Wie der Herkules zum großen Christoph wurde

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Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Kasseler Herkules
Zweiter Teil1
von Joachim Schröder
Im ersten Teil dieses Aufsatzes wurde ausgeführt, dass wohl seit der Mitte des 18.
Jahrhundert der Kasseler Herkules mit Rückgriff auf die kultische Funktion des beliebtesten mittelalterlichen Heiligen, nämlich des Christophorus, als „großer Christoph“
popularisiert worden sei. Diese Popularisierung sei notwendig gewesen, da das Bauwerk auf dem Kasseler Karlsberg mit den Kaskaden und dem es krönenden Helden zur
Zeit seiner Entstehung heftig kritisiert worden sind. Möglicherweise sei die Ersatzbezeichnung „großer Christoph“ für den Herkules aus der Umgebung der Landgrafen
als Gegengewicht zu dieser Kritik in die Welt gesetzt worden. Über diesen „Umweg“
sollte der Herkules Akzeptanz erfahren und volkstümlich werden. Bei dieser
Popularisierung habe die sicherlich vorhandene Kenntnis der Gebildeten hinsichtlich
der tradierten christlichen Interpretation des Herkules, aber auch der erkennbaren
„Verwandtschaft“ zwischen dem Helden und dem Heiligen in Vita und Ikonographie
geholfen.
Diese Kritik am Bauwerk mit dem Herkules, seine christliche Interpretation und die
Züge einer „Verwandtschaft“ zwischen dem Heroen und dem Heiligen, die dieser
Popularisierung gedient haben könnten, sind Gegenstand des zweiten Teils der Abhandlung.
Für die These, dass diese Popularisierung einer bewussten Strategie aus dem landgräflichen Umfeld und nicht dem viel zitierten „Volksmund“ entsprungen sei, ließen
sich bisher keine Quellen finden. Hier wäre Forschung zur Frage des Ausbildungs- und
Wissensstands der Gebildeten im Umkreis des Landgrafen, der zur Verfügung
stehenden Literatur und des Anschauungsmaterials erforderlich. Dass Landgraf Karl
selbst über klassische Bildung verfügte, ist bekannt. Deswegen ist die folgende
Argumentation unter dem Vorbehalt „So könnte es gewesen sein!“ zu lesen.2
1. Popularisierung gegen Kritik am Herkules?
Der Bau des „Winterkastens“ mit der vom Herkules gekrönten Pyramide sowie der
Kaskaden mit den Wasserspielen, der sich von 1701 bis 1717 hinzog, wurde in der
Umgebung des Landgrafen und in der Bevölkerung heftig kritisiert.
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1
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Erster Teil in: ZHG 113, 2008, S. 221-243.
Ich hoffe nicht, dass man am Ende des Aufsatzes sagen kann: „Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, / Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide / Von einem bösen Geist herumgeführt, / Und rings umher liegt schöne grüne Weide.“ Johann Wolfgang VON GOETHE, Faust, 1. Teil, Z. 1830 ff.
Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 114 (2009), S. 205-234
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Joachim Schröder
Die Verwandtschaft des Landgrafen verhielt sich schon während der Entstehung
diesem gewaltigen Bauwerk gegenüber ablehnend. „Die dem Landgrafen und seiner
Familie so gewogene Kusine Elisabeth Charlotte3, die selbst am verschwenderischsten
Hofe Europas [in Versailles] lebte, hat in ihrer etwas hausbackenen Manier aus der
Ferne den künstlerischen Höhenflug lebhaft beanstandet. Ich fürchte, mein Vetter, der
Landgraf, wird sich mit seiner Cascaden gantz ruinieren, deucht mir ein unnötige Kosten zu sein, denn vor 20 000 Th. des Jahrs kan man sonsten viel gutes stifften, thete
besser, es zum Nutz seines Vatterlandts zu gebrauchen …. Diesem Urtheil folgten 1707
und 1708 weitere Worte des Tadels: Wie man mir von meines Vetters des Landgrafen
Cascade gesprochen, so soll sie auf viel Millionen kommen, und die könne sich
nirgends ohne incommoditet ausgeben lassen … Mein Vetter, der Landgraf, hat große
Unrecht, seine Cascade, weillen sie so über die Maßen schön ist, nicht recht abcopieren zu lassen; unter uns geredt, so deucht mir, dass der Landtgraff das große Gelt, so I.
L. dort ahngewendt, nötiger brauchen können. Die wiederholte Aufnahme des Themas
beweist, dass es am Versailler Hofe Personen gab, die über das künstlerische Geschehen am Kasseler Hofe unterrichtet waren, denen sich die Bauten des Landgrafen als
eine Art Weltwunder vorstellten.“4
Die Söhne des Landgrafen Karl, der spätere König von Schweden und Landgraf
Friedrich I. sowie der spätere Landgraf Wilhelm VIII., stellten dem Bauwerk eine unverhohlene Ablehnung entgegen. „[…] König Friedrich, habe, wie man erzählte, gegen
das väterliche Werk solchen Widerwillen, dass er, befragt darüber, wie ihm der Bau
anstünde, zur Antwort gegeben habe, es fehle nur eines daran, nämlich zu alleroberst
der Galgen, um den Angeber daran zu hängen.“5
„Der Frankfurter Ratsherr [Johann Friedrich Armand von] Uffenbach verhehlte
1728 nicht seine Bewunderung für die Großartigkeit und die Wucht des Karlsberges,
nahm aber auch kritisch die Zeichen des Verfalls wahr. … Die Kosten für das Lustund Wasserwerk, bemerkte Uffenbach, überstiegen königliche Einkünfte, ‘sodass man
leichtlich denken kann, mit was für Augen die Nachfolger eines solchen Bauherrn und
das Land selbsten diese Liebhaberei ansiehet’“.6 „Laut einer Aufstellung von 1710
betrugen die Baukosten bis zu diesem Jahr 200 007 Reichstaler und hatten zur Zeit der
intensiven Bauarbeiten jährlich rund 20 000 Reichstaler beansprucht, etwa ein Fünftel
der zur Finanzierung überwiegend herangezogen Kabinettseinkünfte, die dem Fürsten
direkt zustanden.“7
Wie die Nachfolger urteilten, ist oben erwähnt. Über die „Augen“, mit denen „das
Land selbsten“ das Bauwerk, das man den „Winterkasten“ nannte, angesehen hat, gibt
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Das ist die durch ihre Briefe berühmt gewordene Lieselotte von der Pfalz.
Hans PHILIPPI: Landgraf Karl von Hessen-Kassel. Ein deutscher Fürst der Barockzeit (VHKH
34), Marburg 1976, S. 589.
Ebd., gemeint ist mit „Angeber“ der italienische Architekt Giovanni Francesco Guerniero.
Ebd.
Gerd FENNER: Der „Grottenbau“ auf dem Karlsberg. Zur Baugeschichte des Oktogons und der
Wasserkünste, in: Herkules. Tugendheld und Herrscherideal. Das Herkules-Monument in KasselWilhelmshöhe, hg. von den Staatlichen Museen Kassel, Christiane LUKATIS und Hans
OTTOMEYER, Kassel 1997, S. 111.
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es nur wenige Quellen. Dass es in der Bevölkerung im Untergrund ‚grummelte’, dürfte
verständlich sein. Das folgende Beispiel belegt diese Stimmung.
Der Schulmeister Martin Becker aus dem Dorf Böddiger, etwa 20 km südlich von
Kassel bei der Stadt Felsberg im Edertal gelegen, habe, wie Paul HEIDELBACH berichtet, nach Vollendung des Herkules-Baues „mit anerkennenswertem Mut, aber auch
argen Übertreibungen“ in einer abschriftlich erhaltenen fanatischen Bußpredigt8, die er
an den Landgrafen und „andere hochgebietende Herren Sowohl Geist- als Weltlichen
Standes“ gerichtet habe, im allgemeinen gegen „die allgemeine Sittenverderbnis“ und
die „Perücken und Fontangen“ im besonderen geeifert. Die Bußpredigt beginnt so:
„Wehe dir armen Hessenland!
Wo du nicht bald Buße thust!
Ew. Hochfürstl. Durchl. kann ich armer einfältigster Mensch unmöglich unterlassen
die Seufzer der armen Unterthanen hiermit in tiefster Unterthänigkeit vorzulegen, es
koste auch was es wolle, und wann es schon mein Bestes kostet, so ist´s doch nicht
mehr als ein Klumpen Erde. Dann die Liebe zu Ew. Hochfürstl. Durchlaucht und zu
den Armen treibt mich darzu, dass ich unmöglich schweigen kann. Gott der Herr sagt
zu uns: Ihr esset oder trinket oder was ihr thut, das thut Alles zu Gottes Ehr. Dürfte
man nun wohl fragen: Wozu doch solch Gebäw mit dem verfluchten Bilde, das man den
Winterkasten nennet, gebauet wäre? Sollte man wohl etwas daran finden zu Gottes
Ehre? Ach! Ich sage nicht zu Gottes Ehr, sondern vielmehr zur fleischlichen Ergötzung! Ach! Wieviel tausend Seufzer sind wohl darüber gefallen und zu Gott in den
Himmel gestiegen. Zu solchem unnöthigen Gebäw mag man billiger mit dem Jünger
Jesu sagen: Solches hätte wohl besser mögen theuer verkauft und den Armen gegeben
werden. So haben so viel tausend Arme dazu steuern müssen, und also der Armen
Schweiß und Blut daran erbauet worden. Dörfte man wohl weiter gehen? So kann man
solcher und dergleichen unnöthiges Gebäw mehr finden. […] Ja,, anstatt daß man
einen Vorrath nach dem andern in unsere hochfürstl. Schatzkammer sammeln sollte,
damit man im Fall der Noth nicht alles von den armen Unterthanen fordern müsste,
davon man nichts anderes als ein tägliches Heulen und Wehklagen über Geld und Geld
geben hören muß, so muß man leider Gott erbarm´s! sehen und erfahren, dass solches
zum verfluchten Hoffart und Narrentheidungen und Schertze, die uns als Christen nicht
ziemen, muß angewendet werden, das sei Gott geklagt!“9
Christoph von ROMMEL, ein dem Hofe nahe stehender Beamter, erwähnt diese
Bußpredigt ohne Namensnennung nur in einer Anmerkung, wobei er seine Missbilligung des „Bußpredigers“ deutlich ausdrückt: „Nicht nur erwähnt Guernieri (der
noch im Jahre 1731 mit zwei Stukkatoren nach Cassel kam), schon seit 1717 seiner
Feinde in Cassel, sondern es hat sich auch, außer der Volkssage eines sehr kräftigen
Widerspruchs des Erbprinzen Friedrich, eine Bußpredigt eines eifrigfrommen Predigers
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8
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Vgl. Paul HEIDELBACH: Die Geschichte der Wilhelmshöhe. Leipzig 1909, S. 83 f.; ebd. S. 401:
Die Abschrift sei in der Bibliothek des Hessischen Geschichtsvereins.
Ebd. Der Duktus dieser „Bußpredigt“ könnte von pietistischen Strömungen, die auch in Hessen
Einfluss gewannen, geprägt sein. Einer der Protagonisten war Conrad Mel, ab 1704 Leiter des
Hersfelder Gymnasiums. Vgl. Peter UNGLAUBE: Einblicke in Kurhessens Kirchengeschichte,
Kassel 1996, S. 52.
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erhalten, worin der heidnische Hercules – nachher im Munde des Volkes der große
Christoph – als ein Teufelswerk perhorreszirt wird.“10
Alois HOLTMEYER nennt den Namen des Lehrers, Martin Becker aus Böddiger, und
zitiert aus dessen „Bußpredigt“11, ohne diese weiter zu kommentieren. In der Chronik
zum 900-jährigen Bestehen des Dorfes Böddiger wird im Abschnitt „Böddiger im
niederhessischen Dorfbuch 1742“ die „Bußpredigt“ mit lokalpatriotischem Zungenschlag
kommentiert: „Eine interessante Begebenheit hält eine Akte von 1717 über den Bau des
Kasseler Herkules und den Protest eines tapferen Böddiger Schulmeisters fest: Dieser
Herkules und das Riesenschloss wurden vom Landgrafen als Zeichen seiner absoluten
Gewalt erbaut. Nur murrend wurden die Steuerlast und der Dienst hierzu ertragen. Nur
der Böddiger Lehrer war scharfer Widersacher gegen den Bau und nahm kein Blatt vor
den Mund. Er hielt eine fanatische Bußpredigt ‚wider das verfluchte, vom Schweiße und
Blute der Armen errichtete Gebäu auf dem Winterkasten’. Er wurde angezeigt und aus
dem Dienst entlassen! Ein tapferer Mann!“12 Eine Anzeige war sicherlich kaum nötig,
wenn die „Bußpredigt“ direkt dem Landgrafen zugestellt bzw. vorgelegt worden ist.
