Leben des Galilei
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Leben des Galilei
Leben des Galilei Materialsammlung Spielzeit 2014/15 Inhalt Einleitung 1 Zum Autor Zeittafel Biographie 4 8 Zum Stück Basiswissen (Zusammenfassung) Entstehung der 2./3. Fassung, Deutungsansätze Anmerkungen Brechts (Auszüge) Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei Hanns Eisler über »Leben des Galilei« 13 16 26 30 38 Galilei und seine Zeit Synoptischer Überblick der Ereignisse Letztes Verhör und Widerruf Weltsysteme Die römische Inquisition der Neuzeit Die Pest Pestepidemien im Europa der Frühen Neuzeit Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year (Auszug) 53 58 70 73 88 92 123 Spiel Kurztexte und -erläuterungen von Müller, Schleef, Heidegger, Suschke und Brecht 131 Kontexte Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft? Wie frei ist die Wissenschaft? Die Stunde der Wahrheit? Wissenschaft und Macht Virologen fürchten Engpässe für Forschung Foucault: Andere Räume Bildmaterial 138 148 149 154 155 157 164 1 2 3 2.1. Zum Autor: Zeittafel aus: Jan Knopf. Bertold Brecht. Suhrkamp BasisBiographie, 2006 4 5 6 7 2.2. Zum Autor: Biographie aus: Knopf, Jan. Eintrag in Metzler Lexikon der Weltliteratur, 2006 8 9 10 11 Jan Knopf wurde 1944 in Arnstadt/Thüringen geboren. Er ist seit 1984 Professor für Literaturwissenschaft und seit 1989 Leiter der Arbeitsstelle Bertold Brecht (ABB) am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe, Herausgeber und Autor diverser BrechtBiografien und Handbücher. Anzumerken ist, dass sich in seiner ausführlichen Forschung und Publikation zu Brecht tendenziell eine gewisse Entpolitisierung des Autors wiederfindet: »Knopf schreibt vor allem gegen das Vorurteil an, Brecht sei Kommunist gewesen.« (deutschlandradiokultur.de, Jörg Magenau: Im Osten verklärt, im Westen ausgegrenzt) 12 3.1. Zum Stück: Basiswissen (Zusammenfassung) 13 aus: Jan Knopf. Bertold Brecht. Suhrkamp BasisBiographie, 2006 14 15 3.2. Zum Stück: Entstehung der 2./3. Fassung. Deutungsansätze 16 aus: Knopf, Jan. Brecht Handbuch. J.B. Metzler 1986 17 18 19 20 21 22 23 24 25 3.3. Zum Stück: Anmerkungen Brechts (Auszüge) aus: Brecht, Bertold. Gesammelte Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24, 1991 26 27 28 29 3.4. Zum Stück: Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei (Auszüge) 30 31 32 aus: Brecht, Bertold. Gesammelte Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 25, 1994 33 34 35 36 37 3.4. Zum Stück: Hanns Eisler über "Leben des Galilei" XV Über »Leben des Galilei« AUSMATHEMATISIEREN • EINSTEIN VERRECHNETE SICH • FALSCHES VOKABULAR • VOM ÜBERLEBEN • EINLADUNG ZUM AUSVERKAUF • GESCHEITER ALS DIE REGIERUNG • WAHRHEITEN IM SACK • DER SCHILLERSCHÜLER • KRITIK MIT DEM HUT IN DER HAND • ÄSTHETISCHE REIZE SCHLAGEN IN POLITIK UM • ELEGANZ MACHT ÄRGERLICH • ÜBER DAS AUSPROBIEREN • DER SPEZ • EIN SCHLAUER HERR Bunge: Während unserer Gespräche im Jahre 1958 hat Hanns Eisler mehrmals auf Brechts »ausgesprochenen Sinn für Mathematik« hingewiesen. Beispielsweise sagte er: »Die Musikalität von Brecht war eine riesige Musikalität ohne Technik — genauso wie der Brecht ein eigentümliches mathematisches Talent war, ohne mathematische Technik.« Eisler berief sich auch darauf, daß er von Brecht oft den Ausdruck »einen Stoff ausmathematisieren« gehört habe. Ich hätte dieses Phänomen gern weiter untersucht, aber es dauerte mehr als drei Jahre, bis sich die Gelegenheit dazu bot. Ich hoffte nämlich, im Verlauf der Unterhaltung auf das Stück »Leben des Galilei« zu kommen, nachdem andere Versuche zu keinem Erfolg geführt hatten. Eisler wich diesem Gespräch — so schien es mir allmählich — absichtlich aus. Einmal, als ich referierte, daß die amerikanische Fassung des Stückes am 1. Dezember 1945 abgeschlossen wurde und daß Charles Laughton sie vor Brecht, Helene Weigel, Stefan Brecht, Hanns Eisler, Berthold und Salka Viertel, Hermann Reichenbach, Lion Feuchtwanger, Wirtele und Brush vorgelesen habe, gab Eisler lediglich einige Erklärungen über die Zuhörer ab. Darauf las ich das »Vorwort« der amerikanischen Fassung vor, das anscheinend selbst bei Brecht in Vergessenheit geraten war, denn es ist niemals irgendwo benutzt worden. Ich hatte es im Arbeitsbuch »entdeckt«: Geehrtes Publikum der Breiten Straße Wir laden Sie heut in die Welt der Kurven und Maße Zu entschleiern vor Ihrem Kennerblick Die Geburtsstunde der Physik. Sie sehen das Leben des großen Galileo Galilei Den Kampf des Fallgesetzes mit dem gratias dei, Der Wissenschaft mit der Obrigkeit 38 An der Schwelle einer Neuen Zeit. Sie sehen die Wissenschaft jung, geil und drall Und Sie sehen ihren Sündenfall. Sie muß essen und ihr wird Gewalt getan Und so kommt sie auf die schiefe Bahn Und wird, die Meisterin der Natur Billige Gesellschaftshur. Noch ist das Wahre nicht die Ware Doch hat es schon dies Sonderbare Daß es die Vielen nicht erreicht Und macht ihr Leben schwer statt leicht. Solches Wissen ist aktuell Die Neue Zeit läuft ab besonders schnell. Wir hoffen, Sie leihen Ihr geneigtes Ohr Wenn nicht uns, so doch unserm Thema, bevor Infolge der nicht gelernten Lektion Auftritt die Atombombe in Person. Eisler freute sich über die Wiederbegegnung, fand das Gedicht großartig und sprach die Hoffnung aus, es in der wissenschaftlichen Gesamtausgabe zu finden — aber dann lenkte er sofort wieder auf ein anderes Thema ab. Ich mußte sehr drängen, bevor ich eine — alles andere als erschöpfende — Auskunft über die amerikanische Bearbeitung erhielt. Eisler: Es war eine fabelhafte Leistung. Der Brecht hat ja, glaube ich, mit Laughton eineinhalb Jahre lang das englische Skript hergestellt. Das ist ja nicht nur eine Übersetzung — dadurch, daß Brecht da mitgearbeitet hat. Brecht verstand ja enorm viel englisch. Er hat sich geweigert, als deutscher Dichter diese ihm an sich teure Sprache zu sprechen. Zum Unterschied von meiner Schamlosigkeit. Ich radebrechte eben sogleich am Beginn. Und Brecht, der wirklich englisch konnte, war sehr vorsichtig mit seinen Formulierungen. Also das ist eine großartige Neuschöpfung, Neudichtung. Hat sich auch gegenüber dem Original stark verändert. Es ist eine Riesenleistung von Laughton, ob ers haben will jetzt oder nicht. Bunge: Über die Aufführungen war gar nichts herauszubekommen. Natürlich habe Eisler beide Inszenierungen gesehen, sowohl die in Kalifornien als auch die in New York. Schließlich habe er ja die Musik dazu geschrieben. Das war alles. Nun hoffte ich, mit einem Gespräch über Mathematik ein Sprungbrett zu finden. 39 Obwohl sich herausstellte, daß Eislers Erinnerung an seine früheren Äußerungen ausgezeichnet war, sah ich zunächst einen weiteren Mißerfolg voraus. Eisler lehnte rundweg ab, über den »Mathematiker Brecht« zu sprechen. Eisler: Lieber Freund, das mache ich nicht. Bunge: Aber wir haben doch diese Frage damals nur angeschnitten. Eisler: Daß er den pythagoreischen Lehrsatz nicht verstanden hat? Das hat doch keinen Sinn, daß ich jetzt am Grabe meines Freundes Brecht höhnisch wie ein Dummkopf — jeder Schulbub weiß das — auf einen gewissen Mangel an Forschung hinweise. Aber er hat zum Beispiel gesagt, daß er seine Storys, seine Fabeln »ausmathematisiert«. Das war der Ausdruck von Brecht. Das war großartig. Das stimmte. In der reinen Mathematik kannte er sich nicht aus. Warum soll er sich denn da gerade auskennen? Was wollen Sie von Brecht noch haben? Daß er tanzen kann? Geige spielen kann? Mathematik beherrscht? Also ich meine: bei aller Bewunderung des Genies Brecht — das geht doch einfach zu weit. Bunge: Ich will nicht, daß er das kann, sondern ich wollte nur Ihre Meinung zu bestimmten Vorstellungen Brechts hören. Was meinte er zum Beispiel, wenn er von »ausmathematisieren« sprach? Eisler: Das war also ganz hervorragend. Und jedem Mathematiker hätte das Herz im Leibe gelacht über die unerbittliche Logik und Unbarmherzigkeit gegen Effekte. »Ausmathematisieren« bei Brecht hieß: die Sache zum Skelett zuerst machen. Aber mit der Mathematik, das ist eine andere Sache. Um Gottes willen! Schauen Sie, Einstein war ein schlechter Mathematiker. Das kann Ihnen jeder Physiker sagen. Ich erinnere mich, ich kannte einen gewissen Herrn namens Romm. Den traf ich in meiner Jugend, 1925, mit meinem Professor Hamburger, der ein Schüler von Einstein war. Ich kannte Einstein, wie Sie wissen. Der Hamburger, der damals Ordinarius in Köln für Mathematik war — Sie können in den Mathematikbüchern den Hamburgischen Lehrsatz finden, den er mit zwanzig Jahren gefunden hat —, sagte: »Na der Einstein ist ein schlechter Mathematiker.« Zum Beispiel wenn der Einstein — als er noch in der Universität unterrichtet hat — eine Formel aufschrieb, dann hat sich dieser Romm (der eigentlich nur im »Romanischen Café« saß, ein ziemlich verlumpter Bohémien) gemeldet und gesagt: 40 »Herr Professor, das ist falsch!« Und hat ihm nachgewiesen, daß in der Formel etwas falsch war. Also Herr Romm, der inzwischen leider sittlich verkommen, vergessen ist — das ist ein Mathematiker. Der Einstein hat sich leicht in einer Formel geirrt. Einstein war kein großer Mathematiker, so komisch das klingt. Das sagten mir — ich kann das gar nicht beurteilen — die Mathematiker, und zwar die Verehrer, die zu seinen Fußsohlen gewissermaßen gelegen sind und in ihm eins der erstaunlichsten Genies der Menschheit bewundert haben. Also es ist doch kindisch, den Brecht jetzt als Mathematiker zu bezeichnen. Das geht doch gar nicht. Höhere Mathematik ist doch ein ganz anderes Gebiet. Es ist eine Art der höchsten Abstraktion, der Brecht unbedingt fähig war, weil es ihn beschäftigt hat. Aber ein Mensch, der sich nie damit beschäftigt hat, kann doch nicht plötzlich mit vierzig Jahren ein Mathematiker werden. Er hat wirklich kaum den pythagoreischen Lehrsatz verstanden. Aber für seine Fabeln, für seine Art zu denken gebe ich fünfzig Mathematiker hin — also noch mehr — für ein Zehntel von Brecht. Es hat doch keinen Sinn, den Mann auf sowas festnageln zu wollen. Bunge: Das, glaube ich, macht auch niemand. Aber wenn er selbst einen Ausdruck gebraucht wie eben »ausmathematisieren« ... Eisler: Mathematisieren heißt bei ihm ja nur auslogisieren. Brecht hat vielleicht sich oft in dem Vokabular vergriffen. Seine Fabel mußte logisch unangreifbar sein. Also was man Logistik nennt, auch im Militärwesen. Sie waren doch einmal auch beim Militär wie ich und wissen, was Logik ist: etwas, was ausgerechnet werden muß, die Bewegung eines Armeekorps. Das entspricht ja auch mathematischen Vorstellungen. Man kann also nur gewisse Dinge machen. Wenn das geht, dann geht das andere nicht. Insofern war Brecht ein großer Logiker. Da will ich Ihnen sofort als erster zustimmen. Und zwar ein unerbittlicher, auch gegen sich selbst. Aber wenn wir jetzt mit der Schulweisheit kommen, mit Mathematik, hat das gar keinen Sinn. Da würde auch Einstein nicht standhalten. Irgendein drittklassiger Professor an einer kleinen Provinzuniversität würde uns alle schlagen. Bunge: Und wie hat Brecht das bei »Leben des Galilei« gemacht? 41 Eisler: Nicht nur mit Mathematik, sondern mit Politik! Vergessen Sie das nicht. Die erste Fassung war »Die Schlauheit des Überlebens«. Großartige Formulierung. Schauen Sie, die Leute, die innerhalb des Faschismus als Physiker gearbeitet haben und, wie Hahn, die Atomzertrümmerung entdeckt haben — haben sich genauso benommen wie in der ersten Version von »Galilei«. Die schickte mir auch der Brecht nach Amerika. Ich fand eben: gegen den Druck, gegen den Wind sich klein machen. Mach dich gegen den Sturm klein, aber bring deine Wahrheit durch! Der Hahn hat die Wahrheit nach außen gegeben. Also wenn Sie den Hahn genau verstehen — der Mann lebt noch, er ist achtzig Jahre alt —: er hat das wirklich gemacht. Er hätte ja der faschistischen Regierung seine Experimente übergeben können. Er hat sie nicht übergeben. Er hat geschwiegen bis zum Schluß. Das ist ein Ruhm. Er hats gewußt und nicht weitergegeben. Er hat sie der Frau Meitner — eine Jüdin, die in Kopenhagen bei Bohr war — übergeben. Die verstand die Botschaft und hat sie dem Bohr gegeben. Bohr flog nach New York, kam mit Kreisen antifaschistischer, emigrierter — meist jüdischer — Physiker zusammen. Und sie haben den Roosevelt aufmerksam gemacht, daß die Deutschen, wenn der Hahn das hat... Roosevelt hat gesagt: »Das interessiert mich überhaupt nicht.« Da kam ein Brief von Einstein. Einstein schrieb im Brief an Roosevelt: »Also hören Sie zu, die Atomzertrümmerung, wenn die Deutschen das haben, ist eine Weltgefahr. Ich schlage Ihnen vor, sofort das zu betreiben.« Ja zu betreiben. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet Tausende von Millionen, Milliarden Dollar. Eine ungeheure Industrie muß angeheizt werden, um das zu machen. Und sie haben das gemacht. Auf den Brief von Einstein hin. Und zwar die letzte Überzeugung von Roosevelt war — Sie können das nachlesen —, daß ein ungarischer Emigrant (oder war es vielleicht Fermi, der italienische Emigrant, dem der erste praktische Versuch geglückt ist?) sagte: »Wissen Sie, zu Napoleon I. kam ein Mann, der das Dampfschiff erfunden hat und sagte: Sie können England erobern, wenn Sie meine Erfindung des Dampfschiffes benutzen. Napoleon hat ihn rausgeschmissen.« Das hat auf Roosevelt einen ungeheuren Eindruck gemacht — und der Brief von Einstein. Also das wäre hier ungefähr die erste Phase Galileis. Die stimmt ja gar nicht. Wir haben doch in Deutschland den Hahn gehabt, der das tatsächlich 42 Herrn Hitler mitteilen konnte. Nun, der technische Weg war sehr kompliziert. Die deutschen Physiker — also die faschistischen Physiker — arbeiteten mit einer falschen Theorie: schwerem Wasser statt Plutonium. Ich sage aber doch nicht, um Gottes willen, daß die erste Phase von Galilei nicht im Stück von Brecht genial ist. Aber mit der realen Entwicklung der Physik, dort, wo sie praktizierbar wird zum Entsetzen der Menschheit, können Sie »Galilei« überhaupt nicht vergleichen. Ich warne Sie vor solchen Vergleichen! Sondern Brechts Stück ist ein historisches Stück. Es zeigt nämlich einfach nur, wie schwer es ist, die Wahrheit durchzusetzen. Wie lang kann man kämpfen, ohne vernichtet zu werden? Wie lang kann man durchstehen bis zum Ende — und die Wahrheit noch weitergeben und sich selbst erkennen als schwacher Mann? Also wenn man als Physiker den »Galilei« sieht — und sieht nun die Realität der letzten dreißig Jahre innerhalb des faschistischen Deutschland —, kommt man gar nicht darauf. Genauso wäre es, wenn Sie vergleichen einen Mörder mit Macbeth. Da könnten Sie alles vergleichen. Die Physik ist nur der Aufhänger, das Thema, mit dem ein Mensch gezeigt wird, der mit einer großen Macht kämpft, sich verändert, deformiert, ausverkauft, den Ausverkauf bedauert und das Ausverkaufen auch decouvriert. Also wörtlich können Sie das nicht nehmen. Gott sei Dank ist unser Publikum nicht so gebildet, daß sie solche Bauchschmerzen haben. Also das ist nicht eine Beschwerde für die Zuhörer. Im Gegenteil, sie sehen etwas ganz Heroisches — und zwar zweimal umgedreht Heroisches. Und das ist selbstverständlich eine grandiose Leistung von Brecht. Nämlich, den neuen Menschen in einer alten Gesellschaft zu zeigen. Den neuen Menschen! Wichtig ist nicht das Verhalten von Galilei gegenüber der Inquisition, oder daß er zum Schluß nachgibt — das heißt, er ist in einer Villa isoliert, von zwei Pfaffen bewacht —, wichtig ist nur, daß er doch immer nach der Wahrheit gestrebt hat. Die Gier nach dem Neuen, die Begierde, das Unwiderstehliche des Forschens, das ist die große Tragödie Galileis — und nicht die Umstände. Das muß man verstehen. Bunge: Es gibt Szenen, in denen physikalische Experimente demonstriert werden. Brecht hat sich dabei beraten und informieren lassen ... 43 Eisler: Ja, durch Schüler von Bohr. Bunge:... und später, in Amerika, von Reichenbach … Eisler: Hermann Reichenbach, ja, der alte Professor. Das war aber schon die zweite Fassung. Denn damals war ich ja in Kopenhagen, und da waren die Schüler von Bohr. Bunge: Das Physikalische ändert sich nicht. Was sich ändert, ist die Haltung Galileis. Eisler: Die ist großartig. Die zweite Fassung ist wirklich großartig. Die erste Fassung ist verschmitzt und ladet ein zum Ausverkauf. So ist er nur ein schlauer Bursche, wissen Sie, wie ein chinesischer Weiser, der also einfach durchschlupft durch die Maschen des Netzes der Gewalt. Das würde dem Westen ungeheuer gepaßt haben! Die zweite Fassung ladet nicht mehr zum Ausverkauf ein. Sie verurteilt das. Das ist also sehr wichtig. Ich kann zum Beispiel sagen: ich lebe in der DDR, bin ein viel gescheiterer Mann wie unsere Regierung — aber heimlich tu ich doch mein Wissen vorenthalten. Eine schmutzige und schäbige Haltung, nicht? Brecht hat das decouvriert. Er wollte nicht irgendeinen Pinscher einladen, der glaubt, auf einem Teilgebiet etwas besser zu wissen als die Arbeiterklasse — und hat ihm das auch noch weggenommen. Das finde ich großartig bei Brecht. Die zweite Fassung ist die einzige Rektifizierung des Problems. Bunge: Die Veränderungen betreffen allerdings nur einige Stellen des Stückes ... Eisler: Erkennbar zum Beispiel im Schlußmonolog. Bunge:... und das macht die Sache kompliziert. Von der ersten Fassung ist soviel geblieben, daß man auch in der zweiten Fassung häufig nur den verschmitzten Galilei sieht, der überleben will. Eisler: Schauen Sie, das ist ja auch eine schöne Haltung. Seien wir doch ehrlich. Ich darf das als alter Kommunist sagen. Das Überlebenwollen um jeden Preis — und zwar mit der großartigen Formulierung: ich habe noch die Wahrheit weitergegeben. Die Stafette! 44 Der Stafettenläufer der großen Wahrheit hat natürlich auch für einen alten Kommunisten wie mich etwas ungeheuer Anziehendes. Aber zu gleicher Zeit etwas Demoralisierendes. Verstehen Sie? Wenn wir uns alle so benommen hätten, da gäbe es überhaupt keine Arbeiterbewegung mehr. Es gäbe nur verschmitzte, schlaue Leute, die die Wahrheit im Sack haben und überleben wollen. Das zeigt die Größe Brechts, daß er das weggenommen hat — also diese Unmoralität. Denn Brecht war ja der beste Schüler von Schiller, wie Sie wissen. Das Theater ist bei ihm eine echte moralische Anstalt. Er war in ästhetischen Dingen zwar kein Barbar, aber die Ästhetik hatte einen gewissen Punkt erreicht, wo die Ästhetik aufhört und wo die Moral anfängt. Also der einzige Schiller-Schüler ist eigentlich Brecht. Daß er das gemacht hat, wo doch die erste Fassung viel anziehender ist, das ist eine der größten Leistungen von Brecht. Zum Beispiel in Westdeutschland heute wäre das einfach der Ausweg für viele Leute. Im Englischen heißt das: »Welcome, brother rat, in the gutter!« — »Ich begrüße dich, Bruder Ratte, im Schmutz!« sagt er zu seinem Schüler, als der Schüler ihn lobt. Denn das andere war brillant, anziehend, für jeden Pinscher anziehend — aber nicht echt revolutionär. Daß er nun noch einmal kritisiert wird, das macht ja die Stacheln, weswegen Brecht in Westdeutschland so schwer zu schlucken ist. Ich muß sagen, das ist eine erstaunliche Leistung. Ich erinnere mich, daß ich mit Brecht darüber diskutiert habe. Ich muß offen zugestehen, daß ich mit der zweiten Fassung im vorhinein nicht einverstanden war. Die erste Fassung fand ich großartig. Als er mir die zweite Fassung in Hollywood zeigte, war ich ein bißchen skeptisch. Ich fand nämlich eine merkwürdige Heroisierung, eine Überheroisierung. Schon die erste Fassung ist eine Heroisierung: Unter der Gewalt schweigen, aber die Wahrheit im Sack weiterbringen. Hier fand ich eine zweite Heroisierung. Er bringt die Wahrheit weiter — und sagt dann doch: ich bin ein Schwein, ich bin ein Schuft, ich hätte es auch offen machen können. Das fand ich die Doppelheroisierung. Hochinteressant! Heute kann man sprechen darüber wie nach getanen Schlachten. Verstehen Sie, wenn die großen Kunstschlachten vorüber sind, setzen wir uns, lieber Bunge und der alte Eisler, zusammen und reden über die großen Schlachten. 45 Ich habe nur auf etwas bestanden. Ich glaube, Brecht hat das auch eingesehen. »Laß ihn zum Schluß fressen«, sagte ich. »Das geht mir zu weit.« Der Mann ist erstens heroisch, weil er die Wahrheit weiterbetreibt, illegal, blind — er sagt, er ist blind —, in der Weltkugel ist sie verborgen, sein Schüler kommt, er gibt ihm das Manuskript, der Schüler preist ihn, er antwortet: »Du preist mich schlecht, ich hätte widerstehen sollen.« Das ist also ein Heroe. Also das geht mir einfach zu weit. Sagte ich: »Laß ihn zum Schluß fressen. Man soll sehen, warum er das gemacht hat.« Was ich beim Brecht übelnehme in »Galilei« — übelnehme mit dem Hut in der Hand, mit Verehrung dieses großen Meisters —, ist, daß der Mann überheroisiert ist. Er hat nämlich zwei Haltungen eingenommen. Mir hätte eine schon genügt. Es ist sehr schwer, unter der Unterdrückung die Wahrheit im Sack zu haben, blind weiterzuarbeiten und den Schülern das zu übergeben. Das wäre eine riesige Sache gewesen. Er macht aber noch eine zweite Sache: Er erkennt sogar seine eigene Verworfenheit. Wobei 1939/40 zurückprojiziert wird in die Renaissance. Das sind Tricks, die selbstverständlich nur so ein Genie wie Brecht überhaupt machen konnte. Wenn ich mich heute frage, für welche Fassung ich bin — ich müßte erst einmal nachdenken und zaudern. Denn mir ist jetzt der Galilei zu heroisch. Also nicht wie die Leute meinen: Der gemeine Verstand — »gemeiner« Verstand also nicht im Sinne des Niedrigen, sondern der allgemeine Verstand — glaubt, daß der Heroismus von Galilei beginnt, als er den Schüler beschimpft. In der ersten Fassung beschimpft er den Schüler nicht. Sondern der Schüler findet es ganz außerordentlich, daß dieser Mann unter dem ungeheuersten Druck, blind, krank, alt, die Wahrheit aufschreibt und weitergibt. Hier müßte der Vorhang fallen, sagt man. Nein, der Brecht hat die Sache noch weitergetrieben: Galilei beschmutzt sich. Sie müssen doch zugeben, daß das eine enorm heroische Haltung ist. Nun, schauen Sie, Galilei ist nicht mit Unrecht einer der großen Heroen der Arbeiterbewegung. Sie werden schon in der frühen Arbeiterbewegung finden, daß der Name Galilei eines der großen Vorbilder ist. »Eppure si muove« — »Und sie bewegt sich doch.« (Der Satz ist nicht historisch bewiesen; Brecht hat ihn weggelassen.) Er war immer ein großes Vorbild — auch für mich als kleiner Knabe. Das wurde in den sozialdemokratischen Jugendverbänden gelehrt. Zwar hat man ihm ungeheuer zugesetzt, aber er sagte zum Schluß: »Und sie bewegt sich doch!