Materialmappe Tschick - junges

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Materialmappe Tschick - junges
Inhaltsverzeichnis
Stückinfo .............................................................................................................................................. 3 Entstehungsgeschichte und Rezeption ............................................................................................... 4 Über den Autor ................................................................................................................................ 4 Im Gespräch mit Wolfgang Herrndorf: «Wann hat es «Tschick» gemacht, Herr Herrndorf?»
(FAZ) ................................................................................................................................................ 4 Im Gespräch mit dem Dramaturgen Robert Koall: «Der Schock ist weg» (Die Zeit) ................... 8 Auszüge aus dem Internettagebuch: «Arbeit und Struktur» ........................................................ 11 Rückblende, Teil 1: Das Krankenhaus........................................................................................ 11 Drei .............................................................................................................................................. 13 Vier ..............................................................................................................................................14 Einunddreißig ............................................................................................................................. 17 Pressestimmen................................................................................................................................19 Zauberisch und superporno - Süddeutsche Zeitung ..................................................................19 Wenn man all die Mühe sieht, kann man sich die Liebe denken - FAZ .................................... 21 Nachruf: Wolfgang Herrndorf ...................................................................................................... 24 Schreiben gegen das Ende - Die Zeit ......................................................................................... 24 Zum Tod Wolfgang Herrndorfs: Dieses Zuviel ist niemals genug - FAZ ................................. 25 Nachruf auf Wolfgang Herrndorf: Ohne Sprache gibt es kein Leben - TAZ ........................... 26 Zum Tod von Wolfgang Herrndorf: Er liebte es kalt und komisch - Süddt. Zeitung .............. 28 Zusätzliches Material ........................................................................................................................ 29 Outtake: Tschick ............................................................................................................................ 29 Heldenreise: Wie die Heldenreise entdeckt wurde und nach Hollywood kam ............................ 31 Stufe 1: Die Gewohnte Welt ........................................................................................................ 31 Stufe 2: Der Ruf zum Abenteuer ............................................................................................... 33 Stufe 3: Die Verweigerung des Rufs .......................................................................................... 34 Stufe 4: Begegnung mit dem Mentor ........................................................................................ 36 Stufe 5: Überschreiten der ersten Schwelle .............................................................................. 38 Stufe 6: Bewährungsproben, Verbündete, Feinde – Experimentieren mit der ersten
Veränderung .............................................................................................................................. 40 1
Stufe 7: Vordringen in die tiefste Höhle .................................................................................... 42 Stufe 8: Entscheidungskampf ................................................................................................... 43 Stufe 9: Belohnung und Ergreifen des Schwerts ...................................................................... 45 Stufe 10: Rückweg ...................................................................................................................... 46 Stufe 11: Erneuerung/ Verwandlung – die endgültige Hinwendung zur groβen Veränderung
.................................................................................................................................................... 48 Stufe 12: Rückkehr mit dem Elixier .......................................................................................... 49 Roadmovie: Fahren um zu fahren ................................................................................................. 51 Tschick im Unterricht ....................................................................................................................... 56 Themenfelder................................................................................................................................. 56 Arbeitsformen ................................................................................................................................ 56 Karton Karl .................................................................................................................................... 56 Unterrichtsideen zu «Tschick» ..................................................................................................... 57 Unterrichtsidee 1: Schreibauftrag zum Blog: ............................................................................ 57 Unterrichtsidee 2: Aufträge zur Heldenreise ............................................................................ 57 Unterrichtsidee 3: Road Movie ................................................................................................. 58 Unterrichtsidee 4: Book Slam vs. Literarisches Quartett ......................................................... 59 Unterrichtsidee 5: Jugendsprache ............................................................................................ 59 Unterrichtsidee 6: Steckbrief meets Soziogramm .................................................................... 59 Fächerübergreifender Unterricht .............................................................................................. 59 Theaterpädagogische Anregungen ................................................................................................... 60 Emotion ......................................................................................................................................... 60 Emotionaler Bilderbuch-/ Märchen- oder Zeitungstext .......................................................... 60 Singkönig ................................................................................................................................... 60 Zusammenhalten: Bambusstern ....................................................................................................61 Zählender Raumlauf ...................................................................................................................61 Follow the leader.........................................................................................................................61 Ja genau ......................................................................................................................................61 Chorisches Sprechen.................................................................................................................. 62 Fragen zur Reflexion des Stücks ....................................................................................................... 62 Impressum......................................................................................................................................... 63 2
Stückinfo
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Entstehungsgeschichte und Rezeption
Über den Autor
(Foto: Matthias Mainholz)
Am 12. Juni 1965 wurde Wolfgang Herrndorf in Hamburg geboren. Nach dem Studium der
Malerei hat er unter anderem für die Satirezeitschrift »Titanic« als Illustrator gearbeitet. Sein
Debüt als Schriftsteller gab er 2002 mit dem Roman »In Plüschgewittern«, aber seinen grossen
Durchbruch erlebte Wolfgang Herrndorf mit «Tschick», veröffentlicht 2010. Dafür gewann er
2011 den Deutschen Jugendliteraturpreis. 2012 erhielt er den Leipziger Buchpreis für den Roman
«Sand». Wolfgang Herrndorf lebte in Berlin.
Im Jahr der Veröffentlichung von «Tschick» wurde ein bösartiger und unheilbarer Hirntumor
festgestellt. Daraufhin begann Wolfgang Herrndorf ein digitales Tagebuch zu schreiben, den Blog
«Arbeit und Struktur», in welchem er über sein Leben mit dem Tumor, den Arztbesuchen und
seiner Arbeit berichtet. 2013 erschienen die Blogeinträge posthum in gedruckter Form.
Am 26. August 2013 beging Wolfgang Herrndorf Suizid.
Im Gespräch mit Wolfgang Herrndorf: «Wann hat es «Tschick»
gemacht, Herr Herrndorf?»1 (FAZ)
Der Ort des Gesprächs, irgendwo in Berlin, tut nichts zur Sache. Und dass Wolfgang Herrndorf
eigentlich keine Interviews gibt, merkt man ihm nicht an.
[…] Dann sprechen wir jetzt über «Tschick». Warum ein Jugendroman?
Ich habe um 2004 herum die Bücher meiner Kindheit und Jugend wieder gelesen, «Herr der
Fliegen», «Huckleberry Finn», «Arthur Gordon Pym», «Pik reist nach Amerika» und so. Um
1 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschick-gemacht-
herr-herrndorf-1576165.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
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herauszufinden, ob die wirklich so gut waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber auch, um zu
sehen, was ich mit zwölf eigentlich für ein Mensch war. Und dabei habe ich festgestellt, dass alle
Lieblingsbücher drei Gemeinsamkeiten hatten: schnelle Eliminierung der erwachsenen
Bezugspersonen, große Reise, großes Wasser. Ich habe überlegt, wie man diese drei Dinge in
einem halbwegs realistischen Jugendroman unterbringen könnte. Mit dem Floß die Elbe runter
schien mir lächerlich; in der Bundesrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Ausreißer
auf einem Schiff anheuern: Quark. Nur mit dem Auto fiel mir was ein. Zwei Jungs klauen ein
Auto. Da fehlte zwar das Wasser, aber den Plot hatte ich in wenigen Minuten im Kopf zusammen.
Mit generationsspezifischen Ausdrücken und Angewohnheiten sind Sie dabei
sparsam umgegangen. Trotzdem muss man ja herausfinden, was 1995 Geborene so
mit ihrer Zeit und ihrem Geld anfangen. Sie sind Jahrgang 1965, woher wissen Sie
das?
Ich weiß es nicht. Aber das kam mir gar nicht so problematisch vor, dass es sich um Jugendliche
handelt - oder jedenfalls nicht problematischer als Handwerker, Ärzte oder Lokführer, wenn man
die im Roman auftauchen oder sprechen lässt. Ich glaube nicht, dass Jugend ein spezielles
Problem darstellt, auch wenn Scheitern da oft spektakulärer wirkt. Wobei ich mir nicht einbilde,
es perfekt gemacht zu haben. Ich habe meinem Erzähler einfach zwei Wörter gegeben, die er
endlos wiederholt, und den Rest über die Syntax geregelt. Wenn man erst anfängt, mit Slang um
sich zu schmeißen, wird man doch schon im nächsten Jahr ausgelacht.
In Ihrem Blog heißt es: «Ich bin Schriftsteller, und man wird nicht glauben, dass
Literatur mich sonst kaltgelassen hätte. Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist
das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig und danach nur
noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: dass man teilhat an
einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas,
worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat: dass es
einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Mist. Einen Unterschied zwischen dem
existentiellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt
eindeutig zu viel gelesen habe, eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber
lange verschüttet.» Was war der Müll, von dem Sie zu viel gelesen haben? Und wo
ordnen Sie «Tschick» ein? Große Erzählung oder Mist?
Da können Sie nicht ernsthaft eine Antwort erwarten. Zum Müll: Ich kann mich zum Glück nicht
an vieles erinnern. Ich lese auch nicht allzu viel Gegenwartsliteratur, aber ich bin der König des
ersten Kapitels. Ich habe von fast allem, was rauskommt, mindestens das erste Kapitel gelesen.
Oder eine Seite oder einen Absatz. Der Segen des Älterwerdens: Man braucht nur noch einen
Absatz, um zu wissen, dass einen etwas nicht interessiert.
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Versetzen wir uns ins Jahr 2030. Ihr Buch ist seit zehn Jahren Schullektüre.
Neuntklässler stöhnen, wenn sie den Namen Wolfgang Herrndorf hören. Welche
Fragen zum Buch müssen in Aufsätzen beantwortet werden?
Ich fürchte, man wird sich im Deutschunterricht am Symbolträchtigen aufhängen, an der
Schlussszene . . .
. . . in der Maik unter Wasser in einem Swimmingpool die Hand seiner Mutter hält,
während oben die Polizei wartet . . .
. . . oder an der Szene mit dem Elixier. Das bin ich jetzt auch schon häufiger gefragt worden: Was
das für ein Elixier ist, das der Alte mit der Flinte den beiden da aufdrängt? Aber das weiß ich ja
auch nicht. Das war nur, weil mich beim Schreiben jemand auf die «Heldenreise» aufmerksam
machte, ein Schema, nach dem angeblich fast jeder Hollywood-Film funktioniert. Da müssen die
Protagonisten unter anderem immer ein solches Elixier finden. Habe ich natürlich gleich
eingebaut.
Nur damit Ihre Helden es eine Minute später aus dem Fenster schmeißen. Ist das
eine subtile Kritik an irgendwelchen Erzählformen?
Nein, bestimmt nicht. Allgemeine
Ansichten zur Literatur habe ich
nie gehabt und nie verstanden.
Mehr Engagement! Mehr
Realismus! Mehr Relevanz! Ist
doch alles Quatsch. Sobald
Schriftsteller irgendeine Form von
Theorie ausmünzen, läuft sie
immer sofort darauf hinaus, dass
zum allgemeinen Ziel erklärt wird,
was der Autor selbst am besten
kann und schon seit Jahren praktiziert. Das sind keine Theorien, das ist das, was sich heranbildet
in kleinen Hasen, wenn es nachts dunkel wird im großen Wald.
[…] In Wirklichkeit verlassen Sie Berlin doch nie. Was hat es mit den Landschaften
auf sich, die Maik und Tschick durchreisen, wo gibt es diese Mondlandschaften? Wo
die Berge, «ungeheuer hoch und mit Steinzacken obendrauf»?
Im Gegensatz zu meinen Helden bin ich nie in Ostdeutschland gewesen und habe die Reise nur
mit Google Maps unternommen. Da kann man von oben nicht sehen, wie hoch die Berge sind.
Aber ich war nie ein großer Freund der Recherche. Ich habe versucht, Gegenden zu beschreiben,
wie Michael Sowa sie malt: Auf den ersten Blick denkt man, genauso sieht es aus in der Natur!
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Und wenn man genauer hinschaut, sind es vollkommen durchkonstruierte Sachen, die
archetypischen Landschaften wie in idealen Tagträumen.
Maiks Mutter ist Alkoholikerin, auch Tschick hat ein Alkoholproblem. Warum
gleich zwei Trinker?
Das liegt daran, dass ich das Buch mit einer großen Unterbrechung in zwei Zügen geschrieben
und das nicht gemerkt habe. Also, es ist mir dann natürlich selbst aufgefallen, aber ich hab' es
auch nicht mehr geschafft, es ganz rauszuschmeißen.
Man hat ja oft einen bestimmten Leser im Kopf, für den man schreibt. Geht Ihnen
das auch so beim Schreiben?
Schon. Keine konkrete Person, aber einen schlauen Leser, der alles kapiert.
[…] Aber die Sache mit dem Bestseller hat «Tschick» ja jetzt erledigt.
Ich kann mir auch nicht erklären, woran das liegt. Buchhandel, Werbung, Rezensionen - keine
Ahnung. Mein Lektor warf neulich die Theorie ein: „Es könnte auch am Buch liegen.“ Aber ich bin
vom Literaturbetrieb so gründlich desillusioniert, dass ich das nicht glaube.
Welche Illusionen haben Sie da verloren?
Illusionen ist vielleicht übertrieben, ich komme ja schon von der Malerei, da ist es ähnlich oder
noch schlimmer. Roger Willemsen hat neulich etwas Kluges dazu gesagt, dass es im
Literaturbetrieb etwa ein Dutzend Gruppen gibt in Deutschland, meistens
Kritikerzusammenballungen mit ein paar Autoren, die der Kritiker immer wieder bespricht und
die auch untereinander auf ungute Weise zusammenhängen und dann auch das Übliche mit den
Preisvergaben . . . Aber das ist uninteressant. Fragen Sie Willemsen, der konnte das so
formulieren, dass es interessant war.
Sie haben Malerei studiert - und aufgegeben. Warum?
Ich konnte nicht das, was ich wollte. Außerdem war man mit Realismus und Lasurmalerei an
einer Kunsthochschule in den Achtzigern nicht wirklich gut aufgehoben. Ich habe am Ende nur
noch Comics gemacht. Bei denen wurden dann irgendwann die Bilder immer kleiner und der Text
immer größer, und irgendwann gab es überhaupt keine Bilder mehr. Und ich war auch froh, mit
bildender Kunst nichts mehr zu tun zu haben.
Was ist besser an der Literatur?
Die Kundenfreundlichkeit. Es ist ein großer Nachteil der bildenden Kunst gegenüber der
Literatur, dass man sich auch viele Quadratmeter Unsinn schmerzfrei ansehen kann. Man kann
die Augen schließen und nach zwei Sekunden weitergehen. Als Leser, der in einem TausendSeiten-Roman feststeckt, ist man sehr lange sehr allein. Das hat in der Evolution der Literatur
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etwas Grundsolides und angenehm Konventionelles wie den Roman hervorgebracht. Da wird es
die bildende Kunst nicht mehr hinbringen.
Maik und Tschick lassen beim Aufbruch in die Walachei ihre Handys zurück.
Warum?
Ich habe mir überlegt, Spannung, ich kann keine Spannung, und wenn ich jetzt noch ein Handy
habe, mein lieber Mann, wie soll ich das denn regeln? Ich will Verfolgungsjagden in der Wüste!
Im Gespräch mit dem Dramaturgen Robert Koall: «Der Schock ist
weg»2 (Die Zeit)
… Robert Koall hat zum Gespräch ins Dresdner Staatsschauspiel geladen. Er ist hier der
Chefdramaturg – und als solcher verantwortlich für […] die erste Bühnenfassung des Roadtrip-
Romans Tschick von Wolfgang Herrndorf. Mit Herrndorf [… war] Koall eng befreundet.
DIE ZEIT: Herr Koall, […] Sie kamen an diesen tollen Stoff, weil der Autor des Romans,
Wolfgang Herrndorf, Ihr guter Freund ist?
Robert Koall: Ja, deshalb hatte ich sein Buch früh in der Hand – als es monatelang noch
unentdeckt in den Regalen lag. Daher hat uns der Verlag die Aufführungsrechte überlassen. Wir
haben Tschick als Petitesse in den Spielplan genommen. Einfach, weil wir es so schön fanden.
Wir hatten ein Jahr Zeit, um die Theaterfassung zu entwickeln. Und in diesem Jahr schoss das
Buch sozusagen durch die Decke. Plötzlich hatten wir die Uraufführung eines preisgekrönten
Autors: Jugendliteraturpreis und diverse andere Auszeichnungen. Spiegel- Bestsellerliste.
Plötzlich las alle Welt Tschick. Da hatten wir einfach Glück.
[…] ZEIT: Mittlerweile läuft Tschick
an mehr als 30 Theatern in
Deutschland, Österreich und der
Schweiz – in der von Ihnen
dramatisierten Fassung .
Koall: Ja, das ist echt verrückt. Man
müsste mal ein Tschick- Festival
machen, wo man alle Inszenierungen
zeigt! […]
2 http://www.zeit.de/2012/46/Robert-Koall-Wolfgang-Herrndorf-Tschick/komplettansicht
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ZEIT: Es kam anders. Die Theater haben gleich selber inszeniert. Was hat das Stück zum aktuell
meistgespielten Deutschlands gemacht?
Koall: Meine Antwort darauf ist letztlich banal: Es ist einfach ein super Stoff. Ich kenne
niemanden, gleich welchen Alters, der das Buch angeödet zur Seite gelegt hat. Für Theater ist es
ein dankbares Werk: eine Art Roadmovie, die Geschichte zweier Jungs auf der Flucht in die
Walachei, die man mit wenigen Leuten auf die Bühne bringen kann. […]
ZEIT: Wolfgang Herrndorf ist seit drei Jahren schwer krank, er leidet an einem Glioblastom,
einem bösartigen Hirntumor, es besteht keine Aussicht auf Heilung. […] Seit der Diagnose
schreibt Herrndorf in einem bewegenden Blog über sein Leben mit der Krankheit. Wie war das
für Sie, als Sie darin zum ersten Mal gelesen haben?
Koall: Der war ja lange Zeit nur im Freundeskreis zu lesen. Wir fanden es gut, dass Wolfgang
begonnen hatte zu schreiben. Weil nach der Diagnose seine allergrößte Angst war, dass es
kognitiv den Bach hinuntergeht. Da war dieses Tagebuchhafte auch eine Art Training: Kann ich
mich erinnern, kann ich noch formulieren, kann ich das noch in eine Kohärenz bringen? Und er
merkte, es geht besser und besser, es machte mehr und mehr Spaß.
ZEIT: Irgendwann beschloss er, den Blog zu veröffentlichen. Öffentlich weiterzuschreiben.
Koall: Ja, er hat das Ding einmal überarbeitet, gebügelt. Und seitdem ist es online. Ich kenne die
Klickzahlen nicht. Aber ich treffe erstaunlich viele Leute, die die Seite kennen und sie regelmäßig
lesen. Das ist gut. Und es ist wie ein Befreiungsschlag. Dass Wolfgang sagt: Ich gebe keine
Interviews, ich mache keine Homestorys oder Porträts, aber ich habe meinen Blog. Und durch
diesen Blog behalte ich die Deutungshoheit.
[…] ZEIT: Der Blog ist ein richtiges literarisches Projekt geworden.
Koall: Ja, definitiv. Und im Moment konzentriert er sich allein darauf. Er war mit den Einträgen
länger im Rückstand und hat jetzt wieder aufgeholt. Vervollständigt. Er möchte, dass es
vernünftig endet. Ich finde das unfassbar bewegend. Seinen Perfektionismus. Ich wette auch, dass
er schon weiß, was da stehen soll, wenn es passiert. Da hat ja jetzt immer dieses wahnsinnige
Kürzel druntergestanden, tbc: to be continued.
ZEIT: To be continued, war das beruhigend?
Koall: Man hat sich an diesen schwarzen Gedanken gewöhnt – er wird sterben. Aber das schiebt
sich immer noch ein bisschen raus. Und jedes Mal ist es ein Geschenk.
ZEIT: Wenn Sie darüber nachdenken, wie geht es Ihnen dann?
Koall: Jetzt ist, ehrlich gesagt, der Schock weg. […]
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ZEIT: Im Blog steht: »Keine Anfragen, keine Interviews, keine Lesungen, keine Ausnahmen.«
Wissen Sie, ob sich die Leute daran halten?
Koall: Nö, die halten sich nicht dran. Ich glaube, er regelt das so, dass er alle Post, die für ihn
nicht klar erkennbar ist, einfach wegschmeißt. Aber die Journalisten suchen die Lücke: Das