Die Kritik des Lehrers Martin BECKER an den hohen Kosten, die er als Verschwendung sieht, und an den Umständen der Erbauung des Bauwerks war in der Bevölkerung wohl weit verbreitet. „Bei den aufwendigen und langwierigen Bauarbeiten
waren neben Bauhandwerkern und Tagelöhnern auch regelmäßig Soldaten sowie die
dienstpflichtigen Untertanen aus den umliegenden Ämtern eingesetzt. Für die Bauern
stellten die vielen Transportfuhren eine besonders starke Belastung dar, sodass es
mehrfach zu Widersetzlichkeiten kam, auf die der Bauherr mit Androhung und Durchführung von Zwangsmaßnahmen drohte.“13
HEIDELBACH stellt für die „Arbeit am Kanal unter Weißenstein“ in der Zeit vom 10.
Mai bis zum 12. September 1710 zusammen, dass aus 46 Ortschaften insgesamt 7.838
Mann, durchschnittlich 30 Mann pro Tag, an manchen Tagen aus einer Ortschaft 60
Mann (z. B. aus Wolfsanger) dort arbeiteten und jeder Mann pro Tag 4 Albus (Albus =
Weißpfennig; 16 Albus waren ½ Taler) erhielt. Dass so viele Männer gerade während
der landwirtschaftlich intensiven Arbeitszeit und Erntezeit abgezogen wurden, hat
sicherlich neben den genannten Widersetzlichkeiten eher verbreitet Murren und Kritik
hervorgerufen als für Begeisterung für das herrliche Bauwerk gesorgt.14
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10 Christoph von ROMMEL: Geschichte von Hessen seit dem westphälischen Frieden bis jetzt durch
Christoph v. Rommel, Cassel 1858, S. 159, Anm. **.
11 A[lois] HOLTMEYER: Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel. Band IV: Kreis
Cassel-Land. Im Auftrage des Bezirksverbandes des Regierungsbezirks Cassel bearbeitet von Dr.
ing. Dr. phil A. HOLTMEYER, Erster Teil, Marburg 1910, S. 249.
12 Waltari BERGMANN und Hans EICHEL: 900 Jahre Böddiger. 1074-1974. Aus der Geschichte des
Dorfes im Edertal …, in: 900 Jahre Böddiger. 100 Jahre Männer- und Gemischter Chor, Felsberg
o. J. [1975], ohne Seitenzahlen, S. 17 f.
13 FENNER (wie Anm. 7), S. 105.
14 Ähnliche „Widersetzlichkeiten“ gab es nach dem Abriss des Schlosses Weißenstein. Wolfgang
HERMSDORFF berichtet in der Artikelserie der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen „Ein
Blick zurück“, Nr. 254 vom 30. Oktober 1993, dass bei den Arbeiten zum Nachfolge-Bau im Mai
des Jahres 1768 die Bauern des Amtes Bauna, die zu Dienstfuhren für den Schlossbau verpflichtet worden waren, in den Streik traten, weil sie sich in der Ausübung ihres Ackerbaus
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Martin Beckers Bußpredigt enthält neben den Vorwürfen der Verschwendung und
der Auspressung der Armen auch eine religiös-moralische Kritik, in der sich einmal die
calvinistisch-reformierte Bilderfeindlichkeit zeigt, dann aber auch die Entrüstung, die
das Volk den „heidnischen“ nackten Standbildern entgegenbrachte.15 Dass die Kritik
nicht ignoriert wurde, zeigt, dass Martin Becker aus dem Schuldienst entlassen wurde.
Da es nur wenige Quellen über die Stimmung der Bevölkerung gibt, ziehe ich ein
Ereignis, das fünfzig Jahre nach der Errichtung des Herkules eine vergleichbare
religiös-moralische Kritik zu Tage bringt, heran. Rainer POLLEY berichtet hierüber in
seinem Aufsatz „Antikensturm im Fuldaer Stadtschloßgarten“.16
Im Jahre 1769 fand ein Prozess gegen den ehemaligen Theologiestudenten Johann
Matthias Seifert, 23 Jahre alt, statt, der am 2. Januar 1769 „acht Statuen mit Figuren der
griechisch-römischen Götterwelt, die im Schloßgarten auf der aus Balustraden gerahmten Treppe von der Schloßterrasse zum Parterre standen“17, vom Sockel gestürzt
und damit zerschlagen hatte. Als Motivation gab er an, er „habe durch Zerstörung der
heidnischen Götterbilder ein christliches Werk vollbringen wollen.“18
Die Standbilder hätten ihn schon lange geekelt; es seien Götzenbilder, in denen der Teufel
wohne; er habe in einer Bittschrift an den Fürstbischof und an die Geistlichen angeregt, dass
man statt deren Engel aufsetzen solle, aber es sei nichts geschehen. Wenn man den Götzenbildern auch nicht opfere, so dürfe man keinen Garten damit zieren. Man dürfe nicht zulassen,
was gegen Gott oder die Mutter Gottes sei, deswegen habe er die Bilder umgestoßen, so wie
es die Apostel in den Tempeln der Heiden getan hätten. Sogar die Wachsoldaten hätten seinen
Vorsatz gebilligt, aber ihn trotzdem gewarnt. Er aber habe tun müssen, was Gott ihm eingegeben habe. „Wegen Schuldunfähigkeit des Delinquenten, die man offenbar nicht so sehr
aus einem medizinischen Tatbestand, sondern aus der Unsinnigkeit der Begründung für die
Straftat geschlossen hatte, sah man von einer eigentlichen Bestrafung ab. [… Er sollte] auf
unbestimmte Zeit in das Arbeitshaus gebracht werden, um dort durch Arbeit und sonstige
geeignete Mittel zu einem vernünftigen Menschen erzogen zu werden.“19
POLLEY kommentiert, dass für Motiv und Tat auch echte Gewissensnot vorgelegen
haben könnte, da die Vereinbarung von antiker und christlicher Kultur schließlich ein
altes Problem für das christliche Selbstverständnis gewesen sei.20 Die in Fulda ge-
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schwer behindert fühlten. Sie mussten nämlich ab einer gewissen Größe ihres Besitzes täglich
drei Fuhren mit Material anliefern. Erst wenn mehr Fuhren nötig waren, wurden sie 1768 mit 18
Albus, also etwas mehr als einem halben Taler, bezahlt. Der Streik hatte den Erfolg, dass alle
Fuhren unmittelbar bezahlt wurden und 1769 ein neuer Fuhrlohn festgesetzt wurde.
Diese Kritik erinnert an das Verbot alles Lasziven in Bildern, das das Konzil von Trient auf der
25. Sitzung am 3.-4. Dezember 1563 erlassen hat. Vgl. Josef WOHLMUTH (Hrsg.): Dekrete der
ökumenischen Konzilien, Paderborn u. a. 2002, Bd. 3, S. 774 ff.
Rainer POLLEY: „Antikensturm“ im Fuldaer Stadtschlossgarten. Ein heiteres Kapitel Strafrechtsgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: ZHG 94, 1989, S. 143-151.
Ebd. S. 144.
Ebd.
Ebd. S. 145.
Ebd. S. 144. Zur Bilderfrage s. Thomas ASCHENBRENNER, Oskar THULIN: Bilderfrage. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, begonnen von Otto SCHMIDT, Redaktion Karl-August
WIRTH, repromechanischer Nachdruck München 1983, Band II, Sp. 561-572.
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äußerte Kritik dürfte durchaus weit verbreitet gewesen sein. Bei aller aufgeführten
Kritik am Herkules-Bauwerk darf man aber nicht unterschlagen, dass es auch Identifikation der Bevölkerung mit der zur Schau gestellten Pracht und Herrlichkeit gab, die
durch rege Anteilnahme der Bevölkerung zum Beispiel bei der Eröffnung der Wasserspiele am ersten Sonntag im Juni 1714 deutlich wurde. Der absolutistische, aber auch
joviale Landgraf Karl, der sich nicht nur bei diesem Anlass unter die fröhliche Menge
mischte, war durchaus auch bei Bauern beliebt.21
Die gebildete Generation nach dem Landgrafen Karl neigte, abgesehen von Goethe,
mehr zur Bewunderung der gesamten Anlage. Als Beispiel sei zitiert: „Als der Dichter
Friedrich Gottlieb Klopstock um 1775 mit Professor Casparson aus Kassel auf der
Höhe des Karlsberges neben dem Herkules stand und auf die tausend Schönheiten der
Natur und Kunst herabblickte, rief er begeistert aus: Mein Gott! Welch einen großen,
schönen Gedanken hat der Landgraf [andere Quellen: euer Fürst] da in unsers Gottes
Schöpfung hineingeworfen!“22
Johann Wolfgang VON GOETHE kritisiert die Anlage in den Aufzeichnungen zu seiner „Italienischen Reise“ am 27. Oktober 1786 im Vergleich zu dem Aquädukt von
Spoleto: „Spoleto hab’ ich bestiegen und war auf der Wasserleitung, die zugleich
Brücke von einem Berg zu einem anderen ist. Die zehen Bogen, welche über das Tal
reichen, stehen von Backsteinen ihrer Jahrhunderte so ruhig da, und das Wasser quillt
immer noch in Spoleto an allen Orten und Enden. Das ist nun das dritte Werk der
Alten, das ich sehe, und immer derselbe große Sinn. Eine zweite Natur, die zu bürgerlichen Zwecken handelt, das ist ihre Baukunst, so steht das Amphitheater, der Tempel
und der Aquadukt. Nun fühle ich erst, wie mir mit Recht alle Willkürlichkeiten verhasst
waren, wie z. B. der Winterkasten auf dem Weißenstein, ein Nichts um Nichts, ein ungeheurer Konfektaufsatz, und so mit tausend anderen Dingen. Das steht nun alles totgeboren da, denn was nicht eine wahre innere Existenz hat, hat kein Leben und kann
nicht groß sein und groß werden.“23 Die ästhetische Kritik Goethes, die den Anlagen
auf dem Karlsberg „die wahre innere Existenz“ abspricht, weil sie „keine zweite Natur“
bedeuteten, steht in dieser Form fast allein da.24
Mit diesen Beispielen kann hinreichend sicher davon ausgegangen werden, dass aus
der Verwandtschaft des Landgrafen und allgemeiner in der Bevölkerung nicht nur in
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21 Vgl. Marianne BOLBACH: Wilhelmshöhe. Geschichte und soziale Bedeutung, Kassel 1988, S. 30 ff.
22 Eduard BRAUNS: Wilhelmshöhe und der Herkules im Urteil bekannter Besucher, in: Hessische
Heimat, NF, Jg. 27, 1977, S. 148. Hier finden sich außer den Zitaten Äußerungen von Uffenbach,
1728, Adolph Freiherr von Knigge 1769 und 1792, Joachim Heinrich Campe 1782, Friedrich
Hölderlin 1796, Ludwig Lindenmeyer 1796, Clemens Brentano 1801, Jean Paul 1801, Königin
Katharina, Gattin Jérômes 1807, Friedrich Gottlob Wetzel 1808, Ernst Koch 1830, Franz von
Dingelstedt 1839.
23 Johann Wolfgang VON GOETHE: Italienische Reise, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe,
Band XI, Hamburg, 61964, S. 121 f.
24 Zur Kritik des Schriftstellers Friedrich Justinian von Günderode und des berühmten Gartentheoretikers Christian Cay Lorenz Hirschfeld 1782 siehe F. Carlo SCHMID: „Das achte Wunderwerk auf Erden“. Die Bauten und der Park am Karlsberg in Beschreibungen des 18.und 19. Jahrhunderts, in: Katalog Kassel (wie Anm. 7) S. 121-139, bes. S. 123-126; Günderode vor allem
missbilligt die immensen Kosten für Bau und Unterhalt der Anlage.
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Kassel die Bauwut und Antikenbegeisterung der barocken absolutistischen Fürsten aus
unterschiedlichen Gründen kritisiert worden ist, und diese Stimmung wird im Umfeld
der Landgrafen nicht verborgen geblieben sein.
Könnte deswegen nicht jemand aus der Umgebung der Landgrafen – ob nun schon zu
Landgraf Karls Regierungszeit oder erst später, bleibe dahingestellt – auf die Idee gekommen sein, dass eine Popularisierung des hohe Summen verschlingenden HerkulesBauwerks von Interesse sein könnte? Auch wenn die absolutistischen Fürsten des 18.
Jahrhunderts keine Rechtfertigung ihrer Herrschaft und ihrer Entscheidungen brauchten,
so waren sie doch an der Loyalität ihrer Untertanen interessiert, sei es, um die Widerstände bei der Steuereintreibung zu verringern, oder sei es darum gewesen, die Werbung
für die Soldaten, die schon von Landgraf Karl im Rahmen von sog. „SubsidienVerträgen“ gegen hohe Summen an andere Länder vermietet wurden, zu erleichtern.
