Rekonstruktion Ausdruckstanz (Goetheinstitut)

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Rekonstruktion Ausdruckstanz (Goetheinstitut)
Tanz - Tanzszene und Trends - Goethe-Institut
http://www.goethe.de/kue/tut/tre/de4695509.htm
Tanz-Rekonstruktionen: Neugier auf das tänzerische Erbe
Zeitgenössische Choreografen fangen Feuer für die Avantgarde von gestern und
vorgestern. Dem Zeitgeist auf der Spur, graben sie wie Archäologen nach dem
kaum Greifbaren einer flüchtigen Kunst und befragen dadurch auch ihr eigenes
künstlerisches Wirken. Der deutsche Ausdruckstanz drängt an das Licht.
Rekonstruktionen und Rekreationen passen in das Hybride der Tanzmoderne.
Die Zukunft entfaltet sich vor dem Schleier der Vergangenheit. Auf der Schnittstelle entsteht der Tanz,
den wir „zeitgenössisch“ nennen. Keine andere Kunst entschlüpft seiner Manifestation so radikal wie er.
Fotos, Texte, Filme, selbst die feinste Bewegungs-Notation vermögen es nicht, das Wesen atmender
Kunstwerke einzufangen. Das Schemenhafte räumlicher Bewegung, ihre imaginäre Essenz
beschleunigen das Vergessen. Anders als das Ballett mit seiner überlieferten Technik erlischt die
persönliche Schöpfung mit dem Menschen, der sie schuf – denn die Erinnerungen an den
Entstehungsprozess verschlüsseln sich in den Zellen des Körpers.
Muss die Tanzschöpfung wirklich verlöschen? Angeheizt durch die wachsende Präsenz der
Tanzwissenschaft, durch die Lust der Konzeptkünstler an Analyse und Reflexion, die Vernetzung der
Tanzarchive und die Bündelung von Wissen durch Tanzkongresse hat sich das Bewusstsein für
Geschichte geschärft. Dokumentationen sind jetzt leichter zugänglich. Der Schleier vor dem Gestern
wird transparenter, Fragen nach der Urheberschaft dringlich und präziser.
Die Scherben von Kitt trennen
Mary Wigman beschreibt Tanz als „lebendige Sprache, die sich über den Boden der
Realität emporschwingt“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Wigman
revolutionär, wegweisend auch in den USA. Ihr Hexentanz von 1926 ist als
Zeitkunstwerk ins World Wide Web zu finden. Wer hat das Copyright? Darf man es
nehmen und nachtanzen? Die Erben sagen Nein. Ja sagen sie nur, wenn jemand,
noch Wigmans Botschaft in sich trägt, stilistisch dabei Nachhilfe gibt. Zeitzeugen
gibt es, eine Schule oder Technik für die Kunst von Wigman nicht mehr. Heute
klingt ihre Sprache deshalb fremd. Im Film geht ja die dritte Dimension verloren,
die das Sinnliche und Spirituelle trägt: das „Wie“, der Flow, jener feine Stoff des
„Verströmens“ und „Verhauchens“, wie Wigman es nannte, der sich in den Raum
projiziert. Viele übten sich darin, den Schatz zu heben, und nicht alle folgten dabei
dem strengen Berufsethos des Archäologen, der echte Scherben vom Kitt trennen
soll.
Die prominenteste Spurensucherin ist die Ballerina Sylvie Guillem. Als Start
ihrer Karriere zur Tänzerin ohne Spitzenschuhe nahm sie sich 1998
Wigmans Hexentanz und Sommerlicher Tanz vor, deren Modernität sie
verblüffte. Sie ließ weg, fügte hinzu, was ihr wichtig schien, denn: „um so
tanzen zu können wie sie, müsste ich sie sein, ihr Leben haben, ihre
Bildphantasie, ihr Zeitmaß“. Damit spricht Guillem aus, dass Konservierung
ohne die Zutat persönlicher Aneignung heute keinen Sinn macht.
Eigene Affekt-Variationen
Der Choreograph Fabián Barba aus Ecuador ist der jüngste Rückblicker. Seine Ausbildung bei
P.A.R.T.S. in Brüssel krönt er mit drei Wigman-Tänzen aus dem Zyklus Schwingende Landschaft , die
er im Rahmen einer Residenz am K3-Zentrum für Choreographie/Tanzplan Hamburg erarbeitet. Mit
Neugier und Hingabe lauscht er dabei auf ein Echo, das ihm aus seiner Heimat bekannt vorkommt und
lässt sich von Zeitzeugen coachen. Warum und wie ihn die Faszination packte, zeigt er zum
Tanzkongress im November 2009: abendfüllend und mit einer Vorlesung.
