeit-Fertigpizza nicht an kerngesunden Wildfängen für den verwöhnten Gaumen, der sich nach dem Geschmack der Wildnis sehnt. Zu Zubereitung
und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Internet-Neandertaler!
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STEINZEITDIÄT
THEORIEN
3
STEINZEITDIÄT
Steinzeitmärchen
Von Udo Pollmer
Die Fachwelt liebt das Spiel – aber weniger das
unbefangene Entdecken der Kinder als das Glücksspiel der Zocker. Ihre Ratschläge gleichen einem
Roulette, bei dem die Kugel erratisch von Theorie
zu Theorie kullert. Diesmal blieb sie bei der frischen, unverfälschten Kost der Wildnis hängen:
der Steinzeitdiät. Sie schenkt uns den vor Vitalität
strotzenden Körper eines Winnetous, die Schönheit einer Südseeinsulanerin aus Gauguins Malkasten und die Weisheit eines alten Schamanen aus
dem Esoterikratgeber. Und schon füllen sich die
Fachjournale der Ernährungsszene mit Daten,
Nährwerten und biochemischen Details aus der
Speisekammer von Familie Feuerstein. Wen stört
es da, wenn jene Fachdisziplinen, die sich seit
jeher um die Urgeschichte der Menschheit bemühen, allenfalls vorsichtige Hypothesen zur Diskussion stellen? Hauptsache, die Ernährungsexperten
wissen Bescheid. Sie kennen die Kochrezepte und
Tischsitten prähistorischer Jäger-und-SammlerKulturen genauso gut wie das Mindesthaltbarkeitsdatum ihres Magerquarks.
Die führenden Protagonisten Loren Cordain (Sportwissenschaftler an der Colorado State University) und
James O’Keefe (Kardiologe am Mid America Heart
Institute in Kansas) sind sich sicher: „Die typische
Steinzeitkost enthielt im Vergleich zu der des Durchschnittsamerikaners 2- bis 3-mal so viele Ballaststoffe,
1,5- bis 2,0-mal mehr mehrfach- und einfach ungesättigte Fette, 4- mal so viele ω-3-Fette, aber 60 bis 70
Prozent weniger gesättigtes Fett. Die Eiweißzufuhr lag
2- bis 3-mal so hoch, die Kaliumzufuhr 3- bis 4-mal
höher, während die Natriumaufnahme 4- bis 5-mal niedriger lag.”107 Klare Daten aus berufenem Munde über
einen lumpigen Zeitraum von zigtausend Jahren und
über die Ernährung von Völkern rund um den Globus,
deren Lebensweise mal von der Arktis, mal von den
Tropen, mal von den Steppen und mal vom Meer
geprägt war.
Einer der ersten, der diese Ernährungsform propagierte, war Boyd Eaton vom Institut für Radiologie der
Emory University in Atlanta. 1985 schloss er anhand
von sechs heutigen „Steinzeit”-Völkern, dass deren
Nahrungsenergie zu 65 Prozent aus pflanzlicher Nahrung stammen musste. Allerdings hatte er darauf verzichtet zu erheben, was die Menschen tatsächlich
aßen und legte einfach 65 Prozent pflanzliche Nahrung
als „vernünftigen” Ausgangswert zugrunde. So gerüstet
errechnete er sich dann den passenden Speiseplan.
Zum Beispiel einen Anteil an tierischen Lebensmitteln
von 35 Prozent, wodurch die tägliche Fleischportion
des Mammutjägers stolze 788,2 Gramm betrug. Beim
Natrium drang Eaton rechnerisch sogar bis in den
Mikrogrammbereich vor38 – auch wenn bis heute niemand weiß, wie die Menschheit einst ihren Appetit auf
Salz befriedigte. Das Ergebnis war zumindest politisch
korrekt: Es entsprach den Empfehlungen der Ärzte und
hatte auf diese Weise schnell den Status „gesicherten
Wissens”. Damit war die Steinzeiternährung geboren
und Eaton ihr führender Prophet.
Stimmen zur Steinzeitdiät
„Die weitaus längste Zeit haben wir uns vegetarisch
ernährt, und das hat unsere Physiologie und Anatomie
natürlich geprägt. Die sichere Basis der Ernährung des
Menschen war pflanzlich.”
Claus Leitzmann
Mitbegründer der Vollwert-Ernährung
(Eckardt F: Ernährung heute. WDR 5 Feature Serie
vom 13.2.2005)
„Die Menschen haben immer versucht, so viel Fleisch
wie möglich zu erlangen und so viel Pflanzen wie nötig.
Wenn kein Fleisch verfügbar war, hat man sich eben mit
pflanzlicher Kost begnügt. Aber dominiert hat die Fleischeslust, sozusagen.”
Nicolai Worm
Autor von „Logi Methode - Glücklich und schlank”
(Eckardt F: Ernährung heute. WDR 5 Feature Serie
vom 13.2.2005)
„Die Nahrung in der Altsteinzeit war ... proteinreich und
relativ kohlenhydratarm.”
“Der ... von der DGE propagierte hohe Konsum an
Obst und Gemüse steht ebenfalls im Einklang mit der
Ernährungsweise in prähistorischer Zeit.”
„Zunehmend wird ... deutlich, dass eine Kost, die sich
an die prähistorische Ernährungsweise anlehnt, günstige
Wirkungen auf das kardiovaskuläre Risikoprofil hat.”
Armin Zittermann
Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen
(Ernährungsumschau 2003/50/S.420-425)
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STEINZEITDIÄT
ERSTE THEORIE
STEINZEITDIÄT
Erstes Steinzeitmärchen:
Unsere Vorfahren aßen fettbewusst
Eatons wichtigstes Anliegen war das Fett: Er lobte
die Steinzeitmenschen für ihre Einsicht, nur magerste
Fleischteile zu verzehren. Die fetthaltigen Innereien,
die Markknochen und den Speck ließen sie aus seiner
ärztlichen Sicht links liegen. Offenbar hielt sich der
Mammutjäger schon damals in vorauseilendem Gehorsam an die Empfehlungen der US-Fachgesellschaften
für Kardiologie. Da Eaton den Fettgehalt des Wildes
mit 3,9 Prozent bezifferte, war ein blutiges Steinzeitsteak natürlich viel gesünder als ein paniertes Schnitzel aus der überzüchteten Massentierhaltung oder
eine Wurst voll versteckter Fette.38
So gut Eatons Theorie in der Ernährungsszene
auch ankam, mit der Realität hatte sie kaum etwas zu
tun. Beweis dafür sind die vormaligen Bewohner der
nördlicheren Küsten, die in der Steinzeit nicht nur Robben, sondern sogar Barten- und Pottwale erlegten.
„Die Gerippe dieser Tiere”, schreibt Eberhard Schmauderer, der die Frühgeschichte des Fettkonsums
erforschte, „fand man ... in großen Abfallhaufen, die sie
neben ihren Siedlungen anlegten.” Überreste von
Walen und Robben sowie zahlreiche Felszeichnungen
dieser Tiere übersäen die Küsten Nordeuropas in
ihrem damaligen Verlauf, denn der Meeresspiegel lag
seinerzeit deutlich höher als heute. Ebenso häufig sind
Funde von Harpunen, zugeschliffenen Hacken zum
Ablösen des Specks sowie zum Öffnen der Schädeldecken von Meeressäugern. Daneben fingen die Nordvölker reichlich Fische, Ratten und fettreichere Vogelarten wie Riesenalk oder Eiderente.128
Auch weiter südlich schätzte die Menschheit das
Fett. Schmauderer: „Die frühen Jäger legten offensichtlich auf fette Beutetiere und deren fette Teile großen Wert. In den Knochenlagern ... des Solutreen, wie
sie beispielsweise im ... Rhonetal entdeckt wurden,
fand man die Reste des erlegten Wildes. Besonders
häufig waren Höhlenbären, Mammut, Elch, Hirsch,
Bison oder Wisent, Auerochse, Steinbock und Wildpferd unter der Beute, also durchweg Tiere mit einem
größeren Anteil an Fettgewebe. Bezeichnenderweise
sind die Röhrenknochen durchweg aufgeschlagen und
vom Feuer angebrannt. Das bis zu 90 % Fett enthaltende Mark hatte man über dem Feuer herausgeschmolzen.” Nicht weniger begierig aß man damals
fetthaltige Nüsse, insbesondere Wal- und Haselnüsse,
wie enorme Lager an entdeckten Schalen belegen.128
Zu Gast bei Naturvölkern
Da unsere fernen Vorfahren keine Menüpläne
hinterließen, weiß niemand genau, wie viel Fett sie
damals wirklich verzehrten. Deshalb ist es sinnvoll, die
steinzeitlichen Funde mit den Kostformen so genannter Naturvölker zu vergleichen. Tatsächlich aßen und
essen die meisten „Wilden” lieber die fetten Tierarten
und davon mit Begeisterung die fettesten Teile: die
Fettreserven unter der Haut, das Depotfett der Innereien und das Knochenfett.41 Damit ist der Hunger
nach Fett eine kulturelle Konstante der Menschheit,
während der Ekel davor eine historisch völlig neue und
erlernte Abneigung darstellt, ähnlich der Abneigung
gegenüber den meisten Insekten als Nahrungslieferanten. Die moderne Fettphobie von Amerikanern und
Deutschen wird nicht zuletzt an der Umzüchtung des
Hausschweins zum modernen Magerfleischlieferanten
in den 60er Jahren deutlich. Bis dahin verdankte das
Tier seine Beliebtheit bei praktisch allen Jäger-undSammler-Völkern, die es kannten, der kernigen Speckschicht.
Doch wie sah die Ernährung der so genannten
Naturvölker im einzelnen aus? Hier einige charakteristische Beispiele aus unterschiedlichen Erdteilen:
z Am Polarkreis war und ist Nahrungsfett lebensnotwendig, denn es liefert die erforderliche Zusatzenergie zum Wärmen des Körpers. Da in polaren
Regionen alle Lebewesen mit Fettschichten isoliert
sind, stand es den Menschen seit jeher in Form von
Meeressäugern, Fischen und Landtieren wie Bären zur
Verfügung. Im ewigen Eis lieferte allein das Fett bis zu
80 Prozent der Kalorien.140 Der berühmte Eskimoforscher Vilhjalmur Stefansson, der viele Jahre bei den
nördlichen Indianervölkern zugebracht hatte, berichtete, dass Populationen, die Karibus jagten, „das Fleisch
der älteren Tiere dem von Kälbern ... vorzogen”, weil
diese eine dickere Fettschicht trugen.140 Besonders
mochten die Indianer das „köstliche Fett hinter den
Augen”.56 Sie gewannen aber sämtliches Fett – egal
ob unter dem Fell, in Innereien oder Knochen – und
bewahrten es auf, um es später mit getrocknetem
Fleisch zu „Pemmikan” zu mischen.
Auch Kurt Hintze von der Universität Leipzig
bemerkt 1934 in seinem Standardwerk Geographie
und Geschichte der Ernährung über die Polarvölker:
„Das Verlangen nach Fett ist ein sehr starkes.” Laut
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STEINZEITDIÄT
ERSTE THEORIE
Hintze stellte sich auch bei den Europäern „trotz sonstiger Nahrung ein Fetthunger ein, der schlimmer war
als der durch langes Fasten erzeugte”. Über die Jakuten in Sibirien lesen wir bei ihm: „Fett wurde bei ihnen
besonders geschätzt. Das von Pferden und Rindern
aßen sie ohne weitere Zutaten meistens roh, ebenso
geschmolzene Butter ... Einem weinenden Säugling
gaben sie ein Stück rohes Rinderfett, um ihn zu beruhigen.”56
In Nordamerika herrschte eine ähnliche Situation. Die Lachszone im Norden hielt für die Menschen
fetten Fisch bereit, der ihnen nicht nur als Alltagsspeise diente, sondern auch zur Gewinnung von Öl, in das
„so ziemlich alle Nahrung bei ihren Mahlzeiten eingetaucht wurde”. Um an das begehrte Öl zu gelangen,
nutzten die Fischer ein aufwändiges Verfahren: „Die
Fische ließ man meist vorher etwas anfaulen, tat sie in
hölzerne Gefäße mit Wasser und warf dann heiße Steine hinein; das nach oben steigende Öl wurde abgeschöpft.”56
z
Auch weiter südlich ernteten die Indianer nach der
Jagd das Fett und ließen das schiere Fleisch von
Bären, Bisons oder Karibus oft genug verwesen.49,71,118,135 Analysen von Knochenmaterial von
Schlachtplätzen aus Nordamerika bestätigen, dass
schon ihre Vorfahren gezielt fettes Wild gejagt hatten.
Denn Knochen erlauben nicht nur die Feststellung der
erlegten Tierart, sondern auch des Alters und
Geschlechts und damit einen Rückschluss auf den
Fettgehalt.146
Als Alexander von Humboldt zwischen 1799 und
1804 Südamerika bereiste, staunte er über die ungeheuren Schwärme fetter Enten, die vom Orinoko zum
Äquator zogen und von den Indios am Rio Negro
gejagt wurden. Wenn sie zurückflogen, interessierte
sich niemand mehr für das Federvieh, da es im Sommerquartier abgemagert war – und das, obwohl sich
damit die Fleischvorräte mühelos hätten aufstocken
lassen.154 Statt magerem Entenbraten aßen die Indios
dann lieber „eine Art weißen, schwarz gefleckten
Teigs”. Es handelte sich um „Vachacos, große Ameisen, deren Hinterteil einem Fettnapf gleicht. Sie waren
am Feuer getrocknet worden und vom Rauch
geschwärzt. Wir sahen mehrere Säcke voll über dem
Feuer hängen.” Das Fett wurde mit Maniokmehl verknetet und als Ameisenpaste gegessen. Die Gastgeber erklärten von Humboldt, der Boden bringe wenig
Frucht, aber es sei „gutes Ameisenland, man habe gut
zu leben”.154
z
Die Indianer Südamerikas jagen ebenfalls Tiere
entsprechend ihrem Fettgehalt.95,100 Augenzeugen
5
STEINZEITDIÄT
berichten, dass die Parakana bis zum Erbrechen Tapirfett in sich hineinschlangen. War dieses nicht verfügbar, so genossen sie die auch anderswo beliebten
Palmmaden mit einem Fettgehalt von bis zu 69 Prozent (i.Tr.).95 Am Amazonas lieferten Schildkröteneier
die begehrte Extraportion Fett: Die Eier wurden zerschlagen, Wasser darauf gegossen und der Sonne
ausgesetzt. Das nach oben steigende Fett schöpfte
man ab und klärte es durch Kochen. Die Missionare,
schreibt von Humboldt, schätzten das Öl „dem besten
Olivenöl gleich”.154 Auf den Andamanen galt die Schildkröte ob ihres Fettgehalts als heiliges Genussmittel.2
z Aus Afrika berichtet der berühmte Forscher David
Livingstone (1813-1873) über die Makololo (Sambesigebiet), die sich vorwiegend von Tieren nährten, dass
sie stets zuerst das Fett aßen.108 Er selbst erhielt als
Wegzehrung „Unmassen von Fett und Butter”, die dort
„zu den willkommensten Geschenken gehören”.108
Georg Schweinfurth, auch als Nestor der deutschen
Afrikaforschung bekannt, beobachtete auf seinen Reisen (1868-1871), dass die Mombuttu (Mangbattu) alle
Speisen mit dem Öl der Ölpalme versetzten und von
den Ölen aus Erdnüssen, Sesam und den Samen des
Bongos(s)ibaums (Lophira alata) reichliche Fettvorräte
Delikate Gourmets
Die Kannibalen begründeten ihre Vorliebe für
Menschenfleisch ebenfalls mit dessen hohem Fettgehalt. Der Homo sapiens schmecke „so wie das
Schwein der Weißen”, formulierten es beispielsweise
Angehörige der Aché in Südamerika.27 Das ist sehr
eindeutig, zumal sich das domestizierte Mastschwein in erster Linie durch seinen Fettanteil vom
jagbaren Wild unterscheidet. Auf Neuguinea hieß ein
erlegter Mensch seit der Ankunft wohlgenährter
Europäer nicht umsonst „Langschwein”. Vorher war
es noch etwas poetischer zugegangen: Man tafelte,
um „eine Blume zu essen”.125
Sogar dort, wo der Hunger nach Fleisch im
Vordergrund zu stehen schien, waren es doch überwiegend die fetthaltigen „Teilstücke”, die sich besonderer Wertschätzung erfreuten. Bei Hintze ist zu
lesen: „Detzmer, der während des [1.] Weltkrieges
mehrere Jahre im Innern Neuguineas unter den
Papuas lebte, führt den Kannibalismus, der überall
verbreitet war, nicht zum wenigsten auf das Verlangen nach Fleisch zurück; am gierigsten darauf waren
die Frauen. ... Als beste Stücke galten die Seiten, die
Finger, das Gehirn und die Brüste der Frauen.”56
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ERSTE THEORIE
hatten. „Sogar aus den fetten Leibern der männlichen
Termiten wird ein nicht übel schmeckendes Fett gesotten. Ganz allgemein im Gebrauch ist Menschenfett.
Der Kannibalismus der Mangbattu übertrifft den aller
bekannten Völker in Afrika.” Auch die Niamniam verwerten „am häufigsten das Fett von Menschen... Dem
Genuß ansehnlicher Mengen schreiben sie allgemein
eine berauschende Wirkung zu.”129
z Selbst die Ureinwohner Australiens schätzten
nicht das Fleisch, sondern das Depot- und Organfett
am höchsten.106 Als größte Leckerei galten trächtige
Dugongweibchen sowie Schildkröten, bei denen die
Weibchen aufgrund des hohen Fettgehalts und der
dottertragenden Eierstöcke gefragter waren als Männchen.12,62 Die Menschen gierten so sehr nach Fett,
dass sie an der Küste Freudenfeuer entzündeten und
große Feste feierten, wenn Wale gestrandet waren.
Man könne sich, schrieb ein Augenzeuge, ihre Begeisterung nur so vorstellen wie die einer „Maus, die vor
einem riesigen Kuchen sitzt”. Tagelang arbeiteten sie
sich durch die Fettschicht bis zum Fleisch vor. Niemals
Ungesättigte Spekulationen
Die These von Eaton, dass das Verhältnis der
konsumierten Fettsäuren früher viel gesünder gewesen sei als heute, ist nach wie vor populär. Fred Feuerstein tat sich demnach an 30 Prozent mehrfach
ungesättigten Fettsäuren sowie 32 Prozent einfach
ungesättigten gütlich38 – offenbar hatte er die Empfehlungen amerikanischer Fachgesellschaften vorausgeahnt. Verwundert es da noch, wenn Eatons
Angaben gerade mal für das Unterhautfettgewebe
von Eichhörnchen zutreffen, aber sonst für kaum ein
jagbares Tier?41
Der Paläoexperte behauptet außerdem, die
gesunden Fette hätten es den Steinzeitmenschen
erlaubt, den würzigen Duft der Wildnis regelrecht zu
schmecken. So verdankte das Mammut sein vollmundiges Aroma angeblich den vielen ω-3-Fettsäuren sowie „den aromatischen Ölen jener pflanzlichen
Nahrung, die die Pflanzenfresser konsumierten”.107
Doch die Wirklichkeit sieht weniger romantisch aus,
denn das bei der Jagd von Tieren ausgeschüttete
Stresshormon Cortisol sorgt für einen eher strengen
Wildgeschmack. Dazu kommt bei entsprechend langem Abhängen der Hautgout, ein Zersetzungsgeschmack, der vom Eiweißabbau herrührt und mehr
mit Verwesung zu tun hat als mit frischen Wiesenkräutern.
STEINZEITDIÄT
würden Aborigines Verwesendes anrühren, heißt es,
aber im Falle eines Wales machten sie eine Ausnahme.120
Im Landesinneren herrschte ein akuter Mangel an
Fett, zumal richtig fettes Wild wie Emus, australische
Trappen und Pythonschlangen nur selten anzutreffen
war.120 Größeres Jagdglück versprach der Goanna.
Bei der Zubereitung des Warans wurde darauf geachtet, das Fleisch nicht zu lange zu garen, damit das
wertvolle Fett nicht austrat.12,62 Die „spezifische
Magerkeit des australischen Großwildes”, urteilt Helmut Reim vom Museum für Völkerkunde zu Leipzig,
war „auch nicht durch die klügste Ausnutzung und Auswahl der verfügbaren Nahrungstiere, wie etwa der Verwertung der in den Innereien sitzenden Fette, der zielstrebigen Erbeutung von Jungvögeln und Nestlingen,
Dingowelpen u. a.” zu meistern. Deshalb verlegten
sich die Australier auf fette Insektenlarven wie die
„Witchetty grubs”.106,120 Daneben galt bei ihnen
„menschliches Fett, insbesondere das Nierenfett, als
von einer mächtigen zauberkräftigen Wirkung”.59
Da sich in der Literatur nirgends ein Hinweis findet,
wonach die Naturvölker magere Fleischkost bevorzugt
hätten, war der Unsinn, den Eaton in der medizinischen Fachpresse verbreitete, auf Dauer nicht zu halten. Hier kam Loren Cordain ins Spiel: Er gestand
schließlich jedem zweiten Steinzeitmenschen (die
andere Hälfte aß angeblich immer noch mager) eine
zehnfach höhere Fettversorgung zu als Eaton, nämlich
meist 36-43 Prozent der Gesamtenergie.30 Mittlerweile
teilt Eaton diese Auffassung. Cordain und Eaton
begründen ihre neuen Zahlen in einer gemeinsamen
Publikation damit, Eaton habe bei seiner ersten
Berechnung doch glatt vergessen, den Fischfang in
sein Modell zu integrieren.30 Peinlich nur, dass Fische
im Schnitt nicht unbedingt fetter sind als Wild. Wie es
der Zufall so will, entsprechen die Zahlen nun aber
exakt dem Fettkonsum der Amerikaner im 20. Jahrhundert.
Viele Hasen sind des Jägers Tod
Der einseitige Verzehr von magerem Fleisch, wie
ihn Eaton und Kollegen propagieren, ist lebensgefährlich, denn er führt zur so genannten Kaninchenauszehrung („rabbit starvation”). Die Krankheit verdankt ihren
Namen einem Phänomen, das viele Forschungsreisende am eigenen Leibe erfahren haben und nicht
wenige mit dem Leben bezahlen mussten. Den Wechsel von normaler Kost zu einer Diät, die ausschließlich
aus Kaninchenfleisch besteht, beschreibt der Anthropologe Marvin Harris so: „Man ißt in den ersten Tagen
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STEINZEITDIÄT
ZWEITE THEORIE
immer größere Portionen, bis man nach etwa einer
Woche drei- oder viermal soviele Pfunde Fleisch verzehrt wie zu Anfang der Woche. Um diese Zeit treten
dann auch sowohl Hungersymptome wie Anzeichen
von Proteinvergiftung auf. Man ißt unzählige Male;
jedes Mal fühlt man sich danach noch hungrig; ... Nach
sieben bis zehn Tagen setzt Durchfall ein, von dem
einen nur noch der Genuß von Fett befreien kann.”49
Laut Nicolette Teufel von der University of Arizona
belegen völkerkundliche Berichte aus dem 18. und 19.
Jahrhundert, dass indianische Jäger eine Ernährung
mit magerem Fleisch vermieden. „Bekannt ist, dass
indianische wie auch nicht-indianische Jäger als Folge
einer fettfreien Ernährung über Symptome wie Delirium, Durchfall, Schwäche und Tod berichteten.”146 Die
genaue Ursache ist bis heute unbekannt. Angefangen
vom „Vitaminmangel” und einer „Übersäuerung” bis hin
zur Überfrachtung des Blutes mit Abbauprodukten des
Eiweißstoffwechsels gibt es viele Theorien, aber kaum
Beweise. Keine der Theorien erklärt, warum nur Fett
heilend wirkt.
Es mangelt nicht an Berichten über hungernde
Menschen, die im Frühjahr, wenn das Wild abgemagert war, dieses zwar erfolgreich jagten, aber aufgrund
seiner Fettarmut nicht aßen.135 Dazu Hintze: „Wenn
7
STEINZEITDIÄT
die Küsteneskimos in die Kaninchengründe nach
Süden ziehen, nehmen sie stets Schläuche voll Robbentran mit sich. Mit dieser Beilage sind sie imstande,
monatelang von Kaninchenfleisch zu leben ... Magerfleisch kommt auf die Dauer dem Verhungern gleich.
Die kanadischen Indianer, denen kein Tier zur Verfügung steht, das so fett wie der Seehund ist, heben
etwas Renntierfett von den Herbstjagden auf ... als
Zugabe zum Kaninchenfleisch; sie haben also dieselbe Erfahrung gemacht.”56
Dass die Kaninchenauszehrung keineswegs auf
Nordamerika oder Kaninchen beschränkt war, bestätigte Hans Murschhauser 1927 im Fachblatt Die Volksernährung anhand eines Berichts über eine Expedition
in das Landesinnere von Australien, „deren Teilnehmer
über einen Überschuß von Fleisch durch Erlegen von
Vögeln verfügten, aber trotz Aufnahme großer Quantitäten desselben unter Abmagerung zugrunde gegangen sind”.102 Demnach ist es egal, ob Kaninchen,
Federvieh oder Steaks verzehrt werden: Zu viel mageres (!) Fleisch kann schon nach kurzer Zeit in eine tödliche Abmagerungskur münden.105 Und dennoch
wurde diese lebensgefährliche Ernährungsform bereits
als Diät empfohlen – von einem Arzt namens Maxwell
Stillman.49
Zweites Steinzeitmärchen:
Unsere Vorfahren aßen meistens Steaks
Während Eaton die Steinzeit noch als vegetabile
Phase der Menschheit ansah, erklärte sie Cordain zur
Fleischzeit. Dazu drehte er Eatons Postulat vom Verhältnis von 35 Prozent tierischer zu 65 Prozent Pflanzenkost einfach um. Anhand einer Analyse von „13
bekannten quantitativen Ernährungsstudien von JägerSammler-Völkern” schloss er, „daß tierische Lebensmittel tatsächlich die Hauptenergiequelle (65 Prozent)
darstellten, während die gesammelten pflanzlichen
Lebensmittel den Rest ausmachten (35 Prozent)”.
Außerdem beruft sich Cordain auf die Auswertungen
ethnographischer Daten von 229 Sammler-JägerGesellschaften sowie die Isotopenanalysen prähistorischer Knochen.29,30
Eine Überprüfung seiner Theorie anhand der ethnologischen Literatur ergibt jedoch ein völlig anderes Bild.