Mit der Gleichsetzung des Herkules mit dem Christophorus konnte der sicherlich
überwiegend ablehnenden Grundstimmung in der Bevölkerung mit Hilfe der Beliebtheit des volkstümlichen Heiligen die Spitze genommen werden. Das kultische Wissen
um ihn war auch im reformierten Hessen im Gedächtnis der Bevölkerung geblieben,
und auch das ikonographische Wissen über den Heiligen dürfte in der Erinnerung an
die Christophorus-Darstellung in der Marburger Schlosskapelle, an die Zierenberger
und Neukirchener Wandgemälde ebenfalls vorhanden gewesen sein (vgl. den ersten
Teil der Abhandlung). Darüber hinaus konnte die fürstliche Umgebung auf Objekte aus
den fürstlichen Kunstsammlungen zurückgreifen, die den Heiligen zeigten.
In dem kostbaren Gebetbuch des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg (15251576), das auf ungeklärtem Weg in den Besitz der hessischen Landgrafen gekommen
ist und heute im Besitz der Kasseler Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek –
Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel – ist25, befindet sich
eine farbige Miniatur des heiligen Christophorus. Sie wird dem Maler Gerart
Horenbout zugeschrieben, der um 1470 in Antwerpen geboren wurde und dort bis
1540/41 lebte.
In der graphischen Sammlung der hessischen Landgrafen befand sich eine Christophorus-Federzeichnung eines vermutlich süddeutschen Meisters, die auf die Zeit um
1510 datiert wird und von der Autor und Entstehungsort vorerst unbestimmt sind. Es ist
allerdings nicht zu bestimmen, wann diese Zeichnung in den Besitz der Landgrafen
gelangte.26
––––––––––
25 Vgl. Andreas GEBHARDT: Odyssee einer Handschrift, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine
vom 30.11.2006. Landes- und Universitätsbibliothek, Inv. Verz. Ms. math. mech.&artium 4° 50;
vgl. Hartmut BROSZINSKI: Kasseler Handschriftenschätze, Kassel 1985, S. 42-48. Das Gebetbuch
sei vermutlich von Kardinal Albrecht von Brandenburg, der einige der später in dem Buch integrierten Blätter 1535 erwarb, über Johann Albrecht von Mecklenburg und dessen Nachfahren
Hans Albrecht II. von Mecklenburg, der sich 1618 mit Elisabeth, der Tochter des Landgrafen
Moritz von Hessen-Kassel verheiratete, gelangt. Hans Albrecht habe das Gebetbuch Elisabeth
geschenkt, und als sie 1625 nach kinderloser Ehe starb, sei es wohl an Moritz gefallen.
26 Süddeutscher Meister (?), um 1510: Hl. Christophorus. Federzeichnung in Graubraun, schwarze
Kreide, 18,7 x 14,5 cm; Graphische Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel, Inv. Nr. g
GS 1419, in: Christiane LUKATIS und Hans OTTOMEYER (Hg.): Katalog Kassel 2000. Mit Pinsel,
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Obwohl die Bezeichnung „großer Christoph“ vermutlich schon bald nach der Aufstellung des Herkules in Umlauf war, könnte die Umbenennung einer Straße in der Unterneustadt ein Indiz für die „Prominenz“ dieses Namens sein. In der Verordnung Landgraf
Friedrichs II. vom 14. Juni 1782 wurde die Straße „Der Ziegenstall“ in der Unterneustadt in
„Die Christophs-Straße“ umbenannt.27 Dass gerade Friedrich II. einen solchen Namen
bestimmt hat, mag damit zusammenhängen, dass er, der bereits 1749 zum Katholizismus
übergetreten war, dem aber als aufgeklärtem Fürsten Toleranz als besondere Tugend galt,
dennoch „seinen Glauben treu gelebt und sich zu ihm bekannt“ hat.28
2. Erleichterung der Popularisierung aufgrund
christlicher Deutung des Herkules
Für die Gleichsetzung des Christophorus mit dem Herkules blieb aber ein gewichtiges
Hindernis bestehen: Herkules war ein „heidnischer“ Heros. Wie konnte der mit einem
christlichen Heiligen verglichen werden?
Diese Hürde war mit Hilfe der tradierten interpretatio christiana, der christlichen
Deutung des Herkules zu überwinden, und diese war auch in der Renaissance und Barockzeit bekannt. Schon der Kirchenvater Titus Flavius Clemens von Alexandrien
(140/50-215/16 n. Chr.) bemerkt, dass Herkules als „Muster des vernünftigen und göttlichen Herrschers gilt.“29 Anicius Manlius Severinus Boethius (um 480-um 524 n.
Chr.) „mahnt seine Leser, dem Weg des Herkules zu folgen, der sich durch seine Taten
den Himmel verdiente“.30 Jean Seznec erwähnt, dass Herkules seit der Schrift Mythologiae des Claudius Gordianus Fulgentius (467-532 n. Chr.) als Tugend allegorisiert
worden ist.31 Erwin PANOFSKY weist nach, dass die Herkules-Figur zur fortitudo, der
christlichen Kardinaltugend der Tapferkeit, wurde.32
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27
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29
30
31
32
Feder und Stift. Meisterzeichnungen der Graphischen Sammlung, Staatliche Museen Kassel
2000, S. 21, Abb. 2.
Sammlung Fürstlich Hessischer Landesordnungen und Ausschreiben, nebst dahin gehörigen
Erläuterungs- und andern Rescripten, Resolutionen, Abschieden, gemeinen Bescheiden und dergleichen, Sechster Theil, welcher dasjenige in sich hält so unter der Regierung Herrn Landgrafen
Friedrichs des II. vom Jahre 1760 bis in das Jahr 1785 ergangen ist, auf gnädigsten Befehl zum
Druck befördert, und sowohl mit einem chronologischen als alphabetischen Verzeichniß der Materien begleitet. Cassel o. J., 14. Juni 1782, S. 1061-63. Diesen Hinweis verdanke ich Roland
Klaube, dem ehemaligen Leiter des Stadtarchivs Kassel.
Karl-Hermann WEGNER: Kurhessens Beitrag für das heutige Hessen (Hessen: Einheit aus der
Vielfalt 5), Wiesbaden 1999, S. 82.
J. Abraham MALHERBE: Herakles, in: Ernst DASSMANN u. a. (Hg.): Reallexikon für Antike und
Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt,
Stuttgart 1988, Bd. 14, Sp. 575.
Ebd.
Jean SEZNEC: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und
in der Kunst der Renaissance. Aus dem Französischen von Heinz JATHO, München 1990, S. 69
Erwin PANOFSKY: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst,
Leipzig, Berlin 1930. Mit einem Nachwort zur Neuauflage von Dieter WUTTKE, Berlin 1997, S.
89 und öfter.
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Solche Umdeutungen wurden über hochmittelalterliche Schriften und Schriften der
Renaissance33 tradiert. Das Leben des Herkules „wird mit dem Leben von Christus
verglichen, seine Taten werden als Überwindung des Bösen interpretiert und christlichen Erzählungen gegenübergestellt. Verbindungen werden auch zu dem alttestamentarischen Helden Samson gezogen. Hier bietet sich besonders das Motiv des
Löwenkampfes zum Vergleich.“34
Auch im hessischen Haus ist die in der frühen Neuzeit verbreitete Verwendung des
Helden als Herrschersymbol aufgegriffen worden.35 Der 1542 von Philipp Soldan aus
Frankenberg angefertigte „Philippsstein“, ein Relief an der Hospitalkirche in Haina36,
erinnert an die Gründung der Hospitäler. Philipp sah sich in der Tradition der Nächstenliebe mit seiner Ahnin, der heiligen Elisabeth, verbunden. Auf dem Gedenkstein links
erscheint Philipp als „neuer Herkules“, was der keulenartige Stab anzeigt. „Bereits in der
Bildergalerie Philipps des Großmütigen (1518-1567) im Landgrafengemach des Ziegenhainer Schlosses tauchte Herkules mit dem Löwen neben Achilles, Hannibal und anderen
Kriegshelden als Idealbild auf. […] Auch in das Figurenprogramm von Philipps Grabmal
in der Kasseler Martinskirche hat man Herkules als Stützfigur aufgenommen.“37
Das Epitaph stand ursprünglich an prominentester Stelle der Kirche, in der
Chorapsis. „Wo in katholischen Kirchen der Hochaltar stand, war in der Martinskirche
ein steinernes Monument aufgestellt, als Stein gewordene Selbstdarstellung und zugleich als Bekenntnis des Landesherren zum neuen reformatorischen Glauben.“38
Das 12 Meter hohe, prunkvolle Grabmonument aus schwarzem Marmor und
gelbem Alabaster für Landgraf PHILIPP den Großmütigen, der 1567 starb, und seine
Frau CHRISTINE von Sachsen, die 1549 gestorben war, wurde 1572 von Adam LIQUIR
vom 2. Geschoss an fertiggestellt. (Abb. 2). Der linke Stützpfeiler – Atlant – im 2.
Stockwerk über dem Architrav ist eine Herkulesstatue (Abb. 3), wie man an dem ins
Kapitell übergehenden Löwenkopfhelm, dem über der Brust verknoteten Löwenfell
und der unter der rechten Hüfte baumelnden Tatze sehen kann. Die Haltung der rechten
Hand hinter dem Rücken erinnert an den Herkules Farnese.39
––––––––––
33 Solche Schriften waren z. B. ALBRICUS, Liber Ymaginum Deorum, (13. Jh.), Giovanni
BOCCACCIO, Genealogie der Götter (um 1375), Coluccio SALUTATI, Über die allegorischen Bedeutungen der Erzählungen des Herkules (1391), Cristofaro LANDINO (1424-1498), De nobilitate,
die Emblemata des Andreas ALCIATUS (1531) oder die Iconologia des Cesare RIPA (1603).
34 Wanda LÖWE: Herkules. Die Biographie eines Helden, in: Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S. 20.
35 Vgl. Klaus IRLE: Herkules im Spiegel der Herrscher, in: Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S.
61 ff. Nach römischen Kaisern identifizierten sich Medici, Habsburger, Bourbonen, Bayern,
Sachsen, Württemberger u. a. mit Herkules als Sinnbild der Herrschertugenden und bezogen ihn
auf sich. Diese „Rhetorik“ war schon vor Landgraf Karl bestens erprobt.
36 Eine Kopie findet sich im Innenhof des Marburger Schlosses.
37 Stefanie HERAEUS: „Die Wiedergeburt des guten Geschmacks in Hessen“. Landgraf Karl als
Kriegsheld und Kunstmäzen, in: Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S. 83.
38 Michael FREDE, Volker KNÖPPEL: Die Restaurierung des Philipps-Epitaphs in der Kasseler
Martinskirche. Ein Beitrag zum Philipps-Jubiläum 1504-2004, Jahrbuch 2005, hg. vom Kreisausschuss des Landkreises Kassel, Kassel 2005, S. 7
39 Walter KRAMM: Die beiden ersten Kasseler Hofbildhauerwerkstätten im 16. und 17. Jahrhundert.
Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 8. und 9. Band, 1936, S. 329 ff. KRAMM bezeichnet
auf S. 356, Abb. 42, diese Statue fälschlich als Karyatide; diese Bezeichnung ist üblicherweise
214
Joachim Schröder
Die Aufnahme der Herkules-Figur in ein christliches Grabmal wäre allerdings ohne
die Tradition der mittelalterlichen interpretatio christiana, mit der antike Figuren durch
Allegorisierungen und Moralisierungen umgedeutet wurden, nicht möglich gewesen.40
Auf dem Philipps-Epitaph findet sich in der Metope links von der Herkules-Statue ein
Alabaster-Relief mit dem Löwenkampf des Samson. Hieran kann man eine Parallelisierung von biblischer und weltlicher Geschichte, wie sie in der Renaissance häufig vorgekommen ist,41 ablesen.
Abb. 1: Philippsstein, Kloster Haina; Bildarchiv Foto Marburg
Herkules stellt in dem Epitaph als Atlant sicherlich die Stärke dar, aber ebenso, der
mittelalterlichen Tradition folgend, die Tapferkeit, während Samson wohl die Gerechtigkeit symbolisieren soll: „Er hatte aber Israel zwanzig Jahre gerichtet“.42
Beide Figuren stehen über der Statue Philipps und verweisen auf ihn. Beide Tugenden
werden außerdem in den auf dem Giebel liegenden Figuren erneut dargestellt, links die
Gerechtigkeit mit dem Schwert und der Waage, rechts die Stärke mit einer zerbrochenen
Säule: Die Säule erinnert einerseits an Herkules, der die Säulen von Gades/Gibraltar
aufgestellt hat, andererseits an Samson, der die Säulen von Gaza zerbrochen hat.
