Buch Finster - textdichter
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Buch Finster - textdichter
SV Herzlichen Dank für die Unterstützung bei der Realisierung des Projekts an die Sparkasse Elbe-Saale, den Landkreis Bernburg sowie die Stadt Bernburg! Michael Schuster Ein Leben zwischen Nacht und Morgengrauen Der Schriftsteller Ernst Finster Michael Schuster Verlag Baalberge SV Das vorliegende Buch basiert auf den Lebenserinnerungen des Schriftstellers Ernst Finster, Gesprächen mit seiner Frau Emma Finster und umfangreichen Recherchen. Alle Fotos stammen aus dem Privatarchiv von Frau Emma Finster sowie aus dem Verlagsarchiv. Reprotechnische Vervielfältigung und Nachdruck sind, auch auszugsweise, verboten. ISBN 3-9810141-0-3 © 2005 Michael Schuster Verlag Baalberge Gestaltung/Satz/Layout: Michael Schuster Redaktionelle Mitarbeit: Heike Schuster Druck: Sächsisches Digitaldruck Zentrum GmbH Inhalt Der Beginn einer Reise ..................6 Dem Schrecken entronnen ..................8 Am Anfang eines neuen Weges ................18 Zeit der Veränderungen ................28 Kreissekretär und Journalist ................39 Zwischen Schreibtisch und Beerenobst ................59 Erfolge eines Autors ................59 Höhen und Tiefen ................71 Fackeln am Fluss ................83 Wolf unter Schakalen ................94 Schlussakkord ..............103 Nachwort ..............111 Anhang ..............113 Der Beginn einer Reise Schon auf der Saalefähre bei Groß Rosenburg fängt mich die sattgrüne Landschaft mit ihrem eigenartigen Licht ein. Es riecht nach Flußwasser und fetter, saftiger Erde. Denkt man sich die PKW’s am jenseitigen Ufer fort und sieht dann nur auf die katzköpfige Pflasterstraße, erscheint das Werkleitzer Ufer wie vor über hundert Jahren, eigentlich gänzlich unberührt. Von hier in den Ort sind es noch ein oder zwei Kilometer, nicht der Rede wert für den, der ein Auto sein eigen nennt, aber auch mit dem Fahrrad bequem zu bewältigen. In Werkleitz, direkt gegenüber der kleinen Kirche, als ehemaliges Bauerngehöft noch deutlich auszumachen, befindet sich das Haus, in dem Ernst Finster, einer der bedeutendsten Schriftsteller dieser Region, viele Jahre seines Lebens verbrachte. Hier, hinter den zum Arbeitszimmer und zur Bibliothek gehörenden Fenstern, hat er sich einige Stunden des Tages in seine Arbeit vertieft, die ihn bis in’s hohe Alter nicht losgelassen hat. Seine Arbeit? Eher schon eine Leidenschaft, die Beschäftigung mit der deutschen und insbesondere der regionalen Geschichte, aus der eine Reihe großartiger Bücher erwuchsen. Nur drei seiner Romane wurden veröffentlicht, zwei vor und einer nach seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der damaligen DDR. Doch damit wären wir schon bei seiner Lebensgeschichte, die Ernst Finster, als er sich noch mit achtzig Jahren einen Computer anschaffte, eigenhändig aufgeschrieben hat und auf deren Grundlage dieses Buch unter anderem entstand. Betritt man sein Arbeitszimmer kann man sich des Gefühls nicht erwehren, er sei eben erst vom Schreibtisch aufgestanden und eigentlich möchte man nach ihm suchen. Finden kann man ihn nur noch in seinen Büchern, in unzähligen Texten zur Regionalgeschichte, in Erzählungen und in den warmherzigen Erinnerungen seiner Frau, ohne deren Hilfe und Unterstützung dieses Buch nie entstanden wäre. -6- Eines der Gedichte von Ernst Finster für seine Frau, geschrieben Weihnachten 1948, soll deshalb die Erinnerungen an den Schriftsteller