So herrscht beispielsweise über die Kostzusammensetzung der Aborigines in Australien hinreichend Klarheit. Dort bringen es manche Gruppen von Ureinwoh-
nern in ihrem Ökosystem manchmal nur auf 20 Prozent
tierische Lebensmittel, während sich andere zu 90 Prozent von Wild ernähren.62,104 Für Cordain und Eaton
sind derlei Unterschiede unerheblich: Sie verordnen
den Aborigines präzise 77 Prozent tierische Speisen.30
Die Ernährung der Aché am Amazonas richtete sich
ebenfalls nicht nach den Zahlen von Cordain. Friedrich
Christian Mayntzhusen, der das Naturvolk zu Beginn
des 20. Jahrhunderts in seiner traditionellen Lebensweise kennengelernt hatte, stellte damals fest, dass
„die vegetarische Nahrung, die Erzeugnisse der Pindopalme, zusammen mit dem Honig und dem Fett der
Larven, die Nahrung an Wildbret überwog”.11 Zu einem
ähnlichen Ergebnis gelangte der Steinzeitkost-Verfechter Craig Stanford von der University of Southern California. Er gibt den Anteil der Jagdbeute an der kalorischen Versorgung mit 44 Prozent an. Die Cambridge
Encyclopedia of Hunters and Gatherers beziffert den
Fleischanteil mit 78 Prozent allerdings weitaus höher,
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der Rest soll sich aus wildem Honig, Insekten, Palmstärke und Früchten zusammengesetzt haben.55 Eaton
und Cordain wählten für ihre Darstellung die letztgenannten Daten und frisierten sie: Sie übernahmen die
78 Prozent tierische Nahrung und erklärten alles andere zu Planzenkost.30,54
Mit Bedacht wählte Cordain seine Isotopenanalysen aus. Um einen hohen Verzehr tierischer Lebensmittel zu belegen, verweist er auf einen geeigneten
Fund: Eine Höhle voll abgenagter Überreste von Wollnashörnern, Riesenhirschen und Höhlenbären. In der
Tat passen auch die Isotopenbefunde dreier menschlicher Skelette dazu.30,121 Doch erlaubt dieser Einzelfall
bereits einen Rückschluss auf die Durchschnittskost
der Steinzeit? Umso mehr, als auch Ergebnisse vorliegen, welche die Glaubwürdigkeit der Isotopenmethode
in Frage stellen (siehe „Knochendeuter und Haarspalter” auf Seite 9). So weist der „Ötzi”, der in Leder und
Fell gekleidet war und Jagdwaffen bei sich trug110, die
typischen Isotopenverhältnisse eines modernen und
strikten Veganers auf86. Ein Ergebnis, das schon allein
deshalb falsch sein muss, weil diese Art der Ernährung
eigentlich nur dort praktikabel ist, wo ganzjährig eine
grüne Vegetation vorherrscht, aber nie und nimmer im
Alpenraum, der aufgrund anderer Analysen als Heimat
des Steinzeitmannes betrachtet wird.
Bei aller Liebe zum Detail haben es sowohl Eaton
als auch Cordain unterlassen, das äußerst nahrhafte
und weitverbreitete Grundnahrungsmittel „Insekten &
Spinnen” in ihr Modell zu integrieren. Immerhin entfalten viele Völker auf der Erde großen Sammeleifer, um
des Kleinviehs habhaft zu werden.94 Bei den Pygmäen
beispielsweise stellt nach Angaben des Verhaltensforschers Armin Heymer „die Insektenkost einen
beträchtlichen Anteil der ‚animalischen’ Nahrung, insbesondere die Raupen werden in vollen Körben nach
Hause geschleppt. Den Termiten werden die Flügel
ausgerissen, wenn man sie lebend verzehrt.” Beliebter
jedoch sind sie geröstet: „Dann stopft man sich den
Mund damit voll, bis das Fett die Mundwinkel herabläuft.”53
Insekten standen sogar schon vor der Steinzeit auf
dem Speiseplan der Menschheit: Unlängst entpuppten
sich vermeintliche „Grabstöcke”, die zusammen mit
Knochen von Australopithecinen gefunden wurden,
anhand ihrer Kratz- und Schleifspuren als Gerätschaften zur Termitenernte.9 Bis dato war die Fachwelt überzeugt, sie seien zum Ausbuddeln von pflanzlichen
Knollen benutzt worden.
STEINZEITDIÄT
Der Schwindel mit dem Durchschnitt
Die Idee der Steinzeitdiät muss zwangsläufig an
den unterschiedlichen Bedingungen auf unserem Planeten scheitern. Denn je nachdem, in welchem Ökosystem die Völker siedelten, wechselten sich überwiegend pflanzlich ernährte Populationen mit solchen ab,
die fast nur Tierisches aßen. Nicht der Hang zum
Vegetarismus oder zum Schnitzel bestimmte den Speisezettel der Menschen, sondern vor allem Verfügbarkeit und Verdaulichkeit.
Rund um den Globus wird, um den geistigen Vater
der evidenzbasierten Ernährungsmedizin Werner Glatzel zu zitieren, alles gegessen, was die Menschen
nicht umbringt. Wer durch die Steppen zieht, lebt vom
Blut, der Milch und dem Fleisch seiner Herden. Sind
die Landschaften für eine Beweidung zu karg, stehen
Eidechsen, Maden, Schnecken, Käfer, Schlangen und
sogar Mücken auf dem Speiseplan. In Waldregionen
werden vermehrt Früchte, Insekten und sogar die inneren Schichten der Fichtenrinde gegessen, in Meeresgebieten sind Wattbewohner, Fische und Meeressäuger gefragt. Demnach existierten also sehr wohl Populationen, die sich vorzugsweise von Wild ernährten.
Aber es handelte sich dabei – im Gegensatz zu den
Theorien der Steinzeitköstler – bloß um eine von vielen
Ernährungsformen.
Was die Völker wirklich aßen, wissen wir trotz zahlreicher Berichte nicht genau, weil uns oft die nötigen
Hinweise auf die Speisenzubereitung fehlen. So ist
vielfach unbekannt, welche Teile verwendet und ob sie
fermentiert, geräuchert oder gebacken wurden, ob sie
die tägliche Kost bereicherten oder erst nach langer
Lagerung als Notnahrung dienten. Andererseits führen
oft schon viel einfachere Gründe zu weitreichenden
Fehleinschätzungen. Manche Forscher berichteten
beispielsweise, die Tschuktschen in Sibirien seien
reine Fleischesser, während andere behaupteten, kein
anderes Volk der Erde würde so viel Gemüse verzehren. Der Unterschied kam dadurch zustande, dass die
einen im Winter und die anderen im Sommer bei den
Tschuktschen zu Gast waren.56
Allen Ungereimtheiten zum Trotz steht zumindest
eines fest: Da Ernährungsweisen nicht konstant sind,
können sie auch nicht als Konstanten in Modelle integriert werden. Verlässt den Jäger das Jagdglück, steht
Sammlerkost auf dem Speiseplan – und umgekehrt.
Das war damals nicht anders als heute: Als Japan
nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, seine hungernde Bevölkerung durch Walfang zu ernähren, bekamen die Menschen dort, wo Wale verarbeitet wurden,
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ZWEITE THEORIE
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STEINZEITDIÄT
Knochendeuter und Haarspalter
Wie schwierig es selbst mit „seriöser” Analytik ist,
korrekte Aussagen zum Speiseplan unserer Vorfahren
zu treffen, zeigt die Bestimmung der Kohlenstoffisotope 13C und 14C in menschlichen Skeletten. Das Prinzip der Methode beruht darauf, dass die beiden Isotope von Pflanzen in unterschiedlicher Menge ins
Gewebe eingebaut werden – und zwar je nachdem,
ob die Photosynthese der jeweiligen Pflanze dem Calvinzyklus (C3-Pflanzen) oder dem Hatch-Slack-Zyklus
(C4-Pflanzen) folgt. Pflanzenfresser wiederum bauen
die verschiedenen Isotope in ihren Organismus ein,
weshalb das im Knochen gemessene Kohlenstoffverhältnis Aufschluss über die ehemals verzehrten
Gewächse geben soll. C3-Pflanzen sind für gemäßigte Klimate typisch, C4-Pflanzen wie Mais, Zuckerrohr
und Hirse überwiegen in tropischen Regionen. Allerdings streuen die Werte der einzelnen Pflanzen und
zu allem Überfluss gibt es auch noch solche, die zwischen den beiden Stoffwechselwegen wechseln können.
Himmlische Ereignisse, irdische Unwägbarkeiten
Dazu kommen die Tücken des Ökosystems: Die
Isotopenverteilung des Kohlenstoffs ist beispielsweise
im Regenwald eine andere als in der Steppe, sodass
ohne Kenntnis der Vegetation eine Zuordnung zu C3und C4-Pflanzen beinahe unmöglich wird. Die gleiche
Unsicherheit bergen Nahrungsmittel aus dem Meer,
denn das Kohlendioxid im Salzwasser weist ein anderes Isotopenmuster auf als das Kohlendioxid der Luft.
Hier hängen die Verhältnisse zudem davon ab, in welcher Tiefe sich die Lebewesen ernähren. Bei gleichzeitigem Verzehr von Meerespflanzen, Fischen oder
Meeressäugern gehen die Schlussfolgerungen
zwangsläufig ins Leere.98,130
Ohnehin setzt die Kohlenstoffmethode voraus,
dass die langjährige Lagerung im Erdreich keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des analysierten Knochens hatte und die Isotopen auf der Erde früher
genauso verteilt waren wie heute. Das eine ist jedoch
so unwahrscheinlich wie das andere. Denn Kohlenstoffisotope entstehen durch kosmische Strahlung, die
mit unterschiedlicher Intensität strahlt. Ein hochenergetischer kosmischer Gammablitz in einer Entfernung
von 3000 Lichtjahren kann beispielsweise innerhalb
weniger Sekunden genauso viel 14C erzeugen wie
1000 Jahre „normale” kosmische Strahlung.151 Hinzu
kommt, dass Faktoren wie das Erdmagnetfeld, der
Sonnenwind, ja sogar die Aktivitäten des Planktons
die Bildung und Verteilung von 14C beeinflussen.
21,103,144 Doch ob himmlische Ereignisse oder irdische
Unwägbarkeiten: Sie alle nähren Zweifel an der korrekten Interpretation von Knochenanalysen.
Obst oder Brathähnchen?
Selbst wenn ein paar Knochen die gesamte
Menschheit repräsentieren würden, das Weltall frei
von Gammablitzen wäre und es weder Regenwälder
noch Meere gäbe: Die Isotopenbestimmung würde
trotzdem keine Rückschlüsse auf das Verhältnis von
ehemals konsumierter tierischer zu pflanzlicher Kost
erlauben. Denn der Verzehr von Weidetieren hinterlässt ähnliche Isotopenmuster im Skelett als wenn der
Jäger persönlich ins Gras gebissen hätte. Je nach
Bedarf lässt sich also ein- und dasselbe Resultat als
Verzehr von Rindersteaks oder als Müslikonsum
(Getreide = Gräser) deuten. Im Fall von Früchte fressendem Federvieh ist der Experte frei in seiner Entscheidung, ob er den Verblichenen als Obstfreak oder
eher als Freund von Brathähnchen einstufen möchte.
Fischstäbchen der Steinzeit
In dieser misslichen Situation sollte die Isotopenverteilung des Stickstoffs (15N zu 14N) im Kollagen des
Knochens oder im Keratin des Haares mehr Licht ins
prähistorische Dunkel bringen. Dessen Verteilung ist
abhängig von der Herkunft des Eiweißes, das in den
letzten Lebensjahren gegessen wurde. Obwohl
pflanzliches Eiweiß die niedrigsten Referenzwerte
besitzt und tierisches die höchsten, gibt es auch hier
erhebliche Unsicherheiten bei der Zuordnung – je
nachdem, wie trocken es einst war, um welche Lebewesen es geht und wo das erlegte Tier innerhalb der
Nahrungskette stand. Bei Meeresprodukten hängen
die Werte nicht nur davon ab, ob es sich um Nahrung
aus Küstennähe oder vom offenen Meer handelt, sondern auch davon, ob die Urfischer Tang, Muscheln,
Fisch, Seevögel oder Robben bevorzugten.122 Wer
sich also ehemals von Pflanzen und Seegetier (heute
wären das Fischstäbchen) ernährte, bewegt sich auf
derselben Ebene wie der Büffeljäger. Verlässliche
Aussagen sind letztlich nur dann möglich, wenn
gleichzeitig genügend anderes Material wie Speisereste oder Koprolithe vorliegen.78
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neben etwas Reis praktisch nur Wal zu essen.90 Diese
Menschen haben für den Rest ihres Lebens einen
unstillbaren Hunger auf Walfleisch.
Zudem ist auch das Leben von Gesellschaften, die
statt eines Handys eine Steinaxt nutzen, nicht zwingend von friedlicher Koexistenz geprägt – egal, ob es
sich um Kopfjäger, Nomaden oder Sesshafte handelt.
Die Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen,
Naturkatastrophen oder Änderungen des Ökosystems
können Kulturen ihre gewohnte Existenzgrundlage und
damit ihre traditionelle Küche nehmen.
Seit grauer Vorzeit kämpfen die Menschen um die
besten „Futterplätze”, um die fruchtbarsten Böden und
die wildreichsten Savannen. Der Stärkere verdrängt
den Unterlegenen aus seiner angestammten Heimat.
Die Jakuten gelangten als Schafhirten nach Sibirien,
doch ihre Herden hatten in den nördlichen Waldgebieten keine Chance. So blieb ihnen nichts anderes übrig,
als sich in ihrer Ernährung an die Gegebenheiten
anzupassen und auf die Jagd zu verlegen.56 Es ist
unwahrscheinlich, dass sie ihre Weidegründe freiwillig
aufgegeben hatten. Ähnlich dürfte es Völkern wie den
Jukagiren ergangen sein, die heute am Polarkreis
leben und sich Sagen von Löwen, Tigern und Perlen
erzählen. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie aus
südlicheren Gefilden stammen.56
Ökosysteme sind alles andere als starr und unveränderlich. „Afrikanische Gesellschaften”, schreibt Hintze, „die etwas mehr Vieh besaßen, waren ... nicht selten das Ziel der Raubzüge benachbarter Stämme, die
es hauptsächlich auf das Fleisch der Schlachttiere
abgesehen hatten ... Derartige Einfälle konnten in
wenigen Jahren das Bild der wirtschaftlichen Verhältnisse ... wesentlich verändern und blühende Länder in
eine Wüste verwandeln; Hunger, Krankheiten, erhöhte
Sterblichkeit ... waren die Folgen. Die Raubzüge der
Sklaven- und Elfenbeinjagden der Araber waren ein
dauerndes Moment der Beunruhigung und Hemmnis
einer ruhigen Entwicklung. Erst der zunehmende Einfluß der Europäer hat dem allen ein Ende gemacht.”56
Doch die brachten unwissentlich die Rinderpest mit,
die die Herden des schwarzen Kontinents vernichtete.
Dadurch wurden die fruchtbaren Weidegründe von
Gestrüpp überwuchert und die Tsetsefliege, die Verbreiterin der Schlafkrankheit, machte anschließend
das Land auch für den Menschen unbewohnbar.111
Wenn Liebe durch den Magen geht
Die Vertreter der Steinzeitdiät haben kaum ernsthafte Versuche unternommen, die Ernährungsweise
unserer fernen Ahnen zu erhellen. Im Gegenteil: Ihre
Publikationen dienten eher dazu, Ernährungsmarotten
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der heutigen Zeit zu rechtfertigen. Wer ein Bild von
echter „Naturkost” gewinnen will, sollte lieber einen
Blick in die völkerkundliche Literatur werfen. Hinweise
erhält auch der Ferntourist, wenn er über eine
besonders abwechslungsreiche Küche staunt. Sie ist
meist ein Zeichen für die Not und den Hunger, unter
denen die Generationen davor gelitten haben.
Mag sein, dass die Kambodschaner während des
Pol-Pot-Regimes Spinnen nur aus purer Not aßen,
heute jedoch gelten geröstete Taranteln als landestypischer Leckerbissen. Für China ist sprichwörtlich, dass
alles verzehrt wird, was Beine hat und kein Tisch ist.
Und über die afrikanischen Bongo wird berichtet: „Von
animalischen Stoffen wurde mit Ausnahme von Hundeund Menschenfleisch fast alles gegessen, gleichviel in
welchem Zustande es sich befand, von Ratten und
Mäusen des Feldes bis zur Schlange, vom Aasgeier
bis zur Hyäne, von fetten Riesenskorpionen bis zu den
Raupen und geflügelten Termiten mit ihren öligen
mehlwurmartigen Leibern. Die Amphiostomawürmer
[heute Amphistoma, Anm. d. Red.], welche in dieser
Gegend die Magenwände der Rinder geradezu auszukleiden pflegten, streiften sie immer frisch ... ab und
führten sie handvoll mit Behagen in den Mund.”56
Naschhaftigkeit war schon immer ein menschlicher
Zug, selbst wenn sich die Vorstellungen vom idealen
Snack global unterscheiden. Als der britische Journalist Henry Morton Stanley auf der Suche nach dem verschollenen Livingstone 1868 mit einer Privatarmee
vom ostafrikanischen Bagamoyo zum Tanganjika vordrang, berichtete er von Eingeborenen, die Fleisch
überhaupt nicht mochten, dafür aber mit großem
Genuss Eingeweide und Föten verspeisten. Leidenschaftlich stritten sie sich um den Mageninhalt, um
„frohlockend eine Handvoll dieses grünlichen breiigen
Leckerbissens zum Munde” zu führen.137 Angesichts
solcher traditionellen Spezialitäten wird die heutige
Frage irrelevant, ob das, was einst gegessen wurde,
eher pflanzlichen oder tierischen Ursprungs war.
Bei den Tungusen in Sibirien dienten die in Butter
gebratenen pflanzlichen Vorräte von Feldmäusen als
Grundnahrungsmittel. „Die Vorräte waren so groß, daß
die Tungusen oft den ganzen Winter daran genug hatten”, erläutert Hintze.56 Natürlich betrachteten sie die
Mäuse ebenfalls als kleine Köstlichkeiten.47 Ein
Näschen für kleine Leckereien wird auch den benachbarten Tschuktschen nachgesagt: „Die fetten Larven
der Renntierfliege (Oestrus tarandi) sowie die ausgebildete Fliege wurden nicht verschmäht; selbst die ausgekämmten Läuse wurden gegessen.”56 Auch die Inuit
liebten als „Dessert” die „fetten, rohen Larven von
Renntierbremsen, welche aus dem Fell der ... Tiere
herausgekratzt worden waren”.119 Bei den Jakuten galt
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die „gekochte Nachgeburt als besonderer Leckerbissen”, der vom „Vater des Kindes nur mit seinen besten
Freunden verzehrt wurde”.47 Auch sonst „scheuten sie
weder anrüchiges Fleisch noch die verschalteste Sauermilch, noch die unerträglich ranzig gewordene Butter”.155
Was dem einen verfault erscheint, hält der andere
für naturgereift. Bei den Inuit gehört bis heute neben
verwesenden Seehundsköpfen eine besondere Spezialität dazu: „Ein paar große Fetzen Fleisch, Fett und
Haut, insbesondere ganze Walfluken, werden in speziellen, mit Blubber ausgekleideten Speisekammern
gelagert, wo sie ein Jahr lang oder länger langsam
altern und zu iterssoraq, ‚fermentiertem Fleisch’, werden. Die Haut ist dann leuchtend grün, der Blubber
olivgrün, das Fleisch schwarz und grün marmoriert,
und der Geschmack der verschiedenen Teile reicht,
grob gesagt, von Brie über Roquefort und einem starken Stilton bis zum stinkenden alten Gorgonzola, eine
pikante Abwechslung zu unserer üblichen faden
Ernährung mit rohem oder gekochtem Fleisch und
Blubber.”23
Der Weltreisende Colin Roß, der zwischen den
Weltkriegen ebenso eindrucksvolle wie einfühlsame
Berichte über andere Völker verfasste, beschreibt die
typische Speisekammer der Eskimos so: „In einer Zeltecke lag ein Haufen Fleisch und Fisch. In einem
wüsten, schmutzigen, blutigen Klumpen häuften sich
mächtige Stücke Seehundsfett und Fleisch, Kariburippen und Fische jeder Größe. Das Fleisch und die
Fische waren zum Teil angenagt, zum Teil frisch, zum
großen Teil faulig, und alles schwamm in einer Suppe
von Fett, Blut, Schmutz und Eingeweiden.” Für ihn war
es am schlimmsten, „wenn man die Kleinen, die noch
kaum laufen können, Fett und Eingeweide verschlingen oder rohe Fischköpfe abknappern sieht. Wie
gesagt, ißt der Eskimo alles mit, das ganze Tier, das er
erlegt, mit Rups und Stups...”126
Der Verdauungstrakt von Rentieren gehörte zu den
höchsten irdischen Genüssen. „Die Eskimoschöne
erwartet von ihrem Liebhaber in erster Linie, daß er ihr
einen Renntiermagen mitbringt”, berichtet Hintze.56
Gefüllt mit den Leckereien der unberührten Wildnis
und verfeinert, um ein Wort Fritjof Nansens zu bemühen, „mit Magensoße”, scheint die Liebe ihren Weg
gleich durch zwei Mägen genommen zu haben. An der
nordamerikanischen Westküste wurde „Lachsrogen ...
in Kisten vergraben und den Einflüssen der Gezeiten
ausgesetzt, um dann in etwas zersetztem Zustande
genossen zu werden. Auch die Köpfe des Lachses und
Heilbutts galten als Luxusgericht, wenn sie in Salzwasser leicht in Verwesung übergegangen waren.”56 In
11
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den amerikanischen Südstaaten ging es ähnlich zu:
„Die Caohuiltecans, die im buschbewachsenen Inneren von Südtexas leben, lassen Fisch acht Tage lang
vor sich hingammeln, bis sich in dem verrottenden
Fleisch Larven und andere Insekten entwickelt haben.
Diese werden dann zusammen mit dem faulenden
Fisch als höchster Gaumengenuss verzehrt.”41
Im Landesinneren jagte man Büffel. Manche Indianer betrieben dabei eine ganz besondere Art der kalten
Küche, wie Shepard Krech, Anthropologe an der
Brown University (Rhode Island), mitteilt: „Die Mandan
trieben im Winter große Herden auf schwache Eispartien des Missouris, sodass die Tiere einbrachen,
Zu Gast bei den Wohlhabenden
Das Fünf-Gänge-Menü ist keine Erfindung der
Franzosen, sondern so alt wie die Menschheit. Allerdings sind die Geschmäcker verschieden. Selbst
wenn in Frankreich der Verzehr von Käse bekanntlich den Magen schließt, so löst die Idee, ein verfaultes Kuhsekret essen zu müssen, in unserer Kultur
gelegentlich eher eine spontane Entleerung des
Magens aus – in die falsche Richtung.
Ein 8-Gänge-Menü bei einem wohlhabenden
Jakuten (Sibirien):
1. dick- und gelbgekochte Sahne
2. Sahne als Gefrorenes
3. gefrorene Butter in Stückchen
4. Gekochter Fisch
5. Butter in heißem Wasser zerlassen
6. Auerhahn und Rentierzunge
7. Kuhniere und Euter, fett in Butter gebraten
8. S’alamat, ein Brei aus Butter, Roggenmehl und
Wasser.155
Ein 10-Gänge-Menü bei einem angesehenen
Grönländer:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
gedörrte Heringe
getrockneter Seehund
gekochter Seehund
halb roher und verfaulter Seehund
gekochte Alken
Höhepunkt der Mahlzeit: ein Stück von einem
halbverfaulten Walfischschwanz
7. gedörrter Lachs
8. gedörrtes Rentierfleisch
9. Krakebeeren mit dem Mageninhalt von Rentier
vermischt
10. Ebendasselbe mit Tran angemacht.134
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ertranken und flußabwärts an Land gezogen wurden,
wo man sie liegen ließ, damit sie Geschmack bekommen. Manche Indianer schätzten ertrunkene Büffel
mehr als jede andere Nahrung.” Krech zitiert als Zeitzeugen McKenzie: „Wenn die Haut angehoben wird,
sieht man, dass das Fleisch einen grünlichen Schimmer hat und bereit ist, bei der geringsten Sonneneinwirkung lebendig zu werden; es ist so reif, so zart, dass
man es kaum zu kochen braucht.” Daraus wurde „flaschengrüne Suppe” zubereitet, die als Delikatesse
galt. Die Mandan schätzten „verfaultes Fleisch” so
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sehr, „dass sie den ganzen Winter hindurch Tierkadaver begruben, um sie im Frühjahr zu essen”.71
Die Büffeljagd gab auch Anlass zu einem beliebten
kulinarischen Wettkampf: Zwei Personen nahmen je
ein Ende eines langen Stücks vollen Büffeldarms in
den Mund. Wer sich zuerst bis zur Mitte durchgefuttert
hatte, galt als Sieger. Ein Sioux-Medizinmann namens
John Lame Deer erklärte dazu: „Diese Büffeldärme
waren voll von halb vergorenen, halb verdauten Gräsern und Kräutern; wenn man sie verzehrte, brauchte
man keine Pillen und keine Vitamine mehr.”41
Drittes Steinzeitmärchen:
Unsere Vorfahren speisten maßvoll und ausgewogen
Die ökologischen Gegebenheiten zwangen die
Menschen oft genug, das zu essen, was gerade verfügbar war und nicht das, was ihnen in ihren Wachträumen als Schlaraffenland vorschwebte. Ihre Kost war
also notgedrungen alles andere als „ausgewogen”.
Sicher hätten unsere Vorfahren einen wohlsortierten
Supermarkt bevorzugt, der ein üppiges Angebot hygienisch sicherer Produkte aus aller Welt bereit hält, statt
eigenhändig einem Höhlenbären zu zeigen, was ein
Faustkeil ist – um dann wochenlang nur noch „Bär” zu
kauen.
Neben den Inuit gab es natürlich auch andere
Populationen, die sich praktisch ausschließlich von tierischer Kost und damit recht einseitig ernährten.1 „Bei
den Massai bildeten Milch und Blut und halbrohes
Fleisch die einzige Nahrung eines jungen Kriegers
während seiner drei Jahre dauernden Ausbildungszeit”, so Hintze. „Das hier häufig vorkommende Salz
sowie pflanzliche Nahrungsmittel waren ihnen nicht
gestattet. Blut war die beliebteste und vornehmste
Nahrung ... Nur den alten Männern waren pflanzliche
Nahrungsmittel erlaubt und den Weibern.”56
Die Prärieindianer der Great Plains ernährten sich
zeitweise vornehmlich von der Büffeljagd, nachdem
ihnen die weißen Siedler das fruchtbare Ackerland
weggenommen hatten.51 Die Arapaho-Indianer hingegen schätzten Hundefleisch so sehr, „dass sie von
ihren Nachbarn ‚Hundeesser’ genannt wurden”.51 Um
schwer kontrollierbare Völker zur Assimilation zu zwingen, haben Regierungen solche traditionellen Ernährungsweisen nicht selten sogar per Gesetz verboten,
wobei sie auch schon mal den Druck von westlichen
Umwelt-, Tier- und Naturschutzorganisationen zum
Anlass nahmen. Die Jagdverbote untergraben gleichzeitig das Wirtschaftssystem und berauben die Menschen ihrer Identität.