Wie Barba kommt auch Martin Nachbar aus der Brüsseler Talentschmiede. Seit 2000 nähert er sich
Dore Hoyers Tanzzyklus Affectos Humanos von 1962 an, unterstützt von Waltraud Luley, die das Erbe
der letzen Fahnenträgerin des Ausdruckstanzes hütet. Vor Hoyers phänomenaler Technik, Dynamik und
Formenschärfe kapituliert er – die gelernte Releasetechnik nützt ihm nichts. In seinem Stück Urheben
Aufheben macht Nachbar das Scheitern selbst zum Thema. Er fragt nach Identität, nach Urheberschaft
und zeigt, wie sich aus dem Aufbewahren als kulturstiftender Tätigkeit ein neuer Ideenkörper bildet.
Susanne Linke und Arila Siegert, die eine Wigman-, die andere PaluccaSchülerin, prallen in ihren Hoyer-Rekonstruktionen ganz direkt, aber mit
einer spezifischen Körperahnung auf die Rasanz des Originals. Linke, die
Hoyer noch tanzen sah, kommt den typischen widerstrebenden
Zugkräften im Rumpf beeindruckend nahe, während Siegert die
langgliedrige Silhouette der Hoyer fasziniert. Siegert und Linke haben
noch direkten Bezug zum Expressionismus. Beide Tänzerinnen
entschlossen sich zu verschiedenen Zeiten, eigene Solo-Choreografien
über menschliche Affekte zu erarbeiten, um ihre Emotionen schöpferisch
zu kanalisieren, die bei der Arbeit an Hoyers Affectos Humanos-Zyklus aufgestiegen waren.
Die Akademie der Künste in Berlin pflegt diese Erinnerungskultur. Mit ihrer Veranstaltungsreihe
Politische Körper hält sie das Gedächtnis von Ahnen und Erben lebendig, damit das Wissen vom Körper
nicht verloren geht und damit die Kunstform Tanz kulturhistorisch Fundament gewinnt.
Wie Tanzgeschichte heute atmet
Der Katalane Cesc Gelabert arbeitet gegen das Vergessen des 1992
gestorbenen Tänzers und Choreographen Gerhard Bohner. Seit 1996 reist
Gelabert mit dem Bohner-Solo Im (Goldenen) Schnitt von 1989 durch die
Welt und wächst daran. Er hütet damit die Essenz eines vom Bauhaus
befruchteten Lebenswerks und lernte dabei: „In der Genauigkeit liegt die
Mechanik“. Auch Mareike Franz folgt dieser Präzision im Nachspüren der
physischen Struktur und der Ideengebilde zwischen den Poren. Susanne
Linke reichte der Jüngeren jetzt schon ihr Solo Wandlung weiter. Damit
bleibt eine Sprache lebendig, die den Wissensfluss der Schöpfer und Schöpferinnen und ihrer Ahnen
durchweht und filtert.
Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewegung: Perspektiven der
künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld: Transcript 2007, 355 Seiten.
Irene Sieben
ist Schülerin von Mary Wigman, Feldenkrais-Lehrerin, freie Journalistin und Autorin mit Schwerpunkt
auf tanzhistorischen Themen und somatischen Lern-Methoden.
Copyright: Goethe-Institut e. V., Online-Redaktion
Juni 2009
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Links zum Thema
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Wie schon bei ersten Tanzkongress 2006 thematisiert auch der 2. Deutsche Tanzkongress 2009
Tanzhistorie und die Bedeutung von Rekonstruktion.
http://www.tanzkongress.de
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Mary Wigman – Biografie und Filmausschnitt von „Hexentanz“
http://biografiennews.blog.de/2007/01/11/mary_wigman_die_moderne_ausdruckstanzeri~1542273/
Biografisches zu Gerhard Bohner
http://www.hebbel-am-ufer.de/archiv_hebbel_theater/seiten/archiv/kuenstler/bohner.html
Mehr zu Arila Siegert
http://www.arila-siegert.de/
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