Integrationsjournal Mai 2015
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Integrationsjournal Mai 2015
I-JOURNAL Der Stadtschulrat für Wien informiert Mai 2015 I-JOURNAL Mai 2015 Die Geschichte zum Deckblatt Das Plakat entstand 2010 in der JPTK, Akziengasse 44-46, Wien 23. Ich war damals Englisch-Lehrerin, habe aber auch im Kreativbbereich mit den Jugendlichen gearbeitet. Als Vorlage diente das Kinderbuch „Wer guckt da so?” von Stephane Frattini. Ein Fotoklappbuch, das beim Öffnen zuerst ein Tierauge zeigt und beim weiteren Aufklappen das Tier selbst preisgibt. Die Arbeit hat den Jugendlichen großen Spaß gemacht, auf die Endfertigung als Plakat für ihre Einrichtung im Foyer waren sie sehr stolz. Jedes mit Wasserfarben und Pastellkreiden gemalte Bild wurde verwendet. Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd Wiener Heilstättenschule - Reintegration 2 I-JOURNAL Mai 2015 WICHTIGE INFORMATION Bezug des I-Journals ab Herbst 2015 Das Integrationsjournal gibt es nun seit 1992. Es ist an der Zeit, eine Durchforstung/ Überprüfung des Verteilers vorzunehmen. Auch auf Grund der fortschreitenden Digitalisierung macht es Sinn, die automatische Aussendung von Druck-Versionen zu hinterfragen. (Druck- und Portokosten) Die Aussendung im Juni 2015 erfolgt noch EINMALIG lt. aktuellem Verteiler. Alle Pädagog/innen erhalten das Journal ausschließlich an ihre Stammschulen. Für Büchereien, PH, KPH, diverse Stellen wie FSW, Ambulatorien, Clearingstellen, BAKIP, müssen Anfragen per Mail erfolgen. Individuelle Einzellösungen sind allenfalls möglich. Bis 30. August 2015 an brigitte.moerwald@ssr-wien.gv.at Ab 1. September 2015 an: verena.lieser@ssr-wien.gv.at (zukünftige Ansprechperson) Die digitale Version ist jederzeit im Lehrerweb abrufbar unter: http://lehrerweb.wien/stadtschulrat-fuer-wien/sonderpaedagogik/17-inspektionsbezirk/ Die Druckversion erhalten weiterhin automatisch alle Pflichtschulen in Wien. Jeweils ein Exemplar für die Schulbibliothek und ein Exemplar für den Elternverein. Für Eltern oder Interessierte liegen im Eingangsbereich des Stadtschulrats für Wien, im Schulservice und in der Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrats Druckexemplare auf. Brigitte Mörwald Integrationsberatungsstelle 3 I-JOURNAL Mai 2015 4 I-JOURNAL Mai 2015 Inhalt Sehr geehrte Leserin! Sehr geehrter Leser! ........................................................................................................... 7 Ein ganz besonderes Projekt in der Lernwerkstatt Donaustadt: Die Bürgschaft................................................... 16 Storytelling - English Language Lessons in the Integration Classroom ............................................................... 26 Besuch aus der Republik Moldau in der Volksschule 10., Neilreichgasse 111...................................................... 29 Erfahrungsaustausch mit Moldau zum Thema inklusive Bildung.......................................................................... 31 Wenn zwei eine Reise tun … Wien 2015.............................................................................................................. 33 Die Organisation einer humanen Schule nach Janusz Korczak........................................................................... 36 FIT für die Schule!................................................................................................................................................. 51 Trotz Hirntumor die Schule meistern .................................................................................................................... 53 Projekt „Lernblitz“.................................................................................................................................................. 56 Gemeinsam leben, lernen, lachen ........................................................................................................................ 57 Gegenüberstellung von oft verwendeten Begriffen zum Thema „Behinderung“.................................................... 60 Diversität – Inklusion – Gerechtigkeit.................................................................................................................... 61 Inklusion: Stolpersteine und Brücken auf dem Weg zu einer gemeinsamen Haltung........................................... 67 Ganggalerie „Kunst macht stark“ .......................................................................................................................... 70 OutsideTheBox...................................................................................................................................................... 73 Ausgleich und Leistungsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung................. 76 Die soziale Netzwerkerin - eine neue tragfähige Rolle im pädagogischen Geflecht............................................. 80 „KRAFT-WERK“..................................................................................................................................................... 84 Lesbische Lehrerinnen, schwule Lehrer oder Reflexionen zur Diversität des Systems Schule............................ 92 Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und Perspektiven zum Umgang damit im Schulalltag........ 97 Wir stellen vor: Regine Striok.............................................................................................................................. 101 Buchempfehlungen: • „Ärztliche Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen“............................................................................ 102 • „Gut leben mit einem autistischen Kind“ ...................................................................................................... 103 • Jugendbücher, die Sie lesen sollten!............................................................................................................ 105 • „Normal“ von Allen Frances.......................................................................................................................... 106 Erratum: Lebendiges Lernen .............................................................................................................................. 107 Brigitte geht......................................................................................................................................................... 108 Leserbriefe.......................................................................................................................................................... 112 Liebe Leserin! Lieber Leser!................................................................................................................................ 113 Was übrig bleibt ….............................................................................................................................................. 114 5 I-JOURNAL Mai 2015 6 I-JOURNAL Mai 2015 Sehr geehrte Leserin! Sehr geehrter Leser! Dieses und alle anderen Bilder in diesem Artikel stammen aus: „Kallipädie“ - Moritz Schreber SQA Überlegungen zu Philosophie und Technik von Qualitätsmanagementprozessen Die Absicht, Bildungssysteme leistungsfähiger zu optimieren, ist das erklärte Ziel jeder Bildungsreform. Demgegenüber steht die Skepsis der praktisch tätigen Lehrerinnen und Lehrer, die hinter so vielen Reformen keine wirkliche Verbesserung erkennen können, sofern diese nicht mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Ressourcen verbunden sind. Ein weiterer Grund für die Vorbehalte ist der Umstand, dass mit praktisch jeder Veränderung auch neue Begrifflichkeiten eingeführt werden. Je nach Mode sind es Anglizismen oder Abkürzungen, aber auch kompliziert eingeführte neuartige Begriffe mit teils schwerfälligen Definitionen. Auch der Sprachgebrauch hat sich eigentümlich gewandelt und ist in so manchem Fall nur mehr von Experten im Kontext dechiffrierbar. Ein Beispiel gefällig? Im Entwurf zu einem neuen Grundsatzerlass zur Sexualerziehung im April 2015 heißt es: „Im Rahmen einer umfassenden Sexualerziehung sollen Kindern und Jugendlichen Informationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, um mit diesem Potenzial verantwortungsvoll mit sich und anderen umgehen zu können.“ Ist das nicht ein Gegensatz zur Aufgabe der österreichischen Schule nach dem Schulorganisationsgesetz §2: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.“ Was bewirkt also Sexualerziehung? Fähigkeiten mit Sex umzugehen, Informationen aus dem Internet zu holen? Verhindert der Kompetenzbegriff die Verwendung des Begriffes „Wert“? Dass Sprache auch in Missverständnisse umschlagen kann, sei nicht weiter mehr ausgeführt, lediglich der Verweis angebracht, dass die Furche den oben zitierten Satz zum Grundsatzerlass für das Herrnbaumgartener Nonseum vorschlägt (Link: http://www.herrnbaumgarten.at/). 7 I-JOURNAL Mai 2015 Es ließe sich, etwas pointiert gesagt, die Geschichte der schulischen Pädagogik der letzten Jahrzehnte auch nach den jeweils neu eingeführten Begriffen gliedern: Curriculum, Lehr- und Lernziele, operationalisiertes Lernen, Evaluation, Kompetenzorientierung, QM, SQA, etc. Gemeinsam ist all diesen Begriffen, dass sie vorgeben, eine grundsätzliche Neuigkeit darzustellen und sich historisch kritischer Reflexion nicht oder nur selten stellen. Über ein letzteres Kapitel namens „SQA“ handelt der nachfolgende Text. Zur Vorgeschichte Am 20. Mai 2011 wurde mit dem 28. Bundesgesetz das Bundesschulaufsichtsgesetz geändert. Mit diesem Gesetz wird ein, nach den Beschreibungen der Akteure, umfassendes Qualitätsmanagementsystem in das österreichische Schulsystem eingeführt. In weiterer Folge wird die Aufgabe der Umsetzung des Qualitätsmanagementsystems den Beamten der Schulaufsicht und den Schulleitern im Rahmen des Schulunterrichtsgesetzes §56 übertragen. Für Lehrer findet sich bis zum heutigen Tag kein entsprechend eindeutiger Auftrag in den einschlägigen Dienstvorschriften. Ein wesentliches Kriterium für Qualitätsmanagement im Bildungsbereich ist die Einführung des Nationalen Qualitätsrahmens (wie es ausdrücklich im Bundesschulaufsichtsgesetz §18 Absatz 2 festgehalten ist). Erst mehr als fünf Jahre nach dem Start wurde dieser für 2016 avisiert, was eine nicht unproblematische Verzögerung darstellt. Da zudem die Nationalen Bildungsberichte, die in höchster Qualität in den Jahren 2009 und 2012 erschienen sind, nach Stand der Dinge nicht mehr fortgeführt werden, stellt sich natürlich die Frage, wie dann verantwortungsvoll das lange Ausbleiben des Nationaler Qualitätsrahmens zu verantworten ist. Somit ist SQA als Qualitätsmanagementsystem, unter dem dunklen Stern drohender Kürzungen im Bildungsressort, in der schwierigen Lage, die vielfachen Hoffnungen, die in den letzten Jahren darauf verwendet wurden, erfüllen zu sollen. Umso interessanter erscheint daher eine philosophische Reflexion zu Grundsätzlichem. Disziplin „Die Disziplin ist die Kunst der Zusammensetzung von Kräften zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates.“, schreibt MICHEL FOUCAULT in seiner höchst lesenswerten Analyse „Überwachen und Strafe“ (S. 212). Qualitätsmaßnahmen sind Werkzeuge der Macht, neumodern als tools bezeichnet, um Disziplin zu produzieren oder zu stärken. Daher ist es im ursächlichen Interesse von Führungsprozessen, mit diesen tools auch effizient und richtig umgehen zu können. Im Lichte von Qualitätsmanagement ist die Technik der Disziplin eine notwendige Fertigkeit. Von der Industrie zur Dienstleistung Im Bereich der industriellen Fertigung wurde es notwendig, Qualitäten in der Massenproduktion zu garantieren. Qualitätssicherung hat, im engeren Sinne, ihre Wurzeln im hersteller- und produktorientierten Ansatz. Ein einwandfreies Funktionieren, gute technische Eigenschaften und effiziente Lebensdauer sind Ziele einer Massenproduktion. Der Schlüsselbegriff jeder Produktion ist „Garantie“, ein gegebenes Versprechen, das Verbindlichkeiten schafft. Nach FRIEDRICH NIETZSCHE, Genealogie der Moral: „Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier (Anmerkung: Damit ist der Mensch gemeint) heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen 8 I-JOURNAL Mai 2015 Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen.“ Qualität in der Produktion, gleich welcher Sektor, hat nicht nur mit Maschinen sondern auch mit erzogenen Menschen zu tun - die Geburtstunde der modernen Disziplin. MOTOROLA führte im Jahre 1987 „SIX SIGMA“ ein. Das Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass Fehler in Produktion und Prozess Kosten verursachen und damit negative Folgen für die Leistungsfähigkeit der Firma haben. SIX SIGMA wurde von Anfang an als Managementsystem betrachtet, das den Anspruch erhoben hatte, alle Konzepte, Techniken und Messsysteme unter einen Nenner zu bringen. Qualität umfasst in Six Sigma alle Dimensionen des Unternehmens und muss daher ganzheitlich und voll integriert aufgesetzt werden, so die Vorgabe. Zur Implementierung von SIX SIGMA wurde eine Zahl äußerst übersichtlicher und knapp gehaltener Leitideen formuliert, die umfassend über alle Ebenen kommuniziert wurden. In Summe hatte das System wirtschaftlichen Erfolg in den Bilanzen von Motorola erzielt und stellte in weiterer Folge einen Startpunkt für das sogenannte „TQM“ (= Total Quality Management) dar, das in der Managementlehre eine wichtige Bedeutung von nun an erhielt. (vgl. DUBS 2002, Einführung in die Managementlehre, S. 684) SIX SIGMA enthält viele Elemente, die auch für Qualitätsmanagement in Bildungsinstitutionen so typisch scheinen. Für den, der aber unmündig in TQM eingebunden ist, lauert GEORGE ORWELLS „big brother“ überall: Eine unübersichtliche Zahl an Abkürzungen und Verknappungen, ein holistisch - pantheistischer Ansatz, eine Überstrapazierung von Anglizismen auch im deutschen Sprachraum und ein ständiger Aufforderungscharakter der Unruhe. Auch der Imperativ an das „lebenslange Lernen“ ist für ein System wie TQM sehr typisch. Die prometheische Scham, von der GÜNTHER ANDERS so viel geschrieben hat („Die Antiquiertheit des Menschen“), lässt den Nutzer (user) im Falle des Nichtfunktionierens an sich selbst zweifeln, denn die Perfektion des Prozesses TQM an sich ist „unantastbar“. Ein Merkmal, das in vielen technischen Prozessen von heute auffällt, ist, dass sich der Nutzer für das Nichtfunktionieren verantwortlich fühlt. Wer den Bankomatcode vergisst, wer seine Passwörter aufschreibt, wer Tabellenkalkulationsprogramme für einfache Listen falsch befüllt – allen Fehlhandlungen ist gemeinsam, dass sie in der Masse der alltäglichen Anforderungen längst das Humane verlassen haben. Der Schriftsteller JOSEF HASLINGER schrieb einst in den 90er Jahren einen kurzen Beitrag für das Spectrum der Presse mit dem Titel: „Wer hier die Trotteln sind“. In diesem geht es um das verzweifelte Gefühl des Nutzers vor einem Computer, der nicht das tut, was gewünscht wird. Der Fehler wird zumeist im Humanen gesucht. Ich überlasse es gerne dem weiteren Nachdenken, wo des Pudels Kern (Verweis auf J.W. Goethe) tatsächlich liegt. Wie das wohl auch an GÜNTHER ANDERS erinnert. Die technisch orientierten Methoden des Qualitätsmanagements in der Industrie wurden auch für den Transfer auf kunden- und dienstleistungsorientierte Betriebe aufbereitet und an die verschiedensten Erfordernisse der neuen Bereiche angepasst. Qualität wird in dienstleistungsorientierten Betrieben als Resultat subjektiver Erfahrungen im Verhältnis zu den Erwartungen gemessen; eine große Anzahl an Rückmeldeverfahren werden im System Bildung und Schule implementiert. Das Kind, der Student, die Empfänger des Kernprozesses Unterricht, erhalten eine Stimme und geben Feedback. Die neue Sichtweise des Qualitätsmanagements, das von allen Beteiligten eine Rückmeldung einfordert, liegt im Trend des Zeitgeists und fördert demokratische Prozesse, sofern ernst gemeint. 9 I-JOURNAL Mai 2015 Als Ziel für Totales Qualitätsmanagement fungiert ein lückenloses System der Erfassung der Bedürfnisse und Wünsche von Menschen, die in den großen Fertigungshallen der Massenproduktion, sei es in Medienkonzernen oder in Textilhallen, global genutzt werden können. Sei es um im Onlineversand zugeschnittene Verkaufsangebote zu platzieren, sei es um den neuesten Modetrend zu entwickeln. Die Geburtsstunde der Disziplin Ausgedehnte Übungen im preußischen Militär, die den Körper des Soldaten mechanisch durchdeklinierten, führten zu einer Verschmelzung der Männer mit ihren Waffen. Die Automatik der menschlichen Handlungen wurde der Automatik des Gewehres angepasst. „Wenn ein Peloton blind chargirt, so muß es von der Zeit, da Feuer! kommandiert wird, 3 Sekunden haben, bis Hahn in Ruh ist, 1 Sekunde zur Ladung zu werfen, 2 zum Ladstock heraus, 2 in Lauf, 4 an seinen Ort und hoch zu nehmen, 12 Sekunden in allem.“ (Tagebuchaufzeichnung eines preußischen Fähnrichs 1755). Die perfekte Homogenität entpuppte sich aber als ein Trugbild äußerer Bedingungen. Wohl war die Reihe, in der diese preußischen Soldaten auf dem Exerzierplatz aufgestellt wurden, beeindruckend uniform, wohl war die gleichförmige Entschlossenheit, mit der eine Linie in den Kampf zog, furchterregend in ihrer Präzision, aber die Dressur von Soldaten konzentrierte sich auf eine äußere Verhaltensweise, bei der es völlig egal war, mit welcher Einstellung die Sache angegangen wurde. Gewissen, Gedanken oder Motivation der Soldaten waren ebenso wenig von Bedeutung wie ihre persönliche Herkunft oder Einstellung, ob Freiwilliger oder Kriegsgefangener, ob Söldner oder Überläufer, jeder taugte zur Dressur. Die kriegsführenden Offiziere achteten während der gesamten Kampfhandlungen mit gezogener Waffe, dass niemand desertieren konnte. Ein Bajonett bedrohte jeden Soldaten im Rücken, der die militärische Reihe verlassen wollte. Der preußische Soldat starb nicht für das Vaterland, sondern wollte überleben. In der Frontreihe war er Schachfigur. Die preußische erzwungene Disziplin war jedoch der französischen Leidenschaft für „La Grande Nation“ weit unterlegen. Einst genügte es, die technische Kontrolle über die industriell hergestellten Produkte zu besitzen, so wie die Ständestaaten ihre gesellschaftliche Reproduktion betrieben. Doch mit dem Ende der großen Monarchien schlug die Stunde der Sozialtechniken, die Geburtsstunde der Psychologie. „La Grande Nation“ stand für eine Idee, und diese zeigte sich den Zwängen der preußischen Repression überlegen. Die Technik der Disziplin des 20. Jahrhunderts fand ihren Ursprung auf den Kampfplätzen des frühen 19. Jahrhunderts (vgl. ULRICH BRÖCKLING: „Disziplin“) und wurde stetig weiterentwickelt. So vollständig wurden Disziplinartechniken entwickelt, dass auch Begriffe der Pädagogik neu gedeutet werden mussten. Psychologie, Sozialwissenschaften und Pädagogik erlangten ihre Rollen. Am „schwärzesten“ und deutlichsten drückt das NIKLAS LUHMAN aus, wenn er über „System und Absicht in der Erziehung“ bilanziert: „Am Ende kommt dabei die Lebenslüge der Pädagogik heraus: Die guten Absichten zu loben und die Gestaltbarkeit der Individuen als deren Freiheiten zu feiern.“ Für Leser der „Dialektik der Aufklärung“ (ADORNO/ HORKHEIMER) sind diese Sätze wenig überraschend. Den Ausweg dazu liefert IMMANUEL KANT in der kleinen Schrift „Was ist Aufklärung“ (1784), wo die „Mündigkeit“ zum Ausgangspunkt der Aufklärung erklärt wird. Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber Die Erziehung zur Schönheit durch naturgetreue und gleichmäßige Förderung zur normalen Körperbildung, Lebenstüchtigkeit und geistigen Veredelung erfolgte in der Pädagogik in vielen Schriften im 19. Jahrhundert. Gemeinsam ist diesen, dass sie, angelehnt an militärische Disziplinierungstechniken, dies auch auf die Pädagogik übertragen haben. Ein Autor unter vielen ist der Arzt Moritz Schreber – übrigens auch der Namenspate der so bezeichneten „Schrebergärten“. 10 I-JOURNAL Mai 2015 „Dem Heile künftiger Geschlechter“ ist das 1858 in Leipzig erschienene Hauptwerk „Kallipädie“ MORITZ SCHREBERS. Sehr typisch zeigt sich in diesem Lehrbuch der Erziehung für „Aeltern, Erzieher und Lehrer“ die Verbundenheit von Naturnähe, Gottesfürchtigkeit und Strenge. Das Kind wird von Beginn an als unverdorben gezeigt, das aus Gottes Kraft sich zum Guten entwickeln würde, wenn die schädlichen Einflüsse von außen ferngehalten werden könnten. Daher ist es oberstes Ziel der Erziehung, die Umwelt und die moralischen Grundsätze unter Kontrolle zu halten. Erziehung ist ein planmäßiges Einwirken, das alle Bereiche umfasst. „Dessenungeachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen Sinne, d.h. die gesamte den Menschen mögliche planmässig heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Hauptgrundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffenheit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunenerregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erziehung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstalten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich verwahrloste Kinder u.s.w. zu erblicken sind. Die glücklichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgegeben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.“, heißt es im Original. Auch der Körper der Kinder wurde zur gesunden Erziehung gezüchtet und diszipliniert, denn damit kann mangelhafte Naturmitgabe ausgeglichen werden. Zweifelsohne enthält „Kallipädie“ auch eine Reihe sehr zweckmäßiger Methoden aus der Pädiatrie, das gesamte Buch jedoch entspricht durch den strengen und fordernden Tonfall dem damaligen Zeitgeist, auch mit sehr unheilvollen Vorschlägen. Für den historisch geübten Leser, die historisch geübte Leserin, ist es unschwer zu erkennen, dass die Reformpädagogik der 20er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ihre unheilvollen Wurzeln in dieser Zeit der „Schwarzen Pädagogik“ (Literaturtipp: KATHARINA RUTSCHKY in dem gleichnamigen Buch), so wird es vielfach bezeichnet, gefunden hatte. Nicht umsonst führten viele Entwicklungslinien der Pädagogik zu einem guten Teil direkt auf die Schlachtfelder des zweiten Weltkriegs. Naturphilosophien gepaart mit Sozialdarwinismus, völkisches Denken und euphorisch gefeierte nationale Werte auf einer Folie einer streng zur Displin erziehenden bürgerlich ständischen Kultur, eine radikal verblendete Reformpädagogik, machten die Mischung aus, von der sich die Nachkriegspädagogik mit ziemlicher Mühe erst zu befreien lernen musst. Wer sich dafür näher interessiert, dem sei unter dem Pseudonym „Von einem Deutschen“ das veröffentlichte Werk „Der Rembrandtdeutsche“ empfohlen. JULIUS LANGBEHN schrieb damit das erfolgreichste und auflagenstärkste Erziehungsbuch um die Jahrundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert. 11 I-JOURNAL Mai 2015 Mündigkeit Die Forderung an ein verantwortungsvoll inszeniertes Qualitätsmanagementsystem ist Mündigkeit. Nur dann kann zwischen einer fremdgesteuerten TQM-Philosophie und einem auf Subsidiarität basierenden System von gegenseitiger Wertschätzung unterschieden werden. Nun ist das leichter gesagt als getan. Der an der Universität Bamberg lehrende Soziologe RICHARD MÜNCH bilanziert: „Die neue Wissenselite von Wissenschaft und Technik verdrängt die alte Bildungselite der Humanisten und die Fachelite der historisch gewachsenen Berufe.“ (in: „Globale Eliten, lokale Autoritäten“, S. 34) Es bedarf keines Studiums der „Geisterstunde“ nach KONRAD PAUL LIESSMANN um festzustellen, dass die humanistischen Inhalte in den Schulen an Bedeutung verlieren. Es genügt eine Analyse des aktuellen Lehrplans der Sekundarstufe oder der Zentralmatura, um hier zu erkennen, dass ein echter Paradigmenwechsel vor sich geht. Ob „Mündigkeit“ als wesentlichstes Ziel der schulischen Bildung garantiert werden kann (vgl. ADORNOS Forderung in der Rundfunkdiskussion 1969 „Erziehung zur Mündigkeit“), ist offen. In Anspielung auf das eingangs angeführte Zitat zur Sexualerziehung besteht ein lauter Zweifel, ob dafür in einer kompetenzmurmelnden Pädagogik tatsächlich ein angemessener Platz gefunden werden kann. Es gibt jedoch auch Gegenbewegungen. Eine davon stellt die soeben veröffentlichte Literaturliste des Stadtschulrates für Wien dar, gemeinsam mit der IG Autoren (Gerhard Ruiss) und ORF III (Heinz Sichrovsky) erstellt. Ein klares Signal wurde damit gesetzt, dass es auch anders geht. „Download“ unter www.stadtschulrat.at. ANDY HARGREAVES (Boston College) beforscht seit Jahren die Wandlungen in Bildungssystemen. Er hat im Buch „Sustainable Leadership“ allgemeine Forderungen an ein erfolgreiches „Change Management“ gestellt. Eine, wenn nicht die wichtigste, ist „Depth“, übersetzt mit „Wahrhaftigkeit und Integrität“. Jene Firmen und Institutionen, die auch wirklich und konsequent ermöglichen was sie vorgeben zu sein, haben nachhaltige Erfolge. BODY SHOP, als ein Beispiel von vielen, verdankt den Aufstieg zur Weltmarke der konsequenten Umsetzung der auf ethischen Grundsätzen basierenden Firmenphilosophie in allen Strukturen. Eine andere konkurrierende Drogeriemarktkette hingegen, die auf extremes Preisdumping kombiniert mit schlechten Arbeitsbedingungen für ihre Mitarbeiterinnen gesetzt hatte, musste den Konkurs anmelden – ein klarer Mangel an „Depth“. Die Warnung von ANDY HARGREAVES ist deutlich: „Eine Tendenz von Organisationen ist es, mehr Initiativen zu starten als von den tätigen Personen verarbeitet werden können.“ Die Normenreihe über ISO 9000 ff (international Organization for Standardization) und EFQM (European Foundation for Quality Management) ist beeindruckend und konsequent, aber auch erdrückend. ULRICH BRÖCKLING beschreibt das Führungsprinzip des TQM (zunächst ISO 8402, fortgeführt als 9000:2005) zynisch als „pastorales Modell der Menschenführung“ in Anlehnung an MICHEL FOUCAULT. „Der Qualitätsmanager figuriert als guter Hirte; er weiß, was die ihm anvertrauten Schäfchen brauchen, und ist stets auf ihr Wohl bedacht, auf dass keines verloren geht. Durch diese gleichermaßen auf den Einzelnen wie auf die gesamte Herde gerichtete Sorge versichert er sich ihrer Loyalität und steigert ihre Leistungen.“ Das Programm von Qualitätsmanagement könnte auch unter dem Titel „Austreibung der Faulheit“ gesehen werden. Der Imperialismus des Fleißes ist auch ein Kulturkampf, ein Krieg der Arbeit gegen die Faulheit. Die Faulen wurden bearbeitet, diszipliniert und verfleißigt, wie es RUDOLF HELMSTETTER (in: „Anthropologie der Arbeit“, Gunter Narr Verlag 2002) beschreibt. Und heute? Die Begriffe, derer sich Qualitätsmanagement bedient, sind allgemein „gut“, aber gesellschaftlich nicht diskutierbar. Wer Kritik übt, macht sich zum Außenseiter. Die Rhetorik des Qualitätsmanagements benutzt Vokabeln, die allgegenwärtig sind (Team, Kontraktmanagement, Controlling, Kompetenz, Benchmarking...) 12 I-JOURNAL Mai 2015 und erweckt dabei den Eindruck, alle sind auf dem richtigen Weg. Das Nachrichtenmagazin Spiegel (Spiegel JOB Nr 2/ 2014) hat dabei kritisch eine der wichtigsten Voraussetzungen für Qualitäts-Management hinterfragt. Ist Teamarbeit leistungsfähig genug? „Wo man auch hinblickt, man hat es mit Teams zu tun. Schreibt man an eine Firma, antwortet irgendein Serviceteam. Soll ein Produkt neu konzipiert werden, wird zuerst ein Konzeptteam konzipiert. Wer einen Job will, kann alle möglichen Vorzüge haben, Hauptsache, er oder sie ist auch „teamfähig - die Mutter aller Schlüsselqualifikationen...“ Faktum ist, das Kollektiv kann gemeinsam irren - aber auch gemeinsam vor Irrtümern schützen. Umso bedeutsamer erscheint es, die richtigen Prozesse und die geeigneten strategischen Ziele zu lancieren. Arbeit mit Qualitäten Wenn der Eindruck entstanden wäre, dass Qualitätsarbeit nicht sinnvoll leistbar wäre, dass sie nicht beabsichtigten Zwecken dient, ist dieser falsch und nicht in der Intention des Autors. Sehr wohl gibt es eine unbedingte Notwendigkeit für Qualitätsarbeit in Bildungseinrichtungen. Aber wesentlich dabei ist, dass dies nur dann verantwortungsvoll funktionieren kann, wenn Haltung und Werte, gepaart mit einem kritischen Bewusstsein, zugegen sind. Kurzum, wenn Mündigkeit bei den Mitwirkenden gefordert und gelebt wird. Dass Mündigkeit sich nicht von selbst ergibt, sondern mühsam und individuell zu erarbeiten ist, stellt das Schwierige an der Botschaft dar. Das hat auch „SQA“, eine Initiative des bmbf, parallel zum „QIBB“ platziert, entsprechend erkannt und gewürdigt, wenn grundsätzlich davon gesprochen wird, dass Gespräche auf Augenhöhe ein wesentliches Merkmal darstellen. Nicht umsonst ist die auf den ersten Blick komplizierte Konstruktion der Bilanzierung von Entwicklungsplänen äußerst sorgsam auf die verschiedenen Hierarchieebenen abgestimmt. Dennoch, die Absicht von Qualitätsarbeit ist, unabhängig von der Verarbeitung, eine disziplinierende Maßnahme und sie baut darauf auf, Effizienz erkennbar zu steigern. Für pädagogisches Handeln genügt es jedoch damit nicht. Pädagogik hat mit ihrer wissenschaftlich- philosophischen Begrifflichkeit Eingang auch in Qualitätsprozesse zu finden. Oder anders gesagt, die Entfaltung von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit ist das Ziel jedes pädagogischen Tuns, das nicht im Dschungel der Sozialtechniken verborgen bleiben darf. Besonders hilfreich erscheint in Qualitätsprojekten die deutliche Unterscheidung zwischen Managementund Führungsaufgaben. Zurückgehend auf MAX WEBER („Politik als Beruf“) soll der „echte Beamte nicht Politik treiben, sondern verwalten, unparteiisch vor allem ... sine ira et studio, ohne Zorn und Eingenommenheit, soll er seines Amtes walten. Er soll gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie seine Gefolgschaft immer und notwendig tun muss: Kämpfen ...“ Im St. Galler Managementmodell - eine übrigens hervorragend aufgebaute QM-Architektur mit hohem Nutzwert auch für den Gebrauch in Bildungssystemen - wird Management „nicht als eine Gruppe an Führungskräften im Sinne von >das Management<, sondern eine Funktion, ein System an Aufgaben ...“ wie Gestalten, Lenken und Weiterentwickeln zweckorientierter soziotechnischer Organisationen verstanden. (JOHANNES RÜEGG, „Das neue St. Galler Management-Modell“, S. 22) ROLF DUBS hat in weiterer Konsequenz das Qualitätsmanagement an Schulen als Managementprozess und nicht als Führungsprozess beschrieben. Mit kritischem Unterton warnt er vor einer falschen Überschätzung, denn „Modeerscheinungen“, und da ist das QM in Gefahr als solche angesehen zu werden, enden nur allzu häufig als Routine, Schematismus und Formalismus (vgl. „Die Führung einer Schule“, S. 197). Als Modeerscheinung würde QM zu einer geschäftigen Arbeit verkommen, die außer Papier und Aufwand nichts gebracht hätte. 13 I-JOURNAL Mai 2015 Unklarheiten und Überschneidungen unklarer Themenstränge führen gerade bei Lehrkräften zu Demotivation. Genau deshalb ist die richtige Wahl der strategischen Ziele im QM so wesentlich. Sind die Ziele nachvollziehbar und stehen in einem vernünftigen Kontext zueinander, sind sie bewältig- und erreichbar, kann QM erfolgreich als Managementprozess an der Schule gestartet werden. Stoßen jedoch die strategischen Ziele des jeweiligen QM-Prozesses an wahrnehmbare Grenzen, deren Überwindung weit außerhalb der Möglichkeiten der Akteure liegt, dann ist schon nach kurzer Zeit mit Frustration zu rechnen. Wenn staatliche Normen und Vorgaben zueinander nicht kongruent sind - zum Beispiel das Quartett Lehrplan, Leistungsbeurteilung, Bildungsstandards und aussagekräftige Abschlusszeugnisse will sich so gar nicht recht zu einer Einheit zusammenfügen - und diese zudem mit Bildungsutopien verschnitten werden, dann stellen solche Themen ziemlich ungeeignete Grundlagen für ein erfolgreiches QM dar. Innovationsund Erneuerungsprozesse taugen im Gegensatz von Optimierungsprozessen nur schlecht für Themen des Qualitätsmanagements. Wenn diese Innovationsprozesse in den Entwicklungsplänen auftauchen, sind diese zumeist sehr umfangreich und können in einer überschaubaren Zeitfrist nicht abgeschlossen werden. Im ungünstigen Fall wird auf diese Weise bei den Beteiligten Frust ausgelöst, der mit den Mitteln des QM, die den Auslöser darstellen, nicht aufgelöst werden kann. Resümee Qualitätsmanagement hat positive Wirkungen und ist qualitätsfördernd, wenn es kritisch und von aufgeklärten Personen betrieben wird. Für den Einsatz in Bildungseinrichtungen ist die Existenz von leitenden Wertvorstellungen unersetzlich. Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und Mündigkeit sind unverzichtbar und gehören in den übersichtlich zu haltenden strategischen Leitzielen immanent eingearbeitet. Die Akzeptanz des jeweilig eingesetzten QM-Systems steigt mit der Bewältigbarkeit und Klarheit der Ziele, und mit der Möglichkeit der Akteure, persönlich wertvolle Erfahrungen einbringen zu können. Anders gesagt, wenn das „New Public Management“ keinen Platz für aufklärende Begriffe wie zum Beispiel „Mündigkeit“ hat, darf mit starkem Widerstand seitens einer aufgewachten Pädagogik gerechnet werden. Mündigkeit für Unmündige Die allgemeine Forderung von IMMANUEL KANT ist klar: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Im Gegensatz zur allgemeinen Forderung, die Unmündigkeit als selbstverschuldet kennzeichnet, ist diese bei einem behinderten Menschen keine Frage der Schuldhaftigkeit. Selbstverständlich sind daher die Ziele, die im sonderpädagogischen Bereich unter Mündigkeit zu verstehen sind, anderer Dimension, aber sie sind genauso existent. MARIAN HEITGER, für den Bildung immer auch mit Selbstbestimmung zu tun hat, fordert vehement und kompromisslos die Anerkennung jedes Menschen in seiner Bildsamkeit. Daher ist es Ziel und Auftrag, schulische Bildung jedem Kind und jedem Jugendlichen zu öffnen, und ihr oder ihm auch zu ermöglichen, ihren oder seinen eigenen Bildungsweg zu finden. Sonderpädagogisch gedacht ist Differenzierung notwendig. Was immer im Einzelfall unter Mündigkeit zu verstehen ist, kann nur höchst individuell festgelegt werden. Daher kann auch ganz selbstverständlich erwartet werden, dass ein Schulqualitätssystem im Bereich der Sonderpädagogik auch den Begriff der Mündigkeit in abgewandelter Form enthält. Sehr wohl kann somit eine Person zwar rechtlich als unmündig gelten, im pädagogischen Sinne jedoch ihre intraindividuell erreichbare Ausprägung an Mündigkeit besitzen. Das darf dann mit gutem Recht als wirklich pädagogischer Erfolg gefeiert werden. Knapp 2000 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sind tagtäglich im Einsatz in Wien (und es werden auch künftig nicht weniger), um an diesen Erfolgen mitzuwirken. Ich darf sehr stolz darauf sein, mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen in meiner Funktion als Landesschulinspektor für Inklusion und Sonderpädagogik. Auch wenn mancher pädagogi14 I-JOURNAL Mai 2015 sche Erfolg aus der Ferne klein erscheint, er kann einen gewaltigen Schritt für die einzelne Persönlichkeit bedeuten. Obwohl ich standardisierte Testergebnisse für sehr bedeutsame Maßzahlen für die Verbesserung eines Bildungssystems halte, die zahlreichen intraindividuellen Fortschritte dank der professionellen Arbeit der Pädagoginnen und Pädagogen sind der wahre Triumph der Wiener Sonderpädagogik. Und letztlich bleibt es dabei: Mündigkeit ist das Ziel einer jeglichen aufgeklärten Pädagogik, uneingeschränkt. Praktische Tipps zum Start von Qualitätsmanagement in Schulen • Verwenden Sie ein prozessorientiertes klares QM-System (z.B. St. Galler) und vermeiden Sie unklare QMStrukturen mit quantitativ und qualitativ nicht bewältigbaren Zielen/Fragen • Halten Sie die strategischen Leitziele übersichtlich und konkret, vermeiden Sie unabschließbare Visionen • Unterscheiden Sie klar zwischen Erneuerung und Optimierung • Vermeiden Sie Abkürzungen, Anglizismen und tautologische Zielformulierungen • Suchen Sie realistische Möglichkeiten, um Außenevaluationen und vergleichbare Daten zu erhalten • Starten Sie nicht mehr Initiativen als bewältigbar sind • Zwei zentrale Grundgüter (nach John Rawls) sind von ganz besonderer Bedeutung: Gedanken- und Gewissensfreiheit und Selbstachtung. Auf diesen zwei Grundgütern aufbauend sind Selbstwirksamkeit (Schwarzer & Jerusalem) und daraus resultierende Selbstwirksamkeitserwartungen wichtigste Ergebnisse von pädagogischen Prozessen. Literaturtipps • Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Verlag suhrkamp • Rolf Dubs: Die Führung einer Schule. Franz Steiner Verlag. Zürich 2005 • Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität Verlag Klett/ Kallmeyer 2012 • Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst, Verlag suhrkamp 2007 • Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten • Andy Hargreaves: The Fourth Way, Verlag Corwin. Kalifornien Rupert Corazza Landesschulinspektor für Inklusion und Sonderpädagogik 15 I-JOURNAL Mai 2015 Ein ganz besonderes Projekt in der Lernwerkstatt Donaustadt: Die Bürgschaft Eine Projektbeschreibung samt Fotos von Claudia Ovrutcki und dem Text von Friedrich Schiller Eine Ballade spielen? Die Bürgschaft? Kann so etwas gelingen? Unter der Regie von Sabine Rupar, meiner Klassenvorstandskollegin, ist das gelungen. Ich möchte darüber berichten und im Anschluss die einzelnen Szenen mit den Fotos der Kinder veranschaulichen. Beide Klassen sind Integrationsklassen in der Lernwerkstatt Donaustadt, einer inklusiven Mittelschule und ZIS (Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik) in der Steinbrechergasse im 22. Bezirk in Wien. Mein Name ist Claudia Ovrutcki und ich arbeite schon seit 14 Jahren in der Lernwerkstatt Donaustadt als Integrationslehrerin und Schulentwicklerin. Und immer wieder bringen mich unsere Kinder zum Staunen, welch tolle Projekte hier umgesetzt werden können! Die Bürgschaft handelt von Verantwortung und Zivilcourage. Das ist unser Jahresmotto in diesem Schuljahres 2014/15. „Treffpunkt Schule“ findet zweimal pro Jahr statt und ist eine Plattform zur Darbietung von im Unterricht behandelten Themen, das kann ein Musikstück sein, eine Performance aus dem Turnsaal, die Herstellung von Gipsmasken und die Ausstellung darüber, die Ergebnisse aus den Lernwerkstätten usw., der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wir – das Team der 2. Klassen – führen „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller auf. Veronika und Jenny erzählen hier den ZuschauerInnen die Handlung der „Bürgschaft“, da die Sprache sehr altertümlich ist, erklären sie allen Kindern die Geschichte von Damon und seiner heldenhaften Tat – und den Abenteuern, die er bestehen muss, um seinen Freund – den Bürgen – letztendlich noch vor dem Galgen zu retten. Friedrich Schiller hat das Ende offen gelassen. Veronika und Jenny befragen die Zuschauer am Ende der Aufführung nach ihrer Meinung, wie das Stück ausgehen wird. Nehmen Damon und sein Freund Dionys, den Tyrannen in ihre Mitte? Die Kinder der Steinbrechergasse haben sich für dieses Ende entschieden. Jetzt geht es los: Die Kinder der 2. Klassen spielen die Bürgschaft. Der Chor spricht die Stimmen, die SchauspielerInnen agieren – und das im Rhythmus der Cajón. 