Dieses Schicksal ereilte auch das Volk der Masarwa, das an der Grenze von Botswana und Zimbabwe
lebt. Der Cambridge Encyclopedia of Hunters and
Gatherers entnehmen wir folgendes Zitat von Mmiseng
Debe, Segoro, Botswana: „Unser Leben hängt vor
allem vom Fleisch ab, und die Gesetze hindern uns am
Essen. Als Gott den Menschen schuf, schuf er, so glaube ich, auch Wildtiere als Nahrung für die Masarwa.
Die Bamangwato nutzen ihre Rinderherden als Nahrung. Die Kalanga ernähren sich von ihren Feldfrüchten. Weiße leben von Geld, Brot und Zucker. Das sind
die traditionellen Nahrungsmittel dieser Völker, und
daher kann jedermann sehen, dass das Gesetz gegen
uns, gegen die Masarwa, gerichtet ist, weil es uns
daran hindert zu essen. Die Menschen, die das Gesetz
gemacht haben, wussten, dass sie uns unsere Nahrung nahmen. Wenn wir Vieh züchten, dann nicht so
gut wie die Bamangwato. Wir können nicht Felder
bestellen wie die Kalanga. Wir können auch nicht Geld
machen, wie es die Weißen tun. Das ist die Art und
Weise anderer Völker. Die Tradition, die Gott uns, den
Masarwa, gab, ist es, Fleisch zu essen. Fleisch ist
unser Leben. Kleine Tiere bedeuten uns nichts, wir
essen jeden Morgen Kudu, Ducker, Steinböckchen und
Vögel. Was wir wirklich mögen, sind große Tiere. Das
ist unsere Nahrung. Wenn man uns das Fleisch nimmt,
nimmt man uns das Leben und die Tradition, die Gott
uns gegeben hat.”32 Essen zu dürfen, was man
gewohnt ist, ist folglich weniger eine Frage der
Gesundheit, als vielmehr der Menschenwürde.
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Dass sich ganze Populationen völlig einseitig
ernährten, noch dazu bei ebenso guter Gesundheit wie
andere mit reich gedeckter Tafel, war kein Sonderfall.
So verzehrten „Naturvölker” wie die Todas im südlichen
Indien fast ausschließlich die Milch ihrer Wasserbüffel.2
Die Kost der Gond und Bhumia in Zentralindien galt
ebenfalls als „extrem monoton”, da sie an den meisten
Tagen des Jahres aus Kodahirse (Paspalum scrobiculatum) oder Rispenhirse (Panicum miliaceum)
bestand.45 Haben sie genug zu essen, dann sind viele
Gesellschaften alles andere als bescheiden. Laut Kuczyniski aß der Kirgise täglich mindestens zwei, meistens vier bis fünf Pfund Fleisch, hauptsächlich Hammel, seltener Pferd. Er „ißt jegliches Fleisch, auch das
gefallener Tiere und sogar an Milzbrand verendeter”.
Es wird dann nur etwas länger gekocht. Dazu trinkt er
„am Tage kaum unter 9, meist 12-15, aber auch noch
mehr Liter” Kumys mit einem Alkoholgehalt von drei bis
sechs Prozent.56 Bei den recht häufigen Festmahlzeiten stieg der Verbrauch sogar bis auf 20 Pfund Fleisch
und 20 Liter Kumys.74
Selbst wenn sich eine kalorienzählende Ernährungsberaterin angesichts solcher Zahlen verwundert
die Augen reiben mag: Es liegen reichlich Berichte von
Augenzeugen vor, die bei einer Vielzahl von Völkerschaften diese und noch erstaunlichere Verzehrsmengen beobachtet haben. Als die nordamerikanischen
Indianer Bisons jagten, aßen sie normalerweise zwölf
Pfund Fleisch am Tag, aber auch weitaus höhere Mengen.71 Von Melanesien berichtet Hintze: „Von tierischer
Nahrung waren Schweine und Hunde besonders
geschätzt und bildeten die Festspeise. Bei den Festschmäusen wurden unglaubliche Mengen davon vertilgt, bis der Vorrat vollständig verzehrt war ...”40,56 Bei
den Mbía in Bolivien beobachtete ein Ethnologe, wie
vier Personen an einem Tag elf Brüll- und Klammeraffen aßen, dazu einen Kaimanschwanz sowie etliche
Hokko-Hühner und Fische. Außerdem gab’s reichlich
Maniok.68
Einseitige Kost findet man bis in die jüngste Vergangenheit sogar in unserem Kulturkreis. Murschhauser
führt beispielhaft den „Irländer” sowie den „ostpreußischen Landarbeiter” an, die noch 1927 beide eine „tägliche Kartoffelration von mindestens 9 Pfund” vertilgten
– und sonst so gut wie nichts anderes. „Was dem Iren
die Kartoffel geworden, das ist dem chinesischen Kuli
... der Reis.” Er ernährt sich „fast ausschließlich” von
einer „Tagesration von 1.200 gr Reis” – gewöhnlich in
Form von Weißreis, der gekocht etwa vier Kilogramm
ergibt. „Der tägliche Verbrauch an Reis übersteigt, die
Kinder miteingerechnet, in Hinterindien ein Kilogramm
pro Kopf der Bevölkerung”, so Murschhauser.102
13
STEINZEITDIÄT
Fallbeispiel: Eskimos
Einseitigkeit und Maßlosigkeit kennzeichnet die traditionelle Ernährung der Inuit. Nach Steffansson gab es
unter den nordamerikanischen Eskimos Gruppen, die
pflanzliche Nahrung generell verabscheuten.56 Auf
Grönland verzehrte nach Murschhauser ein „junger,
kräftiger Eskimo in den Zeiten, da Robben nach Belieben erjagt werden können, Monate hindurch täglich 8
Pfund und mehr Fleisch”.102 Roß schreibt: „Fünf Pfund
Fleisch sind für den Eskimo eine Kleinigkeit”, und acht
Pfund Fett am Tag seien nichts Besonderes.126 Gibt es
Fisch, dann werden, wie Houben berichtet, „15 Pfund
Lachs pro Mann” als „normale Mahlzeit” angesehen.58
„In der Zeit der Legeperiode (von Eiderenten und
Vitamin C: Skorbut? Fehlanzeige!
Wie deckt ein traditionell lebender Eskimo seinen
Bedarf an „lebenswichtigem” Vitamin C? Vermutlich
über das rohe Fleisch. Der Name „Eskimo” bedeutet
soviel wie „Rohfleischesser”, abgeleitet vom Algonkinausdruck „Ayaeskimeow”.126 Wenn Vitamin C
lebenswichtig ist und alle Tiere außer Meerschweinchen und Menschen Vitamin C bilden können, muss
es vor allem in solchen Organen angereichert sein,
in denen es eine wichtige biologische Aufgabe erfüllt,
z. B. in den Nebennieren. Anscheinend ist es aber
nicht nur dort anzutreffen, denn als Mittel gegen
Skorbut wurde von vielen Polarvölkern neben dem
Mageninhalt und dem Blut der Rentiere auch gefrorener Fisch und Walfleisch angesehen.75,142
Weil Fleisch aber nun mal nicht gesund sein
kann, halten die Vitaminforscher stattdessen die
Rausch- oder Trunkelbeere (Vaccinium uliginosum)
für die wichtigste Vitamin-C-Quelle der Inuit. Allerdings gibt es an ihrer Wirkung erhebliche Zweifel:
„Da der Eskimo aber die Gewohnheit hat, die Beeren
wie Pillen zu verschlucken, so verlassen sie meist
völlig unverändert den Darmkanal”, heißt es in der
Schrift über den grönländischen Eskimo. In Alaska
wiederum scheint die so genannte Lachsbeere sehr
begehrt gewesen zu sein. Doch auch hier gibt es
Ausnahmen: „Die Eskimos am Coronationgolf [lebten] mitten im Überfluß dieser Beeren, ohne sie zu
benutzen.”56 Den Beweis, dass pflanzliche Kost nicht
zur Gesunderhaltung des Menschen erforderlich ist,
erbrachte Stefansson zusammen mit seinem Kollegen Andersen, die ein volles Jahr unter ärztlicher
Aufsicht ausschließlich sehr fettes, rohes Fleisch
aßen und sich dabei bester Gesundheit erfreuten.81
14
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Möwen) werden auch deren Eier in enormen Quantitäten, und zwar in rohem Zustande, verzehrt, und es
kommt dem Bewohner der Arktis nicht darauf an, sie
auch dann zu genießen, wenn sie bereits beträchtliche
Zeit ausgebrütet waren.”102
In der eisigen Kälte der Polarregionen scheint der
Eskimo von einer massiven Fett- und Eiweißkost eindeutig zu profitieren. Seinen typischen Tagesablauf
erläutert Murschhauser wie folgt: Das „Frühstück
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besteht aus einer Tasse Wasser, Suppe oder heutigen
Tages gewöhnlich Kaffee. Er zieht auf die Jagd entweder ohne jedwede Nahrung oder nur mit einem kleinen
Stück getrockneten oder gefrorenen Fleisches versehen. Kehrt er in den Nachmittagsstunden gegen 3 oder
4 Uhr in sein Zelt zurück, so füllt er seinen Magen bis
zu den Grenzen der Aufnahmefähigkeit mit gekochtem
Fleisch, um sich alsdann hinzulegen und für einige
Stunden zu schlafen. Gegen Abend steht er auf, unter-
Vitamin A: Blind durch Lehrbücher
Aber lesen wir nicht regelmäßig von Kindern in
Asien, die wegen der einseitigen Reiskost erblinden?
In der Tat enthält geschälter Reis nur wenig β-Carotin.
Ob die Dosis ausreicht, hängt jedoch davon ab, ob nur
das sprichwörtliche „Schüsselchen” gegessen wird
oder die besagte Tagesration von 1,2 Kilogramm
Rohreis. Auch wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Augenlicht und β-Carotin gibt, so gehen
die meisten Formen von Blindheit (v. a. Xerophthalmie) in der Dritten Welt nicht auf einen Vitaminmangel
zurück. Das gilt selbst dann, wenn das aus β-Carotin
gebildete Vitamin A therapeutisch wirksam ist. Ein
paar Beispiele aus aktuellen Publikationen:
z Eine Untersuchung der angeblich Vitamin-Abedingten Nachtblindheit bei Kindern aus Tansania
fand im Vergleich zu Gesunden keine Unterschiede im
Vitamin-A-Spiegel des Blutes. Fazit: „Berichte über
Nachtblindheit sind ein schlechter Hinweis auf einen
Vitamin-A-Mangel in dieser Population.”159
z Die Autoren einer aktuellen Studie aus Kambodscha kommen zu dem Schluss: „Xerophthalmie-Cluster bei Müttern und Kindern in Kambodscha gehen
mit Durchfallerkrankungen einher.”132
z Das Ergebnis einer Untersuchung aus dem Irak
mit 1- bis 3-Jährigen lautet: „Es bestand eine signifikante negative Korrelation zwischen Xerophthalmie
und Stillen, eine höchst positive Korrelation hingegen
mit häufigen Kinderkrankheiten, wie Masern, Durchfall
und Atemwegsinfektionen.”3
Als sich eine Gruppe westlicher Mediziner in
Bangladesh die Volksmeinung über die Ursachen von
Nachtblindheit einholte, wurde diese von der Bevölkerung auf einen Mangel an anständigem Essen zurückgeführt. Die Mediziner konnten sich damit anfreunden
und unterstellten sogleich, dass speziell Blattgemüse
gemeint sein müssten. Die Angaben zum möglichen
Grund einer Xerophthalmie passten weniger in das
z
Schema. Denn statt die „richtige” Antwort „Vitamin-AMangel” zu nennen, erklärten die Befragten, die
Erkrankung würde in erster Linie von der „Hitze” herrühren, „die von akuten Infektionen (insbesondere
Masern) hervorgerufen wird”.17
Unter der Überschrift „Masernblindheit” schreiben Augenärzte der Johns Hopkins University in Baltimore: „Masernblindheit ist die einzige Hauptursache
für Blindheit unter Kindern in Ländern mit niedrigem
Einkommen.”132
z
Für die häufigen Augenschäden in der Dritten Welt
sind demnach vor allem Infektionen und Durchfälle
verantwortlich sowie der Verzicht auf das Stillen. Da
die Vitamin-A-Spiegel von Kranken denen von Gesunden entsprechen, spielt das Vitamin nur eine untergeordnete Rolle. Vermutlich wäre es besser, den gefährdeten Menschen statt Vitaminpillen oder gentechnisch
verändertem Reis („Goldener Reis”) ein Stück Seife zu
stiften. Dieses vermochte die Kindersterblichkeit durch
Infektionen nämlich dramatisch zu senken und war
zudem spottbillig.85
Wirklich frei ist geschälter Reis übrigens nicht von
β-Carotin, sondern von einem ganz anderen Vitamin:
der Ascorbinsäure. Dennoch wird heute bei einseitiger
Reiskost aus unerfindlichen Gründen zwar Nachtblindheit beobachtet, nicht aber Skorbut. Schon wieder so ein Wunder der Vitaminforschung!
In den Industrieländern steht bei Augenschäden
ebenfalls kein Vitamin-A-Mangel im Vordergrund. Hier
reichen die Ursachen vom Sjögrens Syndrom und
Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse über Essstörungen sowie Magen-Bypass-Operationen bis hin
zur Einnahme von Valproat während der Schwangerschaft.18,25,26,64,80,145,152
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hält und vergnügt sich in seiner Art und pflegt vor dem
endgültigen Schlafengehen eine zweite Mahlzeit zu
sich zu nehmen, wobei er jetzt, selbst wenn Fleisch
vorhanden, den Genuß des Fisches vorzieht.”102 Zum
Reinigen der fettigen Finger wurde eine Schüssel mit
frisch gelassenem Urin herumgereicht, den die Frauen
„auch als Schönheitswasser” benutzten.56
“Zieht er im Winter mit seinen Schlittenhunden auf
die Jagd nach dem Norden”, so Murschhauser weiter,
„versieht er sich mit getrocknetem oder gefrorenem
Fleisch und Speck. Hat er gegen Abend seine Vollmahlzeit aus gefrorenem Fleisch (bei – 30° und kälter)
beendet, so wird er, wie auch seine Hunde ... zunächst
von einem Kälteschauer mit Schüttelfrost befallen;
aber schon nach einer halben Stunde, sobald Verdauung und Verbrennung der Nahrung in Gang gekommen, erfüllt ihn ein Wärmegefühl, das Mann und
Hunde dazu befähigt, die Nacht im Freien schlafend zu
verbringen.”102
Genussmittel: Moral statt Wissen
Zum Vorbildcharakter des „guten Wilden” gehört
nicht nur der Hinweis, er habe eine gesunde Vollwertkost beherzigt und auf Völlerei verzichtet. Aus Sicht
des christlichen Abendlandes trotzte er zudem erfolgreich den „Suchtgiften”. Angeblich bestimmten nicht
Ekstase oder Rausch die Wünsche der „Wilden”, sondern ein entsagungsvolles Leben nach Art Johannes
des Täufers in Einklang mit jener Natur, die sich ökologische Märchenerzähler westlicher Prägung zusammenphantasiert haben. Diese Vorstellungen bedienen
auch Eaton und seine Mitstreiter: Ihrer Ansicht nach
enthielten sich die Menschen der Steinzeit des Zuckers, blieben stets nüchtern und waren dem Tabak
abhold.37,165 Zur Belohnung wurden sie von unseren
modernen Zivilisationskrankheiten verschont. Dieses
Paradies auf Erden haben wir uns wohl mit unserem
Hang zum verfeinerten Geschmack endgültig verdorben. Monsieur Brillat-Savarin darf sich im Grabe
umdrehen.
Doch war der Zucker wirklich so verpönt oder bloß
eine exotische Ausnahme, an dem nur der Häuptling
an hohen Feiertagen lecken durfte? Im Gegenteil:
Honig ist nach wie vor überall auf der Welt begehrt. So
berichtet der Verhaltensforscher Armin Heymer, dass
die Ituri-Pygmäen im afrikanischen Regenwald systematisch Honig sammeln und dafür in den Monaten Mai
bis Juli spezielle Honiglager organisieren. „Der eingesammelte Honig wird nach bestimmten sozialen
Regeln unter den Mitgliedern einer Wohngemeinschaft
aufgeteilt und beträgt in dieser Jahreszeit etwa 70%
15
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des Gesamtgewichtes der eingebrachten Nahrung;
das entspricht sogar 80% der von den Pygmäen aufgenommenen Kalorien.”53 Allerdings besteht die süße
Kost nicht nur aus purem Zucker, denn die Pygmäen
genießen die in den Waben enthaltene Bienenbrut
gleichermaßen. Erleichtert wird ihnen die Suche durch
den Honiganzeiger (Indicator indicator), einen Vogel,
der auch Honigdachsen oder Pavianen den Weg zum
nächsten Bienenstock weist. Während sich Mensch
und Säugetier am frischen Honig laben, erhält der
Honiganzeiger stets Wabenwachs und Larven als Finderlohn.63
Für die Arawete, die im Regenwald des Amazonas
leben, ist der Honig so wichtig, dass sie über 45 Klassifikationen dafür verfügen.95 In Australien liefern
neben Bienenhonig auch Honigameisen einen substanziellen Beitrag zur Ernährung.106 Ein Komantschenstamm liebte den Honig so sehr, dass er sogar
den Namen „Honigesser” bekam.51 Im hohen Norden
Amerikas genossen die Indianer während der Ahornzuckerernte einen Monat lang fast ausschließlich den
süßen Saft der Bäume (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2004/
H.1/S.15). Gegen diese Zuckerorgien verblasst unser
weihnachtlicher Süßwarenkonsum, dessen Zuckeranteil erheblich niedriger liegt und der selbst im ungünstigsten Fall nach wenigen Tagen zugunsten von Bratwurst, Pommes und Pizza aufgegeben wird.
Auch die Vorstellung vom abstinenten Steinzeitmenschen ist ziemlich weltfremd. Schließlich verfügen
viele Naturvölker über reichlich Erfahrung, aus den
unterschiedlichsten stärke- oder zuckerhaltigen Rohstoffen berauschende Getränke herzustellen.141 Die
Fermentation ist eine der ältesten Formen der Lebensmittelverarbeitung35, wobei sich eine alkoholische
Gärung kaum vermeiden lässt.65 Obst beispielsweise
geht noch am Baum oder als Fallobst in Gärung über.
Kaum vorstellbar, dass der Steinzeitmensch dies aus
Überlegungen der Gesundheit und des Jugendschutzes links liegen ließ – vor allem dann, wenn er Hunger
hatte. Ein gewisser Hang zum Alkohol ist sogar den
Tieren zueigen: Es mangelt nicht an Berichten über
Vögel und Säuger, die im Herbst vergorene Früchte
suchen, um danach besoffen durch die Gegend zu flattern oder zu torkeln.22 Sollte der doofe Mammutjäger
davon tatsächlich nichts mitgekriegt oder gar bewusst
jegliches Vergären seiner gesammelten Früchte vermieden haben?
Beim Tabakkonsum ist die Datenlage eindeutig.
Nein, es war nicht Kolumbus, der das Nikotin der Alten
Welt verfügbar machte. Denn aus aller Welt, nicht nur
aus Südamerika, sondern auch aus China, Österreich
16
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und Ägypten liegen Analysen prähistorischer Knochen
vor, die manchmal erkleckliche Mengen an Cotinin aufweisen. Cotinin ist ein Metabolit des Nikotins und dient
als Beweis für einen Nikotinkonsum während des
Lebens. Zwar gab es damals noch keine Zigarettenautomaten, aber Tabakpflanzen waren wohl weiter verbreitet als die Geschichtslehrer ahnen. Nachweise liegen für Amerika, Südostasien, Australien und sogar
das südliche Afrika vor. In Europa werden die Cotiningehalte in den Knochen auf den Konsum von Bauern-
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tabak, Nicotiana rustica (Machorka), zurückgeführt, der
vor der Entdeckung der Neuen Welt in den pharmakologischen Werken als „Gelber Bilsam” firmierte.10,116
Wann immer unsere Vorfahren an Drogen – gleich
welcher Art – kamen: Sie haben diese mit Begeisterung genutzt, um mit den Geistern in Verbindung zu
treten oder das Glücksgefühl auszukosten. Das calvinistische Ideal der lebenslangen Selbstkasteiung ist
den meisten Kulturen außerhalb der protestantischen
Einflusssphäre völlig fremd.
Viertes Steinzeitmärchen:
Unsere Vorfahren litten stets Hunger
Angeblich ist der moderne Mensch ein Opfer seiner
Steinzeitgene. Während seine Ahnen noch Hungertücher benagten, lebt er plötzlich in einem unverdienten
Wohlstand, mit dem er nicht klarkommt. Die Folgen
sind Fettsucht, Diabetes, Herzkrankheiten, Alzheimer,
ja sogar der Tod. Diese Idee fällt in protestantischen
Gesellschaften gewöhnlich auf fruchtbaren Boden.
Nur: Welche Gene sich durchsetzen konnten, hing
wesentlich von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Und
da war der Überfluss mindestens genauso oft Begleiter
der Menschheit wie der Hunger – und damit auch die
Anpassung an den Wohlstand.
Bernard Arcand von der Laval University in Quebec
ist überzeugt, dass der Überfluss, wie ihn beispielsweise die Cuiva in Kolumbien und Venezuela kennen,
typischer für Jäger-Sammler-Kulturen ist als der Mangel. Aus unserer Perspektive leben die Cuiva im Hinblick auf ihre Technik „primitiv”, aber jeder Erwachsene
verzehrt täglich 400-500 Gramm Fleisch sowie reichlich Obst und Gemüse. Er arbeitet dafür lausige 15-20
Stunden die Woche, der Rest steht seinen kollektiven
oder persönlichen Vergnügungen zur Verfügung.7 Gunter Kroemer, der viele Jahre mit entlegenen Indiovölkern des Amazonas arbeitete, beschreibt dieses Phänomen so: „Es gibt einen Überschuss, der nicht ausgenützt wird. Solche Gesellschaften sind ‚Gesellschaften
des Überflusses’. Sie sind Beispiele von technologisch
einfachen Gesellschaften, die nicht am Rande des
Elends leben, sondern die, was Arbeit und Ernährung
angeht, gut leben.”73
Ähnliche Berichte liegen über die Hadza in Tansania
oder die austronesischen Seenomaden vor.36 Bei einer
Studienreise durch die Kirgisensteppe schwärmt Max
H. Kuczynski von „der Fruchtbarkeit der Steppe, die
einen gewaltigen Überschuß erzeugt”.74 Auch Armin
Heymer, der die Pygmäen begleitete, weist die
üblichen Darstellungen eines von Mangel und Not
bestimmten Lebens zurück: Vielmehr erfreuten sich die
Pygmäen bei einer gemütlichen Lebensweise eines
guten Ernährungszustandes, der „im allgemeinen besser ist als jener der seßhaften Hackbauern oder auch
sonst Landwirtschaft betreibender Völker Afrikas”.53
Die Ju/’hoansi in Namibia wurden von Ethnologen
sogar als „das Original einer Überflußgesellschaft”
bezeichnet.15 An zwei bis drei Tagen ist ihre Arbeit für
die ganze Woche getan. Über die Aborigines bemerkt
Isaacs, ihr „oberstes Ziel” bestehe darin, „unnötige
Arbeit zu vermeiden”62 – ein Wohlstand, der selbst
modernen Industriegesellschaften fremd ist und natürlich dem christlichen Ethos von „ora et labora” widerspricht.
Dass unsere Gesellschaft meist etwas mitleidig auf
die „Steinzeitkulturen” von „Jägern und Sammlern” herabblickt, hat seinen Grund. Schließlich sind wir stolz
auf die technischen Errungenschaften, mit denen wir
uns umgeben und die unser Leben bestimmen, sowie
einen Markt, der unsere Wünsche und unser Denken
zwangsläufig auf Materielles lenkt. Was aber, wenn
sich das hohe Wohlstandsniveau vieler „primitiver” Völker gerade darauf gründet, dass sie aus innerer Überzeugung auf Technik und Geld verzichten? Sie häufen
keine Besitztümer an und bauen keine Paläste – nicht,
weil sie es nicht könnten, sondern weil sie sich nicht
zum Gefangenen materieller Güter oder gar des Schuldendienstes machen möchten.36 Weder Gewinn noch
materielle Zukunftssicherung gelten ihnen als Lebensziele. Das Maß aller Dinge sind die persönliche Freiheit
und das selbstverständliche Vertrauen in die Zukunft,
die so genannte Kohärenz (siehe Seite 27).
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Der Preis von Freiheit und Wohlstand
Doch nicht alle Gesellschaften hatten das Glück, im
Wohlstand leben zu dürfen. Viele verbrachten ihr
Leben in Regionen, in denen der Nahrungserwerb
alles andere als gesichert war. Typisches Beispiel sind
die Südseeatolle, die regelmäßig von Hungersnöten
heimgesucht wurden, da sie kaum Möglichkeiten für
Landwirtschaft oder andere alternativen Nahrungsquellen bieten. Blieben die Fischschwärme aus, verhungerten die Bewohner. Deshalb ist hier ein spezielles „Energiespar-Gen” verbreitet. Es bewirkt nicht nur
eine besonders gute Futterverwertung, was zu „Übergewicht” führt, sondern hat auch seinen Preis: Viele
Inselbewohner erkranken um das 50. Lebensjahr an
Diabetes.123
Selbst im Überfluss sind gelegentliche Hungersnöte nicht ausgeschlossen. Deshalb versuchen Naturgesellschaften stets sicherzustellen, dass die kommende
Generation genug zu essen hat. Allerdings tun sie das
auf andere Weise als arbeitsteilige oder globalisierte
Populationen, die ihre Nahrung auf einem Weltmarkt
einkaufen. Die Maßnahmen der „Wilden” wirken mitunter schockierend, da sie unseren Werten widersprechen.
Jedes Ökosystem vermag nur eine begrenzte Zahl
von Menschen zu ernähren. Im Regenwald erlaubt die
verfügbare Nahrung meist nur einer Person pro Quadratkilometer ein gutes Auskommen. Wenn die Bevölkerung wächst, herrscht alsbald Hunger. In Gesellschaften, die dem technischen Fortschritt abhold sind, lässt
sich eine Überbevölkerung auf lange Sicht nur durch
Krieg, Kindstötung oder Kannibalismus vermeiden.
Letzteres bietet aus ernährungsphysiologischer Sicht
ein absolut vollwertiges und noch dazu fettes, sprich
besonders schmackhaftes Lebensmittel. Je knapper
die Nahrung, desto größer ist der Anreiz, die Nahrungskonkurrenten zu verspeisen. Wer will, kann in
diesem Kontext durchaus von einer „nachhaltigen”
Bevölkerungspolitik sprechen.