« 46 Brecht hat das einfach weggelassen. Ja wissen Sie, das ist etwas so Bezauberndes an Genialität, wo ich wieder die Ästhetik einführen würde. Hier schlägt die politische Haltung Brechts, die unerbittlich war, in ästhetische Reize um. Und die ästhetischen Reize schlagen in Politik um. Deswegen frißt das momentan die ganze Welt. Hätte er das nicht gemacht, wäre er einseitig gewesen. Aber mir hätte die erste Fassung genügt. Ich war auch gegen die zweite. Gott sei Dank war Brecht so klug, auf die Stimme seines Freundes Hanns Eisler — wie immer — nicht zu hören. Bunge: »Wie immer« ist übertrieben. Eisler: Na, lieber Freund, wissen Sie: ich will hier keinen Heroenkultus betreiben. Sie wissen, Brechts Tod hat mich schwer angeknockt. Und es ist wirklich keine Sentimentalität: Der Mann fehlt uns nun ungeheuer. Also ich will Ihnen sagen: Brecht war ein großer Mann, der sich nicht von mir dreinreden ließ. Das muß ich einmal feststellen. Sonst kommt das so vor, als ob ich so irgendwie die graue Eminenz war. Das war ich in keiner Weise. Das ist kindisch. Das muß ich auch ablehnen. Bunge: Es handelte sich um Zusammenarbeit. Eisler: Das ist richtig. Es war eine echte Zusammenarbeit. Vor allem 1929, als der große Sprung kam von »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« bis zur »Maßnahme«. Da funktionierte ich eigentlich mehr wie der Bote der Arbeiterbewegung. Ich war nur der Bote. Ich war doch keine Persönlichkeit, sondern der Bote, der dem Brecht noch etwas mehr Praktisches von der Arbeiterbewegung mitteilte, was auf ihn, ein sehr empfindsamer Mann — ich sage »empfindsamer Mann«: nämlich für Haltungen empfindsam —, einen gewissen Eindruck machte. Bunge: Sowohl in der ersten wie auch in der zweiten Fassung von »Leben des Galilei« zeigt die letzte Szene, wie Andrea über die Grenze geht. Diese Szene wurde zwar gedruckt, aber nie gespielt. Eisler: Das weiß ich: nie. Ich würde sie spielen. Brecht hat sie selbst gestrichen in der Hollywooder Erstaufführung. Sie ist großartig. 47 Ich werde Ihnen sagen: die Werke der großen Meister — ob es nun Shakespeare oder Johann Sebastian Bach oder Bertolt Brecht ist — werden mal so gespielt in einer Periode und in einer anderen so. Vergessen Sie nicht, daß Shakespeare hundertfünfzig Jahre völlig entstellt war. Brecht ist Gott sei Dank nicht so entstellt, weil wir das »Berliner Ensemble« haben. Also werden einige Szenen gestrichen, nun, in zwanzig Jahren werden sie wieder eingefügt. Ich würde das nicht so theoretisch bedeutend nehmen. Im September macht Buckwitz in Frankfurt am Main den »Galilei«. Ich werde ihm vorschlagen, die Szene einzufügen. Ich halte sie für ungeheuer interessant. Gewiß ist es ein bißchen — im Englischen sagt man »top-heavy«. Es gibt ja auch Gesetze des Theaters. Es muß auch eine elegante Form sein. Brecht ist ja auch für Eleganz. Das macht ja seine Gegner so müde und so ärgerlich, daß der Brecht neben all diesen großartigen Erkenntnissen, dieser großartigen Sprache und der Meisterhaftigkeit seines Theaters auch noch so elegant sein will und lustig sein will. Das wäre zum Beispiel hübsch und lustig, die Szene zu haben. Vielleicht kann ich den Buckwitz in Frankfurt überreden, die Szene noch einmal wieder aufzumachen, was er wahrscheinlich machen wird, weil er ja etwas Neues bieten will, da das Stück sehr viel gespielt wird. Bunge: Die Szene paßt meines Erachtens besser zur ersten als zur zweiten Fassung. Eisler: Ja ... Schauen Sie, wenn mir jetzt Brecht gegenübersitzen würde, hätte ich eine gute Diskussion mit Brecht darüber. Denn Brecht hat sich immer alle Anregungen angehört. Man konnte Brecht auch von Dingen überzeugen. Er würde dann wahrscheinlich zu mir sagen: »Weißt du was, ich will es ausprobieren.« Die Größe Brechts war das Ausprobieren. Ich hasse auch Künstler, die nix ausprobieren. Und Brecht haßte sie auch. Also man müßte es ausprobieren. Ich bin überhaupt für ausprobieren. Ohne Ausprobieren gibt es gar keine Kunst. Ausprobieren in höherem Sinne. Bei Brecht heißt es: ob der Gedanke rüberkommt, ob er verständlich ist, ob er richtig ist — das heißt, ob das Richtige richtig verstanden wird. Das ist bei Brecht ausprobieren — aber nicht formal oder schwer oder leicht verständlich. In den Künsten ist das verschieden. 48 Wenn ein Maler eine Dummheit auf eine Leinwand malt, ist es kein Ausprobieren, sondern ein mieser Ausdruck oft. In der Musik ist das oft viel komplizierter. Wir können nichts ausprobieren. Wir haben die Musik im Kopf und schreiben sie auf. Wir können nur ausprobieren, ob sie bei dem Zuhörer irgendeine Wirkung macht. Wir können nicht ausprobieren, ob sie gedanklich richtig ist. Ich muß oft Dinge ausprobieren, ob sie meine Zuhörer überhaupt noch mitbekommen. Ich muß sagen, daß ich mich sehr oft über meine Zuhörer einfach frech hinwegsetze und sage: in zehn, zwanzig Jahren werden sie es vielleicht mal verstehen. Das ist eine grobe, vulgäre Haltung — aber es bleibt mir keine andere übrig, besonders bei den Werken, die ich in der Emigration geschrieben habe. Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht sagen, daß ich alle Sachen, die ich 1935 geschrieben habe — jetzt haben wir 1961 —, ich kann doch nicht sagen, daß ich das ausprobieren will. Sie müssen sich, sage ich — meine Hörer —, an meine Musik, an bestimmte Typen meiner Musik gewöhnen. Entweder haben sie recht, oder ich habe recht. Also das wird sich ja herausstellen, sage ich. Bei Brecht kann man das auf einer viel höheren Stufe erleben, weil die Literatur und die Poesie — und Brecht ist vor allem ein Poet, auch auf dem Theater — es viel leichter haben. Die Wahrheit muß mit wahrhaften Mitteln übermittelt werden. Wenn Schwierigkeiten eintreten, ist es nicht die Frage des Zuhörers. Es kann auch die Wahrheit zu kompliziert dargestellt werden. Oft entspricht die Darstellung der Mittel nicht der Einfachheit der Wahrheit. Hier kommen wir in die echte Ästhetik hinein, wo ich wieder meinen verehrten Meister Hegel bemühen muß. Das sind die echten Probleme, wenn man wirklich ernsthaft über Kunst reden will. Aber wer will schon ernsthaft über Kunst reden in diesen Zeiten? Natürlich außer Sie, lieber Genosse Bunge, und ich. Und zwar immer wenn wir über Brecht reden. Denn das ist ein ernsthafter Anlaß, ernsthaft über Kunst zu reden. Schon das wäre ein Verdienst von Brecht. Denn wenn man über Brecht spricht, kann man sich nicht drücken — weder politisch noch ästhetisch. Weil nämlich beides widerspruchsvoll ineinander übergeht, muß man also Farbe bekennen. Und die Farbe ist rot! Bunge: Sie sagten vorhin, »Galilei« ist ein historisches Stück. Man 49 könnte denken, Sie hätten gemeint, es handle sich um ein Stück über den historischen Galilei. Eisler: Das ist falsch. Da hätte ich mich falsch ausgedrückt. Aber nehmen Sie an: ein Stück über Professor Hahn, der mit seiner Assistentin Meitner die erste Möglichkeit der Atomfission entdeckt hat und das der Meitner, die inzwischen als Jüdin emigriert war, nach Kopenhagen schrieb, es aber gegenüber seinen Behörden verschwiegen hat. Ist das Galilei? Nein, in keiner Weise. Hahn wurde unbelästigt gelassen, bis ihn die Engländer verhaftet haben. 1944 hat man ihn irgendwo hoppgenommen. Nach sechs oder acht Wochen Ehrenhaft in England hat man ihn zurückgeschickt. Also das ist nicht Galilei. Galilei ist ein viel schwieriger Typus. Auch in einer schwierigeren Zeit. Er mußte nämlich gegen die Kirche etwas durchsetzen. Der Hahn konnte nur schweigen und ein kleines Brieflein nach Kopenhagen schreiben. Aber Galilei hat die Bibel aus dem Konzept der Kirche konterkariert. Das war für Galilei eine der schwierigsten Situationen, in die ein Mensch geraten kann. Stellen Sie sich vor, ohne es zu wollen! Er wollte ja gar nicht die Bibel aufheben oder die Religion aufheben. Es ist ja eigentlich die Tragödie des Spezialisten. Bunge: Sie sprechen jetzt vom historischen Galilei? Eisler: Ja, aber auch vom Brechtschen. Brecht hat das völlig verstanden. Das ist der »Spez«, wie die Kommunisten sagen. Der »Spez«, das ist etwas verächtlich gesagt: der, den man braucht. Der einem Unannehmlichkeiten macht, aber den man unbedingt verwenden muß: der »Spez«, der sich einseitig betätigt. In erinnere Sie an die Szene: »Wo ist Gott?« Sagt er: »Ich bin ein Mathematiker.« Der Spezialist. Die Tragödie des Spezialisten. Wenn Sie den Galilei richtig beschreiben wollen, müssen Sie sagen: »Galileo Galilei — oder die Tragödie des Spezialisten«. Das wäre der richtige Untertitel zu »Galilei«. So kann er nur verstanden werden. Bunge: Wobei also von dem historischen Galilei... Eisler: ... einige Reste da sind. Das ist ja ganz wurscht, was es ist. 50 Was ist denn von Heinrich IV. oder Heinrich V. bei Shakespeare da? Was ist von Julius Cäsar da? Das ist ja uninteressant. Die Tragödie des »Spez«. Wobei ich »Spez« extra so abkürze, wie es die Kommunisten machen. Die benutzen diese. Sie wissen doch, was wir für unerbittliche Leute sind. Außerdem haben wir keine Moral. Wir nutzen jeden Spezialisten aus. Ein Hundedresseur, der gut Hunde dressieren kann, wird sofort angestellt als Hundedresseur. Also grad bei Physikern. Das wäre eine interessante Formulierung: Tragödie des Spezialisten, mit allem in Schwierigkeiten, weil er immer stur auf ein Spezialgebiet kommt. Damit hat er auch viele Ähnlichkeiten mit den Physikern heute. Und das macht das Stück besonders genial. Bunge: Ein zweites Mißverständnis könnte auftreten, wenn Sie sagen: »Brecht war ein großer Ausprobierer« und »probieren wir doch aus, ob die letzte Szene geht«. So kann es wohl nicht gemeint sein, daß man erst auf der Bühne kontrolliert, ob eine Szene überhaupt gespielt werden soll? Zunächst handelt es sich doch um eine Untersuchung des Textes, ob er »stimmt« . . . Eisler: Erstens das. Die Szene ist relativ einfach. Auf der Bühne ausprobieren, im Ablauf. Bunge: Damit wäre gesagt, daß es nur um die theatralische Wirkung geht? Eisler: Nein, im Ablauf, ob das rübergeht. Wenn der Galilei den riesigen Monolog am Schluß hat, geht eine Szene nicht, wie das Überschreiten der Grenze. Denn das ist tatsächlich das Ende. Die Szene war ja angehängt an der ersten Fassung. Sie hat sehr viele Reize. Aber nach diesem — ich erinnere Sie — riesigen Monolog, der doch dichterisch eine bedeutende Arbeit ist (das kann man nicht weiter erklären, das ist mal so), kann, glaube ich, keine weitere Szene spielen. Vielleicht werde ich den Buckwitz in Frankfurt überzeugen. Ich glaube, es wird mir sogar gelingen. Bunge: Es ist dann ein ganz anderer Ausgang des Stückes. Eisler: Nein, eigentlich nicht. Bunge: Nun, wenn das Schwergewicht nicht mehr auf der Selbstverurteilung Galileis liegt, sondern darauf, ob die Arbeit 51 rübergebracht wird? Eisler: Naja, der Galilei ist dafür, daß die Sache rübergebracht wird. Er hat sie ja geschrieben als blinder Mann. Er will nur nicht haben, daß er gerühmt wird als dieser schlaue Herr. Aber das soll doch rübergebracht werden. Dazu gibt er es ja dem Schüler. Der Schüler ist noch so erschüttert, daß er es ihm überhaupt gibt und rühmt ihn. Und den Ruhm lehnt er ab, das geschrieben zu haben unter den schlechtesten Bedingungen. Bunge: Wenn ich behauptet habe, daß Hanns Eisler unsere Gespräche als eine elegante Möglichkeit ansah, mit Gedanken zu experimentieren, so ist diese Aufzeichnung ein Beweis dafür. Tatsächlich setzt Eisler unaufhörlich Meinung gegen Meinung, oft ohne eine Entscheidung herbeizuführen. Aber für jede Auffassung hat er Argumente. Manchmal werden sie ausgetauscht: was das eine Urteil begründete, kann an anderer Stelle zur Untermauerung des Gegenteils herangezogen werden. Das mutet hin und wieder konstruiert an. In Wirklichkeit ist es ein eher spielerischer — oder sagen wir: künstlerischer — Vorgang. Überlegungen werden ausprobiert. Eisler bleibt immer am Gegenstand, den er bis in Einzelheiten kennt, aber er betrachtet ihn von allen Seiten. Er entwickelt eine umwerfende Phantasie, aber er phantasiert nicht. Das souveräne Hantieren mit Einfällen macht ihm Spaß. Musiker werden besser beurteilen können als ich, ob dieses Verhalten Eislers seiner Variationstechnik in musikalischen Arbeiten entspricht. aus: Bunge, Hans. Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. Rogner & Bernhard, 1970 52 4.1. Galilei und seine Zeit: Synoptischer Überblick der Ereignisse Jahr Historische Ereignisse 1492 Kolumbus' Entdeckung Amerikas 1522 Erste Weltumseglung (durch Magellan und Elcano) 1517 Luthers Thesenanschlag in Wittenberg 1542 Neubegründung der Inquisition als Sanctum Officium (heiliges Amt) 1543 Kopernikus veröffentlicht De Revolutionibus, die Begründung des heliozentrischen Weltsystems 15621598 Französische Revolutionskriege (Massaker an den protestantischen Hugenotten) 1564 Galileo Galilei Galileo Galilei in Pisa geboren 15721577 Tycho Brahe beobachtet Supernova und Kometen 15771580 Francis Drake umsegelt die Welt 1581 Beginn des Studium der Mathematik und Medizin in Pisa 1582 Papst Gregor XIII. führt den noch heute verwendeten gregorianischen Kalender ein 1584 Giordano Bruno veröffentlicht De l’Infinito, Universo e Mondi, Thesen zur Unendlichkeit der Welten, dass Sterne ebenfalls Sonnen seien, und dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums sei 1585 Privatlehrer in Florenz 1586 Erfindung einer Waage zur Bestimmung spezifischen Gewichts, Veröffentlichung von La Bilancetta (zum Schwerpunkt fester Körper) 15891592 Lektor für Mathematik an der Universität Pisa 53 1590 Veröffentlichung von De motu (zu den Gesetzen der Bewegung und des freien Falls) 15911610 Professor für Mathematik an der Universität Padua (Republik Venedig) 1592 Verhaftung Giordano Brunos durch die Inquisition 1593 Giordano Bruno lehnt einen vollständigen Widerruf seiner Thesen ab Veröffentlichung von Le mecaniche (zur Mechanik) und Erfindung einer Maschine, um Wasser zu heben 1597 Beginn des Briefkontakts mit Johannes Kepler ca. 15981610 Liebesbeziehung zu Haushälterin Marina Gamba 1600 Giordano Bruno wird als Ketzer in Rom verbrannt Geburt der unehelichen Tochter Virginia William Gilbert veröffentlicht De Magnete, Magneticisque Corporibus, et de Magno Magnete Tellure (zum Magnetismis der Erde) 1601 Geburt der unehelichen Tochter Livia 1604 Beobachtung einer Supernova 1605 Unterrichtung des Erbprinzen der Toscana, Cosimo II. de' Medici, in Mathematik drei Vorlesungen zu Supernova 1606 Geburt des unehelichen Sohnes Vincenzio Veröffentlichung von Compasso geometrico e militare (Erfindung eines geometrischen und militärischen Kompasses) 1608 Hans Lippershey meldet in den Niederlanden das erste Linsenfernrohr zum Patent an 1609 Cosimo II. de' Medici wird Großherzog der Toscana Johannes Kepler veröffentlicht die beiden ersten Keplerschen Gesetze in der Astronomia nova (über die Bewegung und die Ellipsenbahnen der Planeten) Nachbau des Lippersheysche Fernrohrs und Schenkung an Venedig, als Dank Professur auf Lebenszeit in Padua und Verdopplung des Gehalts 54 1610 Nicolas-Claude Fabri de Peiresc dokumentiert den Orionnebel Entdeckung der vier Jupitermonde (Widmung als Mediceischen Gestirne an Cosimo II.), der Phasen der Venus, der Beschaffung der Milchstraße aus einzelnen Sternen, der Dreigestalt des Saturns, der rauen Mondoberfläche und der Sonnenflecken; Veröffentlichung von Sidereus Nuncius (Sternenbotschaft) und Bekenntnis zum kopernikanischen Weltbild Anstellung als Hofmathematiker in Florenz und Professor in Pisa 1611 Beginn der Freundschaft mit Kardinal Barberini (späterer Papst Urban VIII.) Entwicklung der Lehre der Achsendrehung der Sonne Reise nach Rom: das Collegium Romanum (die höchste wissenschaftliche Instanz des Vatikans) unter Leitung von Christopher Clavius bestätigt Galileis Entdeckungen, Audienz bei Papst Paul V. 1612 Veröffentlichung des Discorso intorno alle cose che stanno in su l’acqua (über schwimmende Körper; Widerlegung von Aristoteles) 1613 Veröffentlichung der Lettere solari (über Sonnenflecken), enthält Verteidigung der kopernikanischen Lehre 1614 Errechnung des Gewichts der Luft; der Dominikaner Caccini predigt gegen Galilei 1615 Erfolglose Denunziation Galileis bei der Inquisition durch Dominikaner Lorini 1616 Verbot der kopernikanischen Lehre durch Inquisition, Festlegung der römischkatholischen Kirche auf geozentrisches Weltbild Veröffentlichung des Discorso sul flusso e reflusso (zu den Gezeiten) Nicolaus Zucchi entwickelt das erste Spiegelteleskop Tochter Virginia tritt ins Kloster ein (als Schwester Maria Celeste) 1617 1618 -1648 1619 Reise nach Rom, Ermahnung durch Kardinal Bellarmino Tochter Livia tritt ins Kloster ein (als Schwester Arcangela) Dreißigjähriger Krieg Erkrankung, Wallfahrt nach Loreto Veröffentlichung des Discorso sulle comete (über Kometen) mit Mario Guiducci 55 1620 Francis Bacon veröffentlicht Novum Organum scientiarum über die empirische, methodische Forschung 1621 Cosimo II. de' Medici stirbt 1623 Wahl Barberinis zu Papst Urban Veröffentlichung von Il Saggiatore (gegen VIII. gewählt Autoritätsgläubigkeit bei den Naturwissenschaften), dem neuen Papst gewidmet 1625 Ernennung zum Konsul der Florentiner Akademie Beginn der Arbeit am Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano (Dialog über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische), einer Verteidigung des kopernikanischen Weltsystems 1626 Bau des Petersdom vollendet 16291633 Ausbruch der Pest in Norditalien 1630 Tod Johannes Keplers Vollendung des Dialogo, Reise nach Rom um Druckgenehmigung zu erhalten 1631 Ablehnung des Angebots, die Professur in Padua fortzusetzen 1632 Publikation des Dialogo in Volkssprache und Anklage wegen Verstoßes gegen das Dekret von 1616 Großinquisitor Niccolò Riccardi unterbindet den Verkauf des Werkes Ladung vor die Inquisition (Verzögerung aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes) 1633 Reise nach Rom, vier Verhöre und 23 Tage Haft im Inquisitionspalast am 22. Juni Widerrufung der kopernikanischen Lehre in der Basilika Santa Maria sopra Minerva Verurteilung zu lebenslanger Haft, später durch Urban VIII. umgewandelt in Hausarrest auf unbestimmte Zeit und Erlaubnis in seine Villa zu ziehen 16331642 Hausarrest in seiner Villa in Arcetri bei Florenz 56 1633 Beginn der Arbeit an den Discorsi e Dimostrazioni Matematiche intorno a due nuove scienze (Diskursen über die zwei neuen Wissenschaften), seinem physikalischen Hauptwerk 1635 geheime Verhandlungen über einen Lehrstuhl für Galilei in Amsterdam Abschriften des Dialogo erreichen Deutschland, werden ins Lateinische übersetzt und in Leiden gedruckt 1637 René Descartes veröffentlicht Discourse de la methode, ein Werk zur methodischen und wissenschaftlichen Forschung 1638 Erblindung auf dem rechten Auge Dialogo und Discorsi erscheinen mit dem Zusatz, dass der Autor an der Veröffentlichung nicht beteiligt sei, in Leiden Entdeckung der Libration des Mondes Vollständige Erblindung 16391649 Kriege um das Herzogtum Castro Gesuch um Hafterleichterung vom Papst zwischen Papst Urban VIII. aus abgelehnt der Familie Barberini und der verfeindeten Familie Farnese 1642 1757 Tod am 8. Januar Papst Benedikt XIV. hebt das Verbot der kopernikanischen Lehre auf 1835 der Dialogo wird vom Index der Kirche gestrichen 1979 Papst Johannes Paul II. kündigt anlässlich Albert Einsteins 100. Geburtstag an, Galileis Fall neu zu prüfen 1992 Galileo Galilei wird vom Vatikan rehabilitiert Zusammenstellung: Maresi Wagner 57 4.2. Galilei und seine Zeit: Letztes Verhör und Widerruf 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 aus: Galileo Galilei - Schriften, Briefe, Dokumente, Band 2, Hrsg. Anna Mudry, C.H.Beck, 1987 69 4.3. Galilei und seine Zeit: Weltsysteme Die Auseinandersetzung um die Weltsysteme Zu Galileis Zeit hatten die Wissenschafter verschiedene Modelle des Universums ausgearbeitet, die zueinander in komplizierten Beziehungen standen und damalsWeltsysteme genannt wurden. Vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entfesselte sich ein bitterer Konflikt zwischen den Vertretern des kopernikanischen Systems (allen voran Kepler und Galilei) und den Verteidigern des geozentrischen Gedankens, die sich nicht nur nach dem antiken Vorbild sondern auch nach dem neuen Weltsystem von Tycho Brahe richteten. Das "traditionelle" geozentrische und geostatische System, abgeleitet von der Lehre des Ptolemäus Im Mittelpunkt befinden sich die sublunaren Sphären aus Erde, Wasser und Feuer. Darüber dann die himmlischen Sphären: zuerst die sieben Sphären der Planeten: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn; dann die Sphäre der Sterne und zuallerletzt die Sphäre der Urbewegung, die den anderen himmlischen Sphären die tägliche Umdrehung ermöglichte. Diese Illustration aus den Disquisitiones mathematicae (1614) von Christoph Scheiner zeigt ein vereinfachtes Weltsystem, ausgeheckt vom grossen Mathematiker Cristoforo Clavio (1537-1612). Es entspricht weder dem Original von Aristoteles noch demjenigen des Ptolemäus. Im Bereich der Traditionalisten schwelte seit Jahrhunderten ein Konflikt zwischen denjenigen Astronomen, die sich einzig und allein auf die Mathematik verlassen wollten und das Modell des Universums nur als Hypothese zur Berechnung der Sterne und ihrer Positionen betrachteten und den sogenannten philosophischen Astronomen, die auf der Suche nach einem der physischen Wirklichkeit des Universums entsprechenden Modell waren. 70 Das Weltsystem des Tycho Brahe Erdacht vom dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ist dies sowohl ein geo- als auch ein heliozentrisches System. Rund um die bewegungslose Erdkugel in der Mitte des Universums bewegt sich der Mond in einem Monat, die Sonne in einem Jahr und um letztere ziehen die Planeten ihre Kreise. Die sogenannte Sternensphäre ist verantwortlich für die tägliche Umdrehung. In diesem System des Tycho Brahe, das trotz Geozentrik sehr verschieden ist von den antiken Vorbildern, wurde davon ausgegangen, dass die diversen Himmel aus flüssiger Materie bestanden. Dieses Modell wurde übrigens auch von Galileis Erzfeind, Christoph Scheiner, verwendet. Das kopernikanische Weltsystem Illustration aus De revolutionibus (1543) von Kopernikus. Im Zentrum des Universums befindet sich die unbewegliche Sonne. Ebenso unbeweglich ist die Sternenspäre die das Universum umschliesst. Um die Sonne kreisen die Planeten in folgender Reihenfolge: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn. Die Erde rotiert in 24 Stunden um ihre eigene Achse und bewegt sich - zusammen mit ihrem Satelliten, dem Mond - in einem Jahr einmal um die Sonne. Die kopernikanische Weltanschauung veröffentlicht im Jahr 1543 - wurde von der katholischen Kirche 70 Jahre lang geduldet, d. h. bis ins Jahr 1616. Allerdings wurde sie im 16. Jahrhundert dafür im Norden umso vehementer angegriffen, vor allem in protestantischer Umgebung und dort besonders heftig von Melanchton. 71 Im Aschermittwochsmahl (1584) von Giordano Bruno erschien diese Illustration, mit der Bruno aufzeigt, wie das ptolemäische Weltsystem - nur indem man Erde und Mond an die Stelle der Sonne setzt und die Sonne selber ins Zentrum des Universums, also anstelle von Erde und Mond rückt, - zum kopernikanischen System wird. Quelle: http://www.library.ethz.ch/exhibit/galilei/galileob4.html Aufgerufen am 10.9.2014 72 4.4. Galilei und seine Zeit: Die römische Inquisition der Neuzeit 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 aus: Schwerhoff, Gerd. Die Inquisition. Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit, C.H.Beck, 2004 87 4.5. Galilei und seine Zeit: Die Pest 1. Brockhaus Pest (lat. pestis Seuche) w, Pestilenz w, in der Volkssprache jede bösartige weitverbreitete Seuche, wissenschaftlich eine in Epidemien auftretende spezifische, durch den Pestbazillus hervorgerufene Infektionskrankheit der Menschen und bestimmter Nagetiere, bes. Ratten, Murmeltiere, Tarbagane, Eichhörnchen, Ziesel. Die Übertragung der P. auf Menschen geschieht hauptsächlich durch den Stich infizierter Flöhe, pestkranker Ratten, ferner durch Hautwunden, auch unverletzte Haut, Mund- und Nasenschleimhaut, vorzugsweise auch durch Einatmung der in der Luft verstreuten Pestbazillen, die von Lungenpestkranken ausgehustet werden, schließlich auch durch Wäsche, Kleider Gebrauchsgegenstände oder Ausscheidungen der Pestkranken. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Epidemien unter den Menschen meist eine große Rattensterblichkeit durch P. vorangeht. Die Neigung zur Erkrankung ist im allgemeinen hoch, doch breitet sie sich hauptsächlich in Bevölkerungsschichten aus, die in ungünstigen hygienischen Verhältnissen leben; die P. wütet in den Häusern (sog. Ratten- oder Pesthäuser), in denen die Menschen namentlich in der kühlen Jahreszeit eng zusammenleben, oder auch bisweilen schon durch ihren Beruf einem Zusammenleben mit Ratten bes. ausgesetzt sind (Bäcker, Müller, Hafenarbeiter, Lumpenhändler) Krankheitserscheinungen. Bei einer durch die Haut erfolgten Infektion beginnt nach einer Inkubationszeit von 2-5 Tagen die Krankheit meist plötzlich mit heftigem Fieber, das oft von Schüttelfrost begleitet ist; Kopfschmerzen, lallende Sprache, taumelnder Gang, Pulsbeschleunigung, lebhafte Delirien, Benommenheit, bisweilen sogar völlige Bewusstlosigkeit kennzeichnen den weiteren Verlauf. Die Temperatur erreicht dabei eine Höhe von über 41 ˚ C, zeigt in den folgenden Tagen Rückgänge, die Entfieberung erfolgt meist lythisch (Lysis – Fieber). Entsprechend der infizierten Hautstelle entwickelt sich meist schon am zweiten Krankheitstag eine bedeutende, oft über gänseeigroße schmerzhafte Anschwellung der Lymphknoten, der Pestbubo, vorwiegend am Schenkel, in der Achsel oder am Hals; er kann vereitern und nach außen durchbrechen und zur Anschwellung weiterer Lymphknoten (Drüsen, Beulen, Bubonenpest) führen. In leichten Krankheitsfällen geht nach 6-9 Tagen Dauer die Lymphknotenschwellung zurück, das Fieber fällt ab, und der Kranke erholt sich langsam wieder. Vielfach wird aber der von den Lymphknoten gebildete Schutzwall durchbrochen; die Bazillen gehen in die Blutbahn, vermehren sich hier und führen binnen 2-3 Tagen zum Tode an Sepsis. Infolge schneller Überschwemmung des Körpers mit Bazillen und Toxinen kann aber auch der Tod so jäh eintreten, dass der Befallene mitten aus vollster Gesundheit heraus plötzlich tot hinstürzt. Durch Verschleppung der Bazillen von den Lymphknoten auf dem Lymph- oder Blutwege können auch stecknadelkopf- bis linsengroße Hautblutungen, Pusteln, Blasen in der Haut entstehen, aus denen sich Geschwüre (Pestkarbunkel) entwickeln. . . . Die Sterblichkeit der Bubonenpest wechselt stark, sie beträgt 30 – 90 % und mehr. Erst gegen Ende der Epidemie werden leichtere Krankheitsfälle beobachtet. Das Überstehen der P. verleiht nun für einige Zeit eine Immunität. Die Behandlung der P. erfolgt symptomatisch und beschränkt sich im wesentlichen auf Anwendung von Umschlägen, kalten Waschungen, usw. gegen das Fieber, Darreichung einer leicht verdaulichen Nahrung, Flüssigkeitszufuhr, Behandlung der Herzschwäche. . . Der Bekämpfung der P. fällt zunächst die Hauptaufgabe zu, die Verschleppung der P. in pestfreie Gegenden zu verhindern. . . Die Bekämpfung der P. erfordert ferner durch Vertilgung der pestkranken Ratten, die in den Häfen systematisch durch Ausgasung durchgeführt wird. In Pestgegenden ist die Bevölkerung vor dem Berühren der an P. gestorbenen Ratten zu warnen. Die Tiere verlassen kurz vor dem Tode ihre Schlupfwinkel. Ihre Berührung führt sehr leicht zu einem Flohstich und damit zur Pestinfektion. Vor allem müssen auch die Pestkranken selbst, ebenso pestverdächtige Personen abgesondert werden, Entleerungen, Bettwäsche, Gebrauchsgegenstände, Krankenräume der Pestkranken müssen desinfiziert oder vernichtet werden. . . Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, vierzehnter Band, F.A. Brockhaus Leipzig 1933, S.383 88 2. Jacqes Ruffié und Jean-Charles Sournia Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit Ein historisches Zeugnis ist zu Recht berühmt geworden und verdient an dieser Stelle eine ausführliche Würdigung. Es ist die Beschreibung der »Pest« von Athen durch Thukydides. 430 v.Chr. hatte der von Sparta angeführte Peloponnesische Bund Athen angegriffen, in dessen Mauerring sich unzählige Flüchtlinge drängten, da die umliegenden Landstriche verwüstet waren. »Die Peloponnesier weilten erst wenige Tage in Attika, als die Epidemie Athen heimsuchte. Zwar wurde berichtet, dass die Krankheit schon einmal manchenorts gewütet habe, unter anderem in der Gegend von Lesnos, nirgends aber konnte man sich an eine ähnliche Geißel, ein derartiges Hinsterben von Menschen erinnern. Und nichts half, weder die Ärzte - die einer völlig unbekannten Situation gegenüberstanden, weil sie die Krankheit zum ersten Male behandelten, und unter denen die Zahl der Opfer sogar am höchsten war, da sie den meisten Kontakt zu den Kranken hatten - noch irgendein anderes irdisches Mittel. Desgleichen die Bittgänge zu den heiligen Stätten, die Zuflucht zum Orakel oder was dergleichen man versuchte - alles blieb wirkungslos, und schließlich ließ man ganz davon ab und fügte sich in sein Los ... Athen wurde ganz plötzlich heimgesucht; zunächst ergriff die Krankheit die Bewohner vom Piräus, und diese behaupteten denn auch, dass die Peloponnesier ihre Zisternen vergiftet hätten - es gab damals dort noch keine Springbrunnen. Dann erreichte die Seuche den oberen Stadtteil, und nun schwoll die Anzahl der Toten immer weiter an ... Normalerweise befiel einen die Krankheit ganz unvermittelt bei bester Gesundheit. Zunächst empfand man ein starkes Hitzegefühl im Kopf, die Augen waren gerötet und entzündet, Schlund und Zunge wie roh, der Atem kam übelriechend und unregelmäßig. Nach diesen ersten Symptomen kam es zu Niesen und Heiserkeit, in kurzer Zeit legte das Leiden sich dann auf die Brust und ging mit starkem Husten einher. Wenn es auf den Magen übergegriffen hatte, drehte es ihn förmlich um, und unter schrecklicher Übelkeit wurde Galle in allen Formen - die Ärzte haben dafür ihre besonderen Bezeichnungen - erbrochen. Die meisten der Kranken litten auch unter einem hohlen Schluckauf, der heftige Krämpfe verursachte - bei den einen nach Abklingen der Symptome, bei den anderen noch sehr viel später. Äußerlich befühlt, war der Körper nicht übermäßig heiß, auch nicht bleich, er war nur ein wenig gerötet, blutunterlaufen, übersät mit kleinen Bläschen und Geschwüren. Innerlich aber brannte er derartig, dass man die Berührung der Betttücher, ja selbst der leichtesten Stoffe nicht ertrug, man konnte nur noch nackt bleiben, und nichts war verlockender, als sich in kaltes Wasser zu stürzen: Viele von denen, um die sich niemand kümmerte, taten es sogar und endeten, getrieben von einem unstillbaren Durst, auf dem Grunde der Brunnen. Und ob man nun viel oder weniger trank, das Ergebnis war dasselbe. Hinzu kamen die Unmöglichkeit, Ruhe zu finden, und die Schlaflosigkeit. Während der aktiven Phase der Krankheit ermattete der Körper nicht, er widerstand der Pein sogar in recht überraschender Weise, und so gab es zwei Möglichkeiten: Entweder - und das war der häufigere Fall - man starb nach sechs oder acht Tagen unter der Wirkung dieses inneren Feuers, ohne dabei alle seine Kräfte verloren zu haben, oder aber die Krankheit griff, nachdem man sie zunächst noch überstanden hatte, auf den Unterleib über, wo es zu starker Geschwürbildung bei gleichzeitiger wäßriger Diarrhöe kam, und im allgemeinen starb man dann später an der daraus resultierenden Erschöpfung. Die Krankheit befiel, von oben ausgehend, da sie ihren Anfang im Kopf nahm, schließlich den ganzen Körper; und hatte man ihre stärksten Attacken überlebt, so griff sie auf die Gliedmaßen über. Sie erfasste dann die Schamteile sowie Fingerspitzen und Zehen, und viele kamen nur davon, indem sie dieser Extremitäten verlustig gingen, andere wiederum büßten dabei ihr Augenlicht ein ... So starben die Leute hier in Ermangelung von Betreuung, dort umgeben von aller nur denkbaren Pflege. Man kann sagen, dass es nicht ein einziges bestimmtes Heilmittel gab, das man mit Erfolg hätte anwenden können, denn was für den einen nützlich sein mochte, war für den anderen gerade schädlich; letztlich war keine Körperverfassung, ob stark oder schwach, gegen das Leiden gefeit, es raffte unterschiedslos einen jeden dahin, trotz der verschiedenartigsten Lebensweisen. Das Furchtbarste dabei war aber zunächst einmal die Mutlosigkeit, die einen befiel, sobald man spürte, dass es einen selbst getroffen hatte - da die innere Einstellung von vornherein der 89 Hoffnungslosigkeit anheim fiel, gab man sich widerstandslos gleich zu schnell auf. Und dann wurde die Krankheit durch Ansteckung bei der gegenseitigen Pflege noch weiter übertragen, so dass sich der Tod wie in einer Viehherde verbreitete - das erforderte überhaupt die meisten Opfer. Wenn die Menschen sich nämlich aus Furcht keine Besuche mehr abstatteten, gingen sie elend und verlassen zugrunde, gar viele Häuser verödeten so, da keiner da war, Hilfe zu spenden; pflegten sie hingegen weiterhin Kontakt untereinander, so mähte die Krankheit sie nieder, vor allem jene, die sich trotz allem einem gewissen Edelmut verpflichtet fühlten und aus Respekt vor dem Nächsten unter Einsatz des eigenen Lebens ihre Freunde aufsuchten: Hatten doch selbst die nächsten Angehörigen schließlich keine Kraft mehr, die Verschiedenen zu beweinen - das Ausmaß des Leids hatte sie gebrochen ... Auf diese Weise wurden auch alle Gebräuche aufgegeben, wie sie ehedem bei Bestattungen geübt worden waren, jedermann begrub seine Toten, wie er eben konnte, und viele ließen sich gar zu empörenden Leichenbegängnissen hinreißen, denn es fehlte ihnen am Notwendigsten, derartig viele Tote hatte es um sie herum schon gegeben. So benutzten sie einen Scheiterhaufen, den andere bereits errichtet hatten, und legten ihren Toten entweder als ersten darauf und zündeten ihn an oder aber warfen ihn zu einem anderen, der gerade verbrannte, noch dazu und verschwanden. Leidtragende waren vor allem die Flüchtlinge, denn da sie keine Häuser hatten und in dumpfen Hütten lebten, in denen man in der heißen Jahreszeit fast erstickte, wütete die Geißel dort in einem heillosen Chaos: Die Körper lagen, während sie verendeten, einer über dem anderen; einige wälzten sich, nach Wasser lechzend, auf den Wegen, die zu den Brunnen führten, halb tot auf der Erde. Die geweihten Stätten, in denen man sich eingerichtet hatte, lagen voller Leichen, die Menschen waren da gestorben, wo sie sich hinbegeben hatten. Vor einer solchen Entfesselung des Leids achteten sie, da sie nicht wussten, was aus ihnen würde, überhaupt nichts mehr, nicht göttliche, nicht menschliche Ordnung. Überhaupt war die Krankheit in der Stadt Ursache einer allgemein wachsenden Sittenlosigkeit. So gab man sich viel hemmungsloser Gelüsten hin, denen man früher höchstens heimlich gefrönt hatte; zu viele plötzliche Schicksalswenden hatte man schon erlebt, bei denen die Wohlhabenden unversehens starben und gestern noch Mittellose alsbald deren Habe erbten. Daher strebten die Leute nach raschen Befriedigungen, suchten sie den Genuss, denn sie selbst wie auch ihr Vermögen waren in ihren Augen ohne jedes Morgen. Sich im voraus für ein als hehr empfundenes Ziel abzumühen verlockte niemanden, denn ein jeder sagte sich, man könne schließlich nicht wissen, ob man nicht ohnehin schon vor Erreichen dieses Ziels umgekommen sei. Sofortiges Vergnügen - das war es, was den Platz des Schönen und Nützlichen eingenommen hatte. Furcht vor den Göttern, Gesetze des Menschen - nichts konnte sie im Zaume halten; es erschien gleich, für fromm gehalten zu werden oder nicht, kam doch sowieso jedermann ohne Unterschied ums Leben, und beging man ein Verbrechen, so erwartete ohnehin niemand, so lange zu leben, dass das Urteil noch gefällt und die Strafe vollstreckt werden könnte: Die drohende Krankheit wog mindestens genauso schwer, und man fand es nur recht und billig, das Leben noch ein bisschen zu genießen, bevor man hinweggerafft würde ... « In Athen selbst wütete die Seuche länger als zwei Jahre, und zwar in Wellen. Sie suchte aber auch zahlreiche hellenische Gestade heim und brachte der griechischen Armee und Flotte eine empfindliche Scharte bei, während die von der Krankheit verschont gebliebenen Peloponnesier dagegen ein mächtiges Truppenkontingent aufbieten konnten. Perikles wurde während seines zweiten Angriffs auf die Feinde von der Seuche befallen, und der Tod dieses ruhmreichen Feldherrn lieferte die Stadt den umstürzlerischen Parteien aus: Sparta und seine Verbündeten verdankten ihren Sieg zum großen Teil der Pest. Diodorus schätzt, dass Athen damals ein Drittel seiner Bewohner verlor. Aus dem packenden Bericht des Thukydides haben wir deshalb so lange Auszüge wiedergegeben, weil der Autor uns an Geschehnissen teilhaben lässt, deren Augenzeuge er war und die er überlebt hat. Er beschreibt Ereignisse und Reaktionen, wie sie sich mehr als zweitausend Jahre lang immer wieder zugetragen haben müssen: die heftige Gewalt, mit der die Krankheit ausbrach, die Suche nach vorgeblich Schuldigen, der Verfall der Sitten, die - für sie selbst - tödliche Aufopferung von Ärzten und Angehörigen der Kranken, die nicht zulassen wollten, dass Todgeweihte und Verendete sich selbst überlassen würden, die nutzlose Anrufung der 90 Götter, die für eine Stadt fatalen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, kurz, den Archetypus menschlichen Verhaltens angesichts eines kollektiven Dramas. Die Schilderung der damaligen Vorgänge kann als um so treffender angesehen werden, als ihr Grundmuster später auf literarischem Gebiet von zahlreichen Autoren wieder aufgegriffen wurde. Es dürfte für jede Epidemie Gültigkeit haben, obgleich die »Pest von Athen« nicht das war, was wir im streng wissenschaftlichen Sinne heute als »Pest« bezeichnen würden. »Loimos« auf griechisch, »pestis« auf lateinisch sind vage Begriffe, die ganz allgemein eine Geißel der Menschheit bezeichnen; später hat man beispielsweise in Frankreich alle ansteckenden Krankheiten durchweg als »Pestis« bezeichnet, so dass man bald gar von »den Pesten« sprach; heute aber könnte man nur noch bei bestimmten klinischen Symptomen und nach Identifizierung des Yersinia-pestis-Bazillus diesen Ausdruck gebrauchen. Indessen nennt die doch recht präzise Beschreibung Thukydides' keine der eigentlich typischen Charakteristika der Pest: weder die sehr schmerzhaften Ganglien, die Drüsengeschwülste, die sich in den Achseln oder in der Leistengegend bilden, noch die schwärzlichen Flecke, die auf der Haut erscheinen und dann zu Geschwüren werden, noch gar die jähen Todesfälle, welche zur allgemeinen Bestürzung beitrugen. Immer noch gehen die Meinungen von Medizinern und Historikern auseinander: Was war das für eine Krankheit, diese Seuche von Athen? Eine ganze Reihe von Symptomen lässt eher auf Typhus schließen, andere Anzeichen wiederum deuten darauf hin, dass die Griechen von einer inzwischen ausgestorbenen Krankheit befallen wurden - zwei Hypothesen, auf die wir noch zurückkommen werden. Auch das Dengue-Fieber und die Pocken wurden in Betracht gezogen. Wie dem auch sei, dieser erste Bericht von einer großen Epidemie ist für uns von beispiellosem historischen Wert. Als »Pest« im Sinne aller klassischen Texte, der »Aeneis«, der »Ilias« und auch der Bibel, bezeichnete man im Altertum praktisch alle großen Seuchen, die sich ganzen Völkern unauslöschlich eingeprägt haben. Ungefähr vierzig solcher Epidemien zählte man bis zum Beginn unserer christlichen Zeitrechnung. Jacqes Ruffié und Jean-Charles Sournia. Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit dtv/Klett-Cotta; München 1992 91 Mischa Meier (Hg.) PE ST Die Geschichte eines Menschheitstraumas Klett- Cotta 92 Klett-Cotta © J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2005 Alle Rechte vorbehalten Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags Printed in Germany Schutzumschlag: Finken & Bumiller, Stuttgart Umschlagfoto: A. Böcklin, »Die Pest«, 1898 © akg-images Gesetzt aus der Garamond BQ, von: OADF, 71155 Altdorf · www.oadf.de Auf säure- und holzfreiem Werkdruckpapier gedruckt und gebunden von Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-608-94359-5 Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 93 Pestepidemien im Europa der Frühen Neuzeit (1500 – 1800) von Franz Mauelshagen Einleitung Für die Geschichte der Pest in Europa bietet die Jahreszahl 1500 – das traditionelle Datum für den ›Beginn der Neuzeit‹ – einen weit weniger signifikanten Einschnitt als der ›Schwarze Tod‹ im 14. Jahrhundert. Epidemiengeschichtlich wird der Zeitraum von 1347/48 bis zum Ende der Pest in Europa zu Recht als Einheit betrachtet. Die ›Grenzmarke‹ 1500 macht nur dann Sinn, wenn man die Pest im Zusammenhang mit solchen Entwicklungen in den Gesellschaften Europas betrachtet, die an der Schwelle zur Neuzeit liegen. Renaissance und Humanismus hatten Anteil an der Formierung jener medizinischen Vorstellungen, die das Bild der Krankheit bis zur Entdeckung des Erregers gegen Ende des 19. Jahrhunderts prägten. Die ›Wiedergeburt‹ der Galenischen Medizin mit ihrer Humoralpathologie traf mit dem Aufschwung der Astrologie zusammen. Im 16. Jahrhundert verhalf Girolamo Fracastoro (ca. 1478–1553) dem Begriff ›Kontagion‹ zum Durchbruch und prägte damit für Jahrhunderte die Diskussionen über die Infektionswege. Die Bedeutung des Renaissancehumanismus läßt sich gleichwohl kaum auf die Zeit um 1500 festlegen, schon darum nicht, weil Renaissance und Humanismus in Italien weit früher etabliert waren. Die erneuerte Rezeption der medizinischen Klassiker, vermittelt durch die Araber, reicht bis zur ›Renaissance des 12. Jahrhunderts‹ zurück. Und schon das Gutachten der Pariser medizinischen Fakultät von 1348 bediente sich astrologischer Erklärungsmuster, wie sie Marsilio Ficinos Einschätzung der Ursachen der Pest im 15. Jahrhundert zugrunde lagen. Auch hier also herrscht über das Jahr 1500 zurück Kontinuität vor. Ein Einschnitt der Moderne ließe sich vielleicht am besten mit frömmigkeitsgeschichtlichem Wandel begründen. Der ›Schwarze Tod‹ des Mittelalters zeitigte erhebliche Auswirkungen auf die Frömmigkeit des 14. und 15. Jahrhunderts, auf die Heiligenverehrung ebenso wie auf die Konjunktur apokalyptischer Vorstellungen. Die Reformation führte zu einem tiefgreifenden Einschnitt und erzwang damit auch neue Formen der Katastrophenbewältigung. Am deutlichsten zeigt sich dies am Verbot der Verehrung von Heiligen und ihren Bildern, das auch die Pestheiligen einschloß. Strenggläubige Protestanten oder Reformierte mußten in Pestzeiten ohne die Hoffnung auskommen, daß der Hilferuf an diese Mittler oder an die Jungfrau Maria 94 238 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT Schutz bieten könne. Dieser Wandel ist besonders in wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive relevant. Ich werde im Anschluß an einen Überblick über die schwersten Ausbrüche der Pest in Europa darauf zurückkommen. Die großen Pestzüge Wenn die Schätzungen der mittelalterlichen Sterbeziffern zuverlässig sind, dann haben die meisten Epidemien der Frühen Neuzeit in Europa nicht mehr ganz die Ausmaße des mittelalterlichen ›Schwarzen Todes‹ angenommen. Gleichwohl gab es Infektionswellen, die nahezu den ganzen europäischen Raum erfaßten, und an manchen Orten weisen die Sterberegister im Verhältnis zur Bevölkerungszahl Quoten auf, die den Schätzwerten des ›Schwarzen Todes‹ entsprechen. Die Pest blieb ein Element des Alltagslebens, mit dem in regelmäßigen Abständen zu rechnen war. In Frankreich gab es zwischen 1348 und 1670 kein Jahr, in dem nicht an irgendeinem Ort Pestfälle auftraten. Eine Studie über Zentraleuropa im Zeitraum 1560-1640 konnte nachweisen, daß etwa alle 10 Jahre größere Pestwellen zu vermerken sind.1 Zehnjahresrhythmen entsprechen ungefähr dem Zeitraum, in dem sich Bevölkerungen durch Nachwuchs und Zuwanderungen regenerieren. Die demographischen Muster blieben weitgehend konstant. Auch im 16., 17. und 18. Jahrhundert begann nach einer Epidemie regelmäßig der Ansturm der Brautpaare auf die Kirchen, schossen in den folgenden Jahren die Geburtenziffern in die Höhe. An manchem Ort gab es gleichwohl nachhaltige Einschnitte in der Bevölkerungsentwicklung. Florenz erreichte – nach schweren Ausbrüchen 1497/98, 1522 – 28, 1530/31, 1630/31 und 1633 – bis ins 19. Jahrhundert nicht mehr die Einwohnerzahl wie vor dem ›Schwarzen Tod‹. Freilich erlebte auch London, das expandierende Zentrum Englands, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts kaum ein Jahrzehnt ohne eine schwere Pestepidemie, ohne daß die Bevölkerungszunahme (vor allem durch Zuwanderung) dadurch beeinträchtigt worden wäre. Die Jahre mit den höchsten Opferzahlen waren hier 1563, 1578, 1593, 1603 (36269), 1625 (35417), 1636 (10400) und schließlich 1665 mit der absolut höchsten Ziffer von 68596 Menschen, die an der Pest zugrunde gingen. Von 1640 bis 1648 brachte sie weniger rasch, aber kontinuierlich weitere 17955 Menschen zur Strecke. Und dies sind nur die Zahlen der offiziellen Sterberegister. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Dennoch dauerte es auch nach der Great Plague von 1665 nur zwei bis drei Jahre, ehe die Bevölkerung wieder auf dem Stand vor der Epidemie war. Nach wie vor sind nicht alle Pestepidemien, die zwischen 1500 und 1800 in Europa auftraten, erforscht. Vermutlich wurden nicht einmal alle erfaßt, sofern die Überlieferung dies überhaupt gestattet. Sieht man die vorhandenen Daten nach der eu- 95 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 239 ropäischen Dimension größerer Pestwellen durch, so fallen zunächst die Jahre 1562 – 1565 und die Wende zum 17. Jahrhundert ins Auge. Zwischen 1596 und 1602 tobte die Pest in Spanien, 1597 trat sie im Norden der britischen Insel, zuerst (1597) in Edinburgh, dann zwischen 1600 und 1608 in Schottland auf, von wo sie sich nach Irland (1604 – 1605) ausbreitete. 1603 traf es London. Auch auf dem Kontinent ging der Zug weiter. Im Jahr 1602 wurde Preußen erfaßt, 1610/11 trat die Pest im Alpenraum auf.2 Die nächste Welle ›schwappte‹ schon in den zwanziger Jahren durch Europa: 1622 Amsterdam, 1624 Danzig, 1625 London, Bremen und Lübeck. Im Reich wanderte die Infektion langsam südwärts, erreichte Mainz, Hannover und Magdeburg, 1627 dann Süddeutschland. 