16 I-JOURNAL Mai 2015 Die Bürgschaft – von Friedrich Schiller, aufgeführt für „Treffpunkt Schule“ am 5.3.2015 in der Lernwerkstatt Donaustadt, Steinbrechergasse 6, von der 2.A und 2.B Der Tyrann Dionys 17 I-JOURNAL Mai 2015 1. Im Königspalast Zu Dionys, dem Tyrannen schlich Damon, den Dolch im Gewande, ihn schlugen die Häscher in Bande. „Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“ Entgegnet ihm finster der Wüterich. „Die Stadt vom Tyrannen befreien!“ „Das sollst du am Kreuze bereuen!“ Damon wird von den Häschern gefasst. „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit, und bitte nicht um mein Leben; doch willst du Gnade mir geben, ich flehe dich um drei Tage Zeit, bis ich der Schwester dem Gatten gefreit; ich lasse den Freund dir als Bürgen, ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“ Damon bittet um Aufschub, sein Freund bürgt für ihn. Da lächelt der König mit arger List Und spricht nach kurzem Bedenken: „Drei Tage will ich dir schenken; Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist, eh`du zurück mir gegeben bist, so muss er statt deiner erblassen, doch dir ist die Strafe erlassen.“ Drei Tage hat Damon nun Zeit. 18 I-JOURNAL Mai 2015 2. Beim Freunde Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut, dass ich am Kreuz mit dem Leben bezahle das frevelnde Streben; doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, bis ich der Schwester dem Gatten gefreit. So bleib du dem König zum Pfande, bis ich komme, zu lösen die Bande.“ Damon erklärt dem Freund die Situation. Und schweigend umarmt ihn der treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen; der andere ziehet von dannen. 3. Schwester - Vermählung Und ehe das dritte Morgenrot scheint, hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint, eilt heim mit sorgender Seele, damit er die Frist nicht verfehle. Die Vermählung der Schwester 4. Vorm Fluss Da gießt unendlicher Regen herab, von den Bergen stürzen die Quellen, und die Bäche, die Ströme schwellen, Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab, da reißet die Brücke der Strudel hinab, und donnernd sprengen die Wogen des Gewölbes krachenden Bogen. Regen gießt herab, die Brücke stürzt ein. 19 I-JOURNAL Mai 2015 Und trostlos irrt er an Ufers Rand; wie weit er auch spähet und blicket und die Stimme, die rufende schicket, da stößt kein Nachen vom sichern Strand, der ihn setze an das gewünschte Land, kein Schiffer lenket die Fähre, und der wilde Strom wird zum Meere. Damon irrt umher Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, die Hände zum Zeus erhoben: „O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden. Im Mittag steht die Sonne, und wenn sie niedergeht und ich kann die Stadt nicht erreichen, so muss der Freund mir erbleichen.“ Damon ruft, weint und fleht Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut, und Welle auf Welle zerrinnet. Und Stunde an Stunde entrinnet. Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut und wirft sich hinein in die brausende Flut und teilt mit gewaltigen Armen den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. Damon stürzt sich in die Fluten 20 I-JOURNAL Mai 2015 Und gewinnt das Ufer und eilet fort, und danket dem rettenden Gotte; da stürzet die raubende Rotte hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord und hemmet des Wanderers Eile mit drohend geschwungener Keule. Da kommen die Räuber „Was wollt ihr?“, ruft er vor Schrecken bleich, „Ich habe nichts als mein Leben, das muss ich dem Könige geben!“ Und entreißt die Keule dem Nächsten gleich: „Um des Freundes Willen erbarmet euch“ Und drei mit gewaltigen Streichen erlegt er, die anderen entweichen. Damon schlägt die Räuber in die Flucht 5. Sonne (heiß und erbarmungslos) Und die Sonne versendet glühenden Brand, und, von der unendlichen Mühe ermattet, sinken die Kniee: „Oh, hast du mich gnädig aus Räubershand, aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land, und soll hier verschmachtend verderben, und der Freund mir, der liebende, sterben!“ Der Chor spricht den Text 21 I-JOURNAL Mai 2015 6. 7. Quelle Und horch! Da sprudelt es silberhell Ganz nahen wie rieselndes Rauschen, und stille hält er, zu lauschen. Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell, und freudig bückt er sich nieder und erfrischet die brennenden Glieder. Damon hört die rettende Quelle 8. Sonne blickt durch die Zweige - Wanderer Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün und malt auf den glänzenden Matten der Bäume gigantische Schatten; und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn, will eilenden Laufes vorüberfliehn, da hört er die Worte sie sagen; „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“ Die Wanderer kommen des Weges, der Chor begleitet sie 9. Abendrot: Begegnung mit Philostratus Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß, ihn jagen der Sorge Qualen; da schimmern in Abendrots Strahlen von Ferne die Zinnen von Syrakus, und entgegen kommt ihm Philostratus, des Hauses redlicher Hüter, der erkennt entsetzt den Gebieter: Damon begegnet Philostratus 22 I-JOURNAL Mai 2015 „Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr, so rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben, Von Stunde zu Stunde gewartet er mit hoffender Seele der Wiederkehr, ihm konnte den mutigen Glauben der Hohn des Tyrannen nicht rauben!“ Damon erfährt, dass er den Freund nicht mehr retten kann „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, ein Retter, willkommen erscheinen, so soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blut`ge Tyrann sich nicht, dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht; er schlachte der Opfer zweie und glaube an Liebe und Treue.“ Luciano spricht die Stimme von Philostratus 10.Am Tor/ beim Henker/ Sonne geht unter Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor und sieht das Kreuz schon erhöhet, das die Menge gaffend umstehet; an dem Seile schon zieht man den Freund empor, da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: „Mich Henker!“ ruft er, „erwürget!“ Da bin ich, für den er gebürget!“ Das Kreuz ist schon erhöht, der Freund in Gefahr! 23 I-JOURNAL Mai 2015 Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, in den Armen liegen sich beide und weinen vor Schmerzen und Freude. Da sieht man kein Auge tränenleer, und zum König bringt man die Wundermär, der fühlt ein menschliches Rühren, lässt schnell vor den Thron sie führen. Gerettet! Nun werden sie vor den Thron geführt 11.Im Königspalast Und blicket sie lange verwundert an; Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, ihr habt das Herz mir bezwungen; und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn; so nehmet auch mich zum Genossen an: Ich, sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.“ Dionys bittet um die Freundschaft der beiden Veronika und Jenny: Wie entscheidet sich das Publikum, wie das Ende ausgehen soll? Das Publikum – die Kinder der Lernwerkstatt - entscheiden sich für die Gewährung der Bitte des Tyrannen: Er wird in die Mitte der beiden Freunde genommen. Veronika und Jenny wenden sich ans Publikum 24 I-JOURNAL Mai 2015 „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller – ein kleines Regiebuch Regie: Sabine Rupar Assistenz: Kathi Hancke, Mary Pauppill, Claudia Ovrutcki, Waltraud Kotz Musik und Takt: Willi Barth, Lilli Strauß /Chorleitung Fotos: Christoph Gebauer, Claudia Ovrutcki DarstellerInnen: Die Kinder aus der 2.A und 2.B der Lernwerkstatt Donaustadt Tyrann DIONYS Damon 2 Häscher Freund von Damon Räuber Quelle 2 Wanderer Philostratus Gatte - Schwester Henker Volk = Bäume Requisiten Wasser schwingen Regen Brücke Instrumente Cajón Chor Sprecherinnen/INTRO Besa, Mina, Yen, Ronja Veronika, Patricia, Katarina, Berkant Sary, Benny Georg Raphael Benni Benny, Justin, Emir, Philip Tobias Jenny, Andre Luciano Justin Marcel, Mina Benny Benni F., Filip, Turgay, Paul,Achmed Justin, Philip Erdogan Andre, Turgay Melanie, Tobias Willi Barth Luciano, Viktoria, Michelle, Andrea, Marcel, Emir, Mirko, Maxi, Christian Jenny, Veronika Eine tolle Leistung der Kinder! Wir, das LehrerInntenteam der 2. Klassen, sind sehr stolz auf sie und feiern gemeinsam den Erfolg der Aufführung! Abschiedsapplaus! 25 I-JOURNAL Mai 2015 Storytelling English Language Lessons in the Integration Classroom Telling stories is something I really enjoy as part of English language teaching and have used it in various teaching situations, including nursery and primary schools, lower secondary and now in integration classes. In January this year, our focus in Year 1 at lower secondary school was on fairy tales and I chose to concentrate on a children’s story that I know really well and is still popular in the UK today, namely the tale of the ‘Three Little Pigs’. Storytelling, of course, can be done with the help of a book; reading a story out loud and sharing a book is something special and has an important place at home and at school. However, I would like to tell you about how I tell a story freely, making it interactive by getting the pupils involved as much as possible; by drawing on the passive and active language skills of the pupils and teaching new vocabulary and structures. All teachers are ‘actors’, often relying on their gestures, body language, facial expressions and creative use of language to get their message across. Storytelling is no different; it requires acting skills and enthusiasm. The pupils will probably not understand every word that is said, but they will get the gist and the follow-up work after the story reinforces the language you would like them to learn and use. The story of the ‘Three Little Pigs’ is an old tale; first mentioned in printed form in The Nursery Rhymes of England (1886), by James Orchard Halliwell-Phillipps and then slightly later in English Fairy Tales (1898), by Joseph Jacobs. It is one of those fairy tales that has been changed and adapted over the years and was eventually made into a cartoon film by Disney. For those of you who are not familiar with the story, it is the story of three little pigs sent out into the world by their mother, with a warning to watch out for the big, bad wolf who likes nothing more than to catch and eat little pigs. In the tradition of many fairy tales, the animals take on human characteristics such as speaking, wearing clothes and living in houses. The first pig is rather lazy and cannot be bothered to spend much time building his own house and therefore quickly builds a house of straw. His brother, who is slightly cleverer and a bit more hard-working, builds his house of wood. The third little pig is the most intelligent and diligent; he builds his house of bricks. Needless to say, the wolf tracks down the little pigs; he tries to get into the house of straw by knocking and asking the little pig to let him in. The little pig refuses, so the wolf blows the house down. In the original tale, the wolf catches the pig and eats him. In the ‘softer’ version, the pig escapes and runs to his brother’s house. The same thing happens at the house of wood. However, at the house of bricks, the wolf is unable to blow the house down and must find another way of getting inside the house in order to catch those pigs. The wolf is outwitted by the third little pig’s intelligence. The story ends with the wolf climbing down the chimney and falling into a pot of boiling water; in the original version the wolf dies, but the adapted version tells of the wolf burning his bottom and running off never to be seen again, and the three little pigs live happily ever after in the house of bricks. I have to admit I have taken over the ‘softer’ version of the story as per Disney, where the wolf does not eat the little pigs, but they run safely to their brother’s house, nor does the wolf die in a pot of boiling water, but burns his bottom and runs away never to be seen again. It occurs to me that times have changed, when growing up, we as children, were confronted with the original, quite violent version of the story, no adult seemed to think it necessary to change the story to spare our feelings, and as children, we just accepted it for what it was – a fairy tale. However, today we adults see these traditional tales from a different perspective and feel the need to ‘soften’ things and spare our pupils gruesome details and unnecessary violence – I ask myself what has changed? To return to the storytelling in the classroom; I chose this tale, firstly, because I know it so well. I am able to re-tell the story in my own words, adapt, adjust and simplify (if necessary) according to the needs of my audience. There is quite a lot of repetition in the story, both in the language structures used and the speech 26 I-JOURNAL Mai 2015 of the wolf and pigs, this aids in understanding and reinforcement of the language, the pupils know what to expect and can then actively join in when re-telling the story. From a language teacher’s point of view the story provides opportunities to focus on the melody of the English language; there is vocabulary concerning feelings and characteristics, it can be told in the present tense or the simple past tense, structures such as ‘made of’ and ‘blow something down’ are used, as well as nonsense phrases, such as, ‘not by the hair on my chinny-chin-chin’, which are quite a challenge to explain, even in the first language of the pupils, but pronunciation and intonation are important and a bit of fun is an important aspect of language learning. When preparing for the storytelling lesson, I searched books and the internet for pictures that would help support my spoken language. I did not really want very detailed pictures that would leave nothing to the imagination of my pupils or put restrictions on the language I could use. I found just what I was looking for at www.sparklebox.co.uk. They offer colourful visual aids that are free to download; they also have other things that are useful for storytelling; vocabulary cards, character cut-outs, masks and sequencing pages. Initially, I took some of the vocabulary cards from Sparklebox and added some of my own, so that I could explain the most important vocabulary before the story began. It is not essential for the pupils to understand every word, but understanding key words that I wanted them to then use later was part of the preparation. The next step was the follow-up; what could I realistically expect my pupils to do as far as using the language was concerned? Firstly, all of them would be able to join in orally to help retell the story. After that, some of them would be able to write simple sentences to retell the story, others would be able to draw a picture of their favourite part of the story and label it; others would be able to write a sentence about their own picture. As we know the ability range in integration classes varies widely, and the challenge is to find activities, so that everyone is able to work at their own ability level, be actively involved and have a feeling of success. A Brief summary of our Storytelling Lesson 1. Brainstorm ´Fairy Tales’, how many do the children know? By writing a few examples of famous ones with similar names to those in German (Rumpelstiltskin, Cinderella, Snow White) on the board, they got the idea. I explained how a fairy tale begins with ‘Once upon a time…’ and ends with ‘happily ever after’! 2. I introduced the important vocabulary via pictures, word cards and gestures;, I then kept these vocabulary cards on a separate part of the board to refer back to during the storytelling if necessary. The pupils repeated the words using gestures or facial expressions wherever it was helpful or appropriate. 3. Using my voice, body language and the help of large pictures on the board I told the story. I put emphasis on the vocabulary words and referred back to the vocabulary cards by pointing at them during the story telling. 4. Once the story came to an end, I got the pupils involved. The boys were the wolf (or the pigs) and the girls the pigs (or the wolf). After practising the phrases the animals used and added intonation, I told the story again, with the pupils taking over the roles of the wolf and the pigs. A third telling of the story involved swapping the roles and stopping sentences halfway through to see who could finish the sentence. For example, ‘The first little pig was…, (lazy); he built a house of … (straw). 5. After the storytelling, all of the pupils got a sheet of six pictures to cut up and to sequence in the correct order (www.sparklebox.co.uk ). They stuck these pictures in the right order in their exercise books. Some of the pupils wrote a sentence about the picture, using their own language next to or under the picture. They used the vocabulary cards to help with spelling and asked when they needed help with the structure of the sentence. Others labelled their pictures with such phrases as ‘straw house’ or ‘big, bad wolf’; others wrote the phrases we had learnt together like, ‘Little pig, little pig let me come in!’ This part of the lesson was very productive, with everyone working at their own ability level. 27 I-JOURNAL Mai 2015 Another follow-up activity, for a classroom display, was to draw the favourite part of the story. Again, some pupils were able to write their own sentence to describe the picture, others were able to label it. This storytelling lesson was one of the memorable ones, where everyone was motivated and engaged in the language lesson. Everyone was able to work at their level and actively use the English language. Not only was the artwork produced very impressive, a month later I still hear ‘Little pig, little pig let me come in!’ or ‘Not by the hair on my chinny-chin-chin!’ and as an added bonus I got a round of applause from the pupils after I had finished telling the story. By Deborah Burger 28 I-JOURNAL Mai 2015 Öffentliche Volksschule SKZ : 910271 Neilreichgasse 111 1100 Wien Direktion: Eveline Nitschko Tel: 01/616 15 60/111 FAX: 01/616 15 60/110 Lehrerzimmer: Tel: 01/616 15 60/112 e-mail : vs10neil111k@m56ssr.wien.at Homepage: http://vs-neilreichgasse.schule.wien.at Besuch aus der Republik Moldau in der Volksschule 10., Neilreichgasse 111 Eine Delegation aus SchulleiterInnen und LehrerInnen sowie VertreterInnen der Sonderpädagogischen Beratungsstellen und des Ministeriums der Republik Moldau besuchten am 13. November 2014 die vier Integrationsklassen der Volksschule Wien 10, Neilreichgasse 111. KulturKontaktAustria fördert im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Frauen die Bildungskooperation mit Ost- und Südosteuropa, im Speziellen die Kooperation mit der Republik Moldau im Bereich der Integration. Im Rahmen des Projektes „Auf dem Weg zur inklusiven Schule“ konnte den BesucherInnen aus der Republik Moldau gezeigt werden, wie Integration in der Volksschule Neilreichgasse gelebt und im Unterricht umgesetzt wird. Die Kinder der 1.b Klasse wurden im Turnsaal während des Turnunterrichts besucht. In der 2.b Klasse und in der 3.b Klasse konnten die Kinder bei ihrer Arbeit am Tagesplan beobachtet werden. Die individuelle Arbeit mit Karteien im Rahmen von Projektarbeit faszinierte die Besucher und Besucherinnen in der 4.b Klasse. Beim Besuch in den Klassen sammelten die Gäste viele Eindrücke und Anregungen. Sie waren wirklich begeistert von der Art und Weise, wie bei uns auf jedes Kind ganz individuell eingegangen wird. Vor allem die Tatsache, dass die Kinder im Unterricht an unterschiedlichen Themen arbeiten und mit unterschiedlichen Arbeitsmaterialien beschäftigt sind, fand großen Anklang, verursachte aber auch großes Erstaunen. Offene Arbeitsformen wurden als völlig neu bezeichnet. Sie kommen in der Republik Moldau nicht zum Einsatz. In einer den Besuch abschließenden Gesprächsrunde beantworteten die Wiener Volksschullehrerinnen und Sonderpädagoninnen die zahlreichen Fragen der Gäste, ein reger und sehr herzlicher Austausch fand statt. Dass viele Anregungen aus dem Alltag einer Volksschule in Wien Favoriten in die Republik Moldau mitgenommen werden können, freut mich als Direktorin ganz besonders. Eveline Nitschko, Direktorin, 13.11.2014 29 I-JOURNAL Mai 2015 30 I-JOURNAL Mai 2015 Erfahrungsaustausch mit Moldau zum Thema inklusive Bildung KulturKontakt Austria (KKA), ein Verein, der im Auftrag des BMBF die Bildungskooperation mit Ost- und Südosteuropa fördert, engagiert sich bereits seit neun Jahren im Bereich SEN in der Republik Moldau. Begonnen hat dieses Engagement mit einem niederschwelligen Projekt für sonderpädagogische Internatsschulen („Drama in Education“). In weiteren Schritten wurden LehrerInnen an vier Schulen, die bereits Schritte zur Inklusion von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesetzt hatten, mit Fortbildungsangeboten durch österreichische ExpertInnen unterstützt. In der derzeit laufenden Projektphase (2014 – 2016) werden diese vier Schulen, die nun als Good - Practice - Kompetenzzentren etabliert sind, darin geschult, ihre Erfahrungen durch Peer Learning an andere Schulen weiterzugeben. Daneben werden die von der moldauischen Bildungsverwaltung bereits etablierten psychosozialen Förderzentren in der Entwicklung bedarfsgerechter Beratungsleistungen unterstützt und die MitarbeiterInnen des Nationalen Zentrums sowie von sechs weiteren Beratungszentren fachlich geschult, um ihre neuen Aufgaben bestmöglich erfüllen zu können. Die nun etablierten psychosozialen Förderzentren samt der dazugehörigen nationalen Koordinationsstelle sind ein wichtiger Meilenstein in der moldauischen Inklusionspolitik. Diese sind ähnlich den Entwicklungen in Österreich nicht (mehr) an exklusiven Bildungseinrichtungen angesiedelt, sondern entweder Teil von bestehenden Schulen oder an der Bezirksverwaltung untergebracht. Parallel dazu wird der bildungspolitische Dialog zum Thema Special Eductional Needs mit den Verantwortlichen im moldauischen Bildungsministerium und relevanten Stakeholdern gefördert. So hat etwa die erste nationale Inklusionskonferenz mit über 200 TeilnehmerInnen im Frühjahr 2015 stattgefunden und es konnte ein nationales Regierungsberatungsgremium für Inklusion etabliert werden. 31 I-JOURNAL Mai 2015 Im November 2014 wurde der Erfahrungsaustausch mit Österreich im Rahmen einer einwöchigen Studienreise vertieft. 30 moldauische TeilnehmerInnen konnten durch den Besuch von Modellschulen und Beratungseinrichtungen in Österreich die eigene Inklusionspraxis reflektieren. Ziele unserer Reise waren der Bezirk Reutte, Innsbruck und Wien. LehrerInnen aus den vier schulischen Kompetenzzentren für inklusive Bildung, die SPZ-Teams sowie die MitarbeiterInnen des Bildungsministeriums konnten ländliche wie auch urbane Inklusionsbeispiele im Pflichtschulbereich (VS, NMS, PTS) sowie die zuständigen ZIS / SPZ und deren regionale wie landes- und bundesweite Struktur und Organisation kennenlernen. Nach einigen Jahren der Weiterbildung und des Austausches vor Ort mit österreichischen ExpertInnen in Moldau konnten die 30 TeilnehmerInnen ihre eigenen Erfahrungen und Modelle nun praktisch reflektieren. Im Besonderen waren Good Practice Beispiele des Teamteaching, Formen der inneren Differenzierung, inklusive Schulkulturen, klientenzentrierte Beratungsformen und Rollenverständnisse der SPZ / ZIS wichtige Beispiele, die den TeilnehmerInnen interessante Lern- und Reflexionsfelder geboten haben, um Inklusion als Netzwerk zu erleben. KKA bedankt sich bei der Integrationsberatungsstelle des SSR für Wien für die Organisation und fachkundige Begleitung des Aufenthalts in Wien. Mag. Monika Mott (Bereichsleiterin Bildungskooperation KulturKontakt Austria) Dr. Fabian Mayr (Bildungsbeauftragter des BMBF für die Republik Moldau) 32 I-JOURNAL Mai 2015 Wenn zwei eine Reise tun … Wien 2015 Wien im Februar bei Sonnenschein und herrlichem Wetter ist natürlich immer eine Reise wert, doch nicht aus touristischen Gründen wurde die Wienreise geplant, sondern vor dem Hintergrund eines der Schlagworte, die das deutsche Bildungs- und Schulsystem in den letzten Jahren entscheidend geprägt hat: INKLUSION. Nachdem Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, wurden Schritt für Schritt Maßnahmen getroffen, um beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in Regelschulklassen zu inkludieren. Wir, als Vertreter der Biologie- und Englischdidaktik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, haben im Rahmen des Verbundprojekts „Inklusion“ unserer Universität diese Reise geplant, um einen Eindruck zu erhalten, wie auch in anderen deutschsprachigen Ländern inklusiv bzw. integrativ unterrichtet wird. Die Rahmenbedingungen des inklusiven Unterrichtens in Deutschland, konkret in Bayern, direkt vorweg: Grundsätzlich existieren vier Möglichkeiten, wie Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf unterrichtet werden. So können unter anderem einzelne Schülerinnen und Schüler an den allgemeinbildenden/beruflichen Schulen in Regelklassen beschult werden. Unterstützung erhalten die Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler und Eltern durch den sogenannten mobilen sonderpädagogischen Dienst, dessen Förderschullehrer stundenweise zur Verfügung stehen. Des Weiteren existiert in Bayern bereits eine große Anzahl an Schulen mit dem Schulprofil Inklusion. An diesen Schulen werden die Kinder durch Lehrertandems (Lehrkraft der allgemeinbildenden Schule und Lehrkraft für Sonderpädagogik) unterrichtet. Unter dem Konzept der Partnerklassen wird verstanden, dass Schulklassen der allgemeinbildenden Schulen (ohne Kinder mit Förderbedarf) und Klassen von Förderschulen für eine festgelegte Stundenzahl gemeinsam unterrichtet werden. Kooperationsklassen sind hingegen Klassen allgemeinbildender Schulen, deren Schülerinnen und Schüler Kinder mit und ohne Förderbedarf besuchen. Der Lehrkraft der allgemeinbildenden Schule wird stundenweise eine Förderschullehrkraft des bereits zuvor erwähnten mobilen sonderpädagogischen Dienstes zur Seite gestellt. Insgesamt gesehen erfolgt zurzeit in Deutschland eine Umstrukturierung des Schulsystems, die in einigen Teilen Deutschlands sogar eine Abschaffung von Förderschulen beinhaltet oder beinhalten könnte, wenn beispielsweise die Zuweisung einer mobilen sonderpädagogischen Lehrkraft gegenüber der Zuweisung von Kindern an eine Förderschule bevorzugt wird. Dennoch: Auch wenn es durchaus positive Beispiele von gelungener Inklusion in Deutschland gibt, existiert zugleich auch eine große Skepsis diesem Konzept gegenüber. Lehrer und Lehrerinnen fühlen sich überfordert – schließlich können nun potenziell in jeder Klasse Kinder mit besonderem Förderbedarf sitzen – Kinder, auf deren Umgang die Lehrer nicht vorbereitet und ausgebildet wurden. Eltern schreien auf, da sie Bedenken haben, dass das Leistungsniveau der gesamten Klasse unter der Inklusion leiden könnte. Warum aber nun ausgerechnet Wien? Zwar steht das „I“ der I-Klassen nicht für Inklusion, sondern für Integration, dennoch schienen uns diese Klassen als passende und bereits seit 30 Jahren etablierte Beispiele, um zu sehen, wie in der Praxis, im Alltag, Schülerinnen und Schüler mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. So wurde uns aber auch berichtet, dass das Konzept der I-Klassen wechselndem Ansehen unterlag: Herrschte zunächst Skepsis der Idee gegenüber, schlug diese dann in positives Wohlwollen um wegen einer geringeren Schülerzahl bei einer doppelten Lehrkraftbesetzung. Welch vermeintlicher Luxus aus Sicht einiger Eltern, so wurde uns berichtet. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass eine Anmeldung des eigenen Kindes in I-Klassen nur aus dem Beweggrund der reduzierten Klassengröße bei doppelter Lehrerbesetzung sehr fraglich ist, war jedoch auch für uns das Tandemsystem eine interessante Komponente während der Hospitationen. Wie bereits beschrieben, existiert die Idee der Doppeltbesetzung in Bayern ausschließlich in Schulen mit dem Profil Inklusion, jedoch nicht in Regelschulen. Auch die 33 I-JOURNAL Mai 2015 Klassengröße unterscheidet sich: So gilt in Bayern die Richtlinie, dass die durchgängige Unterrichtung im Tandem bei einer Gesamtschülerzahl von maximal 25 mit etwa 7 Schülerinnen und Schülern mit sehr hohem Förderbedarf einsetzen soll. Im Vergleich zu den bayrischen Klassen haben die Klassen in Wien eine geringere Gesamtanzahl der Kinder und weniger I-Kinder in einer I-Klasse. Die Tandembesetzung ist auch die Komponente, die wohl als DIE Basis der I-Klassen gelten kann. Der Beruf der Lehrkraft ist schon lange nicht mehr nur ein 8-bis-12-Uhr-Job. Wenn der Unterricht endet, beginnt eigentlich erst die Vernetzung für und rund um das Kind: Kontaktaufnahmen mit Eltern oder anderen Familienangehörigen, Unterrichtsplanung und -nachbereitung mit dem Tandempartner, Absprache mit Kollegen und das Erstellen von individuellen Förderplänen und der stetige Besuch von Fortbildungen usw. Auch das Auftreten der Lehrkräfte im Unterrichtsgeschehen ist uns positiv im Gedächtnis geblieben. Beide Lehrkräfte agierten als gleichwertige LehrerInnen im Klassenraum und wussten voneinander genau, was geplant war. Auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte fixierten sich dabei nicht auf die Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, sondern standen allen mit Rat und Tat zur Seite. Methodisch beobachteten wir in den meisten Fällen offenere Unterrichtsformen wie Wochenplanarbeit und Stationenarbeit, wobei thematisch und didaktisch teilweise für die I-Kinder differenziert wurde. Beispielsweise wiederholten diese Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht grammatikalische Basisthemen, da das aktuell bearbeitete Thema kognitiv zu anspruchsvoll war oder aber den Kindern mit Förderbedarf wurden quantitativ weniger Aufgaben gestellt. In vielen Klassenräumen sahen wir spezielle Uhren für die I-Kinder, die somit ihre Arbeitszeit individuell eingestellt bekamen oder aber es gab speziell für sie angelegte „1,2,3-fertig-Mappen“, in denen sie ihr Material fanden oder auch Kopfhörer, um ihnen ein ruhiges Arbeiten zu gewährleisten. Insbesondere die Frage nach der Separation schien besonders interessant, ist doch der Ansatz von Inklusion eine Vermeidung des Separierens. Nahezu alle Lehrkräfte bestätigten jedoch, dass die Arbeit mit allen oder mit einzelnen I-Kindern in Nebenräumen sehr wichtig sei. Zum einen, um ihnen kognitive Pausen zu erlauben, aber auch um mit ihnen speziell arbeiten zu können. Darüber hinaus wurde uns insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeit mit Autisten deutlich gemacht, dass es durchaus Fälle gibt, in denen zunächst individualisiert gearbeitet werden muss, um eine Integration oder Inklusion überhaupt zu ermöglichen. Einige Kinder müssen erst den sozialen Umgang und das Verhalten im Klassenverband regelrecht erlernen, bevor sie mit Mitschülern und Mitschülerinnen interagieren können. Ist dieser Aspekt in dem Inklusionskonzept in Deutschland bedacht worden? Auch wurde uns mehrfach während der Hospitationen berichtet, dass die Schülerinnen und Schüler der I-Klassen über eine sehr ausgeprägte Sozialkompetenz verfügten, was natürlich für den Gedanken einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Förderbedarf spricht. Eine Lehrkraft brachte das sehr aussagekräftige Beispiel, dass sich alle Kinder ihrer Klasse meldeten, als eine fremde Person fragte, welches Kind ein I-Kind sei. Dennoch: Trotz dieser vielen positiven Stimmen wurde jedoch auch kritisch angemerkt, dass bei solchen Beobachtungen wiederum nicht die Kinder mit Förderbedarf im Zentrum der Aufmerksamkeit stünden, da der Kompetenzzuwachs bei den Kindern ohne Förderbedarf zu beobachten sei. Auf der anderen Seite stand jedoch auch die Frage nach der Förderung der Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf im Zentrum unserer Gespräche. Einige der Lehrkräfte bestätigten, dass sie nicht nur für I-Kinder differenziert arbeiteten, sondern auch für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in ihrem Unterricht beispielsweise durch entsprechende Materialien differenzieren würden. Nicht zuletzt beschäftigte uns während des Aufenthalts eine Frage sehr: Wenn also Lehrkräfte und Sonderpädagogen so essentiell für das Gelingen der I-Klassen sind – uns wurde mehrfach berichtet, wie wichtig die Ergänzung der Ausbildungen und Arbeitsschwerpunkte beider Lehrkräfte im Schulalltag ist –, wieso 34 I-JOURNAL Mai 2015 kommt es dazu, dass a) die intensive Sonderpädagogen-Ausbildung in der alten Form eingestellt wird und b) dadurch in den kommenden Jahren bis zum Abschluss der ersten Absolventen des neu geschaffenen Masters keine neuen Sonderpädagogen in die Arbeitswelt eintreten, während ältere KollegenInnen in den Ruhestand gehen? Wie soll diese Lücke, die wohl entstehen wird, geschlossen werden? Was nehmen wir also für Eindrücke vom Wien-Besuch mit? Es bleibt die Frage, ob sich die Akzeptanz der I-Kinder in Klassen und der sehr positive Umgang der MitschülerInnen mit ihnen auch nach der Grundschulzeit in den weiterführenden Schulen fortsetzt und welche Perspektive diese Schülerinnen und Schüler nach Beendigung ihrer Schullaufbahn haben. Bedenken, die auch durch unseren Besuch nicht ausgeräumt werden und übrigens auch auf der DIDACTA 2015 in Hannover für Deutschland nur sehr kritisch beantwortet werden konnten. In Deutschland scheint die Inklusion den Bereich der Ausbildung noch nicht erreicht zu haben. Des Weiteren haben wir fast ausschließlich sehr motivierte, engagierte und ihren Beruf als Berufung sehende Lehrkräfte kennen lernen dürfen, die sich auch über die Pflichtstunden hinaus auf freiwilliger Basis fort- und weiterbilden. Insbesondere den Aspekt, dass die Fortbildungsveranstaltungen mit der Schulleiterin oder dem Schulleiter abgestimmt werden müssen bzw. durch sie oder ihn vorgegeben werden, haben wir mit nach Deutschland genommen. Wohl den nachhaltigsten Eindruck haben bei uns die Tandemlehrkräfte hinterlassen. Hier waren keine Einzelkämpfer, für welche wohl auch generell der Lehrerberuf weniger geeignet ist, am Werk, sondern Teams für die Klasse, für jedes einzelne Kind und sein Wohl. Wesentlich ist dabei auch das gegenseitige Ergänzen beider LehrerInnen mit unterschiedlichen Professionen gewesen. Denn man darf nicht vergessen: Die Kinder sind keine Maschinen, die funktionieren, sobald sich zwei Lehrkräfte im Klassenraum befinden. Erst durch den Austausch von Erfahrungen, dem Wissen und Können und dem sich gegenseitigen Ergänzen schien die Tandemarbeit auch für die Schülerinnen und Schüler sinnvoll und hilfreich zu sein. Eine Lehrkraft berichtete beispielsweise, dass ein I-Kind nicht mit ihr arbeiten wolle und keine Arbeitsaufträge von ihr annehme, jedoch sich bereitwillig von der anderen Lehrkraft helfen lasse. Die Frage ist also, welche Ressourcen jede einzelne Lehrkraft mitbringt, um jedem Kind sein Recht auf Bildung bestmöglich zu erfüllen und wie sich diese Ressourcen der Lehrkräfte für das Wohl des Kindes ergänzen können. Bei allen Entscheidungen, Gedanken und Handlungen sollte dabei das Kind im Zentrum stehen und, wie es Frau Mörwald von der Integrationsberatungsstelle des Schulrates von Wien in unserem Gespräch formulierte, „vom Kind aus“ gedacht werden. Neben all den gelungenen Beispielen, die wir beobachten durften, darf