eröffnen. Dein Herz und mein Herz, ein einziger Schlag. Dein Glück und mein Glück nichts zu trüben vermag. Frei von der Sorge und der Hast nach dem Geld, voll Sonne und Wonne lacht uns die Welt! Ernst Finster (1948) -7- I. Dem Schrecken entronnen Über einen schmalen Weg am Frischen Haff in Ostpreußen versuchten sich im März 1945 die Reste der 552. Volksgrenadierdivision in das Fischerdorf Rosenberg zu retten. Unter denen, die das Inferno dieser Tage ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte, war der dreißigjährige Oberfunkmeister Ernst Finster aus Plötzkau an der Saale. Die Stunden der heillosen und unorganisierten Flucht liefen bis in das hohe Alter wie Filmfetzen immer wieder vor ihm ab. Da war der sterbende Oberfeldwebel dem niemand mehr helfen konnte und helfen wollte, im Wege liegend und nur noch ein Hindernis für die Flüchtenden. Da war das Krepieren der Granaten, begleitet vom hässlichen Zirpen der Infanteriegeschosse und da war Rosenberg mit der Hoffnung auf einen rettenden Marinefährprahm. Im Feuerschein der brennenden Häuser, pausenlos untermalt vom Hämmern sowjetischer Geschütze, drängten sich alte Männer, Frauen und Kinder über Sterbende und Tote. „Eine von Menschen geschaffene Hölle!“, wie Ernst Finster die Situation rückblickend bezeichnete. Aufgewachsen im idyllischen Plötzkau, verbrachte der naturliebende Junge den Hauptteil seiner Freizeit in der weitläufigen Landschaft der Saaleauen. Hier fand er eine reichhaltige Tierwelt, die es wert war, ausgiebig beobachtet zu werden. Immer mehr verstärkte sich dadurch auch der Wunsch, diese Naturverbundenheit mit Gleichgesinnten zu teilen. Pfadfinder hießen die Organisationen damals und nur eine, nämlich die in Nienburg, gab es für Ernst Finster in erreichbarer Nähe. Da er stolzer Besitzer eines Fahrrades war, machte er sich Mitte der zwanziger Jahre am Wochenende auf den Weg in die Stadt, wo Saale und Bode sich begegnen. -8- x Mit den Pfadfindern von Nienburg im Gelände x Lehrzeit als Dekorationsmaler in Bernburg Dort lernte er den Aufbau von Zelten aus mehreren Zeltbahnen, das Einrichten einer Feuerstelle und das Orientieren an Merkmalen der Natur. Besondere Freude hatte Ernst Finster auch am Erkennen der verschiedenen Fährten und Trittsiegel des Wildes. Das Leben in und mit der Natur war ihm inzwischen zum tiefen inneren Bedürfnis geworden. Durch seine scheinbar angeborene Fähigkeit, sehr gut zu organisieren schaffte es der Sechzehnjährige 1931 sogar, deutschlandweit die erste dörfliche „Siedlung“ des Deutschen Pfadfinderbundes zu gründen. Allerdings war es nach dem Machtantritt der Nazis mit dem romantischen Pfadfinderleben bald vorbei. An die Stelle der unpolitischen Jugendorganisationen rückten nun das Jungvolk und die Hitlerjugend. Doch auch hier fand der begeisterungsfähige Ernst Finster schnell eine neue Heimat. Da gab es die aufregenden Geländespiele mit anschließender Erbsensuppe und gemeinsamen Liedern am Lagerfeuer. Die Nachtigall sang den in Decken gewickelten Jungs das Schlaflied und der Waldkauz wünschte mit seinem dumpfen Ruf eine gute Nacht. Konnte es für Heranwachsende der damaligen Zeit, einer Generation, die Geschichten von Karl May beim Licht der Taschenlampe unter der Bettdecke regelrecht verschlangen, jemals etwas Schöneres geben? Für Ernst Finster war es eine herrliche Zeit. 1934 gelang es ihm, als erster im sogenannten Gebiet „Mittelelbe“, alle Plötzkauer Schüler der Altersgruppe von zehn bis vierzehn Jahren im Deutschen