Auf der Südseeinsel Tahiti wurde eine Option
genutzt, die Hintze so beschreibt: „Trotz der anscheinend durchaus nicht ungünstigen Ernährungsverhältnisse wurden etwa zwei Drittel aller Kinder, besonders
Mädchen umgebracht; die ersten drei Kinder und Zwillingskinder immer; mehr als zwei oder drei zog niemand auf; künstlicher Abort war häufig. Man wollte
offenbar die Zahl der Bewohner nicht zu sehr ansteigen lassen.”56 Soviel zur Realität einer Naturgesellschaft, deren Bild in der Öffentlichkeit von der Phantasie Gauguins sowie von Reiseprospekten geprägt
wird. Bei den südamerikanischen Yanomami stirbt
jedes zweite Mädchen im ersten Lebensjahr, in mehr
17
STEINZEITDIÄT
als der Hälfte der Fälle durch Kindstötung.40 Nicht
anders bei den Aborigines: Um zu überleben, trieben
sie bis zur Hälfte aller Föten ab.40
Über die Inuit schreibt Roß: „Die Eskimo sind so
zärtliche Eltern, wie die meisten Primitiven. Aber
bereits heute müssen sie zeitweise ihre Zuflucht zum
Kindesmord nehmen, wenn die Familie eine Grenze
überschreitet, die nicht mehr ernährt werden kann. Es
werden, genau wie bei den Chinesen, nur neugeborene Mädchen umgebracht, wenn sie noch keinen
Namen, also nach ihrer Vorstellung auch noch keine
Seele haben.” Da dies die Zahl der heiratsfähigen
Frauen vermindert, „werden Kinder bereits im Mutterleib verlobt, für den Fall, daß sie als Mädchen geboren
werden sollten. Ist aber auch bei der Geburt noch kein
zukünftiger Freier in Sicht und den Eltern noch kein
Sohn geboren, so wird häufig ... das Neugeborene
erstickt, ... indem man ihm die dicke, warme Karibudecke ... bis über den Kopf zieht.”126 Die Hawaiier sollen „den größten Teil der Kinder gleich nach der Geburt
töten und namentlich weibliche lebendig begraben”.134
Der dänische Polarforscher Knud Rasmussen (18791933) berichtet von der Boothia-Halbinsel, dass dort
nicht nur die Mädchen erdrosselt werden, um die Zahl
der essenden Münder zu verringern. Es sei auch „ein
allgemeiner Brauch, daß alte Leute, die sich nicht mehr
selbst helfen können, ihrem Leben durch Erhängen ein
Ende machen”.119
Grausame Realität
Nach Agatharchides, Geograph und Historiker am
Hof der Ptolemäer (200-120 v.u.Z.), erwürgten die in
den Höhlen am Roten Meer wohnenden Troglodyten
ihre Alten, Kranken und die sonst zur Arbeit untauglichen Personen mit Ochsenschwänzen. Auch die afrikanischen Barotse im Marutse-Mambunda-Reich übergaben „kranke Leute, die durch lange Krankheit ihrer
Umgebung zur Last fielen, dem Scharfrichter zum
Ertränken”.70 Von den Massagetae, die östlich des
Kaspischen Meeres lebten, berichtet der griechische
Historiker Herodot, dass sie ihre Alten im Kreise ihrer
Angehörigen töteten, um sie dem Kochtopf zu überantworten. Sein Kollege Strabo ergänzte: „Für den schönsten Tod halten sie es, wenn sie hochbejahrt mit Hammelfleisch zusammengehackt und damit zugleich verspeist werden. Die an Krankheit Verstorbenen werfen
sie hin wie Übeltäter und wert von wilden Tieren
gefressen zu werden.”166 Über die in Indien lebenden
Padaier lesen wir bei Herodot, dass sie ihre Kranken
töteten, um zu verhindern, dass sie verfaulten. Dann
wurden sie verzehrt. Auch die indischen Kallatier pflegten ihre bejahrten Eltern zu verspeisen.60
18
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John Koty, der zur Sitte der Kranken- und Altentötung eine Fülle von Material zusammengetragen hat,
beschreibt die Situation auf den Inseln der FidschiGruppe so: „Alle gebrechlichen, kranken und alten Personen wurden durch einen Keulenhieb getötet oder,
häufiger noch, lebendig begraben.” Anders bei den
Vao-Insulanern in Polynesien. Sie „bereiten den Alten,
die sich nicht mehr selbst helfen können, ein sanftes
Ende” und tun dies blutenden Herzens, indem sie sie
„nach einem letzten guten Mahle erdrosseln oder
begraben”.70 Die Ostfinnen kochten dem Greis vor
dem Tode einen Brei, setzten ihn an den Rand einer
Grube und schlugen ihn mit einer Keule tot.70 In den
tropischen Waldgebieten Südamerikas werden Todkranke einfach im Wald ausgesetzt und mit einem
Dach über dem Kopf sowie etwas Nahrung versehen.
Auch pflegt man aufgegebene Kranke an den Fluss zu
tragen, mit Tabak zu betäuben und ins Wasser zu werfen.40
Diese Berichte sind keineswegs repräsentativ für
alle Naturvölker. Aber sie gehören zur Realität vieler
Gesellschaften, die entweder den Wohlstand wahren
wollten oder dem Hunger zu entgehen suchten. Derartige Praktiken gab es natürlich auch in unserem Kulturkreis. In Sparta wurde jedes Neugeborene einem Gremium von Greisen vorgelegt. Der griechische Schriftsteller Plutarch schildert die grausame Auslese: „Die
Ältesten besichtigten das Kind ganz genau und wenn
es stark und wohlgebaut war, ließen sie den Vater es
aufziehen ... War es aber schwach und unschön
gestaltet, ließen sie den Säugling in ... ein tiefes Loch
am Taygetosgebirge werfen.”158
Einem etwas aktuelleren Werk von 1684 entnehmen wir folgende Zeilen: „Die alten Preußen haben
nicht allezeit erwartet, bis daß ein Mensch natürlichen
Todes gestorben, auff daß sie ihn begruben, sondern
sie haben offt, wenn sie gemercket, daß die Krankheit
tödlich oder auch nur landwürdig und gefährlich, den
Kranken Hand angeleget.” Gewöhnlich wurden sie mit
einem Kissen erstickt. Übler erging es dem Gesinde:
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STEINZEITDIÄT
„Dieses aber ist das größte und schröcklichste Barbaries, daß sie ihre lahme, blinde, alte oder kranke
Knecht haben auff die Bäume zu hängen pflegen,
damit sie nicht dürfften umbsonst versorgen.”50
In Erinnerung an die Sitte, jene Senioren zu töten,
die der Gemeinschaft zur Last fielen, trugen nicht wenige Felsen und Klippen in Europa den Namen „Greisenfels”. Mancherorts wurden die Alten mit eigens dafür
bestimmten Keulen totgeschlagen. Koty: „Die Sitte des
Tötens mit einer Keule scheint eine weitere Verbreitung gehabt zu haben. Am Stadttor mehrerer schlesischer und sächsischer Städte hingen noch bis in das
letzte Jahrhundert hinein solche Keulen, die der Überlieferung nach zu diesem Zweck dienten.” Als Wahrzeichen von Jüterbog diente ebenfalls eine Keule zusammen mit einer Inschrift, die eindeutig auf ihren Zweck
hinwies.70
Kondome im Stadtwappen
Wer diese Art von Menschentötungen ablehnt,
muss sich zu einer Wirtschaftsweise durchringen, die
in der Lage ist, eine wachsende Zahl hungriger Münder
zu sättigen. Ackerbau und Viehzucht öffneten den Weg
dazu, denn auf einer gerodeten Fläche ist es möglich,
eine viel größere Zahl von Menschen zu ernähren als
im Regenwald. Bei der Rodung wird jedoch zwangsläufig Natur zerstört – was satte Menschen in den
Industrieländern immer wieder dazu veranlasst, den
Zeigefinger zu erheben und die Wahrung der Schöpfung anzumahnen. Wer aber die Menschen in der Dritten Welt daran hindert, sich Nahrung zu verschaffen,
zwingt sie letztlich, auf Praktiken zurückzugreifen, die
aus unserer Sicht alles andere als menschenwürdig
sind.
Natürlich vermochte auch die intensive Landwirtschaft nicht alle Ernährungsprobleme zu lösen, wie die
immer wiederkehrenden Hungersnöte in der Geschichte belegen. Doch meist dauerte es nicht lange und der
Ackerboden ernährte mehr Menschen als zuvor. Insgesamt müssen wir trotz Bevölkerungsexplosion anerkennen, dass die Produktivität unserer Landwirtschaft
erstaunlich gut mitgehalten hat. Ein wichtiger Faktor
war der Kunstdünger, der auch in Ländern ohne Viehhaltung, d. h. ohne Naturdünger enorme Ernten ermöglichte. Inzwischen hat diese Entwicklung eine
neue Wendung genommen: Die Weltbevölkerung
wächst langsamer, vor allem weil wirksame Verhütungsmittel eine im großen und ganzen überschaubare Familienplanung ermöglichen. Statt Keulen gehören
heute also eher Kunstdünger und Kondome ins Stadtwappen.
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STEINZEITDIÄT
FÜNFTE THEORIE
19
STEINZEITDIÄT
Fünftes Steinzeitmärchen:
Unsere Vorfahren aßen nur unverarbeitete Naturkost
Die Märchenfiguren der Steinzeitdiät haben
bekanntlich nur die frische Nahrung gegessen, die
Mutter Natur ihren Adepten reichte: knackige Salate,
blutige Steaks und frische Vollkornähren. Kein Wunder,
dass diese Gesellschaften bei all der kaum verarbeiteten, vollwertigen und vitaminreichen Kost frei von Diabetes und Herz-Kreislauf-Leiden blieben. Krebs kannten sie nicht und auch bei den Infektionskrankheiten
mussten sie sich wenig Sorgen machen, schließlich
hatten sie ein starkes Immunsystem. Und Parasiten
gab es dort, wo die natürlichen Kreisläufe noch funktionierten, offenbar sowieso nicht.
„Bis vor 500 Generationen”, glauben O’Keefe und
Cordain107 zu wissen, „konsumierten alle Menschen
nur natürliche und unverarbeitete Nahrung, die sie
rundum gesammelt oder erjagt hatten. Ihre Kost enthielt daher viel mageres Eiweiß, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (besonders Omega-3-Fettsäuren), einfach ungesättigte Fette, Ballaststoffe, Vitamine, Mineralien, Antioxidanzien und andere gesundheitsfördernde biologisch aktive Substanzen. Historische und
anthropologische Studien zeigen, dass Jäger und
Sammler in der Regel gesund, fit und weitgehend frei
von degenerativen kardiovaskulären Krankheiten sind,
wie sie in modernen Gesellschaften häufig vorkommen.” Katharine Milton, Anthropologin in Berkley an
der University of California, pflichtet ihnen bei: „Wahrscheinlich litt keine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft,
ungeachtet des konsumierten Anteils an Makronährstoffen, an Zivilisationskrankheiten.” Und wem hatten
sie das zu verdanken? „Die meisten natürlichen Nahrungsmittel enthalten wenig Energie, und diese Tatsache dürfte zusammen mit der langsamen Passage von
Nahrungspartikeln durch den menschlichen Verdauungstrakt als natürlicher Schutz vor Fettleibigkeit und
anderen Zivilisationskrankheiten gedient haben.”96
Wenn Mutter Natur den Tisch deckt, dann können
die Menschenkinder offenbar hemmungslos schlemmen. Doch glauben die Experten wirklich, dass Robbenspeck, Fleisch, Honig oder Ahornsirup, die von den
verschiedensten Völkern in enormen Mengen verschlungen wurden, kalorienarm und ballaststoffreich
sind? Und bezweifeln sie ernsthaft, dass die Menschheit seit jeher nach Möglichkeiten gesucht hat, um an
sättigende und damit schmackhafte Speisen zu gelangen? Wie beliebig die Theorien sind, zeigt die Vorstellung von Cordain und Kollegen, dass Getreide vor der
neolithischen Revolution, also vor der Erfindung des
Ackerbaus, keine Rolle gespielt hat, während andere
Autoren gerade die regelmäßige Ernte von wildwachsenden Beständen als Voraussetzung für ihre Inkulturnahme ansehen.
Vollkorn: mitten ins Herz
Doch unabhängig davon, welche der beiden Theorien die damalige Realtität nun besser beschreibt:
Bemerkenswert ist zumindest die Überlegung von Cordain, wonach Körnerkost koronare Herzerkrankungen
verursacht und damit an der Entstehung von Zivilisationskrankheiten beteiligt ist. Seine These gründet sich
auf der Beobachtung, dass nur jene Tierarten an Arteriosklerose erkranken, die von Natur aus kein Getreide
fressen. Die Krankheit tritt erst dann auf, wenn solche
Tiere eine artherogene Diät auf Getreidebasis erhalten. Der Originalquelle, die Cordain zitiert, entnehmen
wir: „Unter Vögeln sind diejenigen Arten nicht anfällig,
deren natürliche Nahrung aus Körnern besteht, während die anfälligsten Arten diejenigen sind, die sich
normalerweise von Früchten und frischer tierischer
Nahrung ernähren. Unter Säugern sind die Primaten,
einschließlich des Menschen, am anfälligsten ... Ratten und Mäuse hingegen, die natürliche Körnerfresser
sind, sind nicht anfällig für Atherome. Das Hausschwein, das weitgehend unnatürlich mit Getreide
ernährt wird, leidet unter Atheromen, während Wildschweine, die sich von Schösslingen und Knollengewächsen ernähren und als tierische Frischbeilage Ratten und Schlangen töten, nur selten davon betroffen
sind.”42
Die Schlüsselrolle für den artherogenen Effekt weist
Cordain dem Weizenkeimlektin (WGA) zu: Es gelangt
durch die Darmwand in den Blutstrom, aktiviert dort die
Blutplättchen und bindet an die Makrophagen der Arterien sowie an die Rezeptoren für Insulin und IGF. Dieses Bild deckt sich mit klinischen Erfahrungen, wie sie
beispielsweise von Karl Pirlet, ehemals Ordinarius an
der Uniklinik Frankfurt, gemacht wurden: Bei Patienten, die sich seit langem „vollwertig” ernährt hatten,
beobachtete er massive arteriosklerotische Veränderungen.114 Für eine ursächliche Rolle der Lektine
spricht auch, dass Erdnussöl zu den artherogensten
Fetten gehört – aber weniger wegen seiner gesättigten
Fettsäuren, sondern wegen seines Lektins. Das Erdnusslektin bindet wie das WGA an die Arterien. Entfernt man es z. B. durch Raffination, so schwinden die
Effekte auf das Herz-Kreislauf-System.72
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STEINZEITDIÄT
FÜNFTE THEORIE
Kochkunst: Erfindung der Steinzeit
Vielen Menschen erscheint es logisch, dass die
Steinzeitvölker notgedrungen nur Rohkost gegessen
haben. Die aufwändige Kochkunst konnte sich dem-
STEINZEITDIÄT
nach erst viel später entwickeln. Allerdings definiert die
Nutzung des Feuers den Status der Menschwerdung.
Dabei ging es sicherlich weniger um die Beleuchtung
nächtlicher Aktivitäten oder das Verscheuchen wilder
Tiere: Das Feuer erlaubte den Aufschluss der Stärke in
Das Geheimnis des Kochens
Es spricht viel dafür, dass die Kochkunst bereits zu
Zeiten erfunden wurde, als noch keine geeigneten
Gefäße und speziellen Herde zur Verfügung standen.
Bei den Aborigines beispielsweise wird auf heißer
Holzkohle geröstet, in Asche gebacken oder in Erdöfen gegart. Es gibt viele verschiedene Arten von Erdöfen. Peter Beveridge beschreibt sie wie folgt: Wenn
die Aborigines einen geeigneten Platz gefunden
haben, graben sie ein Loch von etwa 90 Zentimeter
Durchmesser und 60 Zentimeter Tiefe. Sie füllen es
mit Feuerholz auf und platzieren darüber ausgewählte
Lehmstücke oder Bruchstücke von Termitenbauten.
Wenn das Feuer abgebrannt ist, sind die Erdklumpen
nicht nur verbacken, sondern auch glühend rot. Diese
werden zunächst entfernt und die Feuerstelle gesäubert. Nun kommt eine dünne Grasschicht auf den
Boden. Darauf legt man das Wild und bedeckt es
erneut mit feuchtem Gras. Am Ende werden die rotglühenden Lehmbrocken hineingegeben und darüber
Erde oder Sand verteilt, damit kein Dampf entweicht.14
Vom Erdloch zum Tongefäß
Diese Öfen eignen sich nicht nur für Kleinvieh und
Knollen, sondern auch für großes Wild wie Kängurus.
Um den aufsteigenden Dampf im Ofen einzuschließen, wird die Öffnung schnell mit der Rinde des Melaleuca-Baums abgedichtet und mit Sand oder Erde
bedeckt. Mehrere Personen halten während der Garzeit Ausschau nach austretendem Dampf. Gelegentlich muss dann erneut Erde nachgefüllt werden. Fällt
diese auf die zu garenden Speisen, dann gilt das als
Zeichen schlechter Kochkunst. Es gehört viel Erfahrung dazu, den Ofen zum richtigen Zeitpunkt zu öffnen, denn dieser hängt nicht nur von der Art und
Menge des Gargutes ab, sondern auch von der Größe
der Grube, der Zahl der Steine und der Hitze, die sie
aufgenommen haben. Wird zu früh geöffnet, so entweicht der Wasserdampf und es ist aufgrund des
Feuchtigkeitsverlustes nicht mehr möglich, den Ofen
erneut zu schließen und das Gargut zuende zu
kochen. Außerdem eignet sich nicht jedes Holz für
diese Art von Ofen, da manche Hölzer Toxine beinhalten.12,62
Denkbar, dass die ersten Tongefäße auf diesem
Wege entstanden sind: Wurden mit Lehm ausgekleidete Kochmulden immer wieder genutzt, wurde
zwangsläufig auch die Erde ringsherum immer weiter
eingetreten. Dabei blieb der durch das Kochfeuer
gebrannte Lehmrand erhalten. Auf diese Weise erhielt
man nach einiger Zeit eine Art Tongefäß. Danach war
es relativ einfach, durch „Brennen” gezielt Gefäße zu
erzeugen.52
Kostbare Kochsteine
Aus den Erdöfen könnte sich auch die Praxis der
Kochsteine entwickelt haben – ein Garverfahren, das
auf der ganzen Welt üblich war. Dabei werden ausgewählte faust- bis kopfgroße Steine stark erhitzt und
dann in das Essen gegeben, welches sich in speziellen Erdgruben, eigens dafür geflochtenen Kochkörben
oder sonstigen Gefäßen wie Bisonmägen befindet.
Durch ständiges Rühren verhindert man, dass die
Kochkörbe Schaden nehmen. Mancherorts wurden
ovale Steine direkt in die ausgenommene Körperhöhle von Vögeln gelegt, um diese zu garen. Zum Kochen
eignen sich nur ausgewählte Steine: Sie dürfen weder
in der Hitze noch bei der Zugabe zu kalter Flüssigkeit
platzen und sollten natürlich den Geschmack der
Speisen nicht nachteilig beeinflussen. Am besten werden diese Anforderungen offenbar von Basalt erfüllt.
Kalifornische Indianer betrachteten Kochsteine als
Familienbesitz und vererbten sie von Generation zu
Generation weiter.5
Vom Kochstein zum Kochen mit Wasser war es nur
noch ein kleiner Schritt. Vermutlich ist diese Praxis
unabhängig an vielen Orten der Erde entstanden.
Einen Entstehungsweg legen Beobachtungen bei den
Yanomami am Amazonas nahe. Sie graben an einem
sandigen Ufer ein Loch, das sich mit Wasser füllt. Dies
kleiden sie mit Bananenblättern aus, und geben die zu
garende Speise dazu. Dann legen sie die glühend heißen Kochsteine hinein.52
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STEINZEITDIÄT
FÜNFTE THEORIE
Knollen und die Zerstörung zahlreicher hitzelabiler
Giftstoffe. Eine weitere Methode der Verarbeitung war
die Fermentation. Sie erhöhte die Verdaulichkeit durch
enzymatischen Aufschluss. Zugleich wirkte sie entgiftend. So zerstören beispielsweise die Sauerteigmikroben das Gluten des Getreides, das sonst Zöliakie verursachen kann.34 Durch eine Entgiftung per Hitze und
Fermentation konnte die Menschheit ihren Speiseplan
erheblich ausgeweiten. Das erlaubte es ihr, den
gesamten Globus zu besiedeln.
Und woher haben die ersten Menschen gewusst,
dass sie ihre Nahrungsmittel vor dem Verzehr entgiften
müssen? Diese Notwendigkeit war damals längst
bekannt – und zwar bis hinein ins Tierreich. Es ist
gewiss kein Zufall, dass etwa Blattschneiderameisen
in großem Stil Fermentation betreiben. Oder dass
Neuntöter giftige Insekten auf Dornen aufspießen und
sie erst fressen, wenn deren Gift durch enzymatische
Prozesse abgebaut ist. Papageien wiederum praktizieren Geophagie: Sie fressen gezielt eine bestimmte Art
von Erde – nicht etwa, um Mineralstoffmangel auszugleichen, sondern um damit Giftstoffe wie Alkaloide in
ihrer Nahrung zu binden. Gleiches wurde auch bei
Affen beobachtet. Pica, wie die Geophagie beim Menschen genannt wird, ist bei vielen Naturgesellschaften
verbreitet. Sie können dadurch giftige Pflanzennahrung wie alkaloidhaltige Nachtschattengewächse
schadlos verzehren.115
Auch so genannte Naturvölker essen alles andere
als unverarbeitete Nahrung. So „primitiv” ihre technischen Fähigkeiten ansonsten wirken mögen: Ihre
Lebensmittelzubereitung befindet sich gewöhnlich auf
einem hohen Niveau, vor allem wenn Pflanzen auf
dem Speiseplan stehen, also wenn Antinutritiva entgiftet werden müssen. Typisches Beispiel sind die Aborigines Australiens, denen eine besonders „gesunde”
Ernährung nachgesagt wird. Die Kargheit des Landes
zwingt sie dazu, alle irgendwie nutzbaren Rohstoffe
auszuschöpfen. Gleiches wird von den Indianern Nordamerikas berichtet.5 Das bedeutet nicht selten eine
aufwändige „Genießbarmachung”, die sich für jede
Speise ein wenig anders gestaltet. Das küchentechnische Wissen und die Erfahrung, die zur Zubereitung
der vielen Lebensmittel erforderlich sind, entsprechen
in ihrem Umfang mindestens den Lerninhalten, die sich
ein Koch hierzulande aneignen muss.
Im Falle von Yams entscheidet die Pflanzenart über
die angewandte Technik. Die Aborigines beispielsweise entgiften die Yamswurzel Dioscorea bulbifera,
indem sie die Knollen kochen und anschließend in
Asche rösten, schälen, zerreiben und zerstoßen. Am
Ende wird das Produkt mindestens einen Tag in flie-
21
STEINZEITDIÄT
ßendem Wasser eingeweicht. Beim Ostindischen Pfeilwurz (Tacca leontopetaloides) kann das Kochen und
Rösten den giftigen Bitterstoffen nichts anhaben. Deshalb lassen die australischen Ureinwohner die Knollen
zunächst in der Sonne trocknen, um sie dann in ein
Behältnis zu schaben und unter Wasserzugabe durch
einen Grasmaschenkorb zu sieben. Diesen Prozess
wiederholen sie so lange, bis das Wasser nicht mehr
bitter schmeckt. Schließlich wird die gewonnene
Stärke an der Sonne getrocknet und zu Kugeln
geformt.61,62
Kochen und Evolution
Dass der Mensch seine Nahrung von Anfang an in
aller Regel verarbeitete, belegen die anatomischen
Besonderheiten seines Verdauungstraktes. Dieser
unterscheidet sich deutlich von dem seiner nächsten
Verwandtschaft: Im Vergleich zu den Menschenaffen
verfügt der Homo sapiens nicht nur über ein zierlicheres Gebiss, sondern auch über einen etwa auf die Hälfte reduzierten Enddarm. Das bedeutet, dass Schwerverdauliches wie Rohkost oder Körner in unserer
Ernährung seit langem keine große Rolle spielen können. Unser Dünndarm hingegen, der der Aufnahme
leicht verdaulicher, d. h. aufgeschlossener Nahrung
dient, ist gut doppelt so lang wie bei Gorilla, Orang
Utan und Schimpanse.96,97 Diese Verschiebung in der
Länge der Darmabschnitte setzt einen küchentechnischen Aufschluss unserer Nahrung voraus. Demnach
ist der Mensch an die Küche nicht nur angepasst, sondern benötigt diese auch tatsächlich, um nicht artgerechte Nahrung wie Rohkost oder Körner verzehren zu
können. Das entscheidende Kriterium für ein
„unschädliches” und im weitesten Sinne „gesundes”
Lebensmittel stellt folglich seine korrekte Verarbeitung
dar und keinesfalls seine Naturbelassenheit!
Wer keine Küche hat, verbringt notgedrungen viel
Zeit mit der Verdauung. Bonobos und Gorillas sind täglich nicht nur viele Stunden mit Nahrungssuche
beschäftigt, sondern benötigen gleichermaßen ausgedehnte Verdauungspausen.33,44 Der geringere verwertbare Nährstoffanteil von Rohkost und der größere Aufwand bei ihrem Aufschluss kostet unsere äffische Verwandtschaft Zeit und bindet Kräfte. Die Erfindung von
Herd und Küche markiert deshalb einen Wendepunkt
in der Evolution des Menschen. Die Nahrungsaufnahme beschränkt sich seither auf wenige Stunden,
Magen und Darm werden entlastet. Außerdem steht
damit Zeit für andere, schöpferische Tätigkeiten zur
Verfügung. Ohne Küche gäbe es keine kulturelle Evolution. Ihre Bedeutung ist vergleichbar der Erfindung
der Schrift.
22
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STEINZEITDIÄT
SECHSTE THEORIE
STEINZEITDIÄT
Sechstes Steinzeitmärchen:
Dank frischer Kost blieben alle kerngesund
Die Fachwelt hat eine klare Vorstellung, wie der
Mensch seine Gesundheit verlor: Durch den Sündenfall in Form einer verfeinerten Küche. Nicht der frische
Apfel aus dem Paradies, sondern die duftende Apfeltasche aus dem Fast-Food-Restaurant brachte Unheil
über die Völker. Nancy McGrath-Hanna von der University Alaska Fairbanks glaubt: „Der Wandel der traditionellen Ernährung hat bereits zu einem Anstieg von
Gesundheitsproblemen wie Fettsucht, Herz-KreislaufErkrankungen und Diabetes geführt; gleichzeitig hat
sich auch die seelische Gesundheit der zirkumpolaren
Völker substanziell verschlechtert ... das zeigt sich an
der Zunahme von Depressionen, jahreszeitlich bedingten depressiven Störungen (SAD), Angstzuständen
und Selbstmorden ...”91 So oder so ähnlich lauten die
Einsichten der Experten auch aus anderen klimatischen Zonen. Kurzum: Das Essen ist an allem schuld.