glauben Sie gar nicht, wie oft hier das Telefon klingelt. Mindestens einmal die Woche. »Herrndorf
gibt ja keine Interviews – können Sie da was vermitteln? Da steht ja drunter, es gebe keine
Ausnahmen...« Und dann antworte ich: »Sie werden staunen, aber genau so ist das gemeint!« Es
gibt herrliche Hasstiraden von Wolfgang im Blog: Wenn Sie die ultimative Krebsheilmethode
haben, schreiben Sie mir nicht! Wenn Sie sich für den einzig richtigen Regisseur für die
Verfilmung von Tschick halten, schreiben Sie mir nicht! Schreiben Sie mir nicht, wenn Ihr Brief
länger als zwei Seiten ist, Sie aber älter sind als 14 Jahre.
ZEIT: Die Medien können nicht umgehen damit, dass einer gar nicht redet, sondern nur über
sich selbst schreibt. Dass da einer kontrollieren will, was man weiß über ihn.
Koall: Das stimmt, das fällt denen schwer. Andererseits: Einen Sterbenden, der darüber hinaus
noch regelmäßig selbst über sich Auskunft gibt, so zu verfolgen? Das finde ich ein bisschen eklig.
ZEIT: Irgendwo schrieb er auch mal, Interviews würden ihm nur wertvolle Zeit rauben.
Koall: Das ist ein wichtiges Argument. Er sagt, er muss schreiben. […]
ZEIT: Was sagt Herrndorf eigentlich dazu, dass Sie seinen Roman für die Bühne adaptiert
haben?
Koall: Als ich ihn fragte, ob ich darf, meinte er, dass er sich den Roman auf der Bühne nicht
vorstellen könne. Aber dass ich mal machen solle. Inzwischen hat er begriffen, dass sein Buch
eine Zweitkarriere als Theaterstück macht. Er ist nur leider nicht mehr in der Lage, zu reisen. Ich
hoffe, dass er mal in Berlin in die Aufführung gehen kann.
ZEIT: Er hat die Bühnenfassung noch nie gesehen?
Koall: Nein. Er hat wohl auch ein bisschen Angst. Nun hat er erst mal seine Eltern vorgeschickt,
die sich die Dresdner Inszenierung angesehen haben. Sie waren begeistert.
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Auszüge aus dem Internettagebuch: «Arbeit und Struktur»
Rückblende,Teil1:DasKrankenhaus3
Der gesamten Rückblende soll ein Zitat von Freud voranstehen: «Durch Worte kann der Mensch
den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben.» Was auf Anhieb nicht nach der tiefsten
seiner Weisheiten klingt […] Aber wenn man eine Ahnung hat, was Freud meinte, kann man das
ruhig so stehenlassen. Und wenn man keine Ahnung hat, bekommt man sie vielleicht hier. Ich
habe sie jedenfalls bekommen.
Es beginnt im Februar mit fünf Bier und einem Kater am nächsten Tag, Kopfschmerzen. Die
Kopfschmerzen halten die Woche über an, und ich schleppe mich nachts zu den Resten
abgelaufener Schmerzmedikamente, die noch im Haus sind, und werfe sie der Reihe nach in
zunehmender Stärke ein, beginnend beim Aspirin. Nichts wirkt. Ich bin zu keinem Zeitpunkt
davon überzeugt, daß es am Haltbarkeitsdatum liegen könnte. Was ein deutsches Medikament ist,
das wirkt auch noch zehn Jahre später, sage ich mir.
Tagsüber habe ich mit der linken Hand – wie zuletzt oft – meine Teetasse umgekippt und in die
Tastatur geschüttet, so daß mein Computer nicht funktioniert. Ich kann mich nicht erinnern,
schon mal krank gewesen zu sein bei gleichzeitigem Ausfall des Computers: Selbstdiagnose ohne
Wikipedia unmöglich. Was der Brockhaus an schütterem Wissen von Migräne über
Gehirnerschütterung bis Hirntumor bereithält, reicht nicht mal, um hypochondrisch zu werden.
Ich gehe zurück ins Bett. Die Kopfschmerzen verschwinden und kommen heftiger wieder.
Weil ich gleichzeitig neurologische Ausfälle erinnere (zweimal mit der linken Schulter an einer
Säule hängengeblieben, einen halben Meter vor den Stuhl gesetzt), gehe ich schließlich zum
Hausarzt. Der schickt mich ins Bundeswehrkrankenhaus, weil es dort am schnellsten gehe,
anderswo warte man oft drei Monate auf ein MRT. […]
Als ich […] später auf Toilette gehe, ergreift mich Schwindel, und ich falle um. Beim Versuch,
wieder aufzustehen, kann ich das Gleichgewicht nicht halten. Beim Versuch, auf allen vieren in
mein Bett zurückzukriechen, kippe ich zur Seite. Schließlich robbe ich flach auf dem Bauch wie
ein Soldat unter Stacheldraht hindurch zum Telefon. Zum ersten Mal in meinem Leben wähle ich
110, und sofort setzt starke seelische Beruhigung ein durch den streng formalisierten Ablauf des
Gesprächs. Kopfschmerzen, Sinusitis, Amitriptylin – ich spüre, daß mein Gegenüber zweifelt.
Umfallen, auf den Bauch und nicht wieder aufstehen können – die Zweifel hören auf, die Fragen
beginnen. Seitenflügel, vierter Stock? Sind Sie allein zu Haus? Können Sie die Tür öffnen? Ja klar,
Mann, so weit kommt das noch, daß ich meine Tür nicht öffnen kann. «In fünf Minuten sind wir
da.» Das gibt mir Zeit, mich halb liegend, halb sitzend anzuziehen, anhaltend froh über das
Bewußtsein einer höheren Ordnung, einer im Hintergrund arbeitenden und sinnreich von
Menschen für Menschen erdachten Maschine, mit der einer lebensbedrohlichen Situation
3
http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/09/rt1/
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routiniert und regelkonform begegnet werden kann. Man möchte so was nicht in Marokko
erleben. Eigentlich nicht mal in Italien.
Was nicht mehr geht, ist Schleife binden. Der Sanitäter bindet mir die Schuhe, während seine
Kollegin mich in der Senkrechten hält und ich an die Papptafel in der Vorschule denken muß. Auf
der Papptafel hundert bunte Schleifchen, unter jedem Schleifchen ein Name, obendrüber groß:
«Meine erste Schleife». Wie lange ist das her?
Ich bestehe darauf, mein Kopfkissen mitzunehmen, da ich zuletzt im Bundeswehrkrankenhaus
den ganzen Tag ohne daliegen mußte. Dann an der Schulter des Sanitäters vier Treppen runter.
Im Krankenhaus wird ein CT gemacht, und ich liege im Bett, als Dr. S. kommt und mir das CT
zeigt und von einer Raumforderung spricht. Ich frage, ob wir das Wort nicht besser durch Tumor
ersetzen wollen, aber er bleibt, wie auch die anderen Ärzte in den folgenden Tagen und
Krankenhäusern, lieber bei Raumforderung. Ich strecke meine Hand wortlos nach hinten, er
ergreift sie und drückt sie einige Sekunden. Es folgt das MRT.
[…] Ich kriege sofort Besuche, und Holm erweist sich als das, was er schon immer war und was
ich in den letzten Jahren, wo wir uns weniger gesehen haben, fast aus den Augen verloren hatte,
als mit allen Eigenschaften des besten Freundes vorbildlich ausgestattet. Er leitet alles in die
Wege und kümmert sich um alles.
Die Operation wird auf den nächsten Vormittag angesetzt, und nachdem Holm und Cornelius
abends gegangen sind, ergreift mich Unruhe: Was, wenn ich nach der OP Gemüse bin, zu keiner
Äußerung mehr fähig? Es ist immerhin das Hirn. Das ist, soweit ich mich erinnere, der erste
Moment der Erschütterung und des Pathos. Ich erreiche Cornelius in der Kneipe auf dem Handy
und erkläre: Solange ich noch mit der Wimper zucken kann – fragt mich – wenn ich noch Ja und
Nein signalisieren kann – fragt mich und dann fragt mich wieder – und dann wie der Indianer in
Einer flog übers Kuckucksnest. Das kriegt ihr hin, oder? Holm, der neben Cornelius sitzt, wirft
das Wort Patientenverfügung ein, und am nächsten Tag habe ich das Blatt in der Hand, sehr viel
sachlicher, runtergekühlter jetzt am Morgen, genau richtig formuliert.
[…] Morgens am 19. Februar ist die OP. Beruhigungsmittel brauche ich nicht. Ich bin vollkommen
ruhig. Der Anblick der Apparate beruhigt mich. Mein Vertrauen in die Wissenschaft war immer
grenzenlos. Sie können nicht alles. Aber sie versuchen es. Auf dem Weg zur OP taucht Julia auf,
das blühende Leben, schwanger und schön, und nimmt meine Hand.
[…] Um sechs wechselt die Pflegeschwester, und ich versuche auf der Uhr, die rechts über der Tür
hängt, herumzurechnen, wie lange ich bis zum nächsten Schichtwechsel warten muß. Von sechs
Uhr drei Mal acht Stunden dazuzählen und wieder bei sechs Uhr landen, ist mir unmöglich. Ich
komme immer bei dreißig raus und kann nicht rausfinden, was dreißig für eine Uhrzeit sein soll.
Sprachlich scheint dagegen alles okay zu sein, ich finde Worte für dieses Uhrversagen, aber die
Rechenleistung: Null. Es scheint mir ein zu verschmerzender Verlust. Dann werde ich in Zukunft
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weniger abstrakte Romane schreiben. Als es mir im Morgengrauen gelingt, zwei zweistellige
Zahlen (17 und 23) miteinander zu multiplizieren, beruhigt es mich dennoch.
[…] Eine meiner ersten Vorstellungen am ersten Tag nach der Intensivstation ist, wie ich in einem
Haus am See wohne, Frau und Kind habe, und neben uns wohnt eine mit uns befreundete Familie
mit Frau und Kind, und einmal rette ich den Mann, weil er im Eis eingebrochen ist, und rufe den
Krankenwagen.
Ich habe einen Fernseher, aber auf 15 Kanälen läuft nichts Gescheites. 22 Leute und ein Ball auf
grünem Rasen, ich kann lange hingucken, ohne zu begreifen, ob die Weißen jetzt Hertha oder
Bayern sind, und wenn ich es herausgefunden habe, vergesse ich es sofort wieder.
[…] Ich bin Schriftsteller, und man wird nicht glauben, daß Literatur mich sonst kaltgelassen
hätte. Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und
Pubertät regelmäßig und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte:
daß man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewußtsein von Menschen, an etwas,
worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu
sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und daß es einen
Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen
Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zuviel gelesen habe,
eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber unter Gewohnheit und Understatement lange
verschüttet.
Man kann das natürlich auch kritisch sehen: Das Absacken in die Phantasiewelt als Ausdruck
vollkommener Hilflosigkeit.
[…] Ich spüre, daß ich nicht mehr Herr im eigenen Haus bin, aber wenn es so schön ist, habe ich
auch nichts dagegen. Ich frage auch die Ärzte nicht, ob mein Körper die Standardreaktion zeigt,
da ich fürchte, ihre Antwort könnte sein, daß es danach ebenso standardisiert in einen noch viel
tieferen Abgrund gehe.
Doch der Abgrund kommt nicht.
Drei4
24.3. 2010 16:39
Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist
voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es
einen Unterschied macht, «ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden» usw. Wenn ich das
drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?
4
http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/drei/
13
[…] 28.3. 2010 21:44
Die letzten Tage den Jugendroman gesichtet und umgebaut, Übersicht erstellt, einzelne Kapitel
überarbeitet, neue entworfen. Jetzt von Anfang an: jeden Tag mindestens ein Kapitel. In
spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1.
28.3. 2010 22:30
Je länger man googelt, desto sicherer sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu überleben, unter
50 Prozent. Immer noch ohne Schlafmittel.
2.4. 2010 8:00
«Du wirst sterben.»
«Ja, aber noch nicht.»
«Ja, aber dann.»
«Interessiert mich nicht.»
«Aber, aber.»
Der Komödienstadel führt sein tägliches Stück zum Weckerklingeln auf, fünf Sekunden später
beendet der Intendant die Vorstellung. Work!
7.4. 2010 7:20
[…] Zwei bis drei Termine am Tag und stundenlange Wartezeiten: So kann ich nicht arbeiten.
Acht Kapitel in zwölf Tagen.
[…] 9.4. 2010 8:10
Auf Wiedersehen, Haare.
Vier5
14.4. 2010 17:28
[...] Ein halbes Jahr Praktikum in der Druckerei, das brauchte man angeblich fürs Kunststudium
in Nürnberg, ein halbes Jahr harte Arbeit, das verschwendetste halbe Jahr meines Lebens. Das
war zu der Zeit, als diese Paßfotos entstanden, auf denen ich mich selbst nicht erkannte, und
meine Mutter eines Tages sagte: Du willst dich nicht umbringen, oder?
19.4. 2010 13:17
[…] Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken,
ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der
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http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/vier/
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Umkleidekabine stehen muß, mit dem Papier an der Wand. Ich versinke in der Geschichte, die ich
da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn ich Bücher las.
Liste der Bücher, die mich in verschiedenen Phasen meines Lebens aus unterschiedlichen
Gründen am stärksten beeindruckt haben und die ich unbedingt noch einmal lesen will:
Der Seeteufel
Aquis submersus
Jane Eyre
Arthur Gordon Pym
Sommer in Lesmona
Im Schatten junger Mädchenblüte
Hunger
Der Idiot
Schuld und Sühne
In Cold Blood
[…] 22.4. 2010 11:38
Bischof Mixa hat’s versenkt. Daß ich das noch erleben darf. Jetzt noch den Papst, Deutschland
Fußballweltmeister und der Jugendroman mit mehr als 3.000er-Auflage, bitte.
23.4. 2010 13:01
Das Wesen der Zeit mag unerfindlich sein, und was ich über Präsentismus, Blockzeit und
Possibilismus auf Wikipedia nachlesen kann, verstehe ich bestenfalls als Konzept. Aber in meinen
täglichen und nächtlichen Gedanken gewinnt die Vorstellung der Unendlichkeit und des Nichts,
zu dem unsere Existenz ihr gegenüber zusammenschrumpft, so sehr an Plastizität, daß ich
manchmal glaube, alles verstanden zu haben. Alles verstanden zu haben. Die Gewißheit kommt
schlaglichtartig und ist nicht so hundertprozentig wie in den Momenten der größten Verrücktheit.
Aber irgendwas ist hängengeblieben. Gestern beim Fahrrad Reparieren alle zwei Minuten eine
Erleuchtung.
[…] 25.4. 2010 8:52
Zwei Tage lang wenig geschafft, dem Hirn beim Regenerieren zugeschaut. Die teilweise schon
wilden Konzentrationsstörungen haben sich gelegt, die Schwummrigkeit überwiegend auch. Ob
die mühsam zusammengeschraubten Kapitel der letzten Wochen etwas taugen, weiß ich nicht.
Der Anfang des Romans war leicht, der war ja auch am weitesten, aber immer spürbarer wird
jetzt zur Mitte hin das Problem, die Fäden in der Hand zu behalten. Warum geht es dem Jungen
zwei Kapitel scheiße, und dann beginnt das nächste Kapitel mit Aufbruch und Begeisterung?
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Unterbricht die Sache mit dem Vater nicht den Lesefluß komplett? Mir fehlt die Übersicht, und
ich wage es nicht, diese Probleme auf eine Schlußkorrektur zu verschieben.
Statt Konzentrationsstörungen Halsschmerzen und Schnupfen. Das wird mir jetzt zu blöd.
Nachdem ich den Alkohol aufgegeben habe, müssen als nächstes die Raucherkneipen dran
glauben. Lebwohl, Prassnik.
28.4. 2010 20:47
Endlich schleppt sich die Romanhandlung raus aus Berlin. Der Lada ist fachmännisch
kurzgeschlossen, und grad hab ich die Jungs auf die Autobahn gejagt und mich unter den Tisch
gelacht über den Einfall, daß sie keine Musik hören können. In Gegenwartsjugendliteratur ist es
zwingend notwendig, die Helden identitätsstiftende Musik hören zu lassen, besonders schlimm
natürlich, wenn der Autor selbst schon älteres Semester ist, dann ist die Musik auch gern mal
Jimi Hendrix, der neu entdeckt werden muß, und Songtextzitate gehören sowieso als Motto vor
jedes Buch. Aber der Lada hat leider nur einen verfilzten Kassettenrekorder. Kassetten besitzen
die Jungs logischerweise nicht, und dann finden sie während der Fahrt unter einer Fußmatte die
Solid Gold Collection von R. Clayderman, und ich weiß auch nicht, warum mich das so
wahnsinnig lachen läßt, aber jetzt kacheln sie gerade mit Ballade pour Adeline ihrem ungewissen
Schicksal entgegen. Projekt Regression: Wie ich gern gelebt hätte.
Ein Motto aus meinem Lieblingsfilm steht dem Buch trotzdem voran, ich hoffe das geht okay:
Dawn Wiener: I was fighting back.
Mrs. Wiener: Who ever told you to fight back?
10.5. 2010 18:20
C. hat mir einen Stapel Jugendliteratur hingestellt, damit ich sehe, was die Kollegen so treiben,
darunter drei Gewinner des Deutschen Jugendbuchpreises. Bis auf ein Buch unternimmt keins
die Mühe, eine Geschichte erzählen zu wollen, sprachlich wirken sie, als wollte ein
Kulturpessimist die Ansicht demonstrieren, Jugendliche könnten längere, zusammenhängende
Sätze oder Gedanken weder formulieren noch begreifen.
[…] Lektüre: Huckleberry Finn. Ich kann mich nicht erinnern, wann genau ich das zum ersten
Mal gelesen habe. Aber dieser unfaßbare Beginn, wie Huck in seiner Kammer sitzt: «I felt so
lonesome I most wished I was dead. The stars was shining, and the leaves rustled in the woods
ever so mournful …» Und dann am Ende das zweifache Miauen im Garten und: «Then I slipped
down to the ground and crawled in amongst the trees, and sure enough there was Tom Sawyer
waiting for me.»
Wenig hat mich, glaube ich, im Leben glücklicher gemacht als die Kieselsteine, die Stefan Büchler
in der Dämmerung gegen mein Fenster schnickte. Die Abende, wo wir die letzten draußen waren,
alle anderen längst im Bett. Wie wir immer auf dem Rand der Sandkiste saßen und Sandklopse
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formten, um uns zu erinnern, wie viele Abende zuvor wir das auch schon gemacht hatten. Wie wir
auf allen vieren kilometerweit durch das Kornfeld gekrochen sind: Flucht aus der DDR. Wie er ein
Taschentuch an dem Bauwagen hinter den Feldern aufhängte, wenn er Zeit hatte und ich ihn
besuchen konnte. Wie er mich einmal verraten hat. […] Wie er eine Adresse in Hamburg nannte,
und ich fuhr einen ganzen Nachmittag kilometerweit mit dem Rad dorthin, um festzustellen, daß
es die Adresse nicht gab. Angeblich hatten sie einen Swimming-Pool dort. Das letzte Bild von ihm,
die letzte Begegnung: Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich fuhr er auf dem Mofa davon,
und ich stand am Möhlenbarg und sah ihm nach.[…]
Einunddreißig6
21.8. 2012 23:59
Spaziergang um den Plötzensee in die wetterleuchtende Nacht hinein. Auf den Steinstufen ein
Pärchen, das sich im Nieselregen auszieht, um zu baden, es donnert. Ich biege rechts in den Park,
die bekannte Baumgruppe, seitlich Grabsteine, Grablichte, eine schwach erleuchtete Villa.
Ich laufe matschige Wege, laufe durch Gras, das höher wird, dann kniehoch. In der Ferne Reste
eines Tores, dahinter eine Lichterreihe, die eine unbefahrene Straße zu säumen scheint, von der
mich ein hoher Zaun trennt. Ich gehe hin und her, die Baumgruppe folgt mir wie ein Schatten,
jetzt will ich zurück. Nachdem ich zum fünften Mal vor der Villa stehe, weiß ich, daß ich mich
verlaufen habe. Ich stapfe durch Unterholz und Morast und versuche, es unter Recherche für den
neuen Roman zu verbuchen.
In unregelmäßigen Abständen ein schwacher Schein in den Sträuchern, eine Art Bach, eine
betonierte Abflußrinne, ist das der See?
Handy hab ich dabei, aber was soll ich damit? Hallo, einen Notfallhelikopter mit
Wärmebildkamera zum Plötzensee bitte, Herrndorf hier, ja, nicht weit vom Ufer des Plötzensees
entfernt unter einem großen Busch, Hartriegel, ja, nein, das könnte Hartriegel sein, natürlich ist
das mein Ernst, Hirnschaden, Heinrich Emil Richard Richard Nordpol, D, Dorf wie Dorf Endlich ein Radfahrer, den ich fragen kann. Falls er nicht bremst, plane ich, mich mit
ausgebreiteten Armen auf den Weg zu stellen, und wenn er versucht, um mich herumzufahren,
bin ich entschlossen, ihn am Gepäckträger festzuhalten, so groß ist die Angst mittlerweile. Aber er
hält, und extrem freundlich weist er mir den Weg: einfach da geradeaus.
Der Klang seiner Stimme und der im Nullwinkel gehobene Arm verraten mir, daß wir uns keine
zwanzig, dreißig Meter vom See entfernt befinden können. Also einfach geradeaus. Zur Sicherheit
strecke ich beide Arme vor, um den Sektor, innerhalb dessen mein Ziel liegt, noch einmal zu
markieren. Daß das mit den Armen nicht funktioniert, wird mir nach drei Schritten klar, und
6
http://www.wolfgang-herrndorf.de/2012/09/einunddreissig/
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stattdessen einen Baum anzupeilen, funktioniert genauso wenig. Die Bäume sehen alle gleich aus,
und wenn ich um einen herum bin, weiß ich nicht, woher ich komme und wohin ich muß.
So irre ich zwischen Parkanlagen, Wiesen und Friedhöfen immer weiter im Kreis, bis ich im Licht
eines explodierenden Blitzes plötzlich etwas durch das Laub aufblinken sehe, und das ist der See.
Zu Hause steige ich mit Jeans und Schuhen unter die Dusche, und ein halber Kubikmeter Sand,
Gras und Schlamm spült von mir herunter in den Abfluß.
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Pressestimmen
Zauberischundsuperporno7‐SüddeutscheZeitung
Gerade wird wieder geklagt, wie mittelmäßig der in der Mitte der Gesellschaft angesiedelte,
vorwiegend realistische deutsche Roman der Gegenwart sei. Ja - aber warum lassen die
klagenden Kritikerinnen und Kritiker dann so oft Autoren links liegen, die nichts mit diesem
erzählerischen Mittelstand zu tun haben? Der träumerische, schräge, lustige und überaus
liebevolle Roman «Tschick» von Wolfgang Herrndorf widerlegt das Gejammer.
Man muss das fade kleinfamiliäre Erzählbiotop zwischen Prenzlauer Berg und Frankfurter
Nordend, das breit floriert, das aber auch nicht besonders wichtig ist, einfach links liegen lassen,
dann bleibt genug übrig. Doch «Tschick», dieses schlechterdings wundervolle Buch, kam nicht
einmal auf die Longlist des deutschen Buchpreises.
Herrndorf, der 1965 geborene, […] hat […] wieder ein Buch vorgelegt, das in die geläufigen Muster
nicht passt. «Tschick» heißt es nach seiner Hauptfigur, dem russlanddeutschen Schüler Andrej
Tschichatschow, und es schickt seine Leser hinaus aus den randstädtischen Wohnbezirken des
neuen bürgerlichen Realismus auf eine Traumreise in ein verrücktes Ostdeutschland, die den
alten romantischen Fahrten Tiecks oder Eichendorffs mit heutigen, gelegentlich amerikanisch
anmutenden Mitteln folgt. Dieser Tschick ist eine erst geheimnisvolle, ja beunruhigende, am
Ende rührende Gestalt, die kaum ein Leser vergessen wird.
Tschick ist der Neue in der Schulklasse von Maik Klingenberg im Osten Berlins, wo ein
bürgerliches Wohnviertel an die Plattensiedlungen Marzahns stößt. Tschick ist hochbegabt,
bettelarm und asozial. Maik kommt aus eher wohlstandsverwahrlosten Verhältnissen, der Vater
scheitert als Immobilieninvestor, die Mutter muss immer wieder in eine Klinik zum
Alkoholentzug. Auch Maik ist ein Außenseiter, heimlich verliebt in das schönste Mädchen der
Klasse (sie heißt Tatjana, er findet sie "superporno"), aber viel zu unbeholfen und
ausdrucksgehemmt, um sich ihr zu nähern. Er gilt als Langweiler, abwechslungsweise als
«Psycho», weil er von den Alkoholproblemen seiner Mutter allzu offenherzig in einem