Jungvolk zu organisieren. Und natürlich war er auch dabei, als es im Sommer des gleichen Jahres ein Feldlager an der Saale mit Jungen aus Osmarsleben, Ilberstedt, Gröna und Aderstedt gab. - 10 - Doch nicht nur in der Freizeit zeigte er sich von einer guten Seite, auch seine schulischen Leistungen gehörten zu den besten. Der damals sehr bekannte Heimatforscher Franz Stieler, einer seiner Lehrer in Plötzkau, anvancierte dabei unbewusst zu seinem Vorbild, obwohl ihr Verhältnis dann doch von einer gegenseitigen Antipathie geprägt wurde. Stieler, während des Krieges von Plötzkau nach Jeßnitz versetzt, kehrte später nach Bernburg zurück und eröffnete 1956, nach dem Erscheinen von Finsters Roman „Die Wälder leben“ eine wütende Hetzkampagne. Vor dem Schaufenster der Bernburger Volksbuchhandlung erklärte er allen, die es hören wollten, mehrere Tage hintereinander, das sein einstiger Schüler ein grober Geschichtskitter sei, der von Heimatgeschichte keinen blassen Schimmer hätte und nur er, Franz Stieler, wäre in der Lage, diese Geschichte richtig zu deuten. Vorerst aber drückte der „Geschichtskitter“ noch die Schulbank bei Franz Stieler und anderen Lehrern der Plötzkauer Schule. Mit vierzehn Jahren nun sollte sich Ernst Finster für einen Beruf entscheiden. Sicherlich vom Vater geprägt, aber auch durch viel eigenes Talent, das ihn immer wieder zum Malen anregte, begann er eine Lehre als Dekorationsmaler bei der Firma Kunze in Bernburg. Nicht weit davon, in der Gewerbeschule, erhielt er seinen Unterricht, dem er mit Fleiß und interessiert folgte. Allerdings hatte Ernst Finster auch schon immer ein Faible für Technik. Natürlich konnte er durch Jungvolk und Hitlerjugend mit Militärtechnik Bekanntschaft schließen, Zeitungsartikel und Bücher mit entsprechenden Beschreibungen taten ein Übriges. 1936 meldete sich Ernst Finster freiwillig für 12 Jahre zum Dienst bei der Deutschen Luftwaffe. Er hatte sich dabei für eine Ausbildung zum Funker entschieden, die er bei der LuftgauNachrichten-Abteilung 3 in Berlin-Kladow begann und die ihn über Landau und eine kurze Station bei der Luftnachrichtenschule Halle, weiter nach Straßburg und später bis nach Russland und vor die Tore Petersburgs führen sollte. - 11 - Beim Reichsarbeitsdienst Oberfunkmeister Ernst Finster So oder so ähnlich erlebte Ernst Finster die Flucht aus Ostpreußen Dabei ereignete sich während seiner Zeit in Halle an der Saale ein besonderer Vorfall, den sich Ernst Finster, wie noch oft in seinem Leben, selbst organisiert hatte. Im Dezember 1940 wurden der Unteroffizier Finster und einer seiner Kameraden aus dem Unterricht weg verhaftet. Der Grund war eine nicht so ganz ernstzunehmende Eulenspiegelei, die sich der Plötzkauer und ein paar seiner Kameraden schon Monate vorher ausgedacht hatten. „Bund der Obdachlosen (BdO)“ nannten sie ihre Organisation, die neben vielen Mitgliedern auch über eine eigene, im Abzugsverfahren hergestellte Zeitschrift vefügte. Titel: “Der Obdachlose“. Das roch den Offizieren der Luftnachrichtenkompanie in Straßburg dann doch sehr nach Wehrkraftzersetzung und deshalb sollte in Ludwigsburg das Kriegsgericht über die Sache beraten. Finster hatte Glück. Der mit dem Fall beauftragte Richter erkannte in dem „Bund der Obdachlosen“ eine harmlose Spinnerei und stellte das Verfahren ein. In dieser Episode zeigen sich schon sehr deutlich die Talente Ernst Finsters, die in seinem späteren Leben immer wieder ausschlaggebend für positive oder auch negative Entwicklungen