1628 starben alleine in Augsburg 9611 Menschen – etwa das Fünffache der durchschnittlichen Todesrate in ›normalen‹ Jahren.3 Es war eine der schwersten Epidemien nach dem ›Schwarzen Tod‹. 1629 erfaßte sie ganz Frankreich und griff auf Norditalien über. Nicht nur Mailand, Florenz und Venedig, auch Mantua, Vicenza, dann Pisa, Livorno, Turin und viele andere Städte und Regionen waren betroffen. Auch die britischen Inseln blieben nicht verschont, anders Spanien. Diesmal, so scheint es, wurde die Pest nicht über die Pyrenäen ›geweht‹. In Frankreich hielt sie sich bis über die Mitte der dreißiger Jahre hinweg. Lange Kriege bedeuteten Pest in Permanenz, weil sie eine wirksame Eindämmung verhinderten. In Frankreich begünstigten die bürgerkriegsartigen religiösen Auseinandersetzungen zwischen 1559 und 1598 die Verbreitung des Bazillus, wie es schon im Hundertjährigen Krieg der Fall gewesen war. Mehrere Faktoren kamen zusammen: Das Herumziehen der Truppen, die Verarmung der Bevölkerung, ihre Schwächung durch den Hunger und, besonders an den wechselnden Schauplätzen des Krieges, der zeitweilige oder dauerhafte Zusammenbruch klarer Herrschaftsverhältnisse, womit die grundlegende Voraussetzung für eine Isolation der Kranken oder die Errichtung von cordons sanitaires um infizierte Städte, Dörfer oder Ländereien fehlte. Die große Epidemiewelle von 1562 – 1565 traf mit den Wirren des ersten Religionskriegs zusammen. Auch in späteren Jahren, 1579 in der Provence, 1592 in Amiens und an vielen anderen Orten, führten Truppen die Pest ein. Häufig mußte sich die Landbevölkerung aus der Umgebung größerer Städte vor der plündernden Soldateska hinter die schützenden Stadtmauern zurückziehen. Im Jahr 1597 etwa flohen 4000 Bauern nach Rennes. Kurz darauf brach die Pest aus.4 Solche Zusammenhänge wiederholten sich während des Deißigjährigen Krieges in Deutschland. In Bremen kamen zwischen 1623 und 1628 – Jahre, in denen die Pest ohne Unterbrechung durch die Straßen zog – gleich mehrere kriegstypische Faktoren zusammen. Handelssperren wurden nicht verhängt, weil Bremen in dieser Kriegsphase im Einflußgebiet des dänischen Königs Christian IV. lag, dessen Truppen auf die Versorgung durch die Handelsstadt angewiesen waren. Im September 96 240 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT 1627 dann strömten Flüchtlinge vor den kaiserlichen Truppen hinter die Bremer Stadtmauern. Wohl aus populistischen wie logistischen Erwägungen verzichtete der Rat auch in dieser Lage noch auf Versammlungsverbote. Trotz Pest fand der Freimarkt statt, und Volksfeste wurden gefeiert.5 Schon Mitte der 30er Jahre wurde Deutschland von der nächsten Pestwelle erfaßt. Der Schuhmacher Hans Heberle beschrieb die Lage in Ulm. Zum wiederholten Male war die Bevölkerung der umliegenden Dorfgemeinden hinter die belagerten Stadtmauern geflüchtet – eine typische Gefahrenlage. Die Versorgung war nicht mehr gewährleistet. Auf den Hunger folgte die Pest, was Heberle so erklärte: Dan durch den hunger ist von denen armen menschen vüll greüwlich und abscheüliches dings auffgefressen worden. Alls nemlich allerley ungereimbten dings: hundt und katzen, meüß und abgangen vüch [d. i. Aas, F.M.], roßfleisch, das der schinder und meister uff dem vassen sein fleisch von dem abgangne vüch, als roß, hundt und andere thier, ist hingenomen worden, und haben dannoch einander darumb gerißen und für köstlich gut gehalten. Auch Feldkräuter, Disteln, Nesseln und ähnliches sei verspeist worden. »In suma allerley kraut ist gut gewesen, dan der hunger ist ein guter koch, wie man im sprichwort sagt«. Ein ähnliches Szenario bot sich 1636 in Frankfurt am Main.6 Und es gibt noch weit mehr Beispiele für derartige Auswüchse menschlicher Verzweiflung. Sie gehören zu den Synergieeffekten zwischen Pest, Hunger und Krieg. Die schwersten Pestepidemien, die nach dem ›Schwarzen Tod‹ in der Erinnerung haften blieben, sind mit den Namen großer Städte – Rom oder Neapel 1656 – oder bedeutender Persönlichkeiten verbunden. Unvergessen blieb das Handeln des Mailänder Bischofs Carlo Borromeo (1538 – 1584) während der Epidemie von 1576 – 1578, in Italien auch als »peste di S. Carlo« bekannt. Dieser kompromißlose Kämpfer für den nachtridentinischen Reformkatholizismus führte während der Mailänder Epidemie von 1576 – 1578 selbst barfüßig Prozessionen an und setzte sich auf ungewöhnliche Weise für die Armen ein, indem er etwa auf sein Privatvermögen zugriff oder die Tuche, Vorhänge und Wandteppiche seines Palastes in Stoffballen für Kleidung umarbeiten ließ. Nachdem die vor der Pest fliehenden Adeligen und Patrizier ihr Dienstpersonal entlassen hatten, setzte er sich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein. Der Hunger, eine Konsequenz aus der desolaten Wirtschaftslage betroffener Städte, stellte ein ebenso schwerwiegendes Problem wie die Pest dar. Die Beispielliste für das persönliche Engagement des Bischofs und seine unbequemen Forderungen nach Einsatz der Wohlhabenden und Kleriker ließe sich mühelos verlängern. Mit den Jesuiten führte er nachhaltige Auseinandersetzungen über das 97 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 241 Maß, in dem Angehörige des Ordens an den seelsorgerlichen Pflichten während der Epidemie beteiligt werden sollten.7 Ausgerechnet die Jesuiten waren es, die den Borromäus-Kult nach seiner Heiligsprechung durch Papst Pius V. im Jahr 1610 verbreiteten. Carlo Borromeo reihte sich seitdem als Pestpatron neben Rochus und Sebastian ein. Berühmte literarische Bearbeitungen haben ebenfalls zur Erinnerung beigetragen. Der nächsten großen Mailänder Pest von 1630 setzte Alessandro Manzoni – Italiens bedeutendster Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – in seinem Roman I promessi sposi (Die Verlobten) ein Denkmal. Daniel Defoe beschrieb die Londoner Pest von 1665 in seinem Journal of the Plague Year, das anonym erschien und lange für einen authentischen Bericht des unbekannten Icherzählers gehalten wurde. Defoe war nicht – wie einst der antike Historiker Thukydides während der Athener Epidemie von 430/29 v. Chr. – Augenzeuge der Ereignisse gewesen. Zum Zeitpunkt, als die Pest in London ausbrach, war er gerade vier Jahre alt. Er verstand es jedoch, wie später Manzoni, diesen Mangel durch die Lektüre zeitgenössischer Dokumente auszugleichen. Anlaß dazu gab ihm die Pest in Marseille 1720 – 1722, deren Verlauf Defoe als Journalist aufmerksam verfolgte. In London traf die Pest 1665 auf eine Stadt mit rapide wachsender Bevölkerung. Um die alten Stadtmauern herum waren neue Viertel entstanden, in denen Menschen auf engstem Wohnraum zusammenlebten. Tatsächlich läßt sich, wie schon der Verfasser einer loimographischen Schrift von 1665 annahm, eine Beziehung zwischen der Wohndichte und der Todesrate in unterschiedlichen Stadtvierteln nachweisen.8 Im übervölkerten Armenviertel St. Giles-in-the Field nahm die Pest Anlauf und breitete sich von dort über die ganze Stadt aus. Die Londoner konnten sich über die Todesraten wöchentlich durch die Bills of Mortality informieren. Als die Pest im Mai bedrohliche Ausmaße annahm, taten sie das, was schon Galen im 2. Jahrhundert empfohlen hatten: Sie ergriffen die Flucht. Die Adligen zogen auf ihre Landgüter. Der König, Charles II., ließ sich mit seinem Hof in Hampton Court Palace nahe Oxford nieder. Erst im Februar 1666 sollte er zurückkehren. Während der König vor allem seinen Liebschaften nachging, drohten die Staatsangelegenheiten zu verwahrlosen, was einigen Angehörigen des Regierungsapparates Kopfzerbrechen bereitete. Auch reiche Händler und Richter, Gelehrte und ein Großteil des Klerus verließen die Stadt – sogar das College of Surgeons. Mit der Flucht verbreitete sich die Seuche in die umliegenden Kleinstädte und Dörfer auf dem Land. Im Juni waren die Straßen vollends mit Flüchtlingen gepflastert, worauf der Lord Major mit Schließung der Stadttore reagierte. Nur für privilegierte Personen mit Gesundheitspässen waren sie noch durchlässig. Sofort entstand ein Schwarzmarkt für gefälschte Passierscheine. 98 242 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT Während sich in Italien seit längerem die Evakuierung der Pestkranken in Spitäler durchgesetzt hatte, wurden in London von der Pest befallene Haushalte unter Quarantäne gestellt. Die Haustüren wurden markiert und mit Wächtern versehen. Unter Quarantäne bildeten Gesunde und Kranke eine Schicksalsgemeinschaft, deren Versorgung völlig von der Außenwelt abhing. Wer häufig durch die Straßen Londons zog, konnte die wachsende Zahl markierter Häuser beobachten. Zu den lebendigsten Schilderungen der Londoner Pest gehören die Einträge, die Samual Pepys (1633 – 1703) – Sekretär, dann Leiter der Proviant-Abteilung im wichtigen Flottenamt, ein pfiffiger Aufsteiger – in seinem Tagebuch festhielt. Am 7. Juni notierte er: »Heute habe ich, sehr gegen meinen Willen, in Drury Lane zwei oder drei Häuser mit einem roten Kreuz an der Tür gesehen, und ›Gott erbarme sich unser‹ stand dazugeschrieben – ein trauriger Anblick, das erstemal, daß ich so etwas gesehen habe«. Das Erlebnis löste hypochondrische Anwandlungen aus, die Pepys mit Hilfe eines bewährten Räuchermittels vertrieb: »Mir wurde richtig übel, und ich bildete mir ein, daß ein sonderbarer Geruch von mir ausgehe; war gezwungen, mir etwas Tabak zum Riechen und Kauen zu kaufen; danach war mir gleich besser«.9 Der Tod rückte auch den Wohlhabenden immer näher auf den Leib, nachdem er wochenlang für sie beinahe so abstrakt geblieben war wie die Sterbeziffern der Mortality Bills. Pepys schrieb sie regelmäßig auf und richtete seine Einschätzung der Lage ebenso wie sein Handeln danach aus. Anfang Juli sah er die Zeit gekommen, seine Frau samt Haushalt nach Woolich aus der Stadt zu evakuieren. In den nächsten Wochen pendelte er ständig zwischen London, Woolich und Hampton Court hin und her. Das Risiko, das er auf sich nahm, war ihm bewußt. Mitte August, auf dem sommerlichen Höhepunkt der Epidemie (mit 31 159 registrierten Opfern in einem einzigen Monat), setzte er sein Testament auf: »Die Stadt ist jetzt so ungesund, daß niemand wissen kann, ob er anderntags noch lebt«.10 Kurz darauf verließ er London für einige Monate. Anfang des Jahres 1666 war die Pest, wie so oft während der Wintermonate, weitgehend abgeklungen und erreichte in diesem Jahr, in dem London von dem größten Stadtbrand seiner Geschichte heimgesucht wurde, keine katastrophalen Ausmaße mehr. Die Wiener Pestepidemie von 1679 hob in der Leopoldstadt an. Im Januar warnte der Arzt Paul de Sorbait bereits vor der Ausbreitung der Seuche. Erste Fälle wurden da noch als hitziges Fieber abgetan. Der Wiener Sanitätsrat zögerte die Ergreifung von Maßnahmen heraus, wie dies übrigens viele dieser Gremien, die sich in den europäischen Großstädten etabliert hatten, in ähnlichen Gefahrenlagen taten. Wirtschaftliche Interessen spielten dabei eine Rolle, insbesondere in Handelsstädten. Man hatte Angst vor Sperren, die einen Zusammenbruch der Versorgung herbeiführen konnten, und hoffte darauf, daß die Epidemie glimpflich verlaufen wür- 99 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 243 de, was von unberechenbaren (auch klimatischen) Faktoren abhing. Im Juli stieg die Zahl der Pesttoten allerdings so dramatisch an, daß offiziell gemacht werden mußte, was längst ein öffentlich gehütetes Geheimnis war. Jetzt lösten Verordnungen und Dekrete eine dramatische Fluchtwelle aus. Den Startschuß gab Kaiser Leopold I. selbst, der mit einem riesigen Hofstab nach Prag aufbrach – die Pest im ›Gepäck‹. Wo immer sich der Hof in den folgenden Monaten hinbewegte, schleppte er die Seuche ein. Zurück blieb eine sterbende Stadt, in der Regierung und Verwaltung weitgehend zusammengebrochen waren. Die Versorgung durch die umliegenden Gutsherrschaften, die sich selbst schützen wollten, war nicht mehr gewährleistet, so daß zur Seuche auch noch eine Hungersnot kam. Bis November starben nach neueren Schätzungen etwa 50 000 Menschen, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung. An der Spitze der Pestkommission avancierte einer der reichsten und zweifellos mutigsten Fürsten, Ferdinand Wilhelm Eusebius Schwarzenberg (1652 – 1703), zum ›Pestkönig‹, der aus dem Staatsschatz und aus eigenem Vermögen für Arme aufkam und Lazarette errichten ließ. Rigoros ging er gegen Plünderer und gegen Korruption vor. Der Spitalsverwalter, um nur ein aufsehenerregendes Beispiel zu nennen, wurde an einem Baum bei der Lazarettpforte aufgeknüpft, weil er die Arznei, die zur freien Verteilung an die Armen bestimmt war, verkauft hatte. Die Wiener Pest von 1679 ist vor allem durch zwei Berühmtheiten in Erinnerung geblieben: den Augustiner-Barfüßer Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709), der in seiner Predigt Mercks Wien, 1680 gedruckt, der Stadt eine literarisch-satirische Standpauke entgegenschleuderte, die zum Vorbild für Schillers Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager wurde; bei der zweiten Gestalt handelt es sich um den legendären ›lieben Augustin‹, einen nimmer betrübten Dudelsackpfeifer, der in trunkenem Zustand in eines der gefürchteten stinkenden Massengräber gefallen und darin seinen Rausch ausgeschlafen haben soll, ohne Schaden zu nehmen. Die Pest hat viele ähnliche Geschichten hervorgebracht. Eine von ungezählten Varianten kann man bei Defoe in der Erzählung vom Flötenspieler finden. Dieser launige Unterhaltungskünstler soll, anders als der ›liebe Augustin‹, noch am Rand der Grube auf dem Totenwagen aufgewacht und sich seiner gefährlichen Lage bewußt geworden sein.11 Aufmerksamkeit verdient das Typische, das sich in solchen Legenden ausspricht: Die Mythenbildung um die Orte und das Personal des Grauens, zu dem Henker und Totengräber sogar in normalen Zeiten zählten; aber auch die Immunität des Frohsinns – eine Charaktereigenschaft, die der Melancholie (sie galt als individuelle Disposition für eine Pesterkrankung) entgegengesetzt war. So entstanden legendäre Hoffnungsträger, denen das nationalistische 19. Jahrhundert noch eine reale Existenz mit lokalem Anstrich verschaffte, was im Falle des ›lieben Augustin‹ soweit führte, 100 244 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT daß man ihm im 7. Wiener Gemeindebezirk an der Kreuzung Neustiftgasse-Kellermanngasse ein Denkmal, den Augustin-Brunnen, setzte. Noch ein anderes Wiener Denkmal ist der Epidemie von 1679 geschuldet, die Pestsäule auf dem Graben. Wie so viele Stiftungen verdankt sich auch diese einem Gelübde. Leopold I. hatte versprochen, eine Gedenksäule zum Dank für das Ende der Plage zu errichten. Nach Aufstellung eines hölzernen Provisoriums wurden die Pläne für die endgültige Realisierung des Denkmals mehrfach abgewandelt und den Umständen angepaßt. Das ikonographische Gesamtprogramm änderte sich mit der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683. Hatten Pestsäulen zuvor stets den konfessionellen Unterschied zum Protestantismus betont, indem sie Pestheiligen oder der Jungfrau Maria gewidmet waren, so wurde nun mit der Dreifaltigkeit ein Thema gewählt, durch das sich die christliche Gottesvorstellung signifikant vom ebenfalls monotheistischen Islam unterscheidet. So entstand die aufwendige Dreifaltigkeitssäule gleichsam in doppelter Erinnerung an zwei der drei ›Geißeln Gottes‹, Pest und Krieg. Beteiligt war ein ganzes Ensemble von Baumeistern und Künstlern, unter ihnen Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656 – 1723) und Lodovico Burnacini (1636 – 1707), der die Wolkenpyramide gestaltete. In Marseille und der Provence wütete zwischen 1720 und 1722 die letzte große Pestepidemie Westeuropas. Schon die Lage Marseilles am Mittelmeer unterscheidet diese Stadt von Wien und London, wobei London durch die Themseverbindung und die Bedeutung seiner Häfen für ganz England regelmäßig eine sonst für Seehäfen wie Amsterdam, Venedig oder Genua typische Schlüsselrolle als Ausgangspunkt für die Verbreitung der Pest in England spielte. Marseille war schon lange vor 1720 auf die epidemiologischen Gefahren, die der Seehandel mit sich brachte, eingestellt. Es gab ausgefeilte Kontrollen und prophylaktische Quarantänemaßnahmen, die seit vielen Jahrzehnten einen Ausbruch der Pest erfolgreich verhindert hatten. Die Epidemie von 1720 mag dieser Erfolgsgeschichte gegenüber wie ein tragischer Ausnahmefall erscheinen. Tatsächlich hat es immer Löcher im System der Kontrollen gegeben, und oft war es eine Sache des Glücks, wenn dies nicht zum Massensterben führte. Die Pest wurde durch ein Handelsschiff aus Syrien eingeführt, das Marseille am 25. Mai 1720 erreichte. Obwohl die Schiffsladung im Hafen beschlagnahmt und Besatzung und Passagiere der Grand St. Antoine wochenlang unter Quarantäne gehalten wurden, gelang es den wieder freigelassenen Seeleuten, geschmuggelte Tuchware in der Stadt zu verkaufen, die von infizierten Flöhen gewimmelt haben muß. Zwar wurde diese Ware erneut beschlagnahmt und verbrannt, aber dadurch konnte nicht mehr verhindert werden, daß einige Seeleute und Käufer erkrankten und starben. Wie in Wien versuchte die Sanitätskommission in Marseille zunächst die Tatsache, 101 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 245 daß die Pest in die Stadt eingezogen war, zu verschleiern. Die ersten Todesfälle wurden offiziell mit einer hitzigen Fiebererkrankung erklärt. Ihre Zahl nahm im Juli rapide zu. Schon im August waren alle Stadtteile betroffen. Jetzt sahen sich die Handelspartner Marseilles gezwungen, allen Dementis zum Trotz Handelssperren zu errichten. Aber schon waren nahezu 10 000 Bürger Marseilles in die umliegende Region geflohen und hatten damit für die Verbreitung der Epidemie in der Provence gesorgt. Aix, Arles, Avignon, Toulon und andere Städte ebenso wie Teile der benachbarten Provinzen Venaissin und Languedoc waren betroffen. Die Blockade, die im August über Marseille verhängt wurde, konnte weitere Flüchtlinge kaum aufhalten. Dazu fehlten die Truppen. Erst später gelang es, einen wirksamen Sanitätscordon um die Provence zu errichten, der verhindern half, daß sich die Seuche in ganz Frankreich und von dort über Europa ausbreitete. Prophylaktische Maßnahmen wurden allerorten getroffen und, wie in Sachsen am 10. Oktober 1721, per Mandat verordnet. Internationale Handelssperren konnten 1723 wieder aufgehoben werden. Die Epidemie blieb auf Südfrankreich beschränkt. Am Ende stand eine Bilanz von mindestens 50000, vermutlich aber weit mehr Opfern, in jedem Falle mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung von Marseille. Straftheologie und Frömmigkeit Deutung und Wahrnehmung von Pestepidemien waren auch in der Frühen Neuzeit weitgehend religiös geprägt. Nach christlicher Vorstellung galt die Pest – neben Hunger und Krieg – als eine von drei Plagen, die Gott als Strafe für das sündhafte Menschenleben schickte. In allegorischen Darstellungen, in Predigten, Pesttraktaten und Bildern, wurden diese Plagen zu apokalyptischen Reitern personifiziert. Immer wieder betonten Chronisten einen Zusammenhang zwischen ihnen. Der Krieg brachte den Hunger, der Hunger die Pest, und alle drei den Tod. Das Strafdenken warf die grundsätzliche Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf, denn auch solche Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft wurden von der Pest hinweggerafft, die, nach öffentlichem Ansehen, über moralische Mängel weitgehend erhaben schienen. Unterschied der Allmächtige nicht zwischen Gerechten und Ungerechten? Strafte er im Zorn gleichsam blindwütig? Der reformierte Prediger Ludwig Lavater (1527 – 1586) berief sich auf Psalm 91, wenn er versicherte, daß niemand ohne Gottes Willen von der Pest getroffen werde. »Gott der Herr ist seiner schützen [d. i. Schüsse, F. M.] vnd streichen gewüß/thuot nit blind schütz oder felstreich/wie wir menschen«.12 Gleichwohl sah er, daß auch »fromme lüth« von der Plage getroffen würden. Dies alles, so versicherte er, seien »wunderbare gericht Gottes«, die nicht 102 246 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT zu der Meinung berechtigten, die Pest wäre keine Strafe Gottes. Vielmehr ging es darum, dem Leid und Tod der Frommen und Gerechten einen besonderen Sinn abzugewinnen. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten: Gott konnte sie den Hinterbliebenen zur Strafe genommen haben, weil sie ihrer nicht würdig waren; oder er wollte – nach dem biblischen Vorbild Hiobs – ihren Glauben auf die Probe stellen und anderen ihre Leidensfähigkeit als beispielhaft vorhalten. Überhaupt war die Pest eine große Probe des Glaubens, ihre Wirkung eine moralische Reinigung, eine Art Seelenarznei, vom himmlischen Oberarzt verschrieben, die den Menschen das weltliche Dasein verleiden und ihren Blick auf das Ewige Leben ausrichten sollte.13 Zwischen »Gerechten« und »Ungerechten« konnte auch mit der Bedeutung, die der Tod je für sie besaß, unterschieden werden. Was für die einen eine Strafe war, war Erlösung für die anderen. Für diese Dialektik konnten Theologen und Pfarrer auf ein reiches Reservoir biblischer Topoi zurückgreifen, die das Leben zum Jammertal erklärten. Das Ende mußte da Befreiung sein. Das Ergebnis dieser Unterscheidung war eine Art straftheologische Doppelmoral. Erst die ihr innewohnende Doppeldeutigkeit konnte dem Pesttod die moralische Härte nehmen, Strafe und nichts als Strafe für die Getroffenen zu sein. Sie öffnete einen Ausweg aus dieser Trostlosigkeit und verlieh der harten Strafmoral menschenfreundliche Züge. So erst konnten Geistliche ihrer seelsorgerlichen Pflicht nachkommen, Sterbenden und Hinterbliebenen Trost zu spenden. Das Individuum ist nur ein möglicher Fokus individueller wie gesellschaftlicher Wahrnehmung. Auch andere soziale Einheiten konnten in den straftheologischen Strudel und damit unter Rechtfertigungsdruck geraten. Das galt besonders für weltliche Herrschaften. Biblische Exempel präformierten hier den Blick, allen voran die Beispiele des ägyptischen Pharao und König Davids. Zu den Gottesstrafen, die Ägypten vor dem Auszug der Israeliten trafen, hatte auch die Pest gehört. König David zog den Zorn des Allmächtigen durch eine Volkszählung auf sich. Die Angst vor dem Wiederholungsfall wurde auch in der Frühen Neuzeit noch als Argument gegen solche Erhebungen angeführt. Die Verantwortlichkeit von Königen und Fürsten kam propagandistisch in Stiftungen zum Ausdruck, in denen die Frömmigkeit des Herrschers betont wurde, was immer auch der Rechtfertigung diente. Stadtobrigkeiten fühlten sich durch Katastrophen wie die Pest zum Erlaß von Sittenmandaten veranlaßt, um ihrer ordnungspolitischen Verantwortung nachzukommen. Die Glaubensspaltung seit der Reformation schließlich forderte zur Instrumentalisierung des straftheologischen Paradigmas für die konfessionelle Polemik heraus. Im Jahr 1543 mahnte der katholische Pfarrer der savoyischen Gemeinde Cernex, François de Mandallaz, die Genfer, sie sollten die Pest als Strafe für den Abfall vom rechten Glauben ansehen. Johannes Calvin erwiderte darauf in einem Brief: Von der 103 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 247 Epidemie seien keineswegs nur dem evangelischen Glauben anhängende Städte und Regionen betroffen. Der Zorn Gottes treffe alle Christen. Calvin nannte zwei, nach konfessionellen Gruppierungen unterschiedene Gründe:14 Das ist es, daß die einen ihm seine Ehre rauben durch Götzendienst und Aberglauben und, statt sein Wort anzunehmen und dadurch sich auf den rechten Weg führen zu lassen, es nicht nur verachten und verspotten, sondern es sogar hassen, verabscheuen und verfolgen. Wir andrerseits, die wir durch sein Evangelium wissen, wie man ihm dienen und ihn ehren soll, tun unsere Pflicht nicht genügend, so daß das Wort des Lebens gleichsam müßig und unnütz ist unter uns. Wir wollen uns nicht rechtfertigen, indem wir andere verdammen. Es blieb beim guten Vorsatz, denn sogleich bemühte sich Calvin, den Spieß umzudrehen, indem er den katholischen »Götzendienst« als besonders frevelhaften Angriff auf die göttliche Ehre brandmarkte.15 St. Paulus sagt, daß Gott in Korinth die Pest habe kommen lassen, weil das Abendmahl nicht gefeiert wurde, wie es sollte (1 Kor 11). Was muß man nun erwarten, da es nun schon so lange verkehrt ist in eine entsetzliche Schändung des Heiligen, wie es Ihre Messe ist? [...] Schauen Sie, wie unser Herr Jesus es eingesetzt hat, und vergleichen Sie damit Ihre Messe. Sie werden einen Abstand finden wie zwischen Himmel und Erde. Auch der schon zitierte Lavater sah sich in einer gedruckten Predigt von 1564 offenbar genötigt, sich mit der Vorstellung, die Epidemie komme »von dem nüwen glauben vnd Euangelio«, auseinanderzusetzen. In Zürich scheint sie noch vierzig Jahre nach Einführung der Reformation im Raum gestanden zu haben. »Not lehrt beten«.16 Die Pest war ein Katalysator für Frömmigkeit. »Das ist gwüß/daß die glöubigen zur zeyt der pestilentz/so vil jnen mit der gnad Gottes müglich/deren dingen entschlahend die wider Gott sind/hörend flyssiger sein wort/gäbend reichlicher jr allmuosen/bättend vnnd fastend trüwlicher dann zuo anderen zeyten«, beschrieb Lavater diese Wirkung.17 Vertreter der Kirche rechneten auf solche Besinnungseffekte der Gottesstrafe: Sie sollte das Sündenbewußtsein schärfen, sollte an die Fragilität des Menschendaseins erinnern. Dies war in den Sinnkonstruktionen des christlichen Denkens, über konfessionelle Grenzen hinweg, ihre tragende religiöse Funktion. Sie diente damit dem Seelenheil, das im Christenleben dem leiblichen Wohl übergeordnet werden sollte. Ebenso topisch wie die Frömmigkeitseffekte sind in Predigten aber auch deren Kurzlebigkeit. Die rasche Verfallszeit des Sündenbewußtseins erklärte denn auch die Wiederkehr, den 104 248 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT ewigen Mechanismus von Sünde und Strafe, Vergessen und Vergebung, Erinnerung und Anklage. In der Frömmigkeitspraxis hatte die Pest schon seit dem Spätmittelalter nachhaltigere Wirkungen gezeitigt. Pestheilige, teils völlig neue Gestalten wie Rochus, teils altbekannte Figuren wie Sebastian oder Christophorus, wurden als Anrufungsinstanzen eingesetzt. Ausdruck fand diese Praxis in der christlichen Kunst, in Heiligenbildern, in Altarretabeln oder Skulpturen. Neue Wallfahrtsorte entstanden. Kapellen, sogar ganze Kirchen wurden gestiftet. Die Wiener Karlskirche – nach Plänen von Johann Bernhard Fischer von Erlach entworfen – verdankt sich einem Gelübde Karls VI., das er während der Pest von 1713 abgab. Sie ist dem Namenspatron des Kaisers, Carlo Borromeo, gewidmet und verbindet katholische Frömmigkeit mit dem Anspruch fürstlicher Selbstrepräsentation. Im 17. Jahrhundert kam eine neue Form frommer Stiftungen hinzu, die Pestsäulen. Das Wiener Exemplar ist nur die bekannteste und wohl auch aufwendigste Konstruktion dieses Typs, und nicht immer waren sie der Dreifaltigkeit gewidmet. Auch die Heilige Jungfrau Maria und eine Vielzahl von Pestheiligen konnten mit dankbarer Erinnerung an das Ende eines Pestzuges bedacht werden. Am stärksten verbreitet ist das Phänomen im Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Pestsäulen findet man heute in Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn, aber auch in Süddeutschland und Rumänien. Die Pestsäulen waren ein rein katholisches Phänomen. Sie kamen erst nach der konfessionellen Spaltung Europas auf. Die Reformation markiert aber einen generellen frömmigkeitsgeschichtlichen Einschnitt, der sich auch auf zuvor etablierte Praktiken der religiösen Bewältigung von Pestepidemien auswirkte. Segnungen von Mensch und Vieh, Prozessionen, Heiligenverehrung, die damit verbundenen religiösen Aktions- und Kommunikationsformen standen jetzt nur noch dem katholischen Teil zur Verfügung, um den individuellen Seelenhaushalt zu regulieren. Luther hatte schon 1516, also vor Beginn der konfessionellen Streitigkeiten, die Glaubwürdigkeit der Rochuslegende angezweifelt. Später waren die Pestheiligen für Calvinisten, Reformierte und Lutheraner tabu. 1532 erschien in Augsburg eine deutsche Übersetzung der Schrift De remediis utriusque fortunae des italienischen Humanisten Francesco Petrarca (1304 – 1374), eine moralphilosophische Trostschrift in Dialogform. Ein Kapitel handelte Von dem Sterben oder Pestilenz. Als Titelillustration dazu verwandte der Drucker einen Holzschnitt, den er zwei Jahre zuvor schon einmal in einem spanischen Gesundheitsbuch abgedruckt hatte (Abb. 1). Mit einem Unterschied: Für das protestantische Publikum der Petrarca-Ausgabe waren die Pestheiligen Sebastian und Rochus getilgt (Abb. 2). Ohne Heilige und ohne die Mutter Gottes blieb allein Christus als Fürsprecher 105 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 249 übrig. Damit veränderten sich die Rahmenbedingungen religiöser Katastrophenbewältigung. Im Angesicht des Pesttodes waren Reformierte und Lutheraner mit ihrem Gewissen und einer radikalen Gnadenlehre allein gelassen. Als Mittler blieb nur Jesus Christus. Auf seinen Opfertod stützte sich das Vertrauen auf die Gnade Gottes. Freilich sind Menschen soziale Wesen, und das damit gegebene Bedürfnis nach gemeinschaftlich praktizierten Ritualen traf sich in evangelischen Gemeinden häufig mit dem Disziplinierungswillen von Obrigkeiten und Pfarrern. Sie drängten auf regelmäßigen Kirchgang aller Gemeindemitglieder und nutzten die Predigt für moralische Appelle. Für Pestzeiten gab es auch hier besondere Gebete und – nicht zuletzt aus gesundheitspolitischen Gründen – kollektiv vollzogene Sündenbekenntnisse. Das Abendmahl war besonders begehrt, die Kirchen füllten sich, wo es zu haben war, auch obrigkeitlichen Versammlungsverboten zum Trotz. Mehr noch gerieten katholische Abwendungsrituale, weil sie auch Prozessionen einschlossen, in Widerstreit zu Isolierungsmaßnahmen und Versammlungsverboten. Für die Gläubigen handelte es sich um Formen der Kommunikation mit dem Allmächtigen, die dazu geeignet sein sollten, seinen Zorn zu beschwichtigen und die Strafe zu mildern. Wenn Carlo Borromeo während der Mailänder Epidemie von 1576 – 1578 Bittprozessionen selbst barfüßig anführte, so erscheint dies aus heutiger Sicht irrational, war nach der Logik des straftheologischen Denkens jedoch ein konsequentes und vernünftiges Verhalten. Allerdings entging auch Zeitgenossen nicht, daß solche Versammlungen regelmäßig zu einem Schub neuer Erkrankungen führten. Aus dieser Beobachtung war es konsequent, neben Jahrmärkten, Kirchweihfesten und Tanzabenden auch religiöse Versammlungen und Aufmärsche zu verbieten. Dies führte zum Konflikt zweier Erklärungsmodelle: Auf der einen Seite die natürliche Erklärung, die sich auf Beobachtung stützte; auf der anderen Seite die Strafmetaphysik, deren Ursachenbekämpfung auf die Sünden, also auf menschliches Fehlverhalten zielte. Daß es sich dabei um ein Fehlverhalten handelte, das – anders als die modernen ›Umweltsünden‹ – in keiner physikalischen Kausalbeziehung zu den ›natürlichen‹ Folgeprozessen stand, macht den entscheidenden Unterschied aus. Sünden konnten nur mittelbar über die metaphysische Einwirkung Gottes als Ursachen für Katastrophen betrachtet werden. Die christliche Straftheologie beharrte allerdings auf der Priorität dieses Umwegs. Beide Erklärungsmodelle nun konnten in der Theorie durchaus nebeneinander bestehen, solange natürliche Vorgänge dem Zorn Gottes als sekundäre Ursachen untergeordnet wurden. Viele Theologen waren ihrerseits durchaus gewillt, die ›natürliche‹ Erklärung gemäß dieser Staffelung von Erst- und Zweitursachen in ihre Denkmuster einzubeziehen und der obrigkeitlichen wie der privaten Fürsorge einen heilsmetaphysischen Sinn zu verleihen. Demnach waren weder Individuen noch so- 106 250 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT ▼ Abb. 1+2: Im Jahr 1530 erschien in einem spanischen Gesundheitsbuch (Luis Lobera de Avila, Vanquete de nobles cavalleros [...], Augsburg 1530) ein Holzschnitt über die Auswirkungen der Pest. Die Pestheiligen Sebastian und Rochus sind links im Bild gut zu sehen. Einige Jahre später wurde der gleiche Holzschnitt in einer Petrarca-Ausgabe (Francesco Petrarca, ziale Gemeinwesen der Gnade Gottes würdig, wenn sie nicht alle als legitim betrachteten Mittel zum Selbstschutz einsetzten. Diese Argumentation ist in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen, weil sie innerhalb theologischer Sinnkonstruktionen Spielräume für menschliches Handeln in der Katastrophe schuf. Dies aber, etwas gegen das Unheil unternehmen zu können, ist vielleicht die wichtigste psychologische Voraussetzung für eine erfolgreiche Katastrophenbewältigung. Selbstverständlich war dies nicht, denn angesichts der Vorstellung von der göttlichen Allmacht mußte erst darüber gestritten werden, was bei der Abwendung des Unheils menschenmöglich war. Aus katholischer Sicht hatten dabei die besagten Abwendungsrituale, insbesondere Bußprozessionen, eindeutig Vorrang vor gesundheitspolizeilichen Maßnahmen. Selten in der Theorie, aber häufig in der Praxis führte genau dies zum Konflikt und bisweilen zur Anwendung scharfer Sanktionen in der Auseinandersetzung zwischen weltlichen und kirchlichen Machtgruppen. 1630 forderte der Gesundheitskommissar Luigi Capponi, ein Florentiner Patrizier, den Bischof von Volterra mehrmals auf, die Zahl religiöser Versammlungen zu reduzieren. Der Konflikt eskalierte schnell. Zuerst versuchte der Bischof den Kommissar unter dem Vorwurf der Häre- 107 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 251 Das Glückbuch/Beydes des Gutten und Boesen [...], Augsburg 1539) erneut verwendet, diesmal jedoch blieb die Stelle, an der sich zuvor die Pestheiligen befanden, unbesetzt. Für das protestantische Publikum waren sie getilgt worden. sie vor Gericht zu ziehen, was vom Großherzog mit Hilfe des Magistrats von Florenz abgeschmettert wurde. Als dann alle Prozessionen untersagt wurden, nahmen die Beschwerden der Geistlichen in Rom derart zu, daß der Papst sich veranlaßt fühlte, alle Mitglieder des Florentiner Gesundheitsrats kurzerhand zu exkommunizieren.18 Die Verbote stießen aber nicht nur auf den Widerstand der kirchlichen Führungselite, sondern auch auf den des Volkes, das sich zu spontanen Prozessionen versammelte, obwohl es dem Klerus kaum weniger mißtrauisch gegenüberstand als der weltlichen Obrigkeit. Aber gerade das unterstreicht die Bedeutung religiöser Rituale als Aktionsformen einer kollektiven Katastrophenbewältigung. Manche Pestprozessionen bekamen institutionellen Charakter und werden noch heute gefeiert. Der Schäfflertanz in München, der immer noch alle sieben Jahre aufgeführt wird, soll auf das Pestjahr 1517 zurückgehen. Die Passionsspiele von Oberammergau verdanken sich dem Gelöbnis einiger Bürger während einer Epidemie im Jahre 1633. Sie versprachen, alle zehn Jahre die letzten Tage aus dem Leben Jesu aufzuführen, wenn der Ort von der Pest befreit würde. Die Legende behauptet, daß daraufhin tatsächlich niemand mehr erkrankte, was nur noch einmal unterstreicht, wie tief der Glaube an den Erfolg expressiver Religionsausübung verankert war. Eine ähnliche ›do-ut-des- 108 252 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT Haltung‹ wie hier kommt auch in manchen Gebeten zum Ausdruck, die in lutherischen und reformierten Kirchen während Pestepidemien gesprochen wurden.19 Auch Amulette zum persönlichen Schutz waren keineswegs nur eine Angelegenheit katholischer Laienfrömmigkeit. Hüben wie drüben gab es Praktiken, die im Bereich der ›weißen Magie‹ lagen und Teil der Religionsausübung waren, mochten sie auch seit der Aufklärung zunehmend als Aberglaube oder Volksglaube gebrandmarkt werden. Soziale Ungleichheit und Mißtrauen Welches Bild der Gesellschaft bot sich den Zeitgenossen, welches bietet sich uns im Rückblick auf die Pestepidemien der Neuzeit dar? Kann man sagen, daß die Pest soziale Unterschiede machte, Stände oder Klassen von Menschen kannte? Ihr ständiger Begleiter, der Tod, erschien den Zeitgenossen als Gleichmacher. In den Totentanzdarstellungen, die vor allem während des 15. Jahrhunderts entstanden, mußten alle – Könige und Päpste, Bürger, Handwerker und Bauern – mit dem Sensenmann tanzen. Das Bild trügt. Mochte der Tod alle gesellschaftlichen Unterschiede aufheben, sofern er früher oder später jeden traf, spielten soziale Unterschiede doch vor der Krankheit eine wichtige, manchmal entscheidende Rolle. Zwar konnte auch die Pest jeden treffen ohne Standesunterschied. Aber der Stand machte einen Unterschied, wenn es darum ging, sich zu schützen. So gesehen gab es niemals eine völlige Gleichheit vor der Pest. Die Ratten tummelten sich vor allem in den Armenvierteln großer Städte. In Augsburg brach die Pest 1627 im Bezirk Kappenzipfel aus, nach den Steuerlisten zu schließen (durchschnittlich nur 11 Kreuzer Vermögenssteuer im Vergleich zu 175 Gulden in der reichen Oberstadt) ein bettelarmer Stadtteil. 75 Weberfamilien sind hier nachweisbar, was etwa 40 % der Haushalte ausmachte. Neben Bauhandwerkern, Metzgern und einigen anderen Gewerben waren weitere Textilberufe vertreten,20 was auch unter epidemiologischen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit verdient, weil Textilien Flöhen auf ihrer Suche nach einem neuen Wirt eine willkommene Heimstatt zum ›Überwintern‹ boten. Durch Beobachtung war die besondere Gefahr, die von ›verseuchter‹ Kleidung ausging, bekannt, nur dachte niemand an Flöhe. Arme hatten weit weniger Möglichkeiten zum Selbstschutz als Wohlhabende. Sie waren körperlich weniger resistent. Wer etwas besaß, konnte besser für seine Hygiene und die Sauberkeit seiner Behausung aufkommen, konnte sich mit Vorräten eindecken, seine Diener auf die Märkte schicken, um das Ausgehen zu vermeiden, wohnte nicht in Kellern oder im Erdgeschoß, wo sich die Ratten eher als in den obe- 109 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 253 ren Geschossen tummelten, und er konnte sich alle Prophylaxemaßnahmen leisten, die von Ärzten empfohlen wurden: Tabakgenuß, das Räuchern der Stuben, teure Gewürze, die Einnahme von Tränken aus seltenen Pflanzen. Mochten diese auch wirkungslos sein, halfen sie doch beim Umgang mit der Gefahr, solange nur der Glaube an ihre Wirksamkeit bestand. Das Geschäft mit der Gesundheit hatte in Pestzeiten Konjunktur. Medizinische Ratgeber wußten um den Unterschied zwischen Armen und Reichen, hatten zumeist für beide etwas zu bieten. Die sozialen Unterschiede, die der Tod bisweilen verschüttete, kamen in der Flucht besonders deutlich zum Tragen. In Städten, dichten Ballungszentren, läßt sich das besonders gut beobachten. Eine kleine Gruppe von Patriziern, die Führungsschicht der Städte, hatte Mittel und Möglichkeiten, aufs Land zu fliehen. Flucht allerdings war auch für Wohlhabende oft eine bittere Erfahrung. Die Einkehr bei Freunden und Verwandten war von Furcht belastet. Auf seiten der Gastgeber gerieten Gastfreundschaft und Selbstschutz, auf seiten der Gäste Selbstschutz und Fremdschutz in inneren Konflikt miteinander. Michel de Montaigne (1533 – 1592), der 1585 vor der Pest im Périgord floh, schrieb: Ich, der ich so gastfrei bin, sah mich größten Schwierigkeiten gegenüber, eine Zufluchtstätte für die Meinen zu finden: Eine verstört herumirrende Familie, die, selbst von Furcht ergriffen, ihren Freunden und Bekannten Furcht einjagte, überall auf entsetzte Abwehr traf, wo sie unterzukommen suchte, und auf der Stelle weiterziehen mußte, sobald auch nur einem aus dem verlorenen Häuflein eine Fingerspitze weh zu tun begann. Alle Krankheiten würden in einer solchen Lage für die Pest gehalten, beschrieb Montaigne die allgemeine Hypochondrie. Der psychische Druck spitzte sich in der Quarantäne zu: »Vierzig Tage voller Hangen und Bangen« müsse man abwarten, »ob das Übel tatsächlich ausbricht, während die Einbildung jeden ihrer Art gemäß auf die Folter spannt und die Gesundheit selbst zu fiebern beginnt«.21 Amtspflicht, sonst ein Signum gesellschaftlichen Ansehens, das Ehre machte, konnte, wenn alles zur Flucht drängte, zum Fluch werden. In Köln und andernorts mußte einer von zwei Bürgermeistern stets vor Ort verweilen, um die bürgerliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Arm oder reich ist also bei weitem nicht die einzige soziale Differenz, die in Pestzeiten einen entscheidenden Unterschied für das Überleben machen konnte. Es gab Gruppen, deren Tätigkeit sie direkt in die Gefahrenzone zog, alle jene, deren Beruf täglichen Umgang mit den Kranken, den Sterbenden und den Toten mit sich brachte: Geistliche, Totengräber und Ärzte, besonders Chirurgen und die oft zum Aufschneiden der Pestbeulen ebenfalls eingesetzten Barbiere sind hier zu nennen. Die Sonderstellung dieser Risikogruppen konnte durch ihre 110 254 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT öffentliche Stigmatisierung sichtbar werden, wie dies 1665 in London und an vielen Orten längst Praxis war. Die Prophylaxe forderte eine strikte Trennung zwischen Kranken und Gesunden, in die jene Gruppen hineingezogen wurden, weil sie die Kranken zu versorgen, die Toten zu beseitigen oder sich für die Umsetzung von Hygienemaßnahmen einzusetzen hatten. Auch in einer loimographischen Schrift von 1721 wurde daher empfohlen, »Geistliche/Medici, Chirurgi, Todten = Gräber/Abwarte/und wer mit denen Patienten umgehet«, sollten »bezeichnet werden/daß die Gesunden mit denenselben nicht/oder mit grosser Behutsamkeit umbgehen«.22 Viele Ärzte steckten sich während einer Pestepidemie an und starben. Der berühmteste unter ihnen war der Zürcher Conrad Gesner (1516 – 1565). Was dieser plötzliche Tod für die Wissenschaftsgeschichte bedeutete, läßt sich kaum ermessen. Gesners Botanik, die Historia Plantarum, blieb Fragment und wurde einige Jahre nach seinem plötzlichen Tod verkauft, zerstreut und weiter fragmentiert. Der Basler Arzt Felix Platter (1536 – 1614) hingegen überlebte nicht weniger als sieben Epidemien. Ärzte waren sich ihres besonderen Risikos bewußt, und dieses Bewußtsein führte zur Ausbildung von Selbstschutztechniken, die möglicherweise sogar vor Ansteckung schützen konnten, obwohl die Übertragungswege unbekannt waren. Geradezu legendär sind die Schutzanzüge, die 1656 zuerst in Rom aufkamen (Abb. 3). Die ›Lederrüstung‹, die das Eindringen vergifteter Luft in die Poren verhindern sollte, hielt vielleicht auch die Flöhe fern, die tatsächlich die Infektion brachten. Es gibt auch in der Zeit zwischen 1500 und 1800 immer wieder Beispiele für die Flucht von Ärzten, die schon in den Pestschilderungen des Spätmittelalters erwähnt wird. Die bedeutendsten Ärzte Londons verließen während der Epidemie die Stadt, der Präsident des College of Physicians (Edward Alston) ebenso wie der berühmte Thomas Sydenham (1624 – 1689), ein Spezialist für die Behandlung von Fiebererkrankungen. In einer Sitzung der Royal Society Anfang 1666 rechtfertigte Jonathan Goddard (gest. 1675) sein Handeln damit, daß auch seine Patienten aus der Stadt geflohen seien.23 Vermutlich war dies nicht nur eine Ausrede. Es gab innerhalb der Risikogruppe der Ärzte bedeutende Statusunterschiede, die eine Spezialisierung auf die medizinischen Anforderungen einer Pestepidemie begünstigten und somit zur Ausdifferenzierung dieser Berufsgruppe beitrugen. Einige Mediziner machten aus der Pest eine Profession und wurden zu regelrechten Pestärzten – eine manchmal zweifelhafte und auch oft mit großem Mißtrauen betrachtete Expertengruppe. Epidemien waren Karrierechancen. Für junge Mediziner, die weder als Gelehrte noch als behandelnde Ärzte arriviert waren, konnte sich die Risikobereitschaft auszahlen. Antoine Deidier (gest. 1746), der während der Epidemie von 1720 – 1722 nach Marseille ging, bündelte seine Erkenntnisse in gelehrten Traktaten und knüpfte Beziehungen zu hochkarätigen Kollegen, die aus ganz Europa 111 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 255 Abb. 3: Ein Pestarzt in seiner Schutzkleidung. Schon im 17. Jh. kursierten ähnliche Abbildungen. Die Bildunterschrift behauptet, hier werde François de Chicoyneau (1672 – 1752), Kanzler der medizinischen Fakultät der Universität zu Montpellier und Leibarzt von Louis XV., dargestellt, der während der schweren Epidemie von 1720 nach Marseille entsandt wurde. Die Marseiller Ärzte selbst behaupteten dagegen, gänzlich auf Schutzkleidung zu verzichten. Sie waren davon überzeugt, daß die Ansteckung nicht durch Kontakt mit den Kranken erfolgte. Schreiben an die verantwortlichen Mediziner in Marseille richteten. Die anschließenden medizinischen Kontroversen verschafften seinen Arbeiten eine Wahrnehmungsqualität, die seinen beruflichen Aufstieg zweifellos begünstigte. Nach der Epidemie wurde er Professor in Montpellier, an einer der international angesehensten medizinischen Fakultäten. 