––––––––––
den weiblichen Stützfiguren vorbehalten. Er erwähnt ebenso wenig wie Alois HOLTMEYER: Die
Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel. Band VI: Kreis Cassel-Stadt, Erster Teil,
S.179, dass es sich bei dieser Statue um Herkules handelt.
40 Vgl. Erwin PANOFSKY: Die Renaissancen der europäischen Kunst. Übersetzt von Horst Günther,
Frankfurt 1990, S. 89 und öfter.
41 Vgl. SEZNEC (wie Anm. 31), S. 27 ff.
42 Die Bibel, Das Buch der Richter 16,31. Auf seinem vermeintlichen Grab in der Nähe von Tel Zorah
steht: „Der Gerechte, der Richter Israels, Samson, der Held, der Israel richtete wie der Vater im
Himmel.“ Vgl. David GROSSMANN: Löwenhonig. Die Geschichte von Samson, Berlin 2006, S. 98.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
Abb. 2: Elias Godefroy und Adam Liquir Beaumont:
Epitaph des Landgrafen PHILIPPs des Großmütigen,
1572 fertiggestellt, Kassel, St. Martin, Standort vor
1943. Bildarchiv Foto Marburg
215
Abb. 3: Adam Liquir: Herkules; Atlant im Epitaph
Philipps des Großmütigen, 1572, Kassel, St. Martin
Bildarchiv Foto Marburg
Beide Helden verweisen darüber hinaus auch auf Christi Überwindung von Tod und
Teufel hin.43 Insofern werden sie auf das Auferstehungs-Relief, das im Untergeschoss
des Epitaphs zwischen den beiden Statuen angebracht ist und wo Christus mit seiner
rechten Hand nach oben auf Samson und Herkules weist, bezogen. Die Höllenfahrt
Christi und seine Auferstehung sind die wichtigsten Bezüge, die schon von den
Kirchenvätern zu Herkules hergestellt wurden: Herakles war dreimal in der Unterwelt:
Er befreite Theseus aus dem Hades44, holte Alkestis, die Frau des Admetos, aus dem
Hades zurück und brachte sie ihrem Mann45, und er brachte den Höllenhund Kerberos
zu Eurystheus.46 Schließlich wurde er nach seiner Verbrennung auf dem Oita-Gebirge
in einer Wolke aufgenommen und unter Donner in den Himmel getragen. „Von da
wurde ihm Unsterblichkeit zuteil …“.47
––––––––––
43 Vgl. Wolfger A. BULST: Samson, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert
KIRSCHBAUM in Zusammenarbeit mit Wolfger A. BULST, Band 4, Rom, Freiburg, Basel, Wien
1972, Sp. 32; dort auch Nachweise, wo jeweils Herkules und Samson gemeinsam dargestellt
werden. Analogien zwischen Samson und Herkules wurden schon von den Kirchenvätern Eusebius von Caesarea ( um 263-339) und Augustinus (354-430 n. Chr.) gesehen.
44 Bibliothek des Apollodoros II, 124: Götter und Helden der Griechen. Griechisch und deutsch.
Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Kai BRODERSEN, Darmstadt 2004, S. 124.
45 Apollodoros I 106 (wie Anm. 44), S. 41.
46 Ebd. II 122, S. 107.
47 Ebd. II 160, S. 123.
216
Joachim Schröder
Abb. 4: Adam Liquir: Gerechtigkeit und Stärke; Epitaph Philipps des Großmütigen, 1572,
Kassel, St. Martin. Bildarchiv Foto Marburg
Die christliche Deutung des Herkules erleichterte die Gleichsetzung mit dem heiligen Christophorus und begünstigte seine Popularisierung.48 Die Popularisierung konnte
auf dem Hintergrund solchen Herkules-Wissens, das im fürstlichen Umfeld und bei
gebildeten Kasseler Einwohnern vorhanden war, auch deswegen versucht werden, weil
es neben der im ersten Teil dieser Abhandlung ausführlich erläuterten „NothelferFunktion“ des Christophorus Züge in der Vita und in der Ikonographie des Heroen
bzw. des Heiligen gibt, die „verwandt“ erscheinen.
3. „Verwandtschaft“ zwischen Herkules und Christophorus
3.1 Motiv des Dienens und apotropäische Funktion des Herkules
Der Schriftsteller Friedrich Gottlob WETZEL schreibt in seinem Büchlein Fischers Reise
von Leipzig nach Heidelberg im Herbst 1805, das 1808 in Görlitz erschien, überschwänglich über Kassel und die Wilhelmshöhe. Über den Herkules bemerkt er: „Die Leute
nennen den Herkules den großen Christoph, wie es mir dünkt, aus einem sehr glücklichen
––––––––––
48 Zur Umwandlung antiker Statuen in christliche vgl. Gunter SCHWEIKHART: Torso: Zur Geschichte und Bedeutung zerstörter Antiken in Mittelalter und Neuzeit, in: Torso als Prinzip. Eine
Ausstellung des Kasseler Kunstvereins 16. Juni – 22. August 1982, Konzeption und Gestaltung:
Karl Oskar BLASE, Kassel 1982, S. 10-33.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
217
Instinkt: die Sagen von beyden haben in der That viel Übereinstimmendes, nur dass der,
dem der christliche Herkules dient, ein anderer ist, als Eurystheus […]“.49
WETZEL hebt das Dienen heraus, dass Herkules und Christophorus als Gemeinsamkeit auszeichne. Der Kasseler Herkules entspricht dem Typus des so genannten Herkules Farnese50, der die goldenen Äpfel der Hesperiden in der rechten Hand hinter seinem
Rücken hält. Die Aufgabe, diese Äpfel zu holen, stellte ihm sein Vetter Eurystheus, der
wegen einer List der Hera51 König von Tiryns und Mykene geworden ist und dem
Herakles deswegen dienen musste, als zwölfte und letzte Aufgabe.52
Der Herkules Farnese ist als ausruhender, sinnender Mann im reifen Alter dargestellt.
Dies legt nahe, dass auch Lysipp das Hesperiden-Abenteuer als das letzte der zwölf
Arbeiten angesehen hat und diese Version in Kassel übernommen worden ist. Herakles
erfüllte seine Arbeiten zum Wohle der Menschheit, und er befreite sie von vorzeitlichen
Ungeheuern, Plagen und Tyrannen. Er wurde dadurch zum Zivilisationsstifter. Sein
Dienst war umso ehrenvoller, als er ihm auferlegt wurde und er ihn dennoch tapfer
duldend und uneigennützig tat. So wird er auch oft als „Dulder“ bezeichnet.
Nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt trug er seinen berühmtesten Beinamen:
Kallinikos53, der „mit dem schönen Sieg.“ „Der schöne Sieg unter allen Siegen war
wohl der Sieg über den Tod. […] Es wurde zum Brauch, bei den einfachsten Leuten,
und sicher nicht erst im späten Altertum, über die Türe zu schreiben:
Der Sohn des Zeus, der Kallinikos Herakles
Hat seine Wohnung hier; kein Übel trete ein!
Mit dem Übel wird vor allem der Tod gemeint, den offen zu nennen und über die eigene
Türe zu schreiben, man lieber vermied.“54 „Den ersten Altar für Herakles Kallinikos55 oder
mit einem anderen Namen, der ebendas meint wie die angeführten Zeilen: für Herakles
Alexikakos56, für den „Übel abwehrenden Herakles“, hatte angeblich Telamon geweiht, bei
der [ersten] Eroberung von Troja, als er vom neidischen Herakles selbst mit dem Tode
bedroht war. Die Berufung auf jene Eigenschaft des Helden rettete ihn.“57
––––––––––
49 BRAUNS (wie Anm. 22), S. 149.
50 Zur Statue des ausruhenden Herakles, die von dem griechischen Bildhauer Lysipp stammt, 320 v.
Chr. entstanden ist und deren bekannteste Kopie der so genannte Herkules Farnese – nach seinem
Standort im Hof des römischen Palazzo Farnese – vgl. Wanda LÖWE: Die Kolossalfigur des Lysipp, in: Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S. 23-30.
51 Hera verzögerte die Geburt des Herakles, damit Eurystheus vor ihm geboren und König von
Tiryns und Mykene werden konnte: Ovid, Metamorphosen 9, 292 ff.
52 So in: Herakles-Herkules, hg. von Raimund WÜNSCHE. Staatliche Antikensammlungen und
Glyptothek, Katalog München 2003, S. 15. Hier schwankt die Überlieferung, denn die Aufgabe,
den Höllenhund Kerberos aus der Unterwelt zu holen, gilt nach der Apollodoros von Athen II,
122 (vermutlich aus dem 2. Jh. n. Chr.), als die zwölfte der Arbeiten des Herakles.
53 Archilochus Lyricus, 119.
54 Karl KERÉNYI: Die Mythologie der Griechen. Die Heroen-Geschichten, Stuttgart 1997, S. 148.
55 Apollodoros Mythographus 2.6.4
56 Vgl. Lycophron 469; vgl. den Stich von Hendrick Goltzius, Abb. 11, der die Unterschrift Herkules Alexikakos trägt.
57 KERENYI (wie Anm. 54), S. 148.
218
Joachim Schröder
Wir können in der apotropäischen, der Übel abwehrenden Funktion des Herakles
eine weitere Ähnlichkeit zu Christophorus erkennen.58 Cesare RIPA, der in seiner 1603
erschienenen Iconologia59 den Künstlern ein umfassendes und lange benutztes
Kompendium allegorischer Gelehrsamkeit zur Verfügung stellt, deutet die drei Äpfel
folgendermaßen: „Die drei Äpfel stehen für die drei dem Herkules eigenen heldenhaften Tugenden: Erstens die Zügelung des Zorns, zweitens die Mäßigung der Habgier
und schließlich die großmütige Verachtung der Wonnen und Vergnügen.“60 Schon in
antiken Quellen stehen die Äpfel für diese drei Tugenden.61
Herkules hat also durch sein mühevolles Dienen nicht nur über seine Gegner,
sondern auch über das Laster – und damit auch seine eigenen Untugenden – gesiegt.
Schließlich: Die Äpfel gehörten der Hera62. Deswegen hat Herakles sie dem Eurystheus
nur gezeigt und gab sie danach der Athene, die sie wieder zurückbrachte, „denn es
widersprach göttlichem Recht, dass sie irgendwohin gebracht würden.“63 „Die Erlangung des ewigen Lebens wurde offenbar mit dem Besitz der Äpfel verbunden, auch
heute wird in der Forschung der Hesperidenbaum mit dem orientalischen und jüdischen
Lebensbaum gleichgesetzt.“64
Herakles hat am Ende seines Lebens seinen Dienst erfüllt und sich mit seinen zwölf
Arbeiten und anderen Heldentaten wie dem Sieg über die Giganten unsterblichen
Ruhm erworben, der ihm letztlich die Aufnahme in den Olymp und die Unsterblichkeit
sichert; das symbolisieren die Äpfel der Hesperiden in der rechten Hand des Herkules
Farnese, die damit nicht nur auf das bestandene letzte Abenteuer verweisen. Das Kasseler Monument verweist jedoch auch auf den im Gigantenkampf siegreichen Herakles,
da im so genannten Riesenkopfbecken zu Füßen des Herkules der Gigant Enkelados in
ohnmächtiger Wut Wasser gegen seinen Bezwinger empor speit.
Liest man die Geschichte vom Gigantensturz als „allegorische Parabel“, wie Klaus
IRLE ausführt65, erfährt das Motiv des Dienens noch eine weitere Dimension: Im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 „waren der nach europäischer Vormacht strebende Ludwig XIV. und die davon betroffenen Habsburger unter der Führung Kaiser
Karls VI., der ein diplomatisches und militärisches Bündnis von Gegnern Frankreichs
aufbaute“, die Hauptkonkurrenten. „Bereits im ersten Kriegsjahr wurde Hessen-Kassel
Teil dieser Allianz. Infolgedessen wirkten Landgraf Karls Truppen … daran mit, dass
––––––––––
58 Vgl. den ersten Teil der Abhandlung, besonders Kapitel 4.1.1, S. 232 ff., in dem die Schutzfunktion des Christophorus „vor dem jähen Tod“ erläutert wird.
59 Cesare RIPA: Nova Iconologia di Cesare Ripa Perugino. In Padova per Pietro Paolo TOZZI 1618.
Edizione pratica a cura di Piero BUSCAROLI con prefazione di Mario PRAZ, Torino 1988.
60 Christiane LUKATIS: Der Herkules Farnese. „Ein schönes Muster der starken männlichen Natur“,
in: Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S. 51.
61 Nach anderen antiken Quellen stehen die Äpfel der Hesperiden für Jugend und Fruchtbarkeit.
Nicht umsonst wird Herkules nach seiner Aufnahme in den Olymp mit Hebe, der Göttin der Jugend, verheiratet; vgl. PINDAR, Olympia 1, 67.
