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D I E E R S T E Ö S T E R R E I C H I S C H E B O U L E VA R D Z E I T U N G 2,50 € davon 1,25 € für den_die Verkäufer_in Registrierte Verkäufer_innen tragen sichtbar einen Augustin-Ausweis www.augustin.or.at The Happy Kids Schiefe Töne NUMMER 303 24. 8. 2011 – 6. 9. 2011 W enn mir fad ist, und das kommt jedes Jahrzehnt einmal vor, stöbere ich in Parlamentsprotokollen. Beim Studium der Budgetdebatte im Parlament, 3. Dezember 1980, stieß ich auf den Begriff des Zundgeldes. Das ist das Geld, das die Polizei für heiße Tipps in der Rauschgiftszene braucht. Die ÖVP regte sich mächtig über die Sparpolitik in Angelegenheit des Zundgeldes auf. Hier zum Beispiel die Ausführungen des Nationalratsabgeordneten Lichal: «Seit eineinhalb Jahren hat der Bundesminister versprochen, es wird eine Suchtgifttruppe aufgebaut, es werden Undercovers, verdeckte Fahnder, eingeführt und alles das mehr. Zum so genannten Zundgeld haben Sie auf meine wiederholte Frage erklärt, entsprechende Ansätze sind im Budget vorhanden. Herr Minister, Sie kennen das nicht, ich sage es Ihnen noch einmal, schauen Sie es sich an: Zundgeld. Für einen heißen Tipp in der Rauschgiftszene brauchen Sie Geld, denn sonst bleibt der in der Szene, weil er ja beim Handel mehr verdient, da wird er nicht der Exekutive einen Wink geben, daher muss man dort Geld zur Verfügung haben. Sie haben zwar ein Vorzeigegeld, das man jemandem hinzeigen kann, Sie haben aber kein Geld, auch für einen Tipp zu zahlen, denn wenn für ganz Wien monatlich 2000 Schilling tatsächlich zur Verfügung stehen, dann ist das ein Hohn, dann kann die Öffentlichkeit sich nicht damit zufrieden geben. (Beifall bei der OVP.) Und dass bei Veranstaltungen heute in Wien schon vielfach offenkundig Rauschgift genommen wird, das kann der Gesundheitsstadtrat von Wien bestätigen. Wir haben an einem Benefizkonzert in den Sofiensälen teilgenommen, und es war eindeutig festzustellen, dass ein Teil der Anwesenden, wie es in diesem Jargon heißt, breit waren oder voll waren, und Sie haben dann offen auch so genannte Joints – das sind Haschisch-Zigaretten – angeboten, auch uns selbst angeboten. Und nichts ist passiert!». Ist mir dann immer noch fad, versuche ich, Erkenntnisgewinne aus dem Gelesenen zu ziehen, denn als L’art pour l’art ist mir die Lichal-Rede doch zu «gscheadasiatisch» (Ausdruck unserer «Stimmgewitter Augustin»-Diva Heidi Gross für provinziell). Was also sagt uns diese Ist mir dann immer Rede? Erstens: Die Drogenprohibition noch fad, versuche funktioniert nicht. Ein heutiger Lichal ich, Erkenntnisge- bräuchte das Wort «Joints» nicht mehr zu übersetzen, denn was Hunderttauwinne aus dem Ge- sende rauchen, kann kein Fremdwort lesenen zu ziehen. mehr sein. Ein zukünftiger Lichal wird sich in 30 Jahren ärgern, in der Parlamentskantine dem Duft der illegalen Joints nicht entgehen zu können. Zweitens, und das ist wohl das Interessantere: Im Sinne der wünschenswerten Entkriminalisierung von Marihuana-Gebrauch und Marihuana-Handel wird das Zundgeld obsolet. Der Einsatz von Zundgeld wird aber dort interessant, wo es um lebensbedrohende Kriminalität geht. Dass die Staaten am ersten Höhepunkt der aktuellen Krise den Finanzbossen Zundgeld in Milliardenhöhe gaben, um an Insiderinformationen über die Methoden der Vermögenden heranzukommen, wie sie sich in der Krise bereichern, finde ich vom Ansatz her genial gehandelt, in der Höhe aber maßlos. Oder habe ich den Zweck der staatlichen Milliarden, die an die Banken flossen, nicht richtig kapiert? R. S. Au s d e m I N H A LT Zundgeld, Joints, Sofiensäle … 303 2 editorial | A 10 Chaos auf der MS Schönbrunn. Über ein zu Tode gespartes Kurzurlaubsprojekt. 11 Wachaubahn gerettet? Leider nicht für den Berufs- und Güterverkehr Elf Stiegen im Gemeindebau. So lässt sich der Arbeitsplatz der Hausbetreuerin Suzana Ebert definieren 15 „ “ England: Brennende Probleme 26 Was macht Mankell, wenn er nicht Fälle für Wallander erfindet? Er macht Theater – in Übelbach und in Maputo 28 Musikarbeiter unterwegs. Mit den Happy Kids im Café Neandertal Wohngemeinschaft gesucht. Die Suche wird nicht leichter, wenn man Piefke ist 32 uf Englands Straßen brennt es. Das kommt nicht aus dem Nichts. Um gegenzusteuern gilt es Zusammenhänge zu sehen, Kontext zu begreifen, Gewalt nicht zu entschuldigen. Wenn wir uns drei Indikatoren anschauen: Erstens die Gewaltrate, zweitens die Anzahl der Gefängnisinsassen und drittens das Wohlergehen von Kindern. Und dann diese drei Indikatoren mit der sozialen Ungleichheit verknüpfen, die in unterschiedlichen Ländern besteht, dann bekommen wir als Ergebnis: Wo die soziale Schere auseinandergeht, dort herrscht mehr Gewalt, dort sitzen mehr Menschen im Gefängnis und dort ist die Lebensqualität der Kinder viel schlechter. In den USA wird alle drei Stunden ein Kind mit einer Waffe getötet, in England werden über eine Million Gewaltverbrechen in einem Jahr registriert. Das ist wesentlich höher als in anderen Staaten mit ähnlicher Wirtschaftskraft. Je höher die soziale Ungleichheit in einem Land, desto mehr an Gewalt ist zu verzeichnen. Dasselbe gilt für die Anzahl der Personen, die in Gefängnissen sitzen. Auch hier weist England eine extrem hohe Rate auf. Der Report der UNICEF misst mehrere unterschiedliche Aspekte des Wohlergehens von Kindern: Einkommenssituation, Gesundheitszustand, Bildung, Selbstbestimmung etc. Das Ergebnis: England weist hier ganz schlechte Werte auf. Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern. Der Zusammenhang war in dem Land am stärksten, in dem die höchste Anzahl der Kinder vorlag, die unter weniger als der Hälfte des durchschnittlichen | eingSCHENKt Einkommens im Land lebt. Nicht wie reich wir insgesamt sind, ist hier entscheidend, sondern wie stark die Unterschiede zwischen uns sind. Geht die Schere zwischen Arm und Reich noch mehr auf, heißt das mehr Krankheiten und geringere Lebenserwartung, mehr TeenagerSchwangerschaften, mehr Status-Stress, weniger Vertrauen, mehr Schulabbrecher, vollere Gefängnisse, mehr Gewalt und mehr soziale Ghettos. Denn: Armut ist kein Eigenschafts-, sondern ein Verhältniswort. Es geht immer um relative Ungleichheit, um relative Lebenslagen, um den Vergleich, um Ausschluss, um Kränkung. Armut im Reichtum, Diskriminierung in posaunter Gleichheit, abhängige Herkunft bei versprochener Zukunft. «Cameron bietet uns Grütze und sagt uns dann, sie schmeckt wie Kaviar», schimpft ein Jugendarbeiter aus London. Die Jugendzentren werden geschlossen, die Unterstützung für günstige Wohnungen um 60 Prozent gekürzt, die Schulen verfallen, prekäre Jobs breiten sich aus – und die Regierung nennt das dann ihre «Big Society». Derweil wurden die Gelder in den Finanzdistrikten der Londoner City verspekuliert oder in den Sicherheits- und Kontrollapparat verschoben. So viele Kameras auf öffentlichen Plätzen gibt’s nirgendwo in Europa, dem Gefängnisund Sicherheitsbusiness geht es prächtig. Und Cameron kündigte an, die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter zu bekämpfen, statt die sozialen Probleme im Land. So werden die brennenden Probleme nicht kleiner. Martin Schenk 3 Die Redaktion bittet um Verzeihung. Martin Schenks Rubrik in Ausgabe Nr. 302, in der die Vermögensungleichheit mittels Verwandlung Österreichs in einen Apfelbaumgarten veranschaulicht wird, bricht in der letzten Zeile vorzeitig ab. In ganzer Pracht lautet der Satz: Hier hat einer allein 9 Äpfel. 303 fanpost | Vom Krieg der Banken gegen die kleinen Leute AUGUSTIN erhält keinerlei Subventionen In den Jahren 2001/2002 habe ich bei der Erste Bank einen Kredit von 15.000 Euro für meinen damaligen Lebensgefährten aufgenommen und um mein Girokonto von minus 6.000 auf 0,00 zu bekommen. Damals wusste ich leider nicht, dass mein Lebensgefährte spielsüchtig ist und das Geld verspielt hat. Die Beziehung ist in die Brüche gegangen, und da ich den Kredit selbst (ohne Bürgen) aufgenommen habe, hat sich mein Lebensgefährte auch nicht weiter um die versprochenen Zahlungen gekümmert, da diese auf meinen Namen laufen. Aufgrund von schweren Depressionen und persönlichen Problemen wurde ich sehr krank, danach arbeitslos und infolgedessen zahlungsunfähig. Derzeit bin ich stabil, musste mich wieder in die Gesellschaft integrieren und habe mir eine Beschäftigung gesucht. Dies war psychisch als auch physisch ein sehr schwerer Weg für mich bzw. ist es immer noch. Seit ungefähr 5 Jahren zahle ich regelmäßig meine Schulden ab, doch diese werden nicht weniger. Ich habe eine Bewilligung der Gehaltsexekution erhalten. Dabei habe ich bemerkt, dass sich die Schulden trotz meiner Zahlungen mehr als verdoppelt haben – auf 34.227,21 Euro per 31. 7. 2011. Dabei habe ich einen rekordverdächtigen Zinssatz von täglich 20 Euro (11 % + 16,5 % p.a.). Ich besuchte die Schuldnerberatung. Da die Gläubiger auf meine Briefe (Briefmuster der Schuldnerberatung) nicht reagiert haben, musste ich vor kurzem auf meine Kosten einen Rechtsanwalt einschalten. Dieser meinte sehr zynisch, ich solle mich besser gleich «arbeitslos» melden. Dies wäre besser, da die Bank bei meinem Verdienst (1.450 pro Monat) den gesamten Betrag Museum entbehrlicher Dinge 4 Internet: www.augustin.or.at updating: Angela Traußnig, Claudia Poppe Redaktion: Karl Berger, Gerda Kolb, Mario Lang (lama, DW: 13), Evi Rohrmoser, Reinhold Schachner (reisch, DW: 12), Robert Sommer (R. S., DW: 11), Angela Traußnig (DW: 10) 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 Tel.: (01) 587 87 90 Fax: (01) 587 87 90-30 redaktion@augustin.or.at Vertrieb und soziale Arbeit: Mehmet Emir, Andreas Hennefeld, Sonja Hopfgartner, Riki Parzer 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 Tel.: (01) 54 55 133 Fax: (01) 54 55 133-33 vertrieb@augustin.or.at MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: COVER: Mario Lang. FOTOS: Lisa Bolios, Martina Gasser, Mehmet Emir, Gerda Kolb, Michael Lippitsch, Manfred Weis, Manfred Wieninger. ILLUSTRATIONEN: Karl Berger, Anton Blitzstein, Thomas Kriebaum, Carla Müller, Magdalena Steiner. TEXTE: Marion Draxler, Hubert von Mario Lang Nahm Joyce den Halb-Sechs-Uhr-Zug oder den Halb-Elf-Uhr-Zug? Von den beiden für Joyces Ausreise in Frage kommenden Bahnfahrt-Varianten erklärt die länger dauernde nicht nur den erwähnten Aufenthalt in Innsbruck, sie passt zudem nahtlos in jene plausiblere Chronologie, die den aktuellen Forschungsstand darstellt. Im wahrscheinlichen Fall dass Joyce und seine Familie in Triest am 28. Juni 1915 um 22:30 diesen Zug nach Zürich genommen haben, sind sie laut Fahrplan nach knapp 32 Stunden Bahnfahrt (davon 1:40 Stunden Aufenthalt in Innsbruck) am 30. Juni 1915 um 6:50 in Zürich angekommen, wo sich die Familie im «Gasthaus Hoffnung» einquartiert und Joyce im Lauf des Tages sofort seine Korrespondenz wieder aufgenommen hat. Nachfolgend nochmals die beiden Varianten. Abfahrt Nachmittags (dauert knapp 21 Stunden, nur kurzer Aufenthalt in Innsbruck) Triest ab 17:30 Innsbruck an 7:10, ab 7:20 Feldkirch ab 11:15 Zürich an 14:23 Abfahrt Nachts (dauert knapp 32 Stunden, davon 1:40 Aufenthalt in Innsbruck) Triest ab 22:30 Innsbruck an 18:20, ab 20:00 Feldkirch ab 02:30 Zürich an 6:50 Joyce hat allem Anschein nach die zweite Variante gewählt. Anmerkung der Redaktion: Unser Leser Willy Weis stellte diesen Text, den er auf der Homepage des Wiener James-Joyce-Experten Andreas Weigel fand, in unser «Museum entbehrlicher Dinge». Er hält überhaupt nichts von dieser «unproduktiven und lächerlichen Erbsenzählerei», wie er schreibt. Dagegen protestiert die Augustin-Redaktion. Weigels akribische Suche nach Österreichbezügen im Leben und Werk des Weltliteraten ist Teil des «Gesamtkunstwerks« James Joyce, ebenso wie Magdalena Steiners Ulysses-Comics im Augustin oder die Bloomsday-Feste, die alljährlich überall auf der Welt stattfinden. http://members.aon.at/andreas.weigel Vereinsmeierey Herausgeber und Medieninhaber: Verein Sand & Zeit. Herausgabe und Vertrieb der Straßenzeitung Augustin. Vereinssitz: 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 We l t We i t Wa r t e n Christian Ehalt, Hannes Gaisberger, Marlene Gölz, Gottfried, Dagmar Haier, Wolfgang Katzinger, Rainer Krispel, Jenny Legenstein, Uwe Mauch, Christa Neubauer, Erwin Riess, Mladen Savič, Martin Schenk, Richard Schuberth, Clemens Staudinger, Lieselotte Stiegler, Gabi Stockmann, Jakub Veverka, Manfred Weis, Friedrich Weissensteiner, Manfred Wieninger. LEKTORAT: Richard Schuberth StrawanzerIn: Verantwortlich: Claudia Poppe 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 strawanzerin@augustin.or.at Radio Augustin Verantwortlich: Aurelia Wusch 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 Tel.: (01) 587 87 90-14 radio@augustin.or.at TV Augustin Verantwortlich: Christina Steinle 1050 Wien, Reinprechtsdorfer Straße 31 Tel.: (01) 587 87 90-15 tv@augustin.or.at Inserate: Gerda Kolb Tel.: 0 699 19 42 15 92 inserate@augustin.or.at Druck: Herold Druck- und Verlagsgesellschaft 1032 Wien, Faradaygasse 6 Verlagsort: Wien Information: AUGUSTIN erscheint jeden 2. Mittwoch Auflage dieser Nummer: 30.000 Mitglied des International Network of Street Papers PSK, Blz 60.000, Nr. 92 051 517, Bawag, Blz 14.000, Nr. 05 010 666 211 Almaty, im Jänner 2011: Eiskalt, aber cool. Die ehemalige kasachische Hauptstadt erzeugt im Winter eine ganz besondere Ostalgie. Die Trams sehen aus wie alle zwischen Bratislava und Wladiwostok einfordern würde. Der Rechtsanwalt ist in diesem Metier tätig und kennt daher die Usancen vieler Banken besonders gut. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass ich die gesamten «aus Zinsen und Zinseszinsen» berechneten Schulden wohl oder übel bezahlen werde müssen, da die Banken derzeit besonders aggressiv auf dem Markt auftreten würden. Leider habe ich mich zunächst geschämt, Hilfe anzunehmen bzw. mir selbst einzugestehen, dass ich diese Schulden habe. In meiner Naivität hatte ich wirklich geglaubt, dies alleine und ohne fremde Hilfe zu schaffen. Ich möchte diese Schulden abbezahlen, aber zu fairen Konditionen. Wie kann eine Bank Zinsen von 20,90 Euro täglich für einen Betrag von ca. 35.000 Euro verlangen? Gibt es da keine gesetzliche Obergrenze? Es ist doch für einen normal (Sterblichen) arbeitenden Menschen unmöglich, alleine ca. 600 Euro monatlich an Zinsen und zusätzlich auch noch die Restschulden zurückzubezahlen! Ich bin in einem Alter, in welchem andere Frauen in Beziehungen stehen und Familien planen. Ich kann derzeit weder eine Familie gründen noch eine Altersversicherung abschließen oder in irgendeiner Weise Geld auf die Seite legen. Vernünftigerweise sollte ich mich die soziale Leiter wieder hinunterbewegen und mich am besten heute noch arbeitslos melden und in den Privatkonkurs gehen? Leider gibt es nicht wirklich eine Stelle, die mir weiterhelfen könnte, wenn es um das Thema Banken & Zinsenpolitik handelt. Es kann einfach nicht wahr sein, dass die Banken von staatlicher Seite Zuschüsse, finanziert von den Steuerzahlern, bekommen und dann diese Steuerzahler mit astronomisch hohen Zinsen bekämpfen. Ich wäre froh, wenn ich durch diesen Beitrag andere davor bewahren könnte, einen ähnlichen Fehler zu machen. Katja N., E-Mail Anmerkung der Redaktion: Brecht schreibt in seinem Tagebuch-Roman «Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar» hintersinnig: «In der Politik ist es wie im eigentlichen Geschäftsleben. Kleine Schulden sind keine Empfehlung, große Schulden, das ändert den Aspekt. Ein Mann, der wirklich viel schuldet, genießt Ansehen.» Gutes Leben in der Stadt heißt auch: WCs, wo man sie braucht Sehr geehrte Augustin-Redaktion! Ihr Beitrag zu den Öffnungszeiten der öffentlichen WCs (Nr. 302) ist mir aus der Seele gesprochen. Ich hatte schon oft deshalb sehr unangenehme Erlebnisse und habe mich einmal an die zuständige Stelle mit der Frage «Wie ich meine Blase dazu bringen soll, sich an die WC-Öffnungszeiten zu halten» gewandt. Die Antwort war nicht wirklich befriedigend. Nachstehend mein «literarischer» Kommentar dazu: notdurft bin i mit öffis untawegs und gspia plötzlich an draung und muass gaunz dringend aufs WC daun wird ma aungst und baung es gibt auf jeda u-baun-station zwoa gnua toiletten doch wenn ma’s braucht sans meistns zua, diese bedürfnisstättn die öffnungszeitn san nämlich von neun bis siebzehn uhr des intressiert mei blosn ned, des is gegn ihr natur und wenn ma si erkundigt warum is des klo denn g’schlossn kriagt ma ois auntwuat: klofraun san zu teua – kaum zum fossn und grod die wos so redn die vadienan oft am meistn fia nur an mänätscha kennt ma si hundat klofraun leistn a mau hods leicht der stöt si wenn a muass hinta an bam erledigt schnö und gaunz bequem sei gschäft fost wia daham bei d’fraun is des vü umständlicha und braucht vü mehr zeit und do – i sogs gaunz ehrlich - kriag i echt an penisneid PS: die lösung wär vielleicht dass mia von fleisch, wurst, käs und butter des essn radikal umstön und zwoa auf – trocknfutter Roswitha Miller, 1050 Wien tun & lassen | 303 303 6 | tun & lassen 7 Trauma-Forscherin mit Fokus auf Südosteurooa … irgendwann was Schlimmes passiert Die Politik und die verletzte Seele. Ihr würde ganz viel einfallen, um mehr Gerechtigkeit ins Asylwesen zu bringen, sagt die Psychologin und Trauma-Expertin Dr. Brigitte Lueger-Schuster im AugustinInterview. «Es fragt mich das Innenministerium allerdings nicht!» Sie ist auf dem Weg, sich zu verändern in Richtung einer Schirmherrschaft für nationale Gesellschaften, die sich mit Psychotraumata beschäftigen und will Wissenschaft, Forschung und Praxis verbinden. Ziel ist, dass alle Menschen, die von Psychotraumata betroffen sind, die bestmögliche Behandlung und natürlich auch Zugang dazu bekommen. Denn die Behandlung von Folgen einer Traumatisierung sind anders als das, was man üblicherweise in der Psychotherapie macht. Wir brauchen Forschungsergebnisse z. B. darüber, wie viele Menschen in Europa von welcher Art der Traumatisierung betroffen sind? Dieses Wissen sollte dann umgesetzt werden in Behandlungsrichtlinien. Wie wird Trauma definiert? Trauma bedeutet: Jemandem passiert etwas wirklich Schlimmes, das alles, was man bislang erlebt hat, außer Kraft setzt. Das, was da passiert, ist unvorstellbar, unerwartet und verbindet sich in der Regel mit Todesangst und Hilflosigkeit. Wenn man in so einer Situation ist, kann das schwerwiegende psychische Folgen haben. Die Trennung einer Beziehung etwa ist schlimm, aber kein Trauma. Aber wenn ich in einer Beziehung lebe, in der ich permanent misshandelt werde, kann ich traumatisiert werden. Und natürlich geht es um Krieg, sexuelle Gewalt, Katastrophen, Überfälle, all das kann Traumata auslösen. Die Zielsetzungen von ESTSS sind internationale. Wie stufen Sie Österreich in diesem Verbund ein? Versorgung vorhanden. Die osteuropäischen Länder sind dominiert von einem langen Wirken von alldem, was in der ehemaligen Sowjetunion Thema war. Die fangen jetzt an, sich mit sprechender Therapie (ohne Beigabe von Medikamenten, Anm. d. Red.) zu beschäftigen, Interventionen, die bei uns lange schon bekannt sind. Österreich hat eine ständig wachsende Kenntnis im Bereich der Psychotraumatologie, es gibt insbesondere Flüchtlingshilfeorganisationen, in denen mittlerweile sehr gut ausgebildete Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater tätig sind, das gilt auch für die Kinderhilfeeinrichtungen. In einigen Segmenten ist es wirklich ganz gut. Sie haben im Juni in Wien den Kongress «Psychotraumatologie und Menschenrechte» organisiert. Es fällt auf, dass Sie nicht nur international, sondern auch sehr interdisziplinär arbeiten. Wo sehen Sie Defizite? Vor allem im Bereich der Finanzierung – sowieso im Flüchtlingsbereich, aber auch im Kinderbereich. Es gibt viel zu wenige Kinderpsychotherapieplätze, die auch mit traumatisierten Kindern gut umgehen können. Und ich sehe ein herankommendes Problem mit dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in Heimen und Institutionen im kirchlichen Kontext. Es gibt zu wenig Versorgungsmöglichkeit für die betroffenen Personen, weil die zum Teil schon sehr lange leiden, was ein spezifisches Know-how erfordert. Aber das Thema Trauma ist in Österreich, glaub ich, ganz gut verbreitet. Was möglicherweise noch nicht ausreichend verbreitet ist, ist das Kennen von den wirklich wirksamen Methoden. Da bin ich ganz froh, dass sich der Österreichische Berufsverband für die Psychologen entschieden hat, ein Mitglied in der Europäischen Gesellschaft zu werden. Welche Schwerpunkte wollen Sie als Präsidentin setzen? Meine Vorgängerin aus Holland hat ganz viele Kontakte hergestellt, hat den Schirm vergrößert, und mein Ding wird sein, dass dieser Schirm auch wirklich gut funktioniert. Außerdem hab ich mir vorgenommen, noch ein Stück in Richtung Südosteuropa zu gehen. Ist die Herangehensweise je nach kulturellem Hintergrund eine andere? Ja, aber auch die Frage: Was war in den Ländern bislang an psychosozialer Das war bewusst so gestaltet, auch weil unsere Schwerpunktsetzung Interdisziplinarität erfordert. Die Folgen von Traumatisierung sind interessant für mehrere Disziplinen – die Psychologie, die Medizin, die Psychotherapie, auch für die Juristen, Soziologen und natürlich Künstler und Journalisten. Gibt es neue Aspekte, die Sie aus dem Kongress mitnehmen? „ Was passiert in den Herkunftsländern der Asylsuchenden wirklich? “ Wir haben Kollegen aus Japan eingeladen, die sehr intensiv mit der internationalen Gesellschaft kooperiert haben, die stark amerikanisch geprägt ist. Die haben gesagt, dass ihnen die Vielfalt, die wir in Europa haben, gut tut. Es ist wichtig, kulturspezifische Vielfalt zu berücksichtigen, auf die unterschiedlichen Situationen einzugehen, die Traumata hervorrufen. Für uns Organisatoren war