wurden. Das beinahe geniale Talent, Menschen zu organisieren und zu überzeugen, aber auch die Lust am schriftstellerischen Arbeiten, gepaart mit einem augenzwinkernden Humor und reger Phantasie. Bei Rosenberg, am 24. März 1945, war es nicht der rechte Augenblick für positive menschliche Charakterzüge wie Humor und Phantasie. Im Trommelfeuer sowjetischer Geschütze ging es letztlich nur um das nackte Überleben. Auch als Ernst Finster die ostpreußische Stadt Pillau erreicht hatte, gab es noch keinen Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Rings um den Oberfunkmeister senkte sich eine einstmals blühende Landschaft in Schutt und Asche. Tausende, aus allen Teilen Ostpreußens stammende Menschen - 13 - suchten händeringend nach einer Gelegenheit zum Weitertransport in Richtung Westen. Sassnitz oder Stettin waren Städtenamen, die in diesen Tagen nach Freiheit und Überleben klangen. Doch die wenigen der deutschen Marine noch verbliebenen Schiffe, umfunktionierte Handelsdampfer, Fischereikutter und größere Ausflugsboote reichten lange nicht aus, um allen die Sehnsucht nach Rettung erfüllen zu können. Immerhin aber rund 450.000 Menschen schafften es während des Krieges, über den Pillauer Hafen vorerst dem Krieg zu entkommen. Auch Ernst Finster hatte Glück. Am 29. März erhielt er einen Marschbefehl für die Fahrt 602 mit dem Dampfer „Anna Gertraude“ nach Swinemünde und verließ als einer der Letzten den Hafen an der Frischen Nehrung. Sein Wunsch, von dort zum Fliegerhorst nach Bernburg in Marsch gesetzt zu werden, erfüllte sich nicht. Stattdessen ging es per Bahn nach Potsdam, wo der Angehörige der Luftwaffe per Befehl zum Unteroffizier einer Artillerie-Ersatzabteilung wurde. Erschöpft traf Ernst Finster Tage später in Roßlau ein. Man schrieb den 8. April 1945. Bis zum Inkrafttreten der vollständigen Kapitulation sollte nur noch ein Monat vergehen. Ein Monat voller sinnloser Opfer, militärischer und noch mehr ziviler. 30 Tage, an denen Menschen für einen längst untergegangenen Wahn vom tausendjährigen Reich geopfert wurden. Noch am 26. April 1945, Bernburg war da schon acht Tage von den Amerikanern besetzt, begann die aus Resten der einstigen deutschen Wehrmacht zusammengewürfelte „Armee Wenck“ im Raum Beelitz-Treuenbritzen mit einem Großangriff gegen die aus Osten vorstoßende Rote Armee. Vier Tage später stahl sich der „Führer“ Adolf Hitler aus dem Leben und die Russen hielten Berlin bis zum Stadtzentrum hin besetzt. Längst bestand schon keine Aussicht mehr auf den immer wieder versprochenen „Endsieg“ und trotzdem, noch sollten tausende junge Menschen am Beginn ihres Lebens geopfert werden. Ernst Finster erinnerte sich später: - 14 - „Wir marschierten, weil wir noch immer an den Führer und an den Sieg glaubten. Wir alle? Ich weiß es nicht. Die siebzehn- und achtzehnjährigen Fähnriche und Fahnenjunker-Unteroffiziere ganz bestimmt.“ Am 8. Mai 1945 fand sich Ernst Finster mit den Resten seiner Einheit und in Begleitung eines vierzehnjährigen Jungen in dem Dorf Fischbeck an der Elbe. Den Jungen hatte der Unteroffizier tags zuvor in einem verlassenen Bauerngehöft aufgelesen. „Hör zu,“ hatte er dem aus Pommern stammenden Vollwaisen gesagt, „morgen geht der Krieg zu Ende, ganz gewiß. Für mich und für dich, für alle. Wenn wir heil aus dem Schlamassel herauskommen, dann wollen wir und dann müssen wir ein neues Leben beginnen. Wir alle. Verstehst du das?