62 Karl KERÉNYI (wie Anm. 54), S. 142
63 APOLLODORUS II, 121 (wie Anm. 44), S. 107
64 Raimund WÜNSCHE (wie Anm. 52), S. 384, Anm. 1. Die Deutung der Hesperidenäpfel zusammengefasst bei M. K. BRAZDA: Zur Deutung des Apfels in der antiken Kultur, 1977, S. 103 ff.
65 Klaus IRLE (wie Anm. 35), S. 77.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
219
mit, dass Frankreich am Ende des Erbfolgekrieges seine Vormachtstellung verlor. …
Karl durfte … seinem Land eine neue Bedeutung beimessen“. „Spiegelt das HerkulesMonument diese politischen Vorgänge wider, so wäre Ludwig XIV. zum Enkelados
degradiert worden; und Landgraf Karl wäre der vom habsburgischen Jupiter gerufene
Herkules.“66
Wie Herkules letztlich im Auftrage des Zeus, wenn auch im Dienste des Eurystheus,
seine Arbeiten erfüllte, Landgraf Karl im Dienste des höchsten Befehlshabers, des Kaisers, stand, so diente Christophorus ebenfalls „dem Höchsten“. Die Aspekte des Dienens,
des uneigennützigen Auf-sich-Nehmens von Mühen und Arbeiten und die damit
erworbene Unsterblichkeit verweisen auf die „Verwandtschaft“ mit Christophorus.
Christophorus sucht sich nach der Legenda aurea selbst einen Herren, dem er
dienen will. Er verlässt seinen König in Kanaan, um einem größeren König zu dienen.
Als er bemerkt, dass dieser bei der Erwähnung des Teufels ein Kreuzzeichen vor der
Stirn schlägt und der König ihm erklärt, er tue dies, damit der Teufel keine Macht über
ihn gewinne, zieht Christophorus los, um dem Teufel zu dienen, der noch mächtiger
sei. Er findet den Teufel, aber als der vor einem Kreuz an der Straße erschreckt flieht
und Christophorus erklärt, er werde beim Anblick des Kreuzes, an das ein Mensch
namens Christus geschlagen worden sei, immer bange, beschließt Christophorus,
diesen Christus, der noch größer und mächtiger sei, zu suchen, um ihm zu dienen. Er
sucht ihn lange und kommt schließlich zu einem Einsiedler, der ihn in der christlichen
Lehre unterweist und ihm, da er von hohem Wuchs und stark an Kräften sei, rät, sich
an einem reißenden Fluss niederzulassen und dort jedermann hinüberzuführen. Über
einen solchen Dienst wäre der König Christus hoch erfreut und würde wohl dort selbst
erscheinen. Christophorus baut sich an dem Fluss eine Hütte, vertauscht den Wanderstab mit einer großen Stange und bringt jedermann unermüdlich hinüber, bis er eines
Tages von einer Kinderstimme gerufen wird. Der Knabe bittet ihn inständig, ihn
hinüberzubringen. Je weiter er im Fluss vorankommt, desto mehr steigt das Wasser an
und desto schwerer wird das Kind, und Christophorus sagt zu ihm, es sei ihm vorgekommen, als hätte die ganze Welt auf ihm gelegen.
Christus gibt sich zu erkennen und sagt, nicht nur die Welt habe auf ihm gelegen,
sondern er habe auch den, der sie erschaffen habe, auf seinen Schultern getragen. Als
Beweis für die Wahrheit seiner Worte solle er seinen Stab neben seiner Hütte in den
Boden stoßen; am anderen Morgen werde er Blüten und Früchte tragen. Am nächsten
Tag sieht er, dass der Stab Blätter und Datteln wie eine Palme trägt.
Christophorus verkündigt von der Zeit an das Christentum und erwirbt nach vielfältiger Passio die Märtyrerkrone und damit ebenfalls die Unsterblichkeit. Die Motive
des Dienens, des uneigennützigen Helfens und die spätere „Belohnung“ sind ein
wichtiger Aspekt der „Verwandtschaft“ der beiden Protagonisten. Der beide zunächst
unterscheidende Aspekt, dass Christophorus sich seine Dienste selbst sucht und sie
freiwillig übernimmt, während Herakles zunächst als Opfer des Schicksals gilt67, das er
als Sterblicher auf sich nehmen und erleiden muss, erscheint durch die Fabel des
––––––––––
66 Ebd.
67 So in dem 415 v. Chr. entstandenen Drama Herakles des Euripides.
220
Joachim Schröder
Sophisten PRODIKOS68 aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in einem
anderen Licht. PRODIKOS lässt Sokrates erzählen, dass der jugendliche Herakles am
Scheideweg vor die Wahl gestellt wird, ob er den steilen Weg der Tugend oder den
bequemen Weg des Lasters wählen will. Er entscheidet sich für den Weg der Tugend.
„Herakles ist nun nicht mehr einem übermächtigen Schicksal willenlos ausgeliefert,
sondern kann freie Entscheidungen treffen.“69 Nach PRODIKOS seien „Lasten, die aus
freiem Entschluss und zu einem höheren Zweck getragen würden, leichter zu tragen als
solche, die aus der Not entspringen. Umgekehrt erwecke die Übernahme edler Lasten
den Neid aller und werde durch Lobpreis belohnt.“70 Auf der Folie dieser freiwilligen
Entscheidung für die Tugend und der Übernahme edler Lasten wird es möglich, den
aufgrund seiner sonst durchaus widersprüchlichen Eigenschaften ambivalenten Helden
zum Tugendhelden und Herrschervorbild aufzuwerten.71
3.2 Motiv des Scheidewegs und Christophorus als miles christianus
Dieses Motiv des Scheidewegs ist ein weiterer Aspekt der Verwandtschaft zwischen
Herkules und Christophorus. Erasmus von Rotterdam72 zeichnet das Bild eines idealen
Christen, der sich im Sinne des Apostels Paulus im 6. Brief an die Epheser als christlicher Ritter mit geistlicher Waffenrüstung ausstattet.73 Egid Beitz führt einige Bilder
an, in denen der Versuch gemacht wird, das Christophorusbild mit dem eines christlichen Ritters zu vertiefen.74
––––––––––
68 Der ehemalige Söldnerführer und Sokrates-Schüler XENOPHON lässt in seinen Memorabilia den
Sokrates diese Fabel aus den Schriften seines Freundes, des Diplomaten und Rhetoriklehrers
Prodikos erzählen: Memorabilia 2.1, 31-34.
69 Wanda LÖWE (wie Anm. 34), S. 20.
70 Alastair BLANSHARD: Herkules. Aus dem Leben eines Helden. Übersetzt von Sebastian
WOHLFEIL, Berlin 2006, S. 54.
71 Vgl. hierzu besonders Rainer VOLLKOMMER: Herakles – Die Geburt eines Vorbildes und sein Fortbestehen bis in die Neuzeit, in: IDEA. Werke. Theorien. Dokumente. Jahrbuch der Hamburger
Kunsthalle, Band VI, 1987, S. 7-29; zur Herrscherikonographie vgl. auch IRLE (wie Anm. 34), S. 61
ff.; zur römischen Übernahme von Herkules als Herrschervorbild: Hans KLOFT: Herakles als Vorbild. Zur politischen Funktion eines griechischen Mythos in Rom, in: Herakles/Herkules I: Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt, hg. von Ralph KRAY und Stephan OETTERMANN in
Verbindung mit Karl RIHA und Carsten ZELLE, Basel, FrankfurtM. 1994, S. 25-46; zu den Widersprüchlichkeiten des Heroen vgl. Dieter BLUME: Mythos und Widerspruch, Kap. I: Herkules oder
die Ambivalenz des Heros, in: Natur und Antike in der Renaissance. Ausstellung im Liebighaus,
Katalog Frankfurt/M. 5.12.1985-2.3.1986, Redaktion S. EBERT-SCHIFFERER, hg. von Herbert BECK
und Peter C. BOL, Frankfurt/M. 1985, S. 130-172 bzw. S. 131-139.
72 ERASMUS von Rotterdam: Enchiridion. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Antwerpen
1503, gedruckt bei Theodor Martinus, Sammlung Lucubratiunculae. Übertragen und hg. von
Werner WELZIG, Graz-Köln 1961. Vgl. die Kritik des ERASMUS an oberflächlicher und abergläubischer Christophorus-Verehrung im ersten Teil der Abhandlung, Kap. 4.2, S. 234 ff.
73 Apostel PAULUS, 6. Brief an die Epheser, Verse 10-17.
74 Egid BEITZ: Christophorus und christlicher Ritter. Ein Beitrag zu den künstlerischen Problemen
der Reformationszeit, Düsseldorf 1922, S. 21 ff.. BEITZ zeigt einen Kupferstich des Meisters mit
der Weberschütze, 1520, auf dem Christophorus zu Pferde sitzend das Christuskind über ein
Bächlein trägt. Ein Kupferstich mit Christophorus zu Pferd des Meisters I.A.M. von Zwolle
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
221
Interessant für das Motiv des Scheidewegs ist das Gemälde des Niederländers Jan
de Cock75 (um 1480 vermutlich in Leiden – 1527 Leiden), das Christophorus wie einen
Ritter zu Pferd zeigt. Hier ist der Augenblick aus der Christophoruslegende dargestellt,
wo Christophorus die „Ritterschaft des Teufels“ […] verlässt. „Am Scheidewege wählt
er den Weg am Kreuze vorbei. Siegesgewiss und mit verächtlicher Handbewegung
wendet er sich nach der Höllenmeute um, die nun auf anderer Straße davonrast. Er ist
in allen Teilen angetan mit der „Rüstung Gottes“, wie sie der heilige Paulus für den
Christlichen Ritter verlangt. Um über seine Christusträgerschaft gar keinen Zweifel
aufkommen zu lassen, hat der Maler ihm bereits das Christuskind auf den Arm gegeben.“76 Der Christophorus Jan de Cocks ist ein miles christianus, ein Landsknecht,
wie man an der Schlitzhose erkennt, die durch ein buntes Band unterhalb des Knies
zusammengehalten wird und die an die zerhauene und zerschnittene Tracht der
damaligen Landsknechte erinnert, die man zu Streitern Gottes aufzurufen versuchte.
Jan de COCK hat sicherlich den Herkules-Mythos und vermutlich das Enchiridion
des Erasmus von Rotterdam gekannt. ERASMUS schreibt: „Wie fein stellen die Dichter
dar, dass Herkules durch die Gefahren, die ihm die erzürnte Juno entgegengestellt
hatte, innerlich gewachsen und hart geworden ist. Ebenso gib auch du dir Mühe, durch
die Anreizungen des Teufels nicht nur nicht schlechter zu werden, sondern besser aus
ihnen hervorzugehen.“77 Jan de COCKs Christophorus, den er „am Scheideweg“ darstellt und der den Weg der Tugend, hier den Weg des Kreuzes, wählt, ähnelt der Beschreibung des ERASMUS.
Jan de COCK wird darüber hinaus die interpretatio christiana des Herkules als Präfiguration Christi und die das Mittelalter hindurch getragene Interpretation als Tugendheld gekannt haben,78 ebenso, dass Herkules in mittelalterlichem Trachtenrealismus
oftmals in einen Recken in Ritterrüstung verwandelt wurde. Ein Beispiel hierfür zeigt
der Holzschnitt Die Entscheidung des Hercules aus Sebastian BRANTs Narrenschiff,
Straßburg 1497, auf dem der träumend am Boden liegende Herkules eine gotische Ritterrüstung trägt.79
Ein ähnliches Bild eines christlichen Ritters im Landsknechts-Wams und mit
Schwert an der linken Seite zeichnet auch Wolf Huber 1513 (Abb. 5).80 Der Wandel
––––––––––
75
76
77
78
79
80
findet sich bei Gertrud BENKER: Christophorus. Patron der Schiffer, Fuhrleute und Kraftfahrer.
Legende, Verehrung, Symbol, München 1975, S. 84.
Jan de COCK (um 1480 Leiden – 1527 Leiden): Der christliche Ritter. Gemälde, Amsterdam,
Rijksmuseum. Ein Foto war leider nicht zu erhalten; abgedruckt bei BEITZ (wie Anm. 74).
BEITZ (wie Anm. 74), S. 23.
ERASMUS von Rotterdam (wie Anm. 72), S. 105.
Zur christlichen Auseinandersetzung mit Herkules vgl. J. Abraham MALHERBE (wie Anm. 29),
Sp. 559-583, bes. Sp. 568 ff.
PANOFSKY (wie Anm. 32), Tafel XXI, Abb. 38: Holzschnitt aus Sebastian Brant, Stultifera Navis,
Straßburg 1497, fol: 103 v., ebenso in der Ausgabe Nürnberg 1497, ebd. Tafel XX, Abb. 36.
