Bei adipösen Migräne-Patienten ist Topiramat Mittel der Wahl
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Bei adipösen Migräne-Patienten ist Topiramat Mittel der Wahl
Medizin aktuell Schweizer Praxiserfahrungsbericht Bei adipösen Migräne-Patienten ist Topiramat Mittel der Wahl RETO AGOSTI, ZÜRICH; BERNARD NATER, LAUSANNE; MANUELA PETER, JULIA E. CHRUBASIK, ZÜRICH ■ Bei hoher Migränefrequenz und starker Beeinträchtigung durch Migräne empfiehlt die Schweizerische Kopfwehgesellschaft eine Migräneprophylaxe zur Reduktion von Häufigkeit, Schwere und Dauer der Migräne (www.headache.ch/htm/medizin/therapie/ frame.htm). Andere Gründe, die eine prophylaktische Therapie rechtfertigen, umfassen: Misserfolg verschiedener Akut-Medikationen oder inakzeptable Nebenwirkungen unter einer solchen Therapie, exzessiver Konsum von Akutmedikamenten mit Gefahr des «Medication Overuse Headache», protrahierte/gehäufte Auren oder der gezielte Wunsch des Patienten nach einer Reduktion der Migräneattacken. Wenn innerhalb von acht Wochen eine Besserung der Beschwerden eintritt, sollte die Prophylaxe etwa sechs Monate durchgeführt werden. Nach dem Ausschleichen der Medikation wird eine Pause von drei bis sechs Monaten empfohlen. Kommt es zu einem Rezidiv, empfiehlt die Gesellschaft, ein anderes Medikament zur Prophylaxe einzusetzen. Die Wahl der Prophylaxe wird aber auch von den Comorbiditäten beeinflusst, z.B. Betablocker bei Hypertonie, Calciumantagonisten bei Kälteempfindlichkeit und kalten Akren, Topiramat bei Adipositas, Amitryptilin bei Nervosität und Schlafstörungen, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei Depressionen, Magnesium bei Verstopfung. Vor der Gabe eines Medikaments sollten aber auf jeden Fall nicht-medikamentöse Massnahmen, z.B. Techniken zur körperorientierten Wahrnehmung, verhaltenstherapeutische Massnahmen oder alternative Verfahren, in Betracht gezogen werden. Zusammenfassung Eine Migräneprophylaxe ist indiziert, wenn Migräne häufig auftritt und die Alltagstätigkeit durch die Migräne stark beeinträchtigt ist. Unter den möglichen Kandidaten zur Prophylaxe empfiehlt sich der Einsatz von Topiramat gerade auch bei übergewichtigen Patienten. Neben der Reduktion der Migränefrequenz wird unter der Einnahme von Topiramat sehr häufig eine Gewichtsabnahme registriert. In einem Praxiserfahrungsbericht aus der Schweiz fand sich im Einklang mit den bekannten Ergebnissen darüber hinaus eine Abnahme der Schmerzintensität und der Dauer der Migräneanfälle um 50%. Häufigste Nebenwirkung war das Auftreten meist geringer bis mässiger Parästhesien. Dr med. Reto Agosti, Zürich E-Mail: reto.agosti @kopfwww.ch Résumé XXXX Wirksamkeit von Topiramat als Migräneprophylaktikum Über die migräneprophylaktische Wirkung von Topiramat wurde erstmals 1999 berichtet [1]. Es folgten erste Studien, in denen Topiramat in einer Dosis von 25–200 mg eingesetzt wurde [2–5]. Danach wurden drei Phase-III-Studien an über 1500 Migränepatienten durchgeführt [6–8], die zeigten, dass Topiramat in einer Dosierung von 50–200 mg pro Tag die monatlichen Migräneattacken um mehr als 50% senken kann (bestes Nutzen-Risiko-Verhältnis bei 2x50 mg/Tag). IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2006; Vol. 4, Nr.6 41 Medizin aktuell Tab. 1: Beschreibung des Kollektivs Anzahl Patienten n=114 Alter (Jahre, MW ± SD) 40 ±14 <30 Jahre 32% 30–65 Jahre 66% ≥65 Jahre 3% Geschlecht M/F 16% / 84% BMI (kg/m2, MW ± SD) 25,1±5,0* <18,5 5% 18,5–24,9 54% 25,0–29,9 24% ≥30 17% Migräne ohne Aura 