Dennoch liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Wildnis bekanntermaßen niedriger als in
der Zivilisation. Auch wenn unsere Gesellschaft gerne
über die „bedrohliche Zunahme” von Zivilisationskrankheiten klagt, ist sie gleichermaßen besorgt über
die wachsende Zahl der „fitten Alten”, denen sie bis ins
hohe Alter Renten zahlen muss. Woran aber sind
eigentlich die „gesunden Wilden” damals gestorben?
Wurden sie vielleicht von Eisbären oder Löwen gefressen, während sie ihrem gefährlichen jagdlichen Handwerk nachgingen? Wohl kaum, denn Jäger kennen ihr
Terrain wie ihre Hosentasche und ihre Jagd hat wenig
mit unserer Vorstellung von Rotkäppchen gemein, das
sich im finstren Tann verirrt und dort dem bösen Wolf
begegnet. Großwild wird auch nicht nach Art der Gladiatoren im offenen Zweikampf mit dem Kurzschwert
erlegt, sondern mit Heimtücke: mit Fallen, Feuer oder
Giftpfeilen.
Alkohol statt Fleisch
Die Berichte über den Gesundheitszustand naturverbundener Völker streuen genauso stark wie die
über ihre Essgewohnheiten. Das liegt nicht nur daran,
dass es zwischen den verschiedenen Gesellschaften
gesundheitliche Unterschiede gegeben haben muss,
sondern gleichermaßen an der Erwartung des Beobachters. Wie ein roter Faden zieht sich die Auffassung
durch die Literatur, dass Krankheiten entweder unbotsamem Verhalten gegenüber den aktuellen Gottheiten
oder einer liederlichen Ernährung entspringen. So
behauptete 1925 der Pathologe Max H. Kuczynski
über das kirgisische Volk, sein Gesundheitszustand
werde durch den übermäßigen Konsum tierischer Nahrung ungünstig beeinflusst, zumal die körperliche
Tätigkeit wohlhabender Kirgisen sehr gering sei. Als
Folgen nennt Kuczynski eine verringerte Fruchtbarkeit,
Störungen des Cholesterinstoffwechsels, frühzeitiges
Altern (Arcus senilis), Arteriosklerose sowie „Neurasthenie” und „exsudative Diathese”. Sein Fazit: „Man
schwelgt nicht ungestraft in Hämmeln und Kumys.”74
Den verweichlichten Kirgisen stellt der Autor ein vor
Gesundheit strotzendes Völkchen entgegen: die russischen Bauern. Im Alter von 70 (!) Jahren seien das
immer noch „Männer mit voller nicht ergrauter Behaarung, erhaltener Geschlechtsfunktion, jugendlichem
Aussehen. Niemals üppig ernährte Leute, fast immer
stärkste Alkoholiker, Männer, die sich von ... recht
wenig Fleisch ernährten und sämtlich beständig körperlich gearbeitet haben.”74 Es sei dahingestellt, ob die
Jugendlichkeit des russischen Bauern wirklich daher
rührte, dass er sich keinen Braten leisten konnte und
sein Los nur ertrug, weil er soff. Wäre der Vergleich
zwischen Kirgisen und Russen genau umgekehrt ausgefallen, hätte es natürlich auch an der Ernährung
gelegen: In diesem Fall wäre die hochwertige Fleischkost der Grund für Gesundheit und der Schnapskonsum die Ursache von Neurasthenie und Diathese
gewesen.
Aus Sicht des Abendlandes kann allein eine entsagungsvolle Kost wahre Gesundheit ermöglichen. Man
denke nur an die Tungusen, die den Mäusen ihre Vorräte wegaßen – eine Kost, die sogar den wilden Honig
und die Heuschrecken von Johannes dem Täufer in
den Schatten stellt. Prompt will 1875 der baltisch-deutsche Zoologe Alexander von Middendorff bei diesem
Volk einen vorzüglichen Gesundheitszustand festgestellt haben. Er traf sogar „rüstige Greise”, die sich als
Väter von Säuglingen vorstellten. Selbst der unerträgliche Zeltrauch vermochte ihren guten Augen bis ins
hohe Alter nichts anzuhaben.155
So abenteuerlich Middendorffs Darstellungen auch
wirken mögen: Sie könnten durchaus der Realität entsprechen. Denn chronische Krankheiten wurden in der
Wildnis ganz anders „behandelt” als in einem modernen Sozialstaat mit Rehakliniken und Krankengeld.
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SECHSTE THEORIE
Wer in der Südsee, im Urwald oder im ewigen Eis an
Diabetes erkrankte, starb daran recht bald. In vielen
Gesellschaften war es zudem üblich, Kranke und
arbeitsunfähige Alte auszusetzen oder zu töten. Wenn
aber Sieche den Bären als Futter angeboten wurden,
trifft der Beobachter auf eine erstaunlich gesunde
Population, in der sogar die wenigen alten Menschen
ziemlich fit sind. Wobei niemand weiß, wie jung jene
wirklich waren, die so aussahen wie „rüstige Greise”.
Selbst heute ist nur rudimentär bekannt, wie es um
die Gesundheit von Ureinwohnern steht. Australische
Aborigines, die noch ihre traditionelle Lebensweise
praktizieren, sollen vor allem durch Tuberkulose, Arteriosklerose, Infekte sowie durch Unfälle und Gewalttaten zu Tode kommen. Daneben sind offenbar auch
Erkrankungen durch Parasiten wie Bandwürmer, Peitschenwürmer und Hakenwürmer relativ häufig.99
Werden die Menschen zur Aufgabe ihrer traditionellen Lebensweise genötigt, dann ändert sich das Krankheitsspektrum erneut. Eine kanadische Studie erläutert
dazu: „Die bei weitem wichtigste Gruppe von Gesundheitsproblemen sind die so genannten Sozialpathologien – Gewalt, versehentliche Verletzungen und die
negativen Effekte von Alkohol und Drogen. Bei den
Aborigines sind Verletzungen im Allgemeinen für rund
ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich.”162 Diese Wirkungen der Zivilisation sind verheerend, aber nicht aufgrund von Würfelzucker oder Dosenfisch, sondern
wegen der offensichtlichen Entwurzelung der Menschen. Der Polarforscher Jean Malaurie, der über 30
Expeditionen in die Arktis unternahm, fasst die Folgen
in wenigen Zahlen zusammen: „In den Jahren 19901992 lag die Selbstmordquote [= Suizide pro 100 000
Einwohnern, Anm. d. Red.] bei den Inuit nach offizieller kanadischer Statistik bei 39,7 Prozent ... In Grönland kamen von 1962-1966 auf 100.000 Einwohner
19,4 Selbstmorde, 1980-1986 waren es 114,1. Wir
haben diesem Volk einen tödlichen Virus übertragen.”88
Kaputte Zähne und perverser Sex
Der Mythos vom „gesunden Wilden” wurde vor
allem von den Arbeiten des Zahnarztes Weston A.
Price geprägt. Er untersuchte systematisch die Gebisse unterschiedlichster Völker und dokumentierte die
Ergebnisse in seinem Werk Nutrition and Physical
Degeneration, das erstmals 1939 in den USA
erschien.118 Seine Beobachtung: Bei natürlicher Kost
waren die Zähne weitgehend frei von Karies, und die
Menschen hatten ausnahmslos gesunde Kiefer mit
breiten Zahnbögen, in denen die Zähne wohlgeordnet
23
STEINZEITDIÄT
und ohne jede Verwachsung hervorblitzten. Die Küche
der Weißen hingegen führte zu deformierten Kiefern,
schiefen Zähnen und kariösen Gebissen. Diese
Erkrankungen blühten auch den Einheimischen, wenn
sie sich zu der ungesunden Kost hinreißen ließen.
Dabei ist schwer vorstellbar, dass die von Price
fotografierten verformten Kiefer von Zuckerkonsum
und Vitaminmangel durch Weißmehl rühren sollen.
Den Beweis liefert Price selbst, wenn er auf die
Behandlung seiner Patienten mit hochdosiertem
Lebertran verweist. Wie er schreibt, sei diese Methode
gerade bei Karies sehr erfolgreich gewesen und habe
bei Konsum während der Schwangerschaft zu einem
wohlgeformten Gebiss des Nachwuchses beigetragen.
Das spricht für das Vorliegen einer Rachitis, d. h. eines
Mangels an Licht. Bei der Lebensweise der von Weston Price beobachteten Eingeborenen ist dieser Mangel
eher unwahrscheinlich.
Deformierte Knochen bzw. schiefe Kieferformen
sind ansonsten eher eine typische Folge von Hunger,
Infektionskrankheiten, Parasiten und Toxinen während
der Schwangerschaft. Price berichtet beispielsweise
von seiner Afrikaexpedition, dass die Darminfektionen
so häufig und auch so schwerwiegend waren, dass er
nichts aß, was nicht gründlich gekocht worden war.118
Es ist also kein Wunder, wenn die Nachkommen der
Kolonialisten unter den unbekannten und für sie oft
lebensfeindlichen Bedingungen ihrer neuen Heimat
nicht besonders gesund aussahen. Aber wohl kaum,
weil sie Marmeladenbrötchen aßen. Dass die Ankunft
von Forschern, Missionaren und Soldaten auch für die
Einheimischen alles andere als „gesund” war, ist eine
Binse. Schließlich schleppten die Fremden jede
Menge neue Krankheitserreger und Parasiten ein, die
dann die Urvölker dezimierten.
Price ist der geistige Vater der Vollwerternährung.
Er war es, der mit seinen Gebissfotos den sichtbaren
Beweis erbringen wollte, dass Zucker und Weißmehl
zur Degeneration der Völker führen. Mit Zeitungsausschnitten versuchte er zu belegen, dass teilwertige
Kost nicht nur die Gebisse verformt, sondern auch zu
bösen Taten verleitet. Unter einer Fotoserie lesen wir:
„Kriminelle. Rührten ihre unsozialen Züge direkt
von einer unvollständigen Gehirnorganisation im Zusammenhang mit vorgeburtlichen Schäden her?”
Woher die fehlende Organisation des Gehirns herrührt,
ist dem Leser natürlich klar: vom Vitaminräuber Zucker.
Price denkt ganzheitlich: Eine falsche Kost führt
sowohl zu „körperlichem” als auch zu „geistigem und
moralischem Verfall”. Ein paar Seiten weiter tauchen
Fotos mongoloider Patienten auf, deren Kieferform klar
24
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STEINZEITDIÄT
SECHSTE THEORIE
auf „Verhaltensstörungen” hinweist. In einem Fall
erwähnt Price sogar „perversen Sex” als Ernährungsfolge. Sein Fazit: „Das Durchschnittsniveau der allgemeinen Fähigkeiten in diesem Land nimmt mit jeder
Generation weiter ab. Sollten nur diejenigen Bürger ein
Wahlrecht haben, die für sich selbst sorgen können?”
Mit anderen Worten: Das Wahlrecht nur noch für Vollwertköstler?
Price hatte bei seinen ausgedehnten Reisen durch
eine unbekannte Wildnis mit großem Fleiß alles
zusammengetragen, was aus seiner Sicht bewies,
dass die moderne Kost die Ursache für allerlei Zivilisationskrankheiten bildet und dass dies über kurz oder
lang zum Untergang des Abendlandes führen musste.
Seine Beobachtungen ergänzte er mit Versuchen an
Ratten, denen er entweder Weizen, Weißmehl oder die
Randschichten fütterte. Während die erste Gruppe
fröhlich gedieh, zeigten sich bei den beiden letzteren
massive Gedeihstörungen. Im Gegensatz zur Auffassung von Price, Kollath oder Bruker lässt sich daraus
aber nicht schließen, dass die Menschheit durch Weißmehl Schaden nimmt und durch Vollkorn genesen
könnte, sondern lediglich, dass die Ratte ein Nagetier
ist.
Natürlich gibt es neben Beispielen für kariöse
Zähne durch Zucker oder Stärke auch Völker, die ganz
im Sinne von Price praktisch nie Fruchtsäuren, Stärke
oder Zucker zu essen bekamen, so dass Karies bei
ihnen so gut wie unbekannt war. Über die indigenen
Völker des Amazonas-Regenwaldes heißt es, dass die
meisten Gruppen sehr gute Zähne hatten – bis auf die
Arawete, die ein auffällig schlechtes Gebiss aufwiesen.
Letztere aßen vor allem Mais, ein traditionelles Grundnahrungsmittel des Kontinents.95 Bei den Polarvölkern
wiederum waren die Zähne durch das ständige Weichkauen von Fellen und Sehnen zur Herstellung von Kleidung komplett abgewetzt, weshalb schließlich nur
noch ein schmaler weißer Saum über dem Zahnfleisch
hervorlugte.127
Prähistorische Funde belegen, dass die Menschheit zu allen Zeiten in der Geschichte an Karies litt,
wenn auch meist seltener als heute. Zahnfäule trat früher bevorzugt als Wurzelkaries und Periodontitis
auf.8,48 So lebte der älteste Hominide mit Paradontose
vor drei Millionen Jahren.79 Bei den ob ihrer gesunden
Ernährung gern zitierten Trobriandern (Melanesien) ist
Karies zwar selten, die Parodontose dafür weit häufiger.19 Manche Experten führen dieses Phänomen auf
das Mahlen von Körnern aller Art zurück: Der dabei
aufgetretene feine Abrieb der Mahlsteine soll beim Verzehr die Zahnkrone und damit das Werk der Kariesbakterien stets von neuem abgeschliffen haben.8,112
STEINZEITDIÄT
Krank durch Zivilisation?
Um es mit einem Musiktitel der Gruppe Fury in the
Slaughterhouse zu sagen: „Every generation got it’s
own disease”. Zivilisationskrankheiten sind Krankheiten infolge von Lebensbedingungen, die es vielen
Menschen erlauben, ein hohes Alter zu erreichen –
selbst dann, wenn an diesen Krankheiten auch jüngere Menschen leiden. In aller Regel ist die Zunahme an
Lebenserwartung eine Folge von reichlich verfügbarer
Nahrung und nachhaltiger Hygiene. Dabei sind Zivilisationskrankheiten alles andere als neu. So litt bereits
der naturverbundene „Ötzi”, dem neuerdings eine
vegane Ernährung angedichtet wird, an Arteriosklerose und Arthritis.20
Ein einschlägiges Lehrbuch der Paläopathologie
des Menschen widmet nicht umsonst dem Krebs,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder endokrinologischen
Malaisen ebenso viel Aufmerksamkeit wie Infektionen
oder Parasitosen.8 Die sterblichen Überreste von Menschen, die bei Ausgrabungen zutage gefördert werden,
sind daher wie zu erwarten kein Beispiel für einen Tod
bei exzellenter Gesundheit. Das gilt nicht nur für mittelalterliche Friedhöfe oder ägyptische Mumien: Auch bei
jenen Populationen, die von europäischen oder amerikanischen Ärzten als Musterbeispiel für jegliche Freiheit von Zivilisationskrankheiten angeführt werden, litten zumindest die Vorfahren nachweislich unter diesen
Krankheiten. Über die Häufigkeit lässt sich allerdings
keine Aussage treffen.
Da im Falle von Naturgesellschaften weder Diagnosen nach westlichen Maßstäben noch Totenscheine
vorliegen, hängt die Interpretation ihrer Krankheitsarten und -häufigkeiten meist von der persönlichen Meinung des Beobachters ab. Wie sonst ist wohl zu erklären, dass beispielsweise Diabetes bei den Inuit dermaßen unterschiedlich verteilt auftritt, dass die Erkrankungsrate in Alaska 50-mal so hoch liegt wie bei den
benachbarten sibirischen Tschuktschen?39,161 Ausschlaggebend dürften hier die Unterschiede in der Diagnostik sein: US-Ärzte sind offenbar eher auf der
Suche nach einer „benachteiligten” Klientel, während
sich die Moskoviter nicht so sehr dafür interessieren,
wo in Sibirien der Schuh drückt. Daneben könnten
genetische Unterschiede eine Rolle spielen, denn die
„Eskimos” sind eine bunte Mischung von Völkern
unterschiedlichster Abstammung. Nicht zuletzt wurden
einige dieser Gesellschaften entwurzelt und fristen nun
ihr Leben in Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Disstress
jedoch ist ein entscheidender Faktor für den Ausbruch
von Diabetes.92
Ein hartnäckiger Mythos besagt, dass in der Wildnis
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SECHSTE THEORIE
keine Krebserkrankungen vorkommen. Der Eskimoforscher Vilhalmur Stefansson verfasste sogar ein Buch
mit dem Titel Cancer: A Disease of Civilization?.138
Gleiches behaupten die Ärzte Albert Schweizer über
die Afrikaner und Robert McCarrison über die Hunza.
McCarrison begründet seine These damit, dass die
Hunza „weit entfernt von den raffinierten Lebensmitteln
der Zivilisation leben”.124 Doch Krebs ist nicht etwa
eine neuzeitliche Strafe für das kulinarische Sündenbabel des Westens, sondern vielmehr Millionen Jahre
vor dem Erscheinen des Menschen auf der Erde nachweisbar. Bereits Versteinerungen von Dinosauriern aus
der Kreidezeit erlauben zweifelsfrei die Diagnose Knochenkrebs8 – wobei es eher unwahrscheinlich sein
dürfte, dass die Dinos eine Zivilisation, geschweige
denn Weißmehl und raffinierten Zucker besaßen ...
Unter den zivilisationsfernen Naturvölkern sind
wohl die !Kung in der Kalahari am besten untersucht.
Hier geht man bei traditioneller Lebensweise von
knapp zehn Prozent der Todesfälle durch kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs aus, die wichtigsten
Todesursachen sind Infektionen, Parasitosen und
Unfälle.28 Bei kanadischen Eskimos wird heute deutlich seltener Krebs diagnostiziert als bei ihren weißen
Landsleuten. Allerdings führt er bei den Ureinwohnern
häufiger zum Tode.87 Die geringere Krebshäufigkeit ist
aber nicht etwa einer gesünderen Kost zu verdanken;
ebenso wenig liegt die höhere Sterblichkeit an einer
schlechteren ärztlichen Versorgung. Entscheidend ist
lediglich die Tatsache, dass es bei den Inuit keine
Früherkennung gibt. Einerseits kommt es dadurch zu
weniger falsch-positiven Befunden, also zur Diagnose
„Krebs” ohne tatsächliche Erkrankung, weshalb die
Krebsrate niedriger ausfällt. Andererseits liegt der
Anteil der tödlichen Erkrankungen entsprechend
höher.
Bei den Aborigines in Australien gilt Krebs ebenfalls
als selten. Gleichzeitig weisen Völkerkundler darauf
hin, dass sich hier vor allem ältere Kranke scheuen,
einen Arzt aufzusuchen – auch aus der Angst heraus,
schließlich im Krankenhaus fern ihrer Familie sterben
zu müssen.99 Diese Interpretation erklärt, warum europäische oder nordamerikanische Ärzte, die irgendwo
im Busch eine Krankenstation betreiben, manche
Krankheiten nur selten zu Gesicht bekommen und
dann von einer krebs- oder von sonstwas-freien Population schwärmen. Damit ist allerdings nicht auszuschließen, dass manche dieser Krankheiten bei den
Naturvölkern – auch alterstandardisiert – tatsächlich
seltener auftreten.
25
STEINZEITDIÄT
Endlich sesshaft
Welche Folgen hatte der Übergang vom Jäger-undSammler-Dasein zur Sesshaftigkeit? Er verkürzte
zunächst deutlich die Lebensdauer. Zahlreiche archäologische Funde in aller Welt belegen, dass die Bauern
zunächst kränker waren als die Wildbeuter.28,40 Von
den Gesundheitsrisiken des sesshaften Lebens zeugen beispielsweise zwei prähistorische Stätten in Kentucky: Während die Menschen von Indian Knoll halbnomadische Jäger und Sammler waren, lebten die
Bewohner im nahe gelegenen palisadenumzäunten
Hardin Village von der Landwirtschaft. Die Skelettfunde belegen, dass die Lebenserwartung bei den Bauern
niedriger lag als bei den Wildbeutern. Außerdem starben bei den Sesshaften mehr Kinder. Erst nach etwa
acht Generationen lebten die Landwirte so lange wie
die Halbnomaden.24
Wie aber konnte die frühe Landwirtschaft dazu führen, dass sich der Gesundheitszustand verschlechterte? Nun: Damals kam es zu einer Zunahme von Störungen der Knochenbildung, z. B. Hyperostosen (porotic hyperostosis) oder siebartig perforierten Augenhöhlendächern (cribra orbitalia), die bisher meist als Folge
falscher Ernährung, insbesondere als „Eisenmangel”
interpretiert wurden. Der tatsächliche Grund für die
Krankheit sind allerdings Parasiten wie Bandwürmer,
Plasmodien oder Tuberkelbazillen.13,16,28,157 Das verwundert kaum, denn bei sesshaften Populationen
nimmt die Durchseuchung zwangsläufig zu. Wie die
heute verstärkt propagierte Massengeflügelhaltung im
Freiland beweist, kommt es eben vermehrt zum „Recycling”, wenn Lebewesen am gleichen Platz koten
und fressen. Überdies erweitert sich das Erregerspektrum durch den Kontakt zu Wildtieren wie Nagern und
Vögeln, die ebenfalls vom Futter angelockt werden
(vgl. EU.L.E.n-Spiegel 2003/H.1).
Neben den Krankheitserregern spielte der Hunger
eine zentrale Rolle. Denn dieser schadet im Gegensatz zum Überfluss tatsächlich der Gesundheit. Wer
Ackerbau betreibt, ist abhängig vom Ertrag seiner Kulturen. Im Fall einer Missernte – und dafür gab es viele
Ursachen – (ver)hungerten die Menschen. Anders als
die Bauern konnten die Sammler und Jäger zwischen
vielen verschiedenen essbaren Pflanzen bzw. Tieren
wählen und waren längst nicht so stark vom Wetter
oder Schädlingen abhängig. Belegen lässt sich dies
anhand der so genannten Stresshypoplasie, die wiederum mit einer erniedrigten Lebenserwartung einhergeht. Dabei handelt es sich um Veränderungen an den
Zähnen, die durch massiven körperlichen Stress während der Wachstumsphase entstehen. Die wichtigsten
26
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
STEINZEITDIÄT
SECHSTE THEORIE
Auslöser der Hypoplasie sind Hungersnöte und schwere Infektionen in der Kindheit.8,48
Mit zunehmender Hygiene änderte sich das Krankheitsspektrum erneut. Denn der Sieg über Infektionserreger und Parasiten hatte ebenfalls einen Preis: Unser
Körper ist so sehr auf diese immerwährende Bedrohung fixiert, dass er ersatzweise nach einem neuen
Feindbild sucht. Auf diese Weise soll die „Zivilisationskrankheit” Allergie entstanden sein. Inzwischen gibt es
immer mehr Belege, wonach ein Fehlen von Parasiten
und Krankheitserregern auch bei Autoimmunerkrankungen wie Diabetes eine wichtige Rolle spielt. Damit
wären die Zivilisationskrankheiten weniger eine Strafe
für das verspielte Paradies, als vielmehr der Tribut für
eine höhere Lebenserwartung.
Zauberhafte Südsee
In der Fachpresse ist seit einiger Zeit von einem
neuen Wundervölkchen die Rede. Diesmal sind es
nicht die rüstigen Greise aus dem Hunzatal, sondern
die legendären Trobriander der Südsee. Sie waren
schon mal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten,
als nach dem Ersten Weltkrieg der polnische Forscher
Bronislaw Malinowski die Geheimnisse ihres Liebeslebens in Erfahrung brachte und damit Experten in Erregung versetzte: Da gab es am Ende der Welt doch tatsächlich Menschen, die meinten, dass nur die konsequente Befeuchtung den Mädels eine geschmeidige
und gesunde Vagina beschert – weshalb sich das
Leben der Insulaner vorzugsweise um die Gesunderhaltung der holden Weiblichkeit gedreht haben soll.89
Und nun vermeldet Staffan Lindeberg von der Universität Lund, dass auf der Trobriand-Insel Kitava
(Melanesien) selbst heute keinerlei Zivilisationskrankheiten bekannt seien: „In unserer Gesundheitsstudie ...
stellten wir fest, daß die Population frei von Übergewicht, Bluthochdruck, Hyperinsulinämie, ischämischen
Herzerkrankungen, Schlaganfall und Fehlernährung
war. Auffällig war das Fehlen des metabolischen Syndroms.”82,83 Noch verblüffender erscheint das im Lichte dieser Erkenntnis: „Der Anteil der Raucher lag bei
Männern bei 75 Prozent, bei Frauen bei 80 Prozent ...
das geschätzte Niveau der körperlichen Aktivität ... ist
etwas höher als bei westlichen Populationen mit vorwiegend sitzender Betätigung.”82 Für Lindeberg ein
Beweis, dass gesunde Kost sogar vor den Folgen
eines ungesunden Lebensstils schützt. Immerhin wird
er in einem Punkt von anderen Beobachtern bestätigt:
Das Rauchen sowohl in dieser als auch in anderen
Naturgesellschaften soll nicht die nachteiligen Effekte
haben wie in industrialisierten Ländern.4,66,150,160
STEINZEITDIÄT
Deutsche Ärzte, die auf den Inseln arbeiteten, stimmen in das Loblied Lindebergs von den gesunden Eingeborenen ein: Klassische Zivilisationskrankheiten wie
Herzinfarkt, Diabetes oder Krebs seien auf Kitava sehr
selten und Übergewicht völlig unbekannt.19,67 Dafür litten die Insulaner jedoch an „wurmbedingten Anämien,
Tuberkulose und Polyarthritis rheumatica” sowie an
Infekten, Verletzungen, infizierten Wunden, Malaria,
Hexenschuss, Kopfweh und Arthritis.19 Ihr tatsächlicher Gesundheitszustand lässt sich also nur schwer
einschätzen – vor allem, weil Trobriander-Frauen im
Gegensatz zu Männern nicht gerne zum Arzt gehen.