aber auch nicht vergessen werden, dass ein Handeln im Sinne des Kindes auch unter Umständen bedeutet, dass man Einrichtungen wie Förderzentren weiterhin benötigt. Wir möchten uns an dieser Stelle sehr für die informative und lehrreiche Zeit und die herzliche Gastfreundschaft in Wien bei den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und beim Schulamt bedanken. Vergelt´s Gott! Dr. Helga Rolletschek, promovierte Biologin, ehemalige Lehrerin, leitete viele Jahre ein Seminar zur Ausbildung von Grundschullehrern, seit letztem Jahr Leiterin der Didaktik der Biologie an der kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Julia Dose, Lehrerin für Deutsch, Deutsch als Fremdsprache und Biologie, ist seit letztem Jahr wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Doktorandin im Verbundprojekt Inklusion 35 I-JOURNAL Mai 2015 Karl Garnitschnig Die Organisation einer humanen Schule nach Janusz Korczak Die innere Logik der Überlegungen Janusz Korczaks ist die Logik der Achtung, ohne diese je selbst systematisch zu formulieren. Implizit schlägt sie aber in seinem ganzen Werk durch. Sein Erziehungsverständnis ist durch Achtung vor dem Kind, durch die Liebe zum Kind und seine Wertschätzung bestimmt.1 Diese Erziehereinstellungen bilden das Zentrum seiner Pädagogik. Alles andere was Janusz Korczak noch als Pädagogen bzw. seine Arbeit mit den Kinder kennzeichnet, müsste sich dieser Prämisse der Achtung vor dem Kind unterordnen lassen. Es sind dies mit Friedhelm Beiner „vier Arbeitsprinzipien ... die gleichzeitig auch die Wege Korczakscher Erkenntnissuche verdeutlichen: 1. Beobachten 2. Einfühlen 3. Aus Fehlern lernen 4. Experimentieren“ (Beiner 1999, S. 28 f.; vgl. auch Beiner 1996) Gemäß der hier nachzuweisenden Hypothese betont auch Beiner, dass diese Arbeitsprinzipien und zugleich Erkenntnismethoden Bedingungen eines achtvollen Umgangs mit Kindern sind und den Aufbau einer humanen und demokratischen Schule ermöglichen, aber auch die wissenschaftlichen Methoden darstellen, diese Bedingungen zu erfassen und zu evaluieren. Friedhelm Beiner hat diese Arbeitsprinzipien in hervorragender Weise mit vielen Bezügen und Belegen aus Korczaks Schriften beschrieben, hier mögen sie in ihrem welchselseitigen Bedingungsverhältnis sowohl als pädagogische als auch erkenntnistheoretische Methoden aus dem Prinzip der Achtung vor dem Kind begründet werden. Wir gehen hier also davon aus, dass die proflexive Handlung der Achtung vor dem Kind reflexiv zu erfassen ist, um seine positive Wirkung zu erkennen. Eine Verwirklichung dieses Prinzips wird nur möglich sein, wenn entsprechende strukturelle und organisatorische Maßnahmen getroffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Einrichtungen seiner konstitutionellen Pädagogik relativ leicht auf die Schule übertragen, wenn man formuliert, durch welche Rahmenbedingungen Schule gekennzeichnet ist. Es ist also nicht von Unterricht die Rede, sondern vom erzieherischen Aspekt der Schule. Akzeptiert man ferner den pädagogischen Topos, dass die zu erreichenden Ziele schon in der Methode und in der Weise der Interaktion mit den Schülern enthalten sein müssten, sollen diese und 1 Vgl. als neuesten Beitrag zu dieser Thematik Beiner 2003 36 I-JOURNAL Mai 2015 nicht irgendwelche versteckten Ziele2 erreicht werden, müssen sie von jedem Lehrer selbst reflektiert umgesetzt werden. Dies bedeutet, dass die Pädagogik, die eine Person für sich als richtig erkannt hat, nur wieder von einer Person genuin nachvollzogen richtig sein kann, weil sie sonst zu einem Ismus verkommt. Akzeptiert man schließlich die Sicht Janusz Korczaks, dass Wissenschaft nicht in fertigen Produkten, sondern in weiteren Fragen besteht, wird jeder Lehrer seine Entdeckungen und Methoden selbst für sich neu nachvollziehen müssen. Für Korczak ist es der erste Schritt zum Erziehersein zu wissen, dass man nichts weiß und dass der Erzieher/Lehrer seinen „eigenen Weg“ sucht (SW 4, S. 147). Voraussetzung dafür ist, dass er sich selbst kennt und danach trachtet, die Kinder zu erkennen. Es ist nicht die Unwissenheit, die hier gelobt wird, sondern die Unwissenheit, die in sich die Chance birgt, sich selbst aufzuklären. Nach diesen einleitenden Bemerkungen betrachten wir jene zentralen Aspekte pädagogischen Handelns, die alles pädagogische Handeln leiten und die auch Korczak als zentral gesehen hat. Es sind zunächst das Menschenbild, dann die lebensgeschichtlichen und psychischen Bedingungen aufwachsender Menschen in der Hinsicht, wie sie in pädagogisches Handeln einfließen sollen, um dieses im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu gestalten, und schließlich jene institutionellen Bedingungen, unter denen Kinder sich optimal entwickeln können, um zu kompetenter, sozial verantwortlicher Handlungsführung zu kommen. Vorher aber besinnen wir uns auf die sprachlich-wissenschaftliche Form seiner Aussagen, die Korczak in seinen pädagogischen und auch dichterischen Werken verwendet, denen ein pädagogischer Charakter nie mangelt. Sowohl in der Dichtung als auch der Wissenschaft der Pädagogik, wie er sie versteht, hängen diese vier Prinzipien zusammen. Dichtung ist Verdichtung der Wirklichkeit aus einfühlender Beobachtung. Fehler, Irrtümer, Irrungen und daraus entstehende Spannungen zum „Wahren“, „Guten“ treiben die Handlung voran und die Figuren verkörpern mehr oder weniger ein Lebensexperiment manchmal ein Totalexperiment. Pädagogik als Wissenschaft entwirft Vorstellungen über Formen des Zusammenlebens unter der Bedingung der Autonomie und Selbstbestimmung von Individuen, formuliert Rahmenbedingungen, unter denen die entworfenen Vorstellungen real werden können und überprüft dann einfühlend beobachtend, wie weit sie tatsächlich real geworden sind. Seine 2 In der Pädagogik als „versteckter Lehrplan“ in aller Munde. 37 I-JOURNAL Mai 2015 Entwürfe sind Experimente, die scheitern können, bei deren Umsetzung Fehler gemacht werden, die aber im Sinne des Entwurfs korrigiert werden, um wieder geprüft zu werden. 1. Die realistisch illusionslose, poetische Pädagogik Janusz Korczaks Theorien erklären Phänomene, Tatsachen und Prozesse auf der Ebene von Gesetzesaussagen, können die Spannung von Allgemeinheit und Individualität bis hin zum Prinzip der Individualisierung (Leibniz 1960, S. 12) formulieren und jene Konsequenzen ableiten, die sich daraus für die Handlungsebene ergeben. Die Individualität als solche wird durch eine poetische Sprache erfasst, wie sie Korczak als Dichter auch in seinen pädagogischen Schriften verwendet. Poesie verdichtet und bringt umgekehrt das Allgemeine am Konkreten, am Individuellen zum Ausdruck. An diesem leuchtet eine Einsicht allgemeiner Art auf. Eine solche Sprache spricht mehr zum Gemüt und wirkt so in die Richtung, sein Handeln sinngemäß zu motivieren. Diese verdichteten Berichte individueller Begebenheiten führen und wollen zum Verstehen führen. Aus ihnen wird ein bestimmter Geist deutlich. Janusz Korczak muss nicht noch hermeneutisch erschlossen werden, er wendet selbst durch die Art seiner Beschreibung die Methode des Verstehens von alltäglichen Begebenheiten und pädagogischen Anlässsen an und führt so unmittelbar zum Verstehen des Anderen. Aus der Schilderung der konkreten Einzelsituation wird unmittelbar deutlich, was gemeint ist und das in einer Weise, die betroffen macht und aus der Betroffenheit heraus nicht nur Einsicht, unmittelbare Einsicht fördert, sondern Handlungsmotive erweckt. In diesem Sinne ist seine Sprache zugleich reflexiv-analytisch und proflexiv-synthetisch. Dies wird besonders an dem kurzen Episodenessay „Wer kann Erzieher sein?“ (Korczak 1985, S. 118 f.) deutlich. Die konkreten, scheinbar nichtigen Episoden, die Menschen zum Weinen veranlassen, führen zu der Einsicht, dass wer das Weinen eines anderen bagatellisiert, nicht versteht und daher nicht Erzieher sein kann. Daraus leitet sich die Einsicht und damit der allgemeine Satz als Theorie ab: erziehen, heißt verstehen, oder: um richtig pädagogisch handeln zu können, muss man verstehen können. Diese Einsicht führt unmittelbar in die Praxis über: Lasse dich von den Tränen der anderen betreffen, suche die Tränen zu verstehen und du wirst erst dann angemessen handeln. Du wirst dich auf die Situation einlassen und aus ihr auf den Menschen hin (proflexiv) handeln, dass er wieder sich selbst findet. Auch der Pädagogik als Wissenschaft liegt eine die Wirklichkeit aus dem Konkreten aufschließende Methode zu Grunde, die zur Einsicht durch das Verstehen des je individuellen Kindes führt. Es ist der Weg vom Konkreten zum Allgemeinen, den der Dichter Janusz 38 I-JOURNAL Mai 2015 Korczak selbst geht. Das Allgemeine und die Handlungsmotive entspringen der Wirklichkeit der Darstellung, man braucht sich auf sie nur einzulassen. Die Deutung leistet der Text durch seine Konkretheit selbst. Das ist „poetische Pädagogik“. Die Evokation des Tuns bzw. die Handlungsmotive entstehen aus genauer einfühlender Beobachtung und konkretem Entwurf und aus dem inneren Erleben, das aus sich heraus weiß, was in der Situation zu tun ist, wenn das Erleben die Qualität der Anerkennung, der Beachtung der Person-, Situations- und Kontextmerkmale, kurz der Achtung hat. Dies ist Produkt einer genauen Beobachtung, wie sie Janusz Korczak immer wieder dem Pädagogen empfohlen und selbst gelebt hat. Janusz Korczak vertritt eine äußerst realistische und nüchterne Pädagogik. Aus seinen Beobachungen mit Kindern kennt er alle Nuancen von Gutheit und Bosheit, aber nie verurteilt er, sondern fragt immer nach dem Warum des Verhaltens. Aus dieser Haltung heraus sieht er auch den Erzieher als jemanden, dessen vordringlichste Kompetenz es ist, zu verstehen. Jeder Mensch ist gleich, aber jeder eine Individualität. Genauso realistisch wie er die Kinder sieht, sieht er auch die Erzieher/Lehrer. Der gute unterscheidet sich vom schlechten Erzieher „nur durch die Anzahl der begangenen Fehler und des begangenen Unrechts“ (SW 4, S. 168). Der gute Erzieher ist „selbstkritisch“, „weiß, daß es sich lohnt über eine kleine Episode nachzudenken“, und man kann hinzufügen, sei sie noch so klein, „er überlegt, forscht nach und befragt die Kinder“, lernt so aus seinen Fehlern, die dann weniger werden. Er lässt sich und das ist Janusz Korczak besonders wichtig, von den Kindern belehren, „sie nicht allzu empfindlich zu verletzen“ (SW 4, S. 168 f). Daraus wird deutlich, dass er mit „von den Kindern belehren“ meint, dass er aus seiner sensiblen Beobachtung heraus auf die Reaktionen der Kinder achtet und daraus sein eigenes Handeln bestimmt. Er nimmt die „Beschwerden“ der Kinder ernst, weil er sie sonst nicht kennen lernt (SW 4, S. 179). Er ist ihnen gegenüber „zart fühlend“ und betrachtet das betroffene Zuhören als seine Pflicht (SW 4, S. 193). Seine Devise lautet: „Erlaube den Kindern, Fehler zu machen und frohen Mutes nach Besserung zu streben.“ (SW 4, S. 187). Janusz Korczak beschönigt nichts, und es gibt in seinen Schriften unzählige Äußerungen, dass er dies auch auf sich bezieht. Er ist aber bedacht, aus allem für sein Handeln Schlüsse für sich und den konstruktiven Umgang mit Kindern zu ziehen. Die Realistik seiner Pädagogik ist gepaart mit Illusionslosigkeit. Es gibt „sanfte, passive, gutmütige, vertrauensvolle Kinder ... – bis hin zu den bösartigsten, offen feindseligen und 39 I-JOURNAL Mai 2015 denen, die voller tückischer Initiative sind oder bis zu den heuchlerisch Nachgibigen, konspirativ Bösartigen – intriganten und verbrecherischen Kindern“, kurz es gibt unter den Kindern genauso wie unter den Erwachsenen gute und schlechte Menschen (SW 4, S. 194). Er hat jedoch die Tendenz, selbst den schlechtesten Ausgangsbedingungen eine gute Wende zu geben.3 Darin zeigt sich sein Humanismus: Er gesteht jedem Menschen zu, dass er zu dem werden kann, zu dem er werden möchte. Niemand hat das Recht, einem anderen etwas vorzuschreiben. 2. Korczaks Methoden des Erkennens Janusz Korzcak ist originär. Er bindet sich an keine Strömung, sondern seine Pädagogik entwickelt sich aus dem direkten Erleben mit den Kindern. Seine Pädagogik erwächst aus authentischer Erfahrung. Einer seiner Biographen, Wolfgang Pelzer weist darauf hin, dass Janusz Korczak seine Pädagogik eine „erzählende Pädagogik“ nennt.4 Er als Anwalt des gegenüber den Erwachsenen schwachen, hilflosen, mit subtiler und offener Gewalt geächteten Kindes erzählt erlebte und gelebte Geschichten. Er weiß, was er sagt, er schildert genau aus genauer, sensibler Beobachtung das Leid, das Leiden der Kinder. „Gemeint ist eine Pädagogik, die darstellt und nicht fordert, die verstehen will und nicht - aus der Distanz befindet, eine Form der Theorie, die die Nähe zu Lebenszusammenhängen sucht, indem sie sie erzählend bewahrt.“ (Pelzer 1987, S. 43) Gerade im Erzählen wird Janusz Korczak ganz genau. Er vermittelt darin die Sensibilität, die er dem Kind gegenüber hat. Janusz Korczak als nicht gelernter Pädagoge gewinnt seine Inhalte aus Beobachtung, Erproben von Interaktionen und strukturellen Maßnahmen und daraus abgeleiteten Erfahrungen. Aber diese sind nicht beliebig, sondern sie sind von seiner Achtung zum Kind getragen, die nicht vorschnell verallgemeinert, vorschnell Prognosen stellt, was aus dem Kind werden wird (vgl. SW, S. 206) und auf diese Weise Vorurteile gegenüber dem Kind aufbaut. Der andere ist ein einmaliges, unverwechselbares Subjekt, dem man in dienender Beachtung begegnet und daraus nie ganz erfährt, wer er ist. „Wer versteht, urteilt nie definitiv.“ (Pelzer 1922, S. 47) Janusz Korczak schwebt „eine Pädagogik der Unabgeschlossenheit und Offenheit“ vor (a. a. O., S. 48). Genaue, sensible Beobachtung ist für ihn die zentrale Bedingung richtigen pädagogischen Handelns. Janusz Korczak zieht eine Parallele zwischen der klinischen 3 Vgl. die Kurzerzählung „Der Klassenletzte“ (SW 6, S. 89 - 92) 4 Untertitel der Textsammlung „Verteidigt die Kinder“ 1987, S. 43 40 I-JOURNAL Mai 2015 Beobachtung in der Medizin und der ebenso klinischen Beobachtung in der Pädagogik (vgl. dazu auch Piaget 1988). Als Mediziner wie als Pädagoge hat man Symptome vorliegen, sie sind nur von anderer Qualität. Sind es in der Medizin Ausschläge, Husten oder Fieber usw., sind es in der Pädagogik „Lächeln, Lachen, Erröten, Tränen, Gähnen“ usw. (SW 4, S. 202). Janusz Korczak treibt die Parallele sogar noch weiter, dass es in der Pädagogik „ein Weinen mit Tränen, mit Schluchzen und fast ohne Tränen“ gäbe wie in der Medizin „einen trockenen, einen feuchten und einen erstickenden Husten“ (ebd.). An diesen Zitaten erkennt man, mit welcher Genauigkeit Janusz Korczak beobachtet und mit welcher sich betreffen lassenden Sensibilität er mit den Kindern arbeitet. Erst nach der genauen Feststellung der Symptome können Maßnahmen, eine Behandlung angesetzt werden. An dieser Stelle wird Janusz Korczaks Auffassung von Wissenschaft deutlich. Es geht ihm in der Wissenschaft nicht um Ergebnisse oder neue Entdeckungen, sondern um je und je neue Fragen. Er sagt von sich selbst, dass er „einen Forscher-, keinen Erfindergeist“ habe. Er will nicht forschen, um zu wissen oder den Dingen bis auf den Grund zu gehen, sondern „forschen, um immer weiter- und weiterzufragen. Ich richte meine Fragen an Menschen (kleine Kinder und Greise), an Tatsachen, Ereignisse, Schicksale. Mich packt nicht der Ehrgeiz, eine Antwort zu finden, ich möchte vielmehr zu weiteren Fragen vordringen – nicht unbedingt nach demselben Gegenstand.“ (Erinnerungen, S. 328). Er bekennt, dass er, trotzdem er auf dem Gebiet der Pädagogik „kein Neuling“ war und er auch schon „viele Bücher über die Psychologie des Kindes“ gelesen hatte, „hilflos vor dem Geheimnis der kollektiven Seele einer Kindergemeinschaft“ stand (SW 4, S. 219). Daraus wird wieder deutlich, wie sehr es in der Pädagogik um die Einmaligkeit jeder Situation und noch mehr um die Einmaligkeit jedes Menschen geht. Dies zeigt sich auch in seiner praktischen Haltung. Scheitert man, macht man Fehler, dann ärgere man sich nicht, sondern forsche weiter. Alles kann von Bedeutung sein und es gibt „keine Bagatellen“ (ebd.), sondern es geht um die „mikroskopische Beobachtung feinster Regungen“ (SW 4, S. 203). Dies drückt noch einmal deutlich aus, dass Janusz Korczak jede Äußerung des Kindes ernst nimmt und genau dadurch in seiner Einmaligkeit achtet. Man ärgert sich nicht über den Zorn oder die Unaufmerksamkeit eines Kindes, vielleicht sogar in Situationen, die Kindern gefallen, sondern wundert sich über sie „wie ein Naturforscher“ (ebd. ) und sieht alles als Symptom für innere sehr häufig nur schwer erkennbare psychische Prozesse. Er zeichnet „Gewichtskurven, Entwicklungsprofile“ auf und erstellt daraus einen „Wachstumsindex“, eine „Prognose der körperlichen und psychischen Evolution“ der Kinder (SW 4, S. 208). 41 I-JOURNAL Mai 2015 Gerade durch diese nicht wertende Klarheit und Deutlichkeit der Beobachtung kommt Janusz Korczak zu dem Schluss – und damit deckt er sich mit anderen Pädagogen, für die das Kind im Mittelpunkt steht –, dass wir das Kind nicht kennen. Nur solche Pädagogen, die diese Feinheit der Beobachtung nicht kennen, glauben zu wissen, wie Kinder sind und verfahren mit ihnen entsprechend. Janusz Korczak hat – wie es der Arzt Michael Kirchner ausdrückt – „die mühsame Spur hin zum Kind gewählt – es ist dies die Spur zum Anderen“ (2002, S. 90). Um diese aufzunehmen müsse sich der Erzieher 1. um „die Bereitschaft zum ständigen ,Weiter-denken’“, auch zum Anders-denken und 2. um „die Bereitschaft, das Andere des Kindes als Anderes wahrzunehmen und anzuerkennen“ (ebd. ) bemühen. Das Kind ist als eine unbekannte Größe für uns nicht fassbar wie jedes Du (Buber 1977), denn Kinder sind anders (Montessori 1988). Wir haben daher nur die Wahl, andere genau, liebevoll und unermüdlich zu beobachten. Nach dem intimen Korczak-Kenner Erich Dauzenroth (1992) gibt es drei Quellen, aus denen Janusz Korczak für seine pädagogischen Schriften und auch seine Arbeit schöpft, die überzeitliche Bedeutung und Aktualität haben: Unermüdliche Beobachtung, vorsichtige Diagnose, illusionslose Therapie (S. 59). Korczak betrieb geradezu einen Kult mit Notizen, Eintragungen, Berichten, Protokollen, Diagrammen usw. Er hat kein besonderes Ziel für die Kinder im Auge, er spricht nicht von einem Muss oder einem Soll, sondern er beobachtet, reagiert aus der unmittelbaren Situation. Daraus leitet sich das Paradox der Erziehung ab. Der Erzieher muss sich überflüssig machen können, soll das Kind wachsen können. Was für den Erzieher bleibt, ist „forschendes Fragen ohne Abschluß“ (Dauzenroth 1992, S. 67). Erziehung ist ohne Illusion. Mit der Einsicht, das Kind so sein zu lassen wie es ist, ist die oft „schmerzliche Bereitschaft lieber zu belassen, als verändernd einzugreifen und umformen zu wollen“ verbunden (Pelzer 1987, S. 57). Korczak fordert nicht nur auf genau zu beobachten, sondern es ist ihm bewusst, dass auch das Instrument der Beobachtung einkalkuliert werden muss. Sowohl in diesem als auch im erzieherischen Sinn fordert er eindringlich, dass der Erzieher sich selbst zuerst erkennen müsse, will er Erzieher sein. Selbsterkenntnis ist die Vorbedingung für das Erkennen des anderen. In „Wie liebt man ein Kind“ (1918 in der Zeit als Militärarzt während des Krieges nach vier Jahren Erfahrungen im Waisenhaus entstanden) schreibt er: „Sei du selbst – suche 42 I-JOURNAL Mai 2015 deinen eigenen Weg. – Lerne dich selbst kennen, ehe du Kinder zu erkennen trachtest.“ (SW 4, S. 147) Es ist auch gut, sich jeder Illusion sich selbst gegenüber zu entschlagen. „Ich bin nicht dazu da, um geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu wirken und zu lieben. Meine Umgebung ist nicht verpflichtet, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um die Menschen zu kümmern.“ (Das Recht des Kindes auf Achtung, S. 304) Der sensible Beobachter fordert sozusagen, dass das Beobachtungsinstrument nicht getrübt sei. Er fordert Selbstkritik statt Schuldzuweisung, die immer Gewalt ist. Janusz Korczak steht da zunächst in der breiten Bewegung der Pädagogik vom Kinde aus. Sie ist aber nicht eine solche der Förderungen, sondern der konkreten Beschreibungen der Gefühle der Kinder, wenn sie von den Erwachsenen hin und her geschubst werden. Es ist insgesamt eine Pädagogik des einfühlenden Verstehens in die Nöte der Kinder, wenn sie von den Erwachsenen schlecht behandelt werden und auch des Verständnisses für die Erwachsenen. Man erzeugt Verstehen wiederum nur durch Verstehen. Seine Methode besteht nicht in der Anwendung von Theorien – sie können nur unterstützen, auch zuweilen den Fokus der Beobachtungen erweitern und nur zu oft sind sie falsch – sie besteht in der genauen Beobachtung des Kindes, einerseits um Defizite und andererseits und im besonderen um Entwicklungschancen zu erkennen. In diesem Sinn wären viele Texte von Janusz Korczak selbstreflexiv zu lesen: Achte ich auch so genau auf die Psyche des Kindes, oder gehe ich über Vieles hinweg. Die Texte sind also Einübung in Verstehen, in die Achtung vor der Eigenart des Kindes und in genaue sensible Beobachtung. Er hat immer wieder die Kinder ganz genau beobachtet und aus ihrem Tun seine pädagogischen Ideen abgeleitet und was die jeweils zweckmäßigste Weise ist, mit Problemen umzugehen. Wegen der großen Bedeutung der Beobachtung und ihrer Systematisierung für einen richtigen Umgang mit dem Kind, empfiehlt Korczak den Erziehern nachdrücklich an mehreren Stellen als ein selbstreflexives Instrument das Schreiben von Tagebüchern.5 3. Pädagogisch anthropologische Grundannahmen Wenn von „Grundannahmen“ die Rede ist, so heißt dies, dass sie nicht auf einer empirischen, sondern auf einer metatheoretischen Ebene liegen, von denen her empirische Daten geordnet und gedeutet werden. Die erste bedeutsame Grundannahme betrifft das Kind als solches und die Bedingungen seines Lernens. Sie betrifft die Existenz des Kindes und sein Werden, das 5 Vgl. das Tagebuch in der Aktionsforschung bei Altrichter/Posch 1990 43 I-JOURNAL Mai 2015 aber schon von allem Anfang an Mensch ist. Pädagogik ist nach ihm nicht die Wissenschaft vom Kind, sondern vom Menschen, weil das Kind schon von Anfang an und zuerst Mensch ist. Pointiert formuliert er: „Es ist einer der schlimmsten Fehler zu meinen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind und nicht – vom Menschen.“ (SW 4, S 147). Und weiter heißt es, „es gibt keine Kinder – es gibt nur Menschen; aber Kinder haben eine andere Begriffsskala, einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt.“ (a. a. O., 147 f.) Aus seiner von der Achtung für das Kind getragenen Sicht bezeichnet er im Gegensatz zu Piaget die „egozentrische Weltsicht des Kindes als eine auf den unmittelbaren Augenblick gerichtete ...., weil es aus Mangel an Erfahrung nur im Jetzt lebt“ (SW 4, S. 82). Das Kind muss also nicht zum Menschen erzogen werden, es ist Mensch. Damit es sich entwickeln kann, müssen wir ihm Bedingungen bereit stellen, unter denen es sich optimal entfalten kann. Dieser Mensch, das Kind, ist nach Janusz Korczak, wie die Erwachsenen menschlich. Das heißt bei ihm nicht zuschreibend, sondern verstehend. Bei seiner Entwicklung muss es Fehler machen dürfen. Angesichts dieser macht er keine Zuschreibungen, sondern beobachtet, registriert und will erfassen, verstehen, erklären, warum sich ein Kind so verhält. Janusz Korczak ist es wichtig zu betonen, um niemandem von vorn herein Gewalt anzutun, dass das Kind schon mit einem bestimmen Maß an Antriebspotential geboren wird, durch welches das zur Entfaltung kommt, was ursprünglich angelegt ist. Janusz Korczak hat einen optimistischen Blick auf den Menschen und seine Möglichkeiten. „So unterliegt der Mensch der ständigen Evolution, er wird sich anpassen und ändern unter den ständig wandelnden Lebensbedingungen. Welchen Veränderungen er ausgesetzt sein wird und wie weit tragend sie sein werden, wissen wir heute noch nicht.“ (SW 5, S. 28) Letzlich ist der Mensch nur böse, „weil er es nicht wußte oder es nicht anders verstand“ (SW 5, S. 153) und „die Menschen sind gut, wenn sie wissen und können“ (SW 5, S. 158). Die 1938 entstandene Schrift „Die Menschen sind gut“ ist Janusz Korczaks Bekenntnis zum Menschen, das einer ursprünglichen Haltung der „Ehrfurcht vor dem Leben, der Ehrfurcht vor den niedersten Kreaturen, den Läusen und Spatzen, bis hin zur Ehrfurcht vor dem ‘aus Staub entstandenen Wesen, in dem Gott Wohnung genommen hat’“ (SW 4, S. 12, zit. nach Dauzenroth 1992, S. 75) entspringt. Dahinter steht seine nicht an Konfessionen gebundene Religiosität, die von der jüdisch-christlichen Tradition genährt ist. Es ist klar, dass dies keine empirische Aussage ist, wohl aber enthält sie das Bekenntnis jener Menschen, die bereit waren, sich für die Menschen einzusetzen. Es findet sich bei Albert Schweitzer, bei Maria Montessori, bei Martin Buber, um nur einige zu nennen. Es ist schade, dass Menschen diese 44 I-JOURNAL Mai 2015 Haltung immer wieder als romantisch deuten. Bei Janusz Korczak ist sie alles eher als das. Mit einer unglaublichen Realistik, die er aus einem Diskrepanzerleben zu seiner Sehnsucht nach Liebe schöpft, sieht er immer wieder nur zu leidvoll die andere Seite (vgl. Frühlingslied, in: VK, S. 137 - 141). Halten wir nicht daran mit aller Kraft fest, dass der Mensch gut ist, werden wir beginnen, ihm Gewalt anzutun, in ihn etwas hineinzustopfen, ihn umzudressieren, aber wir werden nicht den Versuch machen, ihn zu sich selbst zu führen, dass er die Kraft des Guten in ihm entdeckt. Es ist pädagogisch die einzig sinnvolle Einsicht, dass Menschen auf je individuelle Weise dann ihre besten Kräfte entwickeln, wenn ihnen von allem Anfang an Liebe, Achtung und Anerkennnung ohne Wenn und Aber gegeben wird. Da aber die Kinder in der Regel Macht, Missachtung und Nichtanerkennung erfahren, sie aber Liebe, Achtung und Anerkennung brauchen, setzen sie alle ihre Kräfte dazu ein, um diese zu bekommen. Man tut nur etwas um eines Guten willen. 4. Strukturelle Bedingungen Ziel seiner pädagogischen Bemühungen sind freie, phantasievolle Kinder mit Poesie. Dem müssen auch die Methoden und Strukturen entsprechen, soll dieses Ziel erreicht werden. Janusz Korczak, der seine Pädagogik aus dem leidvoll erlebten Kontrast entwickelt, prangert die Schulen an. „... wir gleichen ihre Charaktere an, ordnen ihre Initiative aus. Wir haben die Kinder nummeriert, haben eine mit Tausenden von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen dem Gefängnis ähnliche Disziplin eingeführt. Wir führen mit ihnen kluge Reden, die zum sophistischen Verständnis beitragen sollen. Die Kinder bekommen fast keine Luft in diesem brutalen, kalten, künstlichen Leben, das ohne jegliche Illusion und Poesie ist.“ (VK 51) Janusz Korczak hat in seiner „Schule des Lebens“ (1907/08 geschrieben) eine Schule nach seinem Sinn entworfen. Vorher hatte er Erfahrungen mit seinem Waisenhaus. Das Internat und wir dürfen in unserem Zusammenhang sagen, die Schule, wird nach Janusz Korczak nur zu einer „moralischen Heilanstalt“ (SW 4, S. 150), wenn jedes Kind in seiner Individualität ernst genommen wird und der Erzieher/Lehrer Bedingungen schafft, organisiert, durch die auch er einer Kontrolle über sich unterworfen ist (SW 4, S. 312). Janusz Korczak nennt sich daher einen „neuen, »konstitutionellen«" Pädagogen, der den Kindern nicht deshalb kein Unrecht zufügt, weil er sie gern hat oder liebt, sondern deshalb, weil es eine Institution gibt, die sie vor Ungerechtigkeit, Willkür und Despotismus des 45 I-JOURNAL Mai 2015 Erziehers schützt“ (SW 4, S. 312, vgl. dazu auch Beiner 1996, S. 339). Er führt eine Anschlagtafel ein, die das Leben in einer Gemeinschaft erleichtert, weil durch sie Informationen zwischen allen, Erziehern und Kindern, leicht ausgetauscht werden können, einen Briefkasten, Regale für Spiele, Lexika, eine Handbibliothek, ein Heft für Eintragungen aller Art, ein „Kontrollbuch“ für Ausgänge und ein Heft für Tausch- und Kaufaktionen der Kinder und Jugendlichen, einen Schrank für Fundsachen, einen kleinen Laden 6. Er hat diverse Dienste, eine Betreuungskommission, Konferenzen mit den Kindern, eine Zeitung von Kindern für die Kinder, ein Kameradschaftsgericht mit einer extra Gerichtszeitung und einen Sejm7, ein Kinderparlament eingeführt (SW 4, S. 256 - 315 ). Korczak gibt allen diesen Einrichtungen eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Kinder. So lehrt die einfache Einrichtung des Briefkastens auf „eine Antwort zu warten“, zwischen wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten zu unterscheiden, „zu denken und zu begründen“, „zu wollen und zu können“ (SW 4, S. 259). In seinem Konzept der „Schule des Lebens“ (1907/08) weist Korczak auf die Fähigkeiten hin, die durch solche Einrichtungen motiviert und im Prozess der Tätigkeiten erlernt werden. Alles was auf den Entwicklungsprozess wirkt – und da hat der Erzieher ein unendliches Feld des Beobachtens und Forschens – wird in einer Weise gestaltet, dass es in die Richtung von mehr Handlungskompetenz in allen Erfahrungsbereichen in sich ausweitenden Räumen bis hin zum Globalen führt.8 Was vermögen nun nach Korczak diese Einrichtungen für die entwicklungsdynamisch angemessene Handlungskompetenz der Schüler im genannten Sinn zu leisten? In der „Schule des Lebens“, die eine „»Schule des Volkes«" ist, weil in ihr alles aus den Erfordernissen des alltäglichen Lebens und der Arbeitsprozesse abgeleitet ist, die daher wie das Leben selbst ständig in Veränderung sind, sind die zu lernenden Fähigkeiten aus den Tätigkeiten abgeleitet. Jede dieser Tätigkeiten setzt bestimmte Fähigkeiten voraus und fördert diese. Korczak teilt diese wie bei einer Berufsbeschreibung in physische, intellektuelle und moralische Fähigkeiten (SW 7, S. 338, 415) ein, wobei ihm letztere, wenn man sich das Ziel und die mit ihm verbundene Schul- und Gesellschaftskritik näher anschaut, von großer Bedeutung sind. Ziel sind ihm „freie Menschen ..., die den Menschen achten“ (SW,7, S. 314), die selbständig denken, für andere und die Entwicklung der Gesellschaft etwas tun wollen. 6 vgl. Der Bakrott des kleinen Jack (SW 12) 7 Name des polnischen Parlaments 8 vgl. König Macius der Erste (SW 11), vgl. dazu auch Dietrich Benners Konzept des ersten regulativen Prinzips der Pädagogik, der „pädagogischen Transformation gesellschaftlicher Einflüsse und Anforderungen“ (2001, S. 128). 46 I-JOURNAL Mai 2015 „»Wir werden eine Schule errichten, wo die Zöglinge nicht tote Buchstaben von totem Papier lernen, sondern wo sie statt dessen lernen werden, wie die Menschen leben, warum sie so leben, wie man anders leben kann, was man können und tun muß, um in der Fülle eines freien Geistes zu leben.«" Dies entspricht der Idee des Aufklärers, der sich gegen die Macht und Korruption der Reichen und die Willkür und Dummheit der Staatsmacht, die jene noch unterstützt, wendet (SW 7, S. 409 ff.). Er will glückliche Menschen, die ein klares Bewusstsein entwickeln. Janusz Korczak glaubt man den Ausruf: „Oh, wie schön ist der Mensch, wenn er erwacht.“ (SW7, S. 343) Seine Schule ist auch insofern eine „Schule des Lebens“, als in ihr an den Fragen gelernt wird, die das Leben bei der Ausführung von Tätigkeiten aufwirft. In ihr gibt es alles, was eine sich selbst erhaltende Gemeinschaft braucht: alle Gemeinschaftseinrichtungen, Werkstätten, eine Landwirtschaft, Handel, eine Darlehenskasse, ein Beratungsbüro, eine Bibliothek, ein Spital, eine wissenschaftliche Abteilung, aber auch Einrichtungen für die Ärmsten der Gesellschaft, ein Asyl oder Bettenhaus. In all diesen Einrichtungen arbeiten Kinder und Jugendliche je nach ihren Fähigkeiten. Sie wechseln nach ihren Motivationen zwischen diesen Einrichtungen mit ihren verschiedenen Abteilungen und lernen ohne Zwang von sich aus. Es gibt „Keinerlei Druck, keinerlei Gewalt! ...“ (SW 7, S. 408), weil sie wissen, wofür sie etwas lernen. Es ergibt sich aus den Erfordernissen der Tätigkeit selbst und der Schüler weiß selbst, was er braucht, um sich verändern zu können, „in der Hierarchie der Tätigkeiten weiter aufzusteigen“ (ebd.). Mit dem Recht werden die Kinder schon von allem Anfang konfrontiert, daher lernen sie es ab der ersten Klasse (SW 7, S. 405). Der Arbeit gibt Korczak die höchsten Prädikate (SW 7, 319 f.), weil ihm Arbeit und Tätigkeit „ein Synonym des Lebens – eines gesunden, normalen, vollen Lebens“ (SW 7, S. 340) ist. Unter dieser Vorstellung wird die Motivation der Schüler dieser Schule, die Korczak einem Schüler in den Mund legt, verständlich: „»Wir schöpfen Ermunterung und Belohnung aus der Arbeit selbst«" (SW 7, S. 341) – eine klare Formulierung intrinsischer Motivation, die in einem Klima der Achtung und des Wissens, warum man etwas, wie, zu welchem Zweck tut. Nach einer siebenjährigen Geschichte der Dienste bewertet Korczak die Dienste lapidar, dass sie „ihre Feuerprobe in vielen Internaten bestanden“ hätten. „Die Küche, die Wäscherei, das Inventar, die Betreuung des Gebäudes, die Aufsicht über die kleinen Kinder – sind den Zöglingen anvertraut, die sich inzwischen von zehnjährigen diensttuenden Kindern in vierzehn- bis fünfzehnjähriges Hauspersonal verwandelt haben. Die Anstaltszeitung besteht 47 I-JOURNAL Mai 2015 noch, das Gericht arbeitet seit zwei Jahren ohne Unterbrechung. Wir sind gereift in unserem Versuch der Selbstverwaltung.“ (SW 4, S. 312) Das Gericht hat auch Krisen durchgemacht, wurde von Kindern und Jugendlichen missbraucht und auch lächerlich gemacht, es wurde umorganisiert, aber es wurde beibehalten. Hätte nur jeder Lehrer den Mut, was in der Schule geschieht, so das Werk der Schüler sein zu lassen, wie Korczak es sieht. In seinem Heim ist das Kind „Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses“ (SW 4, S. 256). Gegenüber dem Unrecht, das Kindern von Erwachsenen zugeführt wird, fordert Janusz Korczak Rechte für das Kind. Er traut auch nicht „dem falschen Schein“ des „zärtlichen und duseligen, geradezu gnädigen Verhältnisses zum Kind“. Er fordert dagegen „eine durchdachte, konkrete, wissenschaftliche Definition“ der Beziehung zum Kind (SW 5, S. 23 f.). „Phantasie und Humor“ als „Schlüssel ... für einen vertrauensvollen, wohlwollenden Blick und für realistisches, aufbauendes Handeln“ (Beiner 1999, S. 20). Beiner fasst zusammen: Janusz Korczak „setzt [bei Raufereien] weder auf ungezämtes Faustrecht noch auf autoritären Druck noch auf eine durch Moralpredigten zu erzwingende straffreie Gemeinschaft, sondern – auf Selbstkontrolle und Willensbildung der Kinder, die er humorvoll zu stützen weiß“ (a. a. O., S. 22). Janusz Korczak formuliert die Rechte des Kindes aus der Achtung vor ihnen und um ihnen in der Schule des Lebens Entwicklung zu ermöglichen. Seine Kinderrechte bilden Prinzipien des Wachsens zu freier Lebensgestaltung. In einer solchen Umwelt können Kinder zu dem werden, zu dem sie werden möchten und können. Literatur Altrichter, Herbert/Posch, Peter: Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. – Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 1990 Beiner, Friedhelm: Wer kann Erzieher sein? – Ein Bild des Erziehers bei Janusz Korczak. – In: engagement – Zeitschr. f. Erziehung und Schule, 1996, S. 326 - 342 Beiner, Friedhelm: Korczak-Pädagogik: Legitimation und Praxis Erzieherischen Handelns.– In: Öhlschläger, Rainer (Hrsg): Von Korczak lernen, heißt.... Zwei Aufsätze zur KorczakPädagogik.– Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg, 1999 S. 11 - 39 (Kleine Hohenheimer Reihe, Band 37) Beiner, Friedhelm: Achtung als zentraler Begriff der Ethik Kants und der Pädagogik Korczaks. – In: Korczak-Bulletin, Jg. 12 (2003), H. 2, S. 16 - 21 48 I-JOURNAL Mai 2015 Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. – Weinheim und München: Juventa, 2001, 4. völlig neu bearb. Aufl. Buber, Martin: Ich und Du. – Heidelberg: Lambert Schneider, 1977, 9. Aufl. Dauzenroth, Erich: Ein Leben für Kinder.– Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1992 Kirchner, Michael: Janusz Korczak: „Wo aber ist der Arzt – der Mensch ist?“ – Gedanken zu seiner Anthropologie. – In: Beiner, Friedhelm (Hrsg.): Zweites Wuppertaler KorczakKolloquium 1984, S. 33 - 39 Kirchner, Michael: Der diagnostische Blick Janusz Korczaks. Medizinische Phänomenologie als Methode zur Beobachtung des Kindes. – In: Ermert, Karl (Hrsg.): Erziehung in der Gegenwart. Zur aktuellen Bedeutung der pädagogischen Praxis und Theorie Janusz Korczaks. – Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1988, S. 65 - 84 (= Loccumer Protokolle 60/1987) Kirchner, Michael: Das kind lebt „anderswo in der Zeit“. Korczaks pädagogisches Handeln am Ort und in der Zeit des Kindes. – In: Pädagogische Rundschau, 56. Jg. (2002), H.1 S. 81 91 Korczak, Janusz: Erinnerungen. – In: Das Recht des Kindes auf Achtung. Hrsg. von Elisabeth Heimpel und Hans Roos. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970, S. 236 - 345 Oelkers, Jürgen: Was ist poetische Pädagogik? – Beiner, Friedhelm (Hrsg.): Zweites Wuppertaler Korczak-Kolloquium 1984, S. 226 - 245 Korczak, Janusz: Von Kindern und anderen Vorbildern. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1985 Korczak, Janusz: Der Frühling und das Kind. – In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, S. 7 - 28 Korczak, Janusz: Die Menschen sind gut. – In: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet von Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1997, S. 139 - 158 Korczak, Janusz: Die verhängnisvolle Woche. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 29 - 58 Korczak, Janusz: Die Beichte eines Schmetterlings. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 61 - 131 Korczak, Janusz: Wenn ich wieder klein bin. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 138 - 274 49 I-JOURNAL Mai 2015 Korczak, Janusz: Wie liebt man ein Kind. – In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 12 - 315 Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung. – In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1999, S. 385 - 413 Korczak, Janusz: Bobo. – In: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000, S. 9 - 25 Korczak, Janusz: Die Schule des Lebens. – In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Hrsg. von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth. Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2002, S. 311 - 456 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie. – Stuttgart: Reclam, 1960 Montessori, Maria: Kinder sind anders. Taschenbuchverlag, 1988, 2. Aufl. – Stuttgart: Klett-Cotta im Deutschen Pelzer, Wolfgang: Janusz Korczak – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. – Reinbek: Rowohlt, 1992 Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes. – Stuttgart: Klett-Cotta im Deutschen Taschenbuchverlag, 1988 (= dtv 15044) Tschöpe-Scheffler, Sigrid: Korczak-Pädagogik: „Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest.– Erziehungssysteme, kindliche Persönlichkeit, Erzieherpersönlichkeit. – Öhlschläger, Rainer (Hrsg): Von Korczak lernen, heißt.... Zwei Aufsätze zur KorczakPädagogik. – Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg, 1999 S. 41 - 65 (Kleine Hohenheimer Reihe, Band 37) Karl Garnitschnig, Dr. phil., Univ.-Prof. Geb. 1941 in St. Veit/Glan, 1959 - 1963 Studium der Theologie, 1963 – 1972 Studium der Philosophie, Logistik und Pädagogik mit Ausflügen in die Geschichte, Germanistik und Psychologie an der Universität Wien, 1972 Promotion zum Dr. phil., Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien, 1986 Habilitation in Erziehungswissenschaft und Organisationstheorie. Zwischendurch mehrjährige Schulpraxis in verschiedenen Schultypen, freier Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung. Lehre von pädagogischen und wissenschaftspropädeutischen Fächern in der Krankenpflege, Ausbildung in der Psychoanalyse, Projekte in der Organisationsentwicklung, seit 2007 wissenschaftlicher Leiter des Universitätslehrgangs Waldorfpädagogik. 1996 – 2005 eigenes kollegial geführtes Institut für Kommunikationspädagogik mit den Aufgabenbereichen Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung. Seit 2011 Betreuung von Dissertationen an der Sigmund Freud Privatuniversität. Veröffentlichungen zur Werttheorie und zur Entwicklung des moralischen Urteils, zur Didaktik und Organisationsentwicklung 50 I-JOURNAL Mai 2015 FIT für die Schule! Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit einem Hirntumor Eine Broschüre für Lehrer und Lehrerinnen Kinder und Jugendliche mit einem Hirntumor können durch ihre Erkrankung, aber auch durch die intensive medizinische Behandlung an unterschiedlichen Spätfolgen leiden. Es kann sich dabei neben medizinischen Spätfolgen (z.B. eingeschränktes Wachstum, Hormonausfälle) um Beeinträchtigungen im kognitiven, emotionalen oder sozialen Bereich handeln, die ihre weitere Entwicklung und damit auch den Weg zurück in die Schule deutlich erschweren können. Ob Schwierigkeiten vorliegen, welche das genau sind und in welchem Ausmaß sie vorkommen, muss für jeden Betroffenen individuell festgestellt werden (z.B. in einem neuropsychologischen Gutachten). Broschüre „FIT für die Schule“ (ÖKKH) Dabei ist ein breites Spektrum an Möglichkeiten bekannt: Ein großer Teil der Kinder/Jugendlichen zeigt erfreulicherweise keine oder nur geringe Spätfolgen, mit denen sie gelernt haben, gut umzugehen; andere Kinder/Jugendliche sind wiederum stärker betroffen und zeigen z.B. Schwierigkeiten im Bereich der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit oder in ihren Planungs- und Problemlösungsfähigkeiten. Häufig kann auch das Arbeitstempo verlangsamt oder ihre Belastbarkeit eingeschränkt sein. Es handelt sich dabei in den meisten Fällen um Beeinträchtigungen einzelner Funktionen, die sich zwar stark auf die Gesamtleistung auswirken können, aber nicht unbedingt etwas mit der Intelligenz der Betroffenen zu tun haben müssen. Beispielsweise kann die allgemeine Verarbeitungsgeschwindigkeit eines/einer Betroffenen durch die Erkrankung langsamer geworden sein und somit auch das Schreibtempo. Der/die Schüler/in benötigt deshalb mehr Zeit als zuvor, um sein/ihr Wissen unter Beweis stellen zu können. Die gefragten Lerninhalte sind zwar noch alle vorhanden, ohne „Zeitbonus“ kann der/die Betroffene die eigentliche, „wahre“ Leistungsfähigkeit aber nicht zeigen. So individuell wie mögliche Spätfolgen sein können, so individuell müssen daher auch die Unterstützungsmöglichkeiten sein! Nur dadurch kann den betroffenen Schülern trotz der schweren Erkrankung eine möglichst erfolgreiche Schullaufbahn ermöglicht werden. Die Broschüre „FIT für die Schule“ möchte mögliche Hilfestellungen im schulischen Kontext aufzeigen. FIT steht für FAIR, INTEGRIERT und TRANSPARENT und soll damit auch gleichzeitig das Motto dieses Heftchens unterstreichen: Ziel ist ein fairer Ausgleich eines krankheitsbedingten Nachteils, der nichts mit einer „Bevorteilung“ der betroffenen SchülerInnen zu tun hat. Die Autorinnen sind darüber hinaus überzeugt davon, dass ein TRANSPARENTER Umgang mit der Erkrankung und gute Kommunikation aller Beteiligten die INTEGRATION der Betroffenen deutlich erleichtert. 51 I-JOURNAL Mai 2015 Leider findet sich in der Österreichischen Gesetzgebung kein sogenannter „Nachteilsausgleich“, der in allen deutschen Bundesländern und auch in der Schweiz in den Schulgesetzen individuell verankert ist. (Chronisch) kranken SchülerInnen mit oder ohne SPF wird somit die Möglichkeit gegeben, durch Ausgleichen der erkrankungsbedingten Nachteile, in der Schule bestehen zu können. Dieser Nachteilsausgleich kann in den meisten deutschen Bundesländern formlos bei der Schule beantragt werden. Er ist meist nicht antragsgebunden und fester Bestandteil der täglichen pädagogischen Arbeit in den Schulen unserer Nachbarländer. In der FIT-Broschüre findet sich eine Sammlung von möglichen Unterstützungsmöglichkeiten im schulischen Kontext: 1. allgemeine und 2. in Bezug auf bestimmte Beeinträchtigungen spezifische Unterstützungsmöglichkeiten sowie die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen. „Wo war Patrizia?“ Aufklärungsfilm, onkologische Erkrankungen und Schule (ÖKKH) Die einzelnen Maßnahmen sollten individuell, der spezifischen Beeinträchtigung entsprechend, eingesetzt werden. Dabei ist ein gemeinsames Vorgehen mit den jeweiligen Schülern, den Eltern und dem zuständigen Klinikpersonal sehr zu empfehlen, um ein optimales Förderpaket zu schnüren. So können die einzelnen Punkte auch mit allen Beteiligten (Kind/Jugendliche/r, Mitschüler, Lehrerkollegium, Eltern) besprochen und vorbereitet werden, bevor sie in den Unterricht implementiert werden. Dieses Infoheft entstand in Kooperation mit und Unterstützung durch folgende Institutionen: Österreichische Kinder-Krebs-Hilfe, AKH Wien, Stadtschulrat für Wien, Wiener Heilstättenschule, Medizinischen Universität Wien. Geschrieben wurde das Infoheft von einem Autorinnenteam der Kinderklinik des Wiener AKH: Dr. Ulrike Leiss (Klinische Psychologin) und Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd (Heilstättenlehrerin). Bestellmöglichkeiten: Download und Link zum Online-Shop der ÖKKH (Broschüre und Aufklärungsfilm): http://www.kinderkrebshilfe.at/ich-suche-hilfe/information/fuer-schulen Autorinnen: Dr. Ulrike Leiss Dipl.Päd. Andrea Kutschera, BEd Klinische Psychologin, AKH Wien Kinderklinik 52 Reintegration, Heilstättenschule I-JOURNAL Mai 2015 Trotz Hirntumor die Schule meistern Ein Betreuungsprojekt in Wien hilft bei Lernschwierigkeiten durch Spätfolgen Während und knapp nach der Behandlung finden junge HirntumorpatientInnen in der Regel schulische Unterstützung durch Stations- und HauslehrerInnen. Manchmal aber zeigen sich mögliche Beeinträchtigungen durch Krankheit und Therapie erst Jahre später oder werden erst dann entdeckt. In solchen Fällen ist es für Betroffene nicht immer einfach, entsprechende kompetente Hilfe zu finden. Ein Betreuungsprojekt des AKH, der Medizinischen Universität Wien und der Wiener Heilstättenschule will diese Lücke schließen. Dass etwas anders war als vorher, wurde Iljaz Brica aus Mattersburg erst so nach und nach klar. „Zum Beispiel hat mich meine Lehrerin einmal im BWL-Unterricht zwei bis drei Mal aufrufen müssen, bis ich es registriert habe“, schildert der heute 18-jährige Handelsschüler. Mit fast 14 Jahren hatte man bei ihm ein Medulloblastom entdeckt. Es folgten eine Operation, eine Chemo- und eine Strahlentherapie. Mit Unterstützung eines Hauslehrers schloss Iljaz die 4. Hauptschulklasse ab und entschied sich schließlich für die Handelsakademie. Heftige Übelkeit und Kopfschmerzen führten allerdings dazu, dass Iljaz oft in der Schule fehlte und so viel vom Unterricht versäumte. War er in der Schule, hatte er oft Probleme, sich zu konzentrieren. So musste er die 1. Klasse der HAK wiederholen. LehrerInnen und MitschülerInnen waren zwar über seine ehemalige Krankheit informiert, Ausnahmeregelungen gab es aber nicht. „Ich hab’s aber auch nicht verlangt“, betont Iljaz. Es war ein längerer Bewusstseinsprozess, der ihn dazu brachte, sich mit seiner Krankheit und ihren Folgen auseinanderzusetzen - und schließlich Unterstützung anzunehmen. Hirnfunktionen Unterstützung auch viele Jahre nach der Erstdiagnose „Es ist eine große Herausforderung für Jugendliche, zu akzeptieren, dass man eine Spur anders ist. Ganz besonders in diesem Alter“, erklärt Dr. Ulrike Leiss, die an der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde des Wiener AKH als Klinische Psychologin PatientInnen mit Hirntumoren in der Nachsorge betreut. „Wir versuchen, sie zu begleiten. Dabei geht es nicht darum, sie aus der Normalität zu reißen, sondern transparent mit dem Thema umzugehen“, so Leiss. In dem seit 2009 laufenden Betreuungsprojekt für HirntumorpatientInnen ist sie federführend beteiligt. Im Rahmen einer Forschungsarbeit mit dem Titel „Partizipation oder 53 I-JOURNAL Mai 2015 Marginalisierung“ hat sie - gemeinsam mit ihrem Berufskollegen Mag. Thomas Pletschko - wissenschaftlich untersucht, wo Schwächen und Benachteiligungen von HirntumorpatientInnen zur Ausgrenzung führen und welche spezifischen individuellen Ressourcen andererseits eine gelungene Partizipation ermöglichen. Eine Arbeit, für die das PsychologInnen-Duo 2012 den Nachsorgepreis der Deutschen Kinderkrebsnachsorge bekommen hat. Einen großen Bedarf an Unterstützung bei Lernschwierigkeiten sieht Leiss nicht nur während oder knapp nach der Behandlung, sondern immer stärker auch danach - oft viele Jahre nach der Erkrankung. „Früher war das kein so großes Thema. Weil heute aber glücklicherweise viel mehr Patienten überleben, gibt es eine größer werdende Gruppe von Menschen, die mit schulischen Problemen durch Spätfolgen konfrontiert sind“, sagt Leiss. Viele Kilometer für die Reintegration Und weil der Bedarf wachsend ist, gibt es seit dem Schuljahr 2011/2012 eine eigene Reintegrationslehrerin für betroffene Schüler: Andrea Kutschera von der Wiener Heilstättenschule ist für junge PatientInnen, die an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde am AKH Wien behandelt wurden, zuständig. Sie ist vor allem auch zu einem Zeitpunkt zur Stelle, an dem PatientInnen bisher eben oft auf sich allein gestellt waren, nämlich mehrere Jahre nach der Erstdiagnose. Im Schule im Krankenhaus vergangenen Schuljahr hat sie bei 52 von den rund 100 Kindern, die über die neuroonkologische Nachsorgeambulanz zu ihr gekommen sind, definitiven Schulkontakt gehabt, sowohl telefonisch als auch persönlich. In dieser Zeit hat sie für ihre jungen PatientInnen sehr viele gefahrene Kilometer zurückgelegt. Als Mittlerin zwischen der betroffenen Familie, Klinik und Schule erlebt Kutschera täglich, wie subtil die Beeinträchtigungen der ehemals erkrankten Schüler sein können – wie etwa bei Iljaz Brica. „Manchmal werden Spätfolgen wie chronische Erschöpfung oder eingeschränkte Aufmerksamkeit gar nicht mit der Krankheit in Verbindung gebracht, was eine rasche Unterstützung verzögert“, erzählt Kutschera. In den anderen österreichischen Bundesländern gibt es keine vergleichbare Stelle in der Nachsorge, sehr wohl aber das gut funktionierende System der Stations- und HauslehrerInnen während und nach der Behandlung. Im Schnitt kommen HirntumorpatientInnen des AKH Wien rund zehn Jahre oder länger in die Nachsorgeambulanz. „Unser multiprofessionelles Team hier ist schon der erste wichtige Filter, der hilft, schulische Probleme früh zu erkennen“, sagt Ulrike Leiss. „Das Ziel ist ja, dass die Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft wieder gut integriert sind. Denn dass sie körperlich gesund, aber sozial nicht integriert sind, ist nicht das, was wir wollen.“ „Nicht hinzuschauen ist keine Lösung“ Wenn durch diesen „Filter“ der Nachsorgeambulanz Probleme auffallen, kommt es in den meisten Fällen zu einer neuropsychologischen Untersuchung. Mithilfe normierter, altersentsprechender Testverfahren wird das Problemfeld – etwa eingeschränkte Aufmerksamkeit – ins Visier genommen und die Ergebnisse inklusive Empfehlungen zur Förderung und Unterstützung in Schule und Alltag, festgeschrieben. „Es geht nicht darum, Defizite zu betonen und damit unter Umständen die Person zu stigmatisieren“, unterstreicht Leiss, „sondern vielmehr darum, ein umfassendes Bild von Schwächen und Stärken der Kinder oder Jugendlichen zu bekommen, um die Schwächen umgehen zu lernen und dabei die Stärken zu nutzen.“ 54 I-JOURNAL Mai 2015 Nicht hinzuschauen sei keine Lösung, meint die Psychologin, denn: „Würde man die Kinder nicht untersuchen, wären sie mit ihrem Wissen, dass etwas nicht stimmt, allein.“ Zudem gebe es immer ein ausführliches Gespräch über die Ergebnisse, auch mit dem Kind alleine. Und man lasse kein Kind gehen, ohne es wissen zu lassen, dass es mindestens eine Stärke hat, so Leiss. „Wenn Stigmatisierungen oder Mobbing passieren, dann eher von Menschen, die nicht aus dem unmittelbaren Umfeld der Patienten kommen“, beobachtet Reintegrationslehrerin Andrea Kutschera. Etwa bei Eltern anderer SchülerInnen.“ Da hieße es oft einmal: „Der oder die hat’s ja leichter als die anderen.“ Dabei, sagt Leiss, handle es sich nicht um einen Vorteil, den die betroffenen SchülerInnen durch spezifische Unterstützungsmaßnahmen genießen, sondern um einen Ausgleich des Nachteils: „Wenn man etwa jemanden in Mathematik prüfen will, erleichtert man ihm das Drumherum – zum Beispiel durch größere Schrift – oder wenn jemand beim Schreiben motorisch nicht nachkommt, durch eine Computertastatur. Aber man hilft ihm nicht beim Rechnen.“ (Wertvolle Information und Tipps finden LehrerInnen in der neuen Broschüre „FIT für die Schule“, siehe Bericht ab Seite 51). Rechtlicher Spielraum Einen gesetzlich festgeschriebenen Nachteilsausgleich für beeinträchtigte SchülerInnen wie in manchen deutschen Bundeländern gibt es in Österreich nicht. Der Paragraph 11 Absatz 6 des Schulunterrichtsgesetzes weist aber explizit auf einen „gewissen Spielraum für SchülerInnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) mit mangelnden Anlagen und körperlichen Fähigkeiten“ hin. „Und diesen Spielraum nutze ich aus, ohne Bedenken zu haben“, sagt Mag.a Eva Priester-Zuchtriegl, Klassenvorständin von Iljaz Brica in der Handelsschule Mattersburg, wohin Iljaz wegen seiner vielen Absenzen und der Konzentrationsschwierigkeiten inzwischen gewechselt ist. Außer ihm hat Priester-Zuchtriegl in ihrer bisherigen Laufbahn bereits auch ein krebskrankes Mädchen unterrichtet. Das Klima in der Schule hat sie in beiden Fällen als sehr unterstützend empfunden. Die größte Herausforderung in Bezug auf ehemals krebskranke SchülerInnen ist es für sie, „den Schüler bzw. die Schülerin normal zu behandeln – denn in diesem Alter will man nicht die Ausnahme sein - und auf der anderen Seite nicht nur Mitleid zu verteilen.“ Auch Iljaz sieht sich, abgesehen von seinen Absenzen, nicht als große Ausnahme in der Klasse. Sonderregelungen, wie etwa bei Schularbeiten zehn Minuten länger arbeiten zu dürfen, wolle er nun nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, sagt er. Dafür hat er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit seiner früheren Krankheit begonnen, ein neuropsychologisches Training am AKH zu besuchen, das ihm helfen soll, seine Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Bewusste Beschäftigung mit der Erkrankung Warum es bei HirntumorpatientInnen so oft vorkommt, dass Jahre nach der Erstdiagnose Probleme auftreten, kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Manche brauchen lange, bis sie um Hilfe bitten. Bei anderen treten die Beeinträchtigungen erst später auf oder sie werden durch neue Anforderungen erst später sichtbar. Oft sei es gerade das Jugendalter, das ehemalige PatientInnen fragen lässt: „Wie war das damals, als ich als Vorschulkind erkrankt bin?“, schildert AKH-Psychologin Leiss. Zentrale Aufgabe sei es in jedem Fall, „genau hinzuschauen, ohne zu stigmatisieren“. Barbara Schwarcz, freie Journalistin in Wien Dieser Bericht stammt aus der Zeitschrift „Sonne“ 3/2013 der ÖKKHmit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Österreichischen Kinder-Krebs-Hilfe. Beide Bilder stammen aus dem Bilderbuch von Anna Sommer „Eugen und der kleine Wicht“ (copyright in den Bildern vermerkt) 55 I-JOURNAL Mai 2015 Ehrenamtliche MitarbeiterInnen gesucht! Die Kinder-Krebs-Hilfe für Wien, Niederösterreich und Burgenland sucht ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die onkologisch erkrankte Kinder und Jugendliche während oder nach Abschluss der Therapie regelmäßig beim Lernen unterstützen. Voraussetzungen: Ø Freude an der pädagogischen Arbeit mit Kindern Ø Flexibilität, Geduld und Einfühlungsvermögen Ø Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Coaching und Supervision Ø Zeit für regelmäßige Lernhilfe über einen längeren Zeitraum Bewerbungen mit Lebenslauf ab sofort an: Kinder-Krebs-Hilfe für Wien, NÖ und Bgld. Elterninitiative St. Anna Kinderspital/AKH Wien Kinderspitalgasse 7 1090 Wien oder E-Mail an: elisabeth.ederer@elterninitiative.at Nähere Informationen auf www.elterninitiative.at 56 I-JOURNAL Mai 2015 Gemeinsam leben, lernen, lachen ... Die 2a Integrationsklasse zeigt, wie sie das macht! Hallo! Wir sind die 2a Integrationsklasse! Unsere Schule ist die PVS Breitenseer Straße 31-33 im 14. Bezirk, auch Josefinum genannt. Unsere Klasse besteht aus 24 Kindern, 2 Lehrerinnen, dem Drachen Konstantin und dem lustigen Vogel Fipsi. Was uns zu einer Integrationsklasse macht, fragst du dich sicher! Unsere Klasse zeichnet sich durch Vielfalt, Gemeinsamkeiten und auch durch Unterschiede aus. Wir finden, das ist eine tolle Mischung. In unserer Klasse hat jedes Kind unterschiedliche Talente. Wir lernen mit unseren Stärken und Schwächen richtig umzugehen, aber auch jene der anderen wahrzunehmen. In unserer Klasse wachsen wir Kinder mit und ohne besonderen Förderbedarf gemeinsam auf. Wir unterstützen uns gegenseitig und lernen auch unsere Unterschiede zu achten und zu akzeptieren. Unsere beiden Lehrerinnen schaffen es, den Unterricht so zu gestalten, dass wir gemeinsam lernen können. Zu zweit ist es ihnen möglich, auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können und dort zu fördern und zu fordern, wo es gerade notwendig ist. Unterschiede stellen bei uns kein Problem dar, sondern werden als Chance gesehen. Dabei steht der Wettbewerb nicht im Vordergrund, was aber nicht heißt, dass wir nicht auch um die Wette laufen können1. Unsere Lehrerinnen sind ein eingespieltes Team und sie sind immer zu zweit für uns da. Dadurch ermöglichen sie uns das höchst mögliche Maß an Chancengleichheit und Förderung. Lerninhalte werden für uns so aufbereitet, dass wir alle, wie auch immer unser unterschiedlicher Lernstand ist, unsere individuellen Ziele erreichen können. 1 vgl. Krämer-Kilic 2009 57 I-JOURNAL Mai 2015 Wir sind immer alle gemeinsam in der Klasse. Wir nützen aber auch unseren Nebenraum, damit ein paar Kinder manchmal intensiver an etwas üben können. Das sind aber nicht immer die selben, das kommt eben darauf an, wer gerade in einem bestimmten Bereich noch mehr Übung braucht. Auch hier ist es natürlich wieder toll, dass wir zwei Lehrerinnen haben, sonst wäre das nicht möglich. Der Unterricht ist sehr abwechslungsreich. Wie unser Schultag aussieht, besprechen wir immer in der Früh. Unsere Lehrerinnen hängen uns den Stundeplan an die Tafel. Er ist für alle Kinder eine tolle Orientierung. Unser Schultag ist breit gefächert gestaltet: Lehrerzentrierter Unterricht: Manchmal ist es wichtig ein Thema gemeinsam zu erarbeiten und es von unseren Lehrerinnen genau erklärt zu bekommen. Freie Lernphase: Die gefällt uns besonders gut! Hier können wir selbstständig und eigenverantwortlich in unterschiedlichen Sozialformen lernen. Oder wir lernen in Form von Stationenbetrieben, Projekttagen, Freiarbeit, ... da ist immer für jeden etwas dabei! Aber auch außerhalb der Schule erleben wir viel. Gerne besuchen wir Museen und Ausstellungen oder nehmen an kreativen Workshops teil, wir besuchen regelmäßig die Bücherei, gehen ins Theater, auf den Ostermarkt und Weihnachtsmarkt. Im Winter gehen wir oft Eislaufen. Je nach Themengebiet besuchen wir z.B. auch einen Bauernhof, den Zahnarzt, die Feuerwehr ... Wie du siehst, bei uns tut sich wirklich viel. Wir lernen viel, wir lachen viel, wir unternehmen viel, wir lernen viel voneinander, wir erleben viel, wir unterstützen uns viel, wir sind vielfältig, wir sind ... ... VIELFALT. 58 I-JOURNAL Mai 2015 Diese Vielfalt sehen wir Lehrerinnen als Herausforderung, die Klasse zu begleiten, aber dies mit Orientierung, Offenheit, Klarheit und Struktur und der Option auch Fehler machen zu dürfen. Natürlich setzen wir uns als Pädagoginnen einer Integrationsklasse auch mit dem Thema Inklusion auseinander. Mit einem nochmaligen Blick auf die Vielfalt der Pädagogik hinterfragen wir, ob Inklusion uns alle ein Stück weiter führen könnte zu einer noch gerechteren, ja sogar idealen und perfekten Schule. Wenn im österreichischen Schulwesen Inklusion mit angemessenem, nichthierarchischem und damit demokratischem Eingehen auf die vorhandene Heterogenität der SchülerInnen beantwortet wird2, dann wäre dies durchaus positiv, aber dieser Aspekt wäre auch mit Integration bewältigbar. Aber so weit sind wir ja schon, dass es müßig erscheint, dieses Begriffspaar zu unterscheiden3. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Eine moderne Gesellschaft, die liberal, multikulturell und individuell geprägt ist, sollte logischerweise auf eine Vielfalt von pädagogischen Problemen auch mit einer Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten reagieren. Unterschiedliche Ansätze und Strategien sollten ihren Platz finden. Jegliche wirksame Betreuungsform hat somit ihre Berechtigung und diese auch beizubehalten, wäre aus unserem Blickwinkel gesehen, wünschenswert. Für unsere Situation bedeutet dies, gelebte Integration mit zwei Lehrerinnen, die Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam unterrichten und somit einen Ort schaffen, an dem Anderssein täglich erfahrbar wird. Der Herausforderung, eine hohe Qualität des Unterrichts zu gewährleisten, stellen wir uns täglich. Dies gelingt dadurch, dass zwei Personen (Volksschul- und Sonderschullehrerin) ständig zusammenarbeiten und auch auf die Unterstützung weiterer Fachkräfte und die Vernetzung mit den zuständigen Institutionen zählen können. Integration und Inklusion, aber auch Klein- und Spezialklassen sind wichtig. Es bringt nichts, Unterschiede von außen einzuebnen4. Nicht jede Unterscheidung ist bereits eine Diskriminierung5. Natürlich ist eine Weiterentwicklung wichtig und es gilt Ziele anzustreben, auch wenn sie hoch gesteckt sein mögen. Allerdings muss man sich im Klaren darüber sein, dass das Erreichen nie zu einem Muss werden darf. Wenn das Ideal zum Zwang, das Soll zum Muss (wie es Bonelli ausdrückt)6 wird, setzt das Kinder, Eltern und Lehrer gleichermaßen unter einen unnötigen Druck. Wir nen ren Nur erleben täglich aufs Neue in unserem Unterricht, dass das gemeinsame Leben und Lerin der Integrationsklasse für alle Kinder eine Bereicherung darstellt. Die Kinder können in ihFähigkeiten und Fertigkeiten wachsen und bekommen die Unterstützung, die sie brauchen. im Team ist es uns möglich, die Kinder in ihrer Vielfalt entsprechend zu fördern und zu fordern. Mag. Kathrin Klaghofer, B.Ed. Volksschullehrerin Sprachheillehrerin Mag. Petra Pirker-Müller Sonderschullehrerin Literaturverzeichnis Boban, Ines; Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Martin-Luther-Universität: Halle-Wittenberg. Bonelli, Raphael M. (2014): Perfektionismus. München: Pattloch-Verlag. Corazza, Rupert (2014): Leitfaden zur Inklusion. Wien. Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Ulm: Zsolnay. Krämer-Kilic, Inge (2009): Zwei Pädagogen unterrichten gemeinsam (Teamteaching) - Aspekte zur Umsetzung im gemeinsamen Unterricht (Inklusion). Abrufbar unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/kraemerkilic-teamteaching.html (28. 2. 2015) 2 3 4 5 6 vgl. Boban und Hinz 2003, S. 3 vgl. Corazza 2014, S. 4 vgl. Liessmann 2014, S. 35 Liessmann 2014, zit.n. Kuhlmann, S. 35 vgl. Bonelli 2014, S. 35 59 I-JOURNAL Mai 2015 Gegenüberstellung von oft verwendeten Begriffen zum Thema „Behinderung“ Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann. Bertolt Brecht Bitte vermeiden: Bitte besser so formulieren1: an den Rollstuhl gefesselt Person XY sitzt, benutzt oder fährt Rollstuhl, ist auf den Rollstuhl angewiesen oder im Rollstuhl unterwegs Person XY leidet an... Person X hat die Behinderung ABC… lebt mit Krankheit ABC der/die Behinderte, die Behinderten Mensch mit Behinderung oder behinderter Mensch Handicap / gehandicapt Behinderung / behindert invalide, schwerbeschädigt behindert gesund / normal vs. krank nichtbehindert vs. behindert das Leben / die Behinderung „meistern“ mit der Behinderung leben trotz seiner / ihrer Behinderung mit seiner/ihrer Behinderung aufgrund seiner / ihrer Behinderung mit seiner/ihrer Behinderung taubstumm, Taubstumme/r, Gebärdendolmetscher, taub, gehörlos/Gehörlose, schwerhörig/SchwerhöZeichensprache rige, hörgeschädigt, hörbehindert, Gebärdensprache, Gebärdensprachdolmetscher… „Sorgenkind“, „Schützling“, „Du“ statt „Sie“ Nehmen Sie die Person ernst (sowohl Kinder als auch Erwachsene) geistige Behinderung / geistig behindert Mensch mit Lernschwierigkeiten Mongoloismus / mongoloid Mensch mit Trisomie 21 / Down-Syndrom Pflegefall Mensch mit Assistenzbedarf Zwerg, Liliputaner kleinwüchsiger Mensch noch hinderliche Formulierungen Stattdessen kann einfach gesagt werden2 an den Rollstuhl gefesselt „Einen Rollstuhl benutzen“ oder „auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sein“ „eine Behinderung hat“ oder „mit einer Behinderung lebt“ hat Cerebralparese hat einen Hydrocephalus Menschen mit Lernschwierigkeiten an einer Behinderung „leiden“ Spastiker Wasserkopf schwachsinnig, debil, geistig behindert 1 Andi Weiland: „Tabelle: Wie man gängige Sätze anders formulieren kann.“ unter: http://leidmedien.de/wp-content/uploads/2012/07/Leidfaden.pdf, (abgerufen am 16.03.2015) 2 B.Firlinger, M. Braunreiter, B. Aubrecht: „MAINual – Handbuch Barrierefreie Öffentlichkeit“ unter: https://www.bizeps.or.at/downloads/MAINual.pdf, (abgerufen am 16.03.2015) Dipl. Päd. Markus Rilk Sonderschullehrer / Pädagogischer Berater ZIS 3, Petrusgasse 10 60 I-JOURNAL Mai 2015 Diversität – Inklusion – Gerechtigkeit Dissertation „Diversity Management in Schulen“ Beruflicher Ausgangspunkt für die Dissertation „Diversity Management in Schulen“ war unsere Ausbildung und Tätigkeit als Sonderpädagog/innen in Wien. Unsere Beschäftigung in unterschiedlichen (sonder)pädagogischen Kontexten bringt eine ständige Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Schüler/innen sowie den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen mit sich. Vielfalt zeigt sich dabei nie neutral. Während sich manche Eigenschaften als förderlich zeigen, erweisen sich andere Identitätsmerkmale als hinderlich für den Erfolg in der Schule. Einzelne Benachteiligungen intendiert das Bildungssystem insbesondere durch die Zuweisung von Personalressourcen auszugleichen (z.B. erhöhte Personalintensität im sonderpädagogischen Bereich, Lehrer/innen für muttersprachlichen Unterricht, ...), andere hingegen bleiben unberührt bzw. werden nicht erkannt oder beachtet. Diskriminierung und auf der anderen Seite Privilegierung stehen unserer Erfahrung nach auf der schulischen Tagesordnung und bleiben oft, insbesondere aus Systemperspektive, unerkannt und unbewusst. Daraus ergaben sich folgende grundlegende Fragestellungen: • Wie kann ein Schulsystem, bzw. eine einzelne Schule, mögliche Benachteiligungen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale erkennen und ausgleichen, insbesondere da Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind? • Schulische Gleichbehandlung erweist sich im Angesicht der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Identitäten und den damit verbundenen besonderen Bedürfnissen als ungerecht. Wie kann folglich ausgleichende Gerechtigkeit in der Schule verstanden werden und welche Gerechtigkeitskriterien können Anwendung finden, um nicht weiterer Beliebigkeit Vorschub zu leisten? • Personelle, räumliche und zeitliche Ressourcen sind auch im schulischen Kontext begrenzt. Das Beste für jeden Schüler/jede Schülerin zu wollen, bleibt als berufsethisches Ideal immer aufrecht. Nichtsdestotrotz erfordert der schulische Alltag permanent Entscheidungen unter Knappheit, die gleichzeitig pädagogische Maßnahmen ermöglichen und damit auch verunmöglichen. Wie kann also die Aufmerksamkeit wirksam und begründbar darauf gerichtet werden, wo der größte Handlungsbedarf besteht? Diversität und Gerechtigkeit Vielfalt gewinnt stetig an Komplexität und ist das Ergebnis gesellschaftlichen Wandels. Vielfalt verändert sich je nachdem, ob neue Merkmale und Lebensweisen hinzutreten bzw. mit vertrauten neu kombiniert und wahrgenommen werden oder sich gesellschaftliche Perspektiven ändern. In jedem Fall bleibt Vielfalt nur über Differenzen bestimmbar. Differenz wurde somit als Ergebnis von gesellschaftlichen Praxen, eingebettet in soziale Bezüge, aufgefasst. Der Gesellschaft und der Sozialisation wurde eine wesentliche Rolle in deren Herstellung zugeschrieben. Entlang von Kategorien wurden Differenzlinien und Grunddualismen identifiziert. Unter diesem Aspekt erwiesen sich Differenzen nicht als neutral, sondern, orientiert an Normalitätsvorstellungen, Hierarchien und Machtverhältnissen, als Ursache für Diskriminierungen bzw. Privilegierungen. Benachteiligungen wurden dabei sowohl auf die Gesellschaft im Allgemeinen als auch im Besonderen auf den schulischen Raum bezogen. Differenz ist somit vielschichtig aufzufassen. Die Lösung besteht nicht darin, Differenzen zu negieren, sondern Bewusstsein für daraus resultierende Effekte zu entwickeln, wenngleich auch dieses Vorgehen Gefahren, wie z. B. jene der Re-Stereotypisierung birgt. Diese sozialen Wirkmechanismen und damit die Sozialisationsinstanz Schule sind für die Identitätsentwicklung bedeutsam. 61 I-JOURNAL Mai 2015 Der Zusammenhang der Vermittlung zwischen Sozialisation und Identität wurde mit dem Habituskonzept erläutert. Unter Einbezug leiblicher Wirkungen zeigt dieses, wie einflussreich der Sozialisationsprozess im schulischen Kontext im Hinblick auf die Identitätsentwicklung ist. Der Sozialisationsraum Schule als komplexes soziales Erfahrungsfeld nimmt Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Schüler/innen. Die Schulkultur kann als prägender Faktor identifiziert und Auswirkungen auf die Identität von Schüler/ innen abgeleitet werden. In schulischen Sozialisationsprozessen führen Differenzlinien zu benachteiligenden Effekten und damit zu institutionellen Diskriminierungen und werfen folglich Fragen der Gerechtigkeit auf. Sowohl bei der Beschäftigung mit Vielfalt und Differenz als auch mit Sozialisation zeigten sich Anerkennung und Gerechtigkeit (u. a. im Sinne von Gleichstellung) als wesentliche Momente im Umgang mit Vielfalt. Offen bleibt nach dieser Auseinandersetzung, woran sich Schule in ihren Handlungen und Praktiken orientieren soll, wie Gerechtigkeit in der Bildungsinstitution Schule konkret verstanden werden kann. Gerechtigkeit in Schule ist auf mehreren Ebenen zu diskutieren, nämlich auf der institutionellen Ebene, auf der individuellen Kompetenzebene sowie auf der Ebene der erlebten Anerkennung in sozialen Bezügen. Die Frage nach Gerechtigkeit in der Institution Schule lässt sich mit Prinzipien beantworten, welche die Verteilung von Grundgütern regeln. Gerechtigkeit wird in diesem Verständnis u. a. dann angestrebt, wenn die Verbesserung der Aussichten der am schlechtesten gestellten Gruppe im Zentrum steht. Im Hinblick auf Identitätsentwicklung und Sozialisation wurde als ein zentrales Grundgut im schulischen Kontext die Selbstachtung bestimmt. Damit wurde zugleich auf die Limitationen eines institutionalen Gerechtigkeitsverständnisses verwiesen. Für die Bildungsinstitution Schule ist eine Erweiterung des institutionalen Gerechtigkeitsverständnisses um den Aspekt der Teilhabegerechtigkeit hinsichtlich der Verwirklichung von Chancengerechtigkeit notwendig. Das Verfolgen von Prinzipien der gerechten Güterverteilung stellt alleine noch nicht sicher, dass Schüler/innen ein bestimmtes Kompetenzniveau erreichen, welches die gleichwertige gesellschaftliche Partizipation garantiert. Ebenso finden in diesen Prinzipien weder Gemeinschaftsaspekte noch persönliche Haltungen Beachtung. Anerkennungsverhältnisse, in der Schule besonders in Form von sozialer Wertschätzung, wurden als Voraussetzung für Bildungsprozesse herausgearbeitet und sind damit ebenso Gegenstand von Gerechtigkeit. Diversity Management in Schulen – das DiMiS-Verfahren Die Befragung von Diversity Management Theorien auf ihre Übertragbarkeit für pädagogische Kontexte brachte zahlreiche Ansatzpunkte für die Entwicklung eines DiMiS-Verfahrens. Der Vergleich unterschiedlicher Diversity Modelle ermöglichte die Formulierung von strukturierten Entscheidungsgrundlagen für die Festlegung schulisch relevanter Dimensionen und damit für die Entwicklung des Verfahrens. Menschliche Vielfalt fassen zu wollen erschließt sich in einer schier unendlichen Zahl von Möglichkeiten. Daher galt es für die Konzeption des DiMiS-Verfahrens Entscheidungen zu treffen, welchen Formen von Vielfalt besondere Relevanz in schulischen Kontexten zuzuschreiben ist. Von einem undifferenziert-euphemistischen Verständnis von Vielfalt wurde Abstand genommen. Im Gewahrsein aller damit verbundenen Gefahren, wurden in der Auseinandersetzung mit Diversity-Modellen Kategorien für eine schulische Adaption bestimmt, um schulisch besonders relevante Aspekte von Vielfalt strukturiert für Schulentwicklung in den Blick nehmen zu können. Das DiMiS-Modell umfasst die Kerndimensionen Ethnie/Sprachenvielfalt, soziale Herkunft, Gender (Sexuelle Orientierung), Religion und Weltanschauung sowie psychische/physische Fähigkeiten. Als allgemeine (nicht dimensionenspezifische) Indikatoren wurden die Schulkultur und Selbstwirksamkeitserwartung in das DiMiS-Verfahren aufgenommen. Die gerechtigkeitstheoretisch aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen, fanden ihre Antworten in antidiskriminierenden und potenzialorientierten sowie an Chancengerechtigkeit orientierten Konzepten des Diversity Managements. Risiken wie Essentialismus und Re-Stereotypisierung wurden als beständige Gefahren identifiziert. Höher erscheinen aber die Chancen, die mit der Einführung eines Diversity Managements verbunden werden. Dazu zählen für pädagogische Kontexte beispielsweise das ganzheitliche Verständnis des Ansatzes, die Vermeidung von Diskriminierung und die Potenzialorientierung. Als besondere Chance für Schulen wurde die Ausrichtung auf Strategie und Organisationsentwicklung identifiziert. 