83% Migräne mit Aura 20% Andere Kopfschmerzen 10% Begleiterkrankungen 50% Vorbehandlung Akut-Therapeutika 90% Prophylaktika 18% *n=113 Abb. 1: Schmerzintensität bei Migräne unter Topiramat (n=114, p<0,001) 54,4 47,4 45,6 25,4 18,4 5,3 0,0 0,0 3,5 0,0 Beginn Keine Schmerzen geringe Letzte Visite mässige starke Schmerzen keine Angaben Die Besserung der Beschwerden geht nicht nur mit einer Reduktion der Migräneattacken um etwa zwei pro Monat einher, sondern auch mit einer Reduktion der Anzahl an Tagen mit Migräne und einer geringeren Einnahme von Akut-Migränemitteln. Darüber hinaus war die krankheitsspezifische Lebensqualität signifikant gebessert [9, 10]. Die Wirksamkeit setzte bereits im ersten Monat der Behandlung ein. Bei etwa der Hälfte der Patienten unter Topiramat kam es in Abhängigkeit von der Dosis zum Auftreten von Parästhesien (meist leicht und stets reversibel), die vermutlich auf der Hemmung der Carboanhydrase beruhen. Durch erhöhte Kaliumzufuhr (z.B. durch Verzehr von Bananen) bessern sich diese Beschwerden oft [11]. Die klinische Erfahrung zeigt, dass bei initial langsamer Steigerung der Dosis Parästhesien seltener auftreten (1. Woche abends 25 mg, 2. Woche morgens und abends 25 mg, 3. Woche morgens 25 und abends 50 mg, 4. Woche morgens und abends 50 mg oder individuell an den Patienten angepasst) [12]. Weitere Nebenwirkungen, die bei ≥5% der Anwender beobachtet wurden, umfassen zentrale und gastrointestinale Nebenwirkungen. Etwa 3% der Patienten tolerierten die unerwünschten Ereignisse (Parästhesien, Müdigkeit, Nausea, Konzentrations- und Schlafstörungen) nicht. Topiramat führt nicht – wie die meisten Migräneprophylaktika (Propranolol [8], trizyklische Antidepressiva [13]) – zur Gewichtszunahme, sondern – abhängig vom Ausgangsgewicht und eingenommener Topiramat-Dosis – zur Gewichtsabnahme [14]: bei Einnahme von 100 mg Topiramat um etwa 2,5 kg (d.h. 3,2% des Körpergewichts, vor allem bei Übergewichtigen). Bei Übergewichtigen ging die Gewichtsabnahme mit einer Blutdrucksenkung und Besserung der Glukosetoleranz einher [15]. Zurzeit wird in einer Studie geprüft, ob eine Prophylaxe über ein Jahr effizienter ist als eine Halbjahresprophylaxe mit Topiramat [16]. Erfahrungen mit Topiramat in der Schweiz Migräne-Häufigkeit (Anzahl Tage /letzte 4 Wochen) Abb. 2: Migränehäufigkeit unter Topiramat 30 (n=106, p<0,001) 25 20 15 12,7 10 4,8 5 0 Beginn 42 letzte Visite Seit 2004 ist Topiramat auch in der Schweiz als Migräneprophylaktikum zugelassen. Im Rahmen eines Praxiserfahrungsberichts haben 38 niedergelassene Ärzte eine Dokumentation über sechs Monate zum routinemässigen Einsatz von Topiramat bei der von Swissmedic zugelassenen Indikation: «Migräneprophylaxe bei Erwachsenen und Jugendlichen über 16 Jahren» durchgeführt. Die Behandlung richtete sich nach den Angaben im Arzneimittel-Kompendium der Schweiz. Die Daten wurden vor Behandlungsbeginn, nach einem, drei und sechs Monaten erhoben. Insgesamt wurden 178 Patienten dokumentiert. Von der Auswertung ausgeschlossen wurden 53 Patienten wegen mangelnder Angaben zum Therapieverlauf, 7 Pa- IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2006; Vol. 4, Nr. 6 Medizin aktuell tienten, weil sie nicht an Migräne litten und 4 Patienten, weil sie kein Topiramat eingenommen hatten. Von den 114 Patienten mit auswertbaren Patientenbögen waren die meisten weiblichen Geschlechts mit der Diagnose Migräne ohne Aura (Tab. 1). 