112 256 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT Auch in der Gruppe der Kleriker tun sich Differenzen auf. Bischöfe verließen ebenso wie Herrscher ihre Sitze und ergriffen die Flucht. Der Mailänder Bischof Carlo Borromeo war eine eher seltene Ausnahme davon. Dienst an den Kranken taten vor allem Vikare und Kapläne. Die höher gestellten Geistlichen vom nicht residierenden Pfarrklerus aufwärts konnten sich weitgehend von den Kranken fernhalten, ohne ihre Amtspflichten unmittelbar zu verletzen.24 Soziale Differenzen tun sich auch auf protestantischer Seite auf. In größeren Städten wurden während einer Epidemie neben den vorhandenen Pastoren besondere Pestprediger angestellt. Wie bei den Pestärzten handelte es sich hier vorwiegend um junge Männer, die noch auf der Suche nach einer Pfarrei waren und im persönlichen Risiko nicht nur ihren Glauben unter Beweis stellen wollten, sondern auch eine Chance zum schnelleren Aufstieg erkannten.25 Hier wie meistens würden moralische Bewertungen, die manche Historiker eilig in den Vordergrund schieben, zu kurz greifen. Die Aufgabenteilung zwischen fest installierten Pastoren und Pestpredigern war gesundheitspolitisch im Sinne der Trennung zwischen Gesunden und Kranken. Ein Pastor, der ständig zwischen ihnen pendelte, stellte ein öffentliches Gesundheitsrisiko dar. Ärzte und Kleriker besaßen im Lesen- und Schreibenkönnen eine Fähigkeit, die zur Voraussetzung wurde, daß ihre Stimme in gedruckten und handschriftlich überlieferten Predigten, Hauschroniken, Tagebüchern und Briefen noch heute vernommen werden kann. Andere hingegen – es ist die Mehrzahl – blieben stumm. Zu ihnen gehörten die Totengräber. Um das Massensterben zu bewältigen, wurde ihr Personal während Epidemien beträchtlich erweitert. Sie holten die Leichen aus den Häusern und von der Straße und wurden für diese lebensgefährliche Tätigkeit meist teuer entlohnt. Ihre Arbeit war entsetzlich, nicht nur wegen des Verwesungsgestanks der Leichen, sondern auch wegen des Hasses der Verwandten, den sie auf sich zogen, wenn sie in die unter Quarantäne stehenden Häuser eindrangen, um die Leichen zu bergen. Für die Verrichtung einer solchen Arbeit waren vor allem soziale Außenseiter prädestiniert, denn hier spätestens endete jede bürgerliche Freiwilligkeit. In Paderborn unternahm man noch 1625 den Versuch, die Beerdigung der Pestleichen über die Handwerks-Korporationen zu organisieren. Die Gildenbrüder sollten die Verstorbenen aus ihrem Kreis durch eigene Träger zu den Gräbern transportieren. Die Auseinandersetzungen, die um dieses Los zwischen Rat und Gilden sowie innerhalb der Gilden ausgetragen wurden, führen wiederum Mechanismen sozialer Differenzierung vor Augen. Vorgesehen waren zunächst die jüngsten und am wenigsten privilegierten Gildemitglieder, die in den Ratsprotokollen namentlich genannt werden. Deren Proteste beim ›Antritt‹ am Rathaus führten dazu, daß ihnen Aufschub und Gelegenheit gegeben wurde, Ersatz zu verschaffen. Daraufhin wurden Träger rekru- 113 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 257 tiert, die für ihren Dienst teuer entlohnt wurden und Rechte wie eine einjährige Freiheit oder die Bürgerschaft erwerben konnten.26 Es handelte sich um Randfiguren, deren soziale Stellung so niedergedrückt war, daß sie für deren Verbesserung einen lebensgefährlichen Einsatz zu leisten bereit waren. Am Paderborner Beispiel kann man studieren, wie eine frühmoderne Stadtbürgergesellschaft ihre Ausschlußmechanismen in der Ausnahmesituation zur Risikovermeidung einsetzte. Wer das Risiko auf sich nahm, konnte in die Gemeinschaft aufgenommen werden oder sein Leben verlieren. Nicht immer gab es genug Männer, die dazu bereit waren. In Wien wurden die vom Tod gelichteten Reihen der Leichenträger im Laufe der Epidemie von 1679 schließlich sogar mit Gewaltverbrechern aufgefüllt. Die Totenträger standen nicht immer grundlos in schlechtem Ruf, was auch für das Dienstpersonal in den Lazaretten galt. Diebstahl scheint hier an der Tagesordnung gewesen zu sein. Häufig entwickelte sich eine korrupte Schwarzmarktökonomie: Wenn der Versorgungsnotstand in einer Stadt ausbrach, erschien es manchem profitabler, die Mahlzeiten der Sterbenden und die Medikamente, die unentgeltlich an die Armen verteilt werden sollten, an zahlungskräftige Interessenten zu verkaufen. Ohnedies waren die Pestspitäler in den Monaten des Massensterbens vom Mangel beherrscht. Verpflegung und ärztliche Versorgung brachen zusammen. Wer hier eingeliefert wurde, war zum Tode verurteilt. Schon Giovanni Boccaccio hat die soziale Sprengkraft der Pest beschrieben, das Ende der Loyalität sogar unter Freunden und Verwandten, das allgegenwärtige Mißtrauen. Dieses Mißtrauen konnte sich zu einer Wahrnehmungsqualität mit kollektivpsychotischen Dimensionen ausweiten und in Verschwörungstheorien verdichten. Nach dem ›Schwarzen Tod‹ hatten Juden und Lepröse als Sündenböcke herhalten müssen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es den Nachzehrerglauben. Bei den Nachzehrern handelte es sich um lebende Tote. In ihren Gräbern aßen sie das Leichentuch auf und entzogen den Lebenden damit ihre Kraft, und solange dies anhielt, nahm das Sterben kein Ende. Das war die Vorstellung, die tatsächlich dazu führte, daß manche das Schmatzen von den Gräbern her zu hören meinten, daß man Leichen ausgrub und ihnen die Kehle durchschnitt. Lebende Opfer forderte die Vorstellung der pestis manufacta, der von Menschenhand gemachten Pest. Für die Behauptung, eine Pestepidemie könne von Giftmischern durch Anschmieren pestilenzischer Salben an Stühle, Bänke und Wände öffentlicher Gebäude oder direkt an einzelne Menschen ausgelöst werden, gibt es schon antike Belege bei Livius und Augustin.27 Auch der international renommierte Chirurg Ambroise Paré hielt dies als Ursache für die Pestepidemie, die er 1564/65 in Lyon erlebte, für möglich.28 In Casale wurden 1536 nicht weniger als vierzig angebli- 114 258 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT che »Einschmierer« hingerichtet. Die Idee scheint selbst wie eine Epidemie durch Europa gezogen zu sein: in Brüssel 1556, im Piemont 1564 und 1672, in Padua 1555, in Anvers 1571, in Palermo 1575, in Savoyen 1587, in der Dauphiné 1591, in Turin 1599 und 1630, in Toulouse 1542 und 1629, in Saint-Lô 1626, in Forez und Thiers 1628, in Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges kam es zu Verdächtigungen gegen mutmaßliche Pestsalber. Die Mailänder Prozesse von 1630, die durch Manzoni berühmt wurden,29 sind also alles andere als Einzelfälle. Die Vorstellung der Salbenschmierer wirkte sich vielleicht nirgendwo so nachhaltig aus wie im calvinistischen Genf. 1530 wurden ein Apotheker, seine Frau und weitere Personen hingerichtet, weil sie angeblich die Seuche durch infizierte Taschentücher verbreitet hatten. Später verband sich die Vergiftungsthese mit Vorstellungen vom Hexensabbat. In einer als »Synagoge« bezeichneten Versammlung sollten die Anhänger der teuflischen Sekte zwei Büchsen erhalten haben, die eine mit einer giftigen Salbe, die andere mit einem Pulver gefüllt, das wie ein Antidot eingesetzt werden konnte. Indem die Teufelsanhänger die Salbe an verschiedenen Lokalitäten verteilten – so lautete der Vorwurf –, hätten sie die Pest in der Stadt verbreitet. Bis ins 17. Jahrhundert hinein führten Pestepidemien zu Hexenverfolgungen in Genf. 1545 wurden 29 Personen hingerichtet, 13 im Zeitraum zwischen 1567 und 1569; 1571 dann – in der schweren Hungerkrise Anfang der siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts, als die Pest nach kurzer Unterbrechung erneut zu grassieren begann – wurden gar 36 Frauen und Männer ins Jenseits befördert; sechs waren es noch im Jahr 1615.30 Im Mai 1571 hieß es in einem Brief aus Genf: »wir wüssend, daß wir mitt der pestilentz vmb vnserer sünden willen gstrafft sind, aber ietz hand wir verstanden wiß [die Weise, F. M.] vnd maaß, wie söliche straff volfürt ist. In disem Meien hatt man 19 hexen lebendig verbrent [...]«.31 Manzoni hat den Wahn so zu erklären versucht: Es sei leichter, die Übel einer Pestepidemie auf menschliche Verworfenheit zurückzuführen, an der man sich rächen könne, »als ihre Ursache in etwas zu suchen, dem gegenüber man sich nur in sein Schicksal ergeben kann«.32 In Mailand begannen die Verdächtigungen damit, daß im Dom merkwürdige Ingredienzien auf den Bänken entdeckt wurden. Einige Tage später wurden Schmierereien an Häusern beobachtet. Es mag übrigens sein, daß hier wie im Falle der echten und fingierten Anthraxpulver-Postsendungen, die in den Vereinigten Staaten und dann auch in Europa nach dem 11. September 2001 verschickt wurden, ›Trittbrettfahrer‹ am Werk waren. Katastrophen lösen nicht nur Angst, sondern allzuoft auch das zynische Spiel mit der Angst aus. Der erste konkrete Verdächtige, der von den Mailänder Behörden zum Verhör vorgeladen wurde, war ein Totengräber namens Piazza. Er gehörte zu einer der stets verdächtigten Gruppen, denen ein Profitinteresse am massenhaften Sterben unterstellt wurde. Piazza hielt der Folter stand, sagte aber, 115 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 259 nachdem ihm Straffreiheit versprochen worden war, aus, er habe tatsächlich Salben verstrichen, die er zuvor von einem Barbier erworben hatte. Die damit gelegte Spur führte durch weitere Verhöre zu neuen Beschuldigungen und Geständnissen unter der Folter, so daß schließlich ein ganzes Netzwerk von Salbenschmierern aufgedeckt schien. Piazza und eine Reihe angeblicher Mittäter wurden hingerichtet, ihre Leichen verbrannt, die Häuser ihrer verbannten Familien geschleift. Nichts sollte von ihnen übrigbleiben. Die Verschwörungstheorien reichten über die in den Prozessen Verurteilten, die meist den Unterschichten angehörten, noch hinaus. Außer Minderheiten und Randgruppen wie den Zigeunern galten auch militärische Feinde und Fremdherrscher stets für jede Art von Vergiftungen als verdächtig. In Mailand waren dies die Franzosen, in Neapel 1656 die Spanier. Umgekehrt führten in Spanien die Mailänder Vorfälle von 1630 zu der Befürchtung, daß Italiener mit Hilfe der in Mailand hergestellten Ingredienzien die Epidemie auf Spanien ausweiten wollten, wie es in einem Schreiben des Königs nach Barcelona hieß.33 Eine Art biologischer Kriegführung hatten 1347 schon die tartarischen Belagerer von Kaffa an der Schwarzmeerküste praktiziert, die ihre eigenen Pestopfer buchstäblich in die Stadt katapultierten. So abwegig also war der Gedanke nicht, zumal es mit gängigen medizinischen Theorien vereinbar war anzunehmen, daß Salben, die angeblich aus Tierexkrementen und dem Ausfluß aufgeschnittener Pestbubonen hergestellt wurden, infektiös wären. ›Pestregiment‹ und Resistenz Das gesellschaftliche Chaos, das der ›Schwarze Tod‹ angerichtet hatte, als er Mitte des 14. Jahrhunderts über Europa herfiel, blieb als Schreckbild des gesellschaftlichen Zusammenbruchs in Erinnerung. Eine Druckschrift von 1720, veranlaßt durch die große Epidemie in Marseille und der Provence, beschrieb die Pest als ein »scharffschneidendes Messer/welches nicht nur in wenigen Stunden und Tagen den Lebens = Faden ab = sondern das Band der Menschlichen Gesellschaft entzwey schneidet«.34 Um dieser Gefahr zu begegnen, etablierten spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Obrigkeiten in Stadt und Land Regeln für den Notstand, die ein wichtiger Bestandteil der Katastrophenbewältigung wurden. Sie erließen ›Pestordnungen‹. Man sprach auch vom »Pestregiment«. Als »Pestregimina« wurden auch gedruckte Ratgeber bezeichnet, die Verhaltensregeln für die Ausnahmesituation formulierten. Die Pest herrschte im doppelten Sinne: Als Epidemie und als eine durch sie vorübergehend erzwungene Gesellschaftsordnung eigener Art. Erst so wurde die Ausnahmesituation zum Zustand, in dem sich so etwas wie eine ›sekundäre Normalität‹ 116 260 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT etablieren konnte.35 Die bereits erwähnten Risikogruppen waren in dieser ›Normalität zweiter Ordnung‹ mit besonderen Aufgaben betraut und prägten das Bild einer Gesellschaft im Ausnahmezustand mit. Dieser Zustand war buchstäblich durch eigene Gesetze geprägt, die die gewöhnliche bürgerliche Wertordnung außer Kraft setzten, in mancher Hinsicht sogar auf den Kopf stellten. Versammlungsverbote, Isolation und Quarantäne bedeuteten ebenso eine Einschränkung der Freizügigkeit wie die Zwangsüberführung der Kranken in Pesthospitäler. Die Verbrennung von Kleidung, Wohnungseinrichtungen, ja manchmal sogar ganzer Häuser war ein Angriff auf das Eigentum. Die Beerdigung der Pesttoten in Massengräbern stellte die Erinnerungskultur des Individualgrabs in Frage, löste die Heilsgemeinschaft zwischen Lebenden und Toten auf und ersetzte sie durch einen »Tod ohne Zukunft« (E. LEVINAS), ohne Gedächtnis und Fürbitte. Das Begräbniszeremoniell wurde, sofern überhaupt noch vorhanden, auf ein Minimum beschränkt. Das massenhafte Sterben erzwang die Beisetzung in Massengräbern jenseits des Kirchhofs, oft sogar jenseits der Stadtmauern. So verfuhr man sonst nur mit den sterblichen Überresten von Tieren, gesellschaftlichen Außenseitern, Selbstmördern, Gotteslästerern oder Verbrechern. Das war entwürdigend. Eine nachträgliche Kompensation wurde durch die Markierung der Pestfriedhöfe mit Gedenksteinen geschaffen und durch Prozessionen, die zu ihnen hinaus vor die Tore der Stadt führten. Das ›Pestregiment‹ bot also reichlich Stoff für Konflikt, und immer wieder leisteten Betroffene Widerstand. Es gab Fluchtversuche aus der Isolation, wie Defoe sie in seinem Journal schilderte, Akte, oft gewalttätige Akte, des verzweifelten Ausbruchs. Vor Gericht wurde Entschädigung für vernichtetes Eigentum verlangt. In der schwedischen Provinz Blekinge ›plünderten‹ im Jahr 1710 aufgebrachte Gemeindemitglieder den auf einem nahegelegenen Hügel errichteten Pestfriedhof, den sie als Wolfsgrube bezeichneten, und überführten die Exhumierten auf den Friedhof der Ortskirche. Auch geheime Totengräber wie Per Månsson in der Provinz Småland 1730/31 taten sich hervor. Nachdem er seine Frau und seine Kinder beerdigt hatte, bot er den Familien anderer Pestopfer seine Dienste an und setzte das Risiko, das er damit auf sich nahm, in Profit um, was mit seiner Bestrafung endete.36 Natürlich kam es auch andernorts, nicht nur in Schweden, zu Verstößen gegen die Notstandsordnungen. Zur Epidemie in Florenz 1630 – 1633 verzeichnen die Kriminalakten nicht weniger als 332 Verfahren.37 Diese wenigen Impressionen widerspiegeln nur unzureichend, wie verwirrend vielfältig das Bild des Ausnahmezustands in Europa war. Auch darin, wie durch die Pest die gesellschaftliche Ordnung umgekrempelt und beherrscht wurde, gab es keine Gleichheit, wenn auch viele Parallelen von einem Ort zum anderen. Legt man die zweifelhafte, in jedem Falle aber anachronistische Einteilung Europas in die heuti- 117 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 261 gen Nationalstaaten zugrunde, so zeichnet sich, bei allem, was wir heute wissen, ein Süd-Nord-Gefälle in der Pestbekämpfung ab.38 In den italienischen Handelsstädten und auf der Iberischen Halbinsel betrachteten Obrigkeiten Gesundheit schon in den 1290er Jahren als legitimes öffentliches Anliegen.39 Italien war Deutschland und England in nahezu allen Belangen der Pestbekämpfung, bei einzelnen Maßnahmen sogar um hundert Jahre voraus. Der Erfolg ist im einzelnen äußerst umstritten und war es schon unter den Zeitgenossen. Defoe etwa übte eine scharf moralisierende Kritik an der häuslichen Isolation der Kranken und der Mitverurteilung, die sie für die gesunden Bewohner eines Hauses bedeutete. Not und Zwang waren bei einer Verlegung ins Spital für die Betroffenen jedoch kaum weniger grausam. Handelssperren gegen befallene Regionen und Städte waren verständliche Maßnahmen des Selbstschutzes, spitzten aber die Katastrophenlage noch zu, wenn die Versorgung nicht mehr gewährleistet war. Betrachtet man die langfristigen Auswirkungen der Maßnahmenpolitik, so erscheint die These plausibel, daß die Pesterfahrung in Europa Anteil am Prozeß moderner Staatsbildung hatte. Die organisatorischen Anforderungen führten an vielen Orten, zuerst in Italien, zu dauerhaften Einrichtungen wie den permanenten Sanitätsräten oder zum Bau von Spitälern. Andererseits hatte der Staatsbildungsprozeß auch Anteil an der Pestbekämpfung. Erst die stehenden Heere des 17. Jahrhunderts ermöglichten die Kontrolle großräumiger cordons sanitaires. Der Ausbau staatlicher Verwaltung unter dem Absolutismus führte überhaupt zur Ausweitung politischer Planung und ihrer administrativen Durchsetzung. Staatsbildung und Pestbekämpfung sind also sich gegenseitig bedingende Prozesse. Das Ende der Pest In die Frühe Neuzeit (ca. 1500 – 1800) fällt das Ende der Pest in Europa. 1668, noch im Gefolge der Great Plague in London, trat sie letztmalig in England auf. Schottland erreichte sie schon seit 1647 nicht mehr. 1670 kam sie auf dem Gebiet der heutigen Beneluxstaaten, 1679 im westlichen Teil Deutschlands und der Schweiz, 1711 in Spanien, 1712 in Skandinavien, 1714 in Nord- und Zentralitalien, 1716 in den Habsburger Ländern zum Stillstand. Marseille 1720 – 22 war der letzte große Ausbruch der Epidemie im westlichen Teil Europas. Im Osten hielt sie sich noch länger. Mörderisch war ihr Ausbruch 1770 in Moskau. 1828/29 und 1841 war der Balkan betroffen. Vereinzelte Pestfälle gab es zwar nach 1720 auch im Westen immer wieder, sie erreichten jedoch keine epidemischen Ausmaße mehr. Lange vor Entdeckung des Pesterregers durch Kitasato und Yersin und noch länger vor Entdeckung einer erfolgreichen medizini- 118 262 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT schen Behandlung mit Antibiotika also zog sich die Krankheit von der europäischen Bühne zurück. Da eine erfolgreiche medizinische Bekämpfung in der Frühen Neuzeit nicht möglich war, haben Historiker anderen Selbstschutzmechanismen frühmoderner Gesellschaften große Bedeutung beigemessen, insbesondere den Quarantänemaßnahmen und Pestcordons. Cordons sanitaires gab es 1647 in Spanien, 1668 rund um Paris, 1680/82 an der Elbegrenze von Braunschweig-Lüneburg, 1709 in Preußen oder 1720 rund um Marseille. Vor allem die zunehmende Abschottung des europäischen Raums gegenüber jenen Regionen, in denen die Pest endemisch ist (Afrika und der Orient in erster Linie), scheint Wirkung gezeigt zu haben. Für die italienische Halbinsel, Großbritannien, Spanien, die Niederlande und Südfrankreich waren vor allem Hafenstädte für den Pestimport verantwortlich. Für eine erfolgreiche Prävention kam etwa in Genua, Venedig, Marseille, Amsterdam oder London alles auf die strenge Durchführung von Quarantänemaßnahmen an. Im Osten richtete Österreich vom Karpatenbogen bis zur Küste des Adriatischen Meeres einen mehr als 1900 km langen Cordon ein, der als militärisches ebenso wie als seuchenpolitisches Frühwarnsystem diente. Aus heutiger Sicht, d. h. unter der problematischen Voraussetzung eines Krankheitsbildes, das von der neueren Medizin entwickelt wurde, gab es eine Vielzahl von Maßnahmen, die wirkungslos oder gar kontraproduktiv waren. Durch das Abschlachten ganzer Haustierpopulationen von Hunden und Katzen, wie es 1665 in London betrieben wurde, sollte verhindert werden, daß die giftigen Körperdünste im Fell der Tiere von einem Haus ins andere getragen würden. Tatsächlich drohte von daher jedoch keine Gefahr, während man insbesondere mit den Katzen natürliche Feinde der Ratten und Mäuse tötete. Umstritten ist, ob die Einlieferung der Infizierten in Pestspitäler eine erfolgreichere Maßnahme zur Eindämmung einer Epidemie darstellte als die häusliche Isolierung. Die Sterbeziffern sprechen hier keine eindeutige Sprache. Sicher scheint nur, daß die Einlieferung in ein Spital einem Todesurteil gleichkam, während andererseits die Überlebenschancen der Familienangehörigen und Mitbewohner von Infizierten, die dann separat unter Quarantäne gestellt wurden, stiegen. Die möglichen Gründe für das Ende der Pest in Europa sind vielfältig, schwer gegeneinander abzuwägen und daher umstritten. Neben Quarantänemaßnahmen, der Verbesserung der Hygiene in den Städten oder der Verdrängung von Holz- durch Steinbauten, die weniger rattenfreundlich waren, werden immer wieder biologische Theorien angeführt, deren Tragweite nicht nur für Historiker schwer zu beurteilen ist. Gab es eine Immunisierung der Ratten gegen die Pest durch den Pseudotuberkulosebazillus? Fand eine Verdrängung der schwarzen Hausratte, des Rattus rattus, 119 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 263 durch die Wanderratte, Rattus norvegicus, statt, die als Wirt für Pestflöhe nicht in Betracht kommt? Die These, daß der Wandel von Rattenpopulationen innerhalb Europas für das Ende wie schon für den Beginn der europäischen Pandemie (seit 1347/48) verantwortlich sei, ist von einigen Historikern bestritten worden.40 Kann dem Rattenfloh (Xenopsylla cheopis) für Europa überhaupt die Bedeutung zugemessen werden, die ihm für die Übertragung und Ausbreitung der Krankheit während der von Yersin und anderen in Ostasien beobachteten Epidemien zukam? Vieles spricht dafür, daß der Menschenfloh (Pulex irritans) im europäischen Raum eine epidemiologisch bedeutendere Rolle spielte und folglich die Infektionskette MenschMenschenfloh-Mensch für die Ausbreitung der Pest in vielen Fällen, vielleicht ihrer Mehrzahl, tragend war. Möglicherweise aber stellt sich alles noch viel komplizierter dar, wenn man berücksichtigt, daß mehr als hundert Flohspezies als Überträger in Frage kommen. Bei der Yersinia pestis steht immer das Rattensterben am Anfang der Kette. Camus hat es in seiner literarischen Schilderung der Epidemie im nordafrikanischen Oran beschrieben: Die Ratten kriechen in einer Art Fieberwahn aus ihren Löchern und taumeln auf die Straßen, wo sie verenden. Das Rattensterben hätte eigentlich eine signifikante Wahrnehmungsqualität sein müssen. Im Schrifttum des Hindustan wurde es schon vor mehr als 800 Jahren mit der Pest in Verbindung gebracht. Die Bewohner von Gharwal und Kumaon im indischen Himalaya, einem Endemiegebiet, verfolgen seit langem – auch ohne die Kenntnis biologischer Infektionsketten – die Verhaltensmaßregel, ihre Dörfer für einen Monat zu verlassen, wenn sie eine ungewöhnliche Sterblichkeit der Ratten beobachten. Nichts dergleichen findet sich in europäischen Zeugnissen. Ratten werden nur vereinzelt im Zusammenhang mit Pestepidemien erwähnt. Defoe schreibt an der Stelle, wo er von der Tötung der Hunde und Katzen berichtet: »Alle möglichen Anstrengungen wurden auch unternommen, um die Mäuse und Ratten zu vertilgen, besonders die letzteren, indem man Rattengift und anderes für sie auslegte, und auch von ihnen wurde eine Unmenge vernichtet«.41 Wurde das Rattensterben hier erst durch Gift herbeigeführt, oder verdeckte die Vergiftung nur die Tatsache, daß die meisten Ratten an der Pest starben? Ist es denkbar, daß eine so signifikante Beobachtung wie der massenhafte Tod dieser Nager vor einer Epidemie in den Städten Europas niemals in Beziehung zum anschließenden Menschensterben gesetzt wurde? Oder müssen wir hier eben doch anderen Übertragungswegen Vorrang geben? Ob Ratten- oder Menschenfloh: Vom Floh als Überträger ahnte man nichts, obwohl einigen Ärzten die winzigen roten Pusteln am Körper der Kranken, die von Flohbissen herrührten, auffielen. Flöhe gehörten zum Alltag. Robert Hooke (1635 – 1703) gab ihnen in seiner Micrographia mit Hilfe des Mikroskops ein vergrößertes 120 264 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT und erstmals gut erkennbares Aussehen (Abb. 4). Aber noch wußte er nichts von der Starrolle, die diesen blutrünstigen Tierchen in der Pesttragödie zukam, die sich über viele Jahrhunderte wiederholt in Europa abspielte – auch in London, an eben dem Ort und in eben dem Jahr 1665, da das Werk Hookes im Druck erschien. Auch der Prediger und Dichter John Donne (1572 – 1631) ahnte nichts, als er, sicher guten Gewissens, das folgende Gedicht niederschrieb: The Flea Mark but this flea, and mark in this, How little that which thou deny’st me is; It sucked me first, and now sucks thee, And in this flea our two bloods mingled be; Thou know’st that this cannot be said A sin, nor shame, nor loss of maidenhead, Yet this enjoys before it woo, And pampered swells with one blood made of two, And this, alas, is more than we would do. Oh stay, three lives in one flea spare, Where we almost, nay more than married are. This flea is you and I, and this Our marriage bed and marriage temple is; Though parents grudge, and you, we’re met And cloistered in these living walls of jet. Though use make you apt to kill me, Let not to this self-murder added be, And sacrilege, three sins in killing three. Cruel and sudden, hast thou since Purpled thy nail in blood of innocence? Wherein could this flea guilty be Except in that drop which it sucked from thee? Yet thou triumph’st, and say’st that thou Find’st not thyself nor me the weaker now. ‘Tis true; then learn how false fears be; Just so much honour, when thou yield’st to me, Will waste as this flea’s death took life from thee. 121 PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 265 Abb. 4: Die erste detailgenaue Abbildung eines Flohs erschien in Robert Hookes Micrographia, die 1665, im Jahr der Great Plague, in London gedruckt wurde. Die Koinzidenz ist zufällig, denn weder Hooke noch die Ärzte des 17. Jh. dachten an eine Beziehung zwischen den Blutsaugern und der Pest. Erst seit dem 19. Jh. wird die Ansteckung durch die Bubonenpest auf Flohbisse zurückgeführt. 