Insgesamt, so ein deutscher Mediziner, zeigten die
Inseln das typische Krankheitsspektrum eines DritteWelt-Lands.19
Wie es dazu kommt, dass die Südseebewohner
relativ schlank, aber nicht unterernährt sind, ist bislang
unklar. Neben genetischen Gründen könnte auch der
weit verbreitete Drogenkonsum (Kauen von Betel)67
eine Rolle spielen, der bekanntermaßen das Hungergefühl unterdrückt. Keinesfalls aber lassen sich die
Beobachtungen auf Kitava verallgemeinern, schließlich ist die Fettsucht auf anderen Inseln Ozeaniens wie
beispielsweise den Fidschi-Inseln relativ häufig. Traditionell wurden dort beleibte Menschen geschätzt, denn
Körperfülle war ein Zeichen für einen gesunden Körper. Gewichtsverlust hingegen galt als Krankheit, die
mit appetitsteigernden Kräutern bekämpft werden
musste.
Fest steht zumindest, dass die Trobriander ein biologisches Merkmal aufweisen, das Naturgesellschaften auf der ganzen Welt von Zivilisationen unterscheidet: Sie leiden nicht unter Bluthochdruck. Ihre Werte
steigen zudem nicht mit dem Alter an, sondern entsprechen denen ihrer Jugend.46,76,77,93,101,109,143,163,164
Diese Tatsache wird gewöhnlich mit einem bescheidenen Salzkonsum begründet. Als Beweis sollten die
Kuna-Indianer von den San-Blas-Inseln vor der Küste
Panamas dienen. Doch das misslang gründlich: Als die
Kuna Handelsbeziehungen zum Festland aufnahmen,
stieg zwar ihr Salzkonsum – ihr Blutdruck blieb jedoch
unverändert. Bei solchen Indianern hingegen, die in
der Hauptstadt Panama City lebten, entsprachen die
Blutdruck- und BMI-Werte denen der übrigen Großstädter. In Kuna Nega, einem Vorort von Panama City,
in dem die Kuna mehr oder weniger so lebten wie früher, lagen die Werte genau zwischen denen, die in den
beiden anderen Untersuchungen ermittelt wurden.57,117
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STEINZEITDIÄT
SECHSTE THEORIE
Von Wilden, Nonnen und Voodoo
Ähnliche Ergebnisse kommen aus dem modernen
Europa. Als Wissenschaftler 30 Jahre lang statt so
genannter „Wilder” italienische Nonnen begleiteten,
stellten sie fest, dass sich deren Blutdruck genauso
verhielt wie bei den Kuna-Indianern: er stieg über die
Jahre nicht an und es kam bei ihnen auch seltener zu
kardiovaskulären Todesfällen als bei einer Vergleichsgruppe von Italienerinnen. Da in Italien selbst in den
Klöstern italienisch gegessen wird, dürfte der Unterschied wohl kaum an der Küche liegen. Den Autoren
blieb schlussendlich nichts anderes übrig, als „psychosoziale Faktoren” und den „überkommenen friedlichen
Lebensstil der Nonnen” für die Unterschiede verantwortlich zu machen.147,148
Dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zufolge
ist ein starkes Kohärenzgefühl für die Erhaltung der
Gesundheit unentbehrlich. Kohärenz beinhaltet die
Zuversicht, dass es auch bei unvorhergesehenen und
belastenden Ereignissen Möglichkeiten der Bewältigung gibt oder das Vertrauen, aus eigener Kraft oder
mit fremder Unterstützung künftige Lebensaufgaben
meistern zu können.6 Beste Voraussetzung dafür ist
das Gefühl, in seiner Welt geborgen zu sein. Angehörige von Naturgesellschaften legen nicht selten ein Vertrauen an den Tag wie bei uns allenfalls die Kinder. Es
geht dabei weniger um das „Soziale”, sondern um das
Gefühl der Geborgenheit, der Berechenbarkeit der
Zukunft, um ein kohärentes gedankliches System, das
die Welt erklärt.
Versucht man die auslösenden Faktoren von Bluthochdruck zu definieren, scheinen die immer wieder
betonten sozialen Aspekte nicht so wichtig zu sein.31
Schließlich gibt es auch in Zivilisationen wirksame
Sozialsysteme, intakte Familien und hilfreiche Nachbarschaften – und dennoch ist der Blutdruck in urbanen
Gesellschaften höher.43,69,82,83,84,131 Neben dem Disstress, der zweifellos eine wichtige Rolle spielt149, wurden als Einzelfaktoren die Existenz einer Geldwirtschaft sowie „Multikulti” ermittelt. Der Grund: Je mehr
Kontakte zu Menschen anderer Kulturen bestehen und
damit zu deren Vorstellungen und moralischen Normen, welche wiederum die eigene Lebensanschauung
in Frage stellen können, desto höher der Blutdruck.156
Wichtig scheint auch die Einstellung der jeweiligen
Gesellschaft zum Tod zu sein. Wer die Toten nicht am
Friedhof vergisst oder sie in einem fernen abstrakten
Himmel wähnt, wo sie auf das Jüngste Gericht warten,
sondern wer in einer Welt lebt, in der die Ahnen stets
gegenwärtig sind, weil sie die Menschen durch das
Leben begleiten, wer sie in den Bäumen und Tieren
27
STEINZEITDIÄT
wiederzuerkennen glaubt, der empfindet eine ganz
andere Geborgenheit in der Welt, in der er lebt. Folglich geht es dabei weniger um die Art der Religion als
vielmehr um ihren Inhalt. Denkbar ist auch, dass die
Einstellung zur Sexualität eine Rolle spielt. Denn die
meisten Naturgesellschaften – nicht nur die Trobriander – gehen mit ihr etwas unverkrampfter um als viele
„zivilisierte” Kulturen oder halten sie sogar für einen
zentralen Lebensinhalt ihrer Gesellschaft.
Krankheitsdrohung – Genesungswunsch
Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Bedeutung
der Kohärenz am so genannten Voodoo-Tod. Dort, wo
der Glauben an Geister noch tief verwurzelt ist, kann
der Medizinmann einen Menschen töten, indem er ihn
verflucht. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft, der
Verlust sämtlicher sozialer Bindungen und die feste
Überzeugung, dass er nun sterben muss, bedeuten für
das Opfer das Ende jeglicher Kohärenz. Der seelische
Schock ist so groß, dass der Betroffene innerhalb weniger Stunden bis Tage tatsächlich an den Folgen massiver körperlicher Stressreaktionen stirbt.
Herbert Basedow, Geologe, Arzt, Anthropologe und
Chief Protector der Aborigines, beschreibt einen solchen Vorfall bei den Aborigines: „Der Mann, der
bemerkt, daß man mit dem Knochen auf ihn zeigt [ihn
verflucht], bietet einen wahrhaft jämmerlichen Anblick.
Voller Entsetzen starrt er den heimtückischen Gegner
an und hebt die Hände, als ob er das Gift, von dem er
glaubt, daß es nun in ihn eindringe, dadurch abwehren
könne. Seine Wangen sind bleich, seine Augen werden
glasig und sein Gesichtsausdruck verzerrt sich in
schrecklicher Weise ... Er versucht zu schreien, aber
gewöhnlich bleibt ihm der Ton im Halse stecken, und
allenfalls ist Schaum vor dem Mund zu erkennen. Sein
Körper beginnt zu zittern, und die Muskeln zucken
unwillkürlich. Er schwankt und fällt rückwärts zu Boden,
bald darauf scheint er ohnmächtig zu sein. Aber kurze
Zeit später krümmt er sich wie im Todeskampf und
beginnt zu stöhnen, während er sein Gesicht mit den
Händen bedeckt ... Schon bald wird sein Tod eintreten.”12
Solche Phänomene sind nicht nur aus der Wildnis
bekannt, sondern auch aus unserer modernen Welt.
Als Forscher an der University of California in San
Diego die Zahl der Herztoten asiatischer Herkunft mit
der von Personen europäischer Abstammung verglichen, stellten sie fest, dass bei den Asiaten am Vierten des Monats 27 Prozent mehr Herztote zu verzeichnen waren als an anderen Tagen.113 Die „logische”
Ursache: Im Chinesischen klingt das Wort „vier” wie
28
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STEINZEITDIÄT
SECHSTE THEORIE
das Wort „Tod”, weshalb die Zahl Vier als Unglücksbringer gilt. Der Glaube an die todbringende Kraft einer
Zahl ist zur sich selbsterfüllenden Prophezeiung
geworden.
Vor diesem Hintergrund werden die aktuellen „Warnungen” auf Zigarettenpackungen zu Krankheits- und
Todeswünschen. Warum wünscht man den Rauchern
nicht einfach „Gesundheit!”? Es liegt viel näher, den
Schilderwald in unseren Straßen, die ständigen Warnungen vor belanglosen Gefahren, undurchsichtige
Gesetzeswerke oder einen kafkaesken Verwaltungsapparat als Ursache von „Zivilisationskrankheiten”
anzusehen, als den Tatbestand, dass die Menschen
satt werden. Vielleicht ist für jene Zeitgenossen, die in
freier Natur geboren wurden und lebten, der Verlust
des vertrauten und gewohnten Weltbildes ein Stressor
ersten Ranges. Wenn es bei den Aborigines nach der
Übernahme der westlichen Lebensweise verstärkt zu
Bluthochdruck, Fettsucht am Stamm, Diabetes, HerzKreislauf-Erkrankungen und Insulinresistenz kommt106,
dann deutet dies auf die Wirkung von Glucocorticoiden
wie Cortisol hin.
Von Schamanen und Missionaren
Aber auch ein in der Wildnis praktizierender Schamane garantiert nicht zwangsläufig Geborgenheit. Als
Knud Rasmussen einen Geisterbeschwörer nach den
Lebensregeln der Inuit befragte, bekam er zur Antwort,
dass man sich in erster Linie „fürchte”: vor dem Wetter,
der Erde, dem Hunger, der Krankheit, den Seelen der
getöteten Tiere und vor den „Geistern der Erde und der
Luft”. Dazu kommen zahllose Tabus, die auf Schritt
und Tritt Ängste auslösen.119 Edgerton folgert im Rahmen einer Analyse, die klären sollte, ob Naturvölker
tatsächlich in Frieden und im Einklang mit der Natur
leben oder in Unverständnis, gravierenden Fehleinschätzungen und Angst: „Vieles von dem, was die
Menschen in Naturvolkgesellschaften glauben und
praktizieren, schadet der Gesundheit. Doch manche
Gesellschaften schützen ihre Mitglieder vor den Belastungen des Lebens, indem sie Glaubensvorstellungen
und Praktiken aufrechterhalten, die das Wohlbefinden
erhöhen.”40
Allerdings scheint die Zahl derer, die in Verzweiflung leben, infolge der Blutbäder der Kolonialisten
gestiegen zu sein. Die Onge auf den Andamanen
erzählen aus ihrer Vergangenheit, als sie noch Wildschweine, Seekühe und Schildkröten jagten: „Damals
waren wir viele Onge, wir hatten keine Angst vor dem
Nachtgeist und gingen nachts in den Wald. Wir hatten
überhaupt keine Angst. Damals lebten die Onge über-
STEINZEITDIÄT
all, es gab viele Gemeinschaften. Wir waren so
viele.”153 Jetzt leben sie in Angst, allerdings sind keine
Blutdruckwerte bekannt.
Die schlimmsten Verheerungen haben weder die
Waffen noch die Seuchen angerichtet, sondern die
Missionare, die den Menschen ihr Verständnis der
Welt austrieben und die Sozialsysteme aus „moralischen” Gründen zerschlugen. Die nächste Welle an
wohlmeinender Hilfe beraubte die Naturvölker dann
auch noch ihrer Identität und des Glaubens an sich
selbst. Der vorhin erwähnte Polarforscher Jean Malaurie bringt es so auf den Punkt: „Die Kinder haben in der
Schule erfahren, wie ‚primitiv’ ihre Väter und Mütter
sind. Und die Eltern übernehmen unter Schmerzen das
verheerende Bild, das ihre Kinder ihnen vermitteln. Der
Inuit entdeckt durch ihren Blick den ‚Haß auf sich
selbst’. Wenn eine Generation nicht mehr durch die
Unterstützung ihrer Kinder vorwärts getragen wird, verkommt sie.”88
Und was treiben unsere Ernährungsmediziner? Sie
entdecken flugs eine neue Klientel. Aufgrund der kürzeren Lebenserwartung und den zunehmenden Zivilisationskrankheiten müsse man die Leute aufklären,
Kalorientabellen verteilen, Diätprogramme gegen
Übergewicht ins Leben rufen und Vorsorgeuntersuchungen gegen Krebs durchführen. Der Effekt: Der
Angstpegel steigt und die Gesundheit nimmt erneut
Schaden.
Natürlich hat auch das Essen einen Einfluss – aber
wahrscheinlich einen ganz anderen als gemeinhin vermutet. Werden Populationen von Nahrungsmittelhilfe
abhängig gemacht, z. B. weil Umwelt- und Naturschützer die Jagd erschweren, so verlieren sie nach ihrem
Land und ihrer Identität auch noch die Menschenwürde, weil sie nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst
zu sorgen. Alsbald fordern die üblichen Verdächtigen
mehr Ernährungsberater und Ärzte, um endlich auch
die Dritte Welt mit ihren Vitaminpillen und Ernährungspyramiden auf Kosten der Allgemeinheit missionieren
zu können.
Der weitgereiste Colin Roß warnt vor dem Glauben,
man würde den Naturvölkern etwas Gutes tun, wenn
man ihnen unsere bewährten kulturellen Errungenschaften schenkt: „Die europäische Schule kann das
Eskimokind nichts lehren, was es für das Leben
braucht, das es später doch einmal führen muß. ... Sie
kann es im Gegenteil nur dafür verderben.” Gleichermaßen zweifelt Roß am Nutzen unserer Vorstellung
von medizinischer Versorgung. Er bittet die europäischen Ärzte, nie zu vergessen, dass angesichts der
völlig anderen Lebensbedingungen „die ärztliche Für-
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FAZIT
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STEINZEITDIÄT
sorge mehr schadet als sie nützt”.126
Literatur
Als Beleg nennt er ein Krankenhaus, das Philanthropen in der kanadischen Arktis errichteten. Dummerweise gab es dafür keine Kranken, außer einem
Jungen mit einer harmlosen Haarkrankheit. Ärzte,
Schwestern samt Köchin mühten sich rührend um ihn.
Aus einem „gräßlich schmutzigen, von rohem Fisch
und Seehundsfett lebenden Eskimojungen” wurde ein
verwöhnter Fratz: „Der kleine Eskimoprinz führt in dem
Hospital ein Leben, das ... ihn für sein ganzes weiteres
Dasein restlos ungeeignet macht. Er wird dort an ein
Maß an Bequemlichkeit gewöhnt, das in krassem
Gegensatz zu den harten Anforderungen steht, die das
Leben im elterlichen Zelt oder im Iglu an ihn stellt ...
Kein Wunder, daß er sich zum Dauerpatienten entwickelt – ich täte das auch an seiner Stelle.” Nur, „er kann
nicht ewig dort sitzen, und kommt er heraus, so wird
aus dem Eskimoprinzen ein Eskimoproletarier, ein
Bettler der Zivilisation, der gleiche Bettler wie die Indianer, der Australier und die meisten Südseeinsulaner,
die alle einst stolze, selbständige Völker waren.”126
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Fazit
Die Steinzeit-Trophologen missbrauchen gerade
jene Völker für ihre pseudowissenschaftlichen Eitelkeiten, die lange genug von der westlichen Zivilisation dezimiert und gedemütigt wurden. Doch deren
Welt unterscheidet sich von unserer in nahezu jeder
Hinsicht. Ihre Nahrung widerspricht radikal unseren
Vorstellungen von hygienisch sauberen, frischen und
ästhetischen Produkten. Allein Anblick und Geruch
ihrer Speisen würden viele Ernährungsberaterinnen
für den Rest ihres Lebens traumatisieren. Die Idee
vom „gesunden Lebensstil” der Naturvölker ist eine
primitive Idealisierung. Denn dazu gehören vielfach
auch die Tötung von Kindern, Kranken und Alten
sowie der Kannibalismus.
Es wäre verhängnisvoll, unsere Kost anderen
Völkern aufzunötigen. Nicht, weil sie ungesund ist,
sondern weil es zur persönlichen Freiheit gehört, das
zu essen, was der eigene Körper kennt und wonach
er verlangt. Genauso problematisch ist es, unseren
Mitbürgern eine vermeintliche Kost aus der Steinzeit
andienen zu wollen. Eine Steinzeiternährung gibt es
nicht: Die Ernährung der Menschen war zu jenen
Zeiten ebenso unterschiedlich und vielfältig wie
heute.
30
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
Süße Sündenböcke
Berkey CS et al: Sugar-added beverages and adolescent weight
change. Obesity Research 2004/12/S.778-788
Softdrinks gelten schon lange als Dickmacher schlechthin.
Kein Wunder, denn Cola und Co. enthalten jede Menge Kalorien
in Form von Zucker. Dazu kommt, dass sie häufig zusammen mit
Fast-Food verzehrt werden, das ebenfalls als Hauptverdächtiger
in Sachen Übergewicht gilt. An amerikanischen Schulen ist der
Verkauf süßer Getränke bereits untersagt.
Nun will eine Forschergruppe aus Harvard erstmals einen
Beleg für den Effekt von Softdrinks auf das Körpergewicht
erbracht haben. Die Wissenschaftler verglichen die BMIs von
10 000 Schülern im Alter von 9 bis 14 Jahren mit deren Verzehrsgewohnheiten. Nach drei Jahren zeigte sich jedoch, dass
zuckerhaltige Limos den BMI auch nicht mehr ansteigen ließen
als gewöhnliche Milch. Außerdem konsumierten übergewichtige
Kinder genauso viele Softdrinks wie normalgewichtige. Auch
wenn sich die Autoren bemühen, diese Ergebnisse anders zu
verkaufen: Ihre Studie beweist, dass zuckerhaltige Limos keinen
nennenswerten Effekt auf die Körpermasse entfalten.
Anmerkung: Einen massiven Einfluss auf den BMI hatten
allerdings Diätlimos, mutmaßlich in erster Linie Diätcola. In den
Rohdaten ist der Gewichtseffekt frappierend. Doch die Autoren
griffen zu einer List: Sie kalkulierten den Einfluss der Kalorien
auf die Gewichtszunahme und konnten damit alle Diätprodukte
aus ihrer Verantwortung entlassen. Es steht zu erwarten, dass
der Masteffekt von Lightprodukten mit diesem statistischen
Kunstgriff auch in künftigen Studien verschleiert wird.
Dick durch Kalorienbetrug?
Davidson TL, Swithers SE: A pavlovian approach to the problem of
obesity. International Journal of Obesity 2004/28/S.933-935
„Manipulationen an der Fähigkeit, aus der Süße und der
Viskosität von Nahrungsmitteln auf die spätere Kalorienaufnahme zu schließen, können zu erhöhter Nahrungsaufnahme und
zur Gewichtszunahme führen.” Zu dieser Erkenntnis kommen
zwei Forscher von der Purdue University im US-Bundesstaat
Indiana. Ihrer Ansicht nach lernen Tiere wie Menschen bereits zu
Beginn ihres Lebens, dass süße Milch mehr Kalorien hat als
weniger süße und dass dickflüssige Milch energiereicher ist als
dünnflüssige. Als Beweis führen sie zwei Rattenversuche an. In
einem bekamen Nager jeweils mit Zucker oder mit Süßstoff versehene isokalorische Getränke vorgesetzt, im anderen dünnoder dickflüssigen Kakao. Am Ende wogen die Ratten, die süßstoffhaltige sowie dünnflüssige Getränke konsumierten, mehr
als die Vergleichsgruppe. Daraus folgern die Wissenschaftler,
dass die biologisch-kalorische „Pawlowsche Konditionierung”
des Menschen durch Diätgetränke und Softdrinks überlistet wird,
was unweigerlich zu Übergewicht führt.
33
IN ALLER KÜRZE
Darmkrebs: Schutz durch Butter
Fettreiche Milchprodukte haben sich in
einer Untersuchung mit über 60 000
Schwedinnen als Schutz vor Dickdarmkrebs entpuppt. Zwei zusätzliche Portionen
an fettem Käse oder Butter pro Tag verringerten das Krebsrisiko um 13 Prozent. Da
dies nicht an den gesättigten tierischen Fetten liegen darf, führen die Autoren den
Effekt auf die konjugierte Linolensäure
zurück. (American Journal of Clinical Nutrition
2005/82/S.894-900)
Darmkrebs: kein Schutz durch Isoflavone
Die viel gelobten Isoflavone aus Soja
sind nicht in der Lage, die Proliferation von
Epithelzellen im Dickdarm zu hemmen. Im
Gegenteil: Die sekundären Pflanzenstoffe
sorgten für eine zusätzliche Zellproliferation
im sigmoidalen Kolon. (American Journal of
Clinical Nutrition 2005/82/S.620-626)
Darmkrebs: Vitamin D zwecklos
Die Annahme, dass die Zufuhr von Vitamin D und Calcium vor dem Kolonkarzinom
schützt, hat sich als Irrtum erwiesen. Die
prospektive Women’s Health Study mit
knapp 40 000 Teilnehmerinnen konnte den
beiden Stoffen keinerlei antikanzerogene
Effekte bescheinigen. Das ist auch kein
Wunder, denn der Vitamin-D-Status wird im
Wesentlichen vom UV-Licht und nicht von
der Ernährung beeinflusst. (American Journal
of Epidemiology 2005/161/S.755-764)
Darmkrebs und Ballaststoffe:
aus der Traum
Eine Metaanalyse von 13 prospektiven
Studien widerlegt die weit verbreitete Auffassung, dass Ballaststoffe vor Kolonkrebs
schützen. Das Krebsrisiko lässt sich auch
dann nicht senken, wenn sie in großen
Mengen und über einen langen Zeitraum
verzehrt werden. (JAMA 2005/294/S.28492857)
Fluor: Nulleffekt auf Knochen
Der Fluorgehalt des Trinkwassers wirkt
sich weder auf die Knochendichte noch auf
das Frakturrisiko aus. Das ergab eine US-
34
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
IN ALLER KÜRZE
Studie, an der 1300 Frauen aus drei unterschiedlichen Regionen teilgenommen hatten. Die mit dem Trinkwasser aufgenommenen Fluorkonzentrationen reichten von 50
bis 210 Mikromol pro Liter. (Journal of
Nutrition 2005/135/S.2247-2252)
Zink: durchgefallen
Zink reduziert weder die Dauer noch die
Menge wässriger Durchfälle bei Säuglingen. Zu diesem Ergebnis kommt eine doppelblinde, randomisierte und placebokontrollierte Studie aus Bangladesh. Die Dosis
betrug bis zu 20 Milligramm pro Tag.
(American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/
S.605-610)
Glykämischer Index: reingefallen
Der glykämische Index (GI) von Mahlzeiten wird stärker vom Gehalt an Fetten
und Proteinen als von den Kohlenhydraten
beeinflusst. Die weit verbreiteten GI-Tabellen geben folglich keinerlei Aufschluss über
die Blutzuckerwirkung von Speisen. Bleibt
die Frage, ob der GI überhaupt seinen
Namen verdient. (British Journal of Nutrition
2004/91/S.979-989)
Unbedenklich: Protein für Niere
„Zur Behandlung einer bestehenden
Nierenerkrankung kann eine Beschränkung
der Eiweißzufuhr durchaus sinnvoll sein.
Für eine Schädigung der Nierenfunktion
von Gesunden dagegen lässt sich auch
nach Jahrhunderten eiweißreicher westlicher Ernährung kein signifikanter Beweis
finden.” So lautet das Fazit einer aktuellen
Metaanalyse an der University of Connecticut zur Beziehung zwischen Proteinzufuhr
und Nierenerkrankungen. (Nutrition & Metabolism 2005/2:25)
Mit Würmern gegen Raupen
Die Verwendung von Wurmkompost verringert den Schädlingsbefall im Gemüsebau. Durch die geringere Anzahl an Kohlweißlingsraupen und Blattläusen fiel der
Ertrag höher aus. (Bioresource Technology
2005/96/S.1137-1142)
FACTS & ARTEFACTS
Anmerkung: Offenbar haben sich die beiden US-Forscher
mit ihren Versuchen selbst ausgetrickst. Sollte der Mensch tatsächlich so geeicht sein, dass er süßere, also mit Süßstoff versetzte Limonaden für kalorienreicher hält als weniger süße,
dann müsste er von den Diätgetränken weniger konsumieren.
Doch genau das Gegenteil trifft zu: Der Organismus merkt offenbar recht zuverlässig, wie viele Kalorien er aufnimmt und gleicht
die Zufuhrmengen entsprechend an. Als plausibler Mechanismus bleibt wieder einmal der Kopfphasenreflex. Dabei kommt
es infolge der Wahrnehmung von Süße auf der Zunge zu einer
schnellen ersten Insulinausschüttung, die den Blutzuckerspiegel
absenkt. Die Folge ist Heißhunger (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1999/H.5).
Kunstfleisch im Test
Edelmann PD et al: In vitro-cultured meat production. Tissue
Engineering 2005/11/S.659-662
Die Fleischproduktion im Bioreaktor als Alternative zur Tierhaltung nimmt immer konkretere Formen an. Inzwischen wurden
geeignete Basiszellen aus Huhn, Pute, Schwein, Lamm und
Kalb isoliert, um daraus unter Laborbedingungen essbares
Gewebe zu züchten. Bei der bisher üblichen Gerüstmethode reifen auf Kollagengewebe embryonische oder regenerative
Muskelzellen zu Fasern heran, die sich zu einer Fleischmasse
für Hamburger oder Würste verarbeiten lassen. Da die Zellen
auf ihrer Grundlage jedoch nur zweidimensional wachsen, entstehen keine richtigen Fleischstücke wie z. B. ein Steak (vgl.
EU.L.E.n-Spiegel 2003/H.2/S.16). Für ein dreidimensionales
Wachstum wäre eine zusätzliche Nährstoffversorgung der inneren Zellen nötig, etwa durch ein essbares Gerüst aus elastischem und porösem Material, das die Nährlösung verteilt. Es
könnte aus einer Gussform entstehen, die mit Kollagen besprüht
wird. Nach Aushärtung des Kollagens würde das Trägermaterial
aufgelöst und zurück bliebe ein beliebig erweiterbares Röhrensytem. Bislang scheint dieses Vorhaben für die Massenfertigung
jedoch zu aufwändig. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die
Kulturzellen zur Neubildung von Blutgefäßen anzuregen und
damit ein eigenes Versorgungssystem zu entwickeln.