“. Der Junge, von einem betrunkenen Oberzahlmeister zum Gefreiten befördert und mit einem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgerüstet, das er einem toten Unteroffizier abgenommen hatte, verstand es nicht. Doch er schloss sich nur zu gern dem Dreißigjährigen an, der für die nächsten Wochen zu einer Art Ersatzvater für ihn werden sollte. Gegenüber dem Dorf Fischbeck lag die Stadt Tangermünde. Dort, westlich der Elbe glaubten sich die kriegsmüden Soldaten auf der sicheren Seite, näherten sich von dort doch die Amerikaner. Das viele der feldgrauen Landser noch Monate nach dem Ende des Krieges in den Lagern der Amerikaner, unter anderem auf den Rheinwiesen und bei Bad Kreuznach regelrecht verfaulen würden, ahnte damals wohl noch keiner. Hier, auf den feuchten Niederungen am Fluß, endete nun der militärische Weg des Oberfunkmeisters Ernst Finster. Mit dem Blick auf die Türme der altehrwürdigen Elbestadt meinte er zu seinem Schützling, als der ihn nach seinen Erinnerungen an Russland befragte: „Es wäre besser, wir hätten dieses Land nie - 15 - betreten. Es ist ein weites Land ohne Horizont. Ein trostloses Land ohne Hoffnung. Ein wildes Land ohne Erbarmen. Wir haben da eine Lawine losgetreten, die uns nun überrollen wird.“. Wie zur Bestätigung seiner Worte begann damit der Angriff der Roten Armee auf die Reste der „Armee Wenck“, die sich trotz der allgemeinen Kapitulation gegen eine Gefangennahme durch die Sowjets mit Geschützfeuer zu wehren versuchte. Und als deren Geschütze schwiegen, schossen die Amerikaner von Tangermünde her auf ihre eigenen Verbündeten. Dazwischen schob sich ein schier endloses Menschenknäul über die Brücke Richtung Westen. Jeder wollte es schaffen, es war doch schon Frieden verkündet worden. Es war doch schon Frühling. Und doch starben um den ebenfalls fliehenden Ernst Finster und seinen vierzehnjährigen Schützling herum an diesem ersten Friedenstag, an diesem 8. Mai 1945, noch unzählige deutsche Soldaten. Manche Hoffnung von einer Rückkehr in die Heimat versank unter dem MG-Feuer der herannahenden Russen in den Wassern der Elbe. Mit drei Tafeln Schoka-Cola aus ehemaligen deutschen Wehrmachtsbeständen, einer Dose gesalzener Erdnüsse aus amerikanischen Beständen und einem viertel Liter Wasser pro Tag begann für Ernst Finster und die Reste der ehemaligen „Armee Wenck“ der Frieden auf dem Rollfeld des Feldflugplatzes Stendal. Merkwürdig erschien ihm nur, das er und die dreißigtausend internierten Deutschen Tage später in der Hindenburg-Kaserne wieder in militärische Hundertschaften eingeteilt wurden. Selbst als die Amerikaner die Aufsicht über die Deutschen in Stendal an die Engländer abgaben, blieb es noch eine Weile dabei. Erst als der Sommer sich kräftiger in das Land drängte, gaben die drei Westalliierten den ursprünglich gefassten Plan vom sofortigen „Roll Back“ gegen die Sowjetunion auf und die als Kanonenfutter vorgesehenen Deutschen wurden zum Ernteein- 16 - satz kommandiert. In Wernitz, einem Dorf zwischen Gardelegen und Oebisfelde hatte Ernst Finster eine wesentliche und für seine schriftstellerische Entwicklung wichtige Begegnung. Zunächst war nämlich nicht viel vom angekündigten Ernteeinsatz zu spüren, eher etwas von Langeweile und ziellosem Einerlei leerer Tage. Einer der nach Wernitz kommandierten Unteroffiziere, der spätere Schriftsteller Wolf D. Brennecke, gründete einen Theaterzirkel und beim abendlichen Gespräch beschlossen er und Ernst Finster, gemeinsam mit zwei weiteren Kriegsgefangenen, die Herstellung einer eigenen Zeitschrift unter dem Titel „Die Stunde für Dich“. Ein Fortsetzungsroman sollte darin enthalten sein, eine Kurzgeschichte, Rätsel und Illustrationen. Der Fortsetzungsroman, für den Ernst Finster verantwortlich gemacht wurde, hatte den Arbeitstitel „Der Sergeant von Kiviisbuurk“ und sollte in Estland, das Finster aus dem Krieg kannte, spielen. Brennecke, als „Hauptschriftleiter“ gewählt, übernahm die Entwicklung der Kurzgeschichte, die anderen beiden jeweils für Rätsel und Illustrationen. Doch der Traum und Brenneckes aus getrockneten Rosenblütenblättern stammender Tabakspfeifendunst lösten sich noch am selben Tag in Nichts auf. Die Gefangenen wurden in kleinere Einheiten geteilt und nun tatsächlich zum allgemeinen Ernteeinsatz auf die gesamte britisch besetzte Altmark verteilt. So endete die kurze, allerdings sehr prägende erste Begegnung zwischen Ernst Finster und Wolf D. Brennecke. Jahre später sollten sie sich in Halle an der Saale wiedertreffen und von da an als Freunde eng verbunden bleiben. Schriftsteller, die sie in Wernitz beide schon sein wollten, sind sie später tatsächlich auch geworden. Brennecke schrieb fünfzig Jahre später in seinem letzten Brief an Ernst Finster: „Am deutlichsten sehe ich noch die „Rosenlaube“ vor mir, wo wir vier hockten und die Zeitschrift „Für Dich“ (bei Finster „Die Stunde für Dich“ d.Verf.) entwarfen. Böttcher (Der - 17 - Verantwortliche für die Kreuzworträtsel/d. Verf.) habe ich später in Genthin, noch später in Wernigerode getroffen, wo er eine Krambude hatte. An den Namen des Vierten, der so gut zeichnete, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber noch an Nettgau, wo in jener Nacht alle über die neue Demarkationslinie gingen ...“. In Nettgau an der Ohre, auf dem Hof des Bauern Heinrich Böckel, wurde der Ernteeinsatz nun tatsächlich zur Realität. Der vierzehnjährigen Gefreite, den Ernst Finster auf den Elbwiesen bei Tangermünde aufgelesen hatte, befand sich da immer noch in seinem Schlepptau. Als Ziehsohn sozusagen. Doch hier endete dann auch diese sonderbare, aber für die Nachkriegszeit nicht ungewöhnliche Patenschaft. Im Juni 1945 vermehrten sich die Gerüchte, das die Besatzungszonen verschoben werden sollten. Bis weit hinter die Elbe sollte das Einflussgebiet der Russen fortan reichen und Ernst Finster machte sich, wie viele seiner Mitgefangenen, ernsthafte Sorgen um seine Eltern. So zog er, bei Nacht und Nebel, unerlaubt mit dem „Die Stunde für Dich“ - Zeichner Böttcher aus Halle an der Saale, los in Richtung Bernburg. Sein Schützling blieb an Stelle des gefallenen Sohnes des Bauern auf dem Gehöft der Böckels. II. Am Anfang eines neuen Weges Der Marsch in die Heimat begann bis nach Bismark auf immer schwerer werdenden Füßen und ab da auf verschiedenen Fahrgelegenheiten Richtung Aschersleben, und mit einem zweiten LKW von dort erst einmal bis Hoym. Ein amerikanischer Jeep sorgte dann für den Weitertransport der abgängigen Kriegsgefangenen bis in den Keller des Bernburger Rathauses. Schon glaubte Ernst Finster, so nah an der Heimat, die Saaleregion wieder verlassen zu müssen, da rettete ihn die Situ- 18 - ation, derentwegen er von Nettgau überhaupt aufgebrochen war, der bevorstehende Einmarsch der Russen in Bernburg. Den Amerikanern erschien es viel zu umständlich, sich mit dem Transport, der Unterbringung und der Verpflegung der „Germans“ zu befassen. Sollten doch die Verbündeten dieses Problem lösen. Und wenn nicht, dann eben nicht. So also wurden Ernst Finster, der Hallenser Böttcher und