Schulaufsatz berichtet hat. Ein blöder Lehrer hat einen großen Fall daraus gemacht.
Tschick ist anfallsweise regelrecht betrunken und trägt unmögliche Klamotten; ein gefährlicher
Hauch von russenmafiöser Gewaltsamkeit liegt um ihn. Die beiden sind die Einzigen der
pubertierenden Schulklasse, die nicht zum 14. Geburtstag eingeladen sind, bei dem die schöne
Tatjana sich zu Ferienbeginn feiern lässt. Darum kann Maik ihr auch nicht eine in liebevoller
Kleinarbeit hergestellte Zeichnung von ihrer Lieblingssängerin überreichen.
Wie ein Roadmovie - nur besser
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http://www.sueddeutsche.de/kultur/wolfgang-herrndorf-tschick-zauberisch-und-superporno-1.1011229
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Dafür drehen sie ein anderes Ding. Maik wird mit einer größeren Geldsumme allein in der
elterlichen Villa zurückgelassen (der Vater vergnügt sich mit einer Geliebten, während Mutter auf
Entzug ist), Tschick klaut einen schrottreifen Lada, und damit, mit dem Geld und dem Auto,
brechen die beiden kaum Fünfzehnjährigen zu einer Fahrt ins Blaue auf. Wer jetzt an ein
zeitgenössisches Klischee wie Roadmovie mit Slapstickelementen denkt, liegt nicht ganz falsch,
verfehlt aber doch das Beste.
Herrndorf schreibt einen Episoden- und Abenteuerroman, der das vermeintlich bestens bekannte
und erschlossene Mitteleuropa südlich von Berlin in ein zauberisches Irgendwo verwandelt. Die
Jungen fahren ohne genaues Ziel - zu einem Onkel in der Walachei wolle er, sagt Tschick, aber
was heißt das schon -, querfeldein, immer in der Gefahr, als Kinder erkannt zu werden. Die
Spannung von Verfolgungsjagd und Flucht vor der Polizei liegt über dem Geschehen.
Randständig, exzentrisch, traumhaft poetisch, magisch, oft unheimlich, noch öfter sehr komisch
ist, was die beiden ausgerissenen Jugendlichen sehen und erleben. Sie landen auf Mülldeponien,
in den Mondlandschaften der Braunkohlenutzung, mitten in Feldern, in Bergen, bei Seen, in
namenlosen Gebieten8. Sie bauen gefährliche Unfälle. Sie erleben die Natur mit ihren
Farbwechseln, Gewittern, Nächten, Regen und Sonne. Und sie begegnen Menschen, die so schräg
und überraschend sind wie die Landschaften, durch die sie kommen.
Seltsam teuer, aber nicht mit erkennbaren Marken gekleidete, merkwürdig überhöflich
sprechende Menschen mit ungemein sauberen Gesichtern, fast behindert wirkend, entpuppen
sich als die Gruppe «Adel auf dem Radel». Vermutlich gibt es dergleichen, Boten einer
vergangenen Zeit. Am anderen Ende der Skala entpuppt sich ein Mädchen, das auf einer
Mülldeponie lebt, als kluge, feinnervige Verführerin, die selbst Tatjana Konkurrenz macht.
Der letzte Einwohner eines der Braunkohle überlassenen Dorfs, ein in halbem Wahn lebender
ehemaliger Soldat, schießt mit einem Gewehr auf die beiden Reisenden - aber eine solche
Nacherzählung ist schon eine Auflösung des eigentlich düster und albtraumhaft wirkenden
Geschehens. Überhaupt sollte man bei einem solchen Buch nicht zu viel nacherzählen, weil die
Atmosphäre einer jugendlich frisch erlebten, morgendlichen und fremden Welt dadurch nicht nur
verfehlt, sondern geradezu verletzt würde.
Herrndorf schafft es mit einer wundervoll austarierten einfachen Sprache, die unaufdringlich auf
einen real abgelauschten Jugendjargon anspielt, ihn aber nicht naturalistisch kopiert, seine Welt
ins Schräge zu drehen und so jung erscheinen zu lassen wie seine Protagonisten. Untergründig
kommuniziert sein Ton mit einer anderen Jugendepoche der deutschen Literatur, der Romantik
Tiecks und Eichendorffs. Übrigens ist das schon eine Antwort auf manche gegenwärtige
8 Kursive Hervorhebungen wurden unsererseits gesetzt, um auf Besonderheiten hinzuweisen, beispielsweise auf die
verschiedenen Orte oder auch die Themen, welche im Roman angesprochen werden für die tiefer gehende didaktische
Umsetzung.
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Literaturlangeweile: In deutscher Sprache gedieh «Realismus» noch nie gut, unsere Stärken
liegen anderswo.
Vom Geist zarter Menschenliebe
Herrndorfs Helden entdecken, es kann nicht anders sein, auch Liebe und Freundschaft auf ihrer
Reise; dann den Gedanken von Tod und Sterblichkeit. Diskret und einfach macht Herrndorf das;
man soll es nicht einmal durch herausgerissene Zitate kaputtmachen. Überhaupt ist dieses
nervöse, mit jugendlicher Zerrissenheit spielende Buch von dem Geist zarter
Menschenliebe durchzogen.
Ein Resümee, das Maik, der Ich-Erzähler, gegen Ende zieht, lautet: "Die Welt ist schlecht, und der
Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir
meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch.
Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der
Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent
schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem
einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war."
Was für eine Liebeserklärung in einem pikaresken, fast kleinkriminellen Zusammenhang! Man
lacht viel, wenn man «Tschick» liest, aber ebenso oft ist man gerührt, gelegentlich zu Tränen.
«Tschick» ist ein Buch, das einen Erwachsenen rundum glücklich macht und das man den
Altersgenossen seiner Helden jederzeit schenken kann.
WennmanalldieMühesieht,kannmansichdieLiebedenken9‐FAZ
Tom Sawyer und Huck Finn kreuzen im geklauten Lada durch den wilden Osten: Wolfgang
Herrndorf ist in seinem neuen Roman «Tschick» ganz groß in Fahrt. Der Roman erzählt von
einem Aufbruch, einer Freundschaft und einer Rückkehr, es ist ein Road-Movie und eine Comingof-Age-Story, ein Abenteuer- und ein Heimatroman. Unsere Rezensentin Felicitas von Lovenberg
findet, dass «Herrndorfs Sprache präzise ist bis ins Detail, sich dabei aber immer so locker liest,
dass man leicht vergisst, wie schwierig so ein selbstverständlicher Ton hinzubekommen ist.»
«Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?», tönte es früher im Abspann des
Zeichentricks vom rosaroten Paulchen Panther, und tatsächlich war man jedes Mal traurig, dass
die Sendung schon vorbei war. Das Beste am Jungsein ist ja, dass es ewig dauert, von Moment zu
Moment, sogar noch in der Pubertät, obwohl man die ja meistens so schnell wie möglich hinter
sich lassen möchte. Erst viel später sieht man sich plötzlich nur noch im Zeitraffer.
9 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/wolfgang-herrndorf-tschick-wenn-man-all-diemuehe-sieht-kann-man-sich-die-liebe-denken-1613025.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
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Langsam fernsehen geht nun einmal nicht, langsam lesen schon. Und hier ist ein Roman, den
man ganz besonders langsam lesen möchte, damit er nie zu Ende geht. Denn er versetzt einen
buchstäblich zurück in die Gegenwart, die zugleich ganz neu und seltsam vertraut ist: in diesen
Sommer, als wir vierzehn waren.
«Tschick» erzählt von einem Aufbruch, einer Freundschaft und einer Rückkehr, es ist ein RoadMovie und eine Coming-of-Age-Story, ein Abenteuer- und ein Heimatroman. Vor allem aber ist es
ein großartiges Buch, egal, ob man nun dreizehn, dreißig oder gefühlte dreihundert ist. Das liegt
natürlich am Autor Wolfgang Herrndorf, aber das vergisst man beim Lesen ziemlich schnell, weil
man völlig damit beschäftigt ist, Maik zuzuhören, der die Geschichte erzählt.
Vom Erwachsensein eines Vierzehnjährigen
Maik ist vierzehn, hat gerade die siebte Klasse Gymnasium in Berlin-Marzahn hinter sich, und vor
ihm erstreckt sich die Unendlichkeit von zwei Wochen Sommerferien allein zu Hause. Die Mutter
ist auf einer «Schönheitsfarm», so das familiäre Codewort für ihren regelmäßigen Alkoholentzug,
und der Vater ist derweil mit seiner hübschen Assistentin zu einem ausgedehnten
«Geschäftstermin» aufgebrochen. Maik hat er zweihundert Euro dagelassen und die Anweisung,
«keinen Scheiß zu machen»; notfalls könne er anrufen. «Okay fand ich immerhin, dass mein
Vater gar nicht erst versuchte, irgendein großes Theater abzuziehen.»
Maik ist selbst auch keiner, der irgendein Theater abzieht, erst recht nicht jetzt, wo die
umschwärmte Tatjana ihn als einen der wenigen Klassenkameraden nicht zu ihrer
Geburtstagsfeier eingeladen hat, dabei hatte er ihr schon ein Geschenk gemacht, ein mit großem
Aufwand selbst gezeichnetes Bild ihrer Lieblingssängerin Beyoncé: «Wahrscheinlich wollte ich,
dass man sieht, dass ich mir Mühe gemacht hab. Weil, wenn man das mit der Mühe sieht, kann
man sich den Rest auch denken.» Was Gefühlsäußerungen angeht, hat Maik es noch nicht so mit
Worten, aber als lakonischer, ehrlicher, witziger und außerdem liebenswerter Ich-Erzähler der
Abenteuer dieses Sommers ist er eine Wucht.
Maiks Erzählung folgt dem künstlerischen Grundmuster seines Bildes für Tatjana: Kapitel um
Kapitel werden Episoden, Eindrücke, Szenen, Momente erzählt, und unversehens steht man vor
einer Meisterleistung. Denn gerade als Maik die vietnamesische Putzfrau losgeworden ist und
sich ungestört seiner Tatjana-Melancholie hingeben will, kommt Tschick angefahren. Tschick
heißt eigentlich Andrej Tschichatschow, ist noch neu in Maiks Klasse und ziemlich klug, wenn er
nicht gerade betrunken ist.
Mit seinem Bruder sei er vor einigen Jahren «aus den russischen Weiten» nach Deutschland
gekommen, sagen die Lehrer; die Mitschüler vermuten Verbindungen zur «Russenmafia». Bei
Maik angefahren kommt er jedenfalls mit einem geklauten hellblauen Lada. Und weil Tschick
beschlossen hat, Maik zu mögen, und Maik nicht viele Freunde und ohne Tatjanas Einladung
auch gerade nichts Besseres vorhat, beschließen sie, in die Wallachei zu fahren, zu Tschicks
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Großvater. Da sie keine Ahnung haben, wo das genau liegt, brechen sie auf gen Süden, Tschick am
Steuer, Maik daneben und im Radio eine Cassette mit der «Gold Collection» von Richard
Clayderman.
Hymne auf das Jungsein, Freundschaft, Liebe und das Leben
Wie gut Wolfgang Herrndorf zeichnet, kann man aus der «Titanic» wissen oder von früheren
Haffmans-Umschlägen; wie mühelos er schreibend einen Ton trifft, aus seinem 2002
erschienenen Debütroman «In Plüschgewittern» oder aus dem Erzählungsband «Diesseits des
Van-Allen-Gürtels» (2007). Herrndorfs Sprache ist präzise bis ins Detail, liest sich dabei aber
immer so locker, dass man leicht vergisst, wie schwierig so ein selbstverständlicher Ton
hinzubekommen ist. Auch in «Tschick» liegt die größte Wonne der Lektüre in den Einzelheiten
der gewitzt-liebevollen Beobachtung, in Maiks aufgekratzter Stimme.
Wie Herrndorf diesen Vierzehnjährigen vom ersten Satz an heraufbeschwört, ohne einen einzigen
Ausrutscher immer das richtige Maß findet zwischen altersgerechter Pose, Witz und
Empfindsamkeit, das macht ihm keiner nach. Und weil Herrndorf in «Tschick» auf die latente
Aggressivität verzichtet, jene Grundwut auf die Welt, die den Donner der «Plüschgewitter»
bildete, liest man dieses Buch sogar noch lieber. Denn dass diese Hymne auf das Jungsein, die
Freundschaft, die Liebe und das Leben auch von großer Wehmut und Trauer kündet, macht sie
aus.
Großartige Dialoge
Maik und Tschick, die Berliner Nachfahren von Tom Sawyer und Huck Finn, diese jüngeren
Brüder von Holden Caulfield und Herrn Lehmann, begegnen auf ihrer Odyssee, die - zwei
Minderjährige in einem gestohlenen Wagen - von Anfang an auch eine Flucht ist, allerhand
merkwürdigen Gestalten. Erst gabeln sie auf einer Mülldeponie das Mädchen Isa auf, das sie eine
Weile begleitet, einmal werden sie fast erschossen, ein anderes Mal bauen sie einen Unfall, und
dazwischen wird vieles Wichtige gesagt und vieles ebenso Wichtige nicht. Dass dazwischen
trotzdem alles klar wird und unterwegs außerdem viel gelacht werden darf, aber nie auf Kosten
von Maik und Tschick, macht aus dieser schönen, unaufdringlichen Geschichte große Literatur.
Neben Maiks sensationellen Vergleichen sind vor allem die Dialoge großartig. «Das Buch hieß,
glaube ich, Der Seebär. Oder Der Seewolf.' - ,Du meinst Steppenwolf. Da geht es auch um Drogen.
So was liest mein Bruder.' - ,Steppenwolf ist zufällig eine Band', sagte ich.»
Einmal, nachdem Tschick seine, Maiks und Isas Initialen und die Jahreszahl 10 in die Wand einer
Holzhütte auf einem Berggipfel geritzt hat, schließen die drei einen Pakt: sich in genau fünfzig
Jahren, am 17. Juli 2060 um fünf Uhr nachmittags, hier wiederzutreffen, „egal, wo wir dann
gerade sind, ob wir Siemens-Manager sind oder in Australien“. Und Maik gruselt bei der
Vorstellung, «dass wir dann alle mickrige Greise sind, dass wir wahrscheinlich nur mit Mühe den
Berg raufkommen würden, dass wir dann alle eigene blöde
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Autos hätten, dass wir im Innern wahrscheinlich noch genau dieselben geblieben wären.» In
solchen Sätzen zeigt sich die ganze Klug-, ja Weisheit dieses zärtlichen Buches. Auch in fünfzig
Jahren wird dies noch ein Roman sein, den wir lesen wollen. Aber besser, man fängt gleich damit
an.
Nachruf: Wolfgang Herrndorf
Schluss: «Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am
Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.»10
Schreiben gegen das Ende11 - Die Zeit
Als er seinen Jugendroman «Tschick» veröffentlichte, war Wolfgang Herrndorf schon ein
todkranker Mann. Seine Bücher leben von ihrer Abgründigkeit und ihrem Humor.
«Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter», schrieb Wolfgang Herrndorf in seinem
Blog Arbeit und Struktur. «Aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die
Vergangenheit gerichtet… immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand.» Es ist der
Blick des Schriftstellers, der sich erinnert und das Erinnerte zu erzählen versucht.
[…]Erst relativ spät, mit 37 Jahren, veröffentlicht er (Herrndorf) seinen ersten Roman […].
Der Protagonist [in Plüschgewittern] wird von einer eigentümlichen Mischung aus Passivität und
Aktivität bestimmt, die viele Herrndorfsche Figuren auszeichnet. Es sind Antihelden, die vom
Zufall des Lebens hin und her geworfen werden und immer etwas Abgründiges haben. […]
Im Februar 2010 wird bei Wolfgang Herrndorf ein nicht heilbarer Gehirntumor, ein sogenanntes
Glioblastom diagnostiziert. Die meisten Kranken sterben einige Monate nach der Diagnose, nur
wenige überleben Jahre.
Herrndorf beginnt, das Blog Arbeit und Struktur zu schreiben, zunächst nicht öffentlich, dann
öffentlich. Und er beginnt manisch zu arbeiten. «Ich schreibe … ungefähr dreimal so schnell wie
sonst und zehnmal so viel.»
Jugendroman voller Gedanken über den Tod
Als erstes stellt er seinen sechs Jahre zuvor begonnenen Jugendroman Tschick fertig, der im
Herbst 2010 erscheint und ihn mit einem Schlag bekannt macht. Die Geschichte der Freundschaft
zwischen dem 14-jährigen Maik und dem gleichaltrigen, aus Russland stammenden Tschick, die
einen Lada klauen und damit durch die ostdeutsche Provinz fahren, ist so spannend und witzig,
so überzeugend wirklichkeitsnah erzählt, dass das Buch nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch
10
http://www.wolfgang-herrndorf.de/2013/08/schluss/
11 http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-08/nachruf-wolfgang-herrndorf/komplettansicht
24
bei Erwachsenen ankommt. Mit Tschick gewinnt Herrndorf den Deutschen Jugendbuchpreis und
landet auf der Bestsellerliste des Spiegel.
Aber auch in seinem optimistischsten Roman sind Abgründe deutlich zu spüren. Abgründe, die
lange vor der Krebsdiagnose vorhanden waren. «Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf
Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod… Aber soll ich es
deswegen ändern?»
[…] Herrndorf gelingt es […, dass] jede einzelne Figur, die er schildert, bekommt ein ganz eigenes
Leben. […]. Am Ende war für ihn das Schreiben für Arbeit und Struktur der beste Weg, der Angst
vor dem Tod einen Moment lang zu entgehen. «Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich
arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie,
ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleidekabine stehen muss, mit dem Papier an der Wand.
Ich versinke in der Geschichte, die ich da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn
ich Bücher las.»
Am 26. August ist Wolfgang Herrndorf in Berlin gestorben. Er wurde 48 Jahre alt.
Zum Tod Wolfgang Herrndorfs: Dieses Zuviel ist niemals genug12 - FAZ
[…] Jeder Tod ist traurig. Dieser jedoch wird vielen Menschen das Herz brechen, jungen und
älteren, Frauen und Männern, Viellesern und solchen, die sonst mit Literatur nichts am Hut
haben. Denn sie alle verdanken diesem Autor einen Roman, der zu jenen raren Büchern gehört,
die einen durchs Leben begleiten, weil all das, was man sonst besser fühlen als sagen kann, darin
enthalten ist: Überschwang und Wehmut, Glück und Freundschaft, Einsamkeit und Endlichkeit,
überwölbt von der Sehnsucht nach dem einen, alles beglaubigenden Augenblick. Über eine
Million Mal hat sich «Tschick» verkauft, die 2010 erschienene Abenteuerfahrt zweier
jugendlicher Ausreißer, die auf ihrem Weg durch den wilden Osten den Geheimnissen des Lebens
begegnen.
Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist in der Nacht zum Dienstag gestorben. Er wurde 48
Jahre alt. Leser seines Blogs, den er im Frühjahr 2010 zu schreiben begann, nachdem bei ihm ein
bösartiger Gehirntumor diagnostiziert worden war, fürchteten seit Monaten um ihn, denn immer
häufiger thematisierte Herrndorf körperliche und sprachliche Aussetzer, immer intensiver lasen
sich die Einträge wie Abschiede. «Es gibt uns nicht. Wir sind schon vergangen», schrieb er im
Juli, wenige Tage nach einem Arztbesuch mit hoffnungslosem Befund: «Ende der Chemo. OP
sinnlos.» Einige Monate habe er vielleicht noch, meinte der Arzt, aber Herrndorf schrieb:
«August, September, Oktober, November, Dezember, Schnee. Jeder Morgen, jeder Abend. Ich bin
12 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/zum-tod-wolfgang-herrndorfs-dieses-zuviel-ist-niemals-genug-
12549002.html
25
sehr zu viel.» Die Vermutung, dass er Zeitpunkt und Art seines Todes selbst würde bestimmen
wollen, wurde gestern von seiner Freundin, der Autorin Kathrin Passig, bestätigt. Sie twitterte,
Wolfgang Herrndorf sei nicht an Krebs gestorben, sondern habe sich in den späten Abendstunden
des 26. August am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals das Leben genommen.
Einsamkeit und Weltschmerz hinter der Pose
Mit diesem Tod verliert die deutsche Literatur nicht nur einen ihrer beliebtesten, sondern auch
einen ihrer wirkmächtigsten, ungewöhnlichsten, besten Autoren. Vier Bücher hat Herrndorf
veröffentlicht; der Blog «Arbeit und Struktur», in dem manche sein eigentliches Hauptwerk
erkennen und der am Dienstag zeitweilig überlastet und nicht zugänglich war, soll das fünfte
werden.
Freunde haben Herrndorf, der seit seiner Krebsdiagnose öffentliche Auftritte und Interviews
mied, als scheuen Perfektionisten geschildert, der sich wochenlang mit Detailfragen
auseinandersetzen konnte; er war von extremer Bescheidenheit, was eigene Bedürfnisse anging,
und besessen von seiner Arbeit. Begonnen hatte der gebürtige Hamburger nach dem
Kunststudium als Illustrator und Zeichner, arbeitete für die «Titanic» und schuf Umschlagbilder
für den Haffmans Verlag. 2002 erschien sein Debüt «In Plüschgewittern», und bereits da
unterschied der Ton das Buch von anderen popliterarischen Zeitgeistromanen. Denn der rotziglässige Sound des wütend durchs Land driftenden Erzählers ist nicht Selbstzweck, sondern als
Pose erkennbar, hinter der Einsamkeit und tiefer Weltschmerz wohnen.
Nachruf auf Wolfgang Herrndorf: Ohne Sprache gibt es kein Leben 13 - TAZ
Ein Buch, das flog und dann das dunkle Gegenstück dazu – das schaffte Wolfgang Herrndorf.
Sein bester Text handelt nicht vom Sterben, sondern vom Leben.
Wie gut Wolfgang Herrndorf als Schriftsteller war, wusste lange Zeit wohl nur er selbst. Dann
kam «Tschick». Ich habe diese Ausreißergeschichte um die beiden jugendlichen Antihelden Maik
Klingenberg und Andrej Tschichatschow 2010 mit dem Bewusstsein aufgeschlagen: Okay,
bestimmt ein weiteres ziemlich lustiges und interessant geschriebenes Buch aus dem Umfeld der
digitalen Boheme.
Mit solchen Büchern hat der 1965 in Hamburg geborene Wolfgang Herrndorf zu schreiben
angefangen, nach einem Studium der Malerei und mitten drin in einer dieser sich ganz
romantisch anhörenden, tatsächlich aber sicher oft nervenden prekären Existenzen in Berlin.
Wenig Geld. Aber interessante Menschen kennen. Sich mit Illustrationen und Internet
durchschlagen. […]
13 http://www.taz.de/!5060368/
26
Aber »Tschick» war dann anders – ein Buch, das flog. Es ist ein Roman großer
Menschenfreundlichkeit und ebenso großen schriftstellerischen Formbewusstseins. Diese
lustigen Details! Die Richard-Clayderman-Kassette. Die Zeichnung, mit der der Ich-Erzähler
seine Liebste beeindrucken möchte. Vor allem aber diese so genau gebaute und nie geschrieben
wirkende Sprache, die Herrndorf seinem Ich-Erzähler gegeben hat. Das alles war von großer
Raffinesse, die niemals auch nur ansatzweise ungut durchschimmerte.
Ungefähr zur selben Zeit wurde bei ihm ein Hirntumor festgestellt, und seitdem versuchte man
sich die künstlerromantisch klingende Frage zu verbieten, ob die gesteigerte schriftstellerische
Schaffenskraft irgendetwas mit der Krankheit zu tun haben könnte. Nicht, dass es letztendlich
darauf ankommt. Beides war dann da: das kleine große Meisterwerk «Tschick» und der Krebs.
[…] Der allertollste Text aber, ein unfassbar genauer, anrührender, humorvoller, wahrhaftiger
Text sind die Tagebucheinträge […], die Wolfgang Herrndorf nach Ausbruch der Krankheit ins
Internet gestellt hat.
Dieses akribische Protokoll des Lebens mit der Krankheit war eben kein Text über das Sterben,
sondern einer über das Leben. Sonnenaufgänge. Baden im Plötzensee. Einträge wie: «Unsterblich
duften die Linden.» Gegen Schluss taucht noch eine tote Libelle auf, die Herrndorf beerdigt. Es ist
schön zu hören, dass der Blog als Buch erscheinen wird.
Eine Entscheidung, die Respekt erfordert
Dass er lieber im Winter sterben würde, wusste man aus einem der Einträge. So ist es nicht
gekommen. Drei Operationen, zwei Chemotherapien, drei Bestrahlungen. Der Krebs kam immer