62 I-JOURNAL Mai 2015 Anknüpfungspunkte aus dem bildungswissenschaftlichen Diskurs wurden im Diversity-Learning bzw. in der Diversity-Pädagogik identifiziert. Diese Ansätze beziehen pädagogische Aspekte bzw. das schulische Feld differenziert mit ein. Haltungen des Schulteams, Interaktions- und Kooperationsprozesse unter Schüler/ innen, curriculare Verankerungen und insbesondere die Schule als Organisation finden darin Betrachtung. Daran anknüpfend wurde Schule als lernende Organisation beschrieben. Dieser Ansatz verweist ebenso auf die Bedeutung der Beachtung der Gesamtheit der Prozesse einer Institution. Organisationales Lernen fokussiert Wissen, Werte und Handlungsfähigkeit einer Organisation unter Einbeziehung aller Akteursgruppen. Darüber hinaus erwiesen sich für eine diversitätsorientierte Entwicklung der Schule als lernende Organisation vor allem jene Ansätze der Schulentwicklung als bedeutsam, die Datenerhebungen und Datenrückmeldungen als Qualitätsmerkmale definieren. Diese Entscheidung wurde deshalb getroffen, weil durch diese beiden Qualitätsmerkmale ein objektivierter und strukturierter Zugang zu Komplexität von Diversität in Schulen möglich schien. Als Bausteine des DiMiS-Verfahrens wurden eine Online-Erhebung und eine Diversity Scorecard entwickelt. Die Online-Erhebung gibt durch Rückmeldung quantitativer Daten zu den dimensionsspezifischen Umwelteinschätzungen (Diversity-Environment-Index: Wie nehme ich mein schulisches Umfeld dimensionsspezifisch als Schüler/in wahr?) und Haltungen (Diversity-Attitude-Index: Welche dimensionsspezifischen Haltungen habe ich als Schüler/in?) sowie allgemein zu Schulkultur und Selbstwirksamkeitserwartung von Schüler/innen Hinweise auf subjektiv empfundene Diskriminierung bzw. Anerkennung. Eine besondere Herausforderung bestand darin, die theoretischen Grundlagen der einzelnen Dimensionen in Einklang mit der Konzeption des Fragebogens zur Online-Erhebung zu bringen. Als wesentliches Qualitätskriterium bestätigte sich die Sicherstellung sprachlicher Verständlichkeit für die Schüler/innen, da damit das Anliegen einer möglichst niederschwelligen Partizipation an der Online-Erhebung verknüpft war. Das DiMiS-Verfahren intendiert eine evidenzbasierte Grundlage für die Formulierung gemeinsamer Ziele. Dies sollte konzeptiv über eine Befragung von Schüler/innen der 4. Klassen als Bild für die gesamte Schule realisiert werden. Über eine niederschwellige, schnell les- und interpretierbare Auswertung dieser Daten sollte es dem Schulteam ermöglicht werden, einen ganzheitlichen Diversity-Blick auf die Schule zu richten, mit dem Ziel, einen Ausgangspunkt für fokussierte Schulentwicklungsprozesse und in weiterer Folge für deren Evaluation zu schaffen. Forschungsergebnisse Da die Handlungsfähigkeit der Schule erhöht werden soll, wurden Berufsfeldbezogenheit und damit Praktikabilität als Qualitätskriterien formuliert, um sicherzustellen, dass das DiMiS-Verfahren möglichst breite Akzeptanz und damit Einsatz findet. Neben der wissenschaftsbasierten Entwicklung des DiMiS-Verfahrens standen daher im Rahmen der Forschungsfrage Nützlichkeit, Anwendbarkeit und Übertragbarkeit des Verfahrens im Fokus. Diese Erfolgsparameter wurden im Rahmen der Dissertation mit Hilfe von Ergebnissen der Schulentwicklungsforschung definiert und im Kontext einer Evaluationsstudie durchgeführt als MultipleCase-Studie mit 2 Fällen (zwei Wiener APS-Schulstandorte der Sekundarstufe 1) durchgeführt. Die Nützlichkeit des DiMiS-Verfahrens wurde als gegeben definiert, wenn professionsorientierte Bewusstseinsbildung der Praktiker/innen (Lehrer/innen, Schulleitung) sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene (vgl. Finke 2005, S. 8 f, vgl. Hartmann & Judy 2005, S. 60 f, vgl. Rosken 2009, S. 59) befördert sowie die Problemlösungs- und Handlungskompetenz (vgl. Probst & Büchel 1994, S. 17 und 25) erweitert wird. Außerdem wird Nützlichkeit mit einer Sensibilisierung für die Dimensionen von Diversität und damit auch mit der Erhöhung eines reflexiven Umgangs verbunden (vgl. Vedder 2006, S. 12). Die Forschungsergebnisse zeigen, dass reflexive Auseinandersetzung im Zuge der Erprobung des DiMiSVerfahrens breit erfolgt ist. Diese wird in jedem Fall auf das eigene pädagogische Wirken bezogen. Professionsorientierte Bewusstseinsbildung ist auf individueller Ebene über beide Fälle hinweg festzustellen. 63 I-JOURNAL Mai 2015 In beiden Fällen wird die Nützlichkeit des DiMiS-Verfahrens mit dem Zugang zu sonst wenig erfassbaren Informationen über die Schüler/innen verbunden. Damit ist mit dem DiMiS-Verfahren eine Grundlage für die Erhöhung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz der Praktiker/innen geschaffen. Nützlichkeit ist damit jedenfalls auf der individuellen Ebene, d. h. für das konkrete pädagogische Wirkungsfeld gegeben. Für Schulentwicklung ist die Nützlichkeit aus Schulleitungssicht ebenfalls gegeben. Das DiMiS-Verfahren ist auch für die Formulierung spezifischer, messbarer, relevanter Ziele für einen bestimmten Zeitraum (vgl. Stuber 2009, S. 119 f) konzipiert. Die durch das DiMiS-Verfahren erhobenen Ergebnisse werden als nützlich erfahren. Nützlichkeit bezieht sich nach Aussage der befragten Lehrer/innen hauptsächlich auf eine ergebnisorientierte Reflexion hinsichtlich möglicher Ursachen. Der Nützlichkeitsaspekt für die Formulierung von Zielen im Rahmen der Erstellung einer Diversity Scorecard wird nicht mit dem DiMiS-Verfahren verbunden. In seiner inhaltlichen Gesamtkonzeption löste die Erprobung des DiMiS-Verfahrens breite Akzeptanz aus. Die Auswahl der Dimensionen wird in beiden Fällen mehrheitlich gut angenommen und positiv konnotiert, da sowohl allgemeine als auch ergebnisorientierte Reflexionen mit unterschiedlichen Fokussierungen erfolgt sind. Nützlichkeit wird als intersektionale Bewusstseinsbildung in beiden Fällen realisiert. Die pädagogische Nützlichkeit der Online-Erhebung im Bereich Schulkultur bestätigt sich über eine sehr hohe Akzeptanz der befragten Lehrer/innen und Schulleitungen. Dies ist für den Bereich Selbstwirksamkeitserwartung nicht festzustellen. Ein möglicher Schluss ist, dass die Selbstwirksamkeitserwartung in der Praxis aufgrund der geringen Bekanntheit des Konstrukts und der Formulierungen nur wenig angenommen wird. Außerdem ist zu beachten, dass sich eine erfolgreiche Anwendung sehr stark von einer hohen sprachlichen und reflexiven Kompetenz der Schüler/innen abhängig zeigt. Auch für einige Items der Dimensionen ist entsprechende sprachliche Kompetenz notwendig, was je nach Bezugsgruppe besonders zu berücksichtigen wäre. Vorausgesetzt wurde, dass die Anwendbarkeit des DiMiS-Verfahrens dann gegeben ist, wenn Datengewinnung und Datenrückmeldungen unmittelbar, übersichtlich sowie mit möglichst geringen statistischen Vorkenntnissen möglich sind und damit den Anforderungen der Schulwirklichkeit entsprechen (vgl. Altrichter 2010, S. 238 f). Die Online-Erhebung des DiMiS-Verfahrens erfährt aufgrund der einfachen Implementierung und der unmittelbaren und schnellen Datenrückmeldung über beide Fälle hinweg Akzeptanz und wird sowohl von Lehrer/innen als auch von den Schulleiter/innen als praxisorientiert eingeschätzt. Die eigenständige Durchführung der Online-Erhebung ist in beiden Fällen vorstellbar. Eine eigenständige Interpretation der Ergebnisse ist durch die Praktiker/innen grundsätzlich gegeben. Die Interpretation von umkodierten Items führte in beiden Fällen punktuell zu zusätzlichem Erklärungsbedarf. Die Balkendiagramme und das gewählte Farbschema wurden positiv bewertet. Die vorgeschlagene Diversity Scorecard hingegen löst kaum Resonanz aus. Eine eigenständige Anwendung war in den Interviews nur mit erheblichen Einschränkungen vorstellbar und scheint damit den Anforderungen der Schulwirklichkeit wenig zu entsprechen. Die Anwendbarkeit ist für die Diversity Scorecard damit nur sehr eingeschränkt anzunehmen. Weiters hat sich bestätigt, dass eine pädagogische Vorbereitung und Begleitung der Schüler/innen bei der Online-Erhebung zur gelingenden Durchführung beiträgt. Die Übertragbarkeit des DiMiS-Verfahrens ist dann gegeben, wenn Nützlichkeit und Anwendbarkeit für Folgeperioden am Schulstandort bzw. für weitere Schulstandorte anzunehmen ist. Diese bestätigte sich für die Online-Erhebung. Als hinderliche verfahrensunabhängige Faktoren wurden hauptsächlich mangelnde Zeitressourcen und Überlastung im Schulalltag angegeben. Außerdem wurden externe Unterstützung bzw. Begleitung, erinnernde Impulse sowie die thematische Offenheit der Schulleiter/innen in beiden Fällen als Voraussetzungen genannt. Primär wurde als Form weiterer Anwendung in beiden Fällen eine klassenbezogene Durchführung als zyklische Evaluierung von Entwicklungen angegeben. Fokussiert wurde vorwiegend das eigene pädagogische Wirkungsfeld. Insgesamt konzentrierten sich die Angaben zu künftigen Einsatzmöglichkeiten eher auf eine klassenbezogene Evaluierung und weniger auf den Einsatz als Schulentwicklungstool. Als Voraussetzung wurden die Koordination durch eine spezifisch verantwortliche 64 I-JOURNAL Mai 2015 Person sowie externe Begleitung thematisiert. Daher ist anzunehmen, dass die Übertragbarkeit des DiMiSVerfahrens inklusive Diversity Scorecard im Bereich der Schulentwicklung durch externe Begleitung bzw. Koordination des Prozesses erhöht werden kann. Resumée Die mit der Entwicklung des DiMiS-Verfahrens verbundenen Zielsetzungen konnten insofern realisiert werden, als mit dem DiMiS-Verfahren die Erfassung diversitätsrelevanter Einschätzungen und Haltungen von Schüler/innen in einer Gesamtkonzeption ermöglicht wird. Mit dem DiMiS-Verfahren war der Anspruch verbunden, jene pädagogischen Wirkungsfelder gezielt zu fokussieren, die in dieser Form nicht Gegenstand von bestehenden Rückmeldeverfahren sind. Diese Intention konnte in weiten Teilen erreicht werden. Das DiMiS-Verfahren hat zahlreiche Wirkungen über das Forschungsvorhaben hinaus angestoßen. Diese beziehen sich auf eine hohe Zugänglichkeit der Lehrer/innen für einen individuellen, d. h. klassenbezogenen Gebrauch. Diese Form des Einsatzes scheint mit einem höheren Mehrwert verbunden zu sein. Persönliche Ressourcen und Haltungen werden in dieser Anwendung gezielter angesprochen und reflektiert, als dies bei einer Übertragung einer allgemeinen Interpretation statistischer Ergebnisse einer gesammelten Erhebung für alle 4. Klassen der Fall ist. Die individuelle klassenbezogene Anwendung steht mit dem eigenen Wirkungsfeld in direkter Verbindung und ermöglicht damit einen hohen Grad an Autonomie bezüglich des Einsatzes. Der Wunsch nach persönlicher Rückmeldung oder die individuelle Verwendung zur Evaluierung von Entwicklungsschritten stand im Vordergrund. Der systemischen Komplexität und Langfristigkeit von Schulentwicklung steht das Bedürfnis nach konkreten, schnell verfügbaren Ergebnissen und pädagogischen Handlungsoptionen gegenüber. Dieses Bedürfnis erscheint durch erlebte Schnelllebigkeit und multifaktorielle Anforderungen des schulischen Alltags erklärbar. Die Online-Erhebung des DiMiS-Verfahrens entspricht diesem Bedürfnis. Da das DiMiS-Verfahren in der vorliegenden Form lediglich die Schüler/innen und deren Einschätzungen adressiert, wäre für ein ganzheitlicheres organisationales Diversity-Bild von Schule der Einbezug weiterer Akteursgruppen (z. B. insbesondere die Umwelteinschätzungen und Haltungen von Lehrer/innen) bedeutsam. Aufgrund der Mehrdimensionalität von Diversität sind sowohl für die individuelle als auch für die organisationale pädagogische Maßnahmenplanung Unterstützungsangebote notwendig, um nachhaltig Veränderungen zu initiieren. Sowohl auf Systemebene als auch auf der individuellen pädagogischen Handlungsebene sind Professionalisierungsprozesse dafür ein konstitutiver Baustein. Dies ist umso mehr von Bedeutung als eine pädagogische Interpretation der Ergebnisse der Online-Erhebung nur in enger Auseinandersetzung mit dem jeweils spezifischen Kontext erfolgen kann und dazu entsprechende Kompetenzen erforderlich sind. Diese können einerseits am Schulstandort vorhanden sein oder durch externe Beratung einfließen und in weiterer Folge transferiert werden. Mit der Konzeption des DiMiS-Verfahrens wurde ein Anstoß zur Initiierung und Umsetzung von Diversity Management in Schulen gegeben. Der weitere Erfolg wird auch davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, konkrete pädagogische Perspektiven für einen potenzialorientierten Umgang mit Diversität in Schulen zu entwickeln. Auch an dieser Stelle möchten wir den Schulleiterinnen und -leitern, den Lehrer/innen-Teams sowie den Schüler/innen jener beiden Schulstandorte, an denen wir die Fallstudien durchführen konnten, ganz herzlich danken. 65 I-JOURNAL Mai 2015 Literatur Altrichter, H. (2010): Handbuch Neue Systemsteuerung im Schulsystem. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Finke, M. (2005). Diversity Management: Förderung und Nutzung personeller Vielfalt in Unternehmen. München und Mering: Rainer Hampp Verlag. Hartmann, G. & Judy, M. (2005): Unterschiede machen. Managing Gender & Diversity in Organisationen. Wien: Ed. Volkshochschule. Probst, G. B. J. & Büchel, B. S. T. (1994): Organisationales Lernen. Wettbewerbsvorteil der Zukunft. Wiesbaden: Gabler. Rosken, A. (2009): Diversity und Profession. Eine biographisch-narrative Untersuchung im Kontext der Bildungssoziologie. Wiesbaden: VS Research. Stuber, M. (20092): Diversity. Das Potenzial-Prinzip. Ressourcen aktivieren - Zusammenarbeit gestalten. Köln: Luchterhand. Vedder, G. (2006): Die historische Entwicklung von Diversity Management in den USA und in Deutschland. In: Krell, G. & Wächter, H. (Hg.) (2006): Diversity Management – Impulse aus der Personalforschung. München und Mering: Rainer Hampp Verlag. Autor/innen: Prof. Mag.a Dr.in Claudia Kaluza, BEd Hochschullehrperson Pädagogische Hochschule Wien 66 Prof. Mag. Dr. Bernhard Schimek, BEd Hochschullehrperson Pädagogische Hochschule Wien I-JOURNAL Mai 2015 Inklusion: Stolpersteine und Brücken auf dem Weg zu einer gemeinsamen Haltung im Zuge eines EU-Comenius-Regio-Projekts: SCHULE INKLUSIVE „AUGENMERKKINDER“1 Die aktive Beziehungsarbeit der Pädagoginnen und Pädagogen als zentraler Baustein für eine erfolgreiche Lern- und Entwicklungsbegleitung von „Augenmerkkindern“ in einer inklusiven Schule Eine Erzählung aus der Sicht von Projektteilnehmerinnen aus dem Rudolf Ekstein Zentrum Senatsrätin Gabriele Münzberg aus Berlin Pankow strebte gemeinsam mit Schulleiterinnen und Schulleitern aus ihrem Bezirk ein Comenius Regio Projekt zum Thema Inklusion mit dem Wiener Stadtschulrat und Wiener Schulen an. Auf Wiener Seite nahmen die Integrative Lernwerkstatt Brigittenau sowie das Sonderpädagogische Zentrum Rudolf Ekstein Zentrum die gemeinsame Herausforderung an. Des Weiteren sollten die Universitäten Wien (Institut für Erziehungswissenschaften) und die Berliner Humboldt Universität das Projekt wissenschaftlich begleiten. Gemeinsam entwickelten wir bei einem Treffen im Vorfeld das konkrete Thema und freuten uns auf das gemeinsame Tun. Über die Erwartungen, Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Projektteilnehmer Wir erwarteten mit viel Spannung unser erstes Treffen der Projektteilnehmer und -teilnehmerinnen in Berlin: • Wie werden wir das Thema aufgreifen und bearbeiten? • Welche Aspekte und Erfahrungen wird jede Einrichtung einbringen? • Welche Schlüsse werden wir gemeinsam daraus ziehen? • Was wird der SSR für Wien mit den Ergebnissen und Vorschlägen tun? Auch die Berliner Kollegen und Kolleginnen wirkten erfreut und gespannt und empfingen uns sehr gastfreundlich und herzlich. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen erhielten Wochenpläne mit Programmpunkten und Informationen zu Treffpunkten und Themen. Berlin hatte sich bemüht, durch eine sehr klare Planung uns den Einstieg so leicht wie möglich zu gestalten. Am ersten Tag lösten einander viele Vorträge ab. Am Nachmittag des ersten Tages wurde uns ein Projekt vorgestellt, das bereits fertig ausgearbeitet war und alle Arbeitsunterlagen für uns enthielt: Die „Kollegiale Hospitation“. Wir sollten damit vertraut gemacht und in Folge instruiert werden, diese Form der Beobachtung und Besprechung auszuprobieren. Das war soweit sehr zuvorkommend gemeint und hätte dem Team, das dieses Konzept entwickelt hatte, die Möglichkeit einer Art Promotion sowie Evaluation geboten. Aber: Wir vom Rudolf Ekstein Zentrum waren irritiert. Wir waren nicht gewillt eine vorgefertigte Antwort auf unsere Fragen zu bekommen. Ebenso wollten wir auch nicht Spielball jener sein, die dieses spezielle Konzept entwickelt und als fertiges Produkt ins EU-Projekt eingebracht hatten. Erstmals prallten hier völlig verschiedene Erwartungen bezüglich der Herangehensweise an das Thema aufeinander und ein Kollege aus dem Rudolf Ekstein Zentrum hatte den Mut, einen sehr umfangreichen Vortrag zum Thema „Kollegiale Hospitation“ zu unterbrechen und das Procedere des Zugangs zur gemeinsamen Projektarbeit zu hinterfragen. Die schwierigen Kinder waren noch nicht Thema gewesen und das Konzept der „Kollegialen Hospitation“ entsprach einer gegenseitigen Unterrichtsbeobachtung unter Lehrern 1 „Augenmerkkinder“: Kinder mit ausgeprägtem Begleitbedarf, Fokus: stark verhaltensauffällige Kinder) 67 I-JOURNAL Mai 2015 und Lehrerinnen und Anregungen, wie diese stattfinden konnten. Aber die Augenmerkkinder, wie wir sie im Projekttitel definiert hatten, waren noch nicht wirklich zur Sprache gekommen. Wir vermissten den Fokus auf die schwierigen Kinder und auf die aktive Beziehungsarbeit. Dieses Stoppen eines Vortrages der Gastgeber, um den Inhalt erst einmal in Frage zu stellen bzw. den Bezug zum Thema zu erfassen und zu klären, war zu diesem Zeitpunkt auf Grund der sich erst anbahnenden Beziehungen untereinander ein sehr gewagter und aufregender Schritt. Schon an diesem ersten Nachmittag knisterte es im Raum vor Aufregung und Anspannung. Werden die Gastgeber diese unerwartete Unterbrechung akzeptieren und verkraften können? Eine Schlüsselsequenz in unserer Zusammenarbeit! Das Thema Inklusion verhaltensauffälliger Kinder forderte vom Anbeginn von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen Kompetenz und Professionalität im Umgang mit Schwierigkeiten. Sowohl die Berliner Kollegen und Kolleginnen als auch wir Wiener hatten jeweils unsere unausgesprochenen und vielleicht auch unbewussten Hoffnungen und Erwartungen in die Zusammenarbeit und in mögliche gemeinsame Ergebnisse mitgebracht. Die Enttäuschung war nun auf beiden Seiten groß. Es hing einzig und allein von uns allen als Personen ab, in dieser emotional sehr angespannten Situation das Thema im Auge zu behalten, einen sachlichen und fachlichen Dialog zu starten und die Frustration der jeweils anderen zu verstehen. Das gelang sehr gut, ohne gegenseitige Angriffe oder Vorwürfe. Der Vortrag wurde vorzeitig beendet, Leiter und Leiterinnen, Lehrer und Lehrerinnen traten in großer Runde in einen Dialog, wir berichteten einander von unserer Arbeitsweise und unseren jeweiligen Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Kindern, wovon wir als Vertreter und Vertreterinnen eines sonderpädagogischen Zentrums für Kinder mit besonderen emotionalen und sozialen Problemen einiges anbieten konnten. Über Stolpersteine zum Miteinander Unsere Diskussionen und die Beschreibung unserer jeweiligen Arbeitsbereiche, der Austausch über Bedingungen und Nöte, über politische, soziale und gesellschaftliche Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Regionen Berlin Pankow und Wien brachten uns ein großes Stück näher und machten uns klar, wo Berlin und Wien im Hinblick auf die Diskussion um Inklusion von verhaltensauffälligen Kindern jeweils stehen. Während unserer Hospitationen in Berliner Schulen waren die Lehrer und Lehrerinnen schließlich weniger daran interessiert, dass wir ihren Unterricht besprechen, sondern baten uns, konkrete Kinder zu beobachten und unsere Wahrnehmungen bezüglich deren emotionaler und sozialer Entwicklung zu teilen. Wir entwickelten bald gemeinsam eine sehr motivierte Arbeitsstimmung, die gegenseitige Bereicherung und gemeinsame Erkenntnisse zuließen. Das gemeinsame Nachdenken über Kinder in konkreten, gemeinsam erlebten Unterrichtssituationen führte uns zueinander. Hier gab es keine Unterschiede zwischen Berlin und Wien. Hier fanden einfach Fallbesprechungen statt. Als die Berliner ein halbes Jahr später nach Wien kamen, konnten wir erneut die Spannung wahrnehmen. Die Berliner strebten nach raschen Lösungen und konkreten Anleitungen, wir Wiener eher nach Wahrnehmen und Verstehen als Basis einer aktiven Beziehungsgestaltung. Erst im Zuge eines Workshops, indem wir uns auf dem Boden von wissenschaftlichen Erkenntnissen der Hirnforschung und der psychoanalytischen Pädagogik gemeinsam mit unseren eigenen Gefühlen und den Gefühlen von schwierigen Kindern, mit Entwicklung und geeigneten Entwicklungsbedingungen auseinandersetzten, wich die Anspannung und wir fühlten uns auf einem gemeinsamen Weg. 68 I-JOURNAL Mai 2015 Im zweiten Jahr kannten wir einander schon so gut, dass wir uns auf das Aufeinandertreffen der Unterschiedlichkeiten freuten und diese bereits mit Humor beschreiben konnten. Frau Münzberg nannte es: „Die Berliner mit ihrem Tempo, die Wiener mit den Gefühlen“. Bis zum letzten Workshop und bis kurz vor der Abschlusspräsentation entstanden immer wieder divergierende Ansichten über die Beschreibung von Projektergebnissen. Es gelang uns aber - immer wieder - in Arbeitsgruppen die Probleme zu klären und uns zu einigen. Bei unserer Präsentation zum Abschluss des Projektes im Wiener Stadtschulrat hatten wir Spaß und genossen unser Miteinander - das spürte auch unser Publikum. Warum haben wir den Fokus in dieser kurzen Erzählung auf diese Erfahrungen unserer Zusammenarbeit gelegt? Beispielhaft spiegeln sich hier die unterschiedlichen Zugänge aller Beteiligten zum Thema Inklusion wider, die dann bedeutsam werden, wenn die Herausforderung zur Umsetzung im Schulsystem bzw. an konkreten einzelnen Schulen angenommen worden ist. In der Absicht der Implementierung wird der Vorrang meist ausgearbeiteten „Maßnahmen“ („Tools“) als Instrument (Werkzeug) gegeben, von deren Anwendung Impulse zur Veränderung von Sichtweisen erwartet werden. Unsere jahrelange Erfahrung in der Integration von Schülern und Schülerinnen mit emotionalen und sozialen Problemen zeigt uns aber, dass die Reflexion des persönlichen Zugangs, das Wahrnehmen des Gegenübers und eine gemeinsame Einschätzung der Problemlage - also der Zeit und Raum beanspruchende zwischenmenschliche Prozess - die elementare Grundlage für ein tragfähiges Verstehen und Handeln bilden. Aus unserer Sicht führt kein Weg an diesem Prozess vorbei, wenn es um die Veränderung von Haltungen geht, die dem großen, gesellschaftlich wichtigen Thema Inklusion erst eine Chance geben! In einem folgenden Beitrag in der nächsten Ausgabe des Integrationsjournals wollen wir Ergebnisse dieses EU Comenius Regio Projektes und die Frage der Umsetzung darstellen. SDn Eva Posch-Bleyer Leiterin des Rudolf Ekstein Zentrums bis August 2014 69 Mag.a Waltraud Perkonig Mobile Mosaiklehrerin I-JOURNAL Mai 2015 Ganggalerie „Kunst macht stark“ Im Rahmen des von KulturKontakt Austria unterstützten Projektes „Kunst macht stark“ durften die Schülerinnen und Schüler der Familienklasse und der 1.VS f Gh des BIG (Bundesinstitut für Gehörlosenbildung) die Ganggalerie im 3. Stock des Stadtschulrates für Wien gestalten. Es handelt sich dabei um ein inklusives Projekt: Die altersheterogene, nach dem S-Lehrplan geführte Familienklasse arbeitet zusammen mit einer nach dem Lehrplan der VS für Gehörlose geführten altershomogenen Klasse. Die Freude der hörbeeinträchtigten Kinder und Jugendlichen (einige von ihnen mit zusätzlichen Handicaps) und die Wertschätzung der Anwesenden war bei der Eröffnung der Ganggalerie am 3.3.2015 enorm. Herzlich danken wir unserer LSI Frau Mag. Mangl, Hrn. AL LSI Dr. Gröpel, Hrn. LSI Dr. Corazza, Frau Dipl.Päd. Mörwald, Fr. Mag. Stender und allen anderen Teilnehmenden für die Freundlichkeit und Anerkennung, die sie den Schülerinnen und Schülern und ihren Werken entgegengebracht haben. Besonders danken wir Fr. LSI Mag. Mangl für die Einladung zur Gestaltung der Ganggalerie, Fr. Dipl.Päd. Mörwald und Fr. Mag. Stender, die uns Pädagoginnen in der Vorbereitungsphase sehr unterstützten und Herrn Lebert, der unsere Werke aufhing. Auch für jene Verwandten unserer Schülerinnen und Schüler, die am 3.3. dabei waren, war es ein unvergesslicher Tag. Ceylan und eines ihrer Bilder. In der ersten Schulwoche 2014/15 begannen meine Planungen mit der Kunstpädagogin, Kunstvermittlerin und Künstlerin Fr. Mag. Andrea Marbach. Unser erster Projektentwurf lautete „Kunst ist nicht schwierig, Kunst macht stark!“ und war von Anfang an an Entdeckungen und kreative Phasen in folgenden Museen rückgebunden: MUMOK, KHM, Hofjagd- und Rüstkammer und Wagenburg. Von zentraler Bedeutung sind die KHM-Sonderausstellung zu Velázquez und auch die Ermöglichung vielfältiger Sinneserfahrungen (z.B. Wie fühlt sich Samt, Leder, etc. an?). Zu Beginn besuchten wir einen Workshop im MUMOK. Danach kam Fr. Mag. Marbach mehrmals zu uns ans BIG, um die Kinder und Jugendlichen mit verschiedenen Techniken und Materialien Die erste Station unserer Ganggalerie. (zwei- und dreidimensional) auf den Höhepunkt des Projektes vorzubereiten: Im Rahmen der Velázquez-Ausstellung durften wir mit unseren großartigen Kunstvermittlerinnen Fr. Mag. Marbach und (an diesem Tag auch) Fr. Mag. Ilona Neuffer eine Stunde alleine in die Gemäldegalerie. Danach setzten wir das Gesehene im Atelier des KHM um. So gestalteten die jungen Künstlerinnen und Künstler elf Ölbilder im Format 70x100cm sowie kleinere Bilder. Thematisch entstanden dabei durch die Inspiration in der Gemäldegalerie viele Darstellungen von Infantinnen und Infanten bzw. von sich selbst in der Rolle einer Prinzessin oder eines Prinzen bzw. eines glücklichen Mädchens oder Bubens. Wir danken Fr. Mag. Herbst (KHMKunstvermittlungsleitung) und Fr. Mag. Marbach sehr herzlich für ihr großes Engagement für unsere Schülerinnen und Schüler. Fr. Mag. Marbach ging von Anfang an sehr herzlich, fröhlich und achtsam auf unsere 70 I-JOURNAL Mai 2015 Schülerinnen und Schüler zu; die Zusammenarbeit mit ihr war für alle Beteiligten eine reine Freude. Durch ihre guten Ideen brachte sie unsere Schülerinnen und Schüler zu Höchstleistungen. Wir wurden nicht nur von KulturKontakt Austria, sondern auch von Fr. Mag. Direktorin Strohmayer (BIG) unterstützt. Für ihr besonderes Engagement möchten wir auch der ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Familienklasse, Frau Yvonne Stas, und dem Zivildiener Ruiji Zhao danken; beide sind sehr engagiert und feinfühlig und wurden von den Schülerinnen und Schülern schon längst in ihre Herzen geschlossen. Das Wort ‘Reinknien’ gewinnt eine neue Bedeutung durch Pavarsi. Da nicht alle Kinder ins KHM mitkommen konnten, malten wir danach in der Schule noch weiter. Dabei entstanden auch Gemeinschaftsbilder (wieder im Format 70x100cm), die mit Ölkreiden und Aquarellfarben gestaltet wurden. Unser Projekt geht bis 13.6. weiter – drei Lehrausgänge haben wir noch vor uns. Im Juni dürfen wir einen Teil unserer Werke gemeinsam mit anderen Schulklassen in den Hofstallungen im Museumsquartier ausstellen. Außerdem werden wir noch weitere großformatige Bilder umsetzen. Der eigentliche Rahmen des Projektes ist der Lehrgang „Kulturelle Bildung in und mit Museen“ der PH NOE, im Zuge dessen ich Fr. Dipl.Päd. Waschkau-Homberg vom SPZ Herchenhahngasse kennengelernt habe. Gemeinsam mit ihr und ihren Schülerinnen und Schülern waren wir auch schon im MUMOK und im KHM und werden einen Teil der Ausstellung unserer Schülerinnen und Schüler zusammen gestalten. Diese abschließende Ausstellung in den Hofstallungen im Juni stellt den Höhepunkt des Lehrganges dar. Für diese Möglichkeit danken wir Fr. Mag. Ehgartner (MUMOK-Kunstvermittlungsleitung), Fr. Mag. Krottendorfer (PH NOE, Lehrgangsleitung) und Hrn. Mag. Lexmüller (PH NOE; Bundeszentrum für schulische Kulturarbeit) sehr. Abschließend gilt unser herzlicher Dank nochmals allen, die es unseren Schülerinnen und Schülern ermöglicht haben, im Stadtschulrat und in den Hofstallungen ausstellen zu dürfen und zu können. Viribus unitis! LSI Mag. Mangl, LSI AL Dr. Gröpel, Fr. Mörwald, Fr. Spendier, Fr. Nickel, Fr. Stas, Fr. Dir. Mag. Strohmayer. Belinda Spendier, Anne Nickel und Elisabeth Bacher, Lehrerinnen am BIG 71 I-JOURNAL Mai 2015 Ku nst Pavarsi freut sich vor einem ihrer Bilder über den Applaus. m a c h t Zerengül vor einem ihrer Bilder. k r s a t Ein inklusiver Vormittag im KHM. 72 I-JOURNAL Mai 2015 OutsideTheBox Technologien neu gestalten mit Kindern mit Autismus Christopher Frauenberger Senior Researcher Human Computer Interaction Group, UT Vienna, Austria Mitarbeiterinnen: Julia Makhaeva, Katharina Spiel OutsideTheBox ist ein Forschungsprojekt an der TU Wien, das sich mit der Gestaltung von neuen Technologien für und mit Kindern mit Autismus beschäftigt. Seit Beginn des Schuljahres 2014/15 arbeiten wir regelmäßig mit Kindern im Alter von 6 bis 8 Jahren zusammen, um darüber nachzudenken, welche Rollen Technologien in ihrem Leben haben könnten. Wir sind dabei ganz ergebnisoffen und lassen uns von den Ideen und Vorstellungen der Kinder leiten. Die einzigen Vorgaben die wir uns gemacht haben sind, dass die Technologie die wir mit den Kindern gemeinsam entwickeln Spass und Sinn ihrem Leben macht und, dass die Kinder dabei unterstützt werden diese positiven Erfahrungen mit ihrem sozialen Umfeld zu teilen. Wir arbeiten dabei eng mit dem MentorInnenprogramm der Integrationsstelle des Stadtschulrats und mit den jeweiligen Schulen und Lehrern zusammen. Um von unseren Erfahrungen hier zu berichten, erzählen wir die Geschichte von zwei Kindern, Martin und Martina, deren Identitäten zwar fiktiv sind, aber stark von den realen Partnerkindern inspiriert sind. Wir zeigen wie Martin und Martina mit uns ihr eigenes, smartes Objekt entwickeln. Martin ist ein aufgewecktes, sechs Jahre altes Kind. Er wurde erst kürzlich mit einer Form von autistischer Wahrnehmung diagnostiziert. Er ist äußerst wissbegierig, weiß viel und gibt sein Wissen auch gerne weiter. Manche soziale Situationen versteht er allerdings nicht. Dann fehlt ihm oft die Zeit, sie ausgiebig genug zu beobachten und adäquat zu reagieren. Und dann gibt es immer wieder mal Ärger in der Klasse. Martina ist acht Jahre alt, sie spricht wenig und mag neue Situationen gar nicht. Es fällt ihr schwer, ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken. Sie zeichnet jedoch mit Leidenschaft Tiere und erzählt damit Geschichten. Ihre Zeichnungen zeigt sie dann nicht nur auch gerne her, sie setzt diese auch oft in einen neuen Kontext und erzählt immer neue Geschichten. Foto- und Videokameras nutzt sie ebenso gerne zu spielerischen Inszenierungen. Sie mag es, wenn andere Leute mit ihr lachen, braucht allerdings immer wieder viel Zeit, um auch schon bekannte Personen an sich heran zu lassen. Martin beschäftigt sich gern mit Technik. Später will er unbedingt Forscher und Erfinder werden. In aller Konsequenz sieht er sich deshalb auch jetzt schon als Kollege zu diesem Berufsstand, als Erfinderkind. Begeistert erzählt er über die Dinge, die ihn faszinieren. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob die Gesprächspartner interessiert sind oder etwas zu dem Thema sagen möchten. Auch soziale Situationen mit anderen Kindern sind sehr schwierig für ihn. Denn sie sind laut, haben ganz andere Interessen und Bedürfnisse, die insbesondere im Klassenzimmer geballt auf ihn einwirken. Seine Verhaltensweisen und Reaktionen werden oft als übersteuert wahrgenommen, er sagt aber, er kann sich an diese Episoden meist nicht erinnern. Schulunterricht macht Martin wenig Spass. Am liebsten wäre er jetzt schon Erfinder. In unserem Projekt findet er die Möglichkeit endlich auch als Forscher tätig zu sein. Unsere regelmäßigen Projekttreffen findet er so wichtig, dass er um einen Kalender gebeten hat, um die Tage bis zum nächsten Mal anzukreuzen. Wir bringen viel Zeit und Aufmerksamkeit mit, die im Schulalltag schwer aufzubringen sind. Um mit Martin über Forschungswerkzeuge der Zukunft nachzudenken, haben wir eine Designmethode „Future Workshop“ an unsere Zwecke und die individuelle Zusammenarbeit mit Martin angepasst. 73 I-JOURNAL Mai 2015 Wir entwerfen Zukunftsszenarien, die an die ihm bekannte Welt anknüpfen, uns aber auch die Möglichkeit geben, frei von bereits bekannten technischen Einschränkungen über neue Konzepte nachzudenken. Martin kann auch in der fiktiven Zukunft über Probleme nachdenken, die ihn in der Gegenwart beschäftigen. Martina kann mit einem Konzept der Zukunft weniger anfangen. Für unsere Zusammenarbeit mit Martina haben wir uns für eine andere Herangehensweise entschieden, eine die über Basteln und Zeichnen Ideen generiert. Bei unseren Treffen gibt Martina die Richtung vor. Sie braucht dennoch jedes mal zehn Minuten, bis sie sich auf uns einlassen kann. Wir geben ihr die Zeit und unterstützen sie durch vertraute Strukturen, mit dem Freiraum umzugehen. Wenn sie einmal aufgetaut ist, dann macht ihr das Spielen und Basteln mit uns sehr viel Spaß und ihr gefällt das neu entdeckte Selbstbewusstsein mit dem ihre Ideen die Arbeit bestimmen. Nach unseren Treffen erzählt sie ihrer Lehrerin immer wieder, wie toll es war. Wir lassen uns von den beiden Kindern leiten und erkunden gemeinsam ihre besonderen Interessen und Blickwinkel auf die Welt. Einer von uns ist immer der Spielpartner, eine aktive Beobachterin. Während der aktive Beobachter die Treffen strukturiert, die Aufgaben stellt und auch die Hoheit über das Material hat, bildet das Kind und die Spielpartnerin ein Team. Dabei stehen sich beide Teammitglieder gleichberechtigt gegenüber und ergänzen sich durch die eigenen individuellen Fähigkeiten. Vielleicht können Erwachsene besser schreiben oder zeichnen, aber die Kinder sind die Experten ihres eigenen Lebens und nur sie wissen was Sinn und Spass darin macht. Der Spielpartner wird zum verlängerten Arm des Kindes, um dessen Ideen umzusetzen. Anhand der vielen Zeichnungen von Martina entwickeln wir ihr „smartes Ding", mit dem sie ihre Zeichnungen digital aufnehmen, animieren und so in Geschichten einbetten kann. Dabei soll das smarte Ding es ihr nicht nur ermöglichen, ihre Werke mit anderen zu teilen, sondern auch, sie im Nachhinein digital zu verändern oder zu ergänzen. In ruhigen Schulstunden kann Martina für sich zeichnen und die Projektionsfläche auf das Blatt Papier vor sich richten, um zu sehen, was sie genau zeichnet. Heute ist es eine „Raudikatze“. Martina legt Animationsbereiche fest, indem sie auf dem Papier markiert, dass die Beine sich auseinander und der Kopf von links nach rechts bewegen soll. Ihr smartes Ding erstellt dann automatisch mehrere Einzelbilder, die zusammen eine Animation ergeben. Diese werden individuell mit Kostümen versehen. In der Pause projiziert sie ihre Kreation mit ihrem smarten Ding an die Wand, um den anderen Kindern in der Klasse die Geschichte der „Raudikatze“ zu erzählen. Dabei steuert sie die Geschwindigkeit der Animation mit der Geschwindigkeit ihrer eigenen Körperbewegungen. Das smarte Ding erzeugt für Martina eine soziale Situation, die sie selbst dirigiert, Struktur die ihr Sicherheit gibt. Durch diese Sicherheit ist es ihr dann auch möglich auf unvorhergesehenes leichter zu reagieren. Zusammen mit dem Forscher Martin stellen wir fest, dass man- 74 I-JOURNAL Mai 2015 che sozialen Situationen so komplex sind, dass sie es wert sind, besonders genau unter die Lupe genommen zu werden. Um sie in den Griff zu bekommen, benötigen wir besondere Forschungswerkzeuge aus der Zukunft, die es ermöglichen passende Lösungsstrategien zu finden. Deswegen haben wir uns gemeinsam zum Ziel gesetzt, ein smartes Ding zu entwickeln, das Martin dabei hilft, solche unüberschaubaren Situationen besser zu verstehen. Martin hat eine Maschine in Form eines Stirnbandes vorgeschlagen, wir nennen es den Reflektor. In einer für Martin verwirrenden Situation kann er den Reflektor aufsetzen und damit verschiedenste Aspekte der Situation aufzeichnen. Eine kleine Kamera macht etwa kurze Videos oder Bilder, ein Mikrofon nimmt die Geräuschkulisse auf. Der Reflektor hilft Martin dann die Situation zu analysieren. Durch gezielte Fragen, die wir mit Martin entwickeln, strukturiert der Reflektor die Reflexion auf das Geschehene und ermöglicht es Martin darin die Verhaltensmuster und den Sinn zu verstehen. Die Basisstation des Reflektors zu Hause kann auch dazu benutzt werden, um besonders knifflige Situation am Abend mit den Eltern zu besprechen. Die Bedienung des Reflektors erfolgt berührungslos, die dazu erforderlichen Gesten hat Martin selbst festgelegt. Der Reflektor ermöglicht ihm, sich aus der Situation „rauszunehmen“ und mit viel Ruhe und Konzentration zu forschen. Wenn Martin den Reflektor trägt, ist das auch ein Zeichen an seine Umwelt, dass er sich gerade intensiv mit der Situation auseinander setzt und ein wenig Zeit braucht. Der Reflektor wird zum smarter Begleiter im Alltag. Die Technologien, die wir im Projekt OutsideTheBox entwickeln, sind individuell auf das Kind zugeschnitten. Denn jedes Kind hat seine individuellen Bedürfnisse und erfordert so auch individuelle Herangehensweisen. Wir nehmen jedes Kind einzeln, mit all seinen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen wahr, eingebunden in sein soziales und kulturelles Umfeld. Nicht umsonst heißt es auch „Hat man ein Kind mit Autismus gesehen, hat man ein autistisches Kind gesehen”. Der Reflektor ermöglicht Martin einen Blick auf die eigene Umwelt, der durch seine eignen Interessen geleitet wird und produktiv Lösungsansätze ermöglicht. Martinas Zeichenprogramm ermöglicht ihr das Teilen ihrer eigenen Kunst. Beide smarten Dinge helfen den Kindern, positive Erfahrungen zu machen, die aus ihren Interessen gespeist sind, und diese Erfahrungen mit anderen zu teilen. Wären wir lediglich von den diagnostischen Kriterien, Limitierungen und Defiziten ausgegangen, könnten diese Technologien so nicht zustandekommen. Derzeit arbeiten wir gemeinsam an der Realisierung von Prototypen, die wir dann weiter mit Kindern testen und optimieren. OutsideTheBox liefert einen ganz neuen Ansatz, Technologien für autistische Kinder mit autistischen Kindern zu entwickeln. In der Forschung sind solche Ansätze zur Gestaltung noch wenig bekannt. Wir müssen noch viel lernen, um zu verstehen, wie wir es anstellen, dass Kinder mit Autismus in die Lage versetzt werden können, ihre Ideen in den Gestaltungsprozess einzubringen. Martin und Martina haben uns aber jetzt schon gezeigt, wofür Technologien benutzt werden können, und uns in neue Anwendungsgebiete geführt, von denen wir vorher nichts wissen konnten. 