Der unbärtige, jugendlich wirkende Christophorus ist gerade am Ufer angelangt und wirkt erschöpft, obwohl das auf seinem Nacken sitzende Christuskind gegenüber seiner langen Gestalt
geradezu winzig wirkt. Einen Fuß stellt er schon auf das Ufer, mit dem anderen Bein steht er
noch im Wasser. Er schaut zu Boden und hält sich an seinem langen Stab, der noch keine Blätter
222
Joachim Schröder
des Herakles-Bildes vom Heroen, der das ihm von den Göttern auferlegte Schicksal
geduldig trägt und seine Aufgaben erfüllt, zum Helden, der aufgrund eigener Entscheidung den beschwerlichen Weg der Tugend wählt – so die Prodikos-Fabel –, findet
im Wandel des Christophorus-Bildes eine erstaunliche Parallele.
Abb. 5: Wolf HUBER (um 1490-1553): Der heilige
Christophorus als Ritter, 1513, Federzeichnung, 15,3 x
11,1 cm, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett,
Inv. UXVI. 32; Fotonachweis: Kunstmuseum Basel,
Martin P. Bühler
Abb. 6: Kniender Herkules mit Himmelsglobus als
Sanduhr, um 1700. Hanau, Wilhelmsbad. Foto: Joachim Schröder
In der frühen östlichen Legende, die bald nach der ersten Erwähnung einer Kirchweihe unter dem Patronat des Christophorus im Jahr 452 in Bithynien entstanden sein
muss, wird der menschenfressende Kynokephale (bis ins 18. Jahrhundert wird Christophorus auf Ikonen als „Hundsköpfiger“ dargestellt), der bisher „Reprobus“, der „Verworfene“ genannt, wurde, von Gott gerufen, erhält nach der Taufe die Sprachfähigkeit
und den Namen „Christianus“, wird Missionar und erleidet in seiner Passio eine Vielzahl von Martern. Dieser Teil der Vita wird in der westlichen Legende zunehmend
zurückgedrängt zugunsten der in der Legenda aurea zusammengefassten Legende, in
der Christophorus selbst auf der Suche nach dem Heilsweg ist. Es vollzieht sich also
ein Wandel vom Menschen, der seine Taufe, seine Missionarstätigkeit und schließlich
sein Martyrium als „Gottes Absicht“ erlebt, zu einem Menschen, der sich selbst auf die
Suche nach Gott macht. Hierin spiegelt sich die im 13. Jahrhundert verändernde
Frömmigkeits-Vorstellung hin zu einer Laien-Spiritualität, in der durch Askese, Gebet
––––––––––
trägt, fest. Das Kind, das einen zarten Nimbus trägt, scheint gerade den Segen über den Ritter zu
sprechen.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
223
und Mitleiden Verdienste vor Gott erworben werden können. Für den Erwerb solcher
Verdienste sind Vermittler wie Christophorus nützlich.81
3.3 Motiv des Tragens
Wenn der Herkules bewusst popularisiert worden ist, dann hatte die gebildete fürstliche
Umgebung aufgrund ihres ikonographischen Wissens auch das Motiv des Tragens vor
Augen, und zwar zunächst das Tragen der Weltkugel bzw. des Himmelsglobus, dann
das Tragen eines Kindes.
3.3.1 Tragen der Weltkugel
Auf seinem Weg zu den Äpfeln der Hesperiden trifft Herkules auf den Titan Atlas, den
Vater oder nach anderen Quellen den Nachbarn der Hesperiden, der dazu verurteilt ist,
das Himmelsgewölbe zu tragen. Atlas, der auch als sternkundiger König galt, ist bereit,
die von dem Drachen Ladon bewachten Äpfel zu holen, wenn Herkules unterdessen
das Himmelsgewölbe trage. Der ist einverstanden und nimmt Atlas die Last ab.82 Diese
Situation ist häufig dargestellt worden.
Ich greife zunächst zwei Darstellungen aus der hessischen höfischen Sphäre heraus.
Auf der Sonnemannwiese hinter dem Arkadenbau der Schlossanlage Wilhelmsbad
in Hanau findet man eine Sandstein-Skulptur. Ein kniender Herkules trägt eine
Sonnenuhr als Himmelskugel auf dem Nacken (Abb. 6).83 Die Skulptur soll um 1700
entstanden sein. 1721 fertigten der Kasseler „Hofmathematikus“ Heinrich Ludwig
Muth und sein Bruder, der Goldschmied Johann Philipp Muth, einen Himmelsglobus,
der von Herkules mit den Händen empor getragen wird (Abb. 7).84 Nachdem Atlas die
Äpfel geholt hatte, wollte er die Himmelskugel nicht wieder auf sich nehmen, sondern
er wollte die Äpfel zu Eurystheus bringen. Bis dahin solle Herakles die Last tragen.
Der zeigte sich einverstanden, bat aber Atlas darum, das Himmelsgewölbe noch einmal
zu nehmen, bis Herakles sich ein Polster für den Nacken gemacht habe. Atlas nahm
ihm die Last wieder ab, Herakles machte sich mit den Äpfeln davon. In einer anderen
Version heißt es, Herakles habe die Äpfel selbst gepflückt, nachdem er den Drachen
Ladon, der sie bewachte, erschlagen habe.
Das Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt), das aus einem Herkules-Zyklus
nach dem Jahr 1537 stammt (s. Abb. 8), dürfte bekannt gewesen sein: Auf der linken
Seite sitzt der alte, bärtige Atlas, ein ermüdeter Mann, der sich ausruht. Im Hintergrund
sind die Säulen zu sehen, die Herkules bei Gibraltar aufgerichtet haben soll. Vergleicht
––––––––––
81 Vgl. Michael SCHNEIDER: Die Christophorus-Legende in Ost und West, Köln 2005, S. 18 ff.
82 APOLLODORUS II, 120 (wie Anm. 44), S. 107.
83 Bettina CLAUSMEYER-EWERS: Staatspark Wilhelmsbad Hanau. Kuranlage mit frühem Landschaftspark des Erbprinzen Wilhelm von Hessen-Kassel. Edition der Verwaltung der Staatlichen
Schlösser und Gärten Hessen, Informationsbroschüre 15, Regensburg 2002, S. 46.
84 LÖWE (wie Anm. 34), S. 15, Abb. 9 und Katalog Kassel 1997, Nr. 11, S. 145.
224
Joachim Schröder
man den Herkules auf Lucas CRANACHs Gemälde (Abb. 8) mit Gemälden des Christophorus85, dann fallen – nicht unerwartete – ikonographische Ähnlichkeiten auf:
Abb. 7: Heinrich Ludwig Muth
und Johann Philipp Muth:
Himmelsglobus, von Herkules
getragen, 1721, Statuette, Silber,
tw. vergoldet, etc. H. 13,5 cm;
Museumslandschaft
HessenKassel, Museum für Astronomie
und Technikgeschichte, Inv. A 20;
Foto: MHK Nr. TP 101907
Abb. 8: Lucas CRANACH d. Ä. (1472-1553): Herkules mit der
Himmelskugel, nach 1537,
Öl auf Holz, 129 x 100 cm; Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
Beide haben gelocktes Haar, ihre Gesichter sind bärtig, von der Anstrengung der
schweren Last sind die Züge angespannt. Beide stehen leicht gebückt und schauen
schräg nach unten. Herkules hält den Himmelsglobus mit dem linken Oberarm hoch
und stützt die Hand auf die Hüfte. Christophorus fasst den Stab fest mit beiden Händen
und stützt das Kind auf seinem Nacken mit dem oberen Ende des Stabes. Herkules trägt
sein Löwenfell als Schurz bis kurz über die Oberschenkel, sodass seine kräftigen Beine
sichtbar werden, die gespreizt einen besseren Stand garantieren. Christophorus trägt
das knielange Pilgergewand und geht mit großem Schritt voran, wobei die kräftigen
Wadenmuskeln seiner bloßen Beine hervortreten. Vor seinen Beinen ist eine nackte
Wassernixe als Zeichen der Versuchung zu sehen. Links im Hintergrund steht der Ein-
––––––––––
85 Z. B. Lucas Cranach d. Ä.: Heiliger Christophorus, um1518-1520, Gemälde, Öl auf Holz, 35 x 26 cm,
Berlin, Sammlung Friedrich Zloczower (1932); abgebildet in: Max J. FRIEDLÄNDER / Jacob
ROSENBERG: Die Gemälde von Lucas Cranach. Stuttgart 1989 Abb. 10:, Kat. 110, S. 92, und Abb. 110.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
225
siedler, der ihm mit der Laterne leuchtet. Ein sehr ähnliches Bild, das um die gleiche
Zeit entstanden ist, befindet sich im Detroit Institute of Arts; allerdings ist dort der Bart
viel länger und nicht „antikisch“ geschnitten. Auf diesen Bildern ist der Himmelsglobus, den das Christuskind oft trägt, nicht zu sehen.Auf einem Gemälde von Joachim
de PATINIER, nach 152186, hat der tief gebeugte Christophorus eine riesige Weltkugel
auf der Schulter, vor der das Kind mit Segensgestus sitzt. Das Kind ist in nächtliches
Grau gekleidet wie der landschaftliche Hintergrund. „Rund um das Kind aber schwebt
eine Art Scheibe oder gläserne Kugel, heller als der Grund, doch durchsichtig für den
Himmel und sein Wolkenbild. Es sieht fast wie eine okkulte Erscheinung aus, wie ein
geisterhaftes Konzentrat der Welt, deren Herr der Riese zu tragen hat. Das Gebilde
kann nicht schwer sein, es besteht ja aus Licht, und dennoch drückt es den einfachen
Mann, der solches nicht gewohnt ist, unheimlich nieder. Himmel, Erde und Wasser:
nichts ist mehr geheuer. Voller Fragen und Zweifel steht – nein, wankt der Mann
zwischen den Elementen.“87
Abb. 9: Meister von Meßkirch (tätig 1500-1550): Heiliger Christophorus,
Altartafel um 1550, Basel, Kunstmuseum, Bildarchiv Foto Marburg
––––––––––
86 Abb. 11: Joachim de Patinier (um 1480-1524), Heiliger Christophorus, um 1520, Berlin, ehemals
im Kunsthandel; abgebildet in: Ernst Wolfgang MICK: Christophorus. Einleitung von Leonhard
KÜPPERS. Heilige in Bild und Legende, Bd. 24, Recklinghausen 1968, Einbandbild.
87 Josef KUNSTMANN: Hol über! Leben, Bild und Kult des Hl. Christophorus. Ettal o. J. (1961), S. 63 f.
226
Joachim Schröder
Eine Altartafel des Meisters von Meßkirch, heute in Basel im Kunstmuseum (Abb.
9), zeigt Christophorus mit dem Christuskind auf dem Nacken. Es trägt einen bewimpelten Siegesstab in der rechten Hand. Man weiß nicht genau, ob es vor oder in
einer durchsichtigen Weltkugel sitzt, die Christophorus trägt und die wie ein Himmelsglobus gestaltet ist. In der Legenda aurea sagt Christophorus dazu: „In große Gefahr
hast du mich gebracht, mein Kind, ja, du hast so schwer auf mir gelastet, dass das Gewicht kaum hätte größer sein können, hätte die ganze Welt auf mir gelegen!“88 Diese
lastende „Welt“ finden wir auf den Bildern.
Die „Verwandtschaft“ zwischen Herkules mit dem Himmelsglobus und Christophorus mit der Weltkugel auf den Schultern ist bei diesen Bildern besonders auffällig.
Das bedeutet nicht, dass die Maler entsprechende Herkules-Abbildungen gesehen
haben müssen, aber es ist wahrscheinlich. Auf anderen Christophorus-Bildern trägt das
Christuskind nur eine kleine Weltkugel, oft mit dem Kreuz darauf, vor sich (Masaccio,
1425) oder legt sie sogar auf die Schulter des Christophorus (Jan Ribera, 1637). Auf
einem weiteren Bild von Jan de Cock sitzt das Kind auf der Weltkugel, ebenso auf
einer Zeichnung von Franz Anton Maulbertsch, 1762, wieder auf einem anderen Bild
Jan de Cocks sitzt das Kind neben der Weltkugel wie auf einer Schleppe auf dem
langen Umhang des Christophorus.
3.3.2 Tragen des Kindes
ROSENFELD setzt sich mit den Ansätzen in der Kunstgeschichte auseinander, dass die
Legende vom Tragen des Christuskindes über bildliche Ansätze aus der Antike oder
aus Ägypten, ja sogar aus Indien, vermittelt worden sei. Dabei spielt Herakles selbstverständlich eine Rolle.
„Schon H. Usener hatte (Die Sinflutsagen, Bonn 1899, S. 190 f.) den hl. Christophorus als Nachfolger des Herakles angesehen, ohne freilich zwischen der alten Passio
und der jungen Christusträgerlegende zu scheiden, sodass schon darum seinen Darlegungen keine Überzeugungskraft innewohnte. … E. Stemplinger (… Hellenisches im
Christentum. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum Bd. 42, Jgg. 21, 1918, S. 84)
… brachte ein neues Element hinein, indem er speziell auf den dionysostragenden Herakles hinwies.