Die Entwicklung eines geeigneten Nährmediums macht
ebenfalls Fortschritte. Während ursprünglich noch Rinderserum
zum Einsatz kam, das für eine Massenproduktion zu teuer ist,
experimentiert man inzwischen mit serumfreien Lösungen wie
z. B. mit Maitake-Pilz-Extrakt oder mit Lipiden, die teilweise
höhere Wachstumsraten der Zellkultur bewirken. Zusätzlich zur
Nährstoffversorgung ist die Beigabe von Wachstumsfaktoren
erforderlich. Weil Leberzellen den nötigen Insulinähnlichen
Wachstumsfaktor 1 produzieren, dürften sie sich als „Co-Kultur”
eignen. Die Zellteilung wiederum könnte durch einen mechanischen Trick angeregt werden. Dazu reicht es aus, das Trägermaterial in zehnminütigem Abstand in die Länge zu ziehen und
wieder zu entspannen. Auch magnetische oder elektrische Fel-
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
der fördern die Teilung der Zellen. Obwohl man die Teilungshäufigkeit der meisten für die Fleischzucht verwendbaren Zellarten
noch nicht kennt, ist davon auszugehen, dass schon wenige Zellen ausreichen, um riesige Fleischmengen herzustellen.
Dick durch Disstress
Steptoe A et al: Central adiposity and cortisol responses to waking in
middle-aged men and women. International Journal of Obesity
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Eine Studie aus London bestätigt einmal mehr, dass negativer Stress auf den Bauch schlägt. Wie Cortisolmessungen bei
über 170 Teilnehmern ergaben, wird die Waist-to-Hip-Ratio
(WHR) maßgeblich durch die Ausschüttung des Stresshormons
in der ersten halben Stunde nach dem Aufwachen beeinflusst.
Während der Bauchumfang der männlichen Teilnehmer umso
größer war, je höher ihr morgendlicher Cortisolspiegel ausfiel,
korrelierte die Leibesfülle bei den Frauen nicht mit dem Hormonausstoß. Ansonsten zeigten die über den Tag gemessenen und
zum Abend hin sinkenden Blutwerte weder bei Männern noch
bei Frauen einen Zusammenhang mit der Körperform.
Da hohe Cortisolspiegel in den ersten 30 Minuten nach dem
Aufwachen als Indikator für große psychische Belastungen gelten, scheint Übergewicht eine physiologische Reaktion auf Disstress zu sein, der zugleich ein wichtiger Auslöser von Diabetes
ist. Wenn das metabolische Syndrom aber durch eine gestörte
endokrine Regulation des Cortisols entsteht, dann wäre Übergewicht in erster Linie eine kompensatorische Nebenwirkung und
kein Risikofaktor. Interessantes Nebenergebnis: Im Gegensatz
zur WHR korrelierte der BMI nicht mit dem Cortisolspiegel.
Anmerkung: Dass der Effekt nur bei Männern, nicht aber bei
(postmenopausalen) Frauen gefunden wurde, könnte damit
zusammenhängen, dass der weibliche Bauchumfang (WHR)
stärker von den Sexualhormonen beeinflusst wird. Während hier
zunächst Schwangerschaften die Bauchform prägen, sorgen die
hormonellen Veränderungen im Klimakterium später ebenfalls
für einen dickeren Rumpf, ohne dass dafür die Hormone der
Nebennieren benötigt würden.
35
IN ALLER KÜRZE
Grillhähnchen: keimfrei durch Phagen
Um den Campylobacter-Befall von Hühnern mit in den Griff zu bekommen, raten
Wissenschaftler von der Universität Nottingham zum Einsatz von Bakteriophagen.
Die Wirksamkeit der Therapie soll von der
Wahl effektiver Phagenstämme und deren
Dosis im Futter abhängen. (Applied and Environmental Microbiology 2005/71/S.6554-6563)
Brustkrebs: kein Risiko durch Pestizide
Die Brustkrebsrate ist in Gebieten mit
hohem Pestizideinsatz nicht erhöht. Zum
Beleg wurden sämtliche Brustkrebsfälle
überprüft, die im Bundesstaat Kalifornien
zwischen 1988 und 1997 aufgetreten
waren. (Environmental Health Perspectives
2005/113/S.993-1000)
Lungenkrebs durch Diazinon
Das häufig eingesetzte Insektizid Diazinon verursacht womöglich Lungenkrebs
und Leukämie. Diesen Hinweis liefert die
Agricultural Health Study, an der über
23 000 Feldarbeiter aus den US-Bundesstaaten Iowa und North Carolina teilgenommen haben. (American Journal of Epidemiology 2005/162/S.1070-1079)
Karies per Kaiserschnitt
Kariesbakterien treten im Mund von
Kleinkindern früher auf, wenn diese mittels
Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurden.
Zu einer rascheren Besiedlung mit Streptococcus mutans kam es auch, wenn die Mutter selbst Karies hatte, wenn sie früher einmal an einer Geschlechtskrankheit erkrankt
war und bei niedrigem Familieneinkommen.
(Journal of Dental Research 2005/84/S.806-811)
Brustkrebs, Ballaststoffe & faule Statistik
Mattisson et al: Intakes of plant foods, fibre and fat and risk of breast
cancer – a prospective study in the Malmö Diet and Cancer Cohort.
British Journal of Cancer 2004/90/S.122-127
Eine prospektive Untersuchung aus Schweden bestätigt das
Ergebnis der großen EPIC-Studie: Obst und Gemüse schützen
tatsächlich nicht vor Brustkrebs. An der Malmö Diet and Cancer
Study nahmen über 11 700 Frauen im Alter von 49 Jahren aufwärts teil. Da sich allen statistischen Bemühungen zum Trotz
kein Zusammenhang zwischen ihrem Obst- bzw. Gemüsever-
Missbrauchte PET-Flaschen
In Schweden haben wiederholte Verbraucherbeschwerden über den Gestank
beim Öffnen frischer Mineralwasser- und
Limonadenflaschen die Lebensmittelkontrolleure auf den Plan gerufen. Als potenzielle Übeltäter entpuppten sich unter anderem Fuselöle, Petroleumprodukte und
Rückstände aus Reinigungsmitteln. Die
36
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
IN ALLER KÜRZE
Autoren vermuten, dass die PET-Flaschen
von Konsumenten für andere Zwecke missbraucht und danach wieder dem Recycling
zugeführt worden waren. (Food Additives &
Contaminants 2005/22/S.681-692)
Rotwein: Mumpitz Polyphenole
Die werblich wertvolle Vorstellung, Rotwein sei dank seiner Polyphenole gesünder
als andere Alkoholika, hat einen deutlichen
Rückschlag erlitten: In einem CrossoverVersuch mit Bier und Wein stieg der Blutdruck der Probanden an, bei Rotwein sogar
stärker als bei Bier. Entalkoholisierter Wein
hatte keinen Effekt. Fazit: Alkohol bleibt
Alkohol. (Hypertension 2005/45/S.874-879)
Verkehrstod durch Toxoplasmen
Die latente Toxoplasmose fördert Verkehrsunfälle. Das ergab eine türkische Studie, die bei ehemaligen Unfallopfern weitaus häufiger entsprechende Immunglobulinwerte (IgG und IgM) fand als bei einer
Kontrollgruppe. Eine unbemerkte Infektion
mit Toxoplasma gondii verlangsamt die
Reflexe und verzögert die Reaktionszeit, so
die Autoren. (Forensic International Science
doi:10.1016/j.forsciint.2005.11002)
Holländische Teilzeitsäuger
In Holland erproben Agrarforscher das
Teilzeitsäugen. Dabei werden die Ferkel ab
dem elften Lebenstag täglich für zwölf Stunden von der Muttersau getrennt. So lernen
sie, schneller feste Nahrung (Prestarter) zu
sich zu nehmen. Dummerweise kommt
dabei jede vierte Sau noch während des
Säugens in die Rausche. Nun soll die Rausche synchronisiert werden, um die Sauen
schon während der Säugezeit erneut besamen zu können. (DLG-Mitteilungen 2005/H.9/
S.8)
Apfelallergien sortenabhängig
Bei Apfelallergien spielt die Fruchtsorte
offenbar eine wichtige Rolle. Während Golden Delicous oder Gala stark allergen sind,
rufen Santana, Braeburn oder Elize nur selten Reaktionen hervor. (Journal of Allergy and
Clinical Immunology 2005/116/S.1080-1086)
FACTS & ARTEFACTS
zehr und dem Erkrankungsrisiko herstellen ließ, konzentrierten
sich die Autoren letztlich auf Ballaststoffe und Fett. Das
gewünschte Ergebnis, also weniger Brustkrebs bei vermehrtem
Ballaststoff- und vermindertem Fettkonsum, war jedoch nur
dann signifikant, wenn die 50-jährigen Teilnehmerinnen und jene
mit Krebs im Anfangsstadium herausgerechnet wurden.
Anmerkung: Die vorliegende Studie beweist allenfalls, dass
Ernährung und Brustkrebs nichts miteinander zu tun haben.
Denn im Durchschnitt ernährten sich die erkrankten Frauen
genauso wie die gesunden – das galt sowohl für die Verzehrsmengen an Obst und Gemüse als auch für die Zufuhr an Ballaststoffen aus Brot oder Getreide. Wohl um zu gewährleisten, dass
ihre Arbeit dennoch von den Medien aufgegriffen wird, haben die
Autoren dieses wichtige Detail bei der Bewertung ihrer Daten
stillschweigend übergangen.
Endoskopie: Da ist der Wurm drin
Toro C et al: High prevalence of seropositivity to a major allergen of
Anisakis simplex, Ani s 1, in dyspeptic patients. Clinical and
Diagnostic Laboratory Immunology 2004/11/S.115-118
Der Verzehr von rohem oder ungenügend erhitztem Fisch
geht öfter mit Parasitosen einher als gedacht. Das ist das Ergebnis einer Studie aus Spanien mit über 170 Teilnehmern, die
sich zur Abklärung von Magenbeschwerden bereits zuvor einer
Endoskopie unterzogen hatten. Obwohl diese Methode keinen
einzigen Parasitenbefund erbringen konnte, kam ein neuer serologischer Test zu ganz anderen Ergebnissen. Er basiert auf dem
Nachweis eines Immunglobulins, das speziell gegen ein Eiweiß
des Heringswurms (Anisakis simplex) gerichtet ist. Danach reagierten knapp 14 Prozent der Probanden positiv auf das Protein
Ani s 1. Eine zusätzliche Befragung ergab, dass das Risiko für
eine Wurminfektion bei Genuss von rohem, sauer eingelegtem
oder geräuchertem Fisch stark erhöht war.
Anmerkung: Anisakis simplex ruft beim Menschen eine
Erkrankung hervor, die bereits einige Stunden nach Verzehr des
Wurmes zu Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und allergischen Reaktionen (Urtikaria) führen kann. In der Regel kommt
es dabei zu Fehldiagnosen (z. B. Darmkrebs). Die meisten Fälle
von Anisakiasis sind aus Ländern mit häufigem Rohfischkonsum
wie Japan, Hawaii oder südamerikanischen Küstenstaaten
bekannt, wurden aber auch in den Niederlanden, der Schweiz,
Spanien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland dokumentiert. Weil der Erreger weder im Blut noch im Stuhl nachweisbar ist, galt die Endoskopie bislang als zuverlässiges Diagnosemittel – zu Unrecht, wie die Autoren der vorliegenden Studie nahelegen. Ihren Resultaten zufolge lassen sich mit der optischen Untersuchung nur schwere Fälle aufdecken, die meisten
– und vor allem leichte – Formen der Parasitose bleiben dabei
jedoch unbemerkt. Die Daten legen zudem die Vermutung nahe,
dass so mancher „Fischallergiker” weniger auf Proteine aus
Fischen denn auf solche aus Parasiten reagiert.
EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
Blausucht: Nitratzufuhr überbewertet
Fewtrell L: Drinking-water nitrate, methemoglobinemia, and global
burden of disease: a discussion. Environmental Health Perspectives
2004/112/S.1371-1374
Zunehmende Nitratmengen im Trinkwasser gelten bekanntlich als Ursache für Methämoglobinämie. Nun ergab eine im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation durchgeführte Literaturanalyse von Veröffentlichungen der letzten zwölf Jahre, dass nur
wenige Blausuchtfälle mit erhöhter Nitratzufuhr (über 50 Milligramm pro Liter Wasser) einhergehen. Im Gegenteil: Seit den
frühen 90er Jahren sanken die Fallzahlen vielerorts trotz weiterhin hoher Nitratgehalte. Aufgrund der Datenlage, so der Autor, ist
es notwendig, auch an andere Krankheitsursachen zu denken
als nur an den Nitratgehalt des Trinkwassers.
Die WHO beispielsweise weist darauf hin, dass Methämoglobinämie vor allem bei Kindern in Entwicklungsländern auftritt, die
häufig kein sauberes Wasser zur Verfügung haben und an
Durchfall leiden. Bereits in den 40er Jahren, als erstmals über
die Methämoglobinämie durch Trinkwasser berichtet wurde, gab
es Vermutungen, wonach Probleme und Infektionen des MagenDarm-Trakts eine ursächliche Rolle bei dieser Krankheit spielen
könnten. Als möglicher Auslöser wird das Stickoxid NO diskutiert, welches von etlichen Gewebearten als Antwort auf Infektionen und Entzündungen gebildet wird. Dem Nitrat bzw. Nitrit aus
Trinkwasser und Nahrung könnte dabei die Rolle eines Co-Faktors zukommen, der den Verlauf und die Symptome der Krankheit verstärkt.
Sorglos in Syrien
Smriga M et al: Lysine fortification reduces anxiety and lessens stress
in family members in economically weak communities in Northwest
Syria. PNAS 2004/101/S.8285-8288
Fladenbrote und Weizengerichte sind die Hauptnahrung der
armen Bevölkerungsschichten in weiten Teilen Vorderasiens.
Die eher knappe Proteinversorgung dieser Menschen soll die
Gefahr eines Lysinmangels in sich bergen, zumal Lysin als limitierende Aminosäure im Weizen gilt. Nachdem ein Tierversuch
ergeben hatte, dass Lysinentzug bei Ratten ein Verhalten auslöst, das als Zeichen von Angst und Depressionen gilt, probierten Wissenschaftler die Wirkung von Lysingaben an Syrern nahe
der Stadt Aleppo aus. Sie gaben 45 Familien aus fünf verschiedenen Dörfern lysinangereichertes Mehl zum Brotbacken, 48
Familien erhielten gewöhnliches Mehl.
Nach drei Monaten sollte ein psychologischer Test Aufschluss über die Befindlichkeit der Probanden liefern. Das
Ergebnis: Stark angstbesetzte Männer erzielten signifikant bessere Resultate als zu Beginn des Experiments. Jedoch ging das
Angstempfinden auch in der Vergleichsgruppe zurück, die
37
IN ALLER KÜRZE
Haltbar durch Propolis
Alkoholische Extrakte aus (türkischem)
Propolis haben sich als vorzügliche Konservierungsmittel erwiesen. Sie unterdrückten
bereits in einer Konzentration von 0,1 Promille das Wachstum von Schimmelpilzen,
die der Fruchtsaftindustrie erheblichen
Schaden zufügen. (Archiv für Lebensmittelhygiene 2005/56/S.87-90)
Braun durch Carbonstrahler
Das nachträgliche Bräunen von Fertiggerichten war bisher unbefriedigend gelöst,
da die üblichen Heißluftöfen häufig zum
Nachkochen der bereits fertigen Waren
führten. Durch den Einsatz mittelwelliger
Carbon-Infrarotstrahler lassen sich die Produktoberflächen nun gezielt und gleichmäßig erhitzen bzw. bräunen. (dei 2005/H.3/
S.59)
Ochratoxin A auf Rosinen
Bei einer Analyse von knapp 300 Rosinen-, Sultaninen- und Korinthenproben
stellte die Lebensmittelüberwachung in
zehn Prozent der Fälle eine Überschreitung
der Höchstmenge (10 ppb) für Ochratoxin A
fest. Angesichts des Risikos, das von dem
Schimmelgift ausgeht und des Tatbestandes, dass gerade Kinder zum Konsumentenkreis gehören, fordern die Lebensmittelkontrolleure eine Senkung der Höchstmenge auf die Hälfte. (Lebensmittelchemie 2005/
59/S.3)
Ciguatera auf den Kanaren
Im spanischen Urlaubsparadies vor der
Küste Westafrikas wurden erstmals Ciguatera-Vergiftungen beobachtet. Die schwere
und oft falsch diagnostizierte Fischvergiftung (vgl. EU.L.E.n-Spiegel 1995/H.6/S.10f)
war bisher auf die tropischen Gewässer
Ozeaniens und der Karibik beschränkt.
(Emerging Infectious
S.1981-1982)
Diseases
2005/11/
Schweine übertragen Noroviren
Durchfälle werden oft von Noroviren verursacht. In den USA sollen sie jährlich für
über 20 Millionen Krankheitsfälle verant-
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
IN ALLER KÜRZE
wortlich sein. Nun entpuppten sich Mastschweine als natürliches Reservoir der
ebenso robusten wie infektiösen Viren. Bei
den Rüsseltieren verläuft die Infektion meistens symptomlos. (Emerging Infectious
Diseases 2005/11/S.1874-1881)
FACTS & ARTEFACTS
genauso unter Depressionen gelitten und kein zusätzliches
Lysin bekommen hatte. Auf den Cortisolspiegel der Herren hatte
die Aminosäure keinen Effekt. Bei den Frauen sank er zwar signifikant ab, es war aber kein antidepressiver Effekt nachweisbar.
Die Hypothese der Autoren, dass eine Lysinanreicherung die
Ängste und Sorgen der Menschen vertreiben könnte, hat sich
demnach als ernährungswissenschaftliche Illusion erwiesen.
Sport: unsinnig bei Krebs
In einem Versuch mit krebskranken
Mäusen hatte Sport (Schwimmen bzw.
Laufradjogging) keinen günstigen Einfluss
auf das Krankheitsgeschehen: „Im Gegenteil, eine verstärkte Hyperämie dürfte das
Wachstum [der Tumoren] eher beschleunigt
als gehemmt haben.” (Tierärztliche Umschau
Kindstod durch Clostridien
Bartram U, Singer D: Säuglingsbotulismus und plötzlicher Kindstod:
Eine kritische Bestandsaufnahme. Klinische Pädiatrie 2004/216/
S.26-30
Fischer D et al: Plötzlicher Tod bei Zwillingen: Botulismus durch
Kontamination von Gemüsebrei. Klinische Pädiatrie 2004/216/S.31-35
2005/60/S.690-692)
Mitchell WG et al: Catastrophic presentation of infant botulism may
obscure or delay diagnosis. Pediatrics 2005/116/S.438-438
Herzgesundheit: keine Glaubenssache
Müller-Bunke et al: Säuglingsbotulismus. Monatsschrift
Kinderheilkunde 2000/148/S.242-245
Um den Zusammenhang zwischen Religion und Herzkrankheiten auszuloten,
haben Wissenschaftler knapp 300 Herzinfarktpatienten in Albanien nach ihrem Glauben befragt. Dabei stießen sie auf ein wenig
überraschendes Ergebnis: Weder das Herz
von Christen noch das von Muslimen
schlägt gesünder. (Croatian Medical Journal
Nevas M et al: Infant botulism acquired from household dust
presenting as sudden infant death syndrome. Journal of Clinical
Microbiology 2005/43/S.511-513
2005/46/S.977-983)
Pilze gegen Hepatitis
Im Kampf gegen Virenerkrankungen
könnte sich der Glänzende Lackporling
(Ganoderma lucidum) als wahres Wundermittel erweisen. Bei Hepatitis-B-Patienten
bewirkte eine zwölfwöchige Therapie mit
Polysacchariden des Pilzes teilweise signifikant erniedrigte Serumspiegel an Antigenen und Viren-DNA. Ein antivirales Potenzial hatte Ganoderma bereits in Tierversuchen und in vitro bei Herpes, Hepatitis und
HIV gezeigt. (Food Reviews International
2005/21/S.27-52)
Turbokühe durch Propionibakterien
Die Verfütterung von ausgewählten
Mikroorganismen an Kühe hat eine vermehrte Milchproduktion zur Folge. Eine
regelmäßige Dosis an Propionibakterien
steigerte die Milchrate von Holsteinrassen
nach 32 Wochen um bis zu 8,5 Prozent.
(Journal of Dairy Science 2006/89/S.111-125)
Pickett J et al: Syndrome of botulism in infancy: clinical and electrophysiologic study. New England Journal of Medicine 1976/295/
S.770-772
Die Suche nach den möglichen Ursachen des plötzlichen
Kindstodes verlief bislang ebenso spektakulär wie erfolglos.
Zwar wurden in der Vergangenheit diverse Risikofaktoren
beschrieben wie z. B. eine Bauchlage des Säuglings, schwere
Decken oder rauchende Eltern – allerdings konnte damit nur ein
Teil der Fälle erklärt werden. Inzwischen gibt es zahlreiche Hinweise, wonach der mysteriöse Tod vielfach durch eine Infektion
mit Clostridium botulinum ausgelöst werden könnte.
Anders als bei Erwachsenen führen oral aufgenommene Clostridien beim Säugling zu einer Infektion. Weil er noch wenig
keimhemmende Gallensäuren bildet, können sich die Keime in
seinem Darm vermehren und Neurotoxine produzieren, die zu
Lähmungen führen. Die Giftmenge entscheidet über den Schweregrad der Erkrankung: Mal zeigen sich nur leichte Symptome,
die nicht einmal zur stationären Aufnahme des Säuglings Anlass
geben, mal kommt es zum schweren Verlauf, der eine wochenlange Intensivtherapie erfordert. Bei der schwersten Form des
Säuglingsbotulismus kommt es innerhalb weniger Stunden zur
Ateminsuffizienz und damit zum plötzlichen Tod.
Unterschiedlichen Angaben zufolge ließen sich in Deutschland und anderen Ländern bei 15-30 Prozent unerwartet verstorbener Säuglinge sowohl Clostridien als auch deren Toxin in
Darm und Leber nachweisen. Ärzte vom Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Magdeburg entdeckten die Bakterien im
Stuhl von knapp zwei Jahre alten Zwillingsschwestern, welche
nicht mehr aus dem Mittagsschlaf erwacht waren. Die Mediziner
führen den Befund auf den Verzehr clostridienhaltiger Babynah-
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
rung zurück, die sie im Haushalt fanden. Eine andere Studie
bestätigte bei der Untersuchung des plötzlichen Todes eines elf
Wochen alten Säuglings, dass die Clostridien in seinem Darm
genetisch mit jenen Keimisolaten übereinstimmten, welche im
Hausstaub der elterlichen Wohnung gefunden wurden.
Volltreffer: Pizza ist gesund!
Gallus S et al: Pizza and risk of acute myocardial infarction. European
Journal of Clinical Nutrition 2004/58/S.1543-1546
Pizza schützt das Herz. Wer mindestens einmal im Monat
eine Pizza verdrückt, hat ein um 22 Prozent verringertes Infarktrisiko. Und wer sich mehrmals pro Woche eine Pizza gönnt,
senkt sein Risiko sogar um stolze 56 Prozent. Das errechneten
italienische Wissenschaftler aus einem Vergleich der Verzehrsgewohnheiten von über 500 Herzinfarktpatienten mit ebenso vielen gesunden Italienern. Ist der Effekt aber auf die Tomatensauce zurückzuführen oder darauf, dass die Italiener ihre Pizza in
einer Pizzeria und nicht am Fast-Food-Stand essen? Oder ist die
Pizza das bisher ungelüftete Geheimnis der herzgesunden
mediterranen Diät?
Anmerkung: Da es sich hier um eine Fall-Kontroll-Studie
handelt, kann sie keinen ursächlichen Zusammenhang beweisen. Für einen Zufallseffekt spricht, dass eine Berechnung der
Signifikanz fehlt. Ebenso wenig geben die Autoren die Gesamtmortalität an, was die Einordnung des Ergebnisses erschwert.
Doch wirklich bemerkenswert ist etwas ganz anderes: Hätte die
Studie einen negativen Effekt erbracht, dann wären weder die
Schlagzeilen über die Gefahr durch Pizza und Pasta ausgeblieben noch entsprechende Warnungen an die Jugend. So aber
bleibt den Gesundheitswächtern nichts anderes übrig, als sich in
betretenes Schweigen zu hüllen.
Gluten: Ataxie statt Zöliakie
Hadjivassiliou M et al: The immunology of gluten sensitivity: beyond
the gut. Trends in Immunology 2004/25/S.578-582
Bislang galt eine Glutenunverträglichkeit in erster Linie als
Auslöser von Zöliakie. Inzwischen ist bekannt, dass sich bei vielen Menschen selbst dann Antikörper gegen das Getreideprotein
nachweisen lassen, wenn sie nicht über Beschwerden im Verdauungstrakt klagen und ihr Darm keine Anzeichen einer Zöliakie zeigt. Immerhin tragen schätzungsweise 5-10 Prozent der
europäischen Gesamtbevölkerung Glutenantikörper in sich,
gleichzeitig leidet aber nur etwa ein Prozent an Zöliakie. Mittlerweile weiß man, dass Gluten auch für die Hauterkrankung Dermatitis herpetiformis sowie die Nervenerkrankungen Gluten-Ataxie und Gluten-Neuropathie verantwortlich ist. In diesen Fällen
findet man typischerweise ebenfalls Antikörper gegen Gluten
und positive Auswirkungen einer glutenfreien Diät auf die Symptomatik.
39
IN ALLER KÜRZE
Lungenkrank trotz Vitamin A
Vitamin-A-Supplemente bieten keinen
zusätzlichen Nutzen zur Antibiotikatherapie
bei einer Lungenentzündung. Das ergab
eine Studie mit knapp 300 Kindern in Ecuador, die täglich bis zu 100 000 IU des Vitamins erhielten. (American Journal of Clinical
Nutrition 2005/82/S.1090-1096)
Vitamine: wirkungslos bei Lungenkrebs
Fazit einer Auswertung von acht prospektiven Studien zum Thema Lungenkrebs
aus Nordamerika und Europa: „Die Aufnahme von Vitaminen aus Nahrungsergänzungsmitteln ging in multivariaten Analysen
nicht mit einem verminderten Risiko für
Lungenkrebs einher. Die Anwendung von
Multivitaminpräparaten und spezifischen
Vitaminsupplementen korrelierte nicht signifikant mit dem Risiko für Lungenkrebs.”
(The International Journal of Cancer 2005/118/
S.970-978)
Vitamine: nix für die Prostata
Vitamine senken das Risiko für Prostatakrebs nicht, das ergab eine prospektive
Untersuchung an knapp 500 000 Männern
im Rahmen der Cancer Prevention Study.
Das Schlusswort deutet eher auf das
Gegenteil hin: „Die regelmäßige Einnahme
von Multivitaminpräparaten ging in unserer
Studie mit einer leichten Erhöhung der
Prostatakrebsmortalität einher...” (Cancer
Causes Control 2005/16/S.643-650)
Vitamine: Vorsicht bei Alzheimer
Eine groß angelegte Literaturrecherche
konnte weder Vitamin C noch Vitamin E
einen Nutzen bei Alzheimer bescheinigen.
