1. Einleitung
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1. Einleitung
1. Einleitung Immanuel Kants 1781 in erster, 1787 in zweiter Auflage veröffentlichte »Kritik der reinen Vernunft« (KrV) ist ein Buch über ein Seelenvermögen.1 In der Vorrede zur ersten Auflage stellt Kant selbst dies in aller wünschenswerten Klarheit fest: Ich verstehe aber hierunter [erg.: unter einer Kritik der reinen Vernunft, d. V.] nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, [m. H., d. V.], [...] (A XII) Bevor man das Vernunftvermögen kritisieren kann, muß man wissen, was überhaupt kritisiert werden soll. Kant selbst glaubte, dieses Wissen bei seinem Publikum noch voraussetzen zu dürfen. Nirgends in seinem veröffentlichten Werk findet sich eine Erörterung dessen, was Vermögen sind, wie man sie erkennt oder welche Funktionen diese Begrifflichkeit für philosophische Begründung übernehmen kann. Teilweise kann man dies sicherlich mit der allgemeinen Zögerlichkeit Kants erklären, sich auf Reflexion seiner philosophischen Methode einzulassen – eine Leerstelle in Kants System, die schon von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurde.2 Aber heutige Leser sollten sich dennoch fragen, ob der zeitliche Abstand von über zweihundert Jahren nicht doch dazu beigetragen hat, Kontexte zu verschütten, deren Fehlen heute einem sachangemessenen Verständnis des Textes im Wege steht. Die vorliegende Arbeit verfolgt deswegen zunächst das Ziel, diesen historischen Zusammenhang zumindest in Ausschnitten wieder sichtbar zu machen. Dazu ist es unumgänglich, Kants in aller Bescheidenheit vorgetragenen, aber dennoch unmißverständlichen Gestus des philosophischen Neuanfangs in Frage zu stellen: Philosophische ›Kritik des Vernunftvermögens überhaupt‹ war auch für Kant ohne Kritik der Bücher und Systeme der Tradition nicht möglich.3 Deswegen widmen sich die Kapitel 2 und 3 der Ar1 2 3 Kant 1966, im folgenden zit. nach Paginierung der ersten (A) bzw. zweiten (B) Auflage. Zu diesen gründlichen Lesern Kants zählten etwa Reinhold und Anaesidemus Schulze. Vgl. Rohs 1998, S. 567f. Eine umfassende historische Würdigung des Vermögensbegriffs würde begreiflicherweise den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einen ersten Ansatzpunkt bietet Jansen 2002, eine umfassende systematische Rekonstruktion des für den Vermögensbegriff zentralen neunten Buchs der aristotelischen Metaphysik, die auch die Relevanz der aristotelischen Theorie für zeitgenössische Debatten über Kausalität und Modalität unterstreicht. 10 1. Einleitung beit der Vermögenspsychologie in der Schulphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie zeigen, daß die Verwendung des Vermögensbegriffes für die Beschreibung und Kategorisierung mentaler Vorgänge zwar weitverbreitet war. Zugleich aber stritt man ausgiebig über die Frage, welche ontologischen Verpflichtungen mit diesem Begriff verknüpft sind. Auch Kant läßt sich, wie im vierten Kapitel zu zeigen ist, noch in die Tradition dieses Disputs einordnen, selbst wenn er ihn in der Sache überwunden hat. Aber eine solche historische Verortung von Kants Vermögenstheorie, ihre Verbindung mit Traditionslinien, Einflüssen ist nur die eine Aufgabe, die in dieser Arbeit gelöst werden soll. Auch der systematische Gehalt der Theorie ist aufzuklären. Dies ist am ehesten zu leisten, indem man versucht, eine Begründung für sie zu rekonstruieren. Dies soll in den Kapiteln 5 und 6 geschehen. Es wird wohl nicht zu viel vorweggenommen, wenn hier schon darauf hingewiesen wird, daß ein solcher Begründungsversuch in letzter Instanz scheitert. Doch findet dieses Scheitern auf einem philosophisch sehr viel instruktiveren Niveau statt, als das die bisherige Kant-Exegese wahrhaben wollte. Bevor hier nun die Umrisse eines Begründungsversuchs für die Vermögenstheorie der KrV skizziert werden sollen, stellt sich natürlich die Frage, inwiefern die Kant-Forschung, so weit diese überhaupt noch zu überblicken ist, zu diesem Problemkreis schon Stellung bezogen hat. Die einzige uns zugängliche Monografie zum Thema verfolgt ein sprachwissenschaftliches Forschungsinteresse:4 Kants Vokabular der