wieder zurück. Wolfgang Herrndorf hat in dem Blog nie einen Zweifel daran gelassen, dass er den
Freitod wählen würde, wenn er durch den Krebs seine Sprache verlieren würde. Am Montag in
den späten Abendstunden hat er sich am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin erschossen. Eine
Entscheidung, die Respekt erfordert. Wobei einem die Pistole krass erscheint.
Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich als Literaturredakteur eigentlich etwas vorbereiten
müsste für den Moment, in dem er tot sein wird. Ich habe es – gar nicht groß mit ihm bekannt,
nur durch die Kraft seiner Wörter auf die besondere, wenn auch einseitige Art befreundet, wie
man als Leser mit seinem Autor befreundet sein kann – nie hinbekommen.
Ich habe mich manchmal dabei ertappt, mir auszumalen, wie der Moment wohl sein würde, in
dem ich von seinem Tod erfahre. Er war dann so, wie Wolfgang Herrndorf ihn vielleicht selbst
beschrieben hätte: banal. Ich war zu Fuß unterwegs, als das Handy klingelte. Als ich den Anruf
annahm, stand eine Krähe vor mir und sah mich an. Das schreibe ich natürlich keineswegs, weil
ich denke, dass diese Krähe irgendetwas mit Herrndorf zu tun hätte.
27
An so etwas Kitschiges wie ein Nachleben irgendeiner Art nach dem Tod hat er nicht geglaubt.
Auch das kann man in dem Blog nachlesen. Aber so war es halt. Dann ist die Krähe lässig
davongehüpft.
Zum Tod von Wolfgang Herrndorf: Er liebte es kalt und komisch14 - Süddt. Zeitung
[…] Warum gerade ich, warum ich? Die Frage, die für Krebskranke nahezuliegen scheint, hat sich
Wolfgang Herrndorf nicht gestellt. Ein knappes Jahr nachdem bei ihm ein bösartiger Hirntumor
diagnostiziert wurde, schrieb er in seinem Blog «Arbeit und Struktur»: «Warum ich? Warum
denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.» So beherrscht, ohne Heldenpose,
ohne Sentimentalität, schrieb er über die Krankheit, Klarheit wollend.
Die Klarheit und seine Souveränität wollte er sich von niemandem nehmen lassen. Wenige Tage
später, am 15. Januar 2011, notierte Wolfgang Herrndorf einen bitteren Moment. Sein
Jugendroman "Tschick", im Herbst zuvor erschienen, fand immer mehr begeisterte Leser:
«Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch
so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und
gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige
Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.» Das war die Kurve dieses Lebens:
Als der Erfolg sich endlich einstellte, diktierten Operationen, Bestrahlungen, Chemos,
Überlebensstatistiken, Wahrscheinlichkeiten den Alltag. Die vielen Preise, die Herrndorf nun
erhielt, mussten Freunde entgegennehmen.
[…] Vier große Bücher
In der Nacht auf den 27. August ist Wolfgang Herrndorf im Alter von 48 Jahren gestorben. Die
Freundin und Autorin Kathrin Passig teilte am Dienstag mit, Wolfgang Herrndorf sei nicht am
Krebs gestorben, sondern habe sich das Leben genommen. Zurück bleiben vier große Bücher, die
auf verschiedenen Wegen noch einmal die ganz großen Fragen stellen: nach der Einsamkeit, der
Sehnsucht, dem Glück, dem Bösen im Menschen und in der Welt. Sie sprechen davon auf ganz
gegenwärtige Weise, ohne metaphysische oder weltanschauliche Krücken zu bemühen. […]
14 http://www.sueddeutsche.de/kultur/zum-tod-von-wolfgang-herrndorf-er-liebte-es-kalt-und-komisch-1.1756188
28
Zusätzliches Material
Outtake:Tschick15‐eineentfalleneSzene
Einmal sollten wir ein Gedicht schreiben. Da hatten wir monatelang Gedichte gelesen und
analysiert, Goethe, Schiller, Hebbel, so die Richtung, und das sollte jetzt weitergehen mit modern.
Nur daß modern keiner mehr verstand. Einer hieß Celan und ein anderer Bachmann, da hätte
man Simultandolmetscher gebraucht.
«Lyrik ist die Sprache der Gefühle», hat Kaltwasser uns immer wieder klargemacht, und wer das
in seinen Aufsatz schrieb, hatte schon mal eine Drei sicher: Lyrik ist die Sprache der Gefühle. Nur
daß einem das bei diesem Celan auch nicht weiterhalf, und das ganze Desaster endete damit, daß
Kaltwasser fragte, wer denn schon mal selbst so was probiert hätte. Ein Gedicht schreiben. Keiner
natürlich.
«Das ist nichts, wofür man sich
schämen muß», sagte Kaltwasser
und wartete.
[…] Die Sprache der Gefühle. Aber,
wie gesagt, nach Inhalt wurde nicht
gefragt. Weil, Kaltwasser ging es
jetzt um die Hausaufgabe, und die
war, daß wir eben alle auch mal so
was machen sollten. Wir wüßten ja
jetzt, wie das geht, Kreuzreim,
Dings, A-B-A-B. Und dann noch Stilmittel.
Aus irgendwelchen Gründen hatte ich die Hausaufgabe am nächsten Tag aber vergessen, und als
Kaltwasser dann tatsächlich jeden einzelnen der Reihe nach aufgerufen hat, hab ich mich erstmal
auf Toilette verabschiedet. Mit Zettel und Füller. […]
Wenn man über Liebe und so was schreiben will, sollte man wahrscheinlich schon länger darüber
nachdenken als fünf Minuten auf dem Schulklo. Hat Goethe bestimmt auch gemacht. Außerdem
hatte ich nicht wirklich vor, ein Gedicht über Tatjana zu schreiben. Aber wenn nicht über Tatjana,
worüber dann? Eins über mich? Über die Natur? Über das Klo? Türken? Auschwitz? Mir fiel nur
Quark ein. Ich liebe dich, du blöde Sau, während ich ins Jungsklo schau. Nee, nee. Vielleicht
doch besser harmlos machen die Sache – wie hieß das noch? Metaphorisch, genau. Einfach die
Liebe weglassen und über die Landschaft reden. Und am Ende stellt sich raus, es ist gar keine
Landschaft gemeint, sondern Frau von Stein. Der Winter kommt. Die Luft ist kalt. Ich hab kein
Schal, Herr Rechtsanwalt. Nein.
15
http://www.wolfgang-herrndorf.de/2010/12/ot1/
29
Als ich in die Klasse zurückkam, hatten schon fast alle gelesen. Die Reihe war an meinem Platz
längst vorbei, und nur die zwei hinteren Bänke kamen noch. Den größten Erfolg hatten Jungen,
die die Worte Scheiße und Arsch in ihren Gedichten untergebracht hatten. Wobei Arsch das
Schwierigste zu sein schien, quasi Königsdisziplin. Da spielte gleich in zwei Gedichten von der
letzten Bank irgendein Fluß die Hauptrolle, damit nämlich ein Barsch in dem Fluß schwimmen
konnte. Und was war das für eine Begeisterung am Ende, wenn das Reimwort kam! Nur
Kaltwasser mochte es nicht so.
Die Stunde war fast um, und ich hoffte schon, nicht mehr dranzukommen. War aber leider nicht
so. Kaltwasser setzte ein feines Lächeln auf, überblickte die ganze Klasse und sagte: “Unser
Freund Maik Klingenberg. Dann lies doch mal vor, was du da in fünf Minuten über dem Urinal
zusammengekritzelt hast. Wenn’s Versmaß stimmt, mach ich nicht mal einen Eintrag.”
Immer dieses Problem mit den Erwachsenen. Einerseits blicken sie’s oft nicht. Aber dann blicken
Sie’s wieder. Kaltwasser blickte es meistens. Ich packte meinen Zettel aus und las: «Ich liebe
dich.»
«Ich liebe dich? Was? Lauter!» rief Kaltwasser.
«Ich liebe dich. Und ganz egal.
Der Winter kommt. Ein warmer Schal
Ist besser als ein kalter.
Ich bin zu häßlich für mein Alter.
Du bist zu schön. Und das vergeht.
Das ist nicht neu. Nichts bleibt, nichts steht.
Ein Lada steht im Parkverbot.
In hundert Jahren sind wir tot.»
«Soso. Wir können schon Ironie», sagte Kaltwasser. «Na – das hätte Goethe in fünf Minuten
auch nicht besser hingekriegt. Kein Eintrag. Hausaufgaben zum nächsten Mal: Seite 122 oben.»
30
Heldenreise:WiedieHeldenreiseentdecktwurdeundnachHollywood
kam16
Die Heldenreise wird hier nochmals thematisch gesondert aufgegriffen. Erstens weil Wolfgang
Herrndorf in verschiedenen Interviews erwähnt hat, dass er sich davon hat inspirieren lassen
(siehe Interview S. 5). und zweitens weil es für den Deutschunterricht spannend sein könnte, sich
mit der Thematik Heldenreise am Beispielwerk «Tschick» zu beschäftigen.
Stufe1:DieGewohnteWelt
Jeder Mensch ist auf einer Heldenreise. Und weil wir unsere Reisen normalerweise Zuhause
beginnen, heißt die Stufe 1 der Heldenreise auch «Die Gewohnte Welt».
Die Gewohnte Welt ist die, die Du in- und auswendig kennst. Sie ist vorhersehbar und bietet Dir
große Sicherheit. Montagmorgen, Beginn der Arbeitswoche. Mittwoch Tennis. Am Sonntag ein
Ausflug mit der Familie. In der Gewohnten Welt weißt Du genau, was Du kannst. Pünktlich sein,
vor Menschenmengen sprechen, gut kochen, 10 km unter einer Stunde laufen. Du weißt, wie
Andere Dich behandeln und wie Du Dich dabei fühlst. In der Gewohnten Welt gibt es viel Routine
und wenig Überraschungen. Das Leben ist erwartbar, weil Du es Dir so eingerichtet hast und es
für Dich so gut funktioniert. Aber die Gewohnte Welt ist auch eine Welt des Mangels. Sie ist
NICHT aufregend und besonders. Es gibt KEINE fantastischen, total überraschenden Momente,
zumindest nicht am laufenden Meter. KEINE Gefühlsachterbahnen. Nur Dich und Dein typisches
Verhalten.
Und genau da ist auch schon eines der führenden Prinzipien guter Geschichten versteckt. Ich
kann eine Geschichte nämlich nicht damit anfangen, dass die Hauptperson am Frühstückstisch
sitzt (wie jeden Morgen) und Müsli isst (wie jeden Morgen) und darüber TOTAL glücklich und
aufgeregt ist. Das ist keine Geschichte - zumindest keine die funktioniert. Wenn ein Held auf die
Reise gehen soll, dann bitte mit einem Erzähleinsatz im letztmöglichen Moment. Also: Die Frau
sitzt am Küchentisch und hasst nicht nur ihr Müsli sondern auch ihr restliches Leben. Oder sie
liebt es – aber in drei Sekunden wird etwas passieren. Vielleicht ruft die Liebhaberin ihres
Ehemannes an. Oder sie findet einen Joint in der Jackentasche ihres Kindes. Egal was geschieht,
es muss etwas sein, was ihr Leben in der Gewohnten Welt komplett in Frage stellt. Beim Film
nennen wir das auch «den auslösenden Moment».
Jetzt sitzen wir aber erstmal noch in der Gewohnten Welt am Küchentisch. Wir sind gelangweilt
von unserem Leben und frustriert, weil wir ahnen, dass wir unsere Talente verschwenden, anstatt
unserer Bestimmung zu folgen.
Noch einmal: Die Gewohnte Welt am Anfang der Geschichte ist auch immer eine Welt des
Mangels. In «Pretty Woman» arbeitet Julia Roberts alias Vivian als Prostituierte und kann noch
nicht einmal ihre Miete zahlen. Aber auch bei ihrem Gegenpart, Richard Gere alias Edward, gibt
16
http://www.storytellingmasterclass.de/wp-content/uploads/Die-Heldenreise.pdf
31
es einen Mangel. Er ist zwar wohlhabend, wird aber in der Eröffnungssequenz an seinem
Geburtstag von seiner Freundin am Telefon verlassen.
Natürlich werden die Mängel zu Beginn eines HoIlywoodfilms oder eines Romans sehr verdichtet
erzählt, damit man gleich «am Haken» hängt. Aber auch in unserem normalen Leben sind die
Mängel meist sehr deutlich und offensichtlich. Wenn Du Dich fragst: «Was sind meine Träume?
Worüber ärgere ich mich am meisten? Was würde ich gerne machen, wenn ich frei entscheiden
könnte?» resultieren Deine Antworten meist direkt aus den Mängeln der Gewohnten Welt.
Dein Chef hält Dich klein. Du bist zu dick. Bei der Arbeit kannst Du Deine Talente nicht ausleben.
Du würdest gerne ein kleines Café eröffnen. Deine Kinder sind nicht dankbar und Dein Mann
nicht liebevoll genug. Du hättest gerne mehr Sex. Mehr Zeit für Dich. Du würdest gerne singen
lernen. Einen Bestseller schreiben. Den erfolgreichsten Film des Jahrhunderts drehen. Eine
Gehaltserhöhung bekommen. Einen Job finden, in dem Deine Ideen geschätzt werden.
Kurz gesagt: Irgendetwas fehlt.
FRAGE: Was fehlt Dir?
Egal was Du gerne verändern würdest, egal ob Dir das Reisen, ein Partner, Aufregung oder
Erfüllung fehlen: DASS Dir etwas fehlt ist eine GUTE NACHRICHT.
Denn genau diese «mangelhaften» Gefühle und Gedanken sind der erste Schritt, um zu
realisieren, dass es da draußen mehr für Dich gibt. Sie sind ein Hinweis auf Dein Potenzial.
Ich erkläre das gerne visuell. Das Symbol für Yin und Yang ist Schwarz und Weiß. Für jede Sache,
die es gibt, existiert das genau passende Gegenteil. Du musst Dir das so vorstellen, als ob die
Sonne hinter einem Berggipfel steht. Yin ist die dunkle Talgegend, wo die Sonne niemals
hinkommt. Yin ist Deine Gewohnte Welt – in der Du oft keinen Ausweg siehst, weil Du ihn im
schattigen Tal eben nicht sehen kannst. Die sonnige Gegend hinter dem Berg ist das Yang – die
Welt in der Du gerne leben würdest. Weil die Sonne sich bewegt, kann es durchaus sein, dass
manchmal Licht in Deinem Tal ist. Das sind die Momente, in denen Du deutlich spürst: Ich weiß
da ist noch mehr. Ich weiß ich kann das schaffen. Ich habe Potenzial.
Aber: Wir wollen solche Gedanken eben nicht nur manchmal haben – sie sollen Realität werden.
Oder wie es Julia Roberts zu einem viel späteren Zeitpunkt der Heldenreise in Pretty Woman
formuliert: «Ich will, dass mein Traum wahr wird.»
Du weißt ja: Jede Reise beginnt Zuhause. Und wenn in Deinem Zuhause etwas fehlt, MUSS es das
also in einem anderen «Zuhause», in der sonnenbeschienen Welt hinter dem Tal geben. Und es
MUSS dort total normal sein. Aber – wie kommst Du jetzt auf die andere Seite des Berges?
32
In Kürze:
1.
Du kennst die Gewohnte Welt in- und auswendig.
2. Dir fehlt etwas.
3. Weil Dir etwas ganz Bestimmtes fehlt, kann es genau das für Dich auch geben.
Stufe2:DerRufzumAbenteuer
Der «"Ruf zum Abenteuer» ist der Moment, in welchem dem Held klar wird, dass er sich aus
seiner Gewohnten Welt, seiner Comfort Zone herausbewegen muss. Denn wenn die alte Welt
Mängel hat, braucht es nur eine kleine Instabilität, um mitten drin zu sein, im Abenteuer.
Nehmen wir mal einen ziemlich alten, aber sehr erfolgreichen Film: «Alien». In «Alien» befindet
sich die gesamte Besatzung im Kälteschlaf auf dem Rückweg zur Erde, zur Gewohnten Welt.
Plötzlich ändert der Zentralcomputer des Raumschiffs selbsttätig den Kurs und weckt die
Besatzung. Warum? Weil er ein Signal empfangen hat – den Ruf zum Abenteuer. Und
schwuppsdiwupps landet das gesamte Raumschiff auf dem unwirtlichen Planetoiden LV-426. Das
nenne ich mal einen ordentlichen Ruf zum Abenteuer.
Oder in Pretty Woman: Da fährt Edward mit dem Lotus durch L.A. und hält am HollywoodBoulevard (neue Welt für Edward). Er fragt nach dem Weg und Vivian steigt ein, um ihm den
Weg zu zeigen (Ruf zum Abenteuer). Sie fahren ins Beverly Wilshire Hotel (neue Welt für Vivian).
In Titanic trifft Rose Jack. (Alte Welt begegnet neuer Welt = Ruf zum Abenteuer).
In Harry Potter und der Stein der Weisen bekommt Harry einen Brief aus Hogwarts - und als er
den nicht öffnen kann, bekommt er noch einmal tausend Briefe. Ja, das kann einem passieren,
wenn man den Ruf zum Abenteuer nicht hören will (in diesem Fall: nicht hören kann). Dann
ertönt er fortwährend und immer wieder Im Alltag kann der Ruf zum Abenteuer eine beiläufige
Bemerkung […] sein. […]
Es kann auch sein, dass Deine alte Welt Teile Deiner Persönlichkeit, Deiner Bedürfnisse und
Talente unterdrückt. Du wolltest schon immer malen? Auf dem Rückweg von der Arbeit siehst Du
ein Schild in einem Schaufenster: Studio zu vermieten. Du schreibst Dir sofort die
Telefonnummer auf.
Vielleicht gibt es auch jemanden in Deinem direkten Umfeld, der Dich seit Jahren ausnutzt und
immer nur anruft, wenn Du etwas für ihn tun sollst (alte Welt). Und der ruft gerade heute an, als
Du total im Stress bist und echt keinen Kopf dafür hast – mit einer ziemlich unverschämten Bitte.
Auch das kann Dein Ruf zum Abenteuer sein. Plötzlich platzt es aus Dir heraus und Du sagst ihm,
was Du wirklich von ihm hältst (neue Welt). Hast Du so etwas schon einmal erlebt?
33
Beschreibe Dein Erlebnis:
Dein Ruf zum Abenteuer ist Dein erster unverstellter Blick auf das, was sein KÖNNTE.
Deine innere Stimme spricht zu Dir und sagt: „Das muss ich ausprobieren. Ich will wissen, ob ich
das kann. Ich will endlich mein Leben beginnen. Ich will das machen.“ Und schon bist Du kurz
davor,den wichtigsten Schritt Deines Lebens zu machen. Wichtig ist nur, dass Du jetzt auch
losgehst. Oder wie Joseph Campbell, der Entdecker der Heldenreise, es formuliert:
«Die große Frage ist, ob Du zu Deinem Abenteuer wirklich und von Herzen «JA» sagst.»
In Kürze:
1.
Dir wird klar, dass Du Dich aus Deiner Comfort Zone herausbewegen musst.
2.
Dein Ruf zum Abenteuer ist Dein erster unverstellter Blick auf das, was sein KÖNNTE.
3.
Wenn Du den „Ruf zum Abenteuer“ ignorierst, hörst Du ihn immer wieder.
4.
Sagst Du «JA» zum Abenteuer?
Stufe3:DieVerweigerungdesRufs
«Wenn Dein Weg ganz klar vor Dir liegt und Du jeden Schritt schon im Voraus kennst, dann ist es
nicht Dein Weg. Deinen eigenen Weg erschließt Du Dir mit jedem einzelnen Schritt, den Du
machst – während Du gehst.» Joseph Campbell
«WAAAS? Jetzt hat meine
Gewohnte Welt einen Mangel,
ich habe den Ruf zum
Abenteuer gehört – und JETZT
soll ich den verweigern?» Nein,
Du sollst nicht: Du wirst.
Einfach weil es in der Natur der
Dinge liegt. Denn sobald Deine
Berufung oder der Mensch, der
Du im besten Fall sein
könntest, zum Greifen nah ist,
wirst Du Entschuldigungen
34
suchen. Keine Angst, das geht nicht nur Dir so, sondern jedem Menschen. Eigentlich ist es sogar
ganz OK, denn es zeigt, dass Du nicht völlig verrückt bist.
Du spürst schon jetzt, dass das bevorstehende Abenteuer viele Herausforderungen für Dich
bereithält. Du wirst jede Menge Energie brauchen, um sie zu bewältigen. Dein ganzes Leben wird
sich verändern. Und wenn das kein guter Grund ist, um zu sagen: «Warte eine Sekunde! Ich bin
mir nicht sicher, ob ich das wirklich will!» – dann habe ich nie einen guten Grund gehört.
Denk einfach mal ein paar tausend Jahre zurück. Wir sind hier, weil unsere Vorfahren eine
Menge richtiger Entscheidungen getroffen haben. Immer haben sie die Sicherheit des Stammes
über ihre eigene Erfüllung gestellt. Damals war es eine Überlebensfrage, genau zu wissen, wann
man besser wieder zurück in die Höhle flüchtet und wann man rausläuft, um das Mammut zu
attackieren. Wenn man nur EINMAL ein schlechtes Timing hatte, musste man das mit dem
Leben bezahlen und schwächte seinen Stamm. (Wer mehr dazu lesen will, dem lege ich das Buch
«Linchpin» von Marketingguru Seth Godin ans Herz.) Wenn Du also Entschuldigungen
vorschiebst, sobald Deine Chance kommt, im Rampenlicht zu stehen, spricht wahrscheinlich Dein
Körper zu Dir - und damit das gesammelte Wissen Deiner Vorfahren. Selbst wenn Du dieses
evolutionäre Dilemma mit Deinem neuzeitlichen Wissen («Mammuts sind ausgestorben»)
überwinden kannst, meldet sich sofort Dein innerer Zensor.
«Ich war noch nie in meinem Leben in irgendetwas besonders gut. Ich will mich nicht
beschweren, es läuft ja alles. Aber ich habe eben kein herausragendes Talent. Wie soll ich jemals
jemanden finden, der mich liebt? Wie soll ich an meinen Traumjob kommen? Ich glaube, dass ich
einfach nicht interessant genug bin, um solche Chancen zu verdienen.»
Ich will Deinem inneren Zensor nicht widersprechen – das überlasse ich lieber Joseph Campbell.
«Ich habe mich immer unwohl gefühlt, wenn jemand über «Normalsterbliche» gesprochen hat.
Das mag daran liegen, dass ich noch nie einen «gewöhnlichen» Mann, eine «gewöhnliche» Frau
oder ein «gewöhnliches» Kind getroffen habe.« Jeder, auch Du, bist besonders gut in
irgendetwas. Lass Dir von Deinem inneren Zensor bitte nichts anderes erzählen.
Lass Dich nicht dazu überreden, ein langweiliges Leben zu führen. Halte Dich nicht an AngstSätzen wie diesem hier fest: «Ich finde mein Leben so wie es ist ganz in Ordnung. Es ist zwar
nicht besonders aufregend, aber ich mag es, wie es ist. Wenn jetzt die Zeit stehenbleiben würde,
wäre alles in Ordnung.»
Noch eine andere Art von Verweigerung wird aus den eigenen Reihen kommen.
Überraschenderweise von den Menschen, die Dir am Nächsten stehen. Sie werden versuchen,
Dich von Deiner Reise abzuhalten. Es sind die «Schwellenhüter» – und diese Art Menschen
kennen wir ALLE.
35
Es ist Deine Mutter, die sagt: «Du hast einen sicheren Job und musst Deine Familie ernähren. Ich
dachte, ich hätte Dich besser erzogen als in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität egoistische
Entscheidungen zu treffen.»
Es ist Dein alter Freund, der sagt: «Bist Du Dir sicher, dass er der Richtige ist? Ich hasse es, Dich
daran zu erinnern, aber Dein letzter Mr. Right sitzt gerade wegen Steuerhinterziehung im
Gefängnis!»
Es ist Dein Arbeitskollege, der sagt: «Du und ein Schriftsteller??? Alles, was ich von DIR gehört
habe, wenn es darum ging, einen Bericht zu schreiben, war: ‘Wer kann das für mich
übernehmen?»
Es ist Deine eifersüchtige Schwester, die sagt: «Na klar, dass DU jetzt ein Haus bauen darfst und
damit MEIN Erbe verschleuderst – Papa hat Dich ja schon immer bevorzugt.»
Wie Recht er hat. Wenn Du Deine Talente leben und Deine Träume umsetzen willst, gibt es nur
eine einzige Möglichkeit. Du musst weitergehen und Dich ausschließlich mit Menschen umgeben,
die Dich unterstützen und an Dich glauben. Es gibt kein Gesetz, das besagt, dass Du tun musst,
was andere von Dir erwarten. Die Erwartungen der Anderen sind die Erwartungen der Anderen.
Nur wenn Du Deinem Ruf zum Abenteuer folgst, wirst Du das beste Leben leben, was für Dich
möglich ist. Nur dann wirst Du erleben, was wirklich für Dich «drin ist». Dein Leben ist viel zu
wertvoll, um faule Kompromisse einzugehen. Setz Deine Träume an die erste Stelle. Go Go Go!
In Kürze:
1.
Die Evolution hat Dich gelehrt, dass es besser ist, Risiken zu vermeiden.
2.
Dein innerer Zensor meldet sich zu Wort.
3.
Die „Schwellenhüter“ versuchen, Dich vom Aufbruch abzuhalten, indem sie an Deine
Ängste appellieren.
4.
Nur wenn Du Deinem Ruf folgst, wirst Du Deine Träume umsetzen können.
Stufe4:BegegnungmitdemMentor
Sobald Du dem Mentor begegnest, wirst Du aufhören, den Ruf zum Abenteuer zu verweigern und
Deine Heldenreise antreten. Aber - was genau ist ein Mentor und wie erkennst Du ihn?
Der Mentor ist eine «Quelle der Weisheit», also jemand, der in einem bestimmten Bereich mehr
weiß als Du. Meist, weil er mehr Erfahrungen gesammelt hat. Du kannst mit jeder Frage zu ihm
gehen (und ich bin mir sicher, dass Dir schon beim Lesen dieser Zeilen jemand einfällt, der in
Deinem Leben ein Mentor war). Vielleicht ist Dein Mentor schon immer da, vielleicht kennst Du
ihn auch erst seit einer Woche. Zeit spielt keine Rolle. Es zählt nur, dass der Mentor auf einem
36
«Wissensschatz» sitzt, der Dein Wachstum fördert. Damit ist er für Deine persönliche
Entwicklung von größtem Wert. Nur er hat Informationen, die Dir helfen, Dich auf Deine
Berufung und nicht auf Deine Angst zu konzentrieren.
Du kannst Mentoren an einer Vielzahl von Eigenschaften erkennen:

Ein echter Mentor gibt oft und gerne.

Er erwartet dafür nichts.

Du fühlst Dich großartig, wenn Du mit ihm zusammen bist.

Er gibt Dir das Gefühl großer Sympathie, fast wie eine Welle.

Er teilt sein Wissen gerne.

Er kennt die Gewohnte Welt und die Neue Welt.

Er spielt keine Spielchen. Nicht ein einziges Mal.

Er zieht Dich in die richtige Richtung.
Hier ein paar Mentoren-Beispiele aus Hollywoodfilmen:

Matrix: Neo (Held) – Morpheus (Mentor). Morpheus ermöglicht es Neo, seine Reise in die
Matrix anzutreten.

Star Wars: Luke (Held) – Yoda (Mentor). Yoda trainiert Luke darin, die Macht zu
benutzen.

Pretty Woman: Vivian (Heldin) – Der Hoteldirektor (Mentor). Der Hoteldirektor ebnet
Vivian mit adäquater Kleidung und Tischsitten den Zugang in die neue Welt.
Oft ist der Mentor auch ein besonderer Spaßvogel – ein Stilmittel, das Shakespeare gerne
verwendet hat. Grund: Der Narr hat nichts zu verlieren und kann alles sagen, auch die Wahrheit.
Oder der Mentor hat einen großen «Makel», so wie Dustin Hoffman in «Rain Man». Er spielt den
autistischen Raymond, der es trotz seiner vermeintlichen Behinderung schafft, seinem Bruder
Charlie die besten Ratschläge zu geben, wie er sein Leben führen sollte.
Wer war oder ist in Deinem Leben ein Mentor/ eine Mentorin?
Jetzt ein Wort der Warnung: Wenn Du auf Deiner Reise oder kurz davor bist, sie anzutreten, wirst
Du auf Menschen treffen, die nur so tun, als ob sie Mentoren sind. Auch sie kannst Du leicht an
ihren Verhaltensweisen erkennen:

Sie wollen, dass Du ihnen etwas schuldest.

Sie versuchen immer, so genannte Doublebind-Beziehungen aufzubauen, im Sinne von:
«Ich gebe Dir etwas und deshalb schuldest Du mir jetzt was und musst das auch im
37
großen Stil zurückzahlen.»

Sie machen Dich klein, um sich selbst groß zu fühlen.

Sie tun so, als wäre ihr Wissen unglaublich erstrebenswert und riesig.

Sie werden Dir sagen, dass es keinen besseren Weg gibt, einen Fuß in die Tür zu
bekommen, als für sie zu arbeiten –am besten umsonst.
Mark Twain hat mal einen fantastischen Rat formuliert, wie man solche Menschen erkennt:
«Haltet euch fern von Menschen, die versuchen eure Ambitionen zu ersticken. Das sind
Kleingeister. Wirklich großartige Menschen geben Dir das Gefühl, dass auch Du großartig sein
kannst.»
Denk zum Beispiel an Michael Douglas alias Gordon Gekko in Wall Street und Du hast ein
ziemlich gutes Bild vor Augen, wie so ein Möchtegern-Mentor aussieht. Aber all das wusstet Du
sicher auch schon vorher – wenn Du auf Dein Bauchgefühl gehört hast!
In Kürze:
1.
Der Mentor sitzt auf einem Wissensschatz, der für Deine Entwicklung von größtem Wert
ist.
2. Der Mentor stellt keine Bedingungen und erwartet nichts.
3. Der Mentor kennt die «neue» und die «alte Welt».
4. Du wirst auf «Möchtegern-Mentoren» treffen, die versuchen, Doublebind-Beziehungen
aufzubauen.
Stufe5:ÜberschreitendererstenSchwelle
Ich liebe das Dschungelbuch. Wer tut das nicht? Der Erfolg des Dschungelbuches beruht – neben
den fantastischen Charakteren, Ideen und Zeichnungen – auf der Heldenreise. Stufe 5 oder das
«Überschreiten der ersten Schwelle» ist der erste echte Wendepunkt Deiner Reise. Der Moment,
in demDu die alte Welt (bei Mogli: das Wolfsrudel) hinter Dir lässtund die neue Welt (bei Mogli:
dass er ein Mensch ist) annimmst.
Bagheera - als Moglis Mentor - hilft ihm dabei, denn er begleitet Mogli bei der Reise zurück zu
den Menschen. Am Anfang ist Mogli nicht wirklich bereit zu einer Veränderung.Ihm fehlen alle
Fertigkeiten, um als Mensch im Dschungel klarzukommen. Als es darum geht, die erste Nacht im
Dschungel ohne Wolfsrudel zu verbringen und dafür zur Sicherheit auf einen Baum zu klettern,
führt Mogli an