es wichtig, den Leuten nicht nur gute Wissenschaft und Trainings zu bieten, sondern auch den Rahmen, um gut miteinander ins Reden kommen zu können. Das war für mich am beeindruckendsten, diese intensive Diskussion, die stets gelaufen ist, bei den Kaffeepausen, den Abendveranstaltungen. Es hat mir gezeigt, dass es jede Menge Menschen gibt, die sehr gerne in diesem Bereich arbeiten, ohne dabei selbst zu leiden zu beginnen. Das klingt nach Aufbruchstimmung. Foto: Martina Gasser Sie sind frischgebackene Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für Psychotraumatologie (ESTSS). Wie ist das Profil dieser Gesellschaft? Eher Konsolidierung. Der Aufbruch war in den deutschsprachigen Gebieten vor etwa 20 Jahren, als wir mit den Flüchtlingen aus den Balkanländern konfrontiert waren. Da sind die großen Institutionen gegründet worden, die sich explizit mit Folgen von Krieg und Folter beschäftigt haben. Damals sind auch die ersten größeren Forschungen bei uns gemacht worden. In Amerika war der Auslöser für intensive Beschäftigung mit der Psychotraumatologie der Vietnamkrieg. Insofern ist es kein Aufbruch, aber eine breite Bewegung geworden. Ich erinnere mich an einen Traumakongress in den frühen 90ern in Jena mit 80 Leuten. Jetzt waren wir 850! Es wächst ständig und das ist gut. Was mich noch besonders beeindruckt hat, heißt «trauma informed services», d. h. dass alle, die in der psychosozialen Versorgung tätig sind, über Psychotrauma informiert sein sollen. Das ist z. B. wichtig für Ärzte. Die haben damit oft überhaupt nichts zu tun, merken aber trotzdem die Reaktionen, etwa wenn sie eine Frau gynäkologisch untersuchen, die vergewaltigt wurde. Das ist z. B. relevant, wenn Menschen sich bei Untersuchungen ausziehen müssen und für alle, die mit Kindern zu tun haben. Dort überall sollte man ein Stück weit lernen: Aha, da könnte was sein. Und dann die richtige Frage stellen. Und die heißt nicht: Sind sie vergewaltigt worden? – Weil darauf sagen die meisten: Nein! Das ist mit Scham besetzt. Die Frage lautet: Ist ihnen irgendwann mal was Schlimmes passiert? Das Trauma-Informiertsein ist ein wichtiger Punkt. Die neue Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für Psychotraumatologie Wenn das österreichische Innenministerium bei Ihnen um Beratung anfragen würde, gibt es Punkte, die Sie ändern wollten? Was wünschen Sie sich? Im Asylwesen würde ich mir eine sehr viel klarere Regelung wünschen, die es erlaubt, dass Menschen Asyl erhalten. Ich würde mir bessere Recherchen in den Herkunftsländern wünschen damit man weiß, was dort wirklich passiert, und dass diejenigen, die jetzt das Gros der Asylwerber empfangen und anfänglich betreuen, sehr viel besser ausgebildet sind als jetzt, d. h. in Summe ein sehr viel gerechteres www.estss.org Verfahren. Ich würde mir wünschen, dass mit dem Bereich Schubhaft viel sorgfältiger umgegangen wird, ein Bereich in dem Menschen im Moment viel Schlimmes angetan wird; dass man insgesamt mit Menschen, die leiden, einfach sach- und fachgerechter umgeht, da kann man vieles vermitteln was z. B. Gefängnis betrifft, Anhaltungen, Verhaftungen, Obdachlosigkeit. Auf die Art und Weise, wie die Polizei mit Obdachlosen umgeht, hat ja auch das Innenministerium indirekt Einfluss. Da gibt es eine ganze Reihe Menschen, die schwerst traumatisiert sind. Ich glaube, man könnte dem Ministerium einfach viel Faktenwissen vermitteln bis hin zu Überlegungen wie: Wie werden bei Prozessen Zeugen geschützt, Einvernahmen geführt, warum glaubt man einem Opfer weniger als einem Täter, also forensische Fachfragen. Ich würde mir auch wünschen, dass die Gutachter, die in Prozessen zu Rate gezogen werden, zum Teil besser ausgebildet sind. Also mir würde ganz viel einfallen. Es fragt mich das Innenministerium allerdings nicht. Interview: Marlene Gölz tun & lassen | No 20 Raiffeisen steht dazu: Aufsichtsrat ist Männerrunde Nur ein Null vor dem Komma Liebe Leserinnen, heute gibt es schlechte Nachrichten, sollten Sie einen Job in einer Vorstandsetage bei Raiffeisen anstreben: Sie sollten konservativ und vor allem ein Mann sein. EINE SERIE VON LUTZ HOLZINGER & CLEMENS STAUDINGER Vermutlich hatten Frauen der Eisenzeit mehr zu sagen als die der Raiffeisenzeit Foto: Mario Lang D ie Raiffeisengruppe mit ihren zahlreichen Gesellschaften in Österreich und rund um den Globus hat viele Vorstandsmandate zu vergeben. Werden die Inhaber_innen dieser Führungspositionen betrachtet, fällt auf, dass der Augustin hier auf seine sprachliche Innovation, den so genannten Gender Gap, eigentlich verzichten könnte. Fast alle der Menschen in Raiffeisen-TopPositionen sind männlich. Es gibt auch Frauen bei Raiffeisen: Reinigungspersonal, Sekretariatskräfte, Mitarbeiterinnen mit hohen Qualifikationen, aber niedrigen Löhnen. Erreicht eine Frau bei Raiffeisen eine Führungsposition auf Vorstandsebene, so ist eines fällig: die Erklärung, dass es schon seine Richtigkeit mit der fast ausschließlich männlichen Kollegenschaft habe. O-Ton Michaela Keplinger-Mitterlehner, Vorstandsdirektorin der Raiffeisen Landesbank Oberösterreich: «Ich fühle mich in meinem Umfeld ausgesprochen wohl und würde dies nicht als rau bezeichnen. Ganz im Gegenteil, ich wurde schon oft von der positiven Wertschätzung, die mir entgegengebracht wurde, überrascht. Dass man dafür hart arbeiten und auf manches verzichten muss, ist logisch.» Klassisch auch Frau Keplinger-Mitterlehners Position zum Thema Quoten: «Davon halte ich eher wenig. Man sollte die berufliche Entwicklung von Frauen nicht auf ein Quotenargument reduzieren, sondern Rahmenbedingungen schaffen, die möglichst viele Frauen motivieren und unterstützen. Statt einer Quotendiskussion sollten wir eine Wertediskussion führen, denn jede Arbeit von Frauen verdient eine hohe Wertschätzung, egal, ob im Beruf, in der Familie oder im Haushalt.» Das mit der «Wertschätzung» ist gut, aber offensichtlich nicht so gut, dass «Es muss doch um Leistung gehen» W erden in den Raiffeisen-Männerrunden Gender-Fragen angeschnitten (was vermutlich selten vorkommt), so kann man darauf wetten, dass zumindest zwei Argumente gegen gesetzlich verankerte Frauenquoten in den Führungsetagen fallen werden. Argument Nr 1: «Es muss doch um Leistung gehen, und nicht ums Geschlecht.» Leider widerspricht gerade dieser hehre Grundsatz einer Beibehaltung des Status quo. Frauen sind längst besser ausgebildet als Männer. Es gibt in vielen europäischen Ländern mehr weibliche als männliche Hochschulabsolvent_innen, und ihre Abschlüsse sind im Schnitt besser als die ihrer männlichen Kommilitonen. Was Leistung angeht, sind Frauen also schon früh in der Mehrheit. All das ist längst bekannt, geändert hat sich nichts. Dass es um Leistung gehen müsse und nicht ums Geschlecht, ist also ein Argument für und nicht gegen die Frauenquote. Argument Nr. 2 gegen die Quote lautet: Dass Frauen keine Karriere machen, liege in der Natur der Sache: Weil die Familienphase weibliche Berufstätigkeit nun einmal unterbreche. Das setzt aber voraus, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein reines Frauenthema bleibt, gerade so, als pflanzten Frauen sich ohne ihre Männer fort. Die werden bekanntlich nie gefragt, wie sie Kind und Karriere unter einen Hut bringen. Das ist ungerecht, könnte aber geändert werden. Indem die Arbeitgeber Frauen von Anfang an gerecht entlohnen und ihre Unternehmen familienfreundlich führen. In der Ablehnung einer gesetzlich verankerten Frauenquote und der Konstatierung einer weiblichen Mitschuld an den Gehaltsunterschieden zwischen den Geschlechtern können sich Altherrenrunden (aber auch konservative Politikerinnen) an die von Qualitätsmedien gehypte Romanautorin Bascha Mika berufen. Diese konstatiert in ihrem Bestseller «Die Feigheit der Frauen» einen Mangel an Durchsetzungswillen bei jungen Frauen, die Errungenschaften der Emanzipation zu nutzen und auszubauen. Spitzenpositionen mit Frauen besetzt werden. Aufsichtsratsmandate sind in der österreichischen Wirtschaftswelt auch eine Sache von Prestige und gern gezeigter Macht. Je mehr, desto besser. Ein Blick auf die Aufsichtsräte der wichtigsten Raiffeisen Kapitalgesellschaften beantwortet die Frage, wie in diesen Gremien der Frauenanteil dem des wirklichen Lebens entspricht. Beispiel RZB. Das Unternehmen hat elf Aufsichtsratsmandate (ohne die vom Betriebsrat entsandten Mitglieder des Aufsichtsrates), und – richtig geraten – alle elf sind stolz auf ihre Männlichkeit. Der Vollständigkeit halber, auch der dreiköpfige Vorstand ist ausschließlich männlich besetzt. Oder die Raiffeisenlandesbank Wien –NÖ: Zwölf Aufsichtsratsmandate, davon zwei mit Frauen besetzt! (Was ist da los?!) Der fünfköpfige Vorstand ist jedoch eine reine Männergesellschaft. Auch im Westen wird Wert auf genaue Geschlechtertrennung gelegt: Männer sind die Chefs. Ein dreiköpfiger männlicher Vorstand leitet die Geschicke der RLB-Tirol, elf Mandate des Aufsichtsrats (von Unternehmensseite) sind männlich besetzt, zwei Mitarbeiterinnen wurden vom Betriebsrat in das Gremium entsandt. Die drei dargestellten Raiffeisengesellschaften sind exemplarisch für die gesamte Gruppe. Die Männerdominanz bei Raiffeisen ist stärker ausgeprägt als beim Rest der österreichischen Wirtschaft. Die AK begutachtete im Jahr 2010 die Führungspositionen in Österreichs Top 200 – Firmen: 4,4 Prozent der Geschäftsführer-Positionen waren weiblich besetzt. Nicht dass dieser bescheidene Wert auch bei Raiffeisen anzustreben wäre, aber dort liegt er noch weit darunter. Detto bei den Aufsichtsratsmandaten. Von Kapitalvertreterseite sind in Österreich im Durchschnitt 7,5 Prozent der Mandate mit Frauen besetzt, bei Raiffeisen sorgt man dafür, dass eine Null vor dem Komma steht. CS 303 303 8 | tun & lassen 9 Kleines Lexikon der Wut-Welt Die Empörten. Jedes Einzelne der Themen, die hier so geordnet sind, dass Enzyklopädist_innen die Grausbirn aufsteigen, hätte mindestens so viel Platz verdient, wie die Boulevardmedien dem letzten Weg Otto Habsburgs eingeräumt haben. Wir ärgern uns nicht darüber: Das Zurückhalten solcher Informationen, wie sie hier ziemlich willkürlich aufgelistet sind, ist eine Aufgabe dieser Medien. G Gewerkschaftsgründungsboom in Ägypten «Die Revolution ist uns gestohlen worden», auf diese fatalistische Einschätzung trifft man heute oft am Kairoer TahrirPlatz. Jene Teile der ökonomischen Oberschicht, die ihren Arbeitern im Januar noch Busse finanzierten, um sich an den Demonstrationen in Kairo beteiligen zu können, weil der von der Korruption profitierende Kreis um Mubarak selbst für sie zu klein geworden war, sind dieselben Kräfte, die jetzt die andauernden Streiks, Arbeitskämpfe und Demonstrationen als selbstsüchtiges und schädigendes Verhalten für Ägypten denunzieren. Das ist die schlechte Nachricht aus Ägypten. Die gute: Kein Tag vergeht ohne Streiks. Mittlerweile haben sich 20 unabhängige Gewerkschaften neu gegründet, wobei fast wöchentlich neue hinzukommen. Die mitgliederstärksten unter ihnen sind die der Grundsteuereintreiber mit ca. 40.000 und des öffentlichen Verkehrs mit ca. 10.000 Kolleg_innen. Auf Initiative der Gewerkschaften der Grundsteuereintreiber, der Arbeiter_innen im Gesundheitsbereich und erstaunlicherweise der Rentner_innengewerkschaft soll jetzt ein Dachverband der unabhängigen Gewerkschaften gegründet werden. Obwohl viele Parteien und politische Organisationen die neuen Gewerkschaften umwerben, gibt es unter den Arbeiter_innen ein starkes Abgrenzungs- und Unabhängigkeitsbedürfnis. Sie wollen nicht an eine Partei gebunden sein oder von ihr vereinnahmt werden; dies gilt allerdings auch für ausländische Geldgeber – eine Skepsis, die generell in Ägypten sehr ausgeprägt ist. Quelle: Express I Comeback des Gandhiismus in Indien Auch Indien hat seine neue Volksbewegung. Millionen gingen auf de Straße, seit der 74-jährige Anti-Korruptions-Aktivist Anna Hazare verhaftet worden ist. Die Bewegung wird als eine Art Comeback des Gandhiismus gedeutet. Hazare ist stark beeinflusst von Mahatma Gandhis Konzept des passiven Widerstands. Seine Verhaftung passierte, als er einen Hungerstreik «fast until death» in einem Park der Hauptstadt New Delhi starten wollte. Die Hauptforderung seiner Bewegung «Indien gegen Korruption»: die Einrichtung einer von der Regierung unabhängigen Anti-Korruptions-Volksanwaltschaft. Hazare war früher hoher Offizier der indischen Armee und änderte nach einer Nahtod-Erfahrung radikal seine Lebenskonzeption. Sein Erfolg gibt indischen Polito- und Soziologen Rätsel auf: Tausende soziale NGOs sind in Indien aktiv – warum gerade er den Durchbruch erzielte und vor allem in der indischen Mittelkasse zu einer Integrationsfigur wurde, was ebenfalls an Gandhi erinnert (Hazare wird von Rikschafahrern genauso unterstützt wie von Software-Entwickler_ innen), ist Hauptthema der politischen Diskussionen. Gerade der Versuch der von der sozialdemokratischen Congress Party geführten Regierung, den «Gandhi von heute» zu diffamieren, füllte die Straßen. Ein Sprecher dieser Partei erklärte in einem TV-Interview, Anna Hazare sei von einer ekelerregenden Mischung aus «Faschisten, Maoisten und Anarchisten» umgeben. Tatsächlich ist die Situation für die derzeit herrschende politische Elite gefährlich wie nie. Eine der am häufigsten gerufenen Parolen bei den Demos ist «Es lebe die Revolution!» Santi Bhushan, ehemaliges Regierungsmitglied, inzwischen übergelaufen zur Hazare-Bewegung: «Zum ersten Mal fühlen die Leute in Indien, dass die Zeit ihrer Ohnmacht zu Ende geht. Sie fühlen, dass die Zeit gekommen ist, um das Sklaventum zu beenden.» Quelle: http://roarmag.org L Die Linke hat Recht, sagt der Rechte „ Tatsächlich ist die Situation für die derzeit herrschende politische Elite gefährlich wie nie “ Charles Moore ist Konservativer bis in die Knochen. Er war 20 Jahre lang Chefredakteur konservativer Zeitungen, zuletzt des «Telegraph». Er konvertierte zum Katholizismus, ist ein beliebter Gast des Papstes und der offizielle Biograf von Margret Thatcher. Vor kurzem schrieb Moore eine Kolumne, die sein ganzes Leben in Frage stellt. Ihr Titel lautet: «Ich fange an zu denken, dass die Linke vielleicht doch Recht hat.» Moore schreibt: «Ich habe mehr als 30 Jahre gebraucht, um mir diese Frage zu stellen. Aber heute muss ich es tun: Hat die Linke doch Recht?» Und fährt fort: «Die Reichen werden reicher, aber die Löhne sinken. Die Freiheit, die dadurch entsteht, ist allein ihre Freiheit. Fast alle arbeiten heute härter, leben unsicherer, damit wenige im Reichtum schwimmen. Die Demokratie, die den Leuten dienen sollte, füllt die Taschen von Bankern, Zeitungsbaronen und anderen Milliardären.» Dann blendet Moore zurück zu seinen Anfängen als politischer Journalist. Damals, in den 80er-Jahren, entfesselte Thatcher die Finanzmärkte und zerschlug die Gewerkschaften. Moore unterstützte beides. Nun schreibt er: «Die Kreditkrise hat gezeigt, wie diese Freiheit gekidnappt wird. Die Banken sind ein Spielfeld für Abenteurer, die reich werden, auch wenn sie Milliarden verfeuern. Die Rolle aller anderen ist, ihre Rechnung zu zahlen.» Pointe zum Schuss: Dieser Text ist wortwörtlich dem gut-bürgerlichen Züricher «Tages-Anzeiger» entnommen. Beides – die späte Einsicht des Thatcheristen und der linke Seitensprung der rechten Schweizer Zeitung – könnte als Vorzeichen einer Unsicherheit im neoliberalen Lager gedeutet werden. Wasser auf die Mühlen jener Theoretiker_innen, die betonen, dass wirkliche Revolutionen das Herausbrechen von Teilen der Elite zur Voraussetzung haben. z 303 10 tun & lassen | | tun & lassen 11 Zwischen Krems und Spitz: vom Zum-Tode-Sparen eines touristischen Highlights Chaos auf der MS Schönbrunn Sparen ist immer falsch. Die Rede von der Notwendigkeit eines Sparkurses ist immer zu hinterfra- gen. In der großen Ökonomie bedeuten die Sparkurse, zu denen die Regierungen von der Finanzelite gezwungen werden, nichts als eine Umverteilung von unten nach oben. Es stimmt, der Grad der öffentlichen Verschuldung ist schlimm. Aber er entspricht dem Vermögen der privaten Wirtschaftsakteure, das zum Teil rasanter steigt als die Staatsschulden. In der kleinen Ökonomie können die an sich schönsten Projekte zu Tode gespart werden. Noch rechtzeitig vor Sommer-Ende ein Bericht über einen total verpatzten Sommer-Ausflug. E s sollte ein touristisches Highlight werden: die Sonnwendfahrt am 18. Juni auf dem historischen Donauschiff MS Schönbrunn. Versprochen wurde ein vierstündiger Schiffsausflug zwischen Krems und Spitz, in der schönsten Gegend der Wachau. Doch dann kam alles anders. «Die Eintrittskarte mit Sektempfang kostete 75 Euro», erzählt ein Teilnehmer. «Und dazu wurde uns noch extra zu bezahlendes Essen à la carte offeriert.» Von den Schiffsgästen nutzten fast alle dieses Angebot, denn das Wetter machte den Ausflüglern einen Strich durch die Rechnung. Es regnete in Strömen. Die Gäste wurden schon eine halbe Stunde vor der Zeit aufs Schiff gelassen und stürmten das Restaurant. Von gepflegtem historischem Schifffahrts-Flair war bald nichts mehr zu merken. Denn es dauerte nicht lange, da brach das Chaos aus. «Wir mussten zwei Stunden auf unser Essen warten. Und dann endlich entsprach es nicht den Erwartungen und wurde noch dazu von völlig unprofessionellem Personal, ich würde sagen, von verkleideten Kellnern serviert. Die Stimmung auf dem Schiff war sehr, sehr aufgeladen», klagt ein Gast. Mit dem Catering war von der Schifffahrtsgesellschaft OEGEG (Österreichische Gesellschaft für Eisenbahngeschichte) der Linzer Gastronom Peter Moser beauftragt worden. Er wusste, dass er rund 400 Gäste zu bekochen haben würde. «Schon allein die Idee, à la carte anzubieten, ist eine Chuzpe. Die historische Schiffsküche ist gerade mal 40 Quadratmeter groß, da hätten wir pro Essen eine Minute zum Kochen Zeit.» Dennoch ließ sich der Gastronom auf das Wagnis ein. Und bestellte zusätzlich zu seinem eigenen Personal noch bei der Leasingfirma Manpower Fachpersonal fürs Service. «Bekommen habe ich aber völlig Ahnungslose, und es war nicht mal Zeit, diese einzuschulen, weil ja wegen dem Schlechtwetter die Gäste schon früher an Bord kamen.» Und so kam es, dass die (verspäteten) Speisen durchs Restaurant irrten und auf irgendwelchen Tischen von Gästen mit knurrendem Magen landeten, die schon mit allem Essbarem zufrieden waren. «Eine Stunde pro geleastem Fachpersonal kostet mich 25 Euro plus zusätzliche Spesen – in Summe also ca. 35 Euro. Ich bin nicht bereit, das zu bezahlen. Schließlich hatte ich auch Umsatzentgang», sagt der Gastronom. Moser hatte fünf Leiharbeiter bestellt. Die Firma Manpower weist alle Vorwürfe von sich. Geschäftsführer Erich Pichorner sagt: «Es wurde Personal ohne Inkasso fürs Service geordert – und das hat Moser bekommen. Der Stundensatz für Fachpersonal ist 20 Euro plus ... das hat die altehrwürdige Dampfende nicht verdient! Mehrwertsteuer. Das Personal bekommt davon kollektivvertragliche 10 Euro pro Stunde. Glauben Sie aber nicht, dass den Rest Manpower verdient. Wir müssen ja schließlich auch die Sozial- und Sonderzahlungen leisten. Pro Leiharbeiter bleiben uns 10 bis 20 Prozent.» Man werde sich mit dem Gastronomen aber einigen. Für ihn sei das Schlechtwetter die Ursache des Chaos gewesen. Am Ende steht die Frage: Genügt ein bißchen Regenwetter, um ein touristisches Konzept dermaßen zum Scheitern zu bringen? Am Ende halfen nämlich auch schon die Schiffsmatrosen als Kellner aus. «Unglaublich, was alle geleistet haben», sagt Klaus Hoffmann von der OEGEG. Ihm ist jedenfalls wichtig, dass möglichst viele Gäste aufs Schiff kommen. Ein halbes Dutzend Ausflugsfahrten bietet die OEGEG in der Saison an. Das Schiff fasst 600 Personen. Hoffmann abschließend: «Wir müssen das Schiff auslasten, sonst rechnet sich der Betrieb nicht.» Der Gastronom habe ihm versprochen, dass so etwas nicht mehr passiert. Fazit: Offensichtlich sind auch die edelsten touristischen Angebote so haarscharf kalkuliert, dass schon eine kleine Unwägbarkeit wie Schlechtwetter (nicht gerade eine Seltenheit in österreichischen Sommern) nicht mehr bewältigt werden kann. Aber Hauptsache, die Werbung lockt möglichst viele Menschen (in dem Fall) aufs Schiff ... Gabi Stockmann Aus dem Beschwerdebrief Name und Adresse der Beschwerdeführer sind der Redaktion bekannt. … Nach 2 Stunden und 15 Minuten erhielten schließlich auch wir (die letzten der fünf Gäste an unserem Tisch) die bestellten Zanderfilets. Unsere Getränkewünsche holten wir selbst von der Bar. Die Kaffeezubereitung erfolgte von einem Mann (optisch als Kellner verkleidet), der noch nie eine Kaffeemaschine bedient hatte. Am Ende der Fahrt war es auch schwierig, die korrekte Rechnung zu erhalten. Fazit: Es freut uns, die Auswirkungen von «Todsparen» zu sehen. Es bleibt die Hoffnung, dass irgendwann auch Landesfürst Erwin Pröll so einen Ausflug mitmacht: Dann müssen Medien auch darüber berichten. Wachaubahn nur noch für den Tourismus? Placebo Bus mit Nebenwirkungen Nach Spitz im Zug & andere Träume Es ist früher Juli-Nachmittag, als ich am Bahnhof Weißenkirchen stehe. Gähnende Leere. Seit dem 12. Dezember 2010 ist der Regelverkehr der Wachaubahn eingestellt. Weil er schon zu Lebzeiten an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung vorbeigegangen war, rief der Riss der Verbindung keinen Aufstand hervor. D as neue Verkehrskonzept hat die Bahn zu einer Tourismusattraktion degradiert und Busse als Ersatz für einen Regelverkehr der Bahn in der Wachau eingeführt. Die Wachaubahn in ihrer jetzigen Form verkehrt also nur noch an 60 Tagen im Jahr und das an Samstag, Sonn- und Feiertagen dreimal täglich auf einem 34 Kilometer langen Teilstück zwischen Krems und Emmersdorf. Ich treffe Marko Spegel-Grünberger, den Begründer der privaten Initiative Wachaubahn 2.0. Er lebt in Spitz an der Donau und pendelt je nach Arbeitssituation von dort zu seinem jeweiligen Einsatzort, auch nach Wien. Seine Initiative versteht er nicht als Protest. Es sei allerdings unbestritten, meint er, dass eine gut funktionierende und verlässliche öffentliche Verkehrsanbindung für die positive demografische und wirtschaftliche Entwicklung eines Ortes oder einer ganzen Region sehr entscheidend sei. Bereits ein Ort wie Spitz an der Donau hatte 2010 mehr Sterbefälle als Geburten zu verzeichnen. Ist also bereits die Wachau als Lebensraum für den Menschen zu unattraktiv und verkommt das UNESCOWeltkulturerbe Wachau zu einem österreichischen Disneyland? Alles für den Tourismus und nichts für Menschen, die dort leben möchten, auch wenn sie Berufe haben, die nicht unmittelbar für den Tourismus entscheidend sind? Kurzum, auch in der Wachau wird der Individualverkehr mit all seinen Nachteilen gefördert. Beispielsweise durch die Einführung von Bussen als Ersatz für schienengebundene Fahrzeuge, betont der Verkehrsclub Österreich. Denn rund 60 Prozent der ehemals bahnfahrenden Personen steigen bei Einstellung der Verbindung nicht auf den Bus, sondern auf das Auto um. Wenn es denn also noch eine junge Familie zu einem festen Wohnsitz in die Wachau zieht, kann es sein, dass sie sich gezwungen sieht, sich zumindest ein, Fortsetzung auf Seite 12 13 303 tun & lassen | 303 12 Fortsetzung von Seite 11 wenn nicht zwei Kraftfahrzeuge anzuschaffen. Und das nicht nur mit allen ökologisch relevanten Folgen, sondern mit den Nachteilen für das private Haushaltsbudget. Von diesem werden im Schnitt etwa 17,2 Prozent für den Verkehr ausgegeben – nur 0,5 Prozent davon für öffentliche Verkehrsmittel. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht die zahlreichen Ausführungen von Wissenschaftler_innen zitieren. Ihre Unabhängigkeit vorausgesetzt, kommen sie zum Schluss: Straßenbau ist wie ein Krebsgeschwür. Alles beginnt mit einer einzigen Zelle und wuchert unkontrollierbar bis zur Zerstörung des «Wirtes». Die Strecke der Wachaubahn ist schon vor Jahrzehnten ingenieurstechnisch derart optimal errichtet worden, dass ein Nichtbetrieb einer Fahrlässigkeit gleichkommt. Ach ja, und sie ist ja auch integraler Bestandteil des Weltkulturerbes Wachau. Kein Zweifel, der Tourismus ist ein entscheidender Wirtschaftfaktor für Österreich, aber wer hat verboten, über diese Grenzen hinweg zu denken und zu planen? Die Straße durch die Wachau ist schon heute an vielen Tagen überlastet – und wurde zum Glück vor einigen Jahren nicht ausgebaut, wie so viele andere Straßen Niederösterreichs. Jetzt gibt es also einen Regelbetrieb mit Bussen anstelle des Bahn-Alltags- und Berufsverkehrs. Eine Busverbindung ist ein Bahn-Placebo. Den Komfort und die Attraktivität eines Zuges kann ein Bus nicht bieten. Pünktlichkeit, die Möglichkeit während der Reise zu arbeiten, genügend Stellraum für Kinderwägen und Rollstühle – das alles kann der Bus nicht bieten. Die Erhaltung und Modernisierung der Bahn kostet zu viel Geld? Wenig im Vergleich zu Straßenbau und Straßenerhaltung! Dass die Kostendebatte nicht realistisch geführt wird, ist evident. Marko Spegel-Grünberger legt zum Beispiel sehr interessante Visionen und rechnerische Varianten auf den Tisch – ob seine «zivile» Kompetenz von den Entscheidungsmächtigen je so respektiert wird, dass man ihn einlädt, die verkehrspolitische Zukunft der Region Wachau mitzugestalten? Es ist Samstagnachmittag. Ich sitze direkt an den Gleisen der Wachaubahn und warte auf den vorbeifahrenden Zug, der zurzeit aufgrund von Steinschlaggefahr überhaupt nur bis Dürnstein fährt, und das bloß an Samstagen, Sonn- und Feiertagen. Und frage mich, ob es hier jemals wieder zu einer vernünftigen Lösung kommen wird. Text und Fotos: Manfred Weis „ Manfred Weis dokumentiert das einzigartige Flair einer Regionalbahnlinie, die schon auf der Abschussliste stand. Foto auf Seite 11 unten: Marko Spegel-Grünberger, Gründer der Initiative «WachauBahn 2.0» Die Erhaltung und Modernisierung der Bahn kostet zu viel Geld? Wenig im Vergleich zu Straßenbau und Straßenerhaltung! “ tun & lassen | 300 303 14 | lokalmatadorin No 254 Vajt und brajt – T-Širts mit fil Viner Şme, die niht baj yedem auf Ferštendnis trefen 15 Dada und Didaktik Die Politik fordert Integration lautstark als Bringschuld der Zuwander_ innen. Goran Novaković verspottet diese Vorstellung durch eine witzige Mode-Ak- F ür Weltoffenheit und Respekt braucht man nicht viele Sprachen können. Zunächst reicht es, fremde Eigennamen möglichst richtig auszusprechen. Der Ehrgeiz, das zu tun, findet sich dort, wo man es vermutlich am wenigsten erwartet: im deutschsprachigen Raum. Man könnte auch hier nachbohren: romantischer Exotismus, pingeliges Strebertum, Schnorren um internationale Anerkennung? Wie dem auch sei – unsympathisch ist es auf keinen Fall. Doch auch der Sprachkosmopolitismus Deutschsprachiger kennt klare Hierarchien. Herrscht zur Aussprache englischer, französischer, spanischer und italienischer Wörter eine beachtliche Allgemeinbildung vor, schert man sich um die Idiome der türkischen und ex-jugoslawischen Mitbürger_innen nicht viel. Lediglich in Österreich gibt es dank der polykulturellen Vergangenheit eingeschliffene Gewohnheiten. Die jedoch selten auf die polykulturelle Gegenwart abfärben. Österreicher_innen wissen zumindest, dass der letzte Konsonant im Namen des Fußballers Christian Keglevic etwa nicht als c ausgesprochen wird. Jener Assimilierungszwang, welcher aus Resetarić einen Resetarits machte, wäre somit gar nicht notwendig gewesen. Und mit der phonetischen Umschreibung eines Ćirić in einen Tschiritsch blieb zumindest der Ursprung des Namens erhalten. Kommen neue Sonderzeichen hinzu, stellt man sich stur. Die bekannte Sängerin Esma Redžepova wird beharrlich als Redzepova ausgesprochen. Geht es aber ums Fressen, zeigen sich Österreicher_innen erstaunlich polyglott, denn der Appetit ist ein guter Sprachlehrer. Keiner von ihnen käme auf die Idee, die geliebten ćevapčići als Tsewaptsitsi zu bestellen, und sehr schnell sprach sich in den 70er Jahren herum, dass die Nudeln, die im Italienurlaub so schmeckten, nicht Pasta asszi-utta hießen, ehe man lernte, sie als Spagetti Bolonjese zu identifizieren. Der beliebten Phrase, dass «Integration keine Einbahnstraße» sei, gibt der serbischstämmige Dichter, Satiriker, Germanist und Sprachlehrer Goran Novaković eine neue, pikante Bedeutung. Mit seiner Aktion Vajt und brajt verbreitet er TShirts bzw. Tišrts/Tişrts unter der Bevölkerung, von welchen deutsche Begriffe in serbokroatischer und türkischer Lautschrift prangen. Auf Wiener Torsos unterschiedlicher Herkunft kann man neuerdings also šöne/şöne Wörter wie šön/ şön, feš/feş, ferštendnisfol/ferştendnisfol und ojforiš/oyforiş lesen. Da Novaković aber für seinen satirischen Schalk bekannt ist, war klar, dass die Kampagne nicht ohne Lajberl/Layberl mit ales vuršt/ ales vurşt, integracionvilig/integrasionsvilig und bite hohdojč/bite hohdoyç auskommen würde. Foto: Mani Hausler tion. Mit großem Erfolg. Doch mehr noch webt er pädagogische und poetische Absichten in seine T-Shirts hinein. Schön und keusch – wie das zusammengeht? – Goran Novaković zwingt mit seinen T-Shirts zum GenauHinschauen Kunst, Didaktik und Provokation Di Akcion/Akzion šlug/şlug jedenfals/ yedenfals ajn/ayn vi ajne/ayne Bombe! Für den Künstler und Volksbildner Novaković eine große Frojde/Froyde, aber auch viel ungeahnte Arbajt/Arbayt. Er kommt gar nicht mehr mit dem Drucken und Verschicken nach. Selbst aus der Švajc/Şvayc und aus Dojtčland/Doyçland langen inzwischen Bestellungen bei ihm ein. Kein Wunder, verwebt seine T-Shirt-Aktion doch auf brillante Weise Kunst, Didaktik und Provokation. Doch nicht nur ojforiš/oyforiş fielen die Reaktionen aus. Dankenswerterweise multiplizierten «Kronen Zeitung» und Wiener FPÖ die Publicity der anarchischen T-Shirts. Der FPÖ-Abgeordnete mit dem urdojčen/urdoyçen Namen Johann Baptist Björn Gudenus (der Sohn des John Gudenus) wetterte: «So kann’s nicht weitergehen. Das bringt keine Integration. Das ist nur ein weiterer Kniefall vor den Zuwanderern. (...) Diese Verhunzung unserer Sprache passt nur in die Gutmenschen-Romantik.» Wer http://vajtundbrajt.com/ Novaković kennt, weiß um seine geradezu besessene Liebe zu dieser Sprache und auch, dass er den gesamten FPÖ-Klub jederzeit in ebendieser an die Wand reden und schreiben könnte. Mit den T-Shirts verfolgt er neben satirischen aber durchaus didaktische Ziele: Österreicher deutscher Muttersprache würden durch die ungewohnte Schreibweise geläufiger Wörter für Sonderzeichen und richtige Aussprache des Türkischen und Serbokroatischen sensibilisiert, Menschen türkischer und ex-jugoslawischer Herkunft würde die Aussprache deutscher Wörter erleichtert. Und schließlich der subversive Gehalt der Aktion: Vajt und brajt stiftet produktive Verwirrung des Selbstverständlichen, indem es eine Selbstverständlichkeit einfordert: der kulturellen Vermischtheit unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen. Dabei waren die T-Shirts nur der Anfang. Goran Novaković arbeitet bereits an Publikationen, mit denen der an die österreichische Tradition der experimentellen Lautdichtung anknüpft und diese per türkischer/serbokroatischer Lautsprache mit neuen Klang- und Schriftfarben bereichert. Dada plus Didaktik. Die poetische Vision seines, wie er es nennt, deutsch-türkischen Tangos und deutsch-jugoslawischen Salsas: «das Türk_ innen oder Ex-Jugoslaw_innen mit wenig Ausbildung tadellos Goethe, Schiller, Kafka lesen können. Und dass ein Österreicher unsere oder türkische Dichter im Original vortragen kann.» Den «Drang nach fremden Klang» nennt er das. Die gesamte Programmatik dieser Aktion gibt es eingängig und wortgewaltig auf der Website http:// vajtundbrajt.com/. Natürlich kann man dort auch T-Shirts bestellen. Fürva:r! Integracion/Integrasion ist kajne/kayne Ajnba:nštrase/Aynba:nştrase. Endlich Akcionizmus/Akzionismus vol Šarm/ Şarm und Šlauhajt/Şlauhayt. Vajter/Vayter so! Richard Schuberth «Ist es Wahrheit» Suzana Ebert arbeitet im Gemeindebau. Sie sagt, sie mag die Menschen, die dort leben. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto) O hne Zweifel. Die Mitarbeiterin in der grau-roten Uniform von Wiener Wohnen gibt sich Mühe. Grüßt jeden Mieter im Hof. Kehrt auf den Stiegen. Reinigt Aufzüge. Tauscht kaputte Glühbirnen. Kümmert sich gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen um die Waschküche. Und um die Sorgen der Mieter. «Ich habe nie Probleme», sagt sie in einer Sprache, die sie erst seit ihrem 31. Geburtstag spricht. «Kann ich sagen, ist es Wahrheit.» Suzana Ebert ist Hausbetreuerin im Gemeindebau. Anders als die alte Hausmasterin, an der gut ein Jahrhundert lang in Wien kein Weg vorbeiführte und die heut’ vom Aussterben bedroht ist (ein Andenken von Schwarz-Blau, jener Polit-Verirrung, die manches, was gut funktioniert hat, bedenkenlos verhökert hat), wohnt sie in keiner Hausmeister-Wohnung, sondern ein paar Gassen weiter. Eberts Arbeitsplatz: elf der 42 Stiegen einer großen Wohnhausanlage der Gemeinde Wien – in der Wienerbergstraße. Die Stiegen 4, 5, 6, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 21 und 22. Ihre Arbeitszeit: vierzig Stunden pro Woche, von Montag bis Freitag, jeweils von 7.15 bis 15.45 Uhr. Gerne würde auch sie hier wohnen, denkt Frau Ebert laut. Und beißt sich sofort auf ihre Lippen. Denn das, was erwachsene Menschen, mündige Bürger, engagierte Mitarbeiter der Gemeinde Wien denken, dürfen sie nicht immer laut sagen. Dabei hat die Hausbetreuerin gute Gründe: Zum einen würde es Sinn machen, im selben Haus wie die «Betreuten» zu wohnen. (Nicht dass alle Wiener Hausmeister immer Engerln waren, im Gegenteil, aber zumindest waren sie rund um die Uhr ansprechbar.) Zum anderen ist die städtische Wohnhausanlage auf dem Wienerberg, errichtet in den Jahren 1926/27, wirklich großzügig angelegt – im Vergleich zum modernen Beton-Schachtelbau. Doch Suzana Ebert ist nicht die Frau, die wegen starrer Obrigkeitsbestimmungen den ganzen Tag Trübsal bläst. Sie hat zwei Söhne großgezogen, sich in einer fremden Stadt behaupten können. Sie nennt ihre Kollegin liebevoll «Schatzerl». Und sie bemüht sich lieber, so korrekt wie möglich ihre Arbeit zu erledigen. Sie sagt, sie mag ihre Arbeit. Und sie sagt, sie mag die Menschen, die hier wohnen. Ihre Einstellung, nicht nur bei der Arbeit: «Wichtig, dass hamma Freude und Spaß.» In der Viererstiege läutet sie jetzt an eine Wohnungstür. Besonderes Anliegen sind ihr nämlich die älteren, allein stehenden Damen in ihren stillen Wohnungen: «Denen ist oft fad, die haben niemanden, die brauchen eine Ansprache. Die erzählen mir alles, was sie freut, auch alles, was sie bedrückt.» Ebert: «Wir sind hier wie Familie.» Umgekehrt freut auch sie sich, wenn ihr im Vorbeigehen eine Mieterin zuruft: «Sie sind die Beste, bitte gehen Sie nie von uns weg.» Oder wenn ihr die freundliche türkische Familie, ebenfalls auf Stiege 4, wieder einmal einen Tee anbieten möchte. Der Wiener Gemeindebau ist in der Tat eine soziale Errungenschaft, die ihres Gleichen sucht. In kaum einer anderen ähnlich Suzana Ebert soll in einem Meidlinger Gemeindebau die Hausmeisterin ersetzen Die Serie Lokalmatadore erscheint seit elf Jahren im Augustin. Das gleichnamige Porträtbuch kann auch per E-Mail bestellt werden: mario@ augustin.or.at wohlhabenden Hauptstadt Europas kann man derart gut und günstig wohnen. Dennoch wird der Gemeindebau seit Jahren schlecht geredet. Von xenophoben Besserwissern, die jeden Bassenastreit zur nationalen Tragödie stilisieren wollen und dort, wo wirklich Hilfe notwendig wäre, noch nie eine praktikable Lösung anbieten konnten, aber auch von der bleichroten Bürgermeister-Entourage, die jahrelang die Sorgen der Mieter nicht ernst genommen hat und jetzt – getrieben von den Angstmachern – vor allem auf Uniformen und altbekannte Law-and-OrderMuster setzt. Suzana Ebert redet nicht über Politik, verweist lieber auf die tolle Integrationsleistung, welche Menschen im Gemeindebau erbringen. Österreicher wohnen hier Tür an Tür mit Türken, Serben neben Albanern, Alte neben Jungen, Sozialhilfeempfänger neben Akademikern. Natürlich gibt es Wickel. Weil viele – unabhängig von ihrem Geburtsort – knapp bei Kassa sind, zu wenig von anderen wertgeschätzt werden, auch nie aus dem engen Milieu rauskommen. Sie hat einen zweitägigen Konfliktmanagement-Kurs besucht. «War interessant, was ich dort gelernt habe.» Interessant. Aber anwenden musste sie das dort Gehörte noch nie. Gut möglich, dass die gelernte Lebensmitteltechnologin mit den Mietern auf dem Wienerberg deshalb so gut auskommt, weil sie selbst zugewandert ist. Vor acht Jahren ging sie mit ihren Söhnen wohl für immer aus der Stadt Pozarevac in Serbien weg, folgte damals ihrer Schwester nach Wien, die hier schon seit 25 Jahren lebt. Den Schritt nach Wien hat Ebert bis heute nicht bereut: «Es ist schon komisch, bin ich in Požarevac geboren, habe ich dort lange gelebt, aber zu Hause fühle ich mich in Wien.» Auf die Frage, warum das so ist, erklärt sie: «Weil Freunde sind heute hier.» Nach einer, maximal zwei Wochen zu Hause bei ihrer Mutter möchte sie wieder zurück nach Wien. «Serbien ist vielleicht nicht so international», fügt sie dann hinzu. Ihr älterer Sohn arbeitet ebenfalls für Wiener Wohnen. Am Ende bittet sie höflich und auch ein bisserl stolz um die Zusendung einer Zeitung: «Damit ich sie meiner Mutter schicken kann.» z tun & lassen | 303 magazin 303 16 Geht's mich was an? Alle Jahre wieder P ünktlich zum Ferienende geht sie wieder los – die alljährliche Debatte um den «Ansturm« ausländischer Student_innen an den heimischen Universitäten. Wieder einmal im Zentrum der Debatte: StudentInnen aus Deutschland. Denn in unserem Nachbarland ist dieses Jahr die Zahl der StudienanfängerInnen, aufgrund doppelter Abiturjahrgänge und Aussetzung der Wehrpflicht, so hoch wie nie zuvor, weshalb auch Österreich mit mehr Studienanfänger_innen aus Deutschland rechnen muss – was (angesichts des ohnehin knappen Unibudgets und der vielen österreichischen Studienanfänger_innen) vielerorts Unverständnis und Unzufriedenheit auslöst. Die Universitäten versuchen nun mit neuen Hürden die vielen (deutschen) Studienanfänger_innen abzuschrecken: Erstmals gibt es heuer für einzelne Studiengänge (u. a. Publizistik und Psychologie, wo der Andrang deutscher StudentInnen besonders hoch ist) Voranmeldungen, und in der Studieneingangsphase wird verstärkt auf «rausprüfen» gesetzt. Parallel zu diesen Maßnahmen wird auch über die (Wieder-)Einführung von Studiengebühren und sogar über das Schließen einiger Fächer an einzelnen Universitäten diskutiert. Doch warum wird der Zuzug deutscher Student_innen nach Österreich sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft in so einen negativen Diskurs eingebettet? Liegt es an den üblichen Ressentiments der Österreicher_innen gegenüber den Deutschen oder an den Vorurteilen gegenüber den «Numerus-clausus-Flüchtlingen»? Diese Frage muss wohl unbeantwortet bleiben, aber dennoch: Die Debatte um deutsche Student_innen fügt sich nahtlos in die derzeitige österreichische Migrationspolitik ein: neue Hürden anstatt sinnvoller, profitabler Lösungen für beide Seiten. Der österreichische Arbeitsmarkt würde langfristig nämlich bestimmt von gut ausgebildeten deutschen Bildungsmigrant_innen profitieren, bei denen es keine (oft beklagten) sprachlichen Barrieren gibt. Wenn die deutschen Student_innen aber nicht nur vermehrt mit universitären Hürden, sondern auch mit gesellschaftlichen Ressentiments kämpfen müssen, werden sie nach ihrem Studium in Österreich wohl schnell wieder das Weite suchen. Und damit trifft genau das zu, was viele Politiker_innen wohl am wenigsten wollen: außer Spesen nichts gewesen. Marion Draxler, www.zara.or.at | tun & lassen 17 Dr. Ehalts Praxis für nützliche Theorie Internationales Straßenzeitungstreffen Ein Nachruf auf Chris «Flash» Tomo Ein weiterer sinnloser Tod Die ganze Welt in Glasgow M it dem viel versprechenden Titel «The Streetpaper Success Story: The next Chapter» fand Mitte Juli die 16. Konferenz des internationalen Straßezeitungsnetzwerkes INSP statt, an der rund 80 Teilnehmer_ innen aus 28 Ländern teilnahmen. So wie die meisten österreichischen Straßenzeitungen ist auch der Augustin Mitglied beim International Network of Streetpapers, das sich als Interessensvertretung und Lobbyorganisation für mehr als hundert Straßenzeitungen aus vierzig Ländern versteht. Neben zahlreichen Workshops zu den Bereichen Redaktion, Vertrieb, Fundraising, Layout und Fotografie, war die diesjährige Konferenz vor allem davon geprägt, Themen für globale Kampagnen zu finden. Pro Monat erreichen die Straßenzeitungen gemeinsam rund 5 Millionen Leser_innen, und damit Menschen die Interesse daran haben, gegen Armut, soziale Ausgrenzung und Unterdrückung aktiv zu werden, selbst wenn ihr Engagement «nur» darin besteht, regelmäßig ihre regionale Straßenzeitung zu kaufen. Besonders inspirierend war die Idee einer digitalen Straßenzeitung, E Erstmals auf einer INSP-Konferenz: Straßenzeitungsverkäufer_innen Rose Henry (Kanada) und Joan (GB) und Redakteuer_innen Dominik Gorny und Magdalena Chwarscianek (Polen) die, obwohl im Internet verfügbar, den Verkäufer_innen trotzdem ermöglicht, ihren Anteil am Zeitungsverkauf zu erwirtschaften und mit den Leser_innen in Kontakt zu bleiben. Die Berichte der Kolleg_innen aus Japan bestätigte wieder einmal, wie wenig die selektive Berichterstattung der Mainstream-Medien über die tatsächliche Situation vor Ort auszusagen vermag. Zum zweiten Mal wurden die International Street Paper Awards verliehen, die in 8 Kategorien Straßenzeitungsmacher_innen auszeichnen. In der Sparte «Bestes Cover» machten unsere Linzer Kolleg_innen das Rennen. Mit ihrem Titel «Sozialleistungs-Nacktscanner» übte die «Kupfermuckn» Kritik an der Initative der österreichischen Regierung in Sachen Transparenzdatenbank und den damit einhergehenden Eingriffen in die Privatsphäre. Wir gratulieren der Kupfermuckn herzlich zum Oscar der Straßenzeitungswelt! Text & Foto: Gerda Kolb Berichte, Interviews und Fotos von der Konferenz unter: http://inspconference.blogspot.com VOLLE KONZENTRATION Schulden der Staaten sind Vermögen der Reichen Eine deutsche Stimme, männlich, aber angenehm. «Was man endlich lernen muss, ist: Die Schulden der Staaten sind das Vermögen der Reichen», schrieb dieser Tage der bekannteste deutsche Politiker links von der Sozialdemokratie, Oskar Lafontaine. «Wenn man Schulden abbauen will, darf man das Geld nicht bei der Bevölkerung nehmen, die ohnehin unter der verfehlten Politik des Lohndumpings leidet, sondern man muss es bei denen nehmen, die seit Jahrzehnten Nutznießer dieser Politik sind … Ich würde die europäischen Staaten von den Finanzmärkten abkoppeln und die notwendigen Kredite direkt durch eine öffentlichrechtliche Bank vergeben – natürlich unter strengen Auflagen. Es ist nicht sinnvoll, dass die Europäische Zentralbank der Deutschen Bank für 1,25 Prozent Milliarden zur Verfügung stellt und die Deutsche Bank diese Milliarden dann für über zehn Prozent an Griechenland weiterreicht. Solange wir diesen Unsinn weitermachen, wird es keine Lösung der Schuldenkrise geben.» Das ist einleuchtend; gerade deshalb wird Lafontaine von den deutschen Mainstreammedien so verteufelt. Er ist zu klar in seiner Aussage; es wär' ihnen lieber, wenn er sich am unverständlich schwafelnden Starphilosophen Sloterdijk ein Beispiel nehmen würde. Stoppt endlich die Fernseh-Börsenformate! Noch eine deutsche Stimme, männlich, ebenfalls angenehm: «Stoppt endlich das alltägliche Casino im Fernsehen», fordert der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Deutschlands Michael Müller die