90% der Patienten wurden von einer Akut-Therapie auf Topiramat umgestellt. Die Dosierung von Topiramat wurde vom Arzt dem individuellen Bedarf angepasst und betrug zu Beginn der Dokumentation durchschnittlich 33±21 mg pro Tag (Median 25 mg) und bei der letzten Visite bzw. vor Abbruch der Behandlung 73±39 mg pro Tag (Median 75 mg). 36 (32%) der 114 Patienten beendeten die Dokumentation vorzeitig. Gründe waren: unerwünschtes Ereignis (17%), mangelnde Wirksamkeit (7%), der Patient erschien nicht zur Untersuchung (4%), Beschwerdefreiheit (2%), mangelnde Compliance (2%), andere Gründe (5%). Diese Patienten sind in der Auswertung zur Wirksamkeit mit ihrer letzten Visite enthalten. Unter der Behandlung besserten sich Häufigkeit, Intensität und Dauer der Migräneattacken (Abb. 1 und 2) sowie die Funktionseinschränkung im Tagesablauf (Abb. 3). Zwei Drittel (79 der 114) der Patienten waren Responder (mittlere Reduktion der Migräne um ≥50%). 61% dieser Patienten setzten die Topiramat-Einnahme nach Beendigung der Dokumentation fort. In der Selbsteinschätzung bei der letzten Visite stuften zwei Drittel der Patienten die Wirksamkeit der Behandlung als gut bzw. sehr gut ein und 60% ihre Verträglichkeit als gut bzw. sehr gut. Insgesamt kam es bei 57 der 114 Teilnehmer zum Auftreten von 106 unerwünschten Ereignissen, die in 97 Fällen in möglicher bis gesicherter Relation zu Topiramat eingestuft wurden. Häufigste Nebenwirkung war das Auftreten von meist geringen bis mässigen Parästhesien (24%), gefolgt von Müdigkeit (12%), Schwindel (6%), Nausea, Aggressivität und abdominellen Beschwerden (je 4%) und Depression, Sehstörungen und Gewichtabnahme (je 3%). Zu 105 Patienten lagen Angaben zum Gewicht vor. Im Verlauf der sechsmonatigen Behandlung kam es zu einer mittleren Gewichtsabnahme um 3,5%, entsprechend 2,5 kg. Fazit für die Praxis Abb. 3: Einschränkung im Tagesablauf (n=114, p<0,001) 57,0 27,2 26,3 15,8 0,0 0,9 15,8 14,9 5,3 4,4 0,0 Beginn nie 32,5 selten manchmal Letzte Visite sehr oft immer keine Angaben Dr. med. Reto Agosti Kopfwehzentrum Hirslanden Münchhaldenstrasse 33 8008 Zürich E-Mail: reto.agosti@kopfwww.ch Literatur: 1. Shuaib A, Ahmed F, Muratoglu M, Kochanski P: Topiramate in migraine prophylaxis: a pilot study (abstract) 1999; 19: 379–380. 2. Headache 2001; 41: 968–975. 3. CNS Spectr 2003; 8: 428–432. 4. Cephalalgia 2002; 22: 659–663. 5. Headache 2002; 42: 796–803. 6. Arch Neurol 2004; 61: 490–495. 7. JAMA 2004; 291: 965–973. 8. J Neurol 2004; 251: 943–950. 9 Headache 2005; 45: 1023–1030. 10. Curr Med Res Opin 2006; 22: 1021–1029. 11. Headache 2005; 45(Suppl. 1): S57–65. 12. Headache 2005; 45(Suppl. 1): S66–73. 13. Cephalalgia 2005; 25: 1–11. 14. Int J Clin Pract 2005; 59(8): 961–968. 15. Int J Obes Relat Metab Disord 2004; 28: 1399–1410. 16. Agosti R, Van Oene J, Smout F, Nilsson J, Schwalen S, the PROMPT investigators group: PROlonged migraine prevention with topiramate (PROMPT): first results of the initial 6-month dose optimisation and maintenance open-label phase. 10th Congress of the European Federation of Neurological Societies. Glasgow, UK, September 2–5, 2006. • Topiramat ist eine attraktive Option zur Prophylaxe der Migräne, gerade auch bei Patienten mit Übergewicht. • Unter einer Therapie mit Topiramat nehmen die Migränefrequenz, die Kopfschmerzintensität und die Dauer der Migräne signifikant ab, die Einschränkungen im Tagesablauf bessern sich ebenfalls signifikant. • Häufigstes unerwünschtes Ereignis unter einer Therapie mit Topiramat sind Parästhesien. IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2006; Vol. 4, Nr.6 43