Erkenntnisvermögen dient ihr nur als klar definierte Menge von Fachtermini, deren lexikografische Aufarbeitung theoretisch reflektiert wird. Für die Kant-Exegese liefert der Band außer einer vollständigen Auflistung all dessen, was bei Kant als Erkenntnisvermögen aufgefaßt werden kann (u. a. Dummheit, Fassungskraft, Gedächtnis, Gefühl, Geschmack, Klugheit, Mutterwitz, Unterscheidungskraft und Witz), nichts.5 Allerdings zeigt diese Liste schon, daß der Bereich dessen, was in der KrV als Gegenstand der Vermögenstheorie im eigentlichen Sinne zu zählen hat, genauer eingegrenzt werden muß: Fassungskraft und Mutterwitz sind nicht Thema transzendentaler Erkenntnistheorie, sondern bestenfalls der empirischen Psychologie. Einen ersten Hinweis darauf, welche Vermögen innerhalb der KrV als Erkenntnisvermögen im engeren Sinne betrachtet werden sollten, liefert der äußere Aufbau der Theorie, ihre ›Architektonik‹. Denn die KrV gliedert sich in eine Elementar- und eine Methodenlehre. Die 4 5 Roelcke 1989. Vgl. Roelcke 1989, S. IIIf. 1. Einleitung 11 Elementarlehre stellt eine Analyse der Erkenntniselemente zur Verfügung, aus deren Kombination heraus empirische Erkenntnis oder, wie Kant es nennt, Erfahrung möglich werden soll.6 Diese Elemente werden wiederum (mit welcher Berechtigung, das wird noch näher zu klären sein) verschiedenen Vermögen zugeschrieben. So zerfällt die Elementarlehre in zwei Teile, die ›Transzendentale Ästhetik‹ und die ›Transzendentale Logik‹.7 Erstere ist die Wissenschaft der Sinnlichkeit, letztere die des oberen Erkenntnisvermögens. Die ›Transzendentale Logik‹ gliedert sich wiederum in Analytik und Dialektik. Letztere ist die Wissenschaft des theoretischen Vernunftgebrauchs, während die Analytik nochmals in zwei Teile zu zergliedern ist, nämlich die dem Verstand gewidmete Analytik der Begriffe und die der Urteilskraft zuzuordnende Analytik der Grundsätze. Das einzige Vermögen, das nicht derart in der Architektonik der KrV gespiegelt wird und das hier dennoch ausführlicher analysiert werden soll, ist die Einbildungskraft. Auf die Gründe für diese ›Vernachlässigung‹ innerhalb des theoretischen Gebäudes der KrV wird noch einzugehen sein. Gegenstand der Untersuchung sind in dieser Arbeit also Sinnlichkeit (das Vermögen, sich Anschauungen von Gegenständen geben zu lassen, B 33), Verstand (das Vermögen, Begriffe und Urteile zu haben, ebd.), Urteilskraft (das Vermögen, Begriffe anzuwenden, B 171), Einbildungskraft (das Vermögen, abwesende Gegenstände vorzustellen, B 150) und Vernunft (das Vermögen zu schließen, B 360f). Zwei Abhandlungen verdankt diese Arbeit wesentliche Anregungen, ja, den Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen. Ihren Ergebnissen ist zwar 6 7 Insofern ist es zumindest mißverständlich, wenn Mohr 2004 es als Aufgabe der Elementarlehre ansieht, die Elemente der Kantschen Theorie zusammenzutragen. Sie ist vielmehr die Lehre von den Elementen der Erkenntnis selbst, insofern sie als geltungsrelevant anzusehen sind. Hätte Mohr recht, wären Vermögen auch als Vermögen zu den Elementen der Erkenntnis schon Kants Anspruch nach lediglich modellhafte Konstrukte. Ähnlich interpretieren Pandey 1993, S. 24 unter Rekurs auf die einschlägige Kritik von Herbart und Herder sowie Dessoir 1924, S. 105f Kants Vermögenstheorie. Daß dies nicht Kants Ansicht war, wird zu zeigen sein. Natterer 2003 lässt trotz seines Anspruchs, Kant als Vorläufer der modernen Kognitionspsychologie auszuzeichnen (vgl. a.a.O, S. 11) den Vermögensbegriff vollkommen außer acht. Auf dem Hintergrund seines »methodische[n] Leitprinzip[s]«, nämlich eine »schrittweise Rekonstruktion der Genese der Kognition« vorzulegen (vgl. a.a.O., S. 8) hätte er sich jedoch zunächst der Bedeutung von Kants eigener Begrifflichkeit versichern müssen, bevor er sie umstandslos auf Debatten der modernen Kognitionspsychologie überträgt. Die Folgen dieses fehlgeleiteten Vorgehens diskutiert Heßbrüggen-Walter 2004. Der Gedanke, Logik und Ästhetik zusammen mit der Ethik als System von Disziplinen zur Vervollkommnung der menschlichen Gemütskräfte aufzufassen, geht auf Georg Friedrich Meier zurück. Vgl. Schenk 1994, S. 109.