Intendanten der Fernsehanstalten auf. «Die zahlreichen TV-Börsenformate tragen mit dazu bei, dass die Gesellschaft immer stärker verunsichert wird. Dabei spiegeln die Börsen nur eine künstliche Wirklichkeit, ihre Bedeutung für die Realwirtschaft ist gering. Allein die massive und unkritische Berichterstattung wirkt sich letztlich auf das realwirtschaftliche Geschehen aus», warnt Müller. r bezeichnete sich selbst einmal als Soziopath «Hunger nach Leben» dann auch erhielt. Nur – was bedingt vielleicht stimmen konnte, aber wenige Wochen nach seinem schrittweisen Entnur einen geringen Teil seiner so vielfältigen zug vom Substitut ging er daran, sich nach einer Persönlichkeit ausmachte. Als ich Christian näTherapie umzusehen, welche ihn von der Hepaher kennenlernen durfte, war er voller Elan datitis C befreien konnte. Er nahm die langwierige bei, sein Leben in den Griff zu kriegen, sich mit und schmerzhafte Form mit Interferon auf sich, der Gesellschaft zu arrangieren, sichtlich motiwas er schlecht vertrug, über Schmerzen, Kopfviert durch die Existenz der Tochter Laura. Er bat weh und Orientierungs-Schwierigkeiten klagte. mich das eine oder andere Mal um Rat und HilDoch es kam der Tag, wo auch diese «Rosskur» fe, wenn es darum ging, mit Beistand von Carivorbei war, er sich rasch erholte und sich des Vitas oder ähnlichen Organisationen die Miet- oder rus entledigt hatte. Er belohnte sich selbst mit eiStromzahlungsrückstände zu begleichen oder ein nem mehrwöchigen Thailand-Aufenthalt, kam Schreiben wegen des Besuchsrechts an das Gemit einer gesunden Farbe und wie runderneuert richt zu formulieren, beschäftigte sich intensiv zurück nach Wien – und sah dieses nun aus einer mit seinem «Steckenpferd», der Fotografie, beganz neuen Perspektive, die ihm so gar nicht gesuchte dazu Fortbildungskurse an den Volkshochfiel. Der Mangel an Lebenslust der Leute hier, das schulen und exerzierte das, was kaum ein anderer fehlende Feingefühl, das Grau. Was vor wenigen zustande bringt: Innerhalb eines Jahres schaffte er Tagen passierte, mag mit ein Auslöser für seine es, von einer ziemlich hohen Dosis seines SubstiSelbstaufgabe gewesen sein: Sturzbetrunken blieb tution-Medikaments auf null zu reduzieren. er am Gürtel nach einem Lokalbesuch auf einer Als zusätzlichen Anreiz hatte er sich das Ziel Parkbank sitzen, stur wie ein Esel ließ er sich nicht gesteckt, zumindest die Hälfte des Jakobswegs zu mehr bewegen, in ein Taxi zu steigen und nach gehen, was er im Frühling dann auch durchzog. Hause zu fahren. Die Person, die ihn schließlich Damit verschaffte er sich gerade bei mir ein hodorthin verfrachtete, stahl seine gesamte Fotohes Maß an Respekt, und gemeinsam gingen wir ausrüstung und noch einiges mehr. daran, ein paar Projekte umzusetzen, wo er foAm Donnerstag, den 4. August 2011, fand seitografierte und ich den Text beisteuerte. So entne Mutter ihn tot in der Wohnung auf. Die Staatsstand ein Bericht für den Augustin – den er übanwaltschaft ordnete eine Obduktion an. Er wird rigens in den Weinschenken in Grinzing an sein mir und vielen anderen in Erinnerung bleiben, fast durchwegs Stammpublikum verkaufte – über denn ein schräger Typ war er schon – einer mit den Wiener «Dialekt-Poetry-Slam», gemeinsam Herz. wohnten wir im Rahmen der Aktion «Hunger Text & Foto: Wolfgang E. Eigensinn auf Kunst und Kultur» der Abschlussveranstaltung der Reihe «Armutsgrenzen» bei, waren Gäste einer Führung von Direktor Michael Schottenberg durch das Volkstheater, sahen die Premiere von «Alpenkönig und Menschenfeind» in eben dessen Inszenierung. Es störte mich nicht, dass im Rucksack, der die Fotoausrüstung barg, ständig ein paar Dosen Bier gebunkert waren. Er brachte sein «Lebenselixier» mit Geschick an jeder Kontrolle vorbei, auch am Donauinselfest, wo wir uns Billy Idol anhörten. Es zählte sein Talent mit der Kamera und ich riet ihm, um Subvention einzureichen, welche Chris Flash Tomo. Wenige Tage vor seinem Tod nutzte ein Unbekannter seine Betrunkenheit aus und stahl die komplette Fotoausrüstung er für das Fotografie-Projekt Schamlose Umverteilung D as aktuelle Wirtschaftssystem ist höchst erfinderisch, wenn es darum geht, Besitz und Einkommen von der Gemeinschaft, von öffentlicher Verfügbarkeit, von den ArbeitnehmerInnen zu privaten Besitzern umzuverteilen. Für das jeweils niedrigste Entgelt der Leistungen von ArbeitnehmerInnen sorgen die global ermittelten Benchmarks, die bei den Arbeitgebern die roten Warnblinklichter aufleuchten lassen, wenn an einem «Standort» Gehälter höher sind, weil sie Sozialleistungen beinhalten und minimale ökologische Standards eingehalten werden. Die Profite der Shareholder werden mit allen Tricks der Finanzwirtschaft frei von Abgaben für soziale Leistungen für Dienstnehmer gehalten. Die aktuelle Sparpolitik der EU geht ausschließlich auf Kosten der ArbeitnehmerInnen und der wirtschaftlich und sozial Schwachen, deren Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen werden. Die Ratingagenturen erstellen Gefälligkeitsgutachten im Interesse von Kapitaleignern. Staaten wie Griechenland werden in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft; sie werden gezwungen, dort zu sparen, wo soziale und Bildungsleistungen erbracht und empfangen werden. Das gesamte soziale System, das im Übrigen auch von den Nutznießern des aktuellen Finanzkapitalismus schamlos in Anspruch genommen wird, wurde bereits auf die kleinstmögliche Sparflamme gebracht. Die in der Öffentlichkeit kaum kritisierte Devise der EU lautet, dass eben dort – im Bereich jener sozialen Leistungen, die das rudimentäre Funktionieren von Gesellschaft überhaupt gewährleisten – noch mehr gespart werden muss. Eben nur mehr dort haben die nationalen Staaten noch eine Eingriffsmöglichkeit. Einen höchst fragwürdigen kurzfristigen «Ausweg» bieten die expliziten Privatisierungen, bei denen Gemeinschaftseigentum und Leistungen für die Gemeinschaft in private Hände transferiert werden. Die aktuelle Allianz zwischen Staat und Kapital erinnert an den «Nachtwächterstaat» des 19. Jahrhunderts. Die notwendigen Regulierungsleistungen, die die Staaten und die EU im Hinblick auf das Finanzkapital erbringen sollten, unterbleiben. Die Ordnungsund Disziplinierungsaktivitäten richten sich tendenziell sehr oft gegen Bürgerinnen und Bürger und die notwendigen Freiräume, die Demokratie sichern muss. Hubert Christian Ehalt I D N A A K I R E S kraut & rüben | Widder 21.3.–20. 4. Kürzlich wurden in Kärnten neue Ortstafeln aufgestellt. Zweisprachige. Staatssekretär Ostermayer wurde dafür von Landeshauptmann Dörfler sogar mit einem Orden bedankt. Sehr feierlich! Bei den Festlichkeiten wurde allerdings auf den Kärtner Anwalt und Schnellfahrer Rudi Vouk vergessen, der mit seinen Radarstrafen vieles ins Rollen brachte. Für dich ein weiterer Beweis, dass wahres Heldentum im Verborgenen blüht. Krebs 22. 6.–22. 7. In den USA machen sich religiöse und reaktionäre Fundamentalist_innen auf, um nach den Republikanern das ganze Land in Geiselhaft zu nehmen. Diese Tea-Party-Bewegung wird von vielen Leuten der unteren Mittelschicht mitgetragen. Jene, die etwa eine bessere Gesundheitsversorgung durchaus brauchen könnten. Dir bleibt nur Brecht: «Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.» Waage 24. 9.–23. 10. Der Sommer war bisher passabel verregnet. Für dich ein Gegenbeweis für die Behauptung, dass Bezeichnungen Wirklichkeiten schaffen. Noch besser als Gegenbeweis eignet sich ein anderer Sommer, nämlich der Langzeit-Redakteur Robert Sommer. Jeder normale Mensch assoziiert Urlaub und Erholung, wenn er «Sommer» hört. R.S. hingegen steht für Workoholism. Steinbock 22.12.–20. 1. Wie sich die Dinge doch ändern! Jahrzehntelang galt Israel als das einzige demokratische Land in der Region. Und nun berufen sich israelische Demonstrant_innen auf den «arabischen Frühling» und kopieren dessen Aktionsformen. Dir geht es ähnlich. Lange Zeit warst du die Speerspitze des kritischen Denkens im Block, und nun schicken sich deine biederen Nachbarn an, dich in Sachen Globalisierungs- und Kapitalismuskritik zu überholen. Stier 21.4.–20. 5. Jean Ziegler wollte den Spekulationsbanditen bei den Salzburger Festspielen die Leviten lesen, wurde von Landeshauptfrau Burgstaller aber ausgeladen. Dennoch ist seine Rede, in der er die anwesenden «Schönen und Reichen» für den Hunger auf der Welt und die «kannibalistische Weltordnung» verantwortlich machen wollte, publik geworden. Dein Lehre daraus: Immer schön stur bleiben und trau keiner Gabi! Löwe 23.7.–23. 8. Mit großem Pomp und viel Überheblichkeit wurde in den den letzten Wochen des Mauerbaus von Berlin gedacht. Auch der etwa 200 Mauertoten. Das in unseren Tagen jährlich 3-4000 Menschen beim Versuch, in die EU zu gelangen, ihr Leben lassen, scheint der Gewissheit, dass das bessere System gewonnen hat, keinen Abbruch zu tun. Wie war das nochmal im Religionsunterricht mit dem Splitter und dem Balken im Auge? Skorpion 24.10.–22. 11. In London haben es die Unterschichten einmal ordentlich krachen lassen. Dir wäre das im Prinzip ja sympathisch, wenn die konkreten Ausformungen nicht so abstoßend wären. Und nun nagt der Zweifel an dir, ob du nicht im Grunde ein verklemmter Spießbürger bist. Dabei hast du dir nur (trotz aller Ideologie) dein meschliches Mitgefühl für die Opfer bewahrt. Wassermann 21. 1.–19. 2. Die erstinstanzliche Verurteilung von Uwe Scheuch (es gilt die Unschuldsvermutung) hat eine interessante Frage der Rechtssicherheit aufgeworfen. Hier wurde vielleicht jemand für etwas bestraft was eh alle anderen auch dauernd machen. Die Verteidigungsund Rechtfertigungsversuche der FPK sind interessante spaßige Gedankenexperimente. Gerade recht für die Sommerzeit. Zwilling 21.5.–21. 6. Du bist tief enttäuscht. Der Umgang der europäischen Politik mit den Schuldenkrisen in einigen Mitgliedsländern lässt immer klarer erkennen, dass den Politiker_innen wirklich nichts anderes einfällt, als ihre Politik an den Börsenkursen auszurichten. Dein Zorn wandelt sich durch diese Erkenntnis immer mehr in Mitleid. Eigentlich ist das nur tieftraurig. Jungfrau 24. 8.–23. 9. Einige österreichische Priester (um Helmut Schüller) proben den Aufstand gegen die Kirchenoberen und rufen zum Ungehorsam auf. Tapfer, wenn auch aussichtslos. In dir keimt der Verdacht, dass es dabei weniger um konkrete Reformen denn um das Seelenheil der Ungehorsamen geht. Sie wollen beim jüngsten Gericht vor ihren Schöpfer treten können und zeigen, dass sie sich nach Kräften bemüht haben. Schütze 23. 11.–21. 12. Du erkennst, dass die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen bereits weitere Kreise ergriffen hat als die üblichen Verdächtigen. Nur was machen mit all den Wutbürger_innen und Systemerneuer_innen? Du befürchtest, dass diese neue Beweglichkeit von den falschen Kräften genutzt werden könnte. Darum ist es jetzt an dir, sie richtig zu nutzen. Fische 20. 2.–20. 3. In Oberösterreich stöhnen nun zahlreiche Gemeinden unter den Verlusten der Spekulationsgeschäfte, die ihnen von ihren Hausbanken eingeredet wurden. Am schlimmsten wird es wohl Linz erwischen. Der Landeshauptstadt drohen halbjährliche Zahlungen in dreistelliger Millionenhöhe. Am liebsten würdest du dich vor Lachen schütteln. Aber du weißt, wer diese Zeche wohl bezahlen wird müssen. 303 303 18 | kraut & rüben Neuerdings mit Otto A S 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 T R O S H X X 13 14 15 W X X X 16 X 19 23 X 25 X 28 29 24 X 12 18 X 17 X 20 X 21 22 27 X 26 30 31 32 33 O 19 X X X 34 35 37 X X 38 X X X 36 X 39 40 41 WAAGRECHT: 1. jedenfalls ist sie nach dem Arztbesuch zu bezahlen 11. viele singen in ihnen, unprofessionell, trotzdem gut 12. picken in den meisten Bädern 13. nur kurz währt Elternliebe 15. wer etwas aus dem beherrscht, beherrscht es wirklich gut 16. in den Amtsstuben: Rechnungshof 17. auf der Neunkirchner Nummerntafel zu lesen 18. dicker als die Leine, dünner als das Tau 19. Streifen liegt am östlichen Mittelmeer, sehr konfliktbeladen 21. das Ende des Tisches 23. hat Brecht mit der Bardot gemeinsam 24. Programmiersprachenschlüsselwort 26. ist durch den Eurotunnel mit Frankreich verbunden 28. etwas und jemand als legitim anerkennen 32. in schwingende Bewegungen bringen 33. kurz fürs Neue Testament 34. zunächst sozusagen 35. sie gaben ihre Stimme ab 37. ein arabischer Befehlshaber 38. abbrev. for Letter of Admission 39. alltagssprachlich für Saugwirkung 41. verkehrt liegt die Seite des Hangs SENKRECHT: 1. verwertet verschiedenartige Brennstoffe 2. einer der sechs Stämme der Tibeter 3. ein Format für komprimierte Dateien reduziert den Platzbedarf 4. ziemlich kurze Teilentladung 5. Initialen des Krone-Journalisten Staberl 6. ein kleines Stück von etwas 7. ohne Ehr und niederträchtig 8. verkehrt laufen englische Hennen 9. haben Skulpturen und Kreaturen gemein 10. blumiges Symbol der Passion Christi 14. Autor des Antiheimatromans «Die Wolfshaut» – jeder AUGUSTIN-Leser_in sehr zu empfehlen 15. visuelles Hilfsmittel unterstützt Referate – schön schreiben! 20. französische Koseform von Anna 22. alles in allem ist er zum Glück noch immer arbeitsfrei 25. Marke steht fürs Papiertaschentuch: Oh! it’s a …! 27. drei in Italien 29. süßsauer, abg. 30. herrscht in der Tiefkühltruhe – unangefochten 31. in jeder Herde zu entdecken 35. fragt nach der Art und Weise 36. nach wie vor gut ausgestattet, der militärische Nachrichtendienst der USA 40. leitet die Taschentuchwerbung (25 senkrecht) ein Lösung für Heft 302: KAISERGRUFT Gewonnen hat Heide-Marie Wenigwieser, 1110 Wien W: 1 EIERNOCKERL 9 SN 10 CHARITE 11 ECHO 13 TOI 14 VORSPIEL 18 SALTO 20 LEISTE 21 ZISTERNE 23 RO 24 STEIG 25 LPE 28.BETRAGEN 30 ERIKA 32 EULEN 33 SCHARF 36 KAPONE 38 TRENN 39 EBER 40 TO S: 1 ESELSBRÜCKE 2 INC 3 RIO 4 OCTO 5 CHORLEITER 6 ER 7 RIBISELGELEE 8 LT 12 HOLZ 14 VOSTBAHN 15 PIN 16 ET 17 LEBEN 19 TIS 22 TEE 26 PEN 29 AL 31 KCOR 34 AET 35 ENG 37 AB X Einsendungen (müssen bis 31. 8. 11 eingelangt sein) an: AUGUSTIN, Reinprechtsdorfer Straße 31, 1050 WIEN CHRISTAS SPARKÜCHE Hommage an das Leitungswasser A uch auf die Gefahr hin, dass Sie es nicht mehr hören (und lesen) können: Verabschieden Sie sich bitte vom Mineralwasser in Flaschen und trinken Sie Leitungswasser. Die beiden Wiener Hochquellwasserleitungen liefern täglich über 400.000 Kubikmeter Trinkwasser in Gebirgswasserqualität in die Stadt. Dieses überbietet in seiner Qualität oft die als «Mineralwasser» erhältlichen abgepackten Produkte. 100 Liter Leitungswasser kosten in Wien auch nach der aktuellen Gebührenerhöhung nur rund 35 Cent (für KleingärtnerInnen ists noch billiger), die gleiche Menge abgepacktes Wasser kommt im Schnitt auf 40 Euro. Ganz abgesehen von den Nachteilen des «Gebindewassers»: Handelsüblichem Mineralwasser wird Kohlensäure zugesetzt, um die Haltbarkeit zu verlängern (sie wirkt keimtötend bzw. -hindernd). Den gleichen Effekt können Sie in Heimarbeit mit Kapseln oder Automat auch erreichen. Wenn Sie das mögen, dass Ihnen seltsame Gase vom Magen über die Speiseröhre bis in die Nase steigen. Glasflaschen haben eine geringere Durchlässigkeit für Kohlensäure als PET-Flaschen, aber glücklicherweise fordern die Konsument_Innen ohnehin immer mehr stilles Wasser, sagen die Marktforscher_Innen. (Dann aber schleppen sie wieder mehr Keime in der Flasche nach Hause. Na ja, man kann nicht alles haben.) Das teuerste am Gebindewasser sind die Verpackung und der Transport. Mittlerweile gibt es Mineralwasser sogar in Aludosen. Es ist widersinnig, dass wir aus dem Supermarkt heimgeschlepptes Flaschenwasser trinken, das durch tausende Transportkilometer die Umwelt verpestet hat, obwohl vor Ort Wasser in großteils besserer Qualiät aus der Leitung kommt! Ganz abgesehen davon, dass die wenigen Multis, die den Wassermarkt fest im Würgegriff haben, ihre Skrupel gegenüber betroffenen Bürger_Innen schon vor längerer Zeit weggespült haben. Geschichten über beinhartes Abziehen von lokalem Trinkwasser für Limonadenerzeugung und ähnliche Grauslichkeiten können einschlägig nachgelesen werden. Evian (zum Konzern Danone gehörend) hat sogar Mineralwasserflaschen entwickelt, auf die die handelsüblichen Babysauger passen – man muss die Kinder früh genug ans Konsumieren gewöhnen. Weil auch in Österreich seit längerem das Schreckgespenst «Ausverkauf unseres Wassers» herumgeistert, wurde eine Kosten-Nutzen-Studie in Auftrag gegeben. Ein Nebenergebnis dieser Arbeit möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Österreich importiert mehr Gebindewasser, als es exportiert. 2005 waren es 90,13 Millionen Liter Import gegenüber 17,8 Millionen Liter Export. Das meiste importierte Mineralwasser kommt aus Italien – einem Land mit regionalem Wassermangel. Und das, obwohl Österreich zu den wasserreichen Ländern der Welt zählt: unser Wasserbedarf beträgt jährlich 2,5 Milliarden Kubikmeter, das sind drei Prozent der Quellen und Grundwasservorräte. Lassen Sie sich auch durch «hartes» Wasser nicht abschrecken. Dieses ist zwar Ihrer Kaffeemaschine lästig, aber nicht Ihrem Körper: Das enthaltene Kalzium und Magnesium kann manchmal ein Medikament bzw. teuer erkauftes Nahrungsergänzungsmittel ersetzen. Christa Neubauer Rezepte unter http://singlekocherei.myblog.de Quellen: Michaela Knieli: Erfrischend g’sund und günstig: Wasser in Forum 753/11 Karo Katzmann: Schwarzbuch Wasser. Molden Verlag 2007 303 20 vorstadt | Dritan Baholli, Konditions- und Co-Trainer von Rapid Wien, im Gespräch Hiddinks Augenöffner und der Aron-Winter-Kick seit mehreren Jahren zum Betreuerteam von Rapids Neo-Coach Peter Schöttel. Im Interview spricht er über aus der Mode gekommene Übungen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Konditionstrainings und beziffert die Chancen, mit einem Bierbauch Bundesliga spielen zu können. Wenn der Konditrainer «alle in Bewegung» ruft, wird er gern von Hofmann und Katzer an der Hand genommen I Ich bin in erster Linie für das Konditionstraining zuständig. Darüber hinaus helfe ich Trainer Peter Schöttel bei der Einschätzung der Tagesform der Spieler am Matchtag. 2005 waren Sie schon einmal bei Rapid, unter Trainer Hickersberger. Schöttel war damals Sportdirektor. Wie sind Sie zu den Hütteldorfern gekommen? Nach der Beendigung meines Studiums habe ich Peter Schöttel kontaktiert und mich beworben. Er hat mir die Möglichkeit gegeben, bei den Amateuren zu arbeiten. Dann hat sich das Ganze von alleine entwickelt. Josef Hickersberger hat irgendwann gesagt: ‹Dich nehm ich jetzt mit zur Ersten.› Wie hat sich seither die von Ihnen benötigte Infrastruktur in Hütteldorf verändert? Bei Rapid hat sich sehr viel zum Positiven verändert. Jetzt haben wir eine gute Kraftkammer. Das Schnelligkeitstraining mussten wir damals im Freien machen, ohne die Geräte, die man dazu eigentlich braucht. Aber das funktioniert jetzt sehr gut. Und auch bei den Spielern hat sich einiges verändert. Sie kontrollieren ihren täglichen Zustand bei den Vorbereitungswochen, interessieren sich für ihre Pulswerte. Damals hat sich fast keiner darum gekümmert. Fotos: Mario Lang hr Job wird manchmal als Co-Trainer, manchmal Konditionstrainer, manchmal Assistenztrainer bezeichnet. Was machen Sie nun wirklich? Zur Person Dritan Baholli (*23. 7. 1974/Tirana) hat in seiner Laufbahn für die Hauptstadtvereine KF und Partizani Tirana gespielt. Er bestritt ein Spiel für die albanische Nationalmannschaft, war Kapitän der U23-Auswahl. In Österreich spielte der Defensiv-Allrounder ab 1997 u.a. bei Würmla, Vienna, NAC, Stadlau, Fortuna 05 und Wienerberg. Dazu studierte er Sportwissenschaften und Germanistik. Nach seinem Abschluss arbeitete er weiter im wissenschaftlichen Bereich. Seine Stationen als Konditionstrainer: Rapid, Sportklub, Wr. Neustadt und nun wieder Rapid, wo er als Co- und Konditionstrainer an der Seite Peter Schöttels arbeitet. «In puncto Schnelligkeit kann man den Spielern nichts mehr rauskitzeln», meint der Sportwissenschaftler Dritan Baholli Rapid ist nun schon der dritte Verein, bei dem Sie Schöttel als Konditions- und CoTrainer mit an Bord geholt hat. Das ist ja schon ein Anzeichen dafür, dass die Zusammenarbeit ganz gut funktioniert. Wir streiten all die Jahre ganz heftig, aber auf konstruktive Art. Es ist ein Genuss, mit dem Peter zusammenzuarbeiten. Sie waren selbst ein erfolgreicher Kicker (siehe Kasten). Welche Übung aus den damaligen Trainingseinheiten hat sich mittlerweile als Blödsinn herausgestellt? Diese Huckepackübungen, bei denen man mit einem Mann am Rücken herumläuft. Das ist der blanke Wahnsinn für die Bandscheiben und die Patellaspitzen. Wofür sollte diese Übung gut sein? Ich weiß es nicht mehr. Sprungkraft oder was auch immer. Aber danach sind alle Spieler total kaputt. Das war manchmal nicht das Gelbe vom Ei, was wir damals trainiert haben. Wieso haben Sie, als Sie als 24-jähriger Profikicker nach Wien gekommen sind, Germanistik studiert? Das Sportwissenschaftsstudium lässt man sich bei einem Fußballer noch einreden, aber Germanistik sprengt jedes Klischee. Ich habe bereits in Albanien Germanistik studiert, musste aber das Studium abbrechen. In Wien musste ich wieder ganz von vorne beginnen. Für mich war das aber die Superkonstellation, denn so hatte ich keine Probleme mit den Fachbegriffen in der Sportwissenschaft. Wie hat es vor zehn Jahren im österreichischen Fußball in Sachen Leistungsdiagnostik ausgesehen? Damals war Österreich schon dünn besetzt. Es gab zwar immer wieder Ansätze, aber richtige Sportwissenschaft, wo man die Mannschaft über zwei, drei Saisonen wissenschaftlich begleitet, Pulswerte und ähnliches erfasst, das vergleicht und auswertet: das war nicht vorhanden. Können Vereine mit einem größeren Budget als Rapid im Bereich Konditionstraining und Leistungsdiagnostik noch viel herauskitzeln? Auf jeden Fall. Wir haben in der Vorbereitung gegen Valencia gespielt. Davor habe ich mir wochenlang Trainingseinheiten von ihnen im Internet angesehen. Wenn sie Schnelligkeit- oder Sprungkrafttraining machen, bauen sie sechs Stationen auf und an jeder steht ein Trainer, der seine Gruppe ganz genau beobachtet. Dazu vier Physiotherapeuten, drei Konditrainer: das nenne ich Leistungsdiagnostik. Wie schaffen Sie es, über die aktuellen Erkenntnisse und Trends in Ihrem Bereich am Laufenden zu bleiben? Ich habe noch aus meiner Studienzeit sehr gute Kontakte zu vielen Konditrainern aus Italien und Frankreich. Und manchmal spielt auch der Zufall mit: Als wir mit Wiener Neustadt im Trainingslager in der Türkei waren, habe ich Aron Winter getroffen, der Spieler und Nachwuchstrainer bei Ajax Amsterdam war und im holländischen Nationalteam und in Italien gespielt hat. Ich war schon immer ein Riesen-Fan von Winter. Er war mit dem FC Toronto, den er jetzt betreut, ebenfalls auf Trainingslager. Allein die Gespräche mit ihm und die Einheiten, die ich beobachtet habe, geben mir schon einen Kick. Und man ahnt, in welche Richtung sich die Materie entwickeln wird. In puncto Schnelligkeit kann man den Spielern nichts mehr rauskitzeln. Da ist schon das Maximum erreicht. Es geht um Instinkt, es geht um Dribblings. Den Unterschied werden immer ein Messi, ein Eto’o, ein Iniesta, ein Xavi machen. Kann man das Training so anlegen, dass die Mannschaft das ganze Jahr über auf einem konstant hohen Level bleibt oder plant man Leistungsspitzen für die Topspiele ein? Wir trainieren tatsächlich vor allem auf die Salzburg-Sturm-Violett-Wochen hin. Du kannst die Leistung der Spieler nicht eine ganze Saison hoch halten. Dann geht es nach einem Höhepunkt eben mal runter, sonst bewirkst du nichts mehr im Muskelzellenbereich. Das Ganze ist dann zu gesättigt. Wie kann vorbeugen? man Verletzungen Das geht eben nicht nur in der Vorbereitungsphase, das wäre zu wenig. Bis das ganze System, die Bänder und Sehnen, stabil ist, vergehen Monate, manchmal Jahre. Da muss dann der Spieler selbst merken: ‹Aha, bei den Übungen passiert mir jetzt nichts mehr.