75 I-JOURNAL Mai 2015 Ausgleich und Leistungsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung (Handreichung des 17. IBs) In meiner Tätigkeit als Mentorin für Schülerinnen und Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung unterstütze ich Kinder und Jugendliche im gesamten autistischen Spektrum mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptomatik sowie unterschiedlichen, teils sehr inhomogenen Begabungs- und Leistungsprofilen. Für mich selbst ist der Blick auf ihre Stärken, Besonderheiten und Beeinträchtigungen, die diese Entwicklungsstörung und die Individualität der einzelnen Kinder und Jugendlichen mitbringen, ein klarer und selbstverständlicher. Auch die Behinderungen, die diese Kinder und Jugendlichen täglich erfahren und die sich so stark auf ihr Lern-, Arbeits- und vor allem auch auf ihr Sozialverhalten auswirken, sind für mich meist schnell offensichtlich. Mir fällt es mittlerweile meist verhältnismäßig leicht, durch meine vielseitige Erfahrung und gutes Fachwissen aus einem Pool von Möglichkeiten auszuwählen, die eine Unterstützung bei der Bewältigung des Schulalltages und des Lernstoffs darstellen, die die Besonderheiten und Schwächen ausgleichen, um das kognitive Leistungsvermögen und die Kinder und Jugendlichen hinter der Symptomatik überhaupt zeigen zu können. Angefangen bei strukturellen Veränderungen zu personellen, räumlichen und zeitlichen Faktoren des Schulalltags und des Unterrichts über Anpassungen und Übungen zur besonderen sensorischen Wahrnehmung und Verarbeitung, Kommunikation, Sprache und Interaktion, bis hin zu Hilfestellungen aufgrund der besonderen Denk- und Lernstile im Bereich der Aufmerksamkeit sowie der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Dabei ist das visuelle Organisieren von zeitlichen Abläufen, das Finden von Hilfen zur Selbstorganisation bei der Arbeits- und Aufgabenplanung durch die Modifizierung und Strukturierung des Materials und der Aufgabenstellungen, der Einsatz unterstützender Unterrichtsmittel und auch das Finden von Entlastungsmöglichkeiten, Bestandteil und eigentlich sogar Grundlage meiner Arbeit und der Entwicklungsprozess steht immer im Mittelpunkt. 76 I-JOURNAL Mai 2015 Gerade die Arbeit als ambulante Pädagogin gibt mir hier die Möglichkeit, einen Blick auf die Kinder und Jugendlichen zu haben, der nicht oder nur wenig behindert ist, durch eine Zuordnung zu einer Kategorie wie z.B. einer Lehrplanzuordnung oder eingeschränkt durch eine Verantwortung, die Vergleichbarkeit der Leistung innerhalb einer Gruppe von Kindern zu gewährleisten, die Leistung zu bewerten und wenn notwendig auch nach außen zu begründen. Anders kann das aus der Perspektive der Sonderschulpädagoginnen und -pädagogen und den Volksschuloder NMS Kolleginnen und Kollegen in den Integration- und Regelschulklassen sein: Obwohl die persönliche Entwicklung und damit notwendige Individualisierung von Lehr- und Lernprozessen im Vordergrund stehen müsste, ist die Umsetzung der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern mit ASS natürlich bedingt durch Bemessung an standardisierten Lernzielen und Überprüfungen des Leistungsstandes, der dem Lehrplan angemessen sein muss. Die verlangte Einordnung in unser Notensystem, um die Leistung vergleichbar zu bewerten, lässt objektiv gesehen nur wenig Spielraum zu, eine Entwicklung, besonders in krisenbehafteten Zeiten, positiv zu benoten. Ich erlebe in diesem Bereich der schulischen Arbeit zunehmend Unsicherheiten bei meinen Kolleginnen und Kollegen die diese Bewertung durchführen müssen und spüre den Druck, dem sie ausgesetzt sind oder den sich selbst dadurch machen und der immer häufiger auch zu Konfliktsituationen führt, die das Schulleben zusätzlich belasten. Denn gerade die zunehmende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit ASS mit Regelschullehrplan der Volksschule oder Neuen Mittelschule lässt diesen Spagat zwischen der Anerkennung der positiven Entwicklung einerseits, und der Beurteilung der Leistung im direkten Vergleich mit den anderen Schülerinnen und Schülern andererseits, oft zu einer Herausforderung werden. Und dabei ist deutlich, dass eben nicht nur das Ziel der Partizipation am Schulleben im Mittelpunkt steht, sondern eben auch das Schaffen von (Rahmen-) Bedingungen um das persönliche Leistungspotenzial ausschöpfen zu können. Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung und durchschnittlicher kognitiver Intelligenz ist das Bereitstellen von sogenannten Nachteilsausgleichen und Entfernen von Barrieren für die Leistungserbringung ein leicht nachvollziehbarer Gedankengang. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, diesen Ausgleich in Form einer Seh- oder Hörhilfe, eines Rollstuhls, eines Leseapparats oder auch besonderen Materialien zur besseren Erfassung des Lernstoffes nicht bereitzustellen und zu verweigern. Auch die Möglichkeit einzuschränken, länger für einzelne Anforderungen zu brauchen und diese, mit Hilfsmitteln erreichten Leistungen schlechter zu bewerten, was im schlechtesten Fall eine Lehrplanabstufung bedeutet, ist eher undenkbar. Die Autismus-Spektrum-Störung stellt in vielen Fällen ebenso einen Nachteil dar, der durch zu treffende Maßnahmen ausgeglichen werden muss, um eine gerechte Basis zu schaffen, auf der Anforderungen erfüllt und Leistungswille und Leistung gezeigt werden können. Bei Schülerinnen und Schülern mit einer Autismus-Spektrum-Störung treten aber gerade in der praktischen Umsetzung besondere Schwierigkeiten auf. Warum? Autismus wird, besonders bei Schülerinnen und Schülern mit einer Regelschullehrplanzuordnung, in unserer Schullandschaft sehr undifferenziert wahrgenommen. Das liegt einerseits sicher an dem noch fehlenden Fachwissen auf breiter Ebene aber auch daran, wie uns das Störungsbild des Autismus‘ begegnet. Die Diagnose, die aus einer Verhaltensbeobachtung und -beschreibung gestellt wird, stellt anders als bei verschiedenen anderen Behinderungskategorien kein sehr objektives Mittel als Basis für die schulische Förderung dar. 77 I-JOURNAL Mai 2015 Es gibt keine eindeutige Zuordnung zu einer Körper- oder Sinnesbehinderung, was dazu führt, dass Autismus oft nur in der Symptomatik und daher als Verhaltensstörung wahrgenommen wird. Diese sichtbaren Verhaltensweisen lassen sich aber ohne entsprechende Fachkenntnis nicht so einfach auf die spezifischen Ursachen einer ASS zurückführen und werden dann in eine Schublade mit andern „Verhaltensauffälligkeiten“ gesteckt. Dadurch entstehen auch fehlangesetzte, pädagogische Interventionen, die nichts bewirken oder aber die Symptomatik und damit die Problematik für die gesamte Klassensituation verstärken. Das heißt, Autismus ist für viel Pädagoginnen und Pädagogen außer auf dem Papier, unsichtbar. Zusätzlich kämpft der Autismus im Schulsystem noch immer gegen eine unaufgeklärte Haltung. Denn die pädagogische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit ASS erfordert eine kleinstschrittige, entwicklungsorientierte und auch manchmal paradoxe Art der Auseinandersetzung, die eine Vielzahl von persönlicher Unterstützung, Extramaterial, Möglichkeiten der Entlastung, ein Finden von Ausnahmen und auch Rückschritte zulassen muss, ohne gleich am Gelingensprozess zu zweifeln. Das heißt, es erfordert von Pädagoginnen und Pädagogen die Perspektive zu verändern und hinter das Offensichtliche zu schauen und in anderen, neuen Strukturen zu denken, Werte und Normen zu überdenken und wenn nötig, auch eine Veränderung der eigenen Pädagogik und Rolle in Erwägung zu ziehen, auch wenn oder gerade weil Kinder und Jugendliche mit ASS uns Pädagoginnen und Pädagogen schnell an die scheinbaren Grenzen unseres Systems und auch an unsere eigenen pädagogischen Grenzen bringen. Unser Schul- und Unterrichtsalltag ist nach Regeln und sozialen Normen aufgebaut, die für Kinder und Jugendliche mit ASS oft nicht verständlich oder nicht wichtig sind. Das macht es schwer auch als gute Pädagogin oder Pädagoge handlungsfähig zu bleiben, wenn wir eben nicht lernen die Perspektive zu wechseln, neue Wege zu beschreiten, und uns Unterstützung und Wissen zu holen und eine andere, eventuell auch paradoxe Pädagogik neben der liebgewonnenen und bei den anderen Kindern der Klasse auch zielführenden anzuwenden. Der Nachteil, die individuelle Besonderheit oder Schwäche der diagnostizierten und anerkannten Entwicklungsstörung muss pädagogisch berücksichtigt werden, um möglichst gleiche oder zumindest ähnliche Grundvoraussetzungen für Kinder und Jugendliche mit ASS zu schaffen. Als Grundlage für den Nachteilsausgleich ist u.a. klarzulegen, dass • Schülerinnen und Schüler mit ASS oft ein inhomogenes Begabungsprofil haben, dass es für Außenstehende erschwert, das Leistungsvermögen konkret einzuschätzen. Dazu kommt, dass Lernen und Entwicklung oft in anderen Bahnen und anderen Schritten erfolgt. • es bei vielen Schülerinnen und Schülern mit ASS schwierig ist, ihre Kompetenzen, Fähigkeiten und Kenntnisse in der üblichen Vorgangsweise zu überprüfen, da sie diese oft in bestechend klarer 1:1-Reproduktion ohne erkennbarer Bearbeitungsphase präsentieren, oder dass eine Form von Lernen stattfindet, die von außen nicht (immer) eindeutig beobachtet werden kann. • das Leistungsvermögen durch Instabilität und andere, innere und äußere Umstände zwischenzeitlich so behindert sein kann, dass typische Symptomatik verstärkt auftritt und die Schülerinnen oder Schüler nur schwer in der Lage sind, adäquat auf jegliche Form der Anforderung zu reagieren. • Schülerinnen und Schüler mit ASS oft nicht in der Lage sind, ihre Leistung in den entsprechenden Unterrichts- und Prüfungssituationen abzurufen, da Stress und andere störende Faktoren schlechter kompensiert werden können. Ein Ausgleich soll den Schülerinnen und Schülern dabei aber keineswegs einen Vorteil verschaffen, sondern ihnen das ermöglichen, was andere ohne diese Beeinträchtigung erreichen können. 78 I-JOURNAL Mai 2015 Vor allem ist es dafür notwendig die Frage zu stellen: „Welchen Ausgleich braucht die Schülerin / der Schüler, um die Anforderungen erfüllen zu können?“ Das erfordert sowohl eine Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen als auch eine Auseinandersetzung mit der Art, wie der fachliche Inhalt von Pädagoginnen und Pädagogen präsentiert wird sowie von Schülerinnen und Schülern als erkennbare Leistung widergespiegelt werden soll. Diese pädagogisch qualitätsvolle Arbeit stellt eine Aufgabe sowohl an die Allgemeine Pädagogik als auch an die Sonderpädagogik. Eine gute Förderdiagnostik ist Grundlage für jede Zielsetzung und Umsetzung im Schulalltag und zu guter Letzt notwendig, um die Leistungsbewertung adäquat und mit einer pädagogischen Sicherheit durchführen zu können. Die Handreichung „Ausgleich und Leistungsbeurteilung bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung“ soll an dieser Stelle die Basis für die gemeinsame Förderarbeit und praktische Unterstützung zur Umsetzung im Schulalltag sein. Aufgebaut und abgeleitet aus dem Gleichbehandlungsgrundrecht und dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz enthält sie eine Einleitung zur Dimension der ASS, den rechtlichen Grundlagen zur Leistungsbeurteilung und Lehrplanzuordnung sowie eine Neuerung im Umgang mit dem Sonderpädagogischen Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen mit ASS und Regelschullehrplan in der Sekundarstufe 1. Konkrete, pädagogische Handlungsmöglichkeiten im Unterricht, Möglichkeiten der Veränderung von Rahmenbedingungen bei der Leistungsüberprüfung, erweiterte Möglichkeiten der Mitarbeitsanerkennung und Umsetzungsvorschlägen zur Bewertung der Leistung sollen das Spektrum aufzeigen, in dem die pädagogische Arbeit stattfinden kann. Mein Entwurf wurde von Herrn LSI Dr. Mag. Rupert Coarzza ergänzt und von Frau Dipl. Päd. Brigitte Mörwald strukturell und inhaltlich mitbearbeitet und mit meinen Kolleginnen vom Mentorinnen-Team im praktischen Teil ergänzt und fertiggestellt. Die Handreichung wurde herausgegeben vom 17.IB – zuständig für Inklusion, Integration und Sonderschulen im Bereich APS/SSR für Wien und ist über die Direktionen der ZIS und die I-Beratungsstelle zu erhalten. Dipl.Päd. Sabrina Haider Sonderschullehrerin, Praxislehrerin Mentorin für SchülerInnen mit ASS im Pflichtschulsystem Wien Referentin in der LehrerInnenfortbildung an der PH Krems und PH Wien 79 I-JOURNAL Mai 2015 Die soziale Netzwerkerin - eine neue tragfähige Rolle im pädagogischen Geflecht „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht die Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer." Antoine-Saint-Exupery „An einem Seeufer sitzt ein Mann und versucht, mit seinen Händen Fische zu fangen. Ein Wanderer kommt vorbei, klopft dem Fischer auf den Rücken und sagt: „He, guter Mann, komm ich zeige Dir, wie man ein Netz knüpft. Damit kannst Du viel schneller und mehr Fische fangen, als von Hand." Der Fischer ist so auf den See konzentriert, dass er kaum richtig zugehört hat. Ohne aufzublicken antwortet er dem Wanderer: „Keine Zeit. Ich muss jetzt Fische fangen." Rene Egli Beide Zitate beziehen sich auf reale Aspekte des Schullebens. Wir Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe unsere Schülerinnen und Schüler zu motivieren, ihnen das Fenster zum Leben zu öffnen, ihnen Verantwortungsbewusstsein näherzubringen und fachliche Inhalte zu vermitteln, in der Form, dass wir sie nach individueller Begabung fördern. Viele unserer Kinder können jedoch nicht mit Begeisterung annehmen, was in der Schule angeboten wird. Sie haben einen schwierigen Start, weil es Probleme im familiären Umfeld gibt oder weil ihnen nur begrenzt Ressourcen mitgegeben werden können, sowohl finanzielle als auch emotionale und soziale. Ursachen dafür gibt es viele. Nun brauchen aber junge Menschen für ihre Entwicklung Begleitung und Förderung - manche mehr als andere - und der Mangel an diesem Grundelement der Erziehung zeigt sich deutlich im Klassenzimmer. Probleme werden mitgebracht und entpuppen sich in den verschiedensten Formen als Unkonzentriertheit, als unkooperatives Verhalten oder schlicht fehlende Motivation am Lernen. Täglich nehmen Pädagoginnen und Pädagogen die Sorgen um die schwierigen Situationen der Kinder mit nach Hause und das nicht nur in Form von Gedanken. In der Praxis nimmt der Aufwand zu, denn es kommt zu vielen Elterngesprächen und Telefonaten mit dem Jugendamt. Formulare werden ausgefüllt, Untersuchungen beantragt, Helferkonferenzen organisiert, psychologische Betreuung veranlasst und so weiter. Ich nenne dieses Phänomen liebevoll den „Katastrophenalltag“ (Eckhard Schiffer, Heidrun Schiffer: Nachdenken über Zappelphilipp, Beltz Verlag 2002). Allzu oft kracht es im Klassenzimmer und man hat rundherum viel zu tun um die Krisen einzudämmen, auch lange nach Unterrichtsschluss. Es wäre möglich, ewig weiter aufzuzählen. An dieser Stelle soll jedoch ein kurzer Problemaufriss genügen, um das Wirrwarr an Aufgaben für das pädagogische Personal im Ansatz vorzustellbar zu machen. Bald ist der Rahmen gesprengt, in dem man als Team koordiniert „an einem Strang ziehen“ kann und dann kommt eventuell noch die eine oder andere Kleinigkeit hinzu, wie zum Beispiel eine Jugendliche oder ein Jugendlicher der eine Begleitperson braucht, um zum AMS zu gehen, im privaten Umfeld aber keine hat. Dann ist da noch das Kind das ständig fehlt. Schwierige Situationen wiederholen sich und jede Lehrerin und jeder Lehrer fängt immer wieder von vorne an zu organisieren, recherchieren, auch was die individuellen Vorgeschichten von Schülerinnen und Schülern betrifft. Wenn jede und jeder das Rad neu erfinden muss, bleibt Schule in ihrer Wirksamkeit sehr eingeschränkt. Schülerinnen und Schüler aus einem multifaktoriell belasteten Umfeld bringen diverse Komplikationen mit, das kann man nicht ändern. Die Auseinandersetzung damit ist notwendig, wenn man Kinder sinnvoll in ihrer Entwicklung fördern will. Aber nicht ohne Unterstützung. Die verschiedenen Institutionen die im System 80 I-JOURNAL Mai 2015 Schule mitwirken, bringen Personen ins Spiel, die zusätzlich zu Lehrerinnen und Lehrern Kinder in Spezialgebieten betreuen. Psychagoginnen und Psychagogen, Psychologinnen und Psychologen für psychologische Betreuung, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für Kinder aus sozial benachteiligten Umfeldern oder für Fälle, die im Zusammenhang mit Vernachlässigung und Gewalt stehen, Arbeitsassistenzen für Betreuung bei der Arbeitsfindung oder zur Begleitung im Beruf . Nun fehlt noch jemand, der den Überblick bewahrt und die Zeit hat, Maßnahmen durchzuführen, die in keiner der bisher genannten Rollen enthalten sind. Hier kommt die soziale Netzwerkerin ins Spiel, welche die Fäden zusammenhalten soll. Seit diesem Schuljahr darf ich diese Funktion an meinem Standort, der NMS Roda-Roda-Gasse 3, 1210 Wien durchführen. Im Folgenden sollen die Zielgruppe und die Aufgabenbereiche der Netzwerkerin beschrieben werden. Zielgruppen: • Schülerinnen und Schüler die aufgrund ihrer Lernfähigkeiten oder Lebenssituationen Unterstützung benötigen, dies aber durch andere Personen in der Schule nicht abgedeckt werden kann. • Schülerinnen und Schüler die von Absentismus betroffen sind. • Schülerinnen und Schüler die aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, Lehrplanzuordnung oder sozialen Situation Begleitung zu Institutionen benötigen. Das Ziel ist, Kinder und Jugendliche dort zu unterstützen, wo Maßnahmen vonnöten sind, die vom pädagogischen Personenkreis in der Schule nicht alleine getragen werden können. Die Hilfe, die von Seiten der Schule zur Verfügung gestellt werden kann, soll durch die Unterstützung der Netzwerkstelle effektiver und reibungsloser angeboten werden können. Die Bandbreite der möglichen Hilfestellungen soll um die im Weiteren beschriebenen Elemente ergänzt werden. Die Netzwerkstelle kann bestimmte Situationen, in denen ihr Einsatz vonnöten ist, fokussiert angehen und mit anderen Kolleginnen und Kollegen ein Netzwerk bilden, welches in Bezug auf das zu unterstützende Kind sprichwörtlich „an einem Strang“ zieht. Die Idee ist inspiriert von dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer1. Aufgabenbereiche: • Überblick bieten Die Netzwerkstelle erstellt und verwaltet einen Netzplan, der von allen pädagogischen Personen verwendet werden kann. Dieser beinhaltet für alle Kinder sämtliche Betreuungsformen, Erreichbarkeit der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, wichtige Ereignisse oder Maßnahmen und andere Informationen, deren schnelle Zugänglichkeit relevant sein könnte. • Maßnahmen koordinieren Bei personenübergreifenden pädagogischen Maßnahmen behält die Netzwerkstelle den Überblick, verfolgt den Verlauf der Durchführung, führt Gespräche mit den Beteiligten und organisiert die Netzwerkkonferenzen mit mehreren Personen. Je nach Situation führt sie bestimmte Maßnahmen selbst aus. • Gespräche mit dem Kind In Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern, die sich am Prozess beteiligen, kann die Netzwerkerin gezielte pädagogische Gespräche mit Schülerinnen und Schülern führen. 1 Haim Omer, Arist von Schlippe: Stärke statt Macht - Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde, Verlag Vandenhoeck &Ruprecht 2010 81 I-JOURNAL Mai 2015 • Begleitung des Kindes im Unterricht und zu Terminen • Unterrichtsbeobachtung Bei Schwierigkeiten im Unterrichtsgeschehen kann die Netzwerkpädagogin für Beobachtungen herangezogen werden. • Einzel- oder Gruppeneinheiten/ -besprechungen mit den Schülerinnen und Schülern über soziale und für den Unterricht relevante Inhalte Hierbei handelt es sich um die praktische Durchführung pädagogischer Ansätze der Lehrerinnen und Lehrer. • Unterrichtsstunden mit sozialen Inhalten • Vorgeschichte erheben und einbinden Situationen aus der Vergangenheit brauchen oft lange bis sie im Schulalltag in vollem Umfang zutage treten. Die Netzwerkstelle soll darum bei Auffälligkeiten ermitteln, ob es schon in der vorhergehenden Schule oder in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Probleme gegeben hat und wie diese ausgesehen haben. Hierbei lassen sich auch Erfahrungen in der Betreuung nutzbar machen. • Strategiebesprechungen planen und moderieren Im Fall einer personenübergreifenden Situation oder Maßnahme organisiert die Netzwerkerin die notwendigen Besprechungen, schlägt Strategien vor und setzt auch die teilnehmenden Personen im Verlauf der Durchführung in Kenntnis. • Weiterverfolgen der Durchführung des erstellten Maßnahmenplans, teilweise auch Durchführung an sich Wenn Maßnahmen beschlossen wurden, sollen sie durch die Netzwerkerin transparent gemacht werden. (Protokolle von Helferkonferenzen) • Kontakt zu außenstehenden Personen und Institutionen • Organisation von sozialen Projekten im Unterricht • Beratung bei institutionellen Fragen: Die Netzwerkstelle informiert auch über in bestimmten Fällen relevante Fristen, die Erreichbarkeit von Ansprechpersonen etc. • Suche nach Förder- und Beratungsmöglichkeiten im außerschulischen Bereich, auch für den Einsatz in der Schule 82 I-JOURNAL Mai 2015 Nun befindet sich die Netzwerkstelle dieses Schuljahr in einer Testphase. Ich durfte mit meiner Tätigkeit als Netzwerkerin mit einer Stunde pro Woche beginnen. Um die nötigen Vernetzungsaufgaben auch erfüllen zu können, brauche ich schlicht mehr Zeit. Eine solche Aufgabe braucht nicht nur persönliches Engagement, sondern auch Ressourcen für die Umsetzung. Das bringt mich wieder zurück zu dem Zitat mit dem Fischer. Zunächst kostet der Aufbau einer Netzwerkperson vielleicht mehr Ressourcen, als wenn man einfach so weiter gemacht hätte wie bisher. Eine bessere Vernetzung jedoch macht ein Schulteam effektiver, erweitert die Wirksamkeit von Maßnahmen und entlastet die einzelnen Beteiligten. In der Zusammenarbeit zeigt sich deutlich, dass sich durch das Netzwerk einiges bewegt hat. An dieser Stelle möchte ich mich bedanken bei Frau Direktor Mag. Petra Ebenauer, mit der ich diese Funktion aufbauen durfte und bei Herrn Direktor Peter Schwarzmann, Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums Wien 21, der mich unterstützt hat, die Vision ins Leben zu rufen. Hier die obig beschriebenen Erläuterungen zu den Aufgabenbereichen auf einen Blick: Mag. Bettina Demel, BEd arbeitet als Integrationslehrerin und soziale Netzwerkerin an der NMS Roda-Roda-Gasse 3, 1210 Wien bettinademel@gmx.at www.schulemitherz.wordpress.com 83 I-JOURNAL Mai 2015 „KRAFT-WERK“ Ein Projekt der Lernwerkstatt Donaustadt initiiert von DSA Andrea Walenta in Zusammenarbeit mit Mag. Alfons <Neby> Nebmaier unterstützt vom Aktivspielplatz Rennbahnweg Zeit: 2.10. - 22.10 2014 Kurzbeschreibung: Angelehnt an die Totempfähle indigener Stämme der amerikanischen Nordwestküste wurden annähernd 200 SchülerInnen zuerst inhaltlich durch Andrea Walenta und Alfons< Neby> Nebmaier an das Thema „Kraft! - Was gibt mir Kraft und macht mir Freud?“ herangeführt. Anschließend wurden von den Kindern und Jugendlichen Skizzen gemacht, auf vier Kiefernstämme übertragen und geschnitzt. Zum Abschluss wurden die Stämme nach dem Bemalen im Schulgarten aufgestellt und feierlich präsentiert. Ablauf: Traumreisen Klassenweise wurden die SchülerInnen durch eine Traumreise in das Thema eingeführt. Totempfähle, auch Wappenpfähle genannt, sind wie die Wappen des europäischen Mittelalters lesbar. Die Pfähle erzählen Geschichten über Herkunft und Erfahrungen ihrer HerstellerInnen. Angelehnt daran, sollten die Kinder und Jugendlichen überlegen was für sie Kraft bedeutet und woraus sie Kraft schöpfen. Das Thema wurde um den Begriff „Freude“ erweitert. Bäume schälen Ausgangsmaterial waren vier Kiefernstämme à 6 m Länge mit Rinde, die uns das Forstamt der Stadt Wien gespendet hatte. Aus der Not eine Tugend machend, haben viele Schüler erstmal Kraft und Zeit investiert um die Bäume zu entrinden. Durch diese Aktion entstand schnell ein klassenübergreifendes Wir-Gefühl. Die ersten Erfahrungen mit der Widerstandskraft eines Baumes und die sichere Nutzung von Werkzeugen wurden gemacht. 84 I-JOURNAL Mai 2015 Skizzen machen Parallel zum Entrinden begannen die SchülerInnen bereits Skizzen anzufertigen, um ihre entstandenen Ideen zweidimensional umzusetzen. Diese Skizzen wurden gleich im passenden Verhältnis für die langen, schmalen Stämme auf lange, schmale Papiere gezeichnet. Dabei wurde entschieden, dass alle Bäume in vier Teile unterteilt und jede Jahrgangsstufe in unterschiedlichen Höhen einen Part zur Bearbeitung hatte. Mit zunehmender Dauer des Workshops lösten sich die Unterteilungen zugunsten der Motive wieder auf. Jedes Kind konnte an mehreren Motiven mitarbeiten. Nach dem Übertragen der Skizzen wurden die Kinder und Jugendlichen im Gebrauch des Werkzeugs unterrichtet. Zum Einsatz kamen große Schnitzwerkzeuge, Kettensäge und Flex. Schnitzeisen nutzen die TeilnehmerInnen eigenständig, die Kettensäge nur unter Aufsicht. Während des kompletten Verlaufs hat sich kein/e TeilnehmerIn ernstlich verletzt! Die Technik des Schnitzens beschränkte sich in der Hauptsache auf Reliefschnitzereien, die sich maximal drei bis fünf Zentimeter über den Grund erhoben. Bemalen Nach Fertigstellung der Schnitzereien wurden diese, zur Verstärkung ihres Ausdrucks, farblich gestaltet. Aufstellen der Stämme Dank der engagierten Mutter einer Schülerin konnte eine Baufirma gewonnen werden, welche die fertigen Stämme kostengünstig im Schulgarten aufstellte. Präsentation der Stämme Nach der Aufstellung im Schulgarten gab es eine feierliche Präsentation mit allen SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern, UnterstützerInnen des Projektes, Vertretern des Stadtschulrats und dem Bezirksvorsteher. 85 I-JOURNAL Mai 2015 Bemerkenswertes: Neben dem insgesamt großen Interesse aller Teilnehmenden waren einige Kinder besonders engagiert bei der Sache. Diese kamen auch in den Pausen und erbaten sich Freistunden von den Lehrkräften um weiterarbeiten zu können. Besonders im Gedächtnis blieb ein autistischer Bursche, der zuerst Angst hatte, sich eine Hand abzuschneiden. Über das Zeichnen auf den Stämmen erhielt er die nötige Sicherheit um mit Schnitzwerkzeugen selbständig arbeiten zu können. Überraschend einfach fiel den SchülerInnen die Motivfindung und Umsetzung derselben. Obwohl es nicht ganz einfach ist, zeichnerische Fähigkeiten auf grobe Umrisse, passend zum Material zu reduzieren, gelangen markante und anschauliche Bilder. Leider konnte die geplante Zusammenarbeit mit der „kunstschule.wien“ nicht durchgeführt werden, weil diese zum Ende des Jahres 2014 geschlossen wurde. So war ein erheblicher Mehraufwand an privater Eigenleistung des Künstlers Alfons Nebmaier erforderlich, um das Projekt durchführen zu können. Das unentgeltliche Bereitstellen von Werkzeugen und eines Zeltes durch den Aktivspielplatz konnten die Kosten für das Projekt erheblich gesenkt werden. Interessant zu erwähnen ist, dass dieses Projekt evaluiert wurde. Sie bestätigte den überaus positiven Eindruck, der bereits während des Workshops spürbar war. 86 I-JOURNAL Mai 2015 Fazit: Das kreative und entspannte Miteinander ohne Leistungsbewertung fand bei allen viel Beifall. Aufgrund der offenen und wertschätzenden Atmosphäre an dieser Schule und während des Workshops wurden Ergebnisse erzielt, die weit über vergleichbare Projekte hinausgehen. Ein sehr gelungenes Projekt im Zusammenspiel von SchülerInnenn, KünstlerInnen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. 87 I-JOURNAL Mai 2015 Evaluierung des Projekts KRAFT-WERK Methode Teilnehmende Beobachtung beim letzten Projekttag im Schulhof am 15.10.2014 und vier Gruppenbefragungen mit am Projekt beteiligten SchülerInnen aller vier Jahrgänge (rund 15-20 Kinder) Teilnehmende Beobachtung/Erstes Resümee: Sozialarbeiterische Interventionen: DSA fällt auf, dass ein Mädchen abseits sitzt und nicht mitmacht; im Gespräch über ein Motiv, mit der „falschen“ Farbe, spricht das Mädchen sehr schnell ihren Frust an und es werden sehr persönliche Dinge besprochen; Mädchen erhält Zuwendung, Zuneigung (Umarmung) und Gespräch mit konkreten Ideen/Tipps Berufsorientierung: Ein Bursche schildert beim Arbeiten, dass ihm die Holzarbeit gefällt, dass sein Bruder seine Schnupperpraxis in einer Tischlerei macht und dass eine Tischlerlehre u. U. eine Option wäre; Erkenntnis, dass es sich bei dieser Tätigkeit um Arbeit handelt. Nachhaltigkeit: Für die Kinder ist es etwas Bleibendes, auch wenn sie nach vier Jahren nicht mehr in der Schule sind Die SchülerInnen sprachen in den Interviews die zentralen Dimensionen der Gesundheitsförderung an (wissenschaftlich übersetzt:) Partizipation, Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit (körperliche, psychische und soziale Gesundheit), Nachhaltigkeit Ganz zentral in Gesundheitsförderungsprojekten mit der Zielgruppe Kinder und Jugendliche ist der „Spaßfaktor“, Angebote müssen Spaß machen: Dass es gelungen ist, wird sehr oft von den Befragten angeführt. Die Kinder machen im Projekt Lernerfahrungen auf mehreren Ebenen und bestätigen somit die Zielsetzung des Projektes: Handwerk, Teamarbeit, sozialer Zusammenhalt werden oft erwähnt; sie scheinen auch ihre Identität mit ihrer Schule zu stärken, weil sie den Garten verschönern, sich beim Dank der Direktorin gegenüber beteiligen und etwas von sich selbst zurücklassen. Es ist „ihr“ Projekt, einige zeigen mir nach der Erläuterung der einzelnen Symbole den Platz, wo die Pfähle hinkommen, erläutern, die Nebennutzung (Fußballtore) und zeigen mir, wo die Rindenschnitzel der Kiefern gelandet sind. 1 88 I-JOURNAL Mai 2015 Fragestellungen und Protokoll der Befragungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. Warum macht Ihr hier mit? Wie gefällt euch das Projekt? Wieso findet dieses Projekt an eurer Schule statt? Wisst Ihr, wie das Projekt heißt? Warum heißt es KRAFT-WERK? Wenn Ihr auf das zurückblickt, was Ihr hier gemacht habt: Was habt Ihr dabei gelernt? Wie ist das Projekt in Eurer Klasse angekommen? Gab es Kinder, die nicht mitgemacht haben? Wisst Ihr, wieso sie nicht mitgemacht haben? 7. Verbesserungsvorschläge Frage 1: Warum macht Ihr hier mit? 1.Klasse um eigene Ideen in den Baum zu schnitzen und das hat dann eine Bedeutung (z.B. soll der Engel die ganze Schule beschützen); die Idee hat gefallen, Handwerk, macht Spaß und ist lustig ich arbeite gerne mit Holz 2. Klasse ist lustig und macht Spaß; ist interessant so etwas zu machen; macht nicht jede Schule, es ist echt cool geworden, es ist einmalig 3. Klasse Das Projekt ist freiwillig; wer will, geht hinaus und macht mit, nachdem er die Lehrerin gefragt hat. 4. Klasse ist interessant und etwas Besonderes, macht Spaß; da bleibt was; Frage 2: Wie gefällt euch das Projekt? 1.Klasse es ist sehr interessant, was eigenes zu schaffen und man kann stolz sein es ist einfach eine Ehre, das zu machen die Bäume sagen etwas 2. Klasse Nebi hat ihnen nur gezeigt, wie es geht und hat ihnen Tipps zur Verbesserung gemacht und sie gelobt (gut gemacht); Nebi mit der Kettensäge war urcool; 3. Klasse gut, sehr gut; würde sofort wieder mitmachen, macht Spaß man ist an der frischen Luft man kann sich austoben, man kann mit Werkzeug arbeiten, mir gefallen die Farben und das Malen 4. Klasse ist sehr gut, urcool alles; hat Spaß gemacht, etwas Neues zu machen; das macht man nicht jeden Tag, ist etwas Besonderes 2 89 I-JOURNAL Mai 2015 wir machen etwas aus einem Baum, obwohl wir das nicht gelernt haben es ist ein Superprojekt, wo alle Jahrgänge mitmachen konnten; sie haben sich dadurch auch besser klassen-/jahrgangsübergreifend kennengelernt Nabi hat genau gezeigt, wie man etwas macht, war urcool Frage 3: Wieso findet dieses Projekt an eurer Schule statt? 1.Klasse haben wir für die Direktorin gemacht und die Nachbarn können sehen, in welche schöne Schule wir gehen 2. Klasse das ist eine Überraschung für die Direktorin beim Abschlussfest 3. Klasse : es ist für die Abschlussfeier der Direktorin 4. Klasse damit wir die Teamarbeit lernen und der Garten schöner wird Frage 4: Wisst Ihr, wie das Projekt heißt? Warum heißt es KRAFT-WERK? 1.Klasse Totempahl 2. Klasse Totempfähle, weil das eigene Kraft gibt, das wird hier verewigt, wir haben uns überlegt, welche Tiere oder was uns Kraft gibt, der Name Kraftwerk ist super „Mir gibt die Eule Kraft, weil mich das an meine Oma erinnert“ 3. Klasse (2 Kinder): Namen kennen sie nicht 4. Klasse kennen den Begriff KRAFT-WERK, verstehen aber den Zusammenhang nicht, erinnert an Atomkraftwerk meint eine, ein anderer mutmaß, weil man mit Kraft arbeiten muss Frage 5: Wenn Ihr auf das zurückblickt, was Ihr hier gemacht habt: Was habt Ihr dabei gelernt? 1.Klasse mit dem Hammer arbeiten ist schwierig, aber das überstehende Holz muss weggemacht werden mit Werkzeug umgehen was manche Zeichen bedeuten Aufpassen und sich nicht weh tun aus einem Baumstamm etwas richtig Schönes machen so ein Projekt kann man nur gemeinsam machen, sonst braucht man Stunden oder ein Jahr, man braucht die Teamarbeit (Nebi war mit der Kettensäge schon etwas schneller) 2. Klasse zuerst auf Papier Skizzen entwerfen, jedes Kind hat sich ein Motiv überlegt, sie haben alles selbst gemacht wenn man sich schlecht fühlt, kann man sich Kraft holen wie man mit Werkzeug umgeht, z.B. mit Hammer wie man groß malt 3 90 I-JOURNAL Mai 2015 dass diese Arbeit anstrengend ist (körperlich) und dass die Arme nachher weh tun dass man genau hinschauen muss, wo man klopft, dass man überhaupt aufpassen muss 3. Klasse (2 Kinder): Umgang mit neuen Werkzeugen; Nebi hat uns gezeigt, wie man mit Werkzeug umgeht. 4. Klasse es ist eine Zusammenarbeit, man lernt im Team zu arbeiten; man lernt aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich abzusprechen Entwurf auf Papier wie ein Baum geschält werden muss genau zu sein, richtig schauen; Umgang mit Werkzeug dass nicht immer alles geht: einer war zu spät und hatte dann kein eigenes Symbol mehr Nachdenken und dass es Zeichen gibt, die uns glücklich machen (Schokolade, Musik) Frage 6: Wie ist das Projekt in Eurer Klasse angekommen? Gab es Kinder, die nicht mitgemacht haben? 1.Klasse war freiwillig, aber weil es so toll ist, hat fast jeder mitgemacht; nur ein paar Faule haben lieber gespielt 2. Klasse in den verschiedenen 2. Klassen haben fast alle mitgemacht, 1 Kind das sich nicht beteiligt, hat nicht mitgemacht erzählt ein Bub (ist faul und schaukelt lieber) Manche lachen auch über das Projekt und würden nicht auf ihre Pausen und Freizeit verzichten 3. Klasse (2 Kinder): unterschiedliche Ansicht: sehr viele aus der Klasse haben mitgemacht/nur 5-6 Kinder haben mitgemacht 4. Klasse alle wollten mitmachen, ging aber nicht gleichzeitig und es wurde aufgeteilt, es ist in ihrer Klasse sehr gut angekommen, sie haben sogar in der Freizeit und Pause gearbeitet Frage 7: Verbesserungsvorschläge 1.Klasse nein, ich würde das sehr gerne öfters machen 2. Klasse jeder soll sein Motiv selbst anmalen, sind zum Teil mit der Farbauswahl nicht zufrieden; jeder sollte ein eigenes Motiv haben oder eine Gruppe gemeinsam; wenn man die Motive kleiner gestaltet, haben mehr Platz 4. Klasse jeder sollte ein kleines Zeichen haben, man sollte den Baum auch auf der Rückseite bemalen blöd war, dass Nebi zwei Tage krank war, so sind sie in Verzug geraten 4 91 I-JOURNAL Mai 2015 Lesbische Lehrerinnen, schwule Lehrer oder Reflexionen zur Diversität des Systems Schule Prolog Mai 2014. Wir befinden uns im Büro der Antidiskriminierungsstelle der Stadt Wien für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen. Anwesend sind Mag. Wolfgang Wilhelm, der Leiter der Antidiskriminierungsstelle, Dipl.-Päd. Markus Pusnik und Dipl.