dass er nicht ins Menschendorf zurück möchte

dass der Baumstamm zu groß für ihn ist und

dass er keine Krallen hat.
Genauso fühlen sich die meisten, wenn sie daran denken, die Gewohnte Welt zu verlassen und
den ersten Schritt in die neue Welt zu machen. Kein Wunder, ist sie doch normalerweise das
38
komplette Gegenteil der Gewohnten Welt. Sie ist voller fremder Menschen, ungewohnter
Verhaltensweisen und andersartiger Werte. Und deshalb macht sie Dir erst mal Angst.
Das Überschreiten der ersten Schwelle ist der Moment, in dem Du tatsächlich etwas TUST, was
sich nicht umkehren lässt. Davor war die Veränderung eher ein Gedanke, ein mögliches
Konzept. Ab jetzt bist Du der Veränderung verpflichtet und gehst voll in ihr auf. Du entscheidest
aktiv, etwas zu verändern und handelst. Du kündigst Deinen alten Job. Du beginnst endlich zu
sagen, was Du wirklich denkst. Auf Deinem Blog oder in Deiner facebook-Community. Du rufst
jemanden an oder fasst etwas in Worte, was Du bisher immer nur gedacht hast. Solange es ein
aktiver Schritt in Richtung Talent, Traum und Berufung ist, ist es Dein metaphorischer
Übertritt in die besondere Welt, den zweiten Akt Deiner Reise.
Manchmal legen Helden in Filmen Symbole aus der alten Welt ab, wenn sie die Schwelle
überschreiten, so wie z.B. Dian Fossey in «Gorillas im Nebel» ihre Jacke ablegt. Manchmal gibt
es ein Symbol, das für den Eintritt in die neue Welt steht. In «Matrix» schluckt Neo die rote Pille
und wird aus der Matrix befreit. In «Alice im Wunderland» fällt Alice in den Kaninchenbau. Und
in «Pretty Woman» betritt Vivian die Hotellobby des Beverly Wilshire Hotels - um dann in den
Fahrstuhl nach oben zu steigen.
Mittlerweile hast Du sicher ein wichtiges Prinzip der Heldenreise erfasst. Sobald Du einen Schritt
vorwärts machst,wird ein Schwellenhüter testen, wie ernst es Dir damit ist. Nehmen wir also mal
an, Du willst kündigen, weil Deine Gewohnte (Arbeits-)Welt Dir nicht mehr gefällt. Vielleicht ist
Dein Chef ein Schwellenhüter, weil er Dich bei einem großen Projekt fest eingeplant hat. Oder
Deine Frau, weil sie glücklichist, dass Du einen Job in eurem Wohnort hast und deshalb abends
früher zuhause bist.
Den meisten Menschen fällt es so schwer, aufzustehen und zu sagen,was sie möchten, dass sie
lieber einLeben in der Gewohnten Welt mit all ihren Mängeln verbringen.
Kennst Du Matt Harding? Er ließ seinen sicheren Job als Programmierer von Computerspielen
inklusive wenig Bewegung, ungesundem Essen und Bauchansatz hinter sich. Wofür? Er reiste
um die Welt, tanzte vor Sehenswürdigkeitenund ließ sich dabei filmen. Das hört sich verrückt an?
Sein letztes Video hatte über 40 Millionen Klicks.
Auch für Matt war das Überschreiten der ersten Schwelle der schwerste Schritt. Als er erst einmal
seinen Job gekündigt hatte, um die Welt reiste und für seine Lebensfreude bekannt wurde, waren
die Dinge im Flow und er hatte jede Menge Spaß. Aber sich dafür zu entscheiden und etwas zu
beginnen, das Menschen verrückt fanden: DAS war schwer.
Direkt nachdem er gekündigt hatte, fühlte er sich befreit, weil er sein neues Ich erahnen konnte.
Er veränderte sein Verhalten und begann zum ersten Mal, sein Leben wirklich zugenießen. Er
lebte komplett in der Gegenwart. Ich finde, das sieht man seinen Videos an. Denn Matt zeigt mit
ganz einfachen Bildern, was passiert wenn man sich auf die Heldenreise seines Lebens macht,
39
anstatt sein Leben tagein tagaus in der Gewohnten Welt zu verschwenden. DAS nenne ich
inspirierend.
In Kürze:
1.
Den meisten Menschen fällt das Überschreiten der ersten Schwelle so schwer, dass sie
ihr Leben lieber in der Gewohnten Welt mit all ihren Mängeln verbringen.
2.
Das Überschreiten der ersten Schwelle ist der Moment, in dem Du tatsächlich etwas
tust, was sich nicht umkehren lässt.
3.
Der zweite Akt der Heldenreise beginnt.
4.
Die neue Welt ist das Gegenteil der Gewohnten Welt.
Stufe6:Bewährungsproben,Verbündete,Feinde–Experimentierenmitderersten
Veränderung
In Stufe 6 der Heldenreise passiert etwas ganz Neues. Ab jetztteilt sich die Welt in Gut und Böse.
So wie in dem Film «Jerry Maguire», in dem Tom Cruise den Agenten Jerry spielt, der
hochrangige Sportler betreut und vermarktet. Als er mit einem Memo über Moral, Werte und
Arbeitsethik das «Agenturnest» beschmutzt und gefeuert wird, muss er ganz schnell einen Schritt
in die neue Welt machen. Er gründet eine eigene Firma und braucht dazu anfangs vor allem
Kunden.
Jerry und sein Gegenspieler in der Agentur rufen nun gleichzeitig alle Klienten an, in dem
Versuch, sie auf ihre Seitezu ziehen. Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit. Jerry telefoniert so
lange mit Rod, einem Footballspieler, dass ihm die anderen Kunden währenddessen «flöten
gehen». Danach sind die Fronten klar in Gut und Böse aufgeteilt.
In der 6. Stufe der Heldenreise lernst Du viele neue Menschenkennen. Für einige ist Deine Reise
eine Bedrohung – schließlich bist Du neu in ihre Welt gekommen und willst dort einen Platz
einnehmen. Um nicht vom Weg abzukommen und die Reise fortzusetzen, musst Du das
Unaussprechliche aussprechen. Nur dann wirst Du herausfinden, wer Dein Freund, Dein Feind
oder ein Gestaltwandler ist.
Ein Was? Ein Gestaltwandler. Das kann jemand sein, der erstwie ein Feind wirkt und dann zum
Freund wird. Oder andersherum: Erst Freund, dann Feind. Wir lieben es, neue Freundschaften
zu schließen, wenn wirunseren Träumen folgen. Ein Mann, der sich auch schon immer
selbständig machen wollte, könnte ein potenzieller Geschäftspartner sein. Die Studentin, die
neben uns in der Immatrikulationsschlange steht und auch noch ein
WG-Zimmer sucht? Bingo. Die junge Mutter im Geburtsvorbereitungskurs - die war doch einfach
toll!
Das Problem an der 6. Stufe der Heldenreise ist, dass Du Dich erstnoch selbst orientieren musst.
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Während gerade noch jemand wie ein Freund wirkt, kannst Du schon in der nächsten Minute
feststellen, dass seine Werte und Einstellungen zum großen Teil doch nicht mit Deinen
übereinstimmen. Dann wird aus Freund zwar nicht direkt Feind, aber zumindest eine herbe
Enttäuschung.
Es liegt aber nicht immer nur am Gegenüber, dass sich etwas verändert, sondern auch an Dir. Je
mehr Du in der neuen Welt ausprobierst, desto mehr passiert auch in Dir.
Plötzlich hörst Du Sätze wie:
1.
«Du schätzt mich und meine Arbeit nicht genug. Wieso machst Du nicht gleich alles
selbst – offensichtlich weißt Du jaeh alles besser. Ich bin echt sauer auf Dich. Ich bin
ab jetzt bei der Arbeit und auch den ganzen Tag in Meetings.»
Übersetzung: Du folgst Deinen Träumen. Ich habe Angst, dass Du mich abhängst.
Ruf ich so schnell wie möglich an und zeig mir, dass ich Dir etwas bedeute.
2.
«Du wirst keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, wenn Du aufhörst für mich zu
arbeiten.»
Übersetzung: Ich sehe Dein Talent und kann Deine Energie fühlen. Du bist viel besser
als ich. Bitte zieh mich mit oder ich gerate in Panik.
3.
«Du hast Dich echt verändert und bist ganz schön egoistisch geworden. Ist es das echt
wert?«
Übersetzung: Ich habe erkannt, dass Du auf Deinem Weg und sehr fokussiert bist. Ich
kann da nicht mithalten. Ich muss Dich klein machen, um mich besser zu fühlen.
In Deiner Gewohnten Welt hat nie jemand so mit Dir gesprochen, weil Deine Rolle klar war.
Jetzt, wo Du mit Deiner Rolle experimentierst, macht das manchen Menschen Angst. Sie können
nicht einschätzen, wie Du Dich als Nächstes verhältst. Das macht Dich zu einem
unkalkulierbaren Risiko – vor allem für DEN Gestaltwandler,der Dir sehr ähnlich ist, aber im
Gegensatz zu Dir nicht handelt.
Während Du mit der Veränderung experimentierst, wirst Du einigen Hindernissen begegnen, oft
in Form Deiner Ängste. Jerry Maguires größte Angst ist es, von seinen Klienten zurückgewiesen
zu werden. Als dieser Supergau eintritt, gibt es nachher nur einen Spieler, der bei Jerry bleibt.
Und genau der bekommt dann eine sehr große Bedeutung für Jerrys persönliche Entwicklung.
Spätestens ab dieser Stufe der Heldenreise wirst Du beginnen zu sagen, was Du denkst. Das wird
Dir zwar ein paar neue Feinde, aber auch jede Menge Verbündete einbringen. Die sind jetzt
besonders wichtig, weil sie Dir die Regeln der neuen Welt beibringen können und Dich
herumführen werden. Je besser Du die Regeln jetzt lernst und je mehr Du über diese Welt
erfährst, desto besser bist Du für die nächste Stufe vorbereitet. Und auf die darfst Du schon
gespannt sein, denn sie heißt nicht umsonst: «Vordringen in die tiefste Höhle».
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In Kürze:
1.
Ab jetzt teilt sich die Welt in Gut und Böse auf.
2. Du musst das Unaussprechliche aussprechen, um herauszufinden, wer Dein Freund
und wer Dein Feind ist.
3. Gestaltwandler sind Menschen, die sich von Freund in Feind oder von Feind in Freund
verwandeln können.
4. Weil Du mit Deiner Rolle experimentierst, wirst Du zu einem unkalkulierbaren Risiko.
5. Du lernst die neuen Regeln der neuen Welt.
Stufe7:VordringenindietiefsteHöhle
Ein Redewendung, die diese Stufe präzise beschreibt: «Es fällt mir wie Schuppen von den
Augen.» Plötzlich siehst Du kristallklar – auch Deinen Antagonisten. Du begreifst, welcher
Kollege an Deinem Stuhl sägt. Wer in der Konferenz gleich versuchen wird, Dich auszustechen.
Und warum Du nicht den Hauch einer Chance hast, Dein Examen zu bestehen oder den letzten
Platz im Kindergarten zu ergattern.
Ich wette: Die tiefste Höhle ist ein Ort, an dem Du schon einmal warst. Jetzt verstehst Du zum
ersten Mal die Situation WIRKLICH und siehst das große Ganze.
Und genau deshalb wird jetzt auch das Finale eingeläutet. Du bist zwar schon vielen Menschen
begegnet, mit denen Du nicht auf einer Wellenlänge lagst und die es nicht unbedingt gut mit Dir
meinten. Aber das hier ist anders. Dein Gegenüber ist alles, was Du nicht bist. Er ist die
Umkehrung all Deiner guten Eigenschaften, Deiner Hoffnungen und Träume. Er steht auf der
komplett anderen Seite.
Gleichzeitig erkennst Du auch Deinen größten inneren Feind. Das kann Deine Passivität sein
oder Deine Unfähigkeit, ein Geheimnis für Dich zu behalten. Vielleicht ist es auch Deine
Gutgläubigkeit oder Dein Wunsch, Dich mit allen gut zu verstehen. Jetzt begreifst Du: Genau das
könnte Dir schon bald den Hals brechen.
Michael Douglas hat in den 90ern in zwei Filmen mitgespielt, die das gleiche Thema haben und
in denen auch die tiefste Höhle identisch ist. In «Eine verhängnisvolle Affäre» betrügt er seine
Ehefrau (Anne Archer) mit einer anderen Frau(Glenn Close).
Auch in «Enthüllungen» ist er verheiratet, hat aber Beinahe-Sex mit seiner Ex-Freundin, die
gleichzeitig sein Boss ist. Das Vordringen in die tiefste Höhle ist in beiden Filmen der Moment,
wo Michael Douglas seiner Ehefrau von dem Betrug erzählt. In dem Moment erkennt er ganz
klar, wer sein Freund (die Frau, der er sich anvertrauen kann) und wer der Feind ist (die andere
Frau).
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Das Vordringen in die tiefste Höhle ist der Tag vor dem dramaturgischen Klimax, der Tag vor
dem Showdown. Der Alarmknopf ist in Reichweite – aber noch ist nichts passiert. Nur, dass Du
erfasst hast, was geschehen könnte. Du stehst Auge in Auge mit dem, was oder wen Du am
meisten fürchtest.
Nimm Dir Zeit, alles aufzunehmen, was um Dich herum geschieht. Sauge alles in Dich auf – denn
hier, in der tiefsten Höhle, kannst Du die Informationen sammeln, die Dir nachher helfen, den
großen Kampf zu gewinnen. Hier wird der Einsatz noch einmal erhöht. Es geht um Deine
(seelische)Gesundheit, Dein Glück und Dein (Über-)Leben.
Lerne zu denken, wie Dein Feind. Versammele Menschen um Dich, als würdest Du eine Armee
aufstellen. Krieger, die Dich beim härtesten Kampf Deines Lebens unterstützen. Nur so kannst
Du in die tiefste Höhle vordringen und die zweite neueWelt betreten. Aus dieser Welt gibt es
keinen Ausgang. Aber dafür bekommst Du die Chance, tief in Dir eine ganz neue Kraft und
Energie zu entdecken, mit der Du alle Herausforderungen des Lebens meistern kannst.
Oder wie Joseph Campbell es formuliert:
«Die Höhle, die Du zu betreten fürchtest, birgt den Schatz, nach dem Du suchst.»
In Kürze:
1.
Du siehst kristallklar und begreifst die Situation als Ganzes.
2.
Du stehst Deinem größten Antagonist gegenüber, der die Umkehrung all Deiner guten
Eigenschaften, Hoffnungen und Träume ist.
3.
Du erkennst Deinen größten inneren Feind.
4.
Es ist der Tag vor dem dramaturgischen Klimax, der Tag vor dem Showdown.
Stufe 8:Entscheidungskampf
Die Stufe 8 der Heldenreise ist wie die Schlacht gegen Napoleon oder der Drachenkampf von
Siegfried. Du bist endlich im Bauch des Walfisches angekommen. Jetzt ist der Moment, in dem
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Du Dich entscheiden musst. Hop oder Top, Ja oder Nein. Der Entscheidungskampf findet immer
nach zwei Dritteln des Weges statt, denn es ist der Wendepunkt.
Im Film ist es die Stelle, in der die Musik wieder einsetzt. In «Notting Hill» sagt Julia Roberts zu
Hugh Grant, dass sie ein ganz normales Mädchen ist, das von ihm geliebt werden will.
Als diese Szene 1999 gedreht wurde, hatte Julia Roberts den Mann ihres Lebens, Danny Moder,
noch nicht getroffen. Sie war kurz vor diesem Wendepunkt in ihrem Privatleben, denn mit Danny
hat sie später jemanden gewählt, der genau so wenig «Star» war wie Hugh Grant in seiner Rolle
als der Buchhändler William Thacker.
Julia steht also vor Hugh und genau in dem Moment, in dem sie beginnt, sich zu öffnen und ihr
Herz in die Waagschale zu legen, setzt die Musik ein. Im Film wird das so gemacht, weil wir
Zuschauer dann die Emotion besser nachfühlen können. Im wirklichen Leben wird die Musik
ersetzt vom Adrenalinrauschen und den wilden Emotion, die wir in solchen Momenten
empfinden.
Nur wenn Deine ganze Situation sich vorher extrem zugespitzt hat, wird die Verwandlung hier
überlebensgroß sein. Je mehr Tränen Du zuvor vergossen hast, je mehr Angst und Zweifel Du
gehabt hast, je unfairer Du behandelt wurdest, desto mehr wird der Entscheidungskampf Dein
Leben verändern. Das hier ist Leben oder Tod. Schwarz oder Weiß.
10 Mitarbeitern kündigen. Sich als homosexuell outen. Das Medizinstudium abbrechen. Immer in
dem Bewusstsein, dass Du damit bestehende Gefüge, Pläne und Träume zerstörst.
Deine Hochzeit im letzten Moment absagen. Danach wird nichts mehr sein, wie vorher. Und das
ist genau das, woran man einen Entscheidungskampf erkennt.
Etwas ändert sich – ohne die Möglichkeit, es wieder rückgängig zu machen und die alte
Weltordnung wieder herzustellen.
Hollywoodstar Matthew McConaughey hat in einem Interview mal beschrieben, wie er gelebt hat
bevor er Camila Alves heiratete und Kinder mit ihr bekam. Damals buchte er seine Reisen immer
ohne Rückfahrschein. Egal ob er in den Dschungel flog oder zum Surfen – er hatte nur ein
Hinflugticket in der Tasche. Mit Camila und der Familiengründung hat sich sein Verhalten
komplett geändert. Matthew hat sich dafür entschieden, seiner Familie verpflichtet zu sein. Er
möchte, dass sie wissen wo er ist und wann er zurückkommt. War er früher vogelfrei, so hat er
jetzt seine wichtigste, stabilisierende Determinante gefunden. Wie gesagt - die Stufe 8 der
Heldenreise ist der entscheidende Wendepunkt. Danach kann alles anders sein: Das eigene
Verhalten, das Selbstbild, die Gefühle.
Oft ist der Entscheidungskampf das «Supreme Ordeal» – die schlimmste Folter. Du streitest Dich
bis aufs Blut. Du weinst und schreist. Und alles steht auf dem Spiel.
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Das ist Billy Elliott, der vor seinem Vater tanzt und ihm in die Augen schaut. Das ist Nemos Vater,
der im Bauch des Wals von Dorie lernen muss, loszulassen. Das ist der schwache George in
«Zurück in die Zukunft», der Biff aus dem Auto zerrt und ihn ausknockt – und damit das Leben
seines Sohnes Marty McFly alias Michael J. Fox für immer verändert.
Es ist der Moment, vor dem Du am meisten Angst hast, weil Du spürst, dass er Dich am meisten
verändern wird. Du schaust dem Tod ins Auge – manchmal im übertragenen Sinne, weil ein alter
Glaube oder ein Wertesystem stirbt. Aber manchmal, weil es z.B. bei einem Unfall oder am
Sterbebett der eigenen Eltern auch wirklich um den Tod geht. Vielleicht ist es aber auch etwas
ganz anderes, was Dich verändert: Du bekommst ein Kind oder verrätst Dein größtes Geheimnis.
Jedenfalls ist das DIE Situation, vor der Du Dein ganzes Leben lang Angst hattest. Aber: ohne
Schmerz keine Verwandlung. Im Entscheidungskampf begegnest Du Deinem dämonisierten
Schatten, einer Reflektion Deiner dunklen Seite. Du stehst Angesicht zu Angesicht mit Deiner
größten Angst. Denk an den Kampf «Luke Skywalker gegen Darth Vader» und Du bekommst ein
ziemlich gutes Bild davon, was einen waschechten Entscheidungskampf ausmacht.
In Kürze:
1.
Der Entscheidungskampf ist der Wendepunkt und die größte Veränderung in der
Geschichte.
2.
Es geht um Leben und Tod - alles steht auf dem Spiel.
3.
Nachher ist nichts mehr wie vorher - ohne die Möglichkeit, es wieder rückgängig zu
machen.
4.
Oft ist der Entscheidungskampf das «Supreme Ordeal», der Moment, vor dem Du am
meisten Angst hast.
5.
Du begegnest Deinem dämonisierten Schatten, einer Reflektion Deiner dunklen Seite.
Stufe9:BelohnungundErgreifendesSchwerts
Nachdem der Held im Entscheidungskampf «stirbt» und wiedergeboren wird, wird in Stufe 9
ausgiebig gejubelt. Große Freude und mächtig viel Stolz auf das Geschaffte machen sich breit. Du
hast gewonnen – und jetzt bekommst Du dafür die Belohnung.
Dein Schiff ist leichter, Du siehst wieder klarer und fühlst Dich frei. Dein Körper ist wie
energetisiert und Du würdest am liebsten sofort mit allem loslegen. Jetzt beginnt die wichtigste
Reise Deines Lebens: die Reise zu Deinem wirklichen Selbst.
Spannenderweise ist das der Moment, in dem die meisten Hollywoodfilme enden, obwohl es im
wirklichen Leben erst richtig losgeht. Jetzt hast Du nämlich die «einfachen» 2 Drittel des Weges
hinter Dir und das «schwierige» oder besser gesagt «anspruchsvolle» Drittel beginnt – aber
davon bald mehr.
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Die Belohnung und das Ergreifen des Schwerts ist die Stufe der Heldenreise, in der Du die
Landkarte Deines Lebens ausbreitest und die Route festlegst. Du sagst: «Das hier möchte ich von
nun an tun.» Es ist ein Moment, in dem Du viel über Dich selbst begreifst – oder wie Oprah
Winfrey sagen würde ein «Bing Bing Bing Aha Moment».
Ausgerüstet mit dieser Selbsterkenntnis wirkt plötzlich alles einfach und der Held nimmt den
Schatz an sich. Deshalb wird in Hollywoodfilmen jetzt Hochzeit gefeiert, es gibt jede Menge
Liebesszenen und nostalgische Momente.
In «Zurück in die Zukunft« küsst George Lorraine. In «Harry Potter und der Stein der Weisen»
erfährt Harry Dinge über seine Eltern, die er vorher nicht wusste. In Titanic gibt sich Rose nach
ihrer Rettung ihrem Verlobten nicht zu erkennen. Anstatt dessen nimmt sie das Geschenk an, das
Jack ihr gemacht hat – die Chance auf ein eigenes Leben in Unabhängigkeit.
Das Besondere an der Stufe 9 ist die einzigartige Vitalität, die Du spürst. Nicht nur weil Du für
Deine Anstrengungen und für das „Überleben“ belohnt wirst, sondern weil Du mit den
gewonnenen Erkenntnissen einen neuen Teil Deiner eigenen Lebendigkeit entdeckt hast. So wie
Cuba Gooding Jr. bei seiner ekstatisch-fröhlichen Oscar-Dankesrede für Best Supporting Actor in
«Jerry Maguire».
Joseph Campbell sagt dazu: «Es heißt, dass wir alle nach dem Sinn des Lebens suchen. Ich glaube
vielmehr, dass wir Erfahrungen machen wollen, bei denen wir uns lebendig fühlen.»
Manchmal gelingt es Dir in der Stufe 9 sogar, Dich selbst zu überraschen. Dann denkst Du: «Ich
hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe!», fühlst Dich noch wohler in Deiner Haut und spürst,
dass Dein Selbstvertrauen gewachsen ist.
In Kürze:
1.
Du jubelst und feierst ausgelassen.
2.
Du erkennst, was Du von jetzt an tun möchtest.
3.
Du fühlst Dich besonders lebendig und kraftvoll.
4.
Manchmal bist Du von Dir selbst und dem, was Du geschafft hast, überrascht.
5.
Du spürst, dass Dein Selbstvertrauen gewachsen ist.
Stufe10:Rückweg
Stellt Dir einmal vor, Du fährst nach langer Zeit und nachdem viel in Deinem Leben passiert ist,
wieder in Deine Heimatstadt. Du kennst dort jede Ecke und es kommen viele Erinnerungen hoch,
die mit diesem Ort verbunden sind. Und Du fragst Dich: «Könnte ich hier noch einmal leben?»
46
Als Julia Roberts und Daniel Moder sich 2000 am Set von «The Mexican» kennen gelernt haben,
mussten sie danach wieder den Rückweg antreten – in ihre Gewohnte Welt. Dort warteten Julias
langjähriger Freund Benjamin Bratt und Daniels Frau und seine beiden Töchter.
Noch im gleichen Jahr trennten sich Julia und Daniel von ihren Partnern. Sie hatten festgestellt,
dass sie nicht mehr in ihrer «Heimatstadt» leben konnten. Julia hat über diese Zeit einmal
gesagt: «Daniel hat bei sich aufgeräumt und ich bei mir. Wir haben das getrennt voneinander
getan. Ich glaube, dass wir uns nur deshalb ultimativ ineinander verlieben konnten.»
Der Rückweg ist gleichzeitig eine erneute Hinwendung zur Veränderung. Wir müssen Zweifel und
Ängste überwinden und uns wieder dem Abenteuer zuwenden.
Dabei kann es sein, dass entbehrliche Charaktere geopfert werden. Oft beinhaltet diese Phase
auch einen Rückschlag, der das Schicksal des Helden umzudrehen droht.
In «Pretty Woman» unterhalten sich Vivian (Julia Roberts) und Edward (Richard Gere) über eine
gemeinsame Zukunft.
Vivian: Look, you made me a really nice offer. And a few months ago, no problem. But
now everything is different, and you've changed that.
Edward: And you can't change back.
Vivian: I want more.
Edward: I know about wanting more. I invented the concept. The question is: How much
more?
Vivian: I want the fairy tale.
Danach wird Vivian mit Edwards Wagen zu Roxettes Hit «It must have been love» symbolisch
von der neuen Welt zurück in die alte Welt gefahren. Während sie im Auto sitzt, steht er auf dem
Balkon (ein Schritt in Vivians Welt, denn Edward geht wegen seiner Höhenangst normalerweise
nie raus).
Dann folgt der symbolische Wechsel von Nacht zu Tag und Edward tritt nochmal auf den Balkon,
diesmal mit Vivians Halskette (Symbolik, Symbolik). Doch genauso wie Julia Roberts und ihr