122 Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year (1722) [...] 123 124 125 126 127 128 129 [...] aus: Defoe, Daniel. A Journal of the Plague Year (Ein Bericht vom Pestjahr, übersetzt von Ernst Betz, Carl Schünemann Verlag Bremen, 1965 130 5: Spiel Text = muss d. Wasser sein, in dem ihr (actors) euch bewegt (schwimmt) (dies als Voraussetzung der (Theater)-arbeit, statt, wie üblich, als angestrebtes Resultat. Heiner Müller Über Text, Fatzermaterial; Theater Angelus Novus Texte müssen zu einer Realität werden, die nicht einfach abbildet, sondern die Sehnsucht oder Ahnung eines möglichen anderen nahe bringt. Dafür muss der Rahmen des Theaters, der ja schon durch die Theaterbauten, also die politischen Strukturen, vorgegeben ist, gesprengt werden. Der Text darf nicht als Mitteilung, als Information transportiert werden, sondern muss eine Melodie sein, die sich frei im Raum bewegt. Jeder Text hat einen Rhythmus, zwar nur unterschwellig, aber doch so spürbar, dass er wie bei einem Popkonzert vom Körper aufgenommen wird. Das ist die Qualität, die das Theater wieder bekommen muss, aber dazu braucht es sehr gute Texte. Gute Texte leben von ihrem Rhythmus und strahlen ihre Information über diesen Rhythmus ab, und nicht über die Mitteilung. In der elisabethanischen Renaissance hat man die Shakespeare-Stücke, die heute ungestrichen in vier bis fünf Stunden aufgeführt werden, in zwei, maximal zweieinhalb Stunden abgespult. Es war nur Rhythmus, alles war nur Beat. Niemand hat darüber nachgedacht, was jetzt mit diesem oder jenem Satz gemeint ist – das konnte man ja hinterher, wenn man ein Bedürfnis empfand. Auch das ist ein Negativprodukt von Aufklärung – dass die Leute ständig meinen, sie müssten etwas verstehen im Theater. Aber der Kopf gehört nicht ins Theater, denn dann macht man keine Erfahrung. Erfahrung kann man nur blind machen. Und ein wichtiges Charakteristikum der europäischen Kultur ist der ständige Versuch, den Menschen die Fähigkeit abzutrainieren, Erfahrungen zu machen. Überall werden Zwischenschaltungen eingebaut, damit zwischen der Sache und dem Menschen keine unmittelbare Beziehung entsteht [...] Einar Schleef FAUST DROGE PARSIFAL Tempoanziehen, Tempodehnen. Bei den ausgedehnten Tischproben zu meinen Inszenierungen versuche ich die jeweilige Sprachmelodie des Autors aufzuspüren und diese dann bei den unterschiedlichen Sprechern herauszuarbeiten, damit das Sprachbild dieses speziellen Autors erscheint und sich von dem anderer Autoren absetzt. Ein Ideal für die Umsetzung eines Autors wäre, wenn alle Sprecher „eine“ Sprache sprechen würden, die sich nur durch Färbung, Intonation und Sprachführung von einander unterscheidet, inhaltlich und darstellerisch aber gleich ausgerichtet ist. Das dieses Ideal in einigen Theaterepochen angestrebt worden ist, belegt die Konzentration der Entwicklung des Sprechtheaters um bestimmte Autoren, die die jeweilige Theaterperiode mit ihrer Sprache und deren Darstellungsweise prägen. (92) Hat man von dieser Notierung keine Ahnung, so muss man laut lesen und sich selber zuhören, z.B. RÖMISCHE ELEGIEN. Man braucht überhaupt kein Ahnung vom Vers zu haben, beim zehnten laut Lesen wird man feststellen: 1. Dass die Anfangszeilen immer schneller als die Endzeilen sind, dass zum Ende hin eine Tempodehnung ist, so als müsse man jedes Wort einzeln aussprechen, ja die Worte in sich trennen, um sie bedeutsamer zu machen, denn auf jedem einzelnen Wort liegt die Bedeutung. 2. Dass die Stimme mit Tempoanzug hell werden muss, mit Tempodehnung dunkel, das kommt sowohl aus der Bedeutung des einzelnen Wortes als auch aus dem Gesamtgefüge, das besonders gegen Ende hin die Dunklung verstärkt. (93) 131 Ob historisches Stück oder Gegenwartsstück, der Definitionscharakter der Sprache ist verloren. Sprache ist nicht mehr Grund, sondern Begleiterscheinung. Sprache benennt nicht mehr, sondern umschreibt, verliert ihre Künstlichkeit, ein wichtiger Aspekt in der Unterscheidung zu Film und Fernsehen, sucht stattdessen Natürlichkeit, die die sprechenden Figuren nie haben, verliert in dieser Angleichung an Substanz, an unterwühlender Kraft. Damit werden die Figuren liquidiert, sowohl die toten als auch die lebenden. Die Behauptung der Senkrechten wird nur noch als umständlich angesehen, als lästiger Versuch Pathos zu behaupten, als Störelement, das eine allgemeine Duckung irritiert. Pathos wir als falsch, überholt, verlogen, leer, dumm bezeichnet, dagegen eine Menschelei behauptet, die die Künstlichkeit des Pathos bewusst niederknüppelt. Damit hat die Theatersprache, die Sprache, die sich gegenüber Zuschauern artikuliert, im Voraus verloren. Die Diskreditierung des Pathos, die verständlicherweise aus den politischen Gegebenheiten resultiert, ist jetzt reaktionäre geworden, genauso wie sich die Pathos-Behauptung in anderen politischen Gegebenheiten als reaktionär erwies. Diese Beobachtung, Feststellung ist für Darsteller und Autor von Wichtigkeit, da sie eine Korrektur der theaterpraktischen Mittel notwendig macht, genauso wie man sich technischen Neuerungen anpasst, seine Werkzeuge nachrüstet. (99) Wie der Autor die Figuren aus sich herausschickt, so auch deren Sprachen, die alle einen Autor gehören, alle einem Sprachvermögen, alle eine Sprache sprechen. Der normale Sprechtheaterbetrieb ignoriert bewusst diese Zugehörigkeit, die Verbindung der Figuren untereinander, umgeht eine gemeinsame Sprache, versucht die Figuren brutal zu individualisieren, sie damit ihres zusammenhängenden Sprachkörpers zu berauben und untereinander zu isolieren. Die so hergestellten „Kunstmenschen“ gehören zwar dem Titel nach noch dem Autor, möchten aber als Sprache, als Figur autonom erscheinen. Diese falsche Autonomie ist zerstörerisch. Die Existenz des Vers-Dramas verbietet solche Individualisierungen. Jedem Darsteller müsste das klar sein, trotzdem wird der Sprachleib egoistisch zerstückelt, die vorgegebene, streng durchzuführende Vers-Form aufgebrochen. Diese Fehlversuche verursachen Splitter, mahlen willentlich die großangelegte Kontur eines Werkes, eines Gedankengangs klein. Der Autor wird von den Darstellern vernichtet. (101) Martin Heideggger Sprache und Sein Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, dass von ihm eine Wirkung ausgeht oder dass es angewendet wird . Das Denken handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das Einfachste und zugleich das Höchste, weil es den Bezug des Seins zum Menschen angeht. . . Die überall und rasch fortwuchernde Verödung der Sprache zehrt nicht nur an der ästhetischen und moralischen Verantwortung in allem Sprachgebrauch. Sie kommt aus einer Gefährdung des Wesens des Menschen. . .Der neuerdings viel und reichlich spät beredete Sprachverfall ist jedoch nicht der Grund, sondern bereits eine Folge des Vorgangs, dass die Sprache unter der Herrschaft der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität fast unaufhaltsam aus ihrem Element herausfällt. Die Sprache verweigert uns noch ihr Wesen: dass sie das Haus der Wahrheit des Seins ist. . . Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. Er muss in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muss, bevor er spricht erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, dass er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt. 132 Ernst Jünger Über die Vokale Wenn man diese Laute zunächst mit den Konsonanten vergleicht, so fällt das zartere und vergänglichere Leben auf, das ihnen innewohnt. In diesem Sinne bilden sie das eigentliche Fleisch der Worte und Sprachen, während durch die Konsonanten das festere Knochengerüst verkörpert wird. Daher werden auch durch die Veränderungen der Sprach, durch ihr Wachstum, ihre Wanderungen und ihren Verfall, die Vokale am ersten und leichtesten berührt. Sie wittern wie der flüchtige Lebensstoff am schnellsten aus dem Körper der Sprache heraus, während der härtere Panzer der Konsonanten oft durch Jahrhunderte hindurch und selbst über den mannigfaltigen Wechsel der Rassen, Völker und Sprachen hinweg seinen Zusammenhang bewahrt. 2 Der Vokal stellt also den vergänglicheren Stoff des Wortes dar. In ihm ruht die Farbe, während durch den Konsonanten die Zeichnung gegeben ist. Der Rhythmus besitzt eine konsonantische, der Akkord, ein vokalische Natur. – Es wird mit den Konsonanten aber auf den Vokal gereimt. Also auch hier fällt die Darstellung der Verschiedenartigkeit den Mitlauten zu. Diese Tatsache ist erstaunlich, wie alle einfachen Dinge erstaunlich sind: denn wenn man einen Menschen ohne alles Gehör, etwa einen Mondbewohner, als Axiom mitteilen würde, dass die Vokale die eigentlichen Träger des sprachlichen Lebens seien, so würde er daraus schließen, dass deren Spiel und Wechsel auch das stärkste Mittel des Ausdrucks ist. Worauf aber mag der höhere Rang des Vokals beruhen, der hier so deutlich wird? – denn es ist ein sicheres Kennzeichen des höheren Ranges, dass eine Kraft durch ihre Ruhe mehr als durch ihre Bewegung bewirkt. . . .Der Reim ist die Erinnerung an die gemeinsame Wurzel der Worte, bis zu der keine Sprachforschung jemals vordringen wird und die der Dichter in seine Träumen errät. 3 . . . In der Tat schmelzen die Bedeutungen der Lautsprache mannigfaltig ineinander ein, und unentwirrbar sind die Extreme der Leidenschaft. Wohl auf keinem Gebiet wird dies deutlicher als auf dem der Tragödie. Hölderlin sagt in einem übrigens nicht einfach zu entziffernden Absatz seiner Anmerkungen zum „Ödipus“, dass die Darstellung des Tragischen vorzüglich auf diesem Verhältnis beruhe, und oft stoßen wir in seiner Übersetzung dieses Trauerspiels auf Stellen, an denen die Gewalt des Schmerzes die Gefüge der Wortsprache vulkanisch zersprengt: Weh! Weh! Weh! Weh! Jo Dämon, wo reißest du hin? Jo Nachtwolke mein! du furchtbare, Umwogend, unaussprechlich, unbezähmet, Unüberwältigt! o mir, o mir! Das sind Laute, die an Götter und Steine gerichtet sind. 4 Jeder bedeutende Schmerz, auf welchem Gebiet er auch empfunden werden mag, drückt sich nicht mehr durch Worte, sondern durch Laute aus. Die Stätten der Geburt und des Todes sind von solchen Lauten erfüllt. Vielleicht haben wir sie in ihrer vollen Stärke um ersten Male wieder im Kriege vernommen – auf den nächtlichen, von den Rufen der Verwundeten erfüllten Schlachtfeldern, auf den großen Verbandplätzen und in der Erstarrung des jähen Todesschreies, dessen Bedeutung niemand verkenn. Das Herz empfindet dieses Laute anders als Worte; es wird gleichsam durch Wärme und Kälte unmittelbar berührt. Die Menschen werden sich hier sehr ähnlich; durch den großen Schmerz wird die Eigenart dessen, der ihn empfindet, zerstört. Ebenso werden die Besonderheiten der Stimme zerstört. Die Konsonanten werden verbrannt; die Laute des höchsten Schmerzes sind rein vokalischer Natur. 133 Aber nicht nur der Schmerz besitzt seine Lautsprache, sondern die Leidenschaft überhaupt. Liebe, Hass, Wut, Entsetzen, das Geschlecht, der Triumph des Sieges, die Klage des Untergangs, die hohe Begeisterung – sie alle haben ihre Laute, deren Kenntnis und Anwendung uns auf natürliche oder übernatürliche Weise durch Geburt gegeben ist. Sie alle umschließen nicht nur die Wortsprache, sondern dringen auch in sie ein. Wie oft erstaunt man, wenn man die großen Reden list, die die Geschichte uns überliefert hat und die die Hörer so unwiderstehlich begeisterten, über die völlige Nichtigkeit ihrer Inhalte. Freilich nimmt man, indem man das Verklungene liest, nur die ausgebrannte Hülse wahr, nicht aber das Feuerwerk der politischen Leidenschaft. Bei allen wesentlichen Begegnungen zwischen Menschen horchen wir durch die Wortbedeutung auf die reine Lautbedeutung hindurch. Wir erkennen den Feind besser an seiner Stimme als an dem, was er sagt. Aus diesem Grunde ist es schwieriger, in einem dunklen Zimmer zu lügen, als in einem beleuchteten. Die feinsten Ohren hat die Furcht, wie denn auch die furchtsamsten Tiere die Ohrentiere sind. Die besten Gespenstergeschichten zeichnen sich dadurch aus, dass man die Annäherung des Gefährlichen nicht sieht, sondern hört: und in der Schlacht wird man am heftigsten durch Geräusche erschreckt. Das Opfer erkennt seine Mörder bereits in dem Augenblick, in dem er es in ein Gespräch zu verwickeln sucht, und die Stimme, die uns das Todesurteil spricht, unterscheidet sich von allen anderen. In engen Wohnvierteln der großen Städte wird man zuweilen Zeuge jener Steigerung, mit der der reine Wortstreit sich zu ungezügelten Ausbrüchen des Hasses entflammt, und das Lautbild, das man so empfängt, gehört zu den Symbolen menschlicher Unzulänglichkeit. Unterschiede, die in der Sprache der Diplomaten so lautlos wie der Gang von Katzenpfoten sind, setzen sich auf anderen Ebenen im Jubel der Angreifer und im Geschrei der Sterbenden fort. So lassen sich beliebig Beispiele anführen für den Umfang, den die wortlose Sprache der Leidenschaft besitzt, und immer wieder erstaunt man über die Rolle, die der Vokal in dieser Sprache spricht. [...] 6 Wenn wir nun versuchen, die einzelnen Vokale in ihrer besonderen Beziehung zu den Leidenschaften zu betrachten, so finden wir bald, dass es hier an greifbaren Regeln fehlt. So teilen sich in das A und O sowohl die Lust als auch der Schmerz. . .Darüber hinaus besitzt nicht nur jeder einzelne Vokal eine große Spannweite, sondern die sinnliche Bedeutung der Vokale wandelt sich auch mit dem Unterschiede der Sprachen, der Dialekte, ja selbst der Stammeseigentümlichkeiten ab. . .Die Arten des Erstaunens und der Überraschung lassen sich überhaupt mit fast allen Vokalen zum Ausdruck bringen, ebenso die des Schmerzes, seltsamerweise aber nicht die des Glückes und der Lust. Ebenso wie die einzelnen Vokale in sich selbst, so weisen sie auch untereinander Spannungen auf. Innerhalb dieser größeren Spannung drängt sich die allgemeine Beobachtung auf, dass das A und das O den hohen und erhabenen Dingen zugewandt sind, während das E ein Mittellage beizubehalten strebt. An eine Welt des A und O schließt sich eine andere des I und U , und es klingen hier nicht nur die Unterschied zwischen Oben und Unten, Hoch und Tief, Flamme und Dunkelheit, sondern auch di zwischen Vater und Mutter an. . . In unseren Zurufen drücken das A und das O vor allem Zuneigung, Bewunderung, Beifall aus. Dem U und I dagegen sind Abneigung, Ekel, Verachtung und Angst zugeteilt. . . 7 Die verschiedenen Beziehungen der Vokale zu den Leidenschaften klingen naturgemäß auch in den Arten des Lachens und Weinens an. . . Als vollkommen angenehm empfinden wir eigentlich nur das Lachen auf A, weniger das auf O, während das E bereits bedenklich klingt und das Hämische streift. Als durchaus bösartig betrachtet man ganz allgemein das Lachen auf I, aus dem man Spott, Ironie, verhüllte Schadenfreude und Schlimmeres hört. Merkwürdig ist, dass man gerade dieses Gelächter, 134 das Kichern, häufig von gnomenhaften und verwachsenen, aber auch von ausgesprochen geistreichen Personen vernimmt. Auf U endlich lacht überhaupt kein Mensch. [...] 10 Das A, das in fast allen Alphabeten den ersten Platz behauptet, ist als der unbestreitbare König der Vokale anzusehen. Selbst dort, wo man es als reines Bedeutungszeichen verwendet, kündet es das Erste und Hervorragende an. Das A ist vielmehr der eigentlich väterliche Laut, das höchste und königliche Zeichen der Paternität, in ihm kling zugleich die Höhe und die umfassende Weite des Lebens und der Herrschaft an. Die Farbe, die wir für das A wählen würden, müsste das Purpur sein – ein Purpur, der an den tonlosen oder sich dem E nähernden Stellen allmählich verblasst. 11 Während im A der Gegensatz von Höhe und Weite ruht, tritt im O der Gegensatz von Höhe und Tiefe hervor. Das O ist der Laut der Aristokratie, die zugleich beschränkter und exklusiver ist als das väterliche Königtum. Unter den Farben scheint ihm die gelbe, unter den Metallen das Gold zugeordnet, was auch damit zusammenhängt, dass ihn ihm der eigentliche Lichtlaut zu erblicken ist. Das A ist der Adler, das O der Falke der tönenden Welt. Das anrufende O des Vokativs führt sich wohl auf Urformen der Verehrung zurück. . . 12 Wie dem A die Höhe und Weite, dem O die Höhe und Tiefe, so ordnet sich dem E die Ausdehnung der Ebene zu. Die beiden Reiche, die sich in diesem Laut begegnen und überschneiden, sind die des Leeren und des Erhabenen. Dem E steht die weiße Farbe zu; Wörter wie Meer und Schnee, See und Seele besitzen einen schimmernden Glanz. Dicht neben der Eigenschaft der höchsten Reinheit steht die des Langweiligen und Eintönigen, wie sie uns in Wendungen wie „Der Regen regnete“ sinnfällig wird. . . Unter den Elementen ist dem E vielleicht der Sauerstoff am engsten verwandt; es verfügt über einen hohen Grad an oxydierender Kraft. . . 13 Das Ei ist der Laut der heiteren Zauberei und der glänzenden Geheimnisse. Man kann sich diesen Laut schlecht einfarbig vorstellen. Seine strahlende Wirkung tritt besonders dort schön hervor, wo es gegen das eintönige Weiß des E abgesetzt erscheint, wo in Wörtern wie Edelstein, Elfenbein, Geschmeide. Unsere Sprache wendet das Ein mit Vorliebe in Nachsilben an, wie in -ei, -heit und -keit, und sie hebt damit die Bedeutung der Wörter empor, die sich durch die Nachsilben, in denen das U regiert, in die Tiefe versenkt . So vergleiche man Wortpaare wie Zufriedenheit und Befriedung, Weisheit und Weistum, Fürstenheit und Fürstentum, Zauberei und Bezauberung. 14 Neben dem Ei ist es nicht minder das Au, das unserer Sprache eine ganz bestimmte Färbung verleiht. Seine eigentümliche Kraft liegt darin , dass in ihm der höchste Vokal sich mit dem tiefsten durchdringt; dies ruft in der körperlichen Welt eine schattige Wirkung, in der geistigen ein Gefühl des Schwindels hervor, wie es uns im Nebeneinander von Höhe und Tiefe befällt. Für den einen Anklang nennen wir das Laub, für den anderen den Traum. Mit dem Helldunkel hängt zusammen, dass es sich bald heiteren, bald traurigen Stimmungen zuzuwenden vermag; der Wechsel ist das Bezeichnende. Auch scheinen das Helle und das Dunkle bald kräftig voneinander abgesetzt, wie wir es etwa in Raum, Rausch, gaukeln und schaukeln empfinden, bald schmelzen sie ineinander ein – daher sind Wörter wie grau, Grauen, Schauer, raunen gut geeignet zur Andeutung unbestimmter Zustände. 135 15 Schwierig ist die Deutung des I, das wie alle Vokale eine zwiefache Richtung in sich birgt. Während das A und das O der väterliche Welt zugeordnet sind und das E einen geschlechtslosen Charakter besitzt, gehört das I dem mütterlichen Reiche zu. Wir hören in ihm den eigentlichen Lebenslaut, den Laut der Verbindungen und des Zerfalls, und vom fleischigen Kern des Lebens aus strebt die eine seiner Fähigkeit der tiefen Einheit, die andere der Verwesung zu. 16 Unter allen Vokalen fällt dem U die mächtigste Schwerkraft zu. Das U ist dem väterlichen A entgegengesetzt; seine Tiefe und Geschlossenheit ist weitaus bedeutender als die des I, denn in ihm klingen Formen des Daseins an, die diesseits oder jenseits der Verwesung stehen. Auch ist es nicht eindringend, sondern verkörpert die Tiefe dimensional. Im U begegnen sich die Geheimnis der Zeugung und des Todes; es steht unterhalb der farbigen und mannigfaltigen Welt. Sein Reich umschließt die Gründe der Gesteins – und Meereswelten, der uralten Kulte, der unbekannten Geschlechterfolge und die Schwerkraft unsichtbarer Gestirne, die aus unermesslicher Entfernung wirkt. . . Auf der Todesseite des U stehen das Ehrwürdige, das Feierliche, der Ahnenkult, das Nächtliche, das dunkel Dämonische und Gespenstische. „nun ruhen alle Wälder“ beginnt ein Lied, in dem die herandunkelnde Abend und Todesahnung uns mächtig ergreift. U ist der Laut der Gräber, des hohen saturninschen Alters und des Sturmwindes, der sich nächtlich erhebt. . . Die andere, die Lebensseite des U, birgt die Geheimnisse der Tiefe, der ungeschriebenen Gesetze und der mütterlichen Fruchtbarkeit. In diesem Zusammenhang ist das U auch der Laut der häuslichen Gemütlichkeit und des sicheren Schutzes, den man in Burgen, Türmen und Stuben genießt. Zum vollen Genuss dieser Sicherheit gehört der dunkle Laut des Sturmes und die grausige Nähe des Geister- und Totenreichs. Ernst Jünger. Über die Vokale; in: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Band 12, Stuttgart 1979 Stephan Suschke Textarbeit mit Marianne Hoppe Suschke: Ich traf mich zwei bis drei mal in der Woche in ihrer winzigen Wohnung um mit ihr den Text zu arbeiten. Es fiel ihr schwer, den Text zu behalten. Was nicht nur an ihrem hohen Alter lag, sondern an der sprunghaften Qualität der Texte, wo unvermittelt Brüche, neue Gedanken assoziativ aneinander gereiht war, ohne dass es eine zwingende kausale Logik gab. Man musste Scharniere finden, die es ermöglichten, den Text zu erfassen. Außerdem waren es immense Textmengen, im wesentlichen monologisch, die sie bewältigen musste. Sie arbeitete den Text Wort für Wort durch, es war wie das Erlernen einer Sprache. Sie begann mit der kleinsten Einheit, dem Wort, dessen sinnliche Qualität sie erkundete, das sie in Silben zerlegte. Seit dieser Zeit weiß ich das ein Augenblick ein Augen – Blick ist. Zerteilen und neu zusammensetzen, sezieren, sinnliche Bedeutung erkunden, zum sinnlichen Bild – Sinnbild formulieren, ohne dessen Bedeutung zu unterstreichen, praktisch nebenher, aber durch die vielen Vorstufen in einer anderen Qualität überführen. Das Zurückgeben der Sinnlichkeit über die Erforschung des Sinns. Wenn sie diese Qualität erkundet hatte, begann sie den Satz zu formulieren, verschiedene Klangfärbungen auszuprobieren, wobei sie niemals versuchte, besondere Betonungen zu setzen, sondern eher die natürliche Sprachmelodie der Sätze herauszufinden und sich dann auf dieser zu bewegen wie der Surfer auf einer Welle, der Segler in den aufstrebenden Luftströmungen. Die Nichtbetonung von Worten ist eine Qualität von Marianne Hoppe, das Fließende und dadurch auch das Zurücktreten, hinter den Text, hinter den Autor, eher Medium zu sein als Verkünder. 