Stattdessen warnen die Autoren: „Solange
keine randomisierten, kontrollierten klinischen Studien vorliegen, die belegen, dass
der Nutzen die kürzlich nachgewiesenen
Erkrankungs- und Sterberisiken überwiegt,
sollten Vitamin-E-Supplemente weder für
die primäre noch für die sekundäre Prävention der Alzheimerkrankheit empfohlen werden. Die Risiken von hochdosiertem Vitamin C sind zwar geringer als die von Vitamin E, doch fehlen konsistente Wirksamskeitsnachweise dafür, dass die Alzheimer-
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IN ALLER KÜRZE
krankheit mit Vitamin C verhindert oder
behandelt werden kann; das sollte Anlass
geben, von einer routinemäßigen Anwendung für diesen Zweck abzusehen.”
(The Annuals of Pharmacotherapy 2005/39/
S.2073-2079)
AIDS: kein Vitaminmangel
Aidskranke sind eine wichtige Zielgruppe der Vitamindealer. Doch die Supplemente ändern nichts an der Morbidität und Mortalität erwachsener HIV-Patienten. Zu diesem Resultat kommt eine Analyse von 15
Studien unter Einbeziehung der CochraneDatenbank. (Cochrane Database of Systematic
Reviews 2005/Oct 19 (4):CD003650)
Nierensteine durch Vitamin C
In einem Stoffwechselexperiment mit 48
Probanden, die täglich zwei Gramm Ascorbinsäure erhielten, ist es zu einem deutlichen Anstieg der Oxalsäureausscheidung
im Harn gekommen. Die Autoren warnen
deshalb vor der Bildung von Nierensteinen.
FACTS & ARTEFACTS
Bei der sporadischen idiopathischen Ataxie weisen 41 Prozent der Patienten Glutenantikörper auf, weshalb Ende der 90er
Jahre die Bezeichnung Gluten-Ataxie vorgeschlagen wurde.
Heute hat sich die Beweislage für die eigenständige Existenz
dieser Krankheit so sehr verdichtet, dass sie allgemein akzeptiert wird. Der mögliche Pathomechanimus: Die Glutenantikörper
reagieren mit Nervenzellen in der Kleinhirnrinde (Purkinje-Zellen), welche dadurch irreparabel geschädigt werden. Auch
gegen GAD (Glutaminsäuredecarboxylase) bilden Patienten mit
Gluten-Ataxie häufig Antikörper. GAD ist für die Entstehung des
Neurotransmitters GABA verantwortlich, der den Informationsfluss im Nervengewebe gewährleistet.
Anmerkung: Beim Vorliegen einer Ataxie oder Neuropathie
ungeklärter Ursache sollte routinemäßig überprüft werden, ob
eine Sensibilisierung gegenüber Gluten vorliegt. Eine glutenfreie
Diät kann in diesen Fällen rasch und effektiv helfen: Sie verbessert nicht nur die Symptomatik, sondern verhindert auch dauerhafte Schäden im Nervengewebe. Eine traditionelle Verarbeitung von Getreide (Sauerteigführung) vermag dessen Glutengehalt soweit abzubauen, dass es von den Betroffenen vertragen
wird. (Applied and Environmental Microbiology 2004/70/S.1088-1096)
Bäckerasthma: die Amylase war’s
(Journal of Nutrition 2005/135/S.1673-1677)
Smith TA: Preventing baker´s asthma: an alternative strategy.
Occupational Medicine 2004/54/S.21-27
Nierenschäden durch Supplemente
Die hohe Asthmarate im Bäckereigewerbe beschäftigt die
Wissenschaft schon lange. Vom so genannten „Bäckerasthma”
sind nicht nur Bäcker betroffen, sondern alle Berufsgruppen, die
mit Mehlstaub in Berührung kommen. In Großbritannien ist
Mehlstaub die zweithäufigste Asthmaursache mit jährlich 811
neuen Fällen pro Million Angestellte. Innerhalb der Getreide verarbeitenden Industrie tritt das Bäckerasthma je nach Sektor
unterschiedlich häufig auf: Bei den Brotbäckern erkranken jährlich 2240 von einer Million Angestellten, während es bei den Müllern oder Keksbäckern nur 330 sind. Da Müller und Feinbäcker
nicht weniger Mehlstaub einatmen als Brotbäcker, müssen
zusätzliche Faktoren für das Asthma verantwortlich sein.
Ein Fallbericht aus Japan bestätigt, dass
eine hohe Zufuhr an Vitamin- und Calciumpräparaten die Nieren schädigt. Die Autoren schlagen vor, den klinischen Terminus
„Supplementnephropathie” einzuführen.
(Clinical Nephrology 2005/64/S.236-240)
Ranziges Hirn dank Vitamin C
Eine Kombination aus Laufradtraining
und Vitamin-C-Supplementen führt im Rattengehirn zu einer erhöhten Konzentration
an oxidierten Fetten. Die Folgerung der
Autoren: Vitamin-C-Präparate schützen das
menschliche Gehirn nicht gegen oxidative
Schäden durch Sport, sondern wirken vielmehr selbst prooxidativ. (Molecular and
Cellular Biochemistry 2005/280/S.135-138)
Nutrigenomics: Vitamine überbewertet
Die Interaktion zwischen Vitaminen und
Genen hat sich im Rahmen einer Fall-Kontroll-Studie nicht als Einflussfaktor von
Kolonkrebs erwiesen. Überprüft wurden
vier unterschiedliche Polymorphismen und
Mittlerweile ist bekannt, dass die beim Brotbacken eingesetzte α-Amylase allergenes Potenzial besitzt. Wie die vorliegende
Arbeit zeigt, gehen etwa 65 Prozent aller Fälle von Bäckerasthma auf das Enzym zurück. Mehlstaub hingegen wurde bei lediglich 16 Prozent der Untersuchten als Ursache erkannt, für die
restlichen zwölf Prozent war eine Kombination beider Faktoren
verantwortlich. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht,
wenn bisher groß angelegte Initiativen zur Verringerung der
maximalen Mehlstaubkonzentration in der Branche nicht den
erwarteten Erfolg brachten. Erfolgreich war indes eine englische
Lebensmittelfirma, als sie zusätzlich zur Reduktion der Mehlstaubexposition ihrer Arbeiter auch die Luftkonzentration an
Backmitteln verringerte. Daraufhin fielen die internen Fallzahlen
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
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IN ALLER KÜRZE
in zehn Jahren von ursprünglich 2085 pro Million Angestellte und
Jahr auf 405.
die Zufuhr an Vitamin B2, B6, B12 sowie Folsäure. (Nutrition and Cancer 2005/53/S.42-50)
Fetter Geschmack
Kopftücher: riskanter Vitaminmangel
Hiraoka T et al: Effects of oral stimulation with fats on the cephalic
phase of pancreatic enzyme secretion in esophagostomized rats.
Physiology & Behavior 2003/79/S.713-717
Der Geschmackseindruck eines Lebensmittels entsteht aus
dem Zusammenspiel seiner süßen, sauren, salzigen und bitteren Komponenten. Jedenfalls lernt man das so im Biologieunterricht. Warum aber empfinden wir fettige Speisen als attraktiv,
obwohl das Fett selbst doch als geschmacksneutral gilt? Gibt es
neben den bekannten Geschmacksrezeptoren auch solche für
„fettig”?
Aus früheren Versuchen ist bekannt, dass Ratten auf süßen
Geschmack mit einer vermehrten Enzym- und Insulinausschüttung sowie erhöhter Thermogenese reagieren. Die Reaktion
erfolgt binnen Minuten, also noch bevor die Substanz verdaut
wird. Um herauszufinden, ob sich ein solcher „bedingter Reflex”
auch durch Fett auslösen lässt, träufelten japanische Wissenschaftler ihren Versuchstieren etwas Fett ins Maul. Damit ein
möglicher Effekt nur von Rezeptoren im Mundraum vermittelt
werden konnte, wurde den Nagern vorher die Speiseröhre
durchtrennt. Das Ergebnis war eindeutig: Die Ratten reagierten
genauso schnell und heftig auf die Applikation langkettiger Fettsäuren (Öl-, Linol- und Linolensäure) wie auf eine Zuckerlösung.
Kurz- und mittelkettige Fettsäuren hingegen hatten keine oder
nur eine geringe Pankreassekretion zur Folge.
Die Autoren folgern, dass im Mundraum spezifische Rezeptoren für Fettsäuren vorhanden sein müssen. Wie diese Rezeptoren aussehen, ist derzeit unbekannt. Auch lässt sich noch nicht
beantworten, warum nur langkettige Fettsäuren erkannt werden.
Vielleicht, weil sie für den Körper wichtiger sind? Oder weil sie
sich „technisch” einfacher erfassen lassen und stellvertretend
die Zufuhr von Fett signalisieren? Jedenfalls gibt es auch an
inneren Geweben Rezeptoren für langkettige Fettsäuren, beispielsweise im Dünndarm oder am Herzmuskel.
Anmerkung: Der Hunger nach Fett scheint körperlich
genauso ausgeprägt zu sein wie der nach Süßem. Bisher ging
man davon aus, dass die cremige Konsistenz fettiger Speisen
über einen physikalischen Eindruck für ein angenehmes Empfinden sorgt. Doch die unterschiedliche Reaktion auf einzelne Fettsäuren widerlegt diese Vorstellung. Demnach bleibt der
Geschmackseindruck von Fettersatzstoffen stets unvollständig
bzw. unbefriedigend. Und: Wenn Fett tatsächlich zu einer
schnellen Insulinausschüttung führt, dann widerspricht das
erstens der Theorie vom glykämischen Index und hätte zweitens
den gleichen Einfluss auf den Serotoninspiegel wie Süßes.
Als klaren Risikofaktor für einen VitaminD-Mangel bei jungen Türkinnen haben Wissenschaftler nicht etwa eine falsche Ernährung, sondern die religiös motivierte Körperverhüllung identifiziert. Statt mehr Sonne
empfehlen sie jedoch Vitaminsupplemente.
(British Journal of Nutrition/91/S.979-989)
Rastlos durch Muttermilchentzug
Eine zu kurze Stillzeit könnte das Auftreten von Hyperaktivität (ADHD) begünstigen.
Das legt eine polnische Studie nahe, bei der
60 hyperaktive Kinder mit einer Kontrollgruppe verglichen wurden. Danach waren
die jungen ADHD-Patienten als Säuglinge
im Durchschnitt etwa 35 Tage früher entwöhnt worden als symptomfreie Kinder.
(Roczniki Akademii Medyczney w Bialymstoku
2005/50/S.302-306)
Kein Krebs durch Acrylamid
Die Acrylamidaufnahme über Lebensmittel führt nicht zu Darmkrebs. Das geht
aus der prospektiven Swedish Mammography Cohort Studie hervor, an der über 60
000 Frauen bis zu 16 Jahre lang teilnahmen. (International Journal of Cancer 2006/118/
S.169-173)
Und wieder kein Krebs durch Acrylamid
Eine große italienische Fall-Kontroll-Studie konnte ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen dem Acrylamidverzehr und
der Krebshäufigkeit feststellen. Die Autoren
gingen besonders gründlich vor und untersuchten auf Mundraum-, Rachen-, Kehlkopf-, Speiseröhren-, Brust-, Eierstock- und
Prostatakrebs. (International Journal of Cancer
2006/118/S.467-471)
Weniger Brustkrebs dank Kaffee
Kaffee senkt das Brustkrebsrisiko vor
der Menopause. In einer Fall-Kontroll-Studie aus den USA verringerte der tägliche
Genuss von vier oder mehr Tassen das
Risiko um 40 Prozent. Entkoffeinierter Kaf-
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EU.L.E.N-SPIEGEL – www.das-eule.de
11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
IN ALLER KÜRZE
FACTS & ARTEFACTS
fee hatte keinen Effekt. (The Journal of
Nutrition 2006/136/S.166-171)
Noverr MC et al: Does the microbiota regulate immune responses
outside the gut? Trends in Microbiology 2004/12/S.562-568
Nussgenuss ohne Reue
Nüsse sollen wegen ihrer pflanzlichen
Inhaltsstoffe einerseits gesund sein, andererseits gelten sie ob ihres Fettgehalts als
Dickmacher. Eine US-Studie hat nun
zumindest letzteres widerlegt: Der tägliche
Verzehr von bis zu 56 Gramm Walnüssen
führte bei 90 Probanten innerhalb eines
Jahres zu keiner nennenswerten Gewichtszunahme. (British Journal of Nutrition 2005/94/
S.859-864)
Calcium bringt dem Knochen nix
Der Knochen besteht offenbar nicht nur
aus Calcium. Das ist das Ergebnis einer
placebokontrollierten Interventionsstudie
mit 150 jungen Frauen. Trotz geringer Calciumzufuhr über die Nahrung hatte das tägliche Schlucken von Calciumtabletten (500
Milligramm) keinerlei messbare Auswirkungen auf das Skelett. (Journal of Nutrition
2005/135/S.2362)
Fleisch statt Calcium
Auch eine prospektive Studie mit Kindern aus Deutschland bestätigt, dass die
Calciumzufuhr keine positive Auswirkungen
auf die Knochengesundheit hat. Dafür
staunten die Forscher aus Dortmund und
Köln nicht schlecht, als die Daten einen
ganz anderen Schutzfaktor preisgaben: das
Eiweiß. Je mehr davon verzehrt wurde,
desto stabiler waren die Knochen.
(American Journal of Clinical Nutrition 2005/82/
S.1107-1114)
Käse statt Calciumtabletten
Eine aufwändige finnische Studie sollte
klären, ob man Calcium besser mit Tabletten oder über Käse in Kinderknochen
bekommt. Kleinlautes Ergebnis: „Die Erhöhung der Calciumzufuhr durch den Konsum
von Käse scheint das Wachstum der kortikalen Knochenmasse mehr zu fördern als
der Konsum von Tabletten...” (American
Journal of
S.1115-1126)
Clinical
Nutrition
Darmflora als Allergiebremse
2005/82/
Die Bedeutung der Darmflora für das Immunsystem ist, wenn
auch noch nicht ganz verstanden, so doch unbestritten. Nach
Meinung der Autoren spielt sie auch außerhalb des Verdauungstraktes eine wichtige Rolle, insbesondere bei überschießenden
Immunreaktionen des Körpers. Ihre Hypothese: Die Entstehung
von Allergien wird weniger durch einen Mangel an Krankheitserregern gefördert, sondern vielmehr durch eine Veränderung der
Darmflora bei westlichem Lebensstil.
Die Wissenschaftler aus Michigan tragen eine Reihe von epidemiologischen Studien zusammen, welche zeigen, dass Allergiker tatsächlich eine veränderte Darmflora aufweisen. So fand
man bei allergischen Kindern weniger anaerobe Keime wie Bifidobakterien und Enterokokken, dafür aber mehr aerobe wie Clostridien. Zu den Faktoren, die eine Veränderung der Darmflora
bewirken, zählen größere Kostumstellungen, Flaschenernährung statt Stillen und der Einsatz von Antibiotika. Dass Antibiotika das Allergierisiko bei Kindern steigern, wurde ebenfalls mehrfach beobachtet.
Die Autoren erklären den zugrunde liegenden Mechanismus
so: Da unser Körper im Darm auch artfremde Nahrungseiweiße
akzeptieren muss, die noch nicht durch die Verdauungsenzyme
abgebaut wurden, ist es für ihn notwendig, die normalerweise
stattfindenden Entzündungsreaktionen zu blockieren. Hier
kommt die Mikroflora ins Spiel, denn sie beeinflusst die Reifung
von dendritischen Zellen. Während unreife dendritische Zellen
über die Bildung von regulatorischen T-Zellen eine Entzündung
ausbremsen, bewirken reife Zellen das Gegenteil. Von Lactobazillen weiß man, dass sie die Reifung von dendritischen Zellen
in vitro verzögern. Durch Breitbandantibiotika geförderte Pilze
wie z. B. Candida albicans produzieren prostaglandinähnliche
Substanzen, die regulatorische T-Zellen hemmen. Die Zellwand
von Pilzen enthält außerdem Glucane, die Entzündungsreaktionen der Darmwand anregen.
Doch nicht nur Nahrungsbestandteile werden vom Körper
geduldet, auch Stoffe aus der Atemluft dürfen nicht automatisch
zu Entzündungsreaktionen führen. Obwohl die Atemluft in die
Lunge gelangt und die Toleranzentwicklung deshalb im Lungengewebe stattfinden müsste, scheint der Darm sogar hier eine
wichtige Funktion zu haben: Da alle inhalierten Stoffe schon
nach kurzer Zeit im Darmtrakt nachweisbar sind, ist davon auszugehen, dass sie dort aktiv präsentiert werden, um eine angemessene Immunreaktion (Toleranz oder Angriff) starten zu können.
Anmerkung: Wenn die Darmflora dafür sorgt, dass der
menschliche Körper unbedenkliche Stoffe aus Nahrung oder
Atemluft toleriert, dann tut sie dies wohl kaum aus reiner Nächstenliebe. Vermutlich bremst sie die Immunreaktion des Körpers,
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11. JAHRGANG – NR. 5-6 – 20.12.2005
FACTS & ARTEFACTS
um ihr nicht selbst zum Opfer zu fallen. Das wäre durchaus sinnvoll, schließlich kämpfen die Darmbewohner gegen ihre Konkurrenten wie Bakterien, Pilze oder Viren ebenfalls aktiv an, indem
sie spezielle Abwehrstoffe bilden.
Salmonellen für den Salat
Islam M et al: Fate of Salmonella enterica Serovar Typhimurium on
carrots and radishes grown in fields treated with contaminated manure
composts or irrigation water. Applied and Environmental Microbiology
2004/90/S.2497-2502
Salmonellen sind oft für eine Schlagzeile gut – zumindest
dann, wenn sie über den Verzehr von Hähnchen, Eiern oder
Hack in Krankenhauskantinen oder Altersheimen zu Todesfällen
führen. Die Tatsache, dass sich die Keime auch auf biologisch
angebauter Pflanzenkost tummeln und so zu Infektionen führen
können, wird dabei gerne verschwiegen. Wie überlebensfähig
krankheitserregende Serovare im Erdboden und darin wurzelnden Gemüsepflanzen sind, haben Forscher im US-Bundesstaat
Georgia gezeigt. Dazu versetzten sie verschiedene mit Tierdünger hergestellte Komposte sowie Bewässerungswasser mit Salmonellen und brachten diese auf landwirtschaftlichen Flächen
aus, in die sie einen Tag später Gemüse einsäten. Das Resultat:
Die Salmonellen waren mindestens 203 Tage lang in allen vermischten Erdproben nachweisbar, in solchen mit Kompost aus
Geflügeldung überlebten sie sogar bis zu 231 Tage. Natürlich
befanden sich die Mikroorganismen auch auf dem angebauten
Rettich und den Karotten. Unklar blieb lediglich, ob die Salmonellen – ähnlich wie EHEC-Erreger – aktiv von der Gemüsepflanze aufgenommen wurden.
Salmonellen für die Ratte
Painter JA et al: Salmonella-based rodenticides and public health.
Emerging Infectious Diseases 2004/10/S.985-987
Da sich Ratten schnell an Gifte adaptieren, setzen Fachleute
auf biologische Waffen im Kampf gegen die Schadnager. In vielen asiatischen und südamerikanischen Staaten ist es nach wie
vor üblich, Rattenköder gezielt mit Salmonellen zu beimpfen.
Auch wenn behauptet wird, die verwendeten Serovare seien nur
für Ratten und nicht für Menschen gefährlich: Tatsache ist, dass
alle Salmonellen ein humanpathogenes Potenzial besitzen. Vor
diesem Hintergrund warnt die Weltgesundheitsorganisation
bereits seit den 50er Jahren vor der Gesundheitsgefahr, die von
infizierten Ratten und deren Ausscheidungen auf dem Acker und
im Viehstall ausgeht. Sie fordert vehement ein Verbot von salmonellenhaltigen Ködern, da es genügend wirksamere und weniger
riskante Nagerbekämpfungsmittel gibt.
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IN ALLER KÜRZE
Hepatitis A durch Zwiebeln
Im Falle einer lebensmittelbedingten
Hepatitis A ist nicht nur an Meeresfrüchte zu
denken, sondern auch an Salat: In den USA
wurde ein Massenausbruch mit 600 Fällen
auf den Genuss von Salatzwiebeln in einem
Restaurant zurückgeführt. Drei Patienten
verstarben. (New England Journal of Medicine
2005/353/S.890-897)
Der Mythos von der Mittelmeerdiät
Eine griechische Untersuchung räumt
mit dem Vorurteil auf, dass Menschen, die
sich an die traditionelle Kost des Mittelmeerraumes halten, auch schlanker sind.
Es fand sich kein Zusammenhang zwischen Ernährung und BMI. Fazit: „Übergewicht stellt in Griechenland ein ernsthaftes
Problem dar und vielleicht auch in anderen
mediterranen Ländern”. (American Journal of
Clinical Nutrition 2005/82/S.935-940)
Schimmelpilzgifte falsch erfasst
Analytische Chemiker aus Südafrika
werfen ihrer Zunft vor, dass die übliche
Methode zur Fumonisinbestimmung zu
falsch-positiven Befunden führt. 30 Proben,
die im Rahmen der amtlichen Prüfung teilweise erhebliche Rückstandsgehalte aufwiesen, lagen bei einer zuverlässigeren
Messtechnik unter der Nachweisgrenze.
(Journal of Agricultural and Food Chemistry
2005/53/S.9293-9296)
Schweinischer Pfeffer
Weißer Pfeffer wird aus reifen Früchten
gewonnen, deren Schale sich durch zweiwöchiges Einweichen entfernen lässt. Im
Gegensatz zu schwarzem Pfeffer leidet er
recht häufig unter Fehlgerüchen nach
Käse, Pferdestall oder Schweinegülle. Als
Ursache für die unerwünschten Duftnoten
haben nun Garchinger Lebensmittelchemiker abgestandenes Einweichwasser ausfindig gemacht. Sie schlagen vor, das Wasser
regelmäßig zu wechseln und nur absolut
reife Pfefferfrüchte zu fermentieren. (Journal
of Agricultural and Food Chemistry 2005/53/
S.6056-6060)
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IN ALLER KÜRZE
Zelltod durch Fischöl
Pflanzenöle, Fische und Schalentiere haben eines
gemeinsam: Wegen ihrer langkettigen ungesättigten
Fettsäuren gelten sie als besonders gesund. Dumm
nur, dass sich die begehrten Fette bei einer Oxidation
schnell in zytotoxische Aldehyde wie 4-Hydroxy-2-alkenale verwandeln. Das gesundheitliche Risiko durch
diese Stoffe kann noch nicht quantifiziert werden. (Food
Additives & Contaminants 2005/22/S.701-708)
Bedenklich: Rohkost für Tiere
Bei der Überprüfung von 25 unterschiedlichen Rohfutterwaren für Katzen und Hunde sind kanadische
Wissenschaftler auf allerlei Krankheitserreger gestoßen. In den Proben fanden sich unter anderem Escherichia coli, Salmonella spp., Clostridium perfringens,
C. difficile sowie Staphylococcus aureus. Der Verzehr
von Rohkost ist demnach nicht nur für Menschen problematisch, sondern auch für seine Haustiere. (Canadian Veterinary Journal 2005/46/S.513-516)
Hundegrippe auf dem Vormarsch
Während Europa noch sein Federvieh hinter
Schloss und Riegel bringt, um eine Infektion mit der
Vogelgrippe zu vermeiden, haben Wissenschaftler in
den USA die Herkunft eines tödlichen HundegrippeVirus ermittelt. Das Virus H3N8, das sich seit 2004 an
der Ostküste der USA ausbreitet, wurde ursprünglich
von Pferden übertragen und gehört ebenso wie der
Auslöser der Vogelgrippe H5N1 zum Typ A. (Tierärztliche Umschau 2005/60/S.638)
Veganer:
wie gewonnen, so zerronnen
Das ernüchternde Fazit einer Studie zum kardiovaskulären Risikoprofil bei 154 deutschen Veganern
lautet: „Obwohl die Werte für Gesamtcholesterin und
LDL günstig waren, waren die niedrigen HDL- sowie
die erhöhten Homocystein- und Lipoprotein-α-Werte
ungünstig. Insgesamt bestätigen diese Befunde die
Feststellung, dass eine vegane Ernährung zu wenig
Vitamin B12 enthält, was sich unter Umständen ungünstig auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen
auswirkt.” (Annals of Nutrition and Metabolism
2005/49/S.366-372)
DIE BESONDERE ERKENNTNIS
Die besondere Erkenntnis
Harte Männer durch schlaffe Nudeln
Für alle Männer, die ihre Identitätsfindung durch
bewusste Ernährung vertiefen wollen, lohnt ein
Besuch der Internetseite des Instituts für regionale
Innovation und Sozialforschung (Iris e.V.). Hier finden sich originelle Rezepte einer „männergerechten
Küche”, ausgearbeitet von ehrgeizigen Hobbyköchen, die „am Herd ihren Mann stehen”.
So sollen gegarte süß-saure Möhren durch eine
„Balance zwischen Weichkochen und knackig bleiben” ausgleichend und harmonisierend wirken, während ein Kalbsbraten aus holländischer Massentierhaltung dank seines Östrogengehalts die „weiblichen
Anteile” im Manne weckt. Allerdings warnen die
Köche vor häufigem Konsum, zumal „in Regionen, in
denen zuviel Kalbfleisch konsumiert wird, die Zahl
der Transvestiten signifikant zunimmt”. Als Antidot
raten sie zu Spätzle, da Spätzlepressen in Fachkreisen als Form des Bodybuilings angesehen werde.
Spätzle seien auf jeden Fall männergerecht, weil sie
„mal lang und dünn, mal kurz und hart sind.”
Ganz besonders legen die Soziologen den Herren eine Spinatquiche ans Herz. Sie wecke Assoziationen an die bärenstarke Comicfigur Popeye, deren
emanzipatorischer Charakter schon allein durch den
Verzicht auf „traditionell männlich konnotierte Nahrungsmittel” sichtbar werde. „Dieser Hintergrund eignet sich auch als ... Vertiefungsdimension in Männergruppen und bei Männermahlzeiten”. Als Dessert folgen Windbeutel, „weil sie männliche Größenphantasien bedienen, um sie gleichzeitig neu zu erden
(‚Häufchen auf ein Blech setzen’)”.
www.iris-egris.de/jungen/praxis/maenner_kueche.phtml
Aus dem Institut
Ab sofort steht unseren Mitgliedern, Abonnenten
und Lesern ein aktualisiertes Jahresregister des
EU.L.E.n-Spiegels zur Verfügung. Es ist im Internet
unter www.das-eule.de abrufbar und lässt sich
bequem nach Stichworten durchsuchen. Bei Bedarf
versenden wir einen ungebundenen Ausdruck des
neuen Jahresregisters per Post. In diesem Fall wenden Sie sich bitte an: Jutta Muth, Heinrich-HesseStraße 9, 35108 Rennertehausen.
Wir wünschen allen EU.L.E.n-Spiegel-Lesern
einen guten Start in das neue Jahr 2006!