zukünftiger Mann Daniel Moder sich noch einmal trennen mussten, um ihre Verhältnisse neu zu
ordnen, so müssen sich in Pretty Woman Edward und Vivian noch einmal trennen, um zu
spüren, wie das Leben ohne den anderen aussehen würde.
In Hollywoodfilmen ist die Stufe 10 häufig auch eine Verfolgungsjagd oder ein Wettrennen gegen
die Zeit. In Notting Hill rast William mit seinen Freunden durch London, um Anna Scott noch vor
ihrem Rückflug zu erwischen. In «Harry und Sally» rennt Billy Crystal alias Harry durch New
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York, in dem verzweifelten Versuch Meg Ryan alias Sally noch vor 12 zu finden und seine Liebe zu
gestehen. You get the picture!
In Kürze:
1.
Du kehrst mit neuen Erkenntnissen und einem neuen Selbstverständnis in die
Gewohnte Welt zurück.
2.
Entbehrliche Charaktere werden geopfert.
3.
In Hollywoodfilmen ist der Rückweg häufig auch eine Verfolgungsjagd oder ein
Wettrennen gegen die Zeit.
Stufe11:Erneuerung/Verwandlung–dieendgültigeHinwendungzurgroβenVeränderung
In «Pretty Woman» entscheidet sich Vivian, wieder zu studieren und ein neues Leben
anzufangen. Damit kehrt sie zurück in die Gesellschaft – und kleidet sich auch dementsprechend.
Stretchkleider gehören genauso der Vergangenheit an, wie ihr Leben als Prostituierte. All das
muss symbolisch «sterben», damit Vivian sich komplett verwandeln kann. Ihr Selbstbild hat sich
verändert – sie weiß jetzt, dass sie etwas wert ist und verhält sich auch so.
Damit ist sie ein Bilderbuchbeispiel für das, was einen Charakter in der 11. Stufe im Idealfall
ausmacht. Sie hat die besten Seiten ihres alten Selbst (wie z.B. die Fähigkeit, an einen Traum zu
glauben) bewahrt und sich gleichzeitig alle Lektionen zu eigen gemacht, die sie auf ihrer Reise
gelernt hat.
Die Stufe 11: Das kannst Du sein, wenn eure Kinder endgültig das Haus verlassen und Du mit
Deinem Partner zum ersten Mal wieder so lebst, wie ihr das vor eurer Familiengründung getan
habt. Liebevoll einander zugewandt, aber mit einer viel tieferen Verbindung als früher.
Eine andere Funktion dieser Stufe ist die Reinigung. Ihr versöhnt euch wirklich, lacht wieder
miteinander und alles was euch vorher gestört hat, scheint verflogen. So wie in Notting Hill, als
Hugh Grant alias William in der Pressekonferenz vor Julia Roberts alias Anna steht und sie bittet,
ihm zu verzeihen. Gleichzeitig steht er damit auch kurz vor seinem eigenen «Tod», einer Abfuhr
von der Frau, die er liebt. In Filmen wird die Stufe 11 auch oft von einer Veränderung des
Äußeren begleitet, wie bei John Dunbar, der in «Der mit dem Wolf tanzt» ab diesem Moment die
Kleidung der Sioux trägt. Manchmal ändern sich auch die eigenen Fähigkeiten noch einmal –
oder zumindest werden sie einem das erste Mal wirklich bewusst. In «Matrix» kann Neo z.B.
plötzlich die Kugeln «anhalten», die auf ihn abgefeuert wurden und mit ihnen «spielen».
Diesmal steht nicht «nur» eure geistige und körperliche Gesundheit auf dem Spiel. Jetzt geht es
um das Wohlergehen einer ganzen Welt, manchmal auch Wertewelt.
So wie in «Erin Brockovich», als Julia Roberts alias Erin endlich allen erkrankten Personen und
ihren Familien mitteilen kann, dass sie eine hohe Entschädigung bekommen. In
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Weltuntergangsfilmen ist genau jetzt klar, dass die Welt doch nicht untergehen, sondern gerettet
wird. Der endgültige Sieg des Guten über das Böse, den gibt es nur in dieser Stufe.
In «Die Hochzeit meines besten Freundes» gibt Julia Roberts endlich ihre Haltung auf. Sie
versucht nicht mehr die Stelle von Cameron Diaz einzunehmen. Anstatt dessen siegt das Gute in
ihr. Sie springt über ihren Schatten und «leiht» dem Brautpaar zum Hochzeitstanz das Lied, das
einmal ihr und ihrem besten Freund «gehört» hat. Damit verwandelt sie sich endgültig von einer
emotional chaotischen und besitzergreifenden Person zu einer Frau, die selbstlos ist und anderen
ihr Glück von Herzen gönnen kann.
In Kürze:
1.
Die besten Seiten Deiner Persönlichkeit paaren sich mit den gelernten Lektionen.
2.
Es findet eine „Reinigung“ statt - alles was vorher gestört hat, gehört der
Vergangenheit an.
3.
Der endgültige Sieg einer Wertewelt, z.B. des Guten über das Böse.
Stufe12:RückkehrmitdemElixier
In der letzten Stufe der Heldenreise kehrst Du mit dem Elixier zurück. Was heißt das genau?
Du erreichst jetzt einen Status, in dem Du es schafft, den höchsten Nutzen all dessen, was Du auf
Deiner Reise gelernt hast, in Dein Leben zu integrieren. Dadurch wird Dein Leben viel besser.
Auf die Konsumwelt übertragen heiß das: Du beherrschst jetzt den Umgang mit dem iPhone. Du
kochst mit dem Thermomix. Du integrierst Produkte, die Du auf Deiner Reise kennengelernt hast
und deren Nutzen Du zu schätzen weißt, in Dein neues Leben. Wenn Menschen diese Stufe 12 an
nachfolgende Generationen weitergeben und diese darauf aufbauen können, heißt das
«technischer Fortschritt».
Das Elixier kann unterschiedlichste Formen haben, wichtig ist nur, dass Du durch seinen
«Besitz» viel besser dastehst, als vorher. So wie in dem Film «Erin Brockovich», in dem Julia
Roberts eine alleinerziehende Mutter spielt, die immer knapp bei Kasse ist. Am Ende des Films
kehrt sie mit ihrem Elixier zurück – einer neuen sozialen Wertigkeit und Anerkennung durch die
Gesellschaft. Manchmal ist es nicht der Held, der sich am meisten verändert, sondern sein
Umfeld. Ein gutes Beispiel ist Marty McFly in «Zurück in die Zukunft». Nicht ER hat sich am
Ende des Films am meisten verändert, sondern sein Vater und seine Familie.
Die Stufe 12 ist die Auflösung, das Ende der Geschichte und die Vollendung des Kreises. Du hast
auf Deiner Reise viel dazugelernt und kannst einen neuen Sinn erkennen. Das ist der Grund,
warum in Filmen jetzt meist ein Bild oder eine Redewendung aus Akt 1 wiederholt wird.
Sicher erinnert ihr euch noch an Tom Cruises‘ magischen Satz «Du vervollständigst mich» in
«Jerry Maguire». Zum ersten Mal kommt dieser Satz vor, als Tom und Rene Zellwegger mit
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einem taubstummen Liebespaar im Fahrstuhl fahren. Die beiden unterhalten sich in
Zeichensprache und er sagt zu ihr: «Du vervollständigst mich.» In Stufe 12 schlägt Tom in Renes
Wohnzimmer auf und wiederholt diesen Satz, weil er durch das, was er erlebt hat, diesen Worten
einen eigenen Sinn geben kann. Oder denk mal an die Sofaszenen in Mr. und Mrs. Smith – zu
Beginn des Films und an die letzte Szene.
Bei Pretty Woman wird dieses Stilmittel anders eingesetzt. Es gibt den «Happy Man», der sowohl
am Anfang des Films, als auch am Ende durchs Bild läuft und jeweils ähnliche Worte sagt:
«Welcome to Hollywood! What's your dream? Everybody comes here; this is Hollywood, land of
dreams. Some dreams come true, some don't; but keep on dreamin' - this is Hollywood. Always
time to dream, so keep on dreamin'.»
Diesmal sind es die Zuschauer, bei denen das Elixier freigesetzt wird. Denn nachdem sie eine
Geschichte gesehen haben, in der das Unmögliche wahr wird, haben sie auch neue Hoffnung für
ihr Leben und auch ihre Träume scheinen plötzlich viel greifbarer.
Aber wie merkst Du, dass Du in Deinem Leben und bei Deiner Heldenreise auf der Stufe 12
angekommen bist? Ganz einfach. Du beherrschst das Problem. Du hast die Schulden abbezahlt.
Du hast Dein Traumgewicht erreicht. Du löst die Aufgabe, die zu Beginn Deiner Heldenreise
unmöglich schien.
In Kürze
1.
Du integrierst den höchsten Nutzen dessen, was Du auf Deiner Reise gelernt hast, in
Dein tägliches Leben.
2.
Durch das Elixier stehst Du besser da.
3.
Du kannst in Vielem einen neuen Sinn erkennen.
4.
Die Aufgabe ist gelöst, der Kreis schließt sich.
50
Roadmovie:Fahrenumzufahren17
Nirgends ist Autofahren schöner als im Film. Und nie wieder wurde konsequenter nirgendwohin
gefahren als im Road Movie.
Irgendwie waren immer alle
unterwegs damals, lange vor jeder
Zeitrechnung. Das war der
Lebensstil. Später nannte man sie
Jäger und Sammler, aber niemand
weiß, wie sie sich selbst
bezeichneten. Als Freigeister?
Freaks? Easy Rider? Vor rund 10000
Jahren war dann jedenfalls Schluss:
Ackerbau und feste Siedlungen
waren die neuen Hauptstraßen der
Evolution, Viehzucht und einige primitive Techniken kamen hinzu, und so sah es für einen kurzen
Moment, für nur wenige tausend Jahre, tatsächlich so aus, als wäre das Leben ganz simpel. Die
Menschen arbeiteten, vermehrten sich und saßen ansonsten stumpf rum, ein Zustand, den wir
noch heute in Erinnerung an unsere Ahnen «stoned» nennen. Doch nicht alle trauten dem
Frieden.
Einige Easy Rider hockten abends vor ihren Hütten und starrten auf den Horizont, hinter dem die
Welt in einem Abgrund endete, und während sie an ihren Nachtmahlknochen nagten, erhob sich
in ihnen das merkwürdige Gefühl, etwas ganz Wichtiges verloren zu haben. Es war, als würde ein
gigantisches Gewitter aufziehen, ein Tosen lauter als viele Mammuts, das das Leben unendlich
kompliziert machen würde, voller Absprachen und komplexer Regeln.
Und sie hatten Recht. Das fahle Licht in der Ferne war kein Wetterleuchten. Es war die
Dämmerung der Zivilisation. Niemand hat etwas gegen den Fortschritt. Das Neue ist bloß etwas
fragwürdig, weil man es nicht kennt. Als die ersten Eisenbahnen neue Geschwindigkeitsrekorde
aufstellten, hieß es, Menschen würden sterben, bewegten sie sich schneller als mit 30
Stundenkilometern.
Als die Brüder Lumière während ihrer frühen Filmvorführungen 1895 die Einfahrt eines Zuges in
einen Bahnhof zeigten, stürzten die Zuschauer in Panik aus dem Saal, aus Angst, der Zug würde
sie überrollen. In Hongkong bezahlte der Besitzer des ersten Kinos drei Wochen lang seine
Mitbürger, damit sie sich Filme ansahen, um ihnen die Angst zu nehmen, die Schatten auf der
Leinwand würden über sie herfallen. Später fanden es dann alle toll. Die Geschwindigkeit und das
künstliche Bild waren Sensationen der Neuzeit, unheimlich und faszinierend, erst recht
zusammen. Bald rasten Männer in Flugzeugen, Zeppelinen, Zügen, Schiffen, der Wuppertaler
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https://www.brandeins.de/uploads/tx_b4/11593_088fahrenu.pdf
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Schwebebahn, vor allem aber Autos über die Leinwand – was für ein Temporausch, den wollte
jeder erleben.
Das Kino startete als Spektakel und ist bis heute eins geblieben: Immer noch leben viele
Blockbuster prima von Geschwindigkeit und Attraktionen, von Hormonen, die in schweißnassen
Armlehnen versickern, und einem Tempo, das keinen Moment die Frage nach einem Sinn
aufkommen lässt. Schön ist es, unterwegs zu sein, aber leider kommt man irgendwann an.
Vor der Ankunft ist Platz für Hoffnung. Der unbekannte Ort könnte die neue Heimat sein, der
kleine Job die große Chance, ein fremder Mensch die Liebe fürs Leben. Doch kaum angelangt,
hält neben dem optimistisch in die Sonne blinzelnden Reisenden schon eine zweite Kutsche und
ihr entsteigt …Mutter! Na ja, die Vergangenheit eben. Das Elend. Und es geht weiter wie bisher.
Besser also, man bleibt unterwegs und verschiebt die Ankunft auf das nächste Leben. Ein Fall für
die Traumfabrik.
1934 kam «It Happened One Night» von Frank Capra in die Kinos. Niemand erwartete von der
kleinen Komödie besonders viel, die Hauptdarsteller Clark Gable und Claudette Colbert hatten, so
hieß es, ihre beste Zeit hinter sich, und die Story war dünn. Ein Reporter trifft im Überlandbus
eine ausgerissene Millionärstochter, die von ihrem Vater landesweit gesucht wird, die beiden
fliehen gemeinsam durch die USA, verlieben sich, verlieren sich und finden schließlich doch
zueinander. Zur allgemeinen Überraschung wurde der Film trotzdem ein Monster-Erfolg. Er
bekam mehrere Oscars, außerdem ging er mit seinen rasanten und witzigen Dialogen als erste
Screwball-Komödie in die Filmgeschichte ein. Er war außerdem aber auch der erste Road Movie,
allerdings ein sehr untypischer: Es gab ein Happy End. Und benutzt wurden vor allem öffentliche
Verkehrsmittel. […]
Die große Zeit des Road Movie waren die sechziger und siebziger Jahre, damals wurden die
Regeln und Grenzen des Genres festgelegt. Grundsätzlich geht es um Flucht und Verfolgung: Der
Held wird gehetzt, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat, manchmal weil er ein Gangster ist,
meistens aber nur, weil er andere Vorstellungen vom Leben hat als die anderen. Die anderen, das
sind Mutter, der Sheriff, die Regierung, die Banken, die Ex-Frau, die Bevölkerung, schlichtweg
alle, die sich zwischen den Helden und seine Freiheit stellen.
Der Held könnte dagegen vieles tun, er könnte sich wehren, diskutieren, Verbündete suchen,
einen eigenen Staat gründen oder in einer Talkshow auftreten, doch das alles fällt ihm nicht ein.
Abgestoßen von einer Gesellschaft, die ihm das Leben schwer macht, indem sie zum Beispiel
Geschwindigkeitsbegrenzungen einführt, springt er ins Auto und gibt Gas: Woanders ist es
bestimmt besser! Mutter, der Sheriff, die Ex-Frau und all die anderen brettern hinterher (auch
ihnen ist eine etwas ungesunde Fixierung auf das Auto anzumerken), und dann gibt es eigentlich
nichts mehr zu sehen außer Auffahrunfällen und Statisten, die im letzten Moment zur Seite
springen.
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Richard Sarafians 1971 erschienener Film «Fluchtpunkt San Francisco» ist typisch: VietnamVeteran Kowalski (Barry Newman) wettet, dass er ein Auto in 15 Stunden von Denver nach San
Francisco bringt. Schnell fällt er durch sein hohes Tempo auf, bald ist die Polizei hinter ihm her,
und als er trotz aller Fahrkünste nicht mehr entkommen kann, rast er mit Vollgas in eine
Straßensperre, die so fett und so böse die Sicht auf den Horizont versperrt, dass man sofort weiß:
Das ist ein Symbol! Die PS-Tragödie erregte damals bei den jüngeren Zuschauern Empörung,
sogar Abscheu, waren sie doch alle irgendwie Kowalskis, die um ihre Freiheit ( Jeans und lange
Haare) kämpfen mussten. Hätten die Bullen nicht ohnehin bereits verschissen gehabt, wäre
spätestens nach dem Kinobesuch die Sache klar gewesen: «Die Schweine haben den (den? uns!)
umgelegt, und nur wegen zu schnellem Fahren!» «Ja, eyh, aber er ist aufrecht gestorben, wie ein
freier Mann!»
Geld, Schrift und andere Kulturleistungen schufen vor rund 5000 Jahren die Grundlage unserer
Zivilisation, die von ihren Mitgliedern zunehmend komplexe Verhaltensweisen fordert. Dagegen
gab es kaum Widerstand, vermutlich, weil der Überblick fehlte. Als endlich einigen dämmerte,
was da passiert war, war es zu spät: Die Zeit, als das Großhirn als Spielzeug für Schwächlinge galt,
weil echte Männer mit dem Stammhirn jagen, war vorbei. Weglaufen ging nicht, denn die Welt
war rundum zivilisiert. Aber vielleicht wegfahren? Das ist der Mythos des Road Movie. Man
könnte jeden dieser Filme auch mit Fußgängern erzählen, etwa «Bonnie und Clyde» von Arthur
Penn mit Faye Dunaway und Warren Beatty, eine längliche Geschichte über ein gutherziges Paar,
das von der Armut in der Provinz erschüttert ist und schließlich wegen Kleinigkeiten
(Banküberfälle) vom Schweinesystem niedergemacht wird. In der Steinzeit wäre Faye Dunaway
zu Fuß im Fellbikini unterwegs gewesen, hinter ihr Speer eine werfende Horde auf Plattfüßen.
Das funktioniert bloß nicht, weil es stets einen technologischen Vorsprung geben muss. Der Held
hat immer das bessere Auto – zumindest ist er der bessere Fahrer. Dahinter steht die Hoffnung,
mit Hilfe der Technik den Folgen der Technik, der Gesellschaft, zu entkommen. In ihrer verkehrsund abbiegungsfreien, also reinsten Form ist eine Straße so simpel wie der Denkprozess eines
Reptils: Flucht oder fressen, gehen oder bleiben – es braucht nur einen Impuls, der die Bewegung
in Gang setzt, der Rest folgt einer zwingenden Linie, zum Beispiel der des Asphalts. Im
menschlichen Gehirn kommen solche Impulse aus dem Stammhirn (auch Reptiliengehirn
genannt). Es handelt, während das Großhirn noch hadert, und sorgt so für schnelle Reaktionen –
Wettrennen werden im Stammhirn gewonnen. Meistens werden die Verhältnisse im Road Movie
allerdings noch unter Reptilienniveau abgehandelt, denn eine Wahl gibt es in der Regel nicht.
Jeder Highway wird zur Einbahnstraße, sobald Mutter im Rückspiegel erscheint.
Und jede Straße vor dem Wagen verwandelt sich in einen Pfeil, der auf den Horizont zeigt, sobald
man die Fluchtperspektive für die Realität hält.
Nur wenn sich mehrere Straßen treffen, kann es für das Stammhirn zu kompliziert werden.
Deshalb spielen fast alle Road Movies auf dem Land, bevorzugt in der Wüste, wo nichts an die
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Zivilisation und ihre üblen Tricks (Diskussionen, langfristige Absprachen, Verantwortung),
erinnert. Die wenigen Ausnahmen machen die Genre-Regeln umso deutlicher.
In «American Graffitti» porträtierte George Lucas 1973 eine Gruppe Jugendlicher während der
Nacht ihres Schulabschlussballs, in der sie bis zum Morgen durch die Stadt fahren: Das
Straßennetz spiegelt das Beziehungsgeflecht, die Autos sind Ausdruck von Persönlichkeit und
Medium der Begegnung. Am Schluss gibt es noch ein illegales Rennen, natürlich außerhalb der
Stadt. Am nächsten Morgen trennen sich die Jugendlichen, sie fahren zu ihren Highschools und
werden erwachsen. Nur der Sieger des illegalen Rennens, ein echter Easy Rider, bleibt in der
Provinz zurück.
[…] Die Grenzen des Genres waren eng, und so war seine Blütezeit kurz. Mitte der siebziger Jahre
war der Mythenbestand des Road Movie vollständig, vor allem «Easy Rider» hatte 1969
stilprägend gewirkt: Peter Fonda und Dennis Hopper scheitern als freiheitsliebende KuschelBiker (eine groteske Verniedlichung der brutalen, Frauen verachtenden, erzreaktionären Hells
Angels) an den Verhältnissen und zementieren so den großen Road-Movie-Mythos. Es gibt keine
Lösung, es gibt nur Aufgeben oder Sterben.
Gegen diesen Pessimismus konnte nicht einmal Steven Spielbergs «Duell» von 1972 anstinken, in
dem ein Angestellter einen aggressiven, scheinbar fahrerlosen Lkw, sozusagen Technologie pur,
am Ende tatsächlich besiegt. Außer Spielberg schien letztlich aber allen klar zu sein, dass man der
Zivilisation nicht wirklich davonfahren kann. Die einzige realistische Hoffnung für jeden, der
lieber handelt statt denkt beziehungsweise fährt statt redet, war fortan das Ende der Welt, und so
fand der Road Movie seine logische Fortsetzung im Apokalypsenfilm. Hier ist die gesellschaftliche
Ordnung von Anfang an ausgelöscht, durch Atomkrieg, Öko-Krise oder schlechtes Wetter. Nun ist
es Zeit für echte Haudegen, die für wahre Werte kämpfen, wie zum Beispiel Benzin.
Der Klassiker des Subgenres ist der australische Film «Mad Max», in dem Mel Gibson
Wüstenstraßen nach Treibstoff abfährt, den er braucht, um weiterhin Wüstenstraßen nach
Treibstoff abfahren zu können. Der Sinn des Lebens für Leute, die sonst nichts vorhaben. Man
fährt, damit man fahren kann. Es ist schwer zu sagen, was es bedeutet, wenn ein Gebiet von
Menschen besiedelt wird, die mit den komplizierten Verhältnissen ihrer Heimat nicht
zurechtkommen und nun darauf hoffen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten noch einmal
neu anfangen zu können, aber tatsächlich hat außer den USA nur Australien überzeugende Road
Movies produziert.
In Europa herrschte dagegen vor allem Stillstand. Der Franzose Jean-Luc Godard ließ 1967 in
«Week End» Großbürger im Stau zum Tier werden, sein Landsmann Jacques Tati blieb 1971 in
«Trafic» im zähflüssigen Verkehr stecken, und der Italiener Luigi Comencini inszenierte 1978 in
«Stau» die verstopfte Autobahn als Zentrum unterdrückter Triebe. In Deutschland, der großen
Autonation, war das Herumfahren im Film ebenfalls nur selten ein Spaß. Besonders schlimm traf
es die Figuren in Wim Wenders «Im Laufe der Zeit». Zwei frustrierte Herren fuhren mit einem
54
Möbelwagen im gehobenen Schritttempo durch die Provinz an der Zonengrenze, wobei die größte
Gefahr darin bestand, dass sie früher einschliefen als die Zuschauer. Aber so weit kam es nie.
Der Road Movie handelt von der Sehnsucht nach einer einfachen Welt ohne Regeln, die man
allein bewohnt. Das Auto passt prima dazu, denn es wird meistens ebenfalls allein bewohnt. Die
Regeln in seinem fahrbaren Lebensraum macht sich jeder selbst, und weil die beim Fahren
geforderten Reaktions- und Orientierungsprozesse die niedrigste Stufe des Hirns fördern, finden
das alle völlig normal. George Lucas entwarf 1970 am Schluss seines Sciencefiction-Films «THX
1138» das konsequente Ende dieses Prinzips. Die Hauptfigur wird von einer Familie
aufgesammelt, die den Flüchtling in den Kofferraum ihres Autos steckt, wo er zu Brennstoff
verheizt wird. Hauptsache, es geht weiter! Ein entzückendes Kind fragt dazu: «Und was machen
wir, wenn wir keine mehr finden? Verbrauchen wir uns dann gegenseitig?»
Doch so böse, wie die Welt zu Richard Nixons Zeiten aussah, ist sie nicht mehr. In den letzten
Jahren wurde das Auto besonders in einheimischen jungen Filmen rehabilitiert. In Fatih Akins
sehr unterhaltsamer Reisekomödie «Im Juli» schlägt sich ein Paar durch den Balkan, wobei es
allerdings auf jede Art von Scharmützel verzichtet – es geht nicht ums Prinzip, sondern darum,
schnell irgendwohin zu kommen.
Und in «Absolute Giganten» von Sebastian Schipper gibt es zwar kein Ziel, dafür aber Mitfahrer,
die auf rollende Symbole ihrer Individualität gut verzichten können. Zu dritt fährt man eine
Nacht lang durch Hamburg, feiert nicht das Fremde, sondern die Heimat, und findet das Glück,
weil man nicht allein ist. Die düsteren Ahnungen der Road-Movie-Helden waren also richtig.
Lässt man die Autotür lange genug auf, sitzen früher oder später andere Menschen und mit ihnen
das komplizierte Geflecht Zivilisation auf dem Beifahrersitz. Was sie nicht wussten: Das ist das
Beste, was einem passieren kann.
Eine Untersuchung von 150 US-Filmen seit 1938 ergab Mitte der achtziger Jahre, dass in 84
Prozent der Filme ein bestimmter Satz auftauchte: «Let’s get out of here.» Das scheint tatsächlich
ein populärer Wunsch zu sein. Man könnte sich fragen, ob er seltener geäußert würde, wäre die
Welt besser. Aber vielleicht macht die Frage umgekehrt auch Sinn: Wäre die Welt vielleicht
besser, wenn alle diese Leute einfach abhauen würden?
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Tschick im Unterricht
Themenfelder