-Pädn. Melanie Tassev. Wir suchen einen Namen. Prägnant soll er sein und darüber hinaus aber verdichtet ein Anliegen präsentieren. Nach vielen Versuchen formt sich, zuerst vage und zweifelnd, dann eher zustimmend ein Wort: AUSGESPROCHEN. In diesem Begriff vereint sich Betonung, Handlung und Sichtbarkeit. – Doch worum geht es? Was soll AUSGESPROCHEN werden? Und dem Umkehrschluss folgend: Wurde denn bisher etwas verschwiegen? Rückblick Beginnen wir vielleicht mit meiner Person: Ich heiße Markus Pusnik und bin als Sonderschullehrer für den Wiener Stadtschulrat tätig; darüber hinaus kennzeichnet mich die simple Tatsache, dass ich schwul bin. In dieser Aussage begegnen wir dem Spektrum eines Teilbereichs meiner Identität und meiner beruflichen Funktion. Die hier betonte Trennung zwischen Sein und Tun ließe die konsequente Haltung einfordern, wonach eine so gedachte Differenzierung jederzeit ihre Gewichtung in beruflichen beziehungsweise privaten Kontexten Geltung beanspruchen dürfte. Das heißt also, ich arbeite als Lehrer und das ist meine funktionelle Aufgabe. Ich bin schwul und das ist meine Privatsache. Eine gegenseitige Einflussnahme dieser „Positionen“ hat nicht stattzufinden. Diesen Ansatz vertrat ich auch, als ich mich vor 15 Jahren meiner Aufgabe als Sonderschullehrer gestellt habe: Der pädagogische Auftrag, die Vermittlung von Wissen und Grundwerten stehen im Vordergrund, meine Person rückt dadurch in den Hintergrund. Die pädagogische Wirklichkeit und der Berufsalltag erzählten mir jedoch eine andere Geschichte. Kinder und Jugendliche wollen wissen, mit wem sie es da im Unterricht zu tun haben. Fragen nach meiner Privatheit werden gestellt, meine Authentizität durch kritische Beobachtung überprüft. Eltern und Erziehungsberechtigte wollen meine pädagogische Expertise durch eigene Erziehungsbetroffenheit fundiert wissen, manche möchten mich sogar in einer stabilen Beziehung verankert sehen. Auch im Kollegium wird nicht nur über pädagogische Belange gesprochen, sondern vor allem werden beim morgendlichen Kaffee Alltagserfahrungen reflektiert. In all diesen Fragen, den kritischen Berechtigungsabklärungen der Erziehungsberechtigten und den Erzählungen im Kollegium wurde jedoch stets ein heterosexuelles Identitätskonzept von mir vorweggenommen. Ich bin ein Mann und darum wurde ich nach einer Frau und Kindern gefragt. Diese kulturell idealisierte und simplifizierte Kausalkette bildet scheinbar das Zentrum aller möglichen diskursiven Fragestellungen und damit begreifbaren Erkundungen meiner Existenz und meiner Befähigung als Lehrer. So gesehen wurde mir klar, dass die Schülerinnen und Schüler, das Kollegium, die Eltern oder Erziehungsberechtigten und die Schulhierarchie in einem solcherart erzählten und betont heteronormativen Geflecht miteinander verwoben sind. Ich bin also stets in meiner Funktion mit einem vermuteten Identitätskonzept von mir konfrontiert, das bewahrheitet und bestärkt werden möchte. In diesem pädagogischen Setting werde ich auch privat mitgedacht. Hier stehe ich als Lehrer und vor allem als Mensch. Meine Antwort auf die bohrenden Fragen und Vermutungen war ein sich jährlich wiederholendes Coming Out bei den neuen Schülerinnen und Schülern, aber auch im Lehrerinnen- und Lehrerzimmer bei neuen Kolleginnen und Kollegen. Und, wenn es sich ergeben wollte, auch bei den Erziehungsberechtigten. Seit meiner Verpartnerung 2011 ist aufgrund meines veränderten Personenstandes auch mein Dienstgeber über meine Lebensidentität informiert. Dabei stand und steht allerdings der Versuch im Vordergrund, mein Coming Out nicht bühnengleich als Besonderheit zu inszenieren, sondern mit Alltagssprache abseits von 92 I-JOURNAL Mai 2015 Anlassbezogenheiten auszusprechen. Ich möchte jedoch keine langen Geschichten darüber erzählen, welche der bisherigen Reaktionen zu meiner Offenheit mich verblüfft, bestärkt oder auch zermürbt haben, und wie viel Aufklärungsarbeit manchmal nötig war, welche sich an mir als Rollenmodell schärfen, reiben und abarbeiten musste. Ich will hier betonen, dass im Sonderpädagogischen Zentrum Holzhausergasse unter der Leitung von Sonderschuldirektorin Regine Gratzl, an dem ich viele Jahre gerne unterrichtet habe, Diversität innerhalb der Schulhauskultur sichtbar verhandelt wird. Verschiedenheit, Abweichungen, Buntheit sind hier nicht nur eine Didaktik des Anderen und Fremden, die sich mit „blätternden Buchseiten“ aufgrund neuer Themen wieder verliert. Innerhalb dieser Schulhauskultur konnte ich meiner Aufgabe als Lehrer nachkommen und schwul sein. Ich war nicht Projektionsfläche und Signal, sondern Vermittler eines allgegenwärtigen Konzepts der „diskriminierungsfreien Zone“ Schule. Individuelle Erfahrungen Im Lauf dieser 14 Jahre ist mir allerdings sehr klar geworden, dass MEIN Erleben und MEINE Wahrnehmungen nicht repräsentativ für lesbische, schwule oder bisexuelle Lehrerinnen und Lehrer im Kontext Schule sind. Themen wie transgender oder auch Intersexualität sind noch nicht einmal mitgedacht oder gar ausgesprochen worden. Zusätzlich wurde ich auf fehlendes Wissen beziehungsweise große Mythen in diesen Belangen aufmerksam gemacht. Ich habe Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, die ihre sexuelle Orientierung nicht thematisierten und sich sogar heterosexuelle Parallelidentitäten zurechtgelegt haben, welche sich normiert beruhigend erzählen ließen. Dahinter steht die oft recht bedrohlich erlebte Frage: Würde ein Coming Out, eine authentische Darstellung der eigenen Persönlichkeit zu strukturellen Diskriminierungen im Arbeitsumfeld führen? In zahlreichen Gesprächen habe ich erkannt, dass das Thema lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, intersexuell (kurz LGBTI – als Abkürzung für lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual) didaktisch aufbereitet beinahe ausschließlich für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung gestellt wird, weil diese Identitätskonzepte wie zuvor beschrieben scheinbar nur außerhalb von Schule (!) vermutete Minderheiten betreffen. Das Thema wird dementsprechend (wenn überhaupt) als Wissensvermittlung eingestuft, aber kaum als lebendige Gegenwart zur Kenntnis genommen. LGBTI im Lehrerinnen- und Lehrerkontext findet – drastischer noch – keine ausgesprochene Sichtbarkeit, sondern im Gegenteil bemühte Verschwiegenheit. Sei es, aber sprich nicht darüber! Erste Zwischenbilanz Mein persönliches Erleben und die Erfahrungen von LGBTI Kolleginnen und Kollegen miteinbeziehend konnten erste Thesen formuliert werden: Das persönliche Identitätskonzept ist im Setting Schule niemals nur Privatsache. Eine hohe Anzahl von LGBTI Lehrenden formuliert demgegenüber jedoch die Befürchtung, dass ein Coming Out, also ein Ansprechen der sexuellen Orientierung oder auch der sexuellen Identität strukturelle Diskriminierung beziehungsweise Mobbing nach sich ziehen würde. Das bedeutet, dass sich eine nicht unwesentliche Zahl von LGBTI Lehrenden nicht ausreichend im Sinne der Antidiskriminierungsrichtlinien am Arbeitsplatz geschützt beziehungsweise vertreten fühlt. Die Konsequenz Das Treffen im Mai 2014 im Büro der Antidiskriminierungsstelle der Stadt Wien für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen hatte also folgende Begründung: Mit Unterstützung von Wolfgang Wilhelm als Leiter der Antidiskriminierungsstelle haben Melanie Tassev und ich, Markus Pusnik, den ersten Verein für LGBTI Lehrerinnen und Lehrer in Österreich gegründet. Der Name dieses Vereins lautet: AUSGESPROCHEN! 93 I-JOURNAL Mai 2015 Einen Verein zu gründen, der sich im Spektrum LGBTI und Lehrerinnen und Lehrer bewegt, hat allerdings weitreichende Konsequenzen. Als Repräsentantin und Repräsentant einer LGBTI Organisation stellt man sich einer Öffentlichkeit, die wir selbst nicht mehr in einem bewussten Akt auswählen können. Natürlich haben wir uns auch die Frage danach gestellt, ob wir uns mit der ausgesprochenen Deutlichkeit des Vereins auch Mobbing und Anfeindungen aussetzen könnten, die nicht nur in beruflicher, sondern auch in privater Hinsicht nachhallen würden. Diesen Vorbehalten zum Trotz haben wir uns entschieden für unsere Rechte einzutreten, gegen Verschwiegenheit bewusst und aktiv vorzugehen, sowie mit unserer Vereinsarbeit unterstützend zur „diskriminierungsfreien Zone“ Schule beizutragen. Ich möchte im folgenden Abschnitt die drei Schwerpunkte der Arbeit des Vereins AUSGESPROCHEN! prägnant formulieren und die dahinter liegenden Ziele darlegen. Ausgesprochen: Diskussion Den ersten und essenziellen Punkt der Vereinsarbeit stellt die Diskussion dar. In den monatlichen Vereinstreffen möchten wir mit LGBTI Lehrenden und auch mit daran interessierten Pädagoginnen und Pädagogen über individuelle Erlebnisse und Erfahrungen sprechen. Wir möchten zuhören, uns in die Schwierigkeiten aber auch Erfolge als lesbische, schwule, bisexuelle, transgender oder intersexuelle Lehrende einhören. Dahinter steht natürlich einerseits die Idee des Aufbaus eines Netzwerks, das Stabilität, Sicherheit und Stärkung vermittelt und betont: Du bist mit deinen Wahrnehmungen nicht alleine! Darüber hinaus sollen über die monatlichen Reflexionen Schwerpunktthemen erkannt und formuliert werden, die imstande sind, aus Einzelerlebnissen strukturelle Dynamiken und Schwerpunkte abzuleiten. Dadurch sollen Formulierungen und Diskussionen ermöglicht werden, die sich auch theoretisch benennen und erklären lassen. Ein hilfreicher kulturtheoretisch fundierter Blick ermöglicht sachliche und fundierte Argumentationslinien zur Einführung von Antidiskriminierungsmaßnahmen am Arbeitsplatz Schule. Ausgesprochen: Aufklärung Wir bieten innerhalb unserer Vereinstätigkeit auch die Möglichkeit an, Workshops an Schulen oder pädagogischen Institutionen abzuhalten, welche die noch immer besondere Situation von LGBTI Lehrerinnen und Lehrern betont anspricht. In einem weiteren Schritt möchten wir in dieser Klarheit auch eine Einbettung in die Antidiskriminierungsrichtlinien am Arbeitsplatz benannt wissen. Erste Erfahrungen bei Workshops, die wir an der Pädagogischen Hochschule in Wien abhalten konnten, bestätigen das Interesse und auch die Notwendigkeit der Aufklärung im Themenspektrum LGBTI. Damit möchten wir aber auch darauf hinweisen, dass der Kontext LGBTI und Schule natürlich immer einen didaktischen Moment, die Vermittlung von Kompetenzen, beinhaltet, aber mehr noch fokussieren wir mit unserem Angebot auf arbeitsrelevante Bedingungen als Lehrerinnen und Lehrer. So möchten wir aber ebenso dem Mythos entgegenwirken, wonach Betroffenheit konsequent zur didaktisch-methodischen Kompetenz führt. LGBTI mit Schülerinnen und Schülern zu diskutieren und gleichberechtigt zu benennen ist Sache von allen und nicht nur von einer „exklusiven“ Gruppe. 94 I-JOURNAL Mai 2015 Ausgesprochen: Projekte Das Schulhaus ist konzentrierte heterosexuelle Wahrheit. Hinter dieser bewusst provokanten These steht die Annahme, dass der schulische Alltag dominierend heteronormativ gestaltet ist. Leserlernfibeln, die noch immer traditionelle Familienformen hochhalten, Textbeispiele in Mathematikbüchern, die heterosexuelle Diskursgeschichten und genderrelevante Ungerechtigkeiten mit der vordergründigen Logik der Rechenaufgabe überdecken wollen: Es gibt sie in diesen Textbeispielen tatsächlich noch immer, die gut verdienenden, namentlich genannten männlichen Spezialisten in der IT-Branche und dem gegenüber die namenlosen Mütter, die zu anderen Familien putzen gehen und damit eine Einkommensschere beschreiben, die sogar die Realität bei weitem übertrifft, von LGBTI Realitäten ganz zu schweigen! Verweise von Lehrerinnen und Lehrern auf Mamas, die bei den Aufgaben helfen, weil die Papas in der Arbeit sind. Dieser kleine und nicht ganz vollständige Auszug aus der Lebenswirklichkeit Schule ist Anlass für uns, auf Diversität und Vielfalt hinzuweisen. Diese diverse Dynamik kann sich aber nur über eine solcherart gestaltete Schulhauskultur entfalten. Mit Plakatsujets, Kampagnen und Projekten möchten wir den Dialog aber auch die kontroverse Diskussion anregen, die letztendlich zu einer ausgesprochenen Sichtbarkeit von LGBTI führen kann. Das erste Jahr der Vereinsarbeit Im Mai 2015 besteht der Verein AUSGESPROCHEN! nunmehr ein Jahr. Workshops und zahlreiche Vernetzungstreffen liegen bereits hinter uns. Wir freuen uns darüber, auch im produktiven Dialog mit dem Wiener Stadtschulrat zu stehen. Termine bei der Pädagogischen Hochschule haben nachhaltiges Interesse an unserer Vereinstätigkeit gezeigt. In gewerkschaftlicher Hinsicht konnten wir zumindest Anfragen formulieren und uns somit lesbar machen. Das erste Jahr hat uns allerdings auch ganz klar gezeigt, dass das Thema LGBTI und Lehrerinnen und Lehrer einen noch immer gewagten Inhalt darstellt, der äußerst sensibel gedacht und betont verhalten ausgesprochen werden sollte. Mythen, vermutetes Wissen und das komplizierte schulische Gefüge bewirken oftmals Stillstand, da jeder klar bekennende Zugang im Widerspruch zu einer der Anforderungsgruppen im Schulsystem stehen könnte. So wurde beispielsweise eine Kollegin dazu angehalten, sich nicht vor den Schülerinnen und Schülern als lesbisch zu outen, da sie sonst vor möglichen interkulturell motivierten (verbalen und körperlichen!) Attacken nicht zu schützen sei. Diese kleine narrative und unerhörte Vignette ist insofern bemerkenswert, als ihr die Komplexität der eigentümlichen Herausgehobenheit des Schulhauses zugrunde liegt. Wolfgang Müller-Funk bezeichnet Kultur als Ensemble von Erzählungen1. Diese Narrative vermögen Sinnstiftung und kulturelle Identifikation zu etablieren. Im Schulhaus begegnen sich, ergänzen sich und kollidieren mitunter allerdings Kulturen. Allein diese Konzentration zeigt klar die Herausforderungen, die an Diversität und Antidiskriminierung gestellt werden. Grafik: Ausgesprochen!, Gestaltung Tassev/Pusnik © 2014 1 vgl. Müller-Funk, Wolfang, Die Kultur und ihre Narrative, Wien/New York: Springer 22008. 95 I-JOURNAL Mai 2015 Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Zugänge möchten wir als Schulhaus-Kultur begreifen, wie die Grafik veranschaulicht. Für diese Atmosphäre möchten wir Angebote zur Verfügung stellen und uns somit noch mehr im Kanon Diversität und Inklusion verortet wissen. LGBTI hat sicher kein Alleinstellungsmerkmal, aber an ihrer Ausgesprochenheit überprüft sich ganz klar eine umfassendere Schulhauspolitik der Toleranz und Akzeptanz. Epilog Mit dem Schuljahr 2014/15 habe ich einen neuen Aufgabenbereich im Rudolf Ekstein Zentrum unter der Leitung von Sonderschuldirektorin Madeleine Castka als mobiler Mosaiklehrer übernommen. An meiner neuen Stammschule war von Anfang an klar, dass ich mich mit meiner ganzen Persönlichkeit einbringen kann und die Transparenz meiner umfassenderen Identität bei mir liegt. So gesehen wurde mir das Gefühl vermittelt, mich entscheiden zu können. Am Rudolf Ekstein Zentrum selbst wurde die Agenda „Gender“ zudem um den Bereich „Queer“ erweitert. Innerhalb meiner mobilen Tätigkeit erlebe ich viele Schulen in Wien und kann für mich sagen, dass ich wohl wieder einmal Glück gehabt habe, an eben jenem Rudolf Ekstein Zentrum tätig sein zu können. Das ist allerdings auch der Widerstand, der sich in mir bemerkbar macht. Die Entscheidung, ob ich mich nun als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder intersexuell oute, darf keinen Glücksfaktor in sich bergen, sondern muss durch ein gelebtes, anerkanntes und gesichertes Fundament gestützt werden. Dafür stehen wir als Verein AUSGESPROCHEN! und daran wird sich der Erfolg unserer Arbeit messen lassen. Kontakt Internet: Mail: Telefon: Facebook: www.ausgesprochen.cc mail@ausgesprochen.cc +43/664 8850 7576 facebook.com/ausgesprochen.cc P.S.: Die Teilnahme an Vereinssitzungen oder die Mitarbeit an Projekten ist natürlich nicht an sexuelle Orientierungen gebunden. Wir freuen uns über JEDE Unterstützung. P.P.S.: Besonderer Dank für den begleitenden und kritischen Entstehungsprozess des Artikels gebührt der Kassierin und Lektorin des Vereins Susanne Kollmann! Dipl.-Päd. Markus Pusnik, BEd, BA Obmann des Vereins Ausgesprochen! LGBTI Lehrerinnen und Lehrer geb. 1974, Lehramt für Sonderpädagogik, Ausbildung in Theater- und Psychodramapädagogik, Bachelorstudium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, derzeit als mobiler Mosaiklehrer für das Rudolf Ekstein Zentrum in Wien tätig, mehrjährige Erfahrung mit Schulentwicklungsprozessen, Leitung von Workshops mit Schwerpunkt LGBTI und Schule, genießt Theater und Film - am liebsten mit seinem Mann. Kontakt: markus.pusnik@gmx.net 96 I-JOURNAL Mai 2015 Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und Perspektiven zum Umgang damit im Schulalltag Er könnte so viel mehr, würde er nur das tun, was man ihm sagt. Manchmal habe ich das Gefühl, sie sieht durch mich durch, wenn ich ihr etwas sage. Solche und ähnliche Sätze gleiten oftmals beinahe unbemerkt über die Lippen jener, die sich mit Kinder konfrontiert sehen, die zwar organisch einwandfrei hören, aber dennoch nicht zuhören zu scheinen. Wie lässt sich die so genannte Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (im weiteren Verlauf des Textes mit AVWS abgekürzt) beschreiben? Die deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V. (im weiteren Verlauf des Textes mit DGPP abgekürzt) versteht darunter in ihrer aktuellsten Leitlinie „die Störung der Verarbeitung (Hirnstammniveau) und Wahrnehmung (höhere auditive Funktion unter Einbeziehung kognitiver Funktionen) der nervalen Impulse“1. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Wie sieht das aus? Als Anzeichen eines Vorliegens einer solchen, nicht funktionalen Störung, nennt die DGPP2: • Probleme mit dem Verstehen auditiver Informationen • Missverständnisse bei verbalen Aufforderungen • verlangsamte Verarbeitung von verbalen Informationen • verzögerte Reaktion auf auditive oder verbale Stimuli • schwaches auditives Gedächtnis • gestörte Erkennung und Unterscheidung von Schallreizen • gestörte Schallquellenlokalisation • Einschränkungen des Sprachverstehens und des Fokussierens im Störgeräusch • Einschränkungen beim Verstehen von veränderten Sprachsignalen (z.B. unvollständige oder in der Redundanz reduzierte Sprachsignale), sowie • die Beeinträchtigung der auditiven Aufmerksamkeit. Besonderen Fokus sollte allerdings bei der Diagnose, eines diese Symptome aufweisenden Menschen, darauf gelegt werden, ob eventuell ergänzende oder rundweg andere Störungen, wie Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine kognitive Defizite oder modalitätsübergreifende mnestische Störungen vorhanden sind. Ein Vorliegen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung ist dann anzudenken, wenn sich durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests Einschränkungen nicht-sprachgebundener und sprachlicher Signale nachweisen lassen. 1 2 Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/DGPP-Leitlinie-AVWS-2010.pdf S.3 25.01.2015 12:09 Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/DGPP-Leitlinie-AVWS-2010.pdf S.4ff 25.01.2015 12:09 97 I-JOURNAL Mai 2015 Die oben genannten Anzeichen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung können im Schulalltag unter anderem folgendermaßen auffallen3: • Andauernd übermäßiges leises Sprechen • Andauernd übermäßiges lautes Sprechen • Allgemein „lärmig“ im Umgang • Andauernd auffällig monotones Sprechen • Langes Andauern gewisser Sprachfehler (besonders f, s, sch) • Allgemeine Verhaltensunsicherheit • Schaut oft, was die anderen machen • Viele Rückfragen, Vergewisserungsfragen • Relativ häufiges unmotiviertes („unerklärliches“) Erschrecken, z.B. wenn jemand von hinten an das Kind heran tritt • Reagiert schlechter in lauten oder halligen Räumen • Inhaltlich von der Frage abweichende Antworten • Inhaltlich von der Aufforderung abweichende Leistungen • Verwechseln ähnlich klingender Wörter: Fisch –Tisch, Kopf – Topf • Besseres Aufgabenverständnis in Einzel- oder Kleingruppensituationen • Auffälliges Interesse an Mundbewegungen und Mimik • Reklamation, wenn zu leise gesprochen wird • Orientierungslosigkeit bei Ansprache • Durch andere Reize (visuell oder auditiv) schnell abgelenkt • Kein oder nur kurzzeitiges Interesse an Geschichten • Deutlich eingeschränkte auditive Merkfähigkeit (Abzählreime, Liedtexte etc.) Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Wer stellt sie fest? Sollte nach eingehender Beobachtung durch den Lehrkörper, das Elternhaus, anderer Bezugspersonen der Verdacht auf AVWS vorliegen, empfiehlt sich folgende Vorgehensweise4: • Zunächst sollten die vier wichtigsten auditiven Leistungen (vom HNO-Verständigen) getestet werden. Dies sind die Merkfähigkeit (Silbenfolgen), das Verstehen im Hörschall, die Identifizierung und Differenzierung von Lauten. Zudem sollten bei Verdacht auf eine Teilleistungsstörung auditiver Art sowohl das Sehen und die visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung (vom Augenarzt/bei der Augenärztin), die motorische und allgemeine Entwicklung (vom Kinderarzt/von der Kinderärztin) die Intelligenz, sowie das eventuelle Vorhandensein einer Lese-Rechtschreibschwäche (vom Psychologen/von der Psychologin), sowie das Verhalten (vom Kinderpsychiater/von der Kinderpsychiaterin) analysiert werden. Liegt in den Bereichen, die nicht vom HNO überprüft wurden, eine Auffälligkeit vor, so wird das Hauptproblem nicht im Bereich des Hörens liegen. 3 Vgl.: Konken, H. (2000). Mehrdimensionale Förderung und Behandlung in teilstationärer Form am Beispiel des Zentrums für Hör- und Sprachtherapie. In: Flöther, M., Knuth, R., Backs, M., Konken, H. und Lindner, S. Zentral auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungs- störungen im Vorschulalter. Tagungsbericht zur Tagung am 30.11.2000 in Meppen 4Vgl.: http://lzh.www4.vobs.at/fileadmin/_migrated/content_uploads/AbklaerungsschrittefuerEltern_02.pdf 98 I-JOURNAL Mai 2015 • Wurden beim Hörtest, sowie beim AVWS-Screening, Auffälligkeiten entdeckt, so empfiehlt sich ein sprachfreier Intelligenztest, durchgeführt von einem Psychologen/einer Psychologin, um das Vorhandensein eines allgemeines Lernproblems dezidiert ausschließen zu können, sowie weitere auditive Tests, um eine individuelle Förderung des Kindes, sowie eine adäquate Betreuung des Menschen mit einem Teilleistungsproblem strukturieren zu können. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Maßnahmen in der Großgruppe Die Diagnose einer AVWS wird ein Umdenken im Alltag mit sich führen. Das Wissen um ein Kind, das sich ständig in einer akustischen verwirrenden Umwelt befindet, muss Konsequenzen mit sich bringen. Als Erwachsener/Erwachsene ist es mit einfachen Mitteln möglich, die Lage für das Kind erträglicher zu machen. Als kleines Beispiel möchte ich von einem Jungen erzählen, dem nach einer AVWS Diagnose gut geholfen werden konnte. Zunächst war es wichtig, den Personen des Umfelds zu erklären, was es heißt, wichtige von unwichtigen Signalen nicht unterscheiden zu können. Als plakatives Beispiel wurde im Fall des Buben erklärt, dass die eigenen Überlegungen während der Beantwortung einer Frage durch die Lehrperson, nicht nur von miteinander kommunizierende Kindern, sondern auch durch das Summen einer Fliege, das über das Papier Schaben eines Bleistifts, das Rascheln eines herunterfallenden Papiers gestört werden können. Nicht, weil diese Geräusche dem Buben interessanter erscheinen, sondern schlicht und einfach deshalb, weil er nicht unterscheiden kann, welches dieser Geräusche das momentan wichtige sei. Die Einsicht seiner Mitschüler und Mitschülerinnen führte zu folgenden Lösungsansätzen in der Gruppe: • Während einer Darbietung (Anm.: Präsentation durch einen Lehrenden/ eine/einen Lernenden) verhielt sich die Klasse ruhiger. • Während Gruppenlernphasen wurde mittels Gesprächsball Ordnung in Diskussionen gebracht, um ein Durcheinander von Aussagen zu vermeiden. • Für Einzellernphasen wurde eine, möglicherweise als (zu) kreativ anmutende, Lösung gefunden: Baukopfhörer. Diese blockten jegliche Umweltgeräusche ab und der betroffene Junge konnte in aller Ruhe arbeiten. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Maßnahmen von Einzelpersonen Unabhängig vom Verhalten der Großgruppe können lehrende Personen das von AVWS betroffene Kind unterstützen, indem sie folgende Verhaltensweisen intensivieren: • Die gesprochene Sprache sollte weitgehend frei von weitschweifigen Erklärungen sein. • Das Sprachtempo sollte reduziert werden, Wiederholungen des Gesagten sind sinnvoll. Besonders hilfreich kann das Aufnehmen den Unterrichtsinhalt auf einen Tonträger sein, um Lehrinhalte vermehrt zugänglicher zu machen. • Das Visualisierung von Gesagtem, sei es mimisch, gestisch oder zeichnerisch, sowie das immer wiederkehrende Zurückgreifen auf das Wörterbuch als Hilfestellung, unterstützt den Ausbau des Wortschatzes ungemein. • Zudem ist es wichtig, Kompensationsansätze des Kindes nicht als störend zu erachten. Ein Kind, das über seine Lage informiert ist, wird Rückfragen stellen, wenn es eine Anweisung erhalten hat. Wenn demnach eine Lehrperson sagt: „Öffne das Buch auf Seite 7.“ und das Kind fragt: „Seite 7?“, dann benötigt es Bestätigung und keine Demotivation wie „Das habe ich doch gerade gesagt.“ 99 I-JOURNAL Mai 2015 • Das Schließen einer Tür oder eines Fensters durch das Kind ist keine Arbeits-Hinauszögerungstaktik oder der Versuch, Unruhe in der Klasse zu initiieren, es dient schlicht und einfach der Reduzierung von Hintergrundgeräuschen. • Eine fixe, verlässliche Sprechposition des Lehrenden im Raum, die sich in möglichst nahem Umfeld des betroffenen Kindes befindet und Blickkontakt ermöglicht, sollte eingeführt werden5. • Die Einzelförderung des Kindes durch die Pädagogen und Pädagoginnen sollte vor allem eine ganzheitliche sein, die auditive Wahrnehmung betreffend kann sie folgendermaßen aussehen: • Training der auditiven Wahrnehmungskonstanz • Fokussierung auf die auditive Figur-Hintergrundwahrnehmung • Arbeit an der auditiven Merkfähigkeit • Training der auditiven Differenzierung bezüglich der Intensität eines Geräuschs • Übungen zur Lokalisation von Geräuschen • Aufgaben die auditive Differenzierung von ähnlich klingenden Wörtern betreffend Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung – Praktische Tipps im Bezug auf die Unterrichts-Rahmenbedingungen Der Unterricht und das Lehrverhalten können mit einfachen Maßnahmen zum Wohle des beeinträchtigten Kindes angepasst werden6. Vor allem das Arbeiten in kleinen Gruppen und der bewusst eingehaltene Blickkontakt des Sprechenden mit dem betroffenen Kind sind hilfreich. Lange Vorträge durch die lehrende Person können durch vereinfachte, klar gegliederte, visuell unterstütze Kurzdarbietungen ersetzt werden. Der Einsatz von Lautgebärden sowie klar erkennbarer, sich selbst erklärender Gesten runden den mündlichen Part des Lehrenden ab. Auch die Einbindung rhythmisch-musikalischer Elemente birgt Potenzial in sich. Sinnvoll ist es zudem, Kinder mit AVWS immer in der Nähe der/des Sprechenden zu platzieren und möglichst viele akustische Störquellen auszuschalten (z.B. Filzkleber an Stühlen und Tischen, Vermeidung von Störgeräuschen, etc.). Bei besonders ungünstiger Raumakustik wird zudem der Einsatz von technischen Hilfsmitteln, wie einer EduLink-Anlage, geraten, da eine ungünstige Raumakustik eine vorhandene AVWS verstärken kann7. Vor allem und abschließend sei gesagt, dass die Schulung der eigenen Geduld und der des betroffenen Kindes und seiner Angehörigen und Umgebenden, die Basis jeglicher Hilfestellung ist. Ein von AVWS betroffenes Kind, das Aufgabenstellungen und Erklärungen nicht auf Anhieb versteht oder Anleitungen nicht prompt richtig Folge leistet, verhält sich nicht „unfolgsam“, „provozierend“, es hat die besagten Worte einfach nicht aus der Geräuschkulisse filtern können. Sind die oben erwähnten fördernden Bedingungen, wie ein klarer Rahmen, sowie eine akustisch kalmierte Umgebung gegeben, kann ein von AVWS betroffenes Kind integrativ / inklusiv im Klassenverband beschult werden. Zudem fördert ein ruhiges, klar strukturiertes Umfeld jedes Kind, nicht nur jenes mit einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung. Zur Autorin: Ich habe drei Jahre lang in einer NMS-Integrationsklasse in Wien gearbeitet, in der ein Junge mit AVWS beschult wurde. Nun bin ich an einer VS tätig und für die Deutschkurse und die Intensivleseförderung zuständig. Julia Hofmann 5Vgl.: http://www.dgpp.de/cms/media/download_gallery/Praxishilfen-AVWS.pdf S. 4ff 6 bifie (2008), Integration in der Praxis Heft 28, S. 26f 7 Vgl.: Böhme (2006), S. 102 100 I-JOURNAL Mai 2015 Wir stellen vor: Regine Striok Jahrgang 1966, verheiratet, 3 Kinder Lehramtsprüfung 1988 für Allgemeine Sonderschule, Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder und Sprachheilpädagogik Unterrichtstätigkeit: 1988-1990 Heilstättenschule – Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel 1991-1998 SPZ Herchenhahngasse (Intensiv- und Klassenlehrerin) 1999-2008 Integrationslehrerin in der AHS Ödenburgerstraße Ab dem Schuljahr 2011/12 lag der Schwerpunkt meiner Tätigkeit in der Leitervertretung, der Administration und der sonderpädagogischen Beratung im Sonderpädagogischen Zentrum für schwerstbehinderte Kinder, 1210 Wien, Herchenhahngasse 6. Seit Dezember 2014 leite ich das dieses Zentrum interimistisch. 101 I-JOURNAL Mai 2015 Februar 2015 Lesenswert Ärztliche Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen Lilly Damm, Ulrike Leiss, Wolfgang Habeler, Ulrike Habeler (Hg.) LIT-Verlag http://www.lit-verlag.at/wien/ ISBN: 978-3-643-50636-8 € 19,90 Ärztinnen und Ärzte haben im medizinischen Alltag viel mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu tun. Sie wissen daher aus Erfahrung, wie schwierig es ist, mit Kindern und Jugendlichen über ernste Erkrankungen zu sprechen, oder schwierige Situationen mit ihnen zu meistern. Häufig werden dabei Gespräche zwischen Erwachsenen geführt. Wie kann es gelingen, die Kinder am Gespräch zu beteiligen und ihre Sichtweise zu verstehen, ihnen Zuversicht zu geben und Vertrauen entstehen zu lassen? In der Kommunikation liegt hohes Potenzial für eine erfolgreiche Kooperation und Salutogenese. Dieses Buch will eine Brücke schlagen zwischen der Fülle an Literatur zur ärztlichen Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen, und dem medizinischen Praxisalltag. Es soll einen Impuls für Praxis, Forschung und Ausbildung geben. Dieses kompakte Buch ist für alle Ärztegruppen geeignet, da nahezu alle Fachdisziplinen (auch) mit Kindern zu tun haben. (Pädiater und Allgemeinmediziner ohnehin, aber auch HNO Röntgenärzte, Chirurgen, Zahnärzte, Labormediziner usw.) Die Herausgeber haben sich mit über 2000 Publikationen beschäftigt und konnten so verschiedene Perspektiven darzustellen, in einer ganz bestimmten Haltung: nämlich Kommunikation auf Augenhöhe und mit Respekt vor dem Kind und seiner Familie. Das Buch enthält kopierfähige Überblicks-Tabellen für eilige Leserinnen und Tipps für die Anwendung in der Praxis, sehr ausführliche Literatur-Hinweise für diejenigen, die mehr wissen wollen, und es gibt einige Grundlagen, wie die wichtige EACH-Charta komplett. Das wirklich Neue an diesem Buch ist, das es tatsächlich um die Kommunikation unmittelbar und direkt mit den Kindern und Jugendlichen geht. Impressum www.patientenanwalt.com Herausgeber: NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft Rennbahnstrasse 29 (Glaswürfel) Tor zum Landhaus A- 3109 ST. PÖLTEN Telefon: 02742/9005-15575 Fax: 02742/9005-15660 E-Mail: post.ppa@noel.gv.at Seite 1 von 1 © 2015 · NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft · Buchempfehlung 102 I-JOURNAL Mai 2015 „Gut leben mit einem autistischen Kind“ Am 17.4. 2015 fand eine Veranstaltung an der PH 10 mit Frau Dr. Christine Preissmann zum Thema „Leben mit Autismus und dem Asperger Syndrom“ statt. Frau Dr. Preissmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Asperger Autistin. Die Begrüßung erfolgte durch Fau Mag. Susanne Tomecek. Der Festsaal im Haus 4 war mehr als gefüllt und 75 Minuten folgten Student/innen, Pädagog/innen, Direktor/innen und z. B. auch eine Schulärztin interessiert den Ausführungen der Referentin, die viele Beispiele aus dem Alltag erzählte und ihren Vortrag dadurch lebendig und authentisch machte. Bei der anschließenden ca. 45 Minuten dauernden Diskussion waren noch viele interessierte Teilnehmer/ innen anwesend und es gab einen regen Austausch. In der Folge stellen wir die Neuerscheinung des aktuellen Buches von Frau Dr. Christine Preissmann vor. Christine Preissmann Gut leben mit einem autistischen Kind Das Resilienzbuch für Mütter Fachratgeber Klett-Cotta 1.Auflage 2015 Broschiert, 174 Seiten ISBN:978-3-608-86046-7 Quelle: www.amazon.de/ Christine Preissmann gliedert diesen Klett-Cotta-Fachratgeber in einen Informationsteil über Resilienz („das Immunsystem der Seele“), lässt dann ausführlich Mütter autistischer Kinder mittels ihrer Lebensgeschichten/Alltagsgeschichten zu Wort kommen und nennt danach Faktoren, die bei betroffenen Müttern dazu beitragen können, „gute psychische Widerstandskraft zu erlernen, um mit dem alltäglichen Stress besser umgehen und die zahlreichen Aufgaben erledigen zu können.“ 103 I-JOURNAL Mai 2015 Neben der Thematik der Resilienzstärkung der Mütter widmet die Autorin auch betroffenen Kindern und der Unterstützung ihrer Kompetenzen ein Kapitel. Wie wichtig und hilfreich therapeutische Unterstützung für Mütter von Kindern mit Autismus sein kann, ist dem Werk ebenso zu entnehmen, wie Hilfsangebote, die in Deutschland sowohl Menschen mit Autismus, als auch deren Angehörige in Anspruch nehmen können. Christine Preissmann versucht in diesem Ratgeber betroffenen Müttern Mut zu machen. Mut, trotz - oder sogar gerade wegen - der besonderen Lebensbedingungen, die sie zu bewältigen haben, nicht auf ihre eigenen Bedürfnisse zu vergessen oder deren Befriedigung zu verzichten. Sie plädiert dafür, (realisierbare) Wünsche, Vorstellungen und Anliegen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch ernst und sich für deren Umsetzung (ohne schlechtes Gewissen!) Zeit zu nehmen. Das mag mancher Mutter, die sich permanent überfordert, in Zeitnot und/oder missverstanden fühlt, angesichts ihrer Alltagssituation absurd, unrealistisch und daher undurchführbar erscheinen, aber vielleicht ist es im Sinne der - wie Preissmann erläutert - dadurch zu erlangenden Resilienz einen Versuch wert. Auch Ansätze wie „Leben Sie Ihr Leben und genießen Sie es in jedem Augenblick“ und „Jeder“ ist selbst dafür verantwortlich, die eigenen Träume zu realisieren“ mögen angesichts der belastenden Situationen, in der sich viele betroffene Mütter befinden, befremdlich klingen, sind der Autorin aber wichtig im Hinblick auf die „Erlernung guter psychischer Widerstandskraft“, da diese letztlich dazu führt, Überforderung vorzubeugen. Dr. Preissmann schlägt verschiedene Maßnahmen vor, die betroffene Frauen (bzw. Familien - Preissmann bezieht Väter, so vorhanden, mitein) stärken können. Der Austausch mit anderen betroffenen Eltern, egal ob in Form von Selbsthilfegruppen oder speziellem Freundeskreis, wird als wichtiges Element der Stärkung empfohlen. Neben vielen weiteren - vielleicht nicht immer ganz leicht umsetzbaren - Tipps weist die Autorin auf die enorme Unterstützungskraft hin, die therapeutische Begleitung bieten kann und versucht, die Leserin/den Leser zu ermuntern, rechtzeitig (!) Betreuung durch Fachleute in Anspruch zu nehmen. Professionelle Unterstützung regt Christine Preissmann bei Bedarf auch bei Problemen in der Partnerschaft an, da eine gelungene Beziehung, deren Pflege lt. Preissmann (vor allem auch) im Hinblick auf Resilienz nicht vergessen werden sollte, zum einen Resilienz stärkend wirkt und zum anderen das Wohlbefinden des Kindes steigert (was sich wieder günstig auf die Befindlichkeit und Belastbarkeitsgrenze der Mutter auswirkt). Achtsamkeit, Selbstwert, Gewahr-werden von Ressourcen und Kompetenzen, Fokussieren auf Positives, Zufriedenheit mit eigenen Leistungen, konkrete Zielsetzungen sind bei Christine Preissmann keine leeren Worthülsen, sondern Begriffe, die sie mit konkretem Inhalt zu füllen vermag und deren Umsetzung sie Betroffenen ans Herz legt, um ihre „Seele zu stärken.“ Gabriela Hirsch (Mentorin für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung) 104 I-JOURNAL Mai 2015 Jugendbücher, die Sie lesen sollten! Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums von Benjamin Alire Sáenz Aristoteles, kurz Ari genannt, und Dante lernen einander im Schwimmbad kennen. Beide sind eher Außenseiter unter den gleichaltrigen Jugendlichen und Mitschülern, haben jedoch sonst recht wenige Gemeinsamkeiten. Trotzdem entwickelt sich zwischen den beiden recht rasch eine Verbundenheit, die ihr familiäres und soziales Leben ebenso wie ihre Weltanschauung ziemlich verändern wird. Vertrauen, Freundschaft, Loyalität und Liebe sind die großen Themen dieses Romans, auch die Liebe zwischen zwei Burschen sowie der Umgang anderer Jugendlicher mit Homosexualität. Sáenz schafft es, auf weiten Strecken in Dialogen, die Gefühlswelt pubertierender Burschen einzufangen. Seine wunderbare Prosa lässt die Leserinnen und Leser fast körperlich die Gefühlslage der beiden Protagonisten spüren. Daran hat auch die hervorragende deutsche Übersetzung von Brigitte Jakobeit einen großen Anteil. Dieses Buch ist ein unbedingtes „MUSS“ für jede „Jugendbuch-Leseliste“, empfehlenswert für Jugendliche ab 14 Jahren und für deren Eltern, aber auch für alle anderen Erwachsenen. Eine wie Alaska von John Green Eine wie Alaska ist eine Internats- und Liebesgeschichte rund um die drei Jugendlichen Miles, Chip, genannt der „Colonel“ und Alaska. Miles, der gerne Biografien berühmter Leute liest und deren „letzte Worte“ sammelt, teilt sich ein Zimmer mit Chip, der ihn auch gleich in das Internatsleben einführt und seinen Freunden Takumi und Alaska vorstellt. Sofort verliebt sich Miles in das hübsche Mädchen, deren Stimmungslagen sich allerdings oft ohne erkennbaren Grund ändern. Und ganz schnell ist der Einzelgänger Miles nun Teil einer Clique, zusammen versuchen sie, jede Regel des Internatslebens zu brechen und lernen dabei, füreinander einzustehen. Eine Besonderheit des Buches sind die Kapitelüberschriften, die von DEM HÖHEPUNKT in der Geschichte ausgehen. Es gibt die Zeit davor und jene danach. Dadurch erhöht sich seitenweise die Spannung, man liest und liest, man will einfach wissen, was denn da an diesem Tag genau passieren wird. Interessant ist Miles Hobby, das Sammeln von „letzten Worten“ berühmter Personen. Alleine die Idee, solch eine Sammlung anzulegen, finde ich schon sehr skurril, musste jedoch beim Lesen feststellen, dass das Lesen letzter Worte einen eigenen Charme hat. Sie empfinden ebenso? Hier finden Sie eine umfassende Sammlung letzter Worte: http://de.wikiquote.org/wiki/Letzte_Worte Gerda Kargl Referentin für Sonderpädagogik 105 I-JOURNAL Mai 2015 „Normal“ von Allen Frances Der Autor dieses Werkes, Allen Frances, ist Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung und lehrte an der Duke University. Er ist ein weltweit anerkannter Psychiater und war maßgeblich an der Entwicklung der psychiatrischen Standardwerke DSM-III und DSM-IV (DSM – das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen) beteiligt. Der Diagnoseschlüssel der WHO, der ICD-10 wird maßgeblich vom amerikanischen DSM beeinflusst. Der Untertitel „Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ trifft im Wesentlichen die Kernaussagen dieses Buches. Immer leichter und immer öfter wird gewöhnlichem/normalem Verhalten eine psychiatrische Diagnose zugeordnet. Normales Verhalten wird damit einem krankhaften Zustand gleichgesetzt. Die Diagnosen nehmen zu, die Pharmaindustrie profitiert, der Einsatz von Medikamenten ist aber auch kritisch zu hinterfragen. Allen Lesern bekannte Beispiele für die Zunahme an Diagnosen wären z.B: • Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) • Bipolare Störung • Psychosen • … Nach Aussage des Autors „ … seien die Kinder gar nicht gestörter als früher, … was sich verändert hat sind die Etiketten …“ Wer nach ein paar Wochen noch trauert, gilt als krank, sollte sich in professionelle Behandlung begeben und mithilfe von Psychopharmaka rasch wieder am „normalen“ Leben teilhaben. Vor einem halben Jahrhundert war bei einem Todesfall im nahen Umfeld das sogenannte „Trauerjahr“ eine gesellschaftlich akzeptierte Form, den Verlust zu verarbeiten und sich die dafür benötigte Zeit zu nehmen. Trotz der Kritik an der Überdiagnostizierung und Überversorgung auf der einen Seite wird in dem Buch aber auch deutlich darauf hingewiesen, dass psychische Symptome, die sich von alleine nicht verbessern oder wieder abklingen natürlich ärztlich abgeklärt werden sollen. Es ist bedeutsam, die Patienten, die unter echten psychischen Erkrankungen leiden, klar zu erkennen und abzugrenzen. Medikation ist dort unumgänglich, wo sie wirklich gebraucht wird! „Wer nicht den Zustand vollkommenen Glücks erreicht, wer kein sorgenfreies Leben führt, gerät leicht in den Verdacht einer psychischen Störung. Unsere Ziele sind zu hoch gesteckt und unsere Erwartungen unrealistisch – vor allem in Bezug auf unsere Kinder.“ Ein interessantes Buch mit vielen Beispielen aus der Praxis und in angenehmen Schreibstil verfasst! Auch für Nicht-Experten zu empfehlen und lesenswert! SDn., Dipl. Päd. Elisabeth Jencio-Stricker Direktorin des SPZ 10, Hebbelplatz 1-2, 1100 Wien 106 I-JOURNAL Mai 2015 Erratum: Lebendiges Lernen Leider hat in der Ausgabe vom Dezemer 2014 bei diesem Beitrag das Fehlerteufelchen zugeschlagen. Wir bringen daher hier den Beitrag in der richtigen Version. In unserem Blog „Lebendiges Lernen“ erzählen wir aus 13 Jahren Mehrstufen-Integrationsklasse an einer Offenen Volksschule und erfreuen uns inzwischen einer großen Leserschaft. Direkt aus der Praxis berichten wir von unseren Erfahrungen, Überlegungen und Erkenntnissen die so ein Schulalltag mit sich bringt. Einfach mal reinschauen … wir freuen uns über Interessierte! Dipl. Päd. Birgit Seewald-Görig BEd 13 Jahre Aufbau und Leitung einer Mehrstufen-Integrationsklasse Mentorin für SchülerInnen mit Autismus-Spektrum-Störung 107 I-JOURNAL Mai 2015 Brigitte geht Kann man Menschen als „eine Institution“ bezeichnen? Eigentlich nicht. Eine Institution ist ein „Ding“ etwas unbelebtes, aber dennoch gibt es in unserem Sprachgebrauch die Wendung, dass „ein Mensch zur Institution geworden ist.“ Das Bild, das die meisten Menschen zu dieser Redewendung haben ist, dass da eine Person ist, die in einer Einrichtung tätig ist und die einen Arbeitsbereich, zu einem bestimmten Thema, ganz entscheidend mit geprägt hat. Wenn das die Definition bzw. das gemeinsame Bild eines Menschen ist, der „zur Institution geworden ist“, dann ist es Brigitte Mörwald, der man das attestieren kann. Brigitte Mörwald und die „Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrats für Wien“, das gehört seit über 20 Jahren zusammen. Jetzt könnte natürlich eine Laudatio verfasst werden, die in einer, bei Laudatios häufig gepflegten Gewohnheit, biografisch die Stationen der beruflichen Laufbahn Brigitte Mörwalds auflistet und ihre Verdienste darlegt. Es wäre in so Ferne nicht verkehrt, als die Verdienste großartig und sonder Zahl sind. Doch ein bisschen lebhafter wird es und der Persönlichkeit von Brigitte Mörwald entspricht es viel mehr (denn diese, nämlich die Persönlichkeit, ist sehr bunt und vielschichtig), wenn ein Potpourri an Gedanken, Erinnerungen, Eindrücken zusammengewürfelt und niedergeschrieben wird, wobei am Ende ja doch hoffentlich eine große Laudatio herauskommt. Die Überschrift: IMMER hat und hatte Brigitte das Wohlergehen von KINDERN ganz klar im Fokus ihrer Bemühungen, gefolgt von der Unterstützung von Eltern, Lehrerinnen, Inspektorinnen, Assistentinnen, Kolleginnen, Vorgesetzten im Stadtschulrat und, und, und ... IMMER ist sie mutig, darauf bedacht, Dinge direkt anzusprechen, auszuhandeln, scheut nie Konflikte und Spannungen und arbeitet immer lösungsorientiert. Killerphrasen sind ihr fern, ihr Herz ist weich und groß, aber das ändert nichts an glasklarer Strukturiertheit, Kompromisslosigkeit, Direktheit, aber IMMER gepaart mit Empathie, ganz viel Gefühl, dem Glauben an Lösungen, Hartnäckigkeit, großem Sachwissen, unglaublichem Organisationstalent, Humor. Brigitte Mörwald als Beratungslehrerin: Karl Marx Hof, Gemeindebau-Karli, schwierigster Schüler, am besten vor Ort (systemisch) die Lage checken und Unterstützung von Kind und Familie bieten-Hausbesuch!! (Tun das Beratungslehrerinnen heute auch noch?) Und aus Karli wurde etwas…. Oder Fahruk-Lernen war nicht Seines aber dafür Tischtennis, also der Deal: Eine Tischtennispartie und dann eine Lerneinheit-Brigitte Mörwald hätte es im Tischtennis (wenn sie denn angetreten wäre) sicher zur Staatsmeisterin gebracht… Brigitte Mörwald als Mitarbeiterin in der Integrationsberatungsstelle: Direkte Nachfolgerin von Lilo Brandstetter, kleines Büro in der Gasgasse, Schreibmaschine, ein Telefon, ein Chef mit visionären Vorstellungen von Integration und ein Wiener Schulsystem, das sich noch nichts darunter vorstellen kann (außer die wenigen, die bereits so „mutig“ waren, Integrationsklassen zu starten). Aufgabe: Überzeugungsarbeit leisten, immer und immer wieder, bei Konferenzen, in (damals noch verrauchten) Cafes, bei Elternabenden, Vorträge bei Symposien, Diskussionen bei Veranstaltungen, Beratung von Eltern, Lehrerinnen, Direktorinnen….Schulen abklappern, reden, reden, reden…, an der Schreibma108 I-JOURNAL Mai 2015 schine sitzen, am Telefon sitzen, Integrationsjournal am Leben erhalten und beim „Stinker“ (wie war eigentlich der richtige Name dieser Gaststätte?) Dienstgespräche im informellen Rahmen abhalten. Brigitte Mörwald mit ihrem Lieblingsthema: Vernetzung !!! Geburtshelferin der Idee externe Leitertage (mit allen Sonderschuldirektoren und –direktorinnen) abzuhalten, um gemeinsam Dinge zu entwickeln (SPZ Mappe), Ideen zu diskutieren, einander zu unterstützen, eine gemeinsame Identität zu finden, Ziele zu entwickeln. Da wurde stundenlang geredet, formuliert, ausgehandelt, entschieden, Überzeugungsarbeit geleistet und dann am Abend-nicht fad- das Zusammenwachsen gefeiert, bis tief in die Nacht hinein, begleitet häufig von Musik – es sei nur der Name des Gitarristen Otto Schneeberger erwähnt. Und nochmals Brigitte Mörwald in der Integrationsberatungsstelle. Kongeniale Partnerin nach der personellen Aufstockung auf 2, immer kompetent, zuhörend, supervidierend manchmal, Teamwork als selbstverständlich, viele Stunden gemeinsam Fortbildungen (QIS – wer sich erinnern kann – „Qualität in Schulen“) konzipiert und gehalten (oft auch am Wochenende). Den Chefs loyale Mitarbeiterin und Mitdenkerin, unkonventionell und kreativ beim Finden von Lösungen, kämpfend wie eine Löwin für die Interessen der Kinder. Guter Geist am Telefon, zuhören, beraten, Hilfe anbieten. Beste Freundin, dann auch privat, immer – und WIE da, wenn Hilfe gebraucht wurde (DANKE, Brigitte!!!). Nie be- und verurteilend, weder beruflich, noch privat, dabei aber schon kritisch und ehrlich. Da gibt und gab es da diesen „Lacher“, das ist etwas, was Brigitte Mörwald auch auszeichnet. Die Fähigkeit, Dinge mit viel Humor zu betrachten, über sich selbst zu lachen, ausgelassen zu sein, Treffen jenseits offizieller Anlässe zu organisieren (ich sag nur „Haggis“) und dafür mit viel Engagement tolle Rahmenbedingungen zu schaffen. Dieser Humor, die Fähigkeit sich total zu engagieren, aber auch die psychohygienisch so wichtige Fähigkeit sich abzugrenzen sind und waren überlebenswichtige Eigenschaften, bei den unzähligen Problemen, Tragödien, Fragen, die an Brigitte Mörwald in hunderten von Kriseninterventionen, Helferkonferenzen, Fallbesprechungen und in den letzten Jahren bei der Unterstützung der Arbeit für Kinder mit Autismus Spektrum Störung herangetragen wurden. Aufgeregtheit liegt Brigitte Ferne – totales Engagement und ein großes Gerechtigkeitsgefühl, dieses in hohem Ausmaß (Ungerechtigkeiten können sie zur Weißglut bringen), aber sie ist immer gelassen und (fast) immer zielgerichtet und sachorientiert. Aber da gibt und gab es schon Punkte, Themen, die im Zusammenhang mit der Beschulung von Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, seit Jahren auf dem Tisch liegen, wofür es immer noch keine zufriedenstellenden Lösungen gibt; aber auch hier wurde Brigitte Mörwald nie müde, sie wieder und wieder ins Bewusstsein zu rücken und manchmal, da bewegt sich doch etwas. Auch weil sie sich nie gescheut hat, Dinge offen an- und auszusprechen, Courage, eine in jeder Hinsicht bewundernswerte Eigenschaft von Brigitte. Sie mag einfach Menschen (das spürt man), kann sie nehmen und akzeptieren, wie sie sind, ist immer offen, sich auf sie einzulassen. Brigitte ist flexibel und neugierig, wenn Neues auf sie zukommt, immer gewillt, dieses Neue positiv zu sehen (egal, ob es ein neuer Chef ist, neue Kolleginnen, Personen anderer Einrichtungen, Lehrerinnen, Themen …). Brigittes Ausgangspunkt ist immer ein positiver, zuversichtlicher, wertschätzender. Es sind und waren auch immer die „Kleinigkeiten“, die Brigitte Mörwald so liebenswert machen: Das Mitbringen eines selbst gebackenen Kuchens, das Schreiben einer liebevollen Karte, das sorgsame Auswäh- 109 I-JOURNAL Mai 2015 len eines Geschenks, das niemals auf einen Geburtstag Vergessen, die feste Umarmung in einer Situation, in der man das gerade braucht. Berufliche Verdienste Brigittes? In Wirklichkeit ist es unmöglich aufzuzählen, welche sie sich in ihrer 40-jährigen Dienstzeit erworben hat. Es mögen hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit Stichworte reichen, um Arbeitsbereiche, Themen zu skizzieren, in welchen sie tätig war, bzw. mit welchen sie sich befasst hat: Beratungslehrerin (eine der ersten in Wien), Konzeptentwicklung für Inklusion, Integration, SPZs, Organisation von Zivildienern, Implementierung der integrativen Beschulung von Kindern mit Autismus Spektrum Störung, Betreuung der Mentorinnengruppe, „Mutter“ und Hauptorganisatorin des I-Journals, Verbindungsglied zu vielen Abteilungen des Magistrats Wien, Lehrerinnenfortbildung, Arbeit in der Qualitätsentwicklung von Schulen, Organisation von Besuchen aus dem Ausland, Elternarbeit, Redaktionsarbeit „Integration in der Praxis“, Arbeit in Gruppen des Unterrichtsministeriums, perfekte Teampartnerin im Büro…. Brigitte Mörwald wird fehlen. Ja, jeder Mensch kann ersetzt werden und ja, Personen, die ihre bisherigen Aufgabenbereiche übernehmen werden, werden das auch gut machen. Aber sie werden nicht Brigitte Mörwald sein. Aber so lange ihr Geist durch die Mauern des Stadtschulrats weht, so lange ihre Art mit Menschen umzugehen und zu arbeiten Vorbild für die Arbeit ihrer Nachfolgerinnen sein wird, solange wird es gut werden. Danke, Brigitte, und – ich und andere werden dich trotzdem vermissen. Judith Stender Integrationsberatungsstelle 110 I-JOURNAL Mai 2015 „In der Idee leben heißt, das Unmögliche zu behandeln, als wenn es möglich wäre.“ J. W. von Goethe DANKE, Brigitte, für dieses und jenes, für alles und so vieles! Dein Redaktionsteam Gerda, Renate und Judith 111 I-JOURNAL Mai 2015 Leserbriefe Meine lieben Redakteurinnen! Die neueste Nummer des I - Journals liegt vor mir und ist Anlass euch wieder einmal herzlich zu danken! Schon das Titelblatt zeigt die Vielfalt, bei den Schneeflocken genau so wie auch bei den pädagogischen Fragestellungen im Bereich der Inklusion. Und das setzt sich im Heft fort. Die zahlreichen qualitätvollen Fachartikel zeigen das große Spektrum der Arbeit mit Kindern die sehr unterschiedlich sind und daher auch unterschiedlichste pädagogische Ansätze hervorbringen. Wieder einmal eine ganz tolle Nummer! Gratulation! In alter Verbundenheit Euer Gerhard Tuschel Liebe Brigitte, liebe Judith, liebe Gerda, liebe Renate! Danke für Eure Mühe und Bereitschaft, das I-Journal mit adäquatem Inhalt zu füllen und regelmäßig erscheinen zu lassen! Zur Zeit stellt das I-Journal die einzige Plattform im Wiener Integrationsbereich dar, welche die Möglichkeit bietet, über die verschiedensten Projekte im 17./18. IB hinsichtlich der Sonderpädagogik Einblick zu erhalten! Gratulation! Alles Gute für die Zukunft und weiterhin so interessante Berichte, mit lieben Grüßen, Mag. Wilfinger Jutta Beratungslehrerin Erziehungswissenschafterin Sonder- und Heilpädagogin Zertifizierte Elterntrainerin - Beratung in Erziehungsfragen Zertifizierte Mentorin für BerufseinsteigerInnen in den Lehrberuf Mitglied des Dienststellenausschusses des 18. Inspektionsbezirkes in Wien Mit großem Interesse habe ich das I-Journal vom Dezember 2014 gelesen, das ich zufällig im LehrerInnenZimmer unserer Schule vorfand. Beeindruckt haben mich die sehr differenzierenden und zum Nachdenken anregenden Artikel zur UN-Konvention, zum Thema Inklusion, Autismus Störung und Asperger Syndrom, sowie die Themenbereiche des Lebendigen Lehrens und Lernens. Es wurde mir wieder einmal bewusst, wie wichtig und bereichernd es für mich als Lehrerin eines bestimmten Schultyps, in diesem Fall einer AHS, wäre, mehr Austausch mit LehrerInnen anderer Schulen, Schultypen zu haben. Ich erlebe in meinem Schulalltag ähnliche, prinzipielle Probleme und Schwierigkeiten, wie sie von LehrerInnen in Integrationsklassen beschrieben werden, und habe die unterschiedlichen Zugänge, Sichtweisen und Ideen wie z.B. das „Pause-Aus-Lied“ sehr spannend und ermutigend gefunden. Ich hoffe, dass auch die kommenden Ausgaben des I-Journals wieder den Weg an meine Schule finden! Waltraud Hamp BG&BRG 21, Bertha von Suttner, Schulschiff 112 I-JOURNAL Mai 2015 Liebe Leserin! Lieber Leser! Wir freuen uns, Ihnen die neueste Ausgabe des I-Journals präsentieren zu dürfen. Unser herzlicher Dank gilt auch diesmal wieder allen Autorinnen und Autoren, ohne deren Beiträge es uns nicht möglich wäre, dieses Journal herauszugeben. Die Qualität und die Vielfalt der Artikel sind immer wieder beeindruckend und bringen sehr deutlich auch die Vielfältigkeit der Arbeit mit den uns anvertrauten Kindern zum Ausdruck. Wir planen, die nächste Ausgabe im Dezember 2015 erscheinen zu lassen und freuen uns über Ihre Beiträge. Die Auswahl der Artikel, die publiziert werden, trifft das Redaktionsteam. Vorgaben zum Verfassen von Beiträgen: • Jeder Artikel enthält eine Überschrift und • den Namen (eventuell ein Foto) der Autorin/des Autors mit kurzer biographischer Angabe • Fotos, die im Beitrag verwendet werden, müssen auch EXTRA im jpg-Format mitgeschickt und eindeutig benannt werden. Unbedingt das Einverständnis der Erziehungsberechtigten, sowie der darauf abgebildeten Personen zur Veröffentlichung der Fotos einholen und auch den Namen des Fotografen angeben. Achten Sie bei Verwendung von Fotos aus dem Internet auf das Copyright! • Artikel als Word-Dokument (Standard, 11pt, Arial) schicken. • Geschlechtergerechte Formulierungen verwenden, wie es in der Broschüre des bmbf (vormals bm:ukk, vormals bm:bwk) erläutert wird: www.bmukk.gv.at/medienpool/15104/2002_22_beilage.pdf Jede Autorin/Jeder Autor ist dafür eigenverantwortlich. Die Beiträge senden Sie bitte ausschließlich ab 1.9.2015 per Email an: Verena Lieser: verena.lieser@ssr-wien.gv.at Abgabeschluss für Beiträge: 23.10.2015 ... gerne auch früher :-) Online finden Sie unser Journal unter der Internetadresse: http://lehrerweb.wien/stadtschulrat-fuer-wien/sonderpaedagogik/17-inspektionsbezirk/ Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit! Das Redaktionsteam: Brigitte Mörwald (Redaktion, Lektorat) Mag. Judith Stender (Redaktion, Lektorat) Gerda Kargl (Redaktion, Layout) 113 Renate Dirnberger, MA (Lektorat, Redaktion) I-JOURNAL Mai 2015 Was übrig bleibt … J Ja, zu den Jahren meiner beruflichen Tätigkeit ... O Ordnung ... U Unordnung ... R Respekt vor ... N Nennenswerte Persönlichkeiten, die im Gedächtnis bleiben ... A Anliegen, die ich noch hätte ... L Loslassen ... Ja, meine Berufswahl war die Richtige Meine beruflichen Schritte haben gepasst. Als ich in der 4. Klasse Volksschule eine andere Lehrerin bekam, wurde mir erstmals der Unterschied zwischen Pädagog/in und Pädagog/in (leidvoll) bewusst. Viele der Professor/innen im Gymnasium hatten die Devise: „Alle über einen Kamm scheren.“ Die Norm an ihren Vorstellungen anzulegen, schien ihnen als richtig. Etliche entsprachen nicht dieser Norm, ich gehörte dazu und habe dementsprechende Erfahrungen gesammelt, die damals meinem Selbstwertgefühl nicht gerade förderlich waren. Der Entschluss, Lehrerin zu werden und es anders zu machen, war immer wieder da – letztendlich entschied ich mich für das damalige Hauptschullehramt. Sozialarbeiterin wäre die Alternative gewesen. Die Herausforderungen in der Hauptschule 1020, Blumauergasse im Jahr 1976 waren damals schon „spezielle“. Mit ein Grund, dass damals auch einer der ersten Beratungslehrer von Wien an dieser Schule tätig wurde. Ich entdeckte sehr bald meine Möglichkeiten, mit Kindern (Jugendlichen), die „nicht die Norm“ waren, gut oder eben anders umzugehen. Von meiner ersten Chefin, Dir. Maria Handl, erhielt ich dabei viel Unterstützung, ebenso vom damaligen Schulwart Herrn Stöger. Ich erkannte bald, dass meine Schwerpunkte im Sozialbereich lagen. Mein Vater, aber auch meine Großeltern waren große Vorbilder für mich in Bezug auf den Umgang mit unterschiedlichsten Menschen, den Gerechtigkeitssinn und die gesellschaftliche Haltung. Es waren herausfordernde, spannende, aber für mich auch sehr zufriedenstellende Dienstjahre. Dir. Walter Schindl holte mich von dieser Schule in das Team der Beratungslehrer/innen. Die folgenden Jahre waren begleitet von der Ausbildung zur SES-Pädagogin und von vielen Fortbildungsveranstaltungen mit Schwerpunkt Integration (damals von sozial, emotional benachteiligten Kindern), Selbsterfahrung, Gruppentraining, Kommunikation und Gesprächsführung. Da ich ausschließlich an Volksschulen (Beginn meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin im 20. Bezirk) arbeitete, habe ich das Lehramt für Volksschulen berufsbegleitend absolviert. Als Supervisor/innen begleiteten mich die ersten 2-3 Jahre in meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin Dr. Karl Köppel und Dr. Regine Knoblich. Elf Jahre lang lagen meine Schwerpunkte als Beratungslehrerin im 20. Bezirk und später dann im 19. Bezirk. Geprägt waren diese Jahre von für mich damals schon von sehr innovativen und „anders“ denkenden Berufspartner/innen im 20. Bezirk. Um nur einige von ihnen zu nennen: Dr. Mathilde Zeman (Schulpsychologin), BSI Reg. Rat Heindl (Schulinspektor), Dr. Ernst Berger (zuständiger Psychiater in der damaligen Schulverweigererkommission) und Dir. Hertha Raderer (Direktorin der VS Leystr. 36). 114 I-JOURNAL Mai 2015 1991 hat mich LSI Gerhard Tuschel in die Integrationsberatungsstelle des SSR für Wien (damals 1150, Gasgasse) geholt. Mag. Lilo Brandstätter war meine Vorgängerin und bei der „Büroübergabe“ hat sie zu mir gesagt: „Eigentlich wollte ich eine Zeitung zur Integration herausgegeben, aber das ist sich noch nicht ausgegangen, vielleicht schaffst du das?“ Ordnung / Unordnung Im Grund genommen bin ich im herkömmlichen Sinn ein „ordentlicher Mensch“, sowohl im Privaten als auch im Beruflichen. Es ist für mich wichtig, einen gewissen Ordnungsrahmen zu haben, sowohl im Kopf als auch in praktischen Dingen. Ich würde einmal sagen, ich mag keine Unordnung. Menschen, die meine Tätigkeiten weiterführen werden, sollen so gut wie möglich Informationen und Unterlagen vorfinden, die sie dann, ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend, verwenden, anwenden, (weiter)verarbeiten, (weiter)verwerten können, so sie das wollen, sie diese als sinnvoll und für ihre Vorhaben als brauchbar erachten. Im schulischen Umfeld wird viel über „gut begleitete Übergänge“ gesprochen (vom KG in die Schule, von der VS in die Mittelstufe, von der Schule in die Arbeitswelt). Diese erfordern Umsicht, Vorausdenken, Einfühlungsvermögen und auch gewisse Strukturen – anders sind Übergänge schwieriger zu bewältigen. Ob es mir gelungen ist (sein wird), mein Aufgabengebiert im SSR gut zu übergeben, werden andere zu beurteilen haben. Respekt vor Mein großer Respekt gilt: • Jenen Schulinspektorinnen und Schulinspektoren, die in ihren Bezirken klare, durchschaubare und pädagogische Maßnahmen zum Wohle der Kinder setzen, auch wenn sie sich dadurch nicht immer beliebt machen. • Jenen Leiterinnen und Leitern, die sich trauen, Schule etwas anders zu gestalten als die Norm und als Ansprechpartner/innen für Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind. Die sich aber auch zugestehen, klare Entscheidungen zu treffen, wenn es notwendig ist. • Jenen Kolleginnen/Kollegen, die Lehrerinnen/Lehrer geworden sind, weil sie hinschauen wollen und können, was die einzelnen Kinder brauchen. Die nicht die Defizite der Kinder in den Vordergrund stellen, sondern nach ihren Begabungen und Stärken suchen. Die in einem Team arbeiten und somit andere Lehrer/innen als gleichwertige Kolleg/innen sehen und nicht als „Zuarbeiter/innen“ oder „Zweitlehrer/ innen“. Die ihre Arbeit als Ganztagsjob sehen und leben, auch wenn sie nicht in einer der wenigen Ganztagsschulen tätig sind. • Jenen Eltern und Erziehungsberechtigten, die mit benachteiligten Kindern den Schulalltag gemeinsam mit den Vertreter/innen von Schule in guter Kooperation „auf Augenhöhe“ meistern, aber auch die Grenzen zwischen ihren Kompetenzen und denen der Lehrer/innen /der Schule erkennen und respektieren. • Jenen Kolleg/innen, die ambulant tätig sind. Vor allem auch der Gruppe der Mentor/innen, die ich seit vielen Jahren führe und begleite. Ihr täglicher Spagat zwischen Pädagog/innen (die sie um Unterstützung ersuchen), den Kindern mit ASS (Autismus Spektrum Störung), den Assistent/innen der ÖAH, dem restlichem pädagogischem Umfeld in den vielen wechselnden Schulen, in denen sie tätig sind und den Erziehungsberechtigten bedeutet oft: Das Aushalten von nicht erfüllbaren Wünschen und Vorstellungen, das Aushalten von Ablehnung im pädagogischen Umfeld und das Aushalten der Aussichtslosigkeit es „jedem recht zu machen“. Ihr großes fachliches Wissen, ihre Flexibilität, ihr Durchhaltevermögen, ihre Wegstrecken, ihre notwendige Einstellung auf unterschiedlichste Lehrer/innen, Direktor/innen und Erziehungsberechtigte, zeichnen diese Pädagog/innen aus. • Jenen Mitarbeiter/innen im 17. und 18. IB, die in den kommenden Jahren in diesem Bereich arbeiten werden. Es gibt große Herausforderungen und notwendige Veränderungen. Es wird viel Kraft, Anstren115 I-JOURNAL Mai 2015 gungen und Durchhaltvermögen brauchen, um Wege zur Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen zu suchen. Die Chancen für einen umfassenden Umbau des Schulsystems sind so groß wie noch nie und am Weg dorthin, kann es auch gelingen, Stigmatisierungen und Benachteiligungen deutlich zu reduzieren – mit dem Ziel einer inklusiven Schule, ob inklusiv dann heißen muss, dass alle am selben Ort, zur selben Zeit und das Selbe tun, oder ob Schüler/innen das tun dürfen, was für sie passt und dort sein dürfen, wo sie sich gerade wohl(er) fühlen, sei dahingestellt. Nennenswerte Persönlichkeiten, die im Gedächtnis bleiben Einige Persönlichkeiten, die mich in meinem beruflichen Umfeld begleitet haben, werde ich wohl für immer in Erinnerung behalten (in alphabetischer Reihenfolge): •Corazza, Rupert, LSI , Dr. Mag. – ein Chef, der einen sehr direkten und unkomplizierten Umgang mit seinen Mitarbeiter/innen pflegt. Unaufgeregt und ohne lästige Empfindlichkeiten. Sein Multitasking, eine Fähigkeit, die er spielend beherrscht und nicht als belastend erlebt, verlangt jedoch seinen Mitarbeiter/ innen manchmal einiges ab. Mit ihm offen darüber zu reden, ist aber auch kein Problem. Er hat meine grenzenlose Bewunderung in Hinblick auf seine Möglichkeiten der parallelen Datenerfassung und Daten(ab)speicherung. Seine Situationskomik macht ihn sehr liebenswürdig, ebenso seine Kunst, ganz schnell das richtige Comic zu einer bestimmten Situation im Internet zu finden. •Damm, Dr. Lilly (u.a. med. Uni Wien, Public Health … Schulgesundheit!!) – ein großes Vorbild für mich mit ihrer wertschätzenden Gesprächsführung bei Kindern und Erwachsenen. Sie war bis zuletzt eine wertvolle, fachliche, solidarische Wegbegleiterin bei medizinischen Fragen und immer hilfreich beim Überlegen von Lösungsstrategien. •Dirnberger, Renate (Hobln) – die lustige, kreative, emotionale, langatmige, konsensuale und gescheite Mitarbeiterin in unserem Büro. Erst vor einigen Jahren zum Team gestoßen, war es schnell so, als ob sie schon immer dabei gewesen wäre. Ihre Möglichkeiten, sich einzufügen und passend einzubringen, zeichnen sie besonders aus. •Felsleitner, Richard (PSI i.R., Reg.Rat) – für mich immer ein großes Vorbild an Gelassenheit, Empathie und Wertschätzung im Umgang mit „besonderen“ Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ein wandelndes Lexikon in Sachen Geschichte, Musik und Theater. •Handl, Maria, Dir. – meine erste Direktorin in meiner Lehrerinnentätigkeit: Rückblickend betrachtet hat sie hat meinen Einstieg, trotz herausfordernder Begleitumstände, gut und für die damalige Zeit aus meiner heutigen Sicht sehr professionell begleitet. •Kargl, Gerda (HObln) – offiziell tätig im 18.IB, war/ist sie trotzdem für uns im 17.IB eine ganz wichtige Ansprechpartnerin. Ohne ihre Unterstützung bei Daten, Statistik oder Exeltabellen, hätte so mancher Tag im Chaos geendet. Ihre ruhige, stabile und unaufgeregte Art war für mich immer Vorbild, wie man auch an Dinge herangehen kann. Ihre Ideen für die Covergestaltung beim I-Journal, ihre systemische Ordnung bei der Aufbereitung des Journals und ihre große Genauigkeit habe ich immer bewundert. •Köppel Karl, Dr. (verstorben) – ein Querdenker und Analytiker des „Lebensraum Schule“. Mein erster Supervisor und Trainer einer Selbsterfahrungsgruppe am PI. •Krammer, Bettina – für mich das Musterbeispiel einer ausgezeichneten Büromitarbeiterin. In allen Bereichen, für die sie zuständig ist, eine gewissenhafte und absolut verlässliche Kollegin. Überdurchschnittlich hilfsbereit, solidarisch und kompetent, gar nicht launenhaft und der „ruhende Pol“ für alle administrativen Angelegenheiten. Mit ihr so viele Jahre zusammenzuarbeiten war rundherum stimmig und positiv. 116 I-JOURNAL Mai 2015 •Mörwald, Gerhard (Dir., verstorben) – Mentor, Trainer und Coach bei gemeinsamen Kommunikationstrainingsseminaren für unterschiedliche pädagogische Gruppen. •Raderer, Hertha (Dir., verstorben) – während meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin (ab1980) habe ich auch viel Jahre an der VS Leystraße 36 gearbeitet. Sie war der Inbegriff einer Direktorin wie ich mir eine Leiterin vorstelle: Beinahe immer eine der ersten Personen an der Schule, das Schulhaus verließ sie meistens als Letzte; offen für Neues, Detailwissen über die meisten Schüler/innen und viel persönlicher Kontakt mit ihnen; ein besonderer Umgang mit Erziehungsberechtigten (klar, einfühlsam aber bestimmt), erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Schülerheim Brigittenau (gelebte Vernetzung und Zusammenarbeit). •Schindl, Walter (Dir. i. R., OSR) – mein zweiter Chef in meiner Dienstzeit (während meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin) war (und ist) ein „Sir vom Scheitel bis zur Sohle“. Für mich ein Vorbild an Diszipliniertheit, Führungsqualität aber auch Flexibilität. Von einer SES kommend, wo er in diesem System zuerst Lehrer und dann Direktor war, wurde unter seiner Amtszeit als Direktor der SES Galileigasse das System der Beratungslehrer/innen etabliert (in Zusammenarbeit mit Dr. Karl Köppel und Gerhard Mörwald). Ein erster Schritt zur integrativen Beschulung von Schüler/innen mit sozial/emotionalen Benachteiligungen. •Simpson, Stuart DA (EU Büro) – ein Wegbegleiter seit vielen Jahren, mit hohen menschlichen Qualitäten und einer uneingeschränkten Offenheit, Ehrlichkeit und Solidarität, wie sie kaum zu finden sind. Es war ein Glücksfall, ihn durch berufliche Gegebenheiten (z.B.: Gemeinsame Planung eines Englischkurses für ZIS-Leiter/innen, Übersetzertätigkeit der ersten Broschüre zur Integration in Englischer Sprache … ) kennenlernen zu dürfen. •Stender, Judith Mag. – seit 22 Jahren mit mir in einem Büro. Zuerst in der Gasgasse und dann im SSR für Wien. Sie ist eine der diszipliniertesten, solidarischsten, umsichtigsten, verlässlichsten und ehrlichsten Menschen, die mir je untergekommen sind. Mit ihr im Team zu arbeiten, sei es im Büro, bei Veranstaltungen, bei Referaten, bei Schulentwicklungsbegleitungen oder Vorträgen war immer ein Gewinn. Trotz unserer unterschiedlichen Herangehensweise bei vielen Dingen, haben wir uns (vielleicht gerade deshalb) gut ergänzt. Wertschätzung und Offenheit, Solidarität und dazwischen „blödeln können“ und auch lachen, zeichnet(e) unsere Beziehung aus. Rechtzeitig mit Vorbereitungen zu beginnen, ist eine ihrer großen Stärken – ich war dadurch sehr in einer „winwin“ Situation bei unseren vielen gemeinsamen Seminaren und Veranstaltungen – denn entweder hat sich mich dadurch mitgerissen und ich habe auch rechtzeitig begonnen, oder sie hatte oft schon vorgearbeitet. •Tuschel, Gerhard (LSI i. R.) – er hat mich von der Beratungslehrerinnentätigkeit in den SSR (damals Expo Gasgasse) geholt. Beim weiteren Auf – und Ausbau der Integrationsberatungsstelle hat er trotz klarer Führung immer sehr viel Spielraum für eigene Ideen, Vorstellungen, Planungen und Eigenverantwortung gegeben. Seine unendliche Umsicht und Großzügigkeit haben ihn ausgezeichnet, sein Gedächtnis und sein Wissen waren beeindruckend und sehr oft sehr hilfreich. Durch seine lustigen und auflockernden „bon mots“, auch im Alltag, gab es oft zwischendurch etwas zu schmunzeln oder zu lachen; ebenso durch sein Talent, gewisse Situationen an Hand einer Skizze oder Karikatur festzuhalten. Besonderen Dank für die Zusammenarbeit: Personen im Bereich der MA56, des FSW, der MA10, der MA11, der ÖAH (Österreichische Autistenhilfe), der Wiener Kinder und Jugendbetreuung, des AJF, von Integration Wien. Allen ZIS - Leiter/innen des 17. und 18.IB`s, etlichen Direktor/innen von VS und Neuen Mittelschulen, von Polytechnischen Schulen aber auch von ahS Standorten, all jenen Menschen im SSR, die mich im Alltag immer sehr gut unterstützt haben: Hauspersonal, Telefonzentrale, Portiere, Einlaufstelle (Verteilung des I-Journals), Druckerei, Schulservice, Schulpsychologie und Rechtsabteilung, Mitarbeiter/ innen der Pflichtschulabteilung, Vertreter/innen der ahS Abteilung, den Vertreter/innen des BMBF, den Vertreterinnen von „Integration Wien“ und den Kolleginnen und Kollegen in den Bundesländernim Redaktionsteam der Zeitung „Integration in der Praxis“. 117 I-JOURNAL Mai 2015 Anliegen, die ich noch hätte • Ich wünsche mir für die Schule Voraussetzungen, die jeder andere wirtschaftlich geführte Betrieb für sich in Anspruch nimmt: Ausschließlich professionelle, sehr gut qualifizierte und gut bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Gerade hier – es geht um Kinder. In jedem Bereich (Gesundheit, Steuerberatung, Rechtsanwaltschaft oder Privatwirtschaft) erwarte ich als „Kunde“ selbstverständlich Spezialist/ innen. Kinder und Jugendliche haben das Recht, von hochqualifizierten Menschen begleitet zu werden. Dazu gehören vor allem gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch gut ausgebildete Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, gut ausgebildete Schulärztinnen und Schulärzte, gut ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten, gut ausgebildetes medizinisches Personal (für z.B. chronisch kranke Kinder…) und gut ausgebildete Schulassistentinnen und -assistenten. Das heißt: Ich wünsche mir mehr Professionalität. Kinder haben das Recht auf Professionalität im Rahmen von Kindergarten und Schule. Gesunde, benachteiligte und auch chronisch kranke Kinder. Alle Menschen, die sich dafür stark machen, sind in meinen Augen am richtigen Weg. • Ich wünsche mir flächendeckend ganztägige Schulen schon seit Beginn meiner Dienstzeit 1976, wo ich rasch erkannte, welche Nachteile Jugendlichen einer (damaligen) Hauptschule erwachsen, wenn sie keine Begleitung (Berufstätigkeit der Eltern oder des Elternteils) oder keine Angebote (aus finanziellen oder zeitlichen Gründen) am Nachmittag haben. Die minimale Basis für Chancengerechtigkeit beginnt spätesten hier (auch schon im Kindergarten oder der Kinderkrippe). • Ich wünsche mir mehr Mut von Ausbildner/innen an den PH´s, ungeeigneten Studierenden rechtzeitig zu vermitteln, dass ihre Zukunft nicht im pädagogischen Bereich liegen wird. • Ich wünsche mir bessere Möglichkeiten, Kolleg/innen, die ihren Dienst nicht mehr professionell im Sinne einer guten Begleitung von Kindern versehen können, den Dienstvertrag zu kündigen und sie in eine Umschulung zu begleiten (wie es auch in anderen Berufssparten praktiziert wird). Eine andere Möglichkeit wäre, sie im Rahmen von Schulautonomie anderwärtig einzusetzen. (Lehrerdienstrecht) • Ich wünsche mir bei Nachbesetzungen von Inspektoren/innen und/oder Schulleiter/innen jene Form von „Übergängen“, die wir in (vor)schulischen Bereichen haben oder auch fordern. In den seltensten Fällen scheidet jemand überraschend aus. Ausschreibungen könnten rechtzeitig stattfinden und es wäre der Anspruch zu stellen, dass es eine entsprechende Übergabe vor Ort geben muss. Für Kolleg/innen, Eltern, Kinder und das Netzwerk um Schule wäre das eindeutig ein Vorteil. Loslassen Dafür ist jetzt wohl die Zeit gekommen. Entschieden habe ich mich eigentlich dazu vor vier Jahren. Ein sehr rationaler, persönlicher Entschluss, den ich damals gefasst habe. Eine gute Zeitspanne, sich damit zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Loslassen muss ja nicht heißen, kapitulieren oder versagen, es kann auch bedeuten, bewusst in einen neuen Lebensabschnitt hinüberzugleiten. Ich sehe mich als Glückspilz, da ich nicht, wie viele andere Menschen, durch Kündigung oder gesundheitliche Umstände abrupt loslassen muss, sondern mich sehr selbstbestimmt und langfristig darauf einstellen kann/konnte. Richtig loslassen werde ich wohl erst am allerletzten Tag meiner Arbeit. Brigitte Mörwald 118 I-JOURNAL Mai 2015 119 Herausgegeben von der Integrationsberatungsstelle im Stadtschulrat für Wien Verantwortliche Herausgeberinnen: Brigitte Mörwald, Mag. Judith Stender, Renate Dirnberger, MA, Gerda Kargl Für den Inhalt verantwortlich: Alle Autorinnen und Autoren sind eigenverantwortlich für den Inhalt der Artikel und die Genderformulierung. Layout: Gerda Kargl Druck: Eigendruck