Hier knüpft nun B. SCHRÖDER an.89 Er erkennt richtig, dass die junge Christusträgerlegende nicht durch eine Verchristlichung des Herakles in der Missionszeit zu
erklären ist. Darum sieht er den Ausgangspunkt nicht im lebendigen Mythos, sondern
in der erstarrten Form des Kunstwerkes. Von der Darstellung des dionysostragenden
Herakles, deren Einwirkung er zunächst erwägt, wendet er sich, […] zu der Darstellung
des Herakles mit dem Erosknaben und sucht aus einer Umgebung dieser antiken
Gruppe die Legende abzuleiten. Er kann auf eine ganze Reihe von Darstellungen hin-
––––––––––
88 JACOBUS A VORAGINE: Legenda sanctorum et martyrum. Auswahl, Übersetzungen und Anmerkungen von Alexander FEST. dtv zweisprachig. München 1988, S. 63
89 Bruno SCHRÖDER: Der heilige Christophorus, in: Zs. des Vereins für Volkskunde, begründet von
Karl WEINHOLD. Unter Mitwirkung von Johannes BOLTE hg. von Fritz BOEHM, Berlin 1926, 35.
und 36. Jg. 1925/26, S. 86-98.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
227
weisen, die (wahrscheinlich) in einem Werk des Lysippos ihren Ausgang genommen
haben und die, wenn man von den Flügeln des Erosknaben absieht, eine gewisse Ähnlichkeit haben mit Christophorus-Bildern – des 15. Jahrhunderts. Dabei geht Schröder
von der Voraussetzung aus, dass ein deutscher Dichter des 12. Jhs. die antike Darstellung christlich interpretiert und so die Legende geschaffen habe.“90
Römische Darstellungen von Herkules mit Eros zeigen Herakles kniend91 oder schreitend92, wobei er den geflügelten Erosknaben mehr auf dem Rücken als im Nacken oder auf
der Schulter trägt. „Die Schwäche dieser Hypothese liegt in folgendem. Die Möglichkeit,
dass es eine Darstellung gab, bei der die Flügel des Erosknaben abgebrochen oder fortgelassen waren wie bei den innerasiatischen (!) Denkmälern, und dass diese dem (deutschen)
Dichter in der Weise zugänglich war, dass sie seine religiöse Phantasie anregen konnte,
geben wir zu, obwohl wir dies nicht gerade für sehr wahrscheinlich halten. Wenn aber, wie
Schröder selbst mit Recht feststellt, Christophorus für den Menschen des 12. Jahrhunderts
nicht der Christuskind-Träger war, wie sollte er dann einen Mann, der einen zwar durchaus
jugendlich gebildeten, aber im Verhältnis zu seiner Größe keineswegs besonders kleinen,
bisweilen sogar recht großen Knaben trägt, für den hl. Christophorus halten, von dem nur
das eine feststand, dass er ein Riese von zwölf Ellen war und mancherlei Marter erlitten
hat? Und wie den nackten Knaben für das Christuskind, das doch in jener Zeit nie nackt
dargestellt wird, am wenigsten in einem so vorgerückten Alter, wie es einige Darstellungen
des Erosknaben zeigen? […] Hinzu kommt, dass zum mindesten in der erhaltenen Christophorusüberlieferung die bildende Kunst die Priorität vor der literarischen Fixierung hat, und
von den frühen bildlichen Darstellungen des Christophorus führt schlechterdings keine
Brücke zu der Gruppe von Herakles und Eros.“93
Auch „die älteren Darstellungen des Christusträgers weisen nicht auf eine frühere
Existenz der Legende, wie wir sie aus der Legenda Aurea kennen, sondern sie sind unabhängig von ihr. (…) Vielmehr haben wir es in den älteren Christusträgerdarstellungen
mit nichts anderem zu tun als mit einer nahe liegenden Wortillustration.“94 Solche
Illustrationen haben in der Kunst des frühen und hohen Mittelalters eine große Rolle
gespielt. Diese überzeugende Argumentation Rosenfelds hat sich in späteren Veröffentlichungen durchgesetzt, und man muss von Versuchen, die Christophorus-Ikonographie
besonders nach der Legenda aurea von antiken Vorbildern, zum Beispiel HeraklesVorbildern abzuleiten, Abstand nehmen. Das bedeutet aber nicht, dass Jahrhunderte
später die fürstliche Umgebung des Landgrafen Karl, z. B. der Antiken-Kenner Johann
Balthasar Klaute, der Landgraf Karl auf seiner Italienreise 1699/1700 begleitete und
den Reisebericht Diarium Italicum verfasste, ikonographische Ähnlichkeiten mit
––––––––––
90 Hans-Friedrich ROSENFELD: Der heilige Christopherus und seine Verehrung. Eine Untersuchung
zur Kultgeographie und Legendenbildung. Acta Academiae Aboensis Humaniora X, 3 (Abo
Helsingfors 1937) 1/7552, mit Taf. u. Karten, 1937, S. 374 ff.
91 Gemme in Florenz, römisch. In: SCHRÖDER (wie Anm. 89), S. 89, Abb. 3.
92 Gemme mit intaglio aus Chalcedon, römisch 1. Jh. v. Chr.; Florenz, Archäolog. Museum, 14757
Milani. L. A., Guida, (1912), pl. 135, 8. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae
(LIMC), Zürich 1990, Bd. V, 1, S. 174, Nr. 3438, und Bd. V, 2, S. 157.
93 Ebd.
94 Ebd., S. 397; vgl. auch Teil 1 dieser Abhandlung, S. 227.
228
Joachim Schröder
Christophorus, die durchaus vorhanden sind, nicht wahrgenommen und sie für die
Popularisierung des Heroen herangezogen haben könnte.
Als Beispiel führe ich die Radierung, Der gefesselte Herkules, von Cupido geführt
(Abb. 10), von Giovanni Battista Galestruzzi, an: Sie erschien als eine von 267 Radierungen zur Illustration in dem von Leonardo Agostini in Rom herausgegebenen Werk
„Le gemme antiche figurate“. Das Werk erschien 1657 und 1669 in zwei Bänden und
erlebte von 1670-1707 5 weitere Auflagen, war demnach weit verbreitet. Die hier
abgebildete Gemme entspricht – seitenverkehrt – der in Anmerkung 91 erwähnten
römischen Gemme. Dieses Werk kann die Reisegesellschaft um Landgraf Karl durchaus gesehen haben. Ähnlichkeiten zwischen Herkules und Christophorus findet man
besonders bei der Statue, die Herkules mit seinem Sohn Telephos zeigt und die die
Italien-Reisenden gesehen haben.95
Am 15. Mai 1507 wurde im Garten eines Hauses auf dem Campo dei Fiori in Rom
eine Marmorstatue entdeckt. Sie stellt Herkules, der den gefundenen Telephos (zunächst als Hylas, gemeint ist Hyllos, ein Sohn des Herakles und der Deianeira, gedeutet96) auf seinem linken Arm hält, dar. Papst Julius II. ließ die Statue im Hof des
Belvedere im Vatikan in einer Nische aufstellen. Sie wurde zunächst als römischer
Kaiser Commodus gedeutet: Commodus hatte sich als Herkules verherrlichen lassen97.
––––––––––
95 Zu Telephos: Telephos ist der Sohn der Auge, der Tochter des Königs Aleos von Tegea in Arkadien, bei dem Herakles auf dem Weg nach Elis zu Augias zu Gast war. „Das delphische Orakel hatte
diesem geweissagt, seine Söhne würden durch einen Sprössling der Auge getötet werden. Um der
Prophezeihung zu entgehen, bestimmt Aleos seine Tochter zur Priesterin der Athene und verpflichtet sie so zur Jungfräulichkeit. Herakles vergewaltigt Auge, und aus der Verbindung geht Telephos
hervor. Der kleine Telephos wird von einer Hirschkuh angenommen und gesäugt. Auf einem
Streifzug durch das Gebirge entdeckt Herakles die Hindin und ihr Adoptivkind, erkennt seinen
Sohn und übergibt ihn Hirten, bei denen der Junge aufwächst. Die Szene, in der Herakles seinen
Sohn findet, ist häufig dargestellt worden, so zum Beispiel auf dem Telephos-Fries des
Pergamonaltars, Berlin, Platte 12, 160 v. Chr.: Ruhig auf seine löwenfellgepolsterte Keule gelehnt,
beobachtet Herakles die Säugung des Telephos durch eine Löwin. Seine Körperhaltung erinnert an
den Herakles im Typ Farnese, allerdings betonen die übereinandergeschlagenen Beine und die auf
der Brust aufliegende rechte Hand die Lässigkeit seiner Haltung, die zur idyllischen Stimmung der
Szene passt. Der pergamenische Fries ersetzt die Hirschkuh durch eine Löwin, denn Telephos wird
hier vom hellenistischen Königshaus von Pergamon als Ahnherr gefeiert. Später nämlich erfüllt sich
der Orakelspruch, Telephos tötet im Streit seine Onkel und gelangt auf der Suche nach Entsühnung
nach Kleinasien, wo er dem König Teuthras von Mysien beisteht. Er wird als Nachfolger des
Teuthras Herrscher über das Land am Kaikos und damit mythischer Gründer von Pergamon.
Andere Darstellungen aus römischer Zeit zeigen Herakles mit Telephos auf dem Arm in Begleitung
der Hirschkuh, so eine Marmorstatuette im Kunsthistorischen Museum Wien I 48, in: Lexicon
Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), Zürich 1988, Bd. IV, 1, S. 752, Nr. 439, und Bd.
IV, 2, S. 474; oder Herakles mit Telephos und Hirschkuh, römisch, aus Sardinien; Paris, Petit Palais
Bronzes antiques, 1980, 60-62, No 15, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC),
Zürich 1988, Bd. IV, 1, S. 749, Nr. 373, und Bd. IV, 2, S. 470.
96 Uwe GEESE: Antike als Programm – Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, in: Katalog
Frankfurt 1985, S. 29.
97 Vgl. Katalog Kassel 1997 (wie Anm. 7), S. 142, Kat. Nr. 5.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
229
Landgraf Karl und seine Begleiter haben diese Statue auf der Italienreise am 1. Februar 1700 in Rom gesehen: „Der Kayser Commodus, oder vielmehr ein Gladiator,
einen Knaben auf der Schulter habend:[…]“98
Abb. 10: Giovanni Battista Galestruzzi (um 1611/20
Florenz – nach 17.07.1678): Gefesselter Herkules, von
Cupido geführt; zwischen 1629 und nach 1669; Köln,
Wallraf-Richartz-Museum, Graphische Sammlung, Inv.
Nr. 17806, Foto: Rheinisches Bildarchiv 183 819
Abb. 11: Hendrick GOLTZIUS (1558-1617): Statue des
Herakles mit Telephos, Marmor, römisch; Vatikan,
Belvedere-Hof; die Statue ist ergänzt worden. Foto:
MHK
Ein Stich dieser Statue von Hendrik GOLTZIUS, die auf dem Sockel die Inschrift
‚Hercules Alexikakos‘, der Übel abwehrende Herkules, befindet sich in Kassel in der
Graphischen Sammlung (Abb. 11).99 Der Stich ist um 1592 entstanden und 1617
––––––––––
98 Johann Balthasar KLAUTE: Diarium Italicum. Die Reise Landgraf Karls von Hessen-Kassel nach
Italien 5. Dez. 1699 bis 1. April 1700 von Johann Balthasar KLAUTE, neu hg. von Cornelia
WEINBERGER, Kassel 2006, S. 74. Am 1. Februar 1700 wurde der Palazzo Farnese besucht, wo
Landgraf Karl neben der Statue des Herkules auch die Statue (Abb. 18) sah, die damals offensichtlich nicht im Belvedere-Hof des Vatikan stand. Vom dortigen Besuch am 4. Februar 1700
berichtet Klaute nur von den Statuen des Apollo, des Laokoon, Venus mit Cupido, Venus Erycina, Antinous, der sterbenden Cleopatra sowie vom „truncus Herculis von Marmor ohne
Haupt/Armen und Beine“ (ebd. S. 81), also dem berühmten Torso vom Belvedere, der als sitzender Herkules gedeutet wurde, nicht aber von der oben genannten Statue.
99 LUKATIS (wie Anm. 60), S. 52, Abb. 46, Inv. Nr. GS 20300, fol. 90. Der Stich ist um 1592 entstanden und 1617 postum herausgegeben worden. Leider ist nicht bekannt, wann der Stich in die
landgräfliche Sammlung gekommen ist. In diesem Stich fehlen noch die linke Hand, die Keule
bis auf ein kleines Stück, auf dem die rechte Hand liegt – so wie bei der Bronzestatuette Abb. 18
–, und das Feigenblatt.