136 Gerhard Ahrens: Marianne Hoppes Textarbeit ist einzigartig. Sie beginnt jedes Mal von Neuem, bei Null. Es ist so, wie wenn sie in den Garten geht und ein Beet beackert, und da nimmt sie sich ihr Rüstzeug, die Schaufel und die Harke, und dann geht es los.“ Es existiert kein Vorverständnis vom Text, denn das Verstehen kommt nur aus dem, was geschrieben steht. – Marianne Hoppe nimmt den Text in die Hand und sobald sie anfängt zu lesen, ist es so als ob sie nicht lesen könnte. Es ist ein Buchstabieren. Sie liest jedes Wort, jede Silbe und nimmt sie auseinander. Beim „Lesen lernen“ versucht sie den Text und seine Bedeutung zu verstehen, herauszufinden, was der Schriftsteller sagen möchte. Es ist die Anstrengung, eine Vokabelvorlage zu be- greifen und zu er- fassen. Den Text fügt sie dann wieder mit den Mitteln, die ihr eigens zur Verfügung stehen, zusammen. Sie macht Striche und Betonungen, setzt Zäsuren und Akzente. . . Sie arbeitet niemals oberflächlich, indem sie versucht mit ihrer Ausnahmestimme über etwas nicht Verstandnes zu legen – dadurch sprechen die Texte durch sie hindurch. Sie versteht sich wie die meisten Künstler dieser Generation als die Vermittler des Werkes der Dichter, ein Bindeglied, ein Werkzeug. Stephan Suschke, Archiv Bertolt Brecht Abnehmen des Tons Neben vielem anderem, was zum Handwerk des Schauspielers gehört, droht auch das Abnehmen des Tons vom Partner in Verfall zu geraten. Ein Schauspieler muß dem andern die Replik abnehmen wie ein Tennisspieler dem andern den Tennisball. Das geschieht dadurch, daß der Ton aufgefangen und weitergeleitet wird, so daß Schwingungen und Tonfälle entstehen, welche durch ganze Szenen hingehen. Fehlt dieses Abnehmen, dann entsteht ein akustischer Eindruck, der dem optischen Eindruck entspricht, welcher entstünde, wenn Blinde miteinander sprechen und dabei niemals auf den schauen, zu welchem sie sprechen. Es hat etwas für sich, das Wort „Replik“, das für alle Äußerungen und Antworten gebraucht wird, aus denen eine Rolle besteht, mit „Entgegnung“ zu übersetzen, weil so das Gegnerische alle Äußerungen und Antworten angedeutet wird. Auch wenn eine zustimmende Meinung in einer Replik zum Ausdruck kommt, enthält sie doch fast immer irgendeine Korrektur des eben Gehörten, in der sich besondere Interessen geltend machen. Bei einer vollen Zustimmung, einem unerweiterten, das heißt unbegrenzten „Ja,“, wird ein Zweifel des Fragers angegriffen oder eine mit ihm gemeinsame Gegnerschaft zu Dritten bestätigt. Diese allseitigen Konflikte der Stückfiguren müssen vom Ensemble in engster Zusammenarbeitet gestaltet werden. Jedoch findet auch diese Zusammenarbeit der Schauspieler in Form des Wettbewerbs statt. Ein Versagen beim Abnehmen des Tons kann da von einem bloßen Mangel an Musikalität, von mangelhafter Erkenntnis es Sinnes, manchmal aber auch von einem Mangel an Sinn für Zusammenarbeit zeugen. Nicht immer unbewusst, spielt ein Schauspieler ganz für sich selbst und fängt mit jedem Satz neu an, den vorausgegangenen des Partners einfach negierend. Solch ein Schauspieler pflegt dann auch jene gefürchteten kleinen Löcher im Dialog zu setzen, jene oft winzigen Stockungen nach dem Satz des Partners, welche den neuen Satz vom Rest trennen, herausheben, unterstreichen und den Sprecher eigens in Szene setzen. Bertolt Brecht. Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Gesammelte Werke Bd. 15, S.341-357 137 6. Kontexte Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft? von Peter Weingart Gibt es irrelevante Forschung? Ein angesehener amerikanischer Senator, William Proxmire, ist der Urhe ber des von ihm so genannten »Golden Fleece Award«, einer Ehrung für den größten Unfug, für den öffentliche Behörden verantwortlich gemacht wer den können. Im Jahre 1975 hat er die »National Science Foundation«, die Förderorganisation für Forschung, aufs Korn genommen. Er verlieh das »Gol den Fleece« an die NSF für die Finanzierung eines Projekts über das »Sexual verhalten der ›screw-worm‹-Fliege«. Die NSF sah sich dem Gelächter der Senatoren und Abgeordneten sowie der Medien ausgesetzt. Einige Zeit später gestand Proxmire gegenüber dem Direktor der NSF jedoch offen seine späte Erkenntnis ein, dass die von ihm verlachte Forschung von großer Bedeutung auf dem Gebiet der Schädlingsbekämpfung war (vgl. Atkinson 1999). Dieses Beispiel steht für die Fehleinschätzung der Relevanz von Forschung seitens eines Politikers, der sich in der guten Absicht, verschwenderischen Umgang mit Steuergeldern zu verhindern, an einem irreführenden Indikator, dem Titel des Projekts, orientiert hatte. Das Beispiel illustriert aber zugleich auch einen Aspekt des grundlegenden Konflikts, der zwischen den Politikern als Repräsentanten der Bürger und Wissenschaftlern als den Empfängern von Forschungsgeldern besteht. Ganz offensichtlich ist es möglich, dass zwischen ihnen unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, welche Forschung relevant ist und welche nicht. Ein anderes Beispiel: Die Geisteswissenschaften befinden sich seit vielen Jahren in einer Dauerkrise, weil sie sich gegenüber der Frage, welche ge sellschaftliche Relevanz sie hätten, nicht recht zur Wehr setzen können. Ihr Anteil an der Förderung der gesamten Wissenschaft durch die DFG bleibt 15 138 I. Wissens-Gesellschaf t zwar über die Jahre hinweg in etwa stabil, aber die »gefühlte« Situation ist deutlich schlechter (Wissenschaftsrat 2006, S. 151). Einige schon fast für tot gehaltene Fächer wie die Sinologie und die Islamwissenschaften, deren ge sellschaftliche Relevanz kaum einer recht sehen wollte, erfreuen sich jedoch urplötzlich eines großen Zuspruchs. Die Sinologie profitiert vom dramati schen Aufstieg Chinas zur Welthandelsmacht, die Islamwissenschaften von der Ratlosigkeit gegenüber den Islamisierungstendenzen vor der eigenen Haustür. – In diesem Fall hat sich offensichtlich die Auffassung darüber, was als gesellschaftlich relevant gelten kann, aufgrund äußerer Entwicklungen grundlegend verändert. Wohlhabende jungverheiratete Paare in Manhattan, deren Eltern noch mit einer Mischung aus Angst und Verachtung auf die »blauen Ameisen« aus Maos China schauten, lassen ihre Kinder von chinesi schen Kindermädchen Mandarin lernen. Ein drittes Beispiel: Seit einer Reihe von Jahren ist die Nanoforschung in aller Munde, vor allem denen der Wissenschaftspolitiker. In allen Wissen schaftsnationen wird viel Geld für diesen neuen Forschungszweig ausgege ben, werden neue Zentren gegründet. Die Wissenschaftler haben zu diesem Hype selbst viel beigetragen, unter anderem mit Versprechungen von atoma ren Robotern, die wie U-Boote durch die Adern fahren und ihre Innenwände von lebensbedrohenden Ablagerungen reinigen, oder von Mikrochips, die ins Gehirn eingepflanzt werden und dessen Kapazitäten unermesslich erwei tern. Noch nicht ein einziges dieser Versprechen ist derzeit eingelöst worden, und die Wissenschaftler distanzieren sich derweil von ihren medienwirksa men Utopien. – In diesem Fall ist die gesellschaftliche Relevanz der betref fenden Forschung von den Wissenschaftlern aufgrund von Erkenntnissen in der Grundlagenforschung (der Manipulierbarkeit von Atomen) überzeugend behauptet, aber bislang nicht bewiesen worden. Die Politiker in den reiche ren Industrieländern haben die Versprechen der Wissenschaftler geglaubt und ihnen (viel) Geld im Vertrauen auf ihre Versprechen gegeben. Alle drei Beispiele ließen sich vielfach vermehren. Sie belegen die Schwie rigkeit im Verhältnis von Wissenschaft und Politik bzw. Gesellschaft. Die (gesellschaftliche) Relevanz von Forschung ist offenbar keine stabile Größe, sondern wandelt sich in Abhängigkeit von Entwicklungen, die außerhalb der Kontrolle der Politik liegen. Außerdem verändern sich Vorstellungen von Re levanz in Abhängigkeit von Erkenntnissen der Wissenschaft selbst, die neue, 16 139 Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t? vorher gar nicht vorhandene, nur in faszinierenden Utopien beschriebene Perspektiven eröffnen. Fazit: Ob es irrelevante Forschung gibt, lässt sich also ebenso schwer beantworten wie die umgekehrte Frage, welche Forschung gesellschaftlich relevant ist. Wer stellt wie fest, welche Forschung gesellschaftlich relevant ist? Wenn sich schon keine inhaltliche Antwort auf die Frage nach der gesellschaft lichen Relevanz der Forschung geben lässt, führt vielleicht die Frage weiter, mittels welcher Verfahren sich ggf. eine Antwort finden lässt. Verfahren ver leihen Legitimität. Hier stellt sich jedoch wieder das gleiche strukturelle Pro blem. Anders als z. B. im Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaften oder Arbeitgebern besteht zwischen Regierung und Wissenschaft eine spe zifische Asymmetrie. Eine Regierung kann sich ein genaues Bild über die Arbeitsbedingungen verschaffen. Sie kann aber vernünftigerweise nicht dar über befinden, welche nächsten Forschungsschritte am besten geeignet sind, um den Ursachen der Alzheimerkrankheit auf die Spur zu kommen. Sie kann zwar – unter dem oben angedeuteten Risiko – entscheiden, das Forschungs gebiet der Entomologie zugunsten der Nanoforschung zurückzufahren, weil ihr deren Erkenntnisse nicht relevant genug erscheinen. Die Entscheidungen darüber, welche Forschungsergebnisse von den verbliebenen Entomologen für richtig und wichtig erkannt werden, bleibt aber eine Angelegenheit eben dieser Wissenschaftler selbst. Anders gesagt: Ein wesentlicher Mechanismus zur Bestimmung von wissenschaftlicher (nicht gesellschaftlicher!) Relevanz ist der »organisierte Skeptizismus« unter den Mitgliedern einer Disziplin bzw. spezialisierter Forschungsgebiete (s. das dritte Beispiel oben). Die Entscheidungen von Politikern über die gesellschaftliche Relevanz bestimmter Forschungsgebiete bleiben also notgedrungen »außen vor«. Sie müssen sich auf die Qualität und Verlässlichkeit der wissenschaftsinternen Entscheidungsverfahren verlassen. Das fällt ihnen zunehmend schwer, was angesichts des unbegrenzten Universums möglicher, aber eben auch unbe zahlbarer Forschungsfragen verständlich ist. Politiker wollen sich nicht auf eine »Relevanz in ferner Zukunft« einlassen, sie müssen in spätestens vier Jahren wiedergewählt werden. 17 140 I. Wissens-Gesellschaf t Seit einiger Zeit versuchen sie deshalb, über Evaluierungen der Wissen schaftler bzw. ihrer Einrichtungen eine bessere Kontrolle zu gewinnen. In derartigen Evaluierungen kommt manchmal ein Kriterium wie »gesellschaft liche Relevanz« der Forschung vor, oder die Wissenschaftler werden außer an ihren Publikationen und der Häufigkeit der Zitate, die sie erhalten, u.a. an ihren Auftritten in der Öffentlichkeit »evaluiert« (englisch: »outreach«). Es gibt aber keine Instanz, die die vielfältigen Vorstellungen von gesellschaftli cher Relevanz zu einem einheitlichen Maß amalgamieren könnte. Deshalb bleibt die Bewertung letztlich den Wissenschaftlern selbst überlassen, und auch die anderen Kriterien (Publikationen, Zitate, Drittmittel usw.) bilden nur den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess ab. Die Kontrolle bleibt also dem Forschungsprozess äußerlich, sie orientiert sich unweigerlich an Indikatoren des Prozesses. Neben der »internen« Steuerung des Forschungsprozesses, die dessen Ori entierung an »gesellschaftlicher Relevanz« gerade nicht garantiert, gibt es noch andere Mechanismen. Die Geldgeber, staatliche Organisationen wie Ministerien oder aber Fördereinrichtungen wie die Deutsche Forschungsge meinschaft und private Stiftungen (Volkswagenstiftung, der Stifterverband, Thyssen usw.) sind u. a. auch dem Ziel verpflichtet, gesellschaftlich relevante Forschung (meistens parallel zu dem Ziel, die Wissenschaft als solche oder einzelne Gebiete) zu fördern. Das geschieht durch die Formulierung von For schungsprogrammen. Forschungsprogramme haben eine selektive und eine steuernde Wirkung auf die Forschung. Die selektive Wirkung ergibt sich aus dem einfachen Umstand, dass mit ihnen Geldströme verbunden sind. Geldströme sind auch ein indirek ter Ausdruck politischer Entscheidungen für Relevanz. Es macht sicher einen Unterschied, ob ein Land wie die USA rund die Hälfte der staatlichen Ausga ben für Forschung und Entwicklung (F & E) für Militärforschung ausgibt; in England ist es immerhin noch ein Drittel der öffentlichen Ausgaben, während Japan und Deutschland weniger als 5 Prozent in diesem Gebiet ausgeben (vgl. Koizumi 2002).* In aller Regel geht die umfangreiche Förderung militärischer Forschung auf Kosten anderer Bereiche und zumal der Grundlagenforschung. *Dabei wird unterstellt, dass die Zahlen verlässlich und die Kategorien vergleichbar sind. 18 141 Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t? Während des Kalten Krieges lagen die Ausgaben für militärische Forschung in den USA noch höher. Es ist allerdings zu bedenken, dass das amerikanische Verteidigungsministerium als größter Finanzier von F&E nicht nur direkte Waffenforschung fördert, sondern z. B. auch die Nanoforschung – freilich in Erwartung späteren militärischen Nutzens. Ein nicht unerheblicher Teil der rund 50 Milliarden US-Dollar geht deshalb in Forschungsgebiete, die Innova tionen in der zivilen Wirtschaft initiieren (z.B. das Internet!). Außerdem ist das DOD ein zentraler Förderer der Sozialwissenschaften. Dies ist eine Beson derheit des amerikanischen Wissenschaftssystems und zeigt zugleich, dass die Auffassung davon, welche Wissenschaft für die Verteidigung relevant ist, ein breites Spektrum der Wissenschaft erfassen kann. Die steuernde Wirkung von Forschungsprogrammen beruht in erster Linie auf ihrer monetären Anreizwirkung. Wissenschaftler sind gezwungen, dort ihre Forschungsgelder zu holen, wo sie sie finden können. Wenn es keine »freien« Mittel für Grundlagenforschung ihrer eigenen Wahl gibt, müssen sie sich in Programme einfügen. Je nachdem, wie konkret die Vorstellungen von Relevanz sich in Forschung übersetzen lassen, fallen die Programme spe zifischer oder allgemeiner aus. Aber selbst im Bereich der Militärforschung, wo man aufseiten der Politik (bzw. des Militärs) sehr klare Vorstellungen hinsichtlich der Relevanz vermuten darf, sind die Auftraggeber darauf an gewiesen, mit den Wissenschaftlern über die Aussichten bestimmter For schungsstränge im Bezug auf die von ihnen gewünschten Waffen zu ver handeln. Diese Mitwirkung der Wissenschaftler bei der Formulierung von Forschungsprogrammen ist in den Förderorganisationen, denen vor allem das Wohl der Wissenschaft insgesamt am Herzen liegt, noch sehr viel aus geprägter. Eine Steuerung der Forschung ohne die Mitwirkung der Wissen schaftler selbst wäre zumindest sehr ineffizient. Wo diese Mitwirkung nicht gegeben ist, müssen die Auftraggeber sich mit der interpretativen Fantasie der Wissenschaftler auseinandersetzen. Die Forscher werden immer versu chen, ihre eigenen Forschungsinteressen als relevant für ein gegebenes For schungsprogramm zu deklarieren, und je nachdem, wie überzeugend diese Interpretation ausfällt, können sie für sich Handlungsspielräume eröffnen und sich ggf. der direkten Steuerungsabsicht entziehen. Der eingangs erwähnte Konflikt zwischen Politik und Wissenschaft ist ein Konflikt um Kontrolle über den Gang der Forschung, soweit sie aus öffent 19 142 I. Wissens-Gesellschaf t lichen Mitteln finanziert wird, und schlägt sich im Verhältnis der über Pro gramme gesteuerten Forschung zu der Förderung ohne inhaltliche Bedingun gen nieder. Letztere wird als Grundlagenforschung ausgeflaggt. In den Augen der meisten Wissenschaftler an Universitäten (nicht allen!) im Unterschied zu denen in anderen (industriellen oder ressorteigenen) Forschungseinrich tungen hat die Grundlagenforschung ein höheres Prestige. Diese Hierarchi sierung hat eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition mit Be zügen zur Höherwertigkeit der Kopf- über die Handarbeit und historischen Sonderentwicklungen wie dem deutschen Idealismus. Im frühen 19. Jahr hundert zur Zeit der Gründung der Berliner Universität nach den Plänen Humboldts wurde die Nutzlosigkeit der Wissenschaft geradezu zum Prinzip erhoben. Die Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung, die der Entde ckung von Naturgesetzen gewidmet ist, und angewandter Forschung, die die Grundlagenerkenntnisse für praktische Zwecke nutzbar macht, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Paradigma der Wissenschaftspolitik in den OECD-Ländern und bildet die kategoriale Grundlage für die Forschungssta tistiken. Sie beruht auf einem Konzept von forschungsbasierter Innovation – dem sogenannten »linearen Modell« –, wonach alle anwendungsbezogene Forschung und Technikentwicklung auf der vorangehenden Grundlagenfor schung beruht – ohne sie gar nicht zu haben ist. Dieses Modell hat in den ca. vier Jahrzehnten zwischen Kriegsende und dem Fall der Berliner Mauer aber auch noch eine starke ideologische Funktion gehabt. Grundlagenforschung wurde mit »Freiheit der Wissenschaft« identifiziert, Steuerung der Forschung durch den Staat mit Unterdrückung à la sozialistische Staaten, ungeachtet des Umstands, dass der Anteil der für militärische und industrielle Zwecke finanzierten Forschung in jener Zeit eher höher als danach war. Schon der bloße Appell an »gesellschaftliche Relevanz« der Forschung konnte die Empö rung von Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern auslösen.* Gemessen an den noch eher kruden Steuerungsversuchen jener Zeit sind Umfang und Intensität der staatlichen Steuerung seitdem dramatisch gestie gen, ohne dass sich die einen oder die anderen darüber aufregen. Ganz im Gegenteil: Das lineare Modell ist für tot erklärt worden, stattdessen werden neue Modelle propagiert, ein »Modus 2« der Wissensproduktion, in dem For *Zur zeitgenössischen Aufregung vgl. W. Schäfer (ed.) 1983, insbes. Appendix. 20 143 Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t? scher und Bürger, Universitäten und Industriebetriebe (angeblich) miteinan der forschen oder zumindest die Forschung sehr viel enger an den Bedürf nissen der Gesellschaft orientiert ist (vgl. Gibbons et al. 1994). An die Stelle der Abfolge von Grundlagenforschung – Anwendung – Entwicklung werden Modelle gesetzt, die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen For schungstypen und damit natürlich auch den ihnen entsprechenden Institutio nen, Universitäten und Industrie, postulieren (vgl. Stokes 1997). Partizipation der Bürger, der sogenannten »stakeholder« oder auch zivilgesellschaftlicher Organisationen ist geradezu zum Mantra der Wissenschaftspolitik erhoben worden. Damit wird, so sollte man meinen, die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft per Deliberation gesichert und bedarf gar nicht mehr der verfahrensmäßigen Absicherung. Die Begeisterung, mit der diese Konzepte insbesondere von Wissenschaftsadministratoren in den Universitäts-, Stif tungs- und anderen wissenschaftsbezogenen Verwaltungen aufgenommen worden sind (und noch weiter werden), sollte Grund zu skeptischem Auf horchen sein. Funktionieren die verschiedenen Verfahren der »Beteiligung« der Öffentlichkeit an der Forschung (und an der Technikfolgenabschätzung) wirklich so, dass damit die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft ge währleistet ist? »Dialog« ist inzwischen zum Schlagwort für Bemühungen geworden, die Öffentlichkeit an die Wissenschaft heranzuführen, gar an der Prioritätenset zung für die Wissenschaftspolitik zu beteiligen. Die vom BMBF veranstalte ten »Wissenschaftsjahre« stehen unter diesem Motto, sie sollen das eher pa ternalistische Konzept des »Public Understanding of Science« ablösen. Noch weitergehend ist der von 2001 bis 2005 vom BMBF organisierte sogenannte Futur-Prozess, in dem 1500 ausgewählte »Experten« in einem aufwändigen Prozess Themen zukünftiger Forschungspolitik erarbeiten sollten (vgl. BMBF 2003). Dieses und ähnliche Verfahren (z. B. die dänischen Konsensuskonfe renzen) leiden unter unüberwindlichen Problemen: Die Auswahl der »Exper ten« kann keine Repräsentativität erreichen, selbst wenn sie es wollte. Die Gremien stehen in einem ungeklärten Verhältnis zur Politik, d.h., ihre Ver handlungsergebnisse können nicht in politische Entscheidungen umgesetzt werden, weil ihnen dazu das Mandat fehlt. Die Wirkung ihrer Empfehlungen bleibt letztlich intransparent. Selbst wenn man ihnen nicht unterstellen will, dass sie nur zur Legitimationsbeschaffung dienen sollen, bleiben sie den 21 144 I. Wissens-Gesellschaf t Nachweis eines nachhaltigen Dialogs schuldig (vgl. Abels/Bora 2004). Eine allseits akzeptierte Antwort auf die Frage nach gesellschaftlich relevanter Wissenschaft wird man also weder von den wissenschaftspolitischen Steue rungsinstrumenten noch von den Mechanismen der »Beteiligung« erwarten können. Nationale Innovationssysteme und Relevanz Angesichts der Schwierigkeiten, Verfahren oder Akteure zu identifizieren, die in der Lage wären, die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft zu bestimmen – von inhaltlichen Antworten ganz zu schweigen –, tut man gut daran, das Wissenschaftssystem insgesamt aus analytischer Distanz zu betrachten. Spätestens seitdem Europa in den 1960er Jahren die »technolo gische Lücke« gegenüber den USA entdeckte (die Amerikaner kurz darauf wiederum ihre Lücke gegenüber Japan), gilt die Wissenschafts- und Techno logieentwicklung eines Landes als Motor der Innovationskraft. Da Innovation mit gesellschaftlichem Wohlstand identifiziert wird, kann man innovativer Forschung auch unterstellen, gesellschaftlich relevant zu sein.* Man könnte also schließen, dass die jeweiligen Wissenschaftssysteme – inzwischen ist von Nationalen Innovationssystemen (NIS) die Rede – so organisiert sind, dass sie den stetigen Fluss an Innovationen garantieren. Schon der flüchtige Blick auf verschiedene nationale Systeme offen bart, dass das nicht der Fall ist. Verschiedene Länder haben auf recht un terschiedliche Weise ihre Wissenschaftssysteme organisiert, hatten also offenbar divergierende Auffassungen darüber, wie Innovationen am besten zu gewährleisten seien. Es kommt erschwerend hinzu, dass Institutionen wie z. B. Universitäten, Akademien, die staatlichen Ressortforschungs- und Großforschungseinrichtungen und Forschungsorganisationen wie die Max Planck-Gesellschaft – einmal gegründet – sich über lange Zeiträume hinweg entwickeln und sich weder beliebig verändern noch per Handstreich schlie *Entgegen der verbreiteten Meinung, nur technische, wirtschaftlich verwertbare Innovationen