Erwachsen werden

Rollenfindung, Selbst- und Fremdwahrnehmung

Aussenseiter/ Mobbing, Gruppendynamik vor allem im Klassenverband

Freundschaft

1. Liebe (erfüllt und nicht erfüllt)/ Homosexualität

Jugendsprache

Suchtkrankheiten

Sterblichkeit

Auseinandersetzung mit ‚älterer‘ Generation/ Familie/ Eltern
Arbeitsformen

Recherchieren

Sachliches Schreiben

Kreatives Schreiben

Diskutieren und Argumentieren

Buchpräsentation
KartonKarl
Ein weiterer Arbeitsform, die wir Ihnen vorschlagen wollen, ist die Arbeit mit dem «Karton KarlHeinz». Adaptiert ist die Idee aus dem Roman selbst. In der Erzählung berichtet Maik von seiner
Mutter in der Entzugsklinik und wie dort in der Therapie über Sehnsüchte, Gefühle, Wünsche,
Vorsätze, Gebote, Gebete oder einfach nur die eigenen Gedanken gesprochen wird. Als ein Ansatz
wird dort das Niederschreiben des eigenen Inneren praktiziert mit der Verwahrung im «Karton
Karl-Heinz». Wir können uns zwei Einsatzmöglichkeiten für diese Kommunikationsart
vorstellen:
a) Als Möglichkeit für die Schülerinnen und Schüler, die Themen und Motive, die sie aktuell
beschäftigen, anonymisiert zu verarbeiten.
Geben Sie Ihren Schülern kleine Schreibaufträge wie kurze Gedichte, ein Brieflein, ein
Wetterbericht über ihr inneres Stimmungswetter etc. und lassen Sie sie diese anonym im «Karton
Karl-Heinz» deponieren.
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b) Als Buch- bzw. Stückkritik.
Lassen Sie Ihre Schülerinnen und Schüler vor dem Vorstellungsbesuch eine Buchkritik und/oder
nach dem Vorstellungsbesuch eine Stückkritik schreiben, welche sie anonym dem «Karton KarlHeinz» übergeben dürfen.
Gerne würden wir uns über Ihr Feedback bzw. über einige Beiträge der Schülerinnen und Schüler
freuen, um somit eine Sammlung an «Karton Karl-Heinz»-Beiträgen aufzubauen. Diese können
uns helfen, ein Gespür für die aktuellen Thematiken, welche die Schülerinnen und Schüler
umtreiben, zu erhalten. Und natürlich interessieren wir uns immer für konstruktive Kritik von
unserem (jungen) Publikum.
Rücksendungen bitte gerne an:
Sarah Verny – Theaterpädagogik
Konzert Theater Bern
Nägeligasse 4
3000 Bern 7
Oder per Mail: sarah.verny@konzerttheaterbern.ch
Unterrichtsideenzu«Tschick»
Neben den naheliegenden, meist im Deutschunterricht angesiedelten Unterrichtsaspekten
(erzählerische Form und Mittel, Gattung eines Jugendromans, zeitlicher Handlungsablauf etc.)
sollen folgend noch Anregungen dargestellt werden, wie weiterführend mit «Tschick» im
Unterricht gearbeitet werden kann.
Unterrichtsidee1:SchreibauftragzumBlog:

Schreibe wie Wolfgang Herrndorf (Blogeintrag vom 19.04.2010) eine Liste der Bücher, die
Dich beeinflusst, in bestimmten Lebenssituationen begleitet oder aus den
unterschiedlichsten Gründen beeindruckt haben.
Unterrichtsidee2:AufträgezurHeldenreise

Wolfgang Herrndorf behauptete in einem Interview, dass fast jeder Hollywood-Film mit
dieser Abfolge funktioniere. Stimmt das? Setzt euch mit den Stationen der Heldenreise
auseinander. Überprüft eure Lieblingsfilme darauf, ob sie nach diesem Schema
funktionieren.

Stellt in einem Schaubild den Ablauf der Heldenreise in «Tschick» dar und diskutiert
anschliessend im Klassenverband, warum ihr euch für die Stationen entschieden habt.

Beantwortet Fragen im Heldenreisendossier
57
Unterrichtsidee3:RoadMovie

Fragen zum Genre: Was ist ein Road Movie? Welche Merkmale zeichnen dieses aus und
inwiefern lassen sich diese in «Tschick» nachweisen?

Recherche zu Road Movies: Welche kennt ihr, welche gibt es? Was sind verbindende
Merkmale?

Wenn man über Road Movies spricht, kommt einem unwillkürlich immer die «Mutter»
aller Road Movies in den Sinn: Easy Rider. Was ist ein Easy Rider? Versucht zu
beschreiben, was die Merkmale sein könnten.
Vergleich mit dem Lied von Johnny Cash - I’m an easy rider.18 Wie beschreibt Cash den Easy
Rider? Was fehlt euch in der Umschreibung, was ist eurer Meinung nach wichtig, wenn man ein
Easy Rider auf einem Road Trip ist oder sein will?
Jonny Cash: I’m an easy rider19
I'm an easy rider, the wind is at my back
I'm an easy rider, the white line is my track
Every lane is a passin' lane and the ride away is mine
Let me on that straight-away and I'll be fairly flyin'
I'm an easy rider, my wheels love to roll
I'm an easy rider, I ride a new road every day
I'm an easy rider, I will see you on my way
I got a number down in every town in my little black book
And they understand that I'm a travelin' man
So they don't think they got hooked
I'm an easy rider, I love that gray highway
I'm an easy rider, oh Lord, I love to roll
I'm an easy rider, movin's in my soul
I know a lady down in Little Rock and I stopped for a little while
But I had to go 'cause another I know is waitin' for my smile
I'm an easy rider, I can't stay in one place
18
19
https://www.youtube.com/watch?v=SXeIjLXSBmc
http://www.metrolyrics.com/im-an-easy-rider-lyrics-johnny-cash.html
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Unterrichtsidee4:BookSlam20vs.LiterarischesQuartett
Hierbei geht es darum, den Leseanreiz zu aktivieren und zu fördern. Es geht darum, andere
Jugendliteratur auf deren Motive und Merkmale hin zu untersuchen und diese vorzustellen, um
einen Überblick über die Gattung «Jugendliteratur» zu erhalten. Folgend werden einige Beispiele
genannt, die durch eine eigene Auswahl ergänzt und verändert werden kann.

Dickens, Charles: Oliver Twist

Günter, Mirijam (2015): Die Stadt hinter dem Dönerland

Knösel, Stephan (2014): Echte Cowboys

Lernbcke, Marjaleena (2000): Abschied vom roten Haus

Mohl, Nils (2011): Es war einmal Indianerland

Rai, Edgar (2011): Nächsten Sommer

Twain, Mark: Tom Sawyer und Huckleberry Finn

Wortberg, Christoph (2011): Easy
Unterrichtsidee5:Jugendsprache
Im Interview wird erwähnt, dass Jugendsprache kaum gebraucht wird. Stimmt das? Es gilt zu
überprüfen, ob Jugendsprache vorkommt und, wenn ja, wann sie zum Einsatz kommt. Hierbei
kann ein Glossar angelegt werden mit «Übersetzungen».
Generell kann hier über Jugendsprache nachgedacht werden, z.B. wie und wann sie im Alltag von
Schülerinnen und Schülern verwendet wird. Auch der Einfluss von Medien ist hier zu
berücksichtigen. Es kann eine rege Klassendiskussion entstehen. Was sind im Moment
«Trendwörter und Phrasen»? Weiterführend hierzu: http://www.jugendundmedien.ch/chancenund-gefahren/digitale-medien/jugendsprache.html, http://www.jugendwort.de/
Unterrichtsidee6:SteckbriefmeetsSoziogramm
In der näheren Betrachtung der handelnden Personen sollen die Schülerinnen und Schüler
während des Lesens Steckbriefe zu den einzelnen Personen anlegen und ein Soziogramm
erstellen, um sich über den Konstellationen und Beziehungen der Personen zueinander und
untereinander bewusst zu werden.
FächerübergreifenderUnterricht
Für die fächerübergreifende Beschäftigung mit dem Roman «Tschick» könnte als Idee
aufgegriffen werden, dass Heberprinzip und das Prinzip der kommunizierenden Röhren im
naturwissenschaftlichen Unterricht zu behandeln und eventuell durch praktische Übungen zu
ergänzen. Dies kann so weit gehen, dass die Schülerinnen und Schüler selbst Wasser ansaugen
aus einem Kanister oder ähnlichem.
20
Für weiterführende Informationen: http://www.carlsen.de/sites/default/files/sonstiges/1104_Metamodell_Book_Slam.pdf
59
Theaterpädagogische Anregungen
Emotion
Vorbereitung: 6 – 8 Emotionsworte auf Zettel geschrieben im Raum anbringen, gut
einsehbar für alle. Darunter sollten die 4 Grundemotionen Angst, Wut, Freude und Trauer
sein. Weitere Emotionen wie z. B. Enttäuschung, Mitleid, Sympathie, Neid, Stolz,
Verliebtheit, etc. hinzufügen.
Dann bilden alle Teilnehmenden einen Kreis. Nun sollte sich jede/ jeder ein 3-Gänge-Menü
(Vorspeise-Hauptgericht-Nachspeise) ausdenken. (Es dürfen ruhig kuriose Gerichte sein.)
Eine Person beginnt ihre Menüs neutral (also objektiv) und für alle hörbar am Platz
auszusprechen. Alle anderen sprechen das Menü im Chor in derselben Haltung nach und so
werden reihum alle Menüs einmal neutral präsentiert.
Die Teilnehmenden bewegen sich im freien Raumlauf bis zu einem Signal (Bsp. Akustisches
Signal) und ordnen sich der Emotion, welcher sie am Nächsten sind, zu. Anschliessend
tragen die Teilnehmenden ihr Menü in dieser Emotion vor und die Gruppe wiederholt. Damit
werden einmal alle Emotionen durchgegangen. Danach findet ein neuer Raumlauf mit einer
neuen Emotionszuordnung statt.
EmotionalerBilderbuch‐/Märchen‐oderZeitungstext
Für diese Übung muss jeder/jedem Teilnehmenden ein Text (ca. 10-12 Zeilen) zur Verfügung
stehen.
Um einen Text möglichst bildlich zu erzählen, kann man sich z. B. irgendeinen Teil eines Textes
zur Hand nehmen, der interessant klingt. Jede/r sucht sich einen Platz im Raum. Dort schreibt
er/sie auf vorbereitete Zettel die Emotion, unter deren Einfluss er/ sie diesen Text vortragen
möchte. Dann liest er/sie sich den Text leise und neutral selbst vor, um anschliessend das Ganze
in der gewählten Emotion einzuüben.
Nach dieser ruhigeren Phase tritt jede/r mit ihrem/ seinem Text auf und die Beobachter erraten
nach dem Vortrag, welche Emotion für den Vortrag gewählt wurde.
Singkönig
Die Teilnehmenden bilden einen Kreis. Hierbei geht es um die Freiheit aus sich herauszugehen
und keine Grenzen zu haben. Zu Beginn stellt sich meist der Spielleiter/ die Spielleiterin in den
Kreis und beginnt an irgendeiner Stelle ein Lied zu singen, summen oder zu rappen. Die
umkreisende Gruppe nimmt den Rhythmus oder die Melodie auf und steigt ein, indem sie
entweder mitsingen, klatschen, schnipsen, pfeifen oder sich dazu bewegen.
Das läuft solange, bis einem anderen Teilnehmer/ einer anderen Teilnehmerin ein neues Lied
einfällt und er/sie die Person in der Mitte ablöst.
60
Zusammenhalten:Bambusstern
Die Teilnehmenden haben alle den gleichen/ einen ähnlichen Gegenstand vor sich liegen. Das Ziel
ist es, dass die Gruppe diesen gleichzeitig vom Boden aufhebt. Die Teilnehmenden stehen für
diese Übung im Kreis, denn nur mit einem ‚Horizontblick‘ kann die Gruppe ohne Worte einen
Konsens finden.
ZählenderRaumlauf
Die Gruppe steht im Kreis und darf sich nicht verbal beraten. Ziel ist es, dass sie
gruppendynamisch alle Personen durchzählen von 1 bis xx. Dies erfolgt durch die Entwicklung
eines Gespürs über die Vorgänge in der Gruppe. Falls zwei Teilnehmende gleichzeitig zum Zählen
ansetzen, wird wieder von vorne begonnen, bis die Gruppe einmal durchgezählt hat.
Stufe 2: Die Gruppe bewegt sich dabei frei im Raum in verschiedenen Geschwindigkeiten.
Followtheleader
Die Teilnehmenden bilden eine Schlange, an deren Spitze ein Einzelner/ eine Einzelne ist. Dieser
Leader oder Kopf der Schlange bewegt sich durch den Raum (gehend, tanzend, hüpfend,
schleichend…) und die Folgenden imitieren ihn. Dies geschieht, damit die Gruppe zuerst einen
gemeinsamen Gehrhythmus entwickelt.
In einem zweiten Schritt gibt der «leader» Laute, Silben und Wortreihungen von sich, die die
Gruppe im chorischen Sprechen wiederholt.
Anschliessend geht der «leader» ans Ende der Schlange und der/ die Zweite wird «leader» und
immer so weiter.
Jagenau
Zwei Teilnehmende erzählen
der Gruppe gemeinsam von
ihrer letzten gemeinsamen,
imaginären Autofahrt, als sie
ein Auto ‚ausliehen‘ und welche
Abenteuer sie erlebten. Einer
der Beiden beginnt mit dem
Erzählen und wenn er oder sie
nicht mehr weiter weiss bzw.
sein/ ihr Satz beendet ist,
übernimmt der Partner/ die
Partnerin in dem sein/ ihr Satz
mit: «Ja, genau…» beginnt und so sollte ein reger Wechsel entstehen. Irgendwann endet dieser
Road Trip und zwei Andere stellen ihre Abenteuer vor.
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Beispiel:
1
Also wir waren ja in der Arktis im Urlaub.
2
Ja genau und dort haben wir nicht nur Pinguine gesehen, sondern auch Eisbären.
1
Ja genau die Pinguine kamen auf den Eisschollen angeschwommen von der Antarktis.
2
Ja genau und jeder denkt, dass die Eisbären die Pinguine fressen würden, dem ist aber
nicht so.
1
Ja genau, die sassen nämlich gemeinsam um ein Lagerfeuer und haben Tofu gegrillt.
usw.
ChorischesSprechen
Es werden Kleingruppen gebildet. Jeder Gruppe liegt jeweils ein kurzer Text vor für welchen die
Gruppe gemeinsam Sprechrhythmen festlegen sollte, dabei werden Worte bzw. Silben des Textes
wie Noten in der Musik behandelt. Es werden erst einmal Pausen im Text eingetragen. Zudem
wird festgelegt, welche Worte langsam, welche schnell gesprochen werden und wo man
Buchstaben lang ziehen will oder sie abgehackt spricht. Im ausgedruckten Text, sollte sich jede/r,
durch unterschiedliche Zeichen, eine lesbare Sprechhilfe eintragen. Nach einer gewissen Zeit
(mind. 20 Minuten) sollen die Gruppen den momentanen Stand ihres „Chores“ den anderen
Gruppen präsentieren. Wichtig ist das Zusammenspiel der Kleingruppe.
FragenzurReflexiondesStücks
Wie sahen Bühnenbild und Kostüme aus?
Was denkst Du, warum beides so gewählt wurde?
Wie würdest Du das Bühnenbild und die Kostüme gestalten?
Welche Unterschiede zum Roman sind aufgefallen?
Was hat Dich überrascht?
Welche fandest Du gut?
Was hat Dir gefehlt?
Was war Dein Lieblingsmoment im Stück?
Wie geht es mit Tschick und Maik weiter?
62
Impressum
Foto Credits: Philipp Zinniker
Material zusammengestellt von Teresa Leibfritz, Praktikantin Marketing & Vermittlung,
Konzert Theater Bern;
Kontakt: sarah.verny@konzerttheaterbern.ch (Theaterpädagogik)
Oktober 2015
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