einige weitere „Kriegsgefangene“ aus dem Keller der Rathauses in Bernburg am Morgen des 30. Juni mit freundlichen Worten nach Hause entlassen. Das heißt, Ernst Finster erhielt vorher noch das Angebot, in die US-Army einzutreten, bei vollen Bezügen und im Dienstrang eines Leutnants. Natürlich erschien dem damals gerade Dreißigjährigen dieses Angebot wie eine unverhoffte Rettung aus allen bevorstehenden Existenzproblemen und der damit verbundenen Angst und Skepsis vor der herannahenden Roten Armee Stalins. Vater Finster ist es zu danken, dass sein Sohn Ernst von dem Vorhaben, am 1. Juli mit den Amerikanern fortzugehen, abgelassen hat. So erwarteten sie also gemeinsam den Einmarsch der Russen, die am Nachmittag dieses ersten Julitages mit Panjewagen und einigen Jeeps und Fahrrädern aus Richtung Bernburg in Plötzkau einmarschierten. Doch nur ein kleiner Trupp, von einem Unterleutnant befehligt, blieb im Dorf zurück. Jeder arbeitsfähige Einwohner, auch Ernst Finster, hatte sich kurz darauf zur Arbeit auf dem zu der ehemaligen landwirtschaftlichen Domäne Plötzkau gehörigen Vorwerk Bründel zu melden. Für den gelernten Dekorationsmaler und ausgedienten Oberfunkmeister hieß das Schuften in der sogenannten Mistkolonne. Auf dem Kuhring, einer großen „duftenden“ Fläche mitten auf dem Gutshof, mussten er und die anderen Arbeiter den von den Jungrindern festgetretenen Mist auf die von schweren Kaltblütern gezogenen Wagen verladen. Auch auf den Feldern rings um Bründel und Plötzkau wurde gearbeitet. Dann wurde aus dem Landarbeiter Finster eher widerwillig ein Neubauer, der im Rahmen der durch die in der sowjetischen Besatzungszone vollzogenen Bodenreform 1945 plötzlich Eigentümer über zwanzig Morgen Land war. Für ein paar Tage nur, denn die Ortsbodenkommission stellte fest, das Ernst Finster als ehemaliger Berufssoldat und Oberfunkmeister wie ein „Kriegsverbrecher“ einzustufen war und damit kein Anrecht auf eine Neubauernstelle gehabt hatte. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte sich, eigentlich erleichtert, der inzwischen wieder landlose ehemalige Dekorationsmaler, der sich mit den Vorgängen um die von den Kommunisten als „demokratisch“ bezeichneten Bodenreform nicht im Geringsten identifizieren konnte, obwohl er doch aus einer der früher wenig begünstigten Arbeiterfamilien stammte. Nein, der schon damals an der Geschichte seiner Heimat stark interessierte Ernst Finster konnte es nicht verstehen, dass bei der Plünderung des Schlosses in Poplitz alle noch vorhandenen Archivmaterialien, wertvolles Schriftgut und die gesamte Bibliothek als „Heizmaterial“ verbrannten. Damit gingen Aufzeichnungen einer sehr wichtigen geschichtlichen Epoche dieses Landstriches unwiderbringlich in Rauch und Flammen auf. Der ehemalige Besitzer des Schlosses, der Freiherr Heinrich von Krosigk war nämlich nicht nur ein enger Freund von historischen Persönlichkeiten wie Johann Christian Reil, Heinrich Steffens und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, er selbst war es auch, der am Vorabend der Völkerschlacht bei Leipzig das erste entscheidende Gefecht bei Möckern wesentlich beeinflusste und dabei den Tod fand. Als bekannter Reformer hatte er als erster Gutsbesitzer dafür gesorgt, das alle bei ihm beschäftigten Landarbeiter nach ihrer Dienstzeit in den Besitz der von ihm finanzierten und gebauten Wohnhäuser gelangten. Er sorgte für Schulbildung und eine grundlegende medizinische Betreuung. Nun, kurz nach dem Ende des so schrecklichen