230
Joachim Schröder
postum herausgegeben worden. Leider ist nicht bekannt, wann der Stich in die landgräfliche Sammlung gekommen ist. In diesem Stich fehlen noch die linke Hand, die
Keule bis auf ein kleines Stück, auf dem die rechte Hand liegt, und das Feigenblatt.100
Eine Version dieser Statue, eine Bronzestatuette (Abb. 12), wurde von Wilhelm VIII.
1750 erworben.101
Abb. 12: Unbekannt: Herkules mit Telephos, 17. Jh.
(?), Bronze, goldbraun bis schwarz patiniert, Höhe mit
Basis 39,3 cm; Kassel, MHK, Antikensammlung, Inv.
Nr. N 19 Foto: Joachim Schröder
Abb. 13: Peter Paul RUBENS (1577-1640): Christophorus. Gemälde. Zunftaltar der Armbrustschützen,
um 1611, München Bildarchiv Foto Marburg
Der bärtige, muskulöse Herkules, ein Mann reifen Alters, steht lässig im klassischen
Kontrapost da. Das Löwenfell ist über seiner rechten Schulter verknotet, fällt vor der
Brust hinunter und ist um den linken Arm gewickelt, der Kopf des Löwen hängt über
seiner linken Brustseite. Die Keule lehnt locker am rechten Oberschenkel, wobei die
ausgestreckten Finger der rechten Hand sie nur halten, nicht greifen. Die riesige Stärke
des Heroen wird daran deutlich, dass er das linke Füßchen des kleinen Telephos in
seiner linken geöffneten Hand balanciert und den Körper des Jungen vor seinem Oberarm hält. Telephos streckt die rechte Hand liebkosend zum Kopf des Vaters aus. Sein
––––––––––
100 Eine lebensgroße Kopie dieser beliebten Statue, von August dem Starken in Rom bestellt, befand
sich 1723 in Dresden vor der Treppe des Palais im großen Garten: Gerald HERES: Herakles mit
dem Telephosknaben. Eine von August dem Starken erworbene Antikenkopie, in: Dresdener
Kunstblätter 1986, H. 5, S. 130-135.
101 LÖWE (wie Anm. 34), S. 19, Abb. 12, Kat. Nr. 5.
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
231
Kopf ist etwa auf der Höhe des Löwenhaupts, aber er zeigt keine Furcht. Die Statuette
wirkt gegenüber der ausgeprägt muskulösen Gestalt des Stichs fast schlank und geglättet. Die Muskulatur, z. B. am rechten Arm oder am Oberkörper, ist längst nicht so
ausgeprägt. Die Kopfhaltung des Heroen, die Haltung der linken Hand des Telephos
sind in der Kasseler Statuette leicht verändert. Die Scham ist von einem Feigenblatt
verdeckt. Die linke Hand ist ergänzt, sodass sie das linke Füßchen des Kindes birgt.
Ikonographisch gibt es, wie ROSENFELD schon bemerkt hatte, keine Brücke zwischen
dieser antiken Darstellung und den frühen Christophorus-Darstellungen, auf denen der
Heilige den erwachsenen Christus an seiner linken Seite vor dem Herzen trägt. Die einzige Verwandtschaft besteht im Tragen des Kindes bzw. Christi vor der linken Seite. Die
späteren, der Legenda aurea folgenden Darstellungen zeigen das Christuskind fast immer
auf der Schulter oder dem Nacken des Heiligen, sodass es auch hier keine direkten Beziehungen gibt. Den Italien-Besuchern in Begleitung Landgraf Karls oder späteren Betrachtern des Stichs und der Statuette ist dennoch sicherlich eine gewisse Ähnlichkeit
zwischen den jeweils ein Kind tragenden Herkules und Christophorus aufgefallen. Auch
hier könnte ein Ansatz für die Popularisierung gelegen haben.
Abb. 14: Peter Paul RUBENS (1577-1640) (Werkstatt): Trunkener Herkules,
Öl auf Eichenholz, 67,5 x 86,5 cm, um 1612, Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister,
Inv. 1749 ff. Nr. 41, Gk. 84 Foto: MHK
3.4 Ähnlichkeiten in der Körpergestaltung
Bei Darstellungen des Christophorus gibt es erst seit der italienischen Renaissance und
im Barock Anklänge an Herkulesdarstellungen hinsichtlich der Körpergestaltung. In
Italien wird seit der Renaissance ein jugendlicher Typus bevorzugt, eventuell dort nach
antikem Vorbild des Herakles mit dem Erosknaben, so z. B. von Tommaso di Ser
232
Joachim Schröder
Giovanni Cassai, genannt Masaccio, in San Clemente in Rom, 1427102. In der kunsthistorischen Literatur ist auf die Ähnlichkeit von solchen Christophorus- und HerkulesDarstellungen hingewiesen worden.103 Die Ähnlichkeit in der körperlichen Darstellung
wird am deutlichsten, wenn man zwei Bilder von Peter Paul Rubens vergleicht, die fast
gleichzeitig entstanden sind: Der Christophorus für die Antwerpener Armbrustschützengilde (Abb. 13) entstand um 1611, das Gemälde „Der trunkene Herkules“, das
in Dresden hängt, entstand um 1612. Eine Werkstatt-Kopie im Kabinettformat (Abb.
14) wurde vor 1749 von Landgraf Wilhelm VIII. erworben.104
Besonders auffällig ist die Gestaltung der Beine: Christophorus schreitet mit dem
rechten Bein fast wild entschlossen aus, der kräftige Oberschenkel wird von einer –
nicht erkennbaren – Lichtquelle beleuchtet. Der trunkene Herkules wird von einer Satyresse und einem Satyrn gestützt, die er mit seinem Gewicht fast erdrückt. Das Licht
fällt besonders auf seinen linken Oberschenkel, während der rechte Oberschenkel fast
als Pendant zu Christophorus wirkt. Man hat das Gefühl, dass Herkules sich auf seinen
beiden kräftigen Beinen durchaus halten kann. Die Oberkörper beider Figuren sind
breit und muskulös, geradezu Prachtexemplare starker Männlichkeit.105
Natürlich entspringen die Ähnlichkeiten in der Gestaltung „starker Männer“ sowohl
in der Renaissance als auch dem Barock dem allgemeinen Schönheitsideal der Zeit,
ohne dass eine Gleichsetzung angestrebt war. Allerdings könnte dies im Hintergrundwissen von Personen, die an der Popularisierung des Herkules via Gleichsetzung mit
dem Christophorus interessiert waren, präsent gewesen sein.
3.5 Verwandtschaft der Laster
Der Tugendheld Herakles ist auch deswegen ein Vorbild, weil er seine Laster besiegt.
Zu diesen Lastern gehörte seine Ess- und Trinklust106 wie z. B. Abb. 14 zeigt. Herakles
wurde deswegen und wegen seiner Wutanfälle oft als Kraftprotz mit bäuerlichen Sitten
in der Antike in zahllosen Satyrspielen und Komödien verspottet. Besonders in der
Komödie „Die Vögel“ von Aristophanes (letztes Quartal des 5. Jahrhunderts v. Chr.)
wird Herakles als der große Tölpel vorgeführt, der die Herrschaft seines Vaters für
einen vollen Magen verspielt.107 Besonders in der Vasenmalerei war das Motiv „Herakles beim Gelage“ ein beliebtes Thema.108 Diese menschlichen Schwächen, die die
––––––––––
102 Gabriele KASTER: Christophorus. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Begründet von
Engelbert KIRSCHBAUM SJ †, hg. von Wolfgang BRAUNFELS, 5. Band, Ikonographie der Heiligen,
Rom, Freiburg, Basel, Wien 1975, Sp. 503.
103 Z. B. KUNSTMANN (wie Anm. 87), S. 52, S. 69 f. mit Hinweisen auf Buono da Ferrara, Marc
Anton Raimondi, Giovanni Bellini, Bartolomeo Biscaino, Francesco Solimena.
104 Bernhard SCHNACKENBURG: Gemäldegalerie Alte Meister, Gesamtkatalog, hg. von den Staatlichen
Museen Kassel, Mainz 1996, Textband S. 264, Tafelband Nr. 41, 3
105 Vgl. hierzu besonders LUKATIS (wie Anm. 60); sie zieht auf S. 50, Abb. 44, das ChristophorusBild ebenfalls zum Vergleich mit Herkules heran.
106 APOLLODOROS II, 83-87 (wie Anm. 44), S. 92. f
107 Vgl., WÜNSCHE ( wie Anm. 52), S. 375.
108 Vgl. hierzu Simone Ruth WOLF: Herakles beim Gelage. Eine motiv- und bedeutungsgeschichtliche
Untersuchung des Bildes in der archaisch-frühklassischen Vasenmalerei, Köln, Weimar, Berlin 1993
Wie der Herkules zum großen Christoph wurde
233
die Ambivalenz des Helden zeigen, war sicherlich ein wichtiger Grund für seine Beliebtheit in der Antike.
Für Christophorus lässt sich Ähnliches feststellen. Die Legenda aurea berichtet:
Auf seiner Suche nach jemandem, der ihm sagen kann, wer Christus sei, kam Christophorus zu einem Einsiedler, der ihn in der Lehre von Christus gründlich unterwies.
„Der Einsiedler sagte zu Christophorus: „Der König, dem du einmal dienen willst,
verlangt von dir den Gehorsam regelmäßigen Fastens.“ Christophorus antwortete:
„Er soll einen anderen Gehorsam von mir fordern, denn diesen kann ich keinesfalls
leisten.“ Der Einsiedler fuhr fort: „Außerdem musst du oft zu ihm beten.“ Darauf
Christophorus: „Ich weiß nicht, was das ist, und kann deshalb auch darin nicht gehorsam sein.“„109 Erst danach machte ihm der Einsiedler den Vorschlag, Reisende über
den Fluss zu tragen, und dem konnte Christophorus zustimmen.
Christophorus war also ein kräftiger Esser, dem das Fasten unmöglich erschien, und
er war so einfältig, dass er nicht wusste, was Beten heißt. Nicht ohne Grund wurde
deswegen aus der mundartlichen Formulierung „Christoffel“ die Bezeichnung „Stoffel“
für einen einfältigen, rohen, ungebildeten Menschen. Dazu kam die aus Märchen bekannte Tölpelhaftigkeit von Riesen, zu denen Christophorus ja zu zählen war, die eine
solche Charakterisierung unterstützte.
4. Zusammenfassung
Auch wenn in der Vorbemerkung ein gewisser spekulativer Charakter dieses zweiten
Teils der Abhandlung nicht verschwiegen wurde: Man kann im Lichte der Ausführungen, bei denen man auch den ersten Teil im Gedächtnis heranziehen sollte, annehmen, dass die verschiedenen Aspekte der Funktion der Protagonisten, die „Verwandtschaft“ bzw. Ähnlichkeit zwischen Herkules und Christophorus in Vita und
Ikonographie sowie die christliche Deutung des Herkules bei der Popularisierung des
Heroen Pate gestanden haben und sie erleichtert haben.
Nachtrag
Im ersten Teil dieses Beitrags (ZHG 113, 2008, S. 221-243) wurde aus Clemens
BRENTANOs Erstlings-Roman Godwi von 1801 zitiert und angenommen, dass dieses
Zitat „die wohl erste literarische Bezeichnung großer Christoffel“ enthalte.
Diese Aussage kann jetzt korrigiert werden: Der damals 25-jährige dänische
Schriftsteller Jens Baggesen berichtet in seinem Werk Das Labyrinth oder Reise durch
Deutschland und in die Schweiz 1789 (erschienen in der Reihe „Bibliothek des 18.
Jahrhunderts“ in Leipzig und Weimar 1985) von seinem Besuch in Kassel und begründet auf S. 224 und 225, warum er die Anlagen beim Weißenstein und den Herkules
nicht aufsucht: Von dem anderthalb Meilen von hier gelegenen Schloss Weißenstein mit
der auf dem Karlsberg oder dem so genannten „Winterkasten“ angelegten Kaskade,
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109 JACOBUS A VORAGINE (wie Anm. 88), S. 61.
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Joachim Schröder
von der Pyramide und dem unvergleichlichen Springbrunnen hatte ich schon allzu viel
gehört und gelesen, um noch versucht zu sein, diese Herrlichkeiten persönlich in Augenschein zu nehmen. Die vornehmste, nämlich den Herkules, oder „den großen
Krischtoffel“, wie man ihn in Kassel nennt, hatte ich außerdem schon aus zwei, drei
Meilen Entfernung von der Höhe des Lutterbergs gesehen.
Baggesen erwähnt die Bezeichnung „der große Krischtoffel“ wie selbstverständlich
– ein Zeichen für einen schon 1789 länger üblichen Gebrauch.