› Die Präventivübungen, die sensomotorischen Übungen, die gehören bei uns mittlerweile zum täglichen Programm. Kann ein nicht völlig austrainierter Spieler heute noch in der Bundesliga mitkicken? Unmöglich. Das halte ich für ausgeschlossen. Seit wann geht das nicht mehr? Für mich war der große Wendepunkt die WM 2002, als Guus Hiddink mit Südkorea alle überrannt hat. Man hat gesehen, was man mit perfektem Konditionstraining aus einer Mannschaft herausholen kann. Das hat wirklich allen die Augen geöffnet. Interview: Hannes Gaisberger K i c k-Ti p p Der albanische Ex-Nationalspieler, Sportwissenschaftler und Germanist Dritan Baholli gehört Oberliga A: FC 1980 Wien – SC Wiener Viktoria Sun Company; Sportplatz Gem. Wien Franz Koci, Samstag, 27.08., 17 Uhr: Lieben Sie griechische Mythologie? Dann wäre bis vor ein paar Jahren FC 1980 Wien Ihr Verein gewesen, als er noch FC 1980 Wien Sisyphos benamst war. Will man seinen Spielern Hoffnung auf eine rosige Zukunft machen, in der Aufstieg auf Aufstieg folgt und irgendwann die Champions League winkt, ist Sisyphos eventuell doch nicht der richtige Namenspatron. Auf bessere Zeiten braucht man bei der Meidlinger Viktoria nicht mehr zu warten, was könnte schöner als die Gegenwart sein: ein Ex-Austro-Rock-Star als Präsident, ein Toni Polster als Trainer, ein Sonnenstudio als Sponsor. Wobei man sich schon fragt, was den bekennenden Rapid-Fan Gregory dazu bringt, ausgerechnet das Veilchen Polster als Trainer zu engagieren. Aber vermutlich bleibt die ganze Arbeit ohnehin an Co-Trainer Peter Kastanek hängen. Franz-Koci-Straße 1 1100 Wien Tel.: (01) 688 41 69 Öffis: 67 (Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost) Wienerliga: SC Ostbahn XI – FV Austria XIII-Auhof Center; Sportplatz Ostbahn 11, Samstag, 3.9., 17 Uhr: Ostbahn XI – Austria XIII: So viele römische Zahlen! Nach diesem Sommer der Kinofortsetzungen (Kung Fu Panda II, Transformers III, Scream IV, …) wähnt man einen weiteren Teil von «Rocky» im Anmarsch, aber der Sly Stallone lässt vorerst seine Fäuste stecken. Die geballten Fäuste wird letzte Saison auch so mancher Ostbahn-Fan in der Hosentasche spazieren getragen haben, ging es doch nach drei Jahren in der Regionalliga wieder abwärts in die Wiener Stadtliga. Darüber hinaus will Dr. Kurt Ostbahn das 20-Jahr-Jubiläum seines legendären Livekonzerts am Ostbahnplatz 1991 eben nicht am Ostbahnplatz zelebrieren, sondern im Prater. Eher Oasch als Leiwaund! Sehr leiwaund fanden hingegen die Anhänger von Austria XIII die letzte Saison, die mit Oberliga-Meistertitel und Aufstieg in die Wienerliga gekrönt wurde. Was für ein Wechselbad der Emotionen! Quasi Yin gegen Yang. Hasenleitengasse 49 1110 Wien Tel.: (01) 767 61 41 Öffis: 69 A und 72 A (Am Kanal/ Hasenleitengasse) 3. Klasse: Donauraum Juventus Wien FC – Golden Apple; Sportplatz Wienerberg, Sonntag, 4.9., 16 Uhr: Zwei Newcomer im Wiener Fußballverband debütieren in der dritten und untersten Spielklasse. Juventus hat einen beeindruckenden Kader mit 36 Spielern angemeldet, Trainer Robert Janecek, der auch Vorstandsvorsitzender und Abwehrspieler der gar nicht so alten Dame ist, kann aus dem Vollen schöpfen. Dass der Verein drei Scouts (je einen für Österreich, Bosnien und Ghana) vorweisen kann, ist entweder nur etwas dick aufgetragen oder vielleicht doch ein Zeichen dafür, dass in Österreich wieder einmal etwas Großes im Entstehen ist. Viel bedeckter geben sich die Gäste von Golden Apple, über die im Vorfeld nur sehr wenig bekannt ist. Die Vereinsanschrift deckt sich mit der Adresse eines gleichnamigen Shisha-Lokals in der Quellenstraße, das hat sich ohne Verletzung des Datenschutzes gerade noch ermitteln lassen. HG Computerstraße 3 1100 Wien Tel.: (01) 667 61 27 Öffis: Badner Bahn (Gutheil-SchoderGasse) oder 65 A (Triester Straße/ Computerstraße) art.ist.in | 303 303 22 | art.ist.in 23 Engagiertes Kino zum Thema Kindesentführung und -missbrauch Jenseits von Krimi, Tränendrüsendrücker oder Sozialporno bewegt sich Markus Schleinzers Kinofilm «Michael» Der Regisseur im Augustin-Gespräch über Opfer und Täter und warum wir uns mit Letzteren kaum auseinandersetzen wollen. W ie kamen Sie darauf, einen Film zu dem Thema Kindesentführung zu machen? Ich war 2008 auf der Suche nach einem Stoff für meinen ersten Kinospielfilm, und damals waren die Medien voll mit dem Thema des «verschwundenen und missbrauchten Kindes», es war omnipräsent. Im Sommer war der Fall Madelaine in Portugal, Fritzl hatte gerade seinen Prozessbeginn, es sind neueste Verschwörungstheorien zum Fall Natascha Kampusch aufgekommen, in Linz gab es den Fall einer geschiedenen Frau, die drei Kinder sehr seltsam gehalten hat, in Amerika gab es einen Fall, wo junge Mädchen in einer Garage gefangen gehalten wurden etc. Man konnte keine Tageszeitung aufschlagen, ohne dass man mit dem Thema konfrontiert wurde. Und was mich da sehr irritiert hat, war, dass man es ausschließlich dem Boulevard überlassen hat. Was mich auch sehr interessiert und schockiert hat, war, wie sehr ich selbst ein Rezipient dieser Art von Berichterstattung war, wie sehr auch ich als eine Art Gesellschaftsvoyeur interessiert an Überschriften und gar nicht so sehr an irgendwelchen inhaltlichen Auseinandersetzungen war. Das hat mich schockiert, und ich habe mir gedacht, das muss ich mir näher anschauen. (...) Warum steht in dem Film der Täter im Mittelpunkt? Ich kenne Filme, wo es um verschwundene Kinder geht, und das sind Krimis, oder es geht um das Leid der Familie. Die Entscheidung ist schnell gefallen, dass ich mich dieser Geschichte von der Täterseite nähern möchte. Es ist ja gesellschaftlich sehr viel einfacher, sich mit Opfern auseinanderzusetzen. Da wird schnell etwas hingespendet, damit man eine Ruhe hat. Man kann man sich ja jeden zweiten Tag was anderes aussuchen, wo man sich schnell wieder ein gutes Gewissen erkaufen kann. Aber mit den Tätern setzen wir uns nicht so gerne auseinander. Das ist sehr viel schmerzvoller. Letztendlich ist aber eine Gesellschaft nur so weit entwickelt, wie sie in der Lage ist, sich auch mit ihren eigenen Tätern auseinanderzusetzen. Das haben wir ja nicht nur in der Pädophilie. (...) Und ich war in Sorge, denn wenn man sich dem Thema von der Kinder-, sprich der Opferseite, nähert, kann man sehr viel leichter Land auf emotionalem Gebiet gewinnen. Entführungsalltag I n seinem ersten Spielfilm, der auch im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes lief, zeigt Regisseur Markus Schleinzer Szenen aus den letzten Monaten einer fiktiven Kindesentführung. Im Mittelpunkt steht dabei das Zusammenleben von Täter und Opfer und das unspektakuläre Leben des Kidnappers außerhalb seiner vier Wände. Der 35-jährige Michael (dargestellt von Michael Fuith) ist offenbar ein durchschnittlicher Typ, der bei einer Versicherungsgesellschaft arbeitet und mit den Kolleg_innen gut auskommt. Auch das Einfamilienhaus in irgendeiner Siedlung in der Nähe Wiens, in dem Michael lebt, ist ein Bau wie viele andere. Nur, dass Michael in einem fensterlosen Raum im Keller, hinter einer dicken Stahltür, nicht wie andere Leute Krimskrams oder Vorräte lagert, sondern einen kleinen Buben gefangen hält. Der zehnjährige Wolfgang (David Rauchenberger) wird in materieller Hinsicht gut versorgt. Das Leben des Entführers und seines Opfers umfasst gemeinsame Aktivitäten wie Spielen, Haushaltsarbeiten machen oder Fernsehen. Der Film schildert diesen oft trivial anmutenden Alltag, der gleichzeitig die Imitation eines «normalen» Familienlebens darstellt. Und zwar nicht nur wegen des Fakts der Freiheitsberaubung; Wolfgang dient seinem Entführer nicht nur als Ersatzsohn, sondern auch als Sexualobjekt. Es ist ein diffiziler Themenbereich mit dem sich Markus Schleinzer befasst, und es gelingt dem Regisseur, sich damit auseinanderzusetzen, ohne voyeuristisch zu sein oder trivial-psychologische Erklärungen zu bemühen. «Michael» ist nicht als Krimi konzipiert, auch nicht als emotionsheischendes Familiendrama. Konsumationsfreundlichkeit ist eine Kategorie, die der Film kaum bedient. Die geradezu «karge» Gestaltung (Verzicht auf Elemente wie Filmmusik, Kameraschwenks und -fahrten, schnelle Schnitte) ermöglicht es, sich tatsächlich intensiv auf den Inhalt der Geschichte einzulassen. Das ist nicht unterhaltsam, sondern oft beunruhigend, aber dennoch spannend. j. l. Ab 2. September im Kino Jeder sieht das weinende Kind, das sich am Schluss noch retten kann und so weiter und so fort. Was ich aber in diesem Film erzählen wollte, ist vor allem die Beziehung, die die beiden – Täter und Opfer – zueinander haben. Es interessiert mich herzlich wenig, den sexuellen Missbrauch zu zeigen, das finde ich auch obszön, und es kam für mich nie in Frage, Bilder zu schaffen, wo man eine vollzogene Sexualität zeigt. Wozu auch? Das kann sich ja jeder vorstellen, dass das auch Teil der Sache ist. Spannender fand ich einfach, den Moment, wo man sich organisieren muss, also in Beziehung treten muss. Wo jemand sagt: «Nimm den Mistsack mit!» Oder: «Ich habe Hunger.» Oder: «Mir ist kalt.» In «Michael» wird eine erfundene Geschichte erzählt, die sehr realistisch wirkt. Der Eindruck wird verstärkt durch den Verzicht von stilistischen Mitteln wie Filmmusik oder Kamerafahrten. Ich habe versucht, einen Film zu machen, der nicht publikumstherapeutisch ist. Es gibt ja schon genügend «Märchenfilme» zu diesem Thema mit lieblichen Bildern, schönem Licht und toller Musik, und vielleicht kann das Kind mit einem selbst gestohlenen Löffel einen Tunnel graben und sich befreien und mit dem Löffel dann noch den Täter zur Strecke bringen. Das ist ja alles Quatsch, das sind erlösende Fantasien für Menschen, die sich mit der Sache überhaupt nicht wirklich auseinandersetzen wollen. Das Motiv des misshandelten Kindes ist ja wahrscheinlich schon vor 15 Jahren in der Filmbranche angekommen. Man kann ja mittlerweile fast keinen Sonntagstatort anschauen, ohne dass da zu Beginn ein Kind umgebracht oder vergewaltigt wird oder das Kind selber der Täter ist. Im Verlauf des Films ist es dann aber scheißegal, weil es nur der Aufmacher bleibt. Es wird dann herumgeforscht, und das Kind ist halt tot. (...) Mein Ansatz, sich dem Thema zu stellen, war ein anderer als das nur als Motiv zu benutzen und dann eine hübsche Geschichte drumherum zu spinnen. Meine Foto: Lisa Bolios Publikumstherapie ist Quatsch … wie auf Kameraschwenks, Kamerafahrten, schnelle Schnitte und so weiter Platzfest zur Erinnerung an den 17. September 1911 Aufstand in Ottakring Geschichte ist an sich dieses Thema und das Leben dieser beiden Menschen. Wie sind die Kinopublikums? Reaktionen des Sehr gut, finde ich. Wenn ich einen Film hätte machen wollen, für den mich die ganze Welt ansatzlos liebt, hätte ich mir ein anderes Thema gesucht. Das ist mir nicht wichtig. Dass das jetzt ein Film ist, der kontroversiell aufgenommen wird, ist allzu verständlich. (...) Was ich damit erreichen wollte – dass es ein Gespräch gibt, dass es eine Auseinandersetzung gibt - das ist zu 100 Prozent gelungen. Und das ist toll. Der Film ist zu wahnsinnig vielen Filmfestivals eingeladen. Er ist mittlerweile auch in sehr, sehr viele Länder verkauft. Vor zwei Wochen hat ihn sogar der Iran gekauft, das ist eine absolute Novität. Ich kann mir nichts Besseres für den Film wünschen. Mit Markus Schleinzer sprach Jenny Legenstein. A uch in Wien: Massendemo der Empörten. Vor 100 Jahren allerdings. Der Ottakringer 17. September 1911 ist in Vergessenheit geraten. Ein Tag, an dem mehr als 100.000 Menschen in Wien gegen die unzumutbaren Lebensbedingungen demonstrierten. Ein Tag, der mit drei Toten und hunderten Verletzten endete – und mit der militärischen Besetzung eines ganzen Stadtviertels. Begonnen hatte dieser Tag mit einer Kundgebung vor dem Parlament gegen die rasant steigenden Lebensmittelpreise. Organisiert hatte diese Kundgebung die sozialdemokratische Partei, und gekommen waren vor allem die Bewohner_innen der Vorstädte, aus Landstraße, Simmering, Ottakring ... Auch wenn die Presse (und die Sozialdemokratie) später von «unverantwortlichen Elementen« und «Lumpenproletariat» sprach, so musste sie gleichzeitig zugestehen, dass die «Exzedenten» – die Randale – von einem Großteil der Otakringer Bevölkerung unterstützt wurden: Frauen versorgten Jugendliche mit Steinen, die sie in ihren Schürzen herbeischafften, aus Gasthäusern wurden die Ordnungshüter mit Bierkrügeln, aus den Fenstern der Wohnhäuser mit allem, was verfügbar war, beworfen. Die SP-Politiker_innen verstanden ebenso wenig wie die Bürger_innen, warum Papierhandlungen und Schulen verwüstet und Straßenlaternen zerstört wurden. Die sozialdemokratische Führung hatte den Aufruf zur Kundgebung als Ventil für die Massen, die ihre Wut artikulieren «durften», und als Unterstützung ihrer Parlamentsfraktion gesehen. Die Massen selbst verstanden, dass eine Kundgebung nichts ändern würde, sahen sie sich doch von Anfang an tausenden Ordnungshütern gegenüber, die nur darauf warteten, die Demonstration so rasch wie möglich aufzulösen. Der 17. September 1911 in Neu-Ottakring ist in vielerlei Hinsicht aktuell: Das vertritt eine Gruppierung, die sich «Komitee 1/7. 1911 nennt. Spekulation mit Lebensmitteln und Wohnraum, Überwachung und Unterdrückung seien so wenig Geschichte wie ihre Ursache, die kapitalistische Verwertung – und der Kampf dagegen. Am Samstag, 17. September 2011 lädt das Komitee ein, einige der Brennpunkte des Aufstands von 1911 zu besuchen. Der Treffpunkt: 16 Uhr, Hofferplatz. Ab 18 Uhr gibt es Straßenfest auf diesem Platz (ab 22 Uhr Fortsetzung im B.O.E.M., Koppstraße 26) – zur Erinnerung an die Empörten des Jahres 1911. art.ist.in | Kunst im Dienst von «Pflichterfüllung» und Manneskult: Wilhelm Frass Eine sehr österreichische Karriere Gebrauchskunst und Opportunismus. Manchmal hat man wie in einem besonders bösen Alptraum das völlig aberwitzige und ebenso abstruse Gefühl, der Zweite Weltkrieg sei irgendwie noch gar nicht zu Ende. Beispielsweise wenn an einem 8. Mai – und jährlich grüßt das Murmeltier – am Wiener Heldenplatz wieder einmal Burschenschafter lautstark dafür demonstrieren, den 8. Mai 1945, historisches Datum der Kapitulation Hitler-Deutschlands, nicht als Tag der Befreiung, sondern ganz im Gegenteil als Tag der Niederlage im Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher zu verankern. G erne legen die Ewiggestrigen bei dieser Gelegenheit auch einen Kranz vor der Monumentalfigur des «Toten Kriegers» in der Krypta des Äußeren Burgtores am Rande des Heldenplatzes nieder, und die meisten von ihnen wissen wohl genau, warum. Der «Tote Krieger» wurde 1934 als zentrale Ausstattung des sogenannten «Österreichischen Heldendenkmals» des Ständestaat-Regimes von dem aus St. Pölten stammenden Bildhauer Wilhelm Frass geschaffen, der seit 1933 der NSDAP angehörte. «Er ist als Symbol des Urgedankens des Soldaten gemacht, der in letzter Pflichterfüllung und im innersten Gehorsam, im Herzen die lodernde Flamme der Treue, der Kameradschaft, der Hingebung und des grenzenlosen Opfers, nun in die Ewigkeit eingegangen ist», schrieb Frass in der «Gedenkschrift anlässlich der Weihe des österreichischen Heldenmales». Bei der Aufstellung der tonnenschweren Figur aus rotem Adneter Marmor im Jahr 1934 gelang es dem illegalen Nazi angeblich, ein persönliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus in Form einer Metallhülse mit darin befindlicher Schriftrolle im Sockel zu versenken. Am 20. Dezember 1938 schrieb er an den Kunsthistoriker Karl Hareiter: «Bei allen möglichen Anlässen standen die damaligen hohen Würdenträger der Systemzeit vor der Figur und hatten keine Ahnung (was für mich einigermaßen belustigend war!), dass unter der Figur eine „ ‹hochverräterische› Inschrift liegt. [...] Mit dem Tag – dem 15. März 1938 – an dem der Führer das erstemal den Kranz vor dieser Figur im Heldendenkmal legte, hatte sich mein Wunsch erfüllt.» Diese Mitteilung wurde selbstverständlich auch in den «Völkischen Beobachter» gerückt. Natürlich könnte es auch gut sein, dass Frass nach dem Anschluss mit dieser Geschichte vom nationalsozialistischen Kuckucksei nur angab, um sich bei den neuen Machthabern buchstäblich ins rechte Licht zu rücken, dass also im Fundament des «Toten Kriegers» nichts zu finden wäre außer Beton, aber andererseits würde die Schriftrolle mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus gut zu einem wie ihm passen. Der Sachbearbeiter für Bildhauerei entsorgt «jüdische» Skulpturen Die Landeshauptstadt ist übersät von Werken des GebrauchsBildhauers “ Wilhelm Frass wurde 1886 in einer Dienstwohnung des ehemaligen St. Pöltner Gaswerks in der Kerensstraße geboren, dessen Verwalter sein Vater Alois war. Ab 1904 war er Gasthörer der Wiener Akademie der bildenden Künste. Ab 1905 studierte er an der Allgemeinen Bildhauerschule der Akademie. 1909 erhielt er einen ersten großen Auftrag, nämlich die Gestaltung eines Grabmales am St. Pöltner Hauptfriedhof, und absolvierte ein Einjährig-Freiwilligen-Jahr. Unterbrochen von Waffenübungen studierte er von 1910 bis 1914 abermals an der Akademie. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss er sein Studium ab, wurde 1919 Mitglied der Secession und erhielt vor allem Aufträge für Kriegerdenkmäler und Grabmale. 1924 wurde er mit dem Preis der Stadt Wien, 1928, 1930 und 1933 und 1937 jeweils mit dem Julius-Reich-Künstler-Ehrenpreis ausgezeichnet und 1933 zum Professor ernannt. 1934 avancierte er zum Präsidenten des Künstlerverbandes österreichischer Bildhauer und wurde Mitglied des Kunstbeirates der Stadt Wien. 1936 wurde er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. 1937 bewarb sich Frass mit einer dementsprechenden, dem NS-Geschmack genehmen Arbeit, die – um den Amateurmaler Hitler zu zitieren – «auf die freudigste und innigste Zustimmung der gesunden breiten Masse des Volkes rechnen konnte», für eine Teilnahme an der ersten «Großen Deutschen Kunstausstellung» in München und wurde von einer NS-Jury akzeptiert. Nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich erhielt er einen Posten «als Sachbearbeiter für Bildhauerei» im Wiener Kulturamt. In dieser Schlüsselstellung ließ er in Wien Denkmäler jüdischer Bildhauer beziehungsweise Denkmäler, die jüdische Persönlichkeiten wie etwa den Erfinder Siegfried Marcus ehrten, abtragen und einschmelzen beziehungsweise vernichten. Für Frass und seine nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen war diese Barbarei eine «Entschandelungsaktion des Wiener Stadtbildes». Seit 1939 war er auch Mitglied des Künstlerhauses. 1940 wurde er zum Professor an der Wiener Frauenkunstschule ernannt. 1942 wurde ihm die Große Goldene Ehrenmedaille der Gesellschaft bildender Künstler Wiens zuerkannt. Mit seinem 1939 gehauenen «Anschlussgedenkstein für Wien» feierte er das Ende Österreichs. «Im selben Jahr [...] ‹Die Ostmark›, eine Aktplastik, die dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Joseph Bürckel, von der Wiener Arbeiterschaft zum Geschenk gemacht wurde», berichtete Friedrich Grassegger im Katalog der 1994 im Wiener Künstlerhaus gezeigten Ausstellung «Kunst und Diktatur». Als NS-Bildhauer und brauner Kulturfunktionär war Frass natürlich nicht schlecht im Geschäft, ein Werkverzeichnis nennt für die sieben Jahre des so genannten Tausendjährigen Reiches drei Hitler-Büsten sowie eine nach der Visage des SSlers Skorzeni und je eine Porträt- 303 303 24 Medaille nach dem böhmischen Gefreiten und nach Göring sowie diverse «Hoheitszeichen», sprich repräsentative Hakenkreuze für öffentliche Räume wie etwa den Festsaal des Wiener Rathauses, die Wiener Nordwestbahnhalle und die Eisenwerke Oberdonau in Linz. Nach der Niederlage der Nazis wurde Frass all seiner öffentlichen Funktionen enthoben. «Aus dem grauenhaften Mist der Jahre nach 1945», so Frass im Jahr 1950, gelang dem Herrn Professor aber bald eine sozusagen vierte, schöne Karriere. «Die Zwangsmaßnahmen nach 1945 gegen den erklärten Nationalsozialisten Frass währten nicht lange. Schließlich war er ja als Bildhauer für die Sozialdemokraten der Ersten Republik [...] noch ebenso bekannt wie als Bildhauer für den autoritären Ständestaat. Sehr bald wurden seine Künste zur Ausschmückung von Bauten von der Gemeinde Wien und vom Staat wieder beansprucht», zeigte Grassegger auf. 1956 wurde Frass mit dem Goldenen Lorbeer des Künstlerhauses ausgezeichnet, 1961 zum Ehrenmitglied des Künstlerverbandes österreichischer Bildhauer ernannt. 1961 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 1963 der Ehrenring der Stadt St. Pölten verliehen. Der Katalog der Einzel-Ausstellung «Der Bildhauer Wilhelm Frass» des Kulturamtes der Stadt St. Pölten nannte im Jahr 1963 noch 36 in St. Pölten befindliche Arbeiten Frass'. Der Wendehals starb 1968. Natürlich erhielt er ein Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof. Frass, Frass, Frass – überall in der Landeshauptstadt Kein Bildhauer besetzte je den öffentlichen Raum der nunmehrigen niederösterreichischen Landeshauptstadt stärker als Wilhelm Frass. Der Großteil seines St. Pöltner Werkes besteht aus heroischen Denkmälern, figuralem Grabschmuck und Herrenporträts von Honoratioren, alles in allem höchst angepasste Gebrauchskunst um Krieg, Tod und allerlei Manneskult. Wo seine Figuren namenlos bleiben, herrschen athletische, nackte, überlebensgroße Männerkörper in seltsam gekünstelten Posen vor. Der Rest ist zuweilen auch unverhohlener Kitsch voll unbeholfener Erotik wie etwa ein weiblicher Sandstein-Torso im Stadt- beziehungsweise Sparkassenpark. St. Pölten ist wie keine andere Stadt in Österreich geradezu übersät von den mediokren Arbeiten des Gebrauchskünstlers | art.ist.in Frass. Zwei am zentralen Rathausplatz, eines in der Hauptgeschäftsstraße, der Kremser Gasse, das städtische Kriegerdenkmal auf der Hofstatt, zwei Arbeiten im Stadt- bzw. Sparkassenpark und zig Grabdenkmäler am städtischen Hauptfriedhof, ein Teil der Ausstattung der Rosenkranzkapelle des Domes, zwei Denkmäler für verdiente Bürgermeister am Rande der historischen Innenstadt, von den Außenbezirken ganz zu schweigen. «So ist dieser Künstler in seinem Werke wie kaum ein anderer mit St. Pölten verbunden geblieben. Der Großteil des plastischen Schmuckes, der hier in den letzten Jahrzehnten geschaffen wurde, stammt von seiner Meisterhand», stellte der St. Pöltner Kulturamtsleiter Karl Gutkas 1963 fest. Bis heute ist an einem Wohnhaus in der St. Pöltner Josefstraße auf dem Frass-Relief «Zeitenlauf» die Figur eines SS-Mannes in voller Montur und eine höchst mangelhaft entfernte SS-Rune zu sehen. Immerhin wurde die Inschrift «Des Reiches Macht schützt die Grenzen und führet die Brüder heim ins Reich 1939 1940» nach Kriegsende abgeschlagen. Von Fritz Wotruba gibt es gar keine Arbeit in St. Pölten zu sehen. Noch mehr als der öffentliche Raum der niederösterreichischen Landeshauptstadt sind die Depots des St. Pöltner Stadtmuseums geradezu überfüllt mit den Arbeiten Wilhelm Frass', der Ende 1966 die Bestände seines Wiener Ateliers der Stadt zum Geschenk machte. Der St. Pöltner Gemeinderat dankte es ihm – wohl auf Vorschlag des damaligen Kulturamtsleiters und Stadtmuseumsdirektors Karl Gutkas – kaum drei Jahre später mit der Benennung einer Wilhelm-FrassGasse im Stadtteil Spratzern. Eine kleine Führung durch das «Horrorkabinett» Im hintersten Winkel des Depotkellers des St. Pöltner Stadtmuseums, das in einem von Joseph II. aufgehobenen Karmeliterinnen-Kloster im Stadtzentrum untergebracht ist, lagert in drei Meter hohen Teilen das Gipsmodell von Wilhelm Frass' monumentaler Aktplastik «Die Ostmark». Hinter einer riesigen, verstaubten, dunkelvioletten Begräbnis-Prunkdecke, die als Vorhang dient und dereinst einmal wohl eine Pompesfüneberer-Kutsche zierte, ist auch das Gipsmodell für Frass' 1942 geschaffenes Denkmal «Der gute Kamerad» – die üblichen nackten, muskulösen Männer mit Stahlhelm und Schwert – sowie weitere gipserne Rudimente des Frass’schen Schaffens für die Nazis zu finden. «Mein Horrorkabinett» nennt Stadtmuseumsleiter Thomas Pulle diesen Kellerraum. Wie viele Quadratmeter der ohnehin knappen Depotfläche des Stadtmuseums Frass mit seinem Nachlass okkupiert, vermag er nicht anzugeben. In den letzten 20, 25 Jahren hat man jedenfalls nur einen monumentalen Gipsadler, Teil der Plastik «Die Ostmark», als Beispiel für ein nationalsozialistisches Macht- und Herrschaftszeichen ausgestellt. Der Frass’sche Adler blickt übrigens noch tausend Mal grimmiger als Sam, der amerikanische (Weißkopf-)Seeadler, aus der Muppet Show. «An sich wäre es ein reichhaltiger, bisher weitgehend unbearbeiteter Künstlernachlass für eine akademische Abschlussarbeit, aber wer will sich schon länger damit beschäftigen? 25 Der Nachlass von Wilhelm Frass im St. Pöltner Stadtmuseum Text und Fotos: Manfred Wieninger art.ist.in | 303 303 26 | art.ist.in 27 Der Wallander-Macher als Afrika-Lobbyist und vagabundierender Theatermann Mankells steirisches Intermezzo Die Abenteuer des Kommissars Wallander, des vielleicht introvertiertesten Krimihelden der zeit- genössischen Literatur, machten dessen Erfinder, den Schweden Henning Mankell, zu einer globalen Figur. International ins Gerede gekommen ist er außerdem durch seine Konfrontation mit der israelischen Armee vor der Küste Gazas. Dass er in Afrika ein Theater leitet, ist weit weniger bekannt. Und dass seine Freundschaft mit dem Fenster- und Türen-Unternehmer Gaulhofer heuer auch zu einer Theaterproduktion in Österreich führte, ist nur an einem Punkt der Welt ein allgemein bekanntes Faktum: in der steirischen Gemeinde Übelbach. I n Maputo, der Hauptstadt Mosambiks, leitet Mankell ehrenamtlich das Teatro Avenida, das einzige professionelle Theater in Mosambik überhaupt, das 1984 von Manuela Soeiro gegründet wurde. Durch Mankell wurde es international bekannt, und seither reisen die Schauspieler des Teatro Avenida für Gastspiele und Ko-Produktionen um die Welt. 2003 wurde Mankell vom Schauspielhaus Graz eingeladen, wo er das Stück «Butterfly Blues» inszenierte, das er eigens für das Kulturhauptstadtjahr geschrieben hatte. Darin erzählt Mankell die Geschichte von jungen afrikanischen Frauen, die mit großen Träumen die gefährliche Reise nach Europa antreten und in den Fängen der Prostitution landen. Acht Jahre später schrieb Henning Mankell erneut ein Theaterstück für die Steiermark. Diesmal mit weitaus weniger drastischem Inhalt: ein verspielt-unterhaltsames Episodenstück, das die Ankunft eines afrikanischen Ehepaars in Graz thematisiert und nicht umsonst an die biblische Herbergssuche erinnert. Mankell hat das Stück für den mit ihm befreundeten Fenster- und Türen-Fabrikanten Manfred Gaulhofer verfasst. In der 2000-Seelen-Gemeinde Übelbach bei Graz ist Gaulhofers Fabrik ansässig, die auch als Theater-Spielstätte diente. Fenster und vor allem Türen spielen eine zentrale Rolle in dem schwungvollen Stück mit dem Titel «Doors», das in erster Linie durch das Mitwirken von sieben Gaulhofer-Mitarbeitern zu einem Theatererlebnis der ganz besonderen Art wurde. Fabriksarbeiter, die normalerweise Fenster und Türen fertigen, standen plötzlich als Laiendarsteller auf der Bühne, schlüpften in die unterschiedlichsten Rollen (sie stellten alle Charaktere dar, auf die das Paar aus Afrika während ihrer Reise trifft – Polizisten, Nachbarn, verunsicherte Rentner etc.) und vollzogen eine künstlerische Symbiose zwischen der Steiermark und Mosambik. Das Ehepaar aus Afrika wurde von den Schauspielern Lucrecia Paco und Jorge Vaz dargestellt – beide Ensemble-Mitglieder des Teatro Avenida. Henning Mankell erzählte im Vorfeld bei einer Veranstaltung im Grazer Literaturhaus über das Stück: «Als ich das erste Mal von dieser Idee hörte, dass professionelle Schauspieler aus Afrika gemeinsam mit professionellen Tür- und Fenster-Herstellern Theater machen sollten, dachte ich mir, dass das eine wundervolle Herausforderung werden würde. Etwas noch nie Dagewesenes, das wir unbedingt machen sollten.» Als Regisseur für dieses Experiment wählte Mankell seinen ehemaligen Regie-Assistenten Dominique Schnizer, den er 2003 bei «Butterfly Blues» in Graz kennen- und schätzen gelernt hat. Inzwischen hat er ihn in sein Theater in Maputo eingeladen Kern-Botschaft und Schlusssatz von Mankells Stück «Doors»: Afrikaner sterben nicht nur, sie leben auch – und wir Europäer sollen endlich einen Blick auf dieses lebendige Afrika werfen. Die mediale Afrika-Berichterstattung ist Mankell also zu einseitig, weshalb er selbst immer wieder bemüht ist, durch seine Theaterstücke und Nicht-Wallander-Romane ein realistischeres Afrika-Bild herzustellen. Zumindest in Übelbach sind erste Erfolge dahingehend sichtbar geworden. Wer das Stück in der Gaulhofer-Lagerhalle gesehen, das Spiel der Laiendarsteller aus der Fabrik mit den Profis aus Afrika sowie die Reaktionen des begeisterten Publikums erlebt hat, wird etwaige Bedenken, der Firma Gaulhofer sei es bei dem Theater-Projekt nur um eine gute Presse gegangen, suspendieren. Nur Dumme nehmen sich keine Zeit Europa habe Afrikas traditionelle Strukturen zerschlagen, um Afrika auszubeuten, und es dadurch künstlich arm gemacht, kritisierte Mankell vor wenigen Wochen in einem voll besetzten Hörsaal der Uni Tübringen. Diese Strukturen wieder aufzubauen brauche viel Zeit, brauche afrikanische Geduld statt europäischer Hochgeschwindigkeit. Mankell erinnerte an eine afrikanische Weisheit: «Nur dumme Menschen nehmen sich für Entscheidungen nicht genügend Zeit.» Im Zusammenhang mit der aktuellen Hungersnot in Nordostafrika und vor dem Hintergrund des Bildes «Kekse aus dem Westen für die Sterbenden» ist Mankells Vorschlag revolutionär: Die wichtigste Unterstützung, die Afrika brauche, bestünde darin, den Bevölkerungen zu helfen, die Rohstoffe selbst zu verarbeiten. Henning Mankel unterstützt auch Christoph Schlingensiefs Vision eines «Operndorfes» in Burkina Faso. Schlingensief hatte, kurz vor seinem Tod, Mankell bei der Berlinale kennengelernt, weil sie beide in der Jury saßen. «Eine wunderbare und zugleich absolut verrückte Idee», das wusste Mankell sofort: «Und weil die Idee verrückt ist, ist sie eben so wundervoll. Schlingensief kommt nicht einfach aus Deutschland hierher mit einer deutschen Oper im Gepäck. Nein, er kommt hierher, um den Menschen hier ihr eigenes Festspielhaus zu ermöglichen, das sie dann selbst mit Leben füllen.» Das Operndorf entsteht in der Nähe von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso – mit Schule, Krankenstation, einer Theaterbühne, einer Cafeteria und Unterkünften für die Künstler_innen, gebaut um einen felsigen Hügel, von dem aus man einen weiten Blick über die trockene Savannenlandschaft hat. Aino Laberenz, die Witwe, will aus der «verrückten Idee» Realität machen. Für Mankell sind solche Projekte auch wichtig, um den «Brain Drain» zu stoppen, das permamente Aufsaugen des professionellen und intellektuellen Potenzials Afrikas durch Europa. In einem Interview erläuterte er die Folgen dieses Sogs: «Nehmen Sie das Beispiel von Krankenschwestern, die in den ärmsten Staaten Afrikas angelernt werden. Sie wandern nach Europa aus, um in unseren Krankenhäusern zu arbeiten. Die afrikanischen Länder bleiben auf ihren Ausbildungskosten sitzen. Außerdem fehlen ihnen diese Kräfte zu Hause. Ein Zustand, der sich in den kommenden Jahren noch verschärfen könnte. Genauso gibt es übrigens keinen Grund, warum es allein in Manchester mehr malawische Ärzte geben soll als in Malawi selbst. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Wir müssen etwas gegen diesen versteckten Kolonialismus unternehmen!» Wo Mankell die Fratze der Apartheit sieht … Viele mögliche Verbündete im Kampf gegen den Neokolonialismus hat Mankell vergrämt mit seinem Engagement für die Gaza-Solidaritätsflotte und seinem Apartheids-Vorwurf gegen den israelischen Saat. «Die Verbindung zwischen Afrika und Palästina ist für mich das Apartheidsystem, das die Israelis errichtet haben. Ich habe in Südafrika erlebt, wie dieses monströse System untergegangen ist. In Israel ist dieses Monster in neuer Form auferstanden. Palästinenser sind Bürger zweiter Klasse. Sehe ich die Fratze dieser Apartheid, muss ich tun, was ich kann, um sie zu zerstören«, sagte Mankell in einem «Spiegel»-Interview. Und zum Beweis dafür, dass das Gerede von der «offenen Gesellschaft» in Israel Schmarrn sei: «Ich war auf dem palästinensischen Literaturfestival in Hebron. Ich sollte bei der Eröffnungsveranstaltung im Palästinensischen Nationaltheater in Jerusalem sprechen. Als wir anfangen wollten, öffnete sich die Tür und israelisches Militär sprengte die Feier. Ich fragte nach dem Grund, und mir wurde gesagt, ich sei ein Sicherheitsrisiko. Ich, ein Schriftsteller, sagte ich? Ich sei hier, um über Kultur zu reden. Keine Diskussion, war die Antwort, die Feier war vorbei.» Text & Foto: Michael Lippitsch Henning Mankell in der Gemeinde Übelbach (kein schlechter Name für den Aufenthaltsort eines Kriminalromanschreibers) 303 28 art.ist.in | magazin | art.ist.in Musikarbeiter unterwegs … mit den Happy Kids in den Garagen-Rock-Heaven The Happy Kids heißt ein seit knapp zwei Jahren aktives Duo, dessen Musik mit seiner stilbewussten Trash-Ästhetik im Wiener Popwunder eine besondere Position einnimmt. Play Their Own Songs Gegründet wurden The Happy Kids im Frühling 2009 ursprünglich nur für Foto: Mario Lang A na Threat (Gitarre, Glockenspiel, Thelephone & …) und Al Bird Dirt (Organs, Telephone) schlagen für den Augustin-Termin das Café mit dem urzeitlich konnotierten Namen vor. Ohne jetzt den Neandertaler_innen selig nahetreten zu wollen evozieren diese eine Assoziation zu gepflegter Primitivität, die der Musik des Duos – mit den Beats ihres treuen, aber interviewscheuen dritten Mitglieds A Tapedeck, der für die Beats sorgt – nicht fremd ist. Das Café, das sich menschheitsgeschichtliches Bewusstsein über den Eingang schreibt, liegt unweit von Lager und Büros der Firma Hoanzl, die einige der auf 300 Stück limitierten Vinyl-Langsspielplatte von The Happy Kids an den Fachhandel ausliefern wird. (Per E-Mail lässt mich Al Bird wissen, dass die LP parallel beim Grazer Kassettenlabel (!) Wilhelm Show Me The Major Label in einer 100-Stück-Auflage erscheint.) Im Café Neandertal sind die Reste eines nachmittäglichen Flohmarkts zu sehen. Auf unserem Tisch ein Stapel Singles, der Musikarbeiter gambelt später eine Euro-Münze für eine von Springsteen, wegen der B-Seite. Bei der zweiten Runde sind wir schon so weit eingemeindet, dass wir uns das exakt richtig gekühlte Bier selbst aus dem Kühlschrank holen. Der Wirt passt währenddessen hinter der Buddel auf die Stammgäste und die ausgezeichnete Musik – wenn das nicht die leibhaftigen Los Lobos sind?! – auf. Ein totaler Musik-Hotspot, dieses Café Neandertal, in dem unser Gespräch ausgehend vom The-Happy-Kids-Universum aufs Prächtigste mäandern kann. Genau, die Musik ist nämlich überall. einen Gig, der im Juli dann so gut ausfiel, mit so gutem Response, dass die beiden sagten: «Wir machen weiter.» The Happy Kids sind dabei zu einem Fokus der Aktivitäten der beiden geworden. Sie fungieren als Gastgeber_innen ihres eigenen Clubs, betreiben ein Label, auf dem demnächst ein Soloalbum von Ana Threat erscheint und kulminieren dazu umfangreiches essenzielles Wissen – sie schwärmen von einem unlängst entdeckten Laden, in dem sich Ana mit Schellacks eingedeckt hat – über entlegenere Musik. Wir streifen beim Reden die Slaves, österreichische Garagenbands mit prominenten Jazzern in ihren Reihen und solche, die keine Ahnung davon haben, wie großartig das war, was sie damals gemacht haben, die Dead Nittels und die Rasenden Leichenbeschauer. Ihr eigener Sound schöpft aus Referenzen an Bands wie die Angry Samoans, Beat Happening, die Cramps, Devo oder die Shangri-Las, die sie allesamt gecovert haben. Al Bird, mit ungarischen Wurzeln, betrieb früher seinerseits eine One-Man-Band, Ana, mit Linzer Wurzeln, spielte unter richtigem Namen vor Jahren in einer Hardcore/Noise-Band. Könnte mensch vieles, was sich aktuell in der goldenen Wiener Stadt popmusikalisch tut, als ökonomisch motiviert sehen – nicht zuletzt subventionstechnisch wird versucht, einen Wirtschaftssektor hochzuziehen, dessen Unternehmensgegenstand zufällig Musik ist –, geht es hier um selbstbestimmte (Aufnahme-) Ästhetiken, nicht reproduzierbare (Live-) Momente, Ideen und subkulturelle Querverbindungen, ohne dass The Happy Kids dabei den öden Song von der Selbstausbeutung in ihre Telefone vokalisieren müssen oder möchten. «Wir reden viel darüber», halten The Happy Kids über ihre Musik fest und erzählen von ausufernden ProbeSessions, die die Mitbenutzer ihres Proberaums schon stutzig machten. Die LP, erschienen auf einem holländischen Label, sollte eben nicht 16 x die erste Single der Band reproduzieren – tut sie auch nicht. Sie spiegelt das Selbstbewusstsein der Happy Kids wieder, die sich schnell Liveroutine mit Gigs über Wien hinaus erspielt haben – eine solch schlanke Band-Struktur kommt The Happy Kids vor selbst mit einem PKW oder Zug rasch hedem neuen Musikrum –, und ihr spezielles Popverständnis. Hotspot Weil bei allem Trash, bei aller Liebe zu krachigen, schiefen Sounds hören sich «I Need Your Love», «Up Jumped The Devil», «Seven Are The Horns Of Satan» oder «Kitty Kitty Kitty» endlich mal wieder wie die Hits einer besseren, anderen Welt an, in der nicht alles so aalglatt, kapitalistisch beschissen und berechenbar ist. Garagenrock aus der globalen Garage, in der die Autos längst über die Klippen gefahren wurden, nicht ohne dass vorher mit dem Happy-KidsTape Mainstream-Rock à la Bon Jovi ein The Happy Kids: «Play Their für allemal in die Abgründe des schlechten Own Songs» (Greyp As-T Geschmacks verdammt wurde. Ein lebendiRecords) ges, vor Leidenschaft und Eigensinn strothttp://thehappykids200. zendes Stück Vinyl – Abgabe nur in Hausbandcamp.com www.trashrockproductions. haltsmengen, weil diese Musik muss unter com die Menschen, nicht unter die Sammler! – mit dem sich prächtig Railjet-Bistros zerlegen lassen. Viva Los Happy Kids! Rainer Krispel B ibliotick Unsere Republik von links beschrieben K arls K abinett D Donaustädter Kulturfestival eröffnet mutig Zwei Berger und eine Monsterfrau «e in echter wiener will halt hint sein, / und nur mit vorbehalt die welt verstehn» heißt es im Refrain vom «wienerlied für sehenden bariton und blinden bass» aus der Feder Joe Bergers. Obwohl in Kaltenleutgeben geboren und zum Chemiker ausgebildet, zählte Berger (1939– 1991) über Jahrzehnte hinweg zu den originellsten Vertreter_innen der Wiener Literaturszene, wobei Wolfgang Bauer einschränkend festhält, dass Berger der bedeutendste nicht schreibende Literat sei, den er kenne, wenn man eben Literatur nicht bloß als ein manuell schreibendes, druckendes Denken oder gar als ein aus Angst vor der Unfähigkeit zur Philosophie gewachsenes eitles pseudokünstlerisches Handwerk definiere. Selbstredend, dass einem Künstler, der Titel wie «Literarische Kraftnahrung» oder «Plädoyer für den Alkohol» veröffentlichte, eine größere Aufmerksamkeit verwehrt blieb. Da halfen auch Auftritte als Schauspieler in Quotenhits wie «Tatort» oder «Ein echter Wiener geht nicht unter» herzlich wenig. Umso erfreulicher, dass das Donaustädter Kulturfestival «Auf zu neuen Ufern» mit Texten dieses Underdogs eröffnet wird. Die «Märchen der Satten und Irren» des Joe Berger wird ein anderer Berger lesen, u. z. der Schauspieler Helmut Berger. Nicht nur wegen der Namensvetternschaft eine Die «Monsterfrau» gastiert in der VHS hervorragende Besetzung! Donaustadt! Auch der zweite Programmteil des Eröffnungsabends verspricht unter den Beats von Sascha Neueine künstlerische Kraftnahrung, deck und den Visuals von Susanwenn die «Monsterfrau», die Diva ne Schuda in der Volkshochschuder «Underground Opera», erwar- le Donaustadt ordentlich krachen tungsgemäß mit riesigem Phal- lassen wird. lus die Bühne betreten wird. Für reisch diese Electro-Noise-Trash-Oper entwickelte die Performerin Lena «Auf zu neuen Ufern II» Wicke-Aengenheyster (u. a. En- Eröffnung am 2. September um 19 Uhr gagement beim theatercombinat) VHS Donaustadt ein Mischwesen aus heroischen Bernoullistraße 1, 1220 Wien Figuren der Mythologie, das es Freier Eintritt Foto: Stephan Doleschal Trash-Rock-Frenzy im Café Neandertal! 29 er Fall der Familie Zogaj, der im Juni 2010 für einen vorläufigen Höhepunkt an öffentlicher Empörung gesorgt habe, sei Auslöser für ihre Themenwahl gewesen, schreiben die Organisatoren der Lesereihe «Linkes Wort», die alljährlich im Rahmen des Volksstimmefestes auf der Jesuitenwiese abgehalten wird. Seit 2008 sind dafür Roman Gutsch und Christoph Kepplinger verantwortlich, die ihre Arbeit aber nicht auf die Durchführung des Literaturprogramms beschränken, sondern als Fleißaufgabe eine Anthologie zum «Linken Wort» herausgeben. Schon der Titel zeigt, wo es lang geht: Mit «Abgeschoben. Rassismusrepublik Österreich» nehmen sich weder die Herausgeber noch der Großteil der 27 in diesem Band versammelten Autor_innen ein Blatt vor den Mund, auch wenn mitunter nur mit gutem Willen ein Bezug zum vorgegebenen Thema zu finden ist. Irritierend ist auch das Mitwirken von Marlene Streeruwitz. Einerseits ist es ihr anzurechnen, als namhafte Autorin dem «Linken Wort» aktiv beizuwohnen, andererseits ist die Koketterie, einen ultrakurzen Text, der nicht einmal eine halbe Seite füllt, zu bringen, nicht nachvollziehbar. Mehr Einsatz zeigten beispielsweise Hilde Schmölzer oder Dieter Schrage. Schmölzer arbeitete in einem Kurzessay Parallelen zwischen Sexismus und Rassismus heraus, hingegen setzte der erst vor wenigen Wochen verstorbene Kunstvermittler auf eine andere Textsorte, u. z. auf den autobiografischen Text: dem ehemaligen deutschen Staatsbürger Schrage drohte samt Familie in Österreich die Abschiebung! Und nicht zu vergessen, das politische Schreiben jüngerer Jahrgänge wie Benjamin Turecek, Florian Haderer, Angéla Korb oder Lale Rodgarkia-Dara. Hier sind die Autorinnen zuletzt angeführt, doch beim «Linken Wort 2011» wird nur ihnen die Bühne gehören, denn es heißt: FRAUEN: TEXTEN | FRAUEN: LESEN (am 3. und 4. 9., jeweils 16–18 Uhr, 7*Stern-Bühne). reisch Roman Gutsch, Christoph Kepplinger (Hg.) «Abgeschoben. Rassismusrepublik Österreich» Globus Verlag, Wien 2011 135 S., € 12,– | dichter innenteil Aufg'legt Sandwich-Feeling für den gelockten Herzensbrecher Nicolas in Xavier Dolans neuestem Film Foto: Waystone Film Wohin … ein Gedankenschweifer durch die Stadt Xavier Dolan versteckt selbstironische Leckerbissen direkt unter der Oberfläche Die Liebe ist ein seltsames Spiel M arie (Monia Chokri) und Francis (Xavier Dolan) sind hin und weg. Sie, ungestüm, weiblich – er, ruhig, schwul, verlieben sich beide Hals über Kopf in den süßen blonden Lockenkopf Nicolas (Niels Schneider). Die bis dahin innige Freundschaft der adorablen Hipsters aus der Montrealer Partyszene kommt auf den Prüfstand. Als sie sich die umfangreiche Fifties-Outfits-Garderobe durchstöbernd gegenseitig zusichern, dass Nick der Typ keines von beiden sei, hat der Konkurrenzkampf in Sachen Liebe längst begonnen. Während Marie optisch zu einer Art Audrey Hepburn mutiert, versucht Francis es mit teuren Geschenken. Beim Trip in die kanadische Pampa laufen die beiden (ins Konzept Liebe) Verliebten zur Höchstform auf. Geschickt durchbricht der als Regiewunderkind gefeierte Xavier Dolan mit In-die-Kamera-Statements «gebrochener Herzen», die als Videoclips verpackten Szenen einer Liebesgeschichte, die so oberflächlich wie «imaginaire» ist. «Diese Leute träumen von einer sehr konzeptuellen Liebe», meint Xavier Dolan, der den verschlossenen JamesDean-Blick verhangenen Francis selbst gibt, «es gibt keine Tiefe – sie sind durch die Augen eines schönen Mannes regelrecht in sich verliebt. Und es wäre großartig, wenn er sie lieben könnte. Das ist es, worum es hier geht». Die beiden Protagonist_innen wählen ein unmögliches Ziel, um sich nicht auf etwas Wirkliches einlassen zu müssen. Sie sind sehr romantisch, doch der Grund dafür, dass es keine Tränen gibt, ist letztlich, dass diese Liebe sehr banal ist. Xavier Dolan, der mit 17 sein erstes Drehbuch schrieb, es mit 19 verfilmte und damit («J’ai tué ma mère»/I Killed My Mother) 2009 in Cannes in der Quinzaine drei von drei möglichen Preisen und elf weitere kanadische und internationale Filmpreise gewann, schrieb das Drehbuch zu «Herzensbrecher» quasi nebenbei im Zug zum Filmfestival Toronto, nachdem er kurz nach einem Roadtrip mit seinen Freunden Niels und Monia erfahren hatte, dass sein nächstes Filmprojekt abgesagt wurde. «Les amours imaginaire» (Originaltitel) ist preisgekrönt frisches Kino aus Kanada. DH Ab 9. 9. im Topkino VOLLE KONZENTRATION Das Volxkino hat den längsten Atem: Wenn schon alle Freiluft-Som- merkinos ihre Leinwände und Projektoren eingewindert haben, zieht das Wanderkino noch wochenlang durch die Stadt. Heuer bis zum 16. September, und die Schlussvorstellung wird «Schwarzkopf» im Auer-WelsbachPark geben (auch bereits am 3. 9. im Alois-Drasche-Park). Mit dieser Dokumentation tauchte Arman T. Riahi in die heimische Rap-Szene ein und heftete sich vor allem an die Ferse des iranischstämmigen Musikers Nazar. Programm unter: www.volxkino.at (Alle Vorstellungen sind gratis) Ein feiner Mischmasch aus Kunst und Theorie steht auf dem Programm der «Verbale 2». Dieses vom Maler Herbert Fuchs konzipierte Festival wurde erstmals 2007 in Tirol veranstaltet. Vier Jahre später folgt nun die zweite Auflage, die neben Tirol auch Wien als Festivalort anführen kann. Die zentrale Station in der Bundeshauptstadt ist das Palais Kabelwerk in Meidling, doch auch Dependancen wie der Kunstraum Bernsteiner oder die Galerie Konzett sind mit von der Partie. Neben Filmen, bildender Kunst und einer Menge Musik stehen auch Vorträge mit verlockenden Titeln wie «Die Freundschaft von Kunst und Philosophie» (Marcus Steinweg) oder «Einiges quer durch» (Ferdinand Schmatz) auf dem Programm. 26.–28. 8. Oswaldgasse 35A, 1120 Wien www.palaiskabelwerk.at Unabhängiger Musikjournalismus wird zunehmend untergraben, halten Nina Polaschegg (ORF, SWR u. a.) und Andreas Fellinger (Hg. des Musikmagazins «freiStil») in einer Aussendung fest: «Viele von ihnen (den Medien, Anm.) leisten den Zensurversuchen kommerzieller Veranstalter fröhlich Vorschub. An die Stelle von unabhängigem Journalismus treten immer häufiger sogenannte Medienpartnerschaften. Sie propagieren ‹Partnerschaft›-Veranstaltungen und rezensieren sie in längst vergangen geglaubter Hofberichterstattung. In diese Malaise passen auch die Bestechungsversuche diverser Plattenfirmen, die ihre Inserate von der Publikation von Artikeln über ‹ihre› Künstler abhängig machen.» RONNIE ROCKET SUPERSTAR «20th Century Hits» (CD) RONNIE ROCKET & THE SUBCANDIES «Fire Waves» (CD) (Monkey Music) www.ronnierocket.at Ronald Iraschek, Ronnie Urini, oder Ronnie Rocket, wie auch immer, war der Rockmusik schon immer einen Schritt voraus. Urini oder Rocket – nennen wir ihn der Einfachheit halber «R.» – hat Rammstein erfunden, wo es noch nicht einmal die DDR-Vorgängerband (Feeling B) gegeben hat. Großes Dark-NewWave-Kindertheater. Man mag von «R.» halten, was man will, es werden auch garstige Sachen über ihn kolportiert, dennoch hat keiner den 80er-Untergrund so lustvoll geprägt wie er: Legendäre U4-Auftritte, bestes RayBan-Model österreichweit, altes Chelsea-Urgestein. Stellen Sie sich vor: Ein Gassenlokal (Chelsea Mark 1/Piaristengasse), finster wie in einem A...loch, große Sonnenbrille, mindestens 75 % Abdunklung, dahinter «R.» die Bar stützend. Peinlich? Woher denn. Urcool! Und dann die Musik: «The Frozen Seas Of Io», «Niemand hilft mir», «Konrad Bayer Is Dead», ... großartig! Und auch die Fremd(mit)arbeiter (lt. Booklet) auf diesem Sammelsurium können sich sehen lassen: Miles Davis, Nico, Mars Bonfire ... Apropos Booklet, die Jahreszahlen hinter den Songs sind allesamt geflunkert. Möglicherweise war «R.» bereits 1960 im realen Leben ein «Mädchenschreck», der Song gemeinsam mit den «letzten Poeten» stammt natürlich aus den frühen 80er-Jahren. Aber wer wird denn so kleinlich sein und sich an Zahlen und Namen stoßen. Selten war Realität und Dichtung so verschwommen. Egal. «R.» ist ein Original, und da verwischen Grenzen eben. Was allerdings fehlt aus «R.’s» Superstar-Jahren, sind seine Episoden mit «The Vogue», «Dirt Shit» oder der «Rucki Zucki Palmencombo». Stattdessen gibt es neues Superstarfutter gemeinsam mit den Subcandies. «Fires Waves» heißt das aktuelle Werk, und wer den alten «R.» (Urini) gemocht hat, wird sich auch für den neuen «R.» (Rocket-)Sympathien abringen können. Aber wie meint er gleich zu Beginn: «The heroes are tired, they wanna go to bed / the party is over, striktly no fun / ...» Superstar-Rente? Geh, bleib noch ein bisserl! lama E in Kaffee nach dem andern, eine Leichtigkeit des Seins folgt auf die nächste. Jetzt wo die Tage länger werden, ist auch mehr Koffein an der Tagesordnung. Denn aus dem Boden sprießende Gastgärten füllen sich schließlich nicht von selbst. Also, Hawaii-Hemd aufgeknöpft, Brusthaare nicht epiliert, unmöglich gekrümmte Sonnenbrille aufgesetzt und ab geht’s auf die Hilfa … oder ins MQ zu den Pseudointellektuellen. Zwischen Kunsthistorischem und Naturhistorischem Museum darf man nicht auf der Wiese liegen, aber da bringt einem sowieso keiner Häferlkaffee. Wohin nur hmm … Die Hilfa wär schon was. Zuerst «shoppen» und dann Cheeseburger fressen gehen. So viele Franchisenehmer eines Lebenskonzeptes auf einer Stelle … Dumdidum. Oder doch die Arschbar aufsuchen? Bin heute so ungezügelt liederlich aufgelegt. Dort kann man als Godzilla oder Dr. Frank-N-Furter verkleidet auftauchen, ohne schief angesehen zu werden. Hauptsache man hat eine urbane Weisheit auf den Lippen. Asooo, Arschbar gibt’s nimma! Man bekommt nur einmal im Leben eine Chance, sich Würstl und Bier durch einen gewaltigen Schließmuskel zu bestellen und anschließend serviert zu bekommen. Und die habt ihr wohl leider verpasst. Ich habs schon hintern mir … Eigentlich sollt ich aber ins Hawelka meinen Schal zurückfladern gehen. Meine Sorgen metastasieren, nichts kann sie aufhalten. «GRÜSS GOTT, BITTESCHÖN?», explodiert die Bäckereiverkäuferin jedes Mal, wenn ein Kunde zur Theke kommt. Auf meinem Eckplatz sitzend zermalme ich vor Schreck schon den vierten Kugelschreiber. Der gerade angesprochene Dandy lässt schockiert seinen Spazierstock fallen, welcher laut gegen den Boden knallt und fast eine herumstolzierende Taube erschlägt. Vor ihm kam schon ein anderer Herr in den Geschmack dieser warmen Begrüßung. Als dieser andere beim Verlassen der Bäckerei das laute Aufprallen des Spazierstockgriffes hört, entfernt er sich noch schneller als zuvor und streicht sich kurz vor dem Erreichen der anderen Straßenseite verstört die Haare zurecht. Eine Punkerin steht barfüßig in der Türschwelle und blickt in die Ferne … Wahrscheinlich bleib ich lieber, wo ich bin, beim Bäcker am Praterstern. Wo ich immer zu früh dran bin, um mir die verbilligte Bäcker-Jause zu gönnen. Wo nicht fern von meinem Platz wild verkostet wird. In der Früh geht’s hier ganz besonders ab. Wenn die ersten Rotwein-Tetrapaks entkorkt werden und die Wodka-Zombies aufmarschieren … Runter mit dem Kaffee, im Bahnhof am Ende des Universums. Jakub Veverka 31 DICHTER INNENTEIL magazin art.ist.in | 303 30 dichter innenteil | 303 303 32 | dichter innenteil 33 Wohngemeinschaft gesucht! Dass man ein Piefke – obendrein auch noch ein Ostpiefke – ist, kommt bei der Wohnungssuche erschwerend hinzu. Der zwar zu Hause eine schmucke Eigentumswohnung besitzt, diese aber in Ermangelung ausreichender Verdienstmöglichkeiten dort leider unmöglich abstottern kann. Führungsriege verwandt oder verschwägert ist, muss eben versuchen, anderswo Arbeit zu finden. Es sei denn, man teilt mit diesen ein möglichst ausgefallenes Hobby oder wurde zum Vorstandsvorsitzenden irgendeines Traditionsvereins gewählt, die in ostdeutschen Dörfern nicht erst seit gestern wie Pilze aus dem Boden schießen. Und speziell dort, wo der Ostpiefke bis kürzlich wohnte, gibt es inzwischen sogar schon wieder einen gemeinsamen Feind. Aber weil man beim Plaudern aus dem Nähkästchen Namen lieber nicht nennt, sei dieser hier vorsichtshalber verschwiegen. Der Mitgliederschwund innerhalb dieser nicht genannten Großfamilie war jedenfalls bis Mitte der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts derart enorm, dass man sich wundert, worauf solche Antipathien eigentlich diesmal beruhen. Aber irgendwer muss schließlich an der kontinuierlichen Gesamtrezession schuld sein … Die Wahrheit ist ein schleichender Prozess, so dass erst allmählich zutage tritt, wie perfide das ostdeutsche System teilweise war. Nach harmlosen Komödien à la Thomas Brussig erfährt man inzwischen auch, wie raffiniert das Leben der Anderen von den Staatsorganen zerstört werden konnte, was manch ambitionierten Künstler bis in den Selbstmord trieb. Dazu musste man sich unter Umständen bloß in die richtige Frau verlieben. Oder mit den falschen Freunden einlassen. Manch einer hatte auch einfach bloß Pech und geriet, wie der Pro tagonist aus Tellkamps Turm, nach Schwedt, von wo niemand als derjenige zurückkehrte, als der er dorthin gelangte. Vom Autor aus Dresden ist obendrein zu erfahren, dass es selbst in der früheren DDR so etwas wie eine Aristokratie gab, deren Wissen leider nicht immer zum Wohle des Volkes Verwendung fand. Und wie es momentan aussieht, ging manches davon mit dem Eisernen Vorhang leider nicht für immer verloren. Namentlich auch, was an psychologisch oder sozialen Fallstricken aufzubieten war, wenn es darum ging, missliebigen Existenzen mit jedem erdenklichen Stein den Lebensweg zu verbauen. Und dabei schreckt man leider vor gar nichts zurück. Nicht wenige junge Frauen wissen darüber Klagelieder zu singen. Und zwar auch speziell dort, wo der Ostpiefke bis kürzlich wohnte … Der Bürgermeister promovierte über Nietzsche Also ist er jetzt in Wien und sucht eine Wohnung. Für ihn alleine ist die zu Hause eh zu groß. Aber von einem Leben im Cheaper Life in der Donaufelder Straße hat selbst er nicht geträumt. Wo er ein Klo und zwei Duschen mit schlimmstenfalls sieben weiteren Ostpiefkes teilen muss, die sich auf zwei Räume à 15 Quadratmeter verteilen. Für 13 Euro am Tag! Und weil die wenigsten von ihnen je etwas von Mahler gehört haben oder von Klimt etwas sahen, fühlt er sich inmitten dieser zuweilen ziemlich allein und würde sich nach einem harten Zwölfstundentag lieber in sein eigenes Zimmer zurückziehen und schlafen, als über Schaltsysteme oder die österreichische Bierqualität zu philosophieren. Wer je wissen wollte, wie er sich die Hölle vorzustellen hat, kommt jedenfalls um einen längeren Aufenthalt im Cheaper Life nicht umhin. Aber der Ostpiefke arrangiert sich und träumt erst ab Mitternacht von einem Häuschen im Grünen. Da, wo nämlich der Ostpiefke herstammt, ist die dörfliche Idylle inzwischen bloß noch trügerisch, seit man dort einen Bürgermeister hat, der über Nietzsche promovierte. Selbstmörder und Alkoholtote gibt es dort zwar nicht erst seit jenem tragischen Tag, aber es geschehen inzwischen noch weit merkwürdigere Dinge, über die sich ganze Bücher schreiben ließen. Dafür sind aber anderswo die Grundstückspreise wesentlich höher, so dass sich mit einem Verdienst im Bauhauptgewerbe unmöglich ein Häuschen im Grünen finanzieren lässt. Zumal man ja eh eine sparkassenfinanzierte Wohnung besitzt, für die sich aber nur schwer ein Mieter findet. Wo nämlich der Ostpiefke herstammt, will inzwischen einfach keiner mehr hin. Vermutlich Illustratiion: Carla Müller A uch in Österreich sind die Verdienstmöglichkeiten auf dem Straßenstrich und im Bauhauptgewerbe dramatisch gesunken. Solches liegt vermutlich an der gestiegenen Konkurrenz und außerdem an der Tatsache, dass es im Osten lehrstellentechnisch nur wenige Alternativen gab. Obendrein gelten natürlich auch die autodidaktischen Fähigkeiten osteuropäischer Hausfrauen als durchaus bemerkenswert! Es kam sogar vor, dass sich jemand mit mittelmäßigem Abitur zum Maurer anlernen ließ, in der nicht unbegründeten Hoffnung, sich später ein Häuschen im Grünen zimmern zu dürfen. Die Grundstückspreise waren lediglich symbolischer Natur und es durfte seinerzeit auch noch an Sonntagen schwarz gearbeitet werden. Zudem waren Kredite zur Eigenheimfinanzierung beinahe zinsfrei, was zu erfahren einem Strauss-Kahn sicherlich die Haare zu Berge stehen lässt. Schließlich kann sich davon kein Mensch seine Edelschlampen finanzieren! Da obendrein zur Aufdeckung weiterer Sündenregister innerhalb unserer gesamteuropäischen Eliten ein enormer juristischer Aufwand betrieben werden muss, verwundert es daher auch einen Neu-Wiener und geborenen Ostpiefke nicht, dass in Österreich ebenfalls nur wenig Mittel zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit zur Verfügung stehen. Dass es andererseits freilich nicht lohnt, sich darüber aufzuregen, beweist der Umstand, dass sich der Ostpiefke erst einmal von der Leasingfirma im Arbeiterwohnheim hat unterbringen lassen. Immerhin ist in Österreich wenigstens noch auf diese Verlass, was von deutschen Leiharbeiterfirmen leider schon lange nicht mehr gesagt werden kann. Apropos. Dort ist nämlich längst nichts mehr so, wie es scheint. Dort, wo der Ostpiefke bis kürzlich wohnte, betreiben die Nazis inzwischen eine eigene Parallelaktion, indem sie sich diejenigen Jobs untereinander zujubeln, für die sich die ehemaligen Realsozialisten schon früher zu schade waren. Wer dagegen weder rechts noch mit Angehörigen der verbliebenen selbst dann nicht, wenn der erste Goetheoder Schiller-Wanderweg mit einem Qualitätssiegel ausgezeichnet wird. Falls dies nicht längst geschehen und als bahnbrechende Innovation auf dem Gebiet des gehobenen Bildungstourismus im Regionalfernsehen bejubelt wurde, wobei die Innovation beinahe als «multiinzident» bezeichnet werden darf. Zum einen durch die Erfindung eines Qualitätssiegels für einen Trampelpfad, den beim besten Willen keiner braucht. Und zum anderen eröffnet es enorm vielfältige Möglichkeiten zur Gründung eines Traditionsvereins. Wobei obendrein auch noch ein neuer Arbeitsplatz in Form eines Vorstandsvorsitzenden entstehen sollte. Eines steht jedenfalls fest: Dort, wo man bei Anna Amalia einst glücklich Unterschlupf fand, hat sich seither wenig gebessert. Nicht nur das Paradies hat man sich selbst verloren, sondern inzwischen auch alles verjagt, was sich darüber halbwegs vornehm auszudrücken verstand. Oder wer noch eigene Ideen hatte. Ein durchgeknallter Österreicher mit dem Prädikat «Übermensch» Nietzsche selbst soll jedenfalls vor seinem geistigen Zusammenbruch lieber in Turin ein Pferd geküsst haben, als freiwillig zu seiner Schwester nach Naumburg zurückzukehren, von wo aus diese später seinen geistigen Missbrauch vorantrieb, indem sie einem durchgeknallten Österreicher das Prädikat Übermensch verlieh. Noch dazu dem allerersten in der Geschichte! Hoffentlich aber auch des allerletzten, denn es schreit buchstäblich zum Himmel, was geschieht, wenn Schlagwörter wie Wille zur Macht oder gar von der ewigen Wiederkehr in einem Kuhdorf auf lammfromme Ohren stoßen, während man öffentlich über eine Neufassung der Friedhofssatzung berät oder irgendeine Wohlfahrtsorganisation mit der Errichtung eines neuen Seniorenheims beauftragt. Damit wenigstens noch diejenigen dableiben, denen schon längst keine Menschenzukünfte mehr dämmern! Nebenbei schaffen sich dergestalt sogar einige zu besetzende Pflegestellen ganz wie von selbst, so dass zumindest in diesem Bereich keinerlei Handlungsbedarf besteht. Dieser besteht allenfalls darin, zumindest einmal sagen zu dürfen, worüber sich unmöglich schweigen lässt. Und sei es eben dem Augustin. Schließlich sucht man ja eine Wohnung und wüsste ansonsten wenig zu berichten über das Woher und Wohin. Sollte es nämlich mit einer Wohngemeinschaft nicht klappen, könnte es auch einfach daran liegen, dass ein Verdienst im Bauhauptgewerbe für ein Zimmer in Wien heutzutage einfach auch nicht mehr langt, wenn man an seine ostdeutsche Bank pünktlich die Raten für seine schmucke Wohnung bezahlen muss. Und das, obwohl der Mietzins in Wien der niedrigste unter den europäischen Metropolen sein soll. Ergo hat sich für den Ostpiefke die Wende nicht wirklich gelohnt. Andererseits hätte er als Obdachloser endlich Zeit für eine Zweitlektüre der Recherche von Proust, wobei es aber wieder Probleme mit der Bibliotheksanmeldung geben könnte. Weil er dann nämlich als Meldewohnsitz immer noch irgendein Kaff in Ostdeutschland angeben müsste. Wo der Ostpiefke aber nicht mehr hin will. Woran er aber leider noch immer andauernd denken muss. Insbesondere während er Zwischenwände mauert. Hin und wieder pfeift er dann auch diese schaurigen Klagelieder vor sich hin. Oder er berechnet nebenher lokale Maxima zur Bestimmung der optimalen Glasperlendichte innerhalb tragischer Aufsätze. Zu Hause fühlt er sich im Moment jedenfalls auch in Wien noch nicht wirklich … lüds dichter innenteil | 303 303 34 | dichter innenteil In der Zentrifuge P aris und die Banlieues, aufgelodert 2005 in sozialer Wut aus einer Machtlosigkeit heraus, schienen so lange her … Außerdem waren die damaligen Barrikaden und ausgebrannten Geschäfte und Autos, quer übers ganze Land verteilt, nur eine Vorhut der kommenden Kämpfe ohne Programm und Chancengleichheit. Dann kam 2007 – wenig überraschend, aus Amerika – die Wirtschaftskrise und die flächendeckende Plünderung der Staatskassen zur Rettung maroder Unternehmen. Überhaupt widersprach das der Logik des Marktes, deren Verfechter, wie noch zu Schulzeiten gelernt, stets beteuert hatten, im Gegensatz zur Planwirtschaft die unprofitablen Betriebe nicht zu stützen, um Misswirtschaft zu vermeiden und das gute Konkurrenzleben, also Freiheit und Erfolg, zu bringen. Nach ein paar individuellen, unbedingt nötigen Opferlämmern unter den Managern legte sich das populäre Gesuse von der Ungerechtigkeit eines Systems, das private Interessen praktisch über jene der Allgemeinheit gestellt hatte. 2008 versuchte man international abzulenken von den zugedeckten sozialen Problemen, die daheim fortbestanden, und lenkte medial mit der wackligen Unabhängigkeit Kosovos oder dem Georgienkrieg pünktlich zur Olympiade die Gedanken wieder ins Nationale. Aber wie von selbst gravitierte die öffentliche Meinung anderswohin, zurück zum Sozialen. Der moderne Staat war werbefachmännisch mit dem Wohlstand wohl gestanden, später mit der Wohlfahrt eine Zeit lang wohl gefahren und trotzdem zuletzt nicht im massenhaften Wohlgefühl aufgegangen. Die Schule hatte nämlich nie so recht erklärt, warum sozial ein Riss ging durch die Welt, sondern bloß, dass zwei mal zwei vier wäre und 1989 wohl alles im Lot, wie auch die meisten Medien bestätigen könnten, wenn sie – wie Glucksmann und Lévy zum Beispiel – wiederkauten, was das richtige Lager der Geschichte denn konkret bedeuten würde. Doch der Spielraum der Politik wurde umso enger, je größer die Abhängigkeit von der Privatwirtschaft war. Da waren zunächst die verschiedenen, immer gleichen Treffen in Europa und 2009 ein einschlägiger Klimagipfel in Dänemark, wo präventive Massenverhaftungen bei Minusgraden, sprich, von Hunden bewachte und in Reihen sitzende, aber selbstverständlich gefesselte Zivilisten eine Vorahnung der politischen Entwicklungen erlaubten. Anschließend 2010 waren, nebst BP-Erdöldesaster und dem bereits abgehakten humanitären Gau in Haiti, da auch noch gewöhnliche Demonstrationen in Albanien gegen die Regierung, fast schon gewohnheitsmäßige Generalstreiks in Griechenland und hier wie dort Verletzte unter Bestellschein für ein um 85 Euro Weltwirtschaftsgipfel Geschenkabo um 85 Euro den Demonstranten – und leider einige Tote in Tirana. Im Handumdrehen folgte 2011, nach einer Veröffentlichung der Bankdaten Ben Alis durch Wikileaks, eine Erhebung in Tunesien, ein Aufstand in Bahrain in unmittelbarer Nachbarschaft der 5. US-Flotte, die dort trotz hunderten Toten nicht eingriff, eine halbvollendete Rebellion in Ägypten, ein Aufflackern von Stammesfehden im erdölreichen Lybien samt NATO-Einsatz, kurz, ein arabischer Frühling, wie man boulevardpoetisch zu sagen pflegte. Man streute, wie gesagt, selektiv auch den Krieg als falsche Freiheitswürze in die ganzen Geschehnisse. Davor war ja noch europäischer Winter, an welchem von der Reform der Finanzarchitektur zwar gefaselt wurde, ohne jede Nacharbeit jedoch, als bestenfalls auf der Akropolis ein irgendwie anachronistisch wirkendes Banner an die Völker Europas appellierte, sich doch bitte zu erheben: gegen den Verlust der Souveränität an Währungsfond und Banken! Die Versprechen der Politik, an den Marktregeln etwas wirklich Wesentliches zu ändern, waren schnell vergessen, ebenso die Bedeutung von Wikileaks für die politische Frühlingsbrise, geschweige denn der zwielichtige Umgang mit Assange, dem WikileaksGründer, oder mit dem Soldaten Bradley Manning. Stattdessen laberte man begeistert in den scheinbar gleichgeeichten -Abo (23 Ausgaben) Förderabo ab 110 Euro Nur für Geschenkabos: Die Rechnung geht an: Name: _______________________________________ Name: _______________________________________ Adresse: ______________________________________ Adresse: ______________________________________ PLZ: ___________Ort: __________________________ PLZ: ___________Ort: __________________________ Telefon: _______________________________________ Telefon: _______________________________________ Einsenden an: AUGUSTIN, Reinprechtsdorfer Str. 31, 1050 WIEN, Abo-Tel.: 587 87 90, Fax: 587 87 90-30 Medien von der großartigen Bedeutung des Facebook für das Revoltenlüftchen – wobei sich von der amerikanischen Risikokapital-Beteiligungsgesellschaft Accel Partners über Microsoft bis zur russischen Investmentfirma Digital Sky Technologies übrigens alle mit dessen Aktien und Gewinnen eindeckten. Und ständig hörte man einerseits Meldungen von gleichhohen Bonizahlungen und andererseits von der Wichtigkeit der finanziellen Rettungsschirme, aber ohne die Macht der Privatwirtschaft, ihrer Ratingagenturen und Spekulationssünder so zu thematisieren, dass Veränderung endlich zum Thema würde: etwas Anderes eben anstatt das Gleiche nochmal, oder Schlimmeres sogar. Inzwischen forderten zigtausende Empörte in Spanien sozusagen echte Demokratie, eine also, die sich auf das Ökonomische auszuweiten hätte, ehe sie als unbescholtene Staatsbürger niedergeknüppelt wurden und – den arabischen Regimen zumindest ähnlich – vom Zutritt zum Madrider Hauptplatz durch Uniformierte abgeschnitten wurden. Immerhin war es ihr Land, ihre Hauptstadt, ihr Sonnenplatz. Dann passierte, wie schon 2010 im krawallreichen Grenoble, in England plötzlich wieder ein Toter, Vater dreier Kinder, wiederum ein Anlass für die sozial Ausweglosen und Ärmeren, in Gewaltausbrüchen auf sich aufmerksam zu machen, wodurch zuerst London, dann mehrere Städte wie Liverpool und Birmingham in Unruhen ausbrechen und lichterloh brennen, mit nochmals einem Toten als vorläufige Bilanz der Straßenschlachten. Interessant ist der Umgang mit alledem. Dort, wo die arabische Jugend gegen die Bereicherung ihrer politischen Elite und der sie stützenden und schützenden Klasse tatsächlich aufbegehrte und physisch Widerstand leistete, waren – keine Frage! – sofort bürgerliche Tugenden und sonstige Heldentaten gewittert. Hingegen, wo die europäische Jugend ins gleiche Flußbett trat, waren andere Maßstäbe angeblich angebrachter, und daher nannte man diese einfach Randalierer. Die Medien hatten womöglich diese Umwertungen von Sarkozy gelernt, der die aufgebrachten französischen Vorstädter einst als Unrat bezeichnet hatte und ihre Gegengewalt schlicht als Randale. Im Nordkosovo zumindest, wo Zivilistenhaufen Blockaden errichten, während die NATO unter deutscher Führung sie Kriminelle heißt, zieht diese Masche noch; man versteht ohnehin nicht allzu viel davon. Die politische Zentrifuge aber, die die Gesellschaften nun in Bewegung versetzt, war nie etwas Anderes gewesen als – sozialer Sprengstoff. Und schon munkelt man, einer tragischen Schicksalsgemeinschaft gleich, vom möglichen Börsenzusammenbruch, und zwar neuerdings, welcher mit alledem nichts zu tun hat? Was für ein bewölkter Sommer 2011 muss das sein, wenn die europäischen Massen hypnotisiert auf ihr Mokieren, Teil 2, warten! Mladen Savić TONIS BILDERLEBEN Sie beraten, polarisieren, recherchieren, sie versuchen, den Hunger aus den Augen der Armen zu kratzen sie reden, sie beschwören, polemisieren, um in Händen von Spekulanten ihrer Sprachlosigkeit Worte zu geben sie versuchen, die Spreu vom Weizen zu trennen, damit die Wirtschaft wächst Gerechtigkeit an Wimpern einer Welt, die mit geschlossenen Augen glaubt, der Armut ihre Blöße zu nehmen. Global Global kriecht der Hunger aus den Nestern zu Gold wird das Getreide gemahlen für jene, die gesättigt nach Lösungen suchen, um die Welt zu retten. Lieselotte Stiegler 35 dichter innenteil | 303 303 36 | dichter innenteil Aus der KulturPASSage Natur und Kultur in der Sommerzeit A uf der Pilgerfahrt durch die Wiener Kulturinstitutionen, die sich der Aktion «Hunger auf Kunst und Kultur» angeschlossen haben, fällt uns das ESSL-Museum ein: Das ist doch ein schöner Sonntagsausflug! Gesagt, getan. Von der Albertina fährt ein Gratisbus, der nicht voll ist, vorbei am Yacht-Hafen gegenüber dem Kahlenbergerdorf bis nach Weidling, also schon eine sehr erfreuliche Anreise. Das Museum ist höchst modern gebaut, funktionell und trotzdem schön, angenehm für Familien. Es gibt ein Café am Dach, eine große Terrasse mit Liegestühlen und einige Angebote für Kinder. Die Ausstellung «Festival der Tiere» ist ein Kaleidoskop von Tiergemälden und -darstellungen – nicht dass ich besonders drauf stehen würde, aber es ist «Kunst». Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht immer schnalle, warum, wozu und wieso überhaupt so manches stattfindet, aber bitte – so ist der Mensch –, er/sie will sich ausdrücken auf jede nur erdenkliche Weise. Der Spaziergang danach im Auwald ist jedenfalls dem Natur-Genuss gewidmet. Wir kommen vorbei am Klosterneuburger Strandbad und einer Rettungshundeausbildungsstation. Ich liebe sie, diese allerintelligentesten und so wahnsinnig hilfreichen Viecherl, ein Blick – und ich bin schon weg, d. h. «verliebt». Zu Fuß geht’s vorbei am Donauarm zur S-Bahn und wieder heim im Zug. Wir haben das Gelände erkundet, jetzt wird es sicherlich bald wieder besucht, noch dazu, wo die frei zugängliche Donau nicht weit ist. Das ist Urlaubsfeeling, wie ich es voll mag: Meinen Blick in der vielseitigen Vegetation verlieren, der breiten Wasserfläche und den Schiffen zusehen, hie und da ins kühlende Nass steigen und den Wind dieser wunderbaren Landschaft fühlen, nicht zu vergessen die vielen leiwanden Verpflegungshütterl für hungrige oder durstige Radler_innen, die selbstverständlich auch uns offen stehen. Da soll noch einer sagen, dass man nach Caorle fahren muss, um sich zu entspannen. Kunstschlange Beichtn gengan de leit heitzutog net zan pforra Sundern zan psychiata Der fratscherlts zwo a vü aus Und trampelt auf eana sö umanand Ob se brauchn si net fiachtn Dass in de höll kumman Wauns zuagebn dass a pantscherl ghobt haum Mid da freindin vaun da ex Und an vaterunser miassns a net betn bei eam Er ziagt eana nur an hunderta aus da briaftoschn Oba daun is eana leichter. Waun se bei da formel ans Aner dasteßt Oder se baim obfohrtslauf des kreuz bricht Waun sa se in tscheschenien massakriern Oder in java de lava über an berghaung obarutscht Sitz i mit ana floschn gumpolds Vorm glotzkastl Loß ma de schen büda in mei sö einerinna Und denk ma Is do guat das i a bisserl wos siach vo der wöd Auf meine oidn tog I hob jetzt a ras zan mond bucht Oba waun des raumschiff an eam vorbeifliagt Sois ma recht sei Auf da venus is ma eh liaba Was bleibt? Der Begriff «homeless» beschreibt die Situation von Menschen ohne Wohnsitz wohl am besten. H omeless stellt den Eingang in ein Labyrinth der Gegensätzlich- und Unabwägbarkeiten innerhalb einer vermeintlich gesicherten Sozialgesellschaft dar. Homeless bedeutet, sich in einer feindlichen oder ablehnenden Umwelt wiederzufinden und schlagartig ungesichert existieren zu müssen. In diesem Umfeld entwickeln die Betroffenen eine äußerst kreative Lebensführung, welche durch unzählige Gestaltungsfinessen mitgeprägt werden. Diese Kreativität zeichnet sich oft durch den Lebensweg der jeweiligen Person aus, so sind im Homeless-Bereich alle sozialen Schichten vertreten Akademiker_innen, Angestellte, Asyl-Suchende etc. ... Ebenso sind die sichtbaren Probleme wie Drogenund Alkoholsucht in jeder Gruppe vorzufinden, ebenso sind die kriminellen Energien wie in der gesamten Gesellschaft Teil der individuellen Eigenschaften, aber nicht der bestimmende Faktor im täglichen Friedrich Weissensteiner DA S N ackte L E B E N Leben von der Mehrzahl des betroffenen Personenkreises. Homeless People stehen in ihren täglichen Bewegungen unter massivem Anpassungsdruck, so wird etwa der Längeraufenthalt auf öffentlichen Plätzen und Räumen durchaus zur Gefahr für die Person mit polizeilichen Sanktionen als Folgewirkung. Doch sind Homeless People eine bemerkenswerte Gruppe von Kreativen. In dieser Gemeinschaft finden sich Musiker_innen, Literaten_innen, Schnitzer_innen, Verkaufskünstler_innen, Unternehmer_innen. Allen gemein ist die hohe Kunst des Überlebens und Erlebens in einer abwehrenden Gesellschaft. Die Potenziale, die in diesen Gruppen verborgen liegen, stellen wohl eine nachhaltige Quelle für die Gesellschaft dar. Menschen, die über längere Zeit ohne Verankerung ihr Leben verbringen müssen oder wollen, erscheinen als Gesellschaft- und Unternehmensberater_innen eine interessante Bereicherung zu sein. Auch im Wirtschaftsleben und im Kulturbetrieb wäre eine Einbindung dieser Person wünschenswert, da die Eigenschaft des mittellosen Wirtschaftens und Überlebens in der gesamten Gruppe vorhanden ist. Das Vorhandensein dieser Begabungen muss Berücksichtigung in einer modernen und flexiblen Gesellschaft finden und zu einem veränderten Blick auf die Homeless People führen. Weg von der sozialarbeiterischen Armutsverwaltung und organisationsgesteuerten Wohnraumbewirtschaftung. Da beide Beispiele nachweislich nicht zu einer Reduktion der Probleme geführt haben (Anstieg der armutsgefährdeten Personen, Fehlentwicklungen im Substitolprogramm, subjektive Verunsicherung im öffentlichen Raum ...). Homeless people können in den vorhandenen und zukünftigen Spannungsfeldern unserer Gesellschaft maßgebliche Lösungshilfen und Bewältigungsstrategien mitentwickeln, da ihnen die (erlebten) Basisinformation zu Lösungsansätzen und Spannungsfeldern (z. B. öffentliche Plätze, fehlerhafte Sozialversorgung etc.) bestens bekannt sind, welche erst durch langwierige Forschung erarbeitet werden müssten. Was bleibt, ist die Hoffnung auf einen Ausgang aus dem Labyrinth der Inkompetenz und Mutlosigkeit unserer Gesellschaft mit der Hilfe unserer selbst erschaffenen Schlüssel – den «homeless people». Wolfgang Katzinger Aus Mehmet Emirs Fotoserie für eine Boulevardzeitung der anderen Art 37 dichter innenteil | Breitenbrunn – Ein Tag am See 171. Folge herr groll auf reisen E Foto: Mario Lang nde Juli begab Herr Groll sich mit seinem Kleinwagen nach Breitenbrunn. Der Dozent hatte angekündigt, mit dem Rennrad an den Neusiedler See zu fahren, um dort einen befreundeten Soziologen aus Hamburg zu treffen, der sich für die Europameisterschaft im Kite-Surfen qualifiziert hatte, die in den nächsten Tagen in Breitenbrunn beginnen sollte. Der Freund würde in einem Zwei-Mann-Zelt am Strand nächtigen, der Dozent könne bei ihm Unterschlupf finden. Für Groll werde sich wohl unschwer in dem Tourismusgebiet eine Übernachtungsmöglichkeit auftun. Als Groll am Campingplatz in Breitenbrunn ankam, war er trotz des trüben und wechselhaften Wetters guter Dinge. Er war schon viele Jahre nicht mehr zwischen Eisenstadt und Neusiedl unterwegs gewesen und hatte mit wachsendem Erstaunen die Fortschritte der Gemeinden Neusiedl, Winden, Jois und Breitenbrunn registriert. Aus ärmlichen Straßendörfern waren schmucke Fremdenverkehrsorte geworden, die Häuser waren im pannonischen Stil weiß gefärbelt und mit roten Rosen geschmückt. Wo man hinschaute, stieß man auf Tourismuszentralen, Wohlfühl-Pensionen, radfahrerfreundliche Quartiere, Vinotheken, einladende Heurigenbetriebe. Räucheraal, Mehlspeisen, Schnäpse und der allgegenwärtige Wein waren im Ab-Hof-Verkauf erhältlich. Selbst die alte Schokoladefabrik am Ortsausgang von Breitenbrunn existierte noch, als Filialbetrieb eines transnationalen Konzerns. Die Chancen, hier für zwei Nächte in einem rollstuhlgerechten Quartier unterschlüpfen zu können, beurteilte Groll mit deutlich mehr als fünfzig Prozent. Auch der Erstkontakt mit der Kassenfrau am Eingang stimmte Groll zuversichtlich. Er wolle einen Freund direkt am See besuchen, sagte er. Kein Problem, meinte die Frau, Sie brauchen Der See ist immer für Überraschungen gut nichts zu bezahlen, außerdem gibt es beim Seerestaurant mehrere Behindertenparkplätze. Tatsächlich fand Groll die Parkplätze, alle waren frei. Er stellte den Rollstuhl zusammen und fuhr eine Viertelstunde entlang von schilfbewehrten Kanälen durch Wohnwagenzeilen und Bungalows bis zum Zeltplatz, wo er sich bis zum Zelt des Deutschen durchfragte. Es war das letzte in einer Reihe kleiner Zelte, nahe beim Leuchtturm. Das Rennrad des Dozenten war an einen Baum gekettet. Der See war vom Sturm aufgewühlt, was die Kite-Surfer nicht vom Training abhielt, in hohem Tempo vollführten sie ihre atemberaubenden Manöver in der Luft, schwer klatschten sie mit ihren Brettern auf das stahlgraue Wasser. Auf der anderen Seite des Sees, weit im Osten, sah Groll die Mole von Podersdorf. Der Sturm trieb das Wasser in Richtung Leithagebirge, Herr Groll glaubte sich an einem rasch fließenden, mächtigen Strom. Nach einer halben Stunde hatte er sich am See und den Akrobaten der Luft satt gesehen, er machte sich über die Liegewiese des Strandbads auf zum schilfgedeckten Seerestaurant. Auf dem Weg kam er an den Sanitärräumen des Campingplatzes vorbei und fand sogar eine Behindertentoilette vor. Allerdings war sie verschlossen. Den Schlüssel bekomme man im Campingbüro, berichtete ein freundliches Ehepaar aus Bayern, in einem zehnminütigem Fußmarsch sei das Büro zu erreichen, es könne aber sein, dass es geschlossen sei. Wunderbar, sagte Groll, wie komme ich dann in die Behindertentoilette. Keine Ahnung, sagten die Bayern, probieren Sie es doch im Seerestaurant, die müssten auch über eine Behindertentoilette verfügen. Das Restaurant erwies sich als dumpfe Höhle, in der seit Jahrzehnten nichts investiert worden war. Die Sanitärräume schienen noch aus der Monarchie zu stammen, ein penetranter Gestank nach Urin und Erbrochenem lotste Groll zu den WCKabinen. Die waren für den Rollstuhl viel zu schmal. Eine Behindertentoilette gebe es hier nicht, habe es auch nie gegeben, sagte ein stoppelbärtiger Mann hinter der Theke mit vor Müdigkeit rot unterlaufenen Augen. Groll solle es im Ort versuchen, es könne sein, dass die Pension Niederlechner über eine derartige Einrichtung verfüge. Groll drehte noch eine Runde über den Zeltplatz, bewunderte noch kurz die fliegenden Männer auf ihren schmalen Brettern, und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Vom Dozenten und dessen Freund war nichts zu sehen. Groll fuhr auf der Stichstraße zum See in den Ort zurück. Er fuhr langsam, um die Landschaft und den Ausblick zu genießen. Das Leithagebirge mit Eichenwäldern an den Kuppen und ausgedehnten Weingärten an den Flanken bot ein friedliches, einladendes Bild. Groll war zuversichtlich, bald ein Quartier zu finden. Er freute sich schon darauf, abends mit dem Dozenten und dessen Hamburger Freund das eine oder andere Glas Wein zu verkosten. Erwin Riess Im nächsten Heft: Herr Groll macht eine existenzielle Grenzerfahrung 303 303 38 | dichter innenteil 39 Irre Kreuzfahrten auf dem Mobiltelefon 25. 7. Nun kommt die Auflösung der vor kurzem gestellten Frage: «Wer oder was ist ein Xylander?» Auch wenn man es kaum glauben mag, aber mit diesem seltsamen Vornamen wurde kürzlich in Deutschland ein frisch geschlüpfter Knabe bedacht. 27. 7. Das Ereignis in Norwegen mit den vielen toten Menschen beschäftigt sehr viele Personen und Experten_innen, die es ja immer schon gewusst haben wollen. Ich als Nebenerwerbsexperte behaupte, dass rechte Politiker_innen, wie wir sie auch hierzulande zur Genüge haben, mit ihrer rassistischen Ideologie Wegbereiter_innen solcher Gewalttaten wie jetzt in Norwegen sind. 29. 7. Ich suche gelegentlich Zerstreuung, indem ich mir lustige Sendungen im TV ansehe. Zu früh gefreut, denn heute zeigt ein angeblich lustiger Mensch sein wahres, nicht gerade witziges Gesicht. Ich überlege hin und her, warum das so ist, finde aber keine befriedigende Antwort. Die Einen sagen, er sei ein genialer Komiker, die Anderen, darunter ich, sind seit heute der Meinung, dass Helge Schneider zumindest in der heutigen Sendung als überbezahlter Niemand agierte. Es kam innerhalb von 50 Minuten keine einzige halbwegs vernünftige oder wenigstens lustige Wortmeldung bei «Genial daneben». Von drei verbalen, aber sinnfreien Rülpsern einmal abgesehen. Er saß dort natürlich nicht für Gottes Lohn. Aber es war das einzige Mal, dass er zu «Genial daneben» eingeladen wurde. Warum wohl? 30. 7. Wenn ich den derzeitigen Sommer so betrachte, dann möchte ich am liebsten bitterlich weinen. Denn jeder schimpft über das Wetter, aber keiner unternimmt etwas dagegen. Vielleicht sollte eine Volksbefragung stattfinden. Aber wenn mir sonst nichts Besseres einfällt, dann sehe ich manchmal auch gerne Dokumentationen an. Heute ging es um den Beruf des Türstehers. Wenn ich das Ganze richtig verstanden habe, dann hat der durchschnittliche Türsteher keinen Hals, keine Haare und kein Gehirn. Aber seien wir doch einmal ehrlich, wer äußert denn ernsthaft den Berufswunsch «Türsteher»? 1. 8. «Unser Geld für unsere Leut'!», brüllt es mir von einem Plakat der FPÖ entgegen. Aber bitte, was ist «unser Geld»? Wer sind «unsere Leut'»? Falls mit unserem Geld die Steuereinnahmen gemeint sind, dann müsste irgendjemand dem Herrn H. C. endlich einmal erklären, dass ausländische Mitbürger_innen auch Steuern bezahlen, und zwar nicht wenig. Und falls mit unsere Leut' die FPÖ-Wähler_ innen gemeint sein sollten, dann fällt mir zu diesem Thema aber gar nichts mehr ein. So nebenbei bemerkt muss ich dringend etwas zum großen Wunsch des H. C. sagen. Er träumt nämlich davon, nach der nächsten Wahl Kanzler zu werden. Das kann doch niemand ernsthaft wollen. Alleine seine Wirtschaftskompetenz ist jämmerlich. Unter seiner Mithilfe gingen immerhin zwei Firmen in Konkurs. Mir wird schlecht. Ich ziehe mich nun in mich zurück und fürchte mich dort weiter vor dieser Vision. Nämlich vor Kanzler H. C. TAGEBUCH EINES AUGUSTINVERKÄUFERS 3. 8. Mein Freund Karl wirft mit derben Zoten um sich. Ich erkundige mich nach dem Grund für diese Schimpftiraden. Anscheinend regt er sich über die angekündigte Helmpflicht für Radfahrer_innen auf. Denn da gibt es wie überall mehrere Sichtweisen. Manche befürchten, dass dann viele wieder auf das Rad verzichten würden. Andere zweifeln mit Recht an der Qualität der derzeit erhältlichen Helme. Ich meine, dass ein denkender Mensch, der sein Gehirn nicht vor Schaden bewahren will, ohnehin schon einen leichten Schaden beherbergt. Aber soll jede_r tun, was ihm_ihr für richtig erscheint. 5. 8. Ich habe heute ein wenig Nachrichten auf CNN geschaut. Danach kam ein kurzer Bericht über Warnhinweise. Ich schwöre, dass ich folgende Hinweise nicht erfunden habe. «Kleidung bitte vor dem Bügeln vom Körper entfernen!» «Kind vor dem Zusammenklappen des Kinderwagens aus diesem entfernen!» Wie dumm muss eine Nation und ihre Gesetze sein, damit solche Hinweise notwendig sind? 12. 8. «Diamonds are a girl's best friends» – diese Behauptung stellte Marilyn Monroe vor etlichen Jahrzehnten auf. Heute habe ich über Blutdiamanten gelesen. Die kommen immer aus den ärmsten Ländern der Welt, sind aber bei uns sauteuer. Noch Fragen? 13. 8. Ich sehe Leute, die wie die Irren mit ihren Finger kreuz und quer über ihr Mobiltelefon fahren. Sieht seltsam aus und ist es auch. Früher hat man in ein Telefon einfach nur hinein geredet. 15.8. «wctni.pä+» meint Mausi und ist entrüstet. Sie hat nämlich gehört, dass ein Mann aus der High Snobiety laut eigener Aussage 50.000 Euro in ein Rennpferd gesteckt habe. Also pfui, wo bleibt da der Tierschutz?! Nur mit Mühe kann ich sie beruhigen und ihr erklären, dass der Mann trotz viel Geld einfach nur ein Problem mit der Sprache habe. Aber wer viel Geld hat, der muss nicht unbedingt sinnerfassend reden können. Der blinde Murli sieht in der vorliegenden Causa eher schwarz. Gottfried „ Blutdiamanten kommen immer aus den ärmsten Ländern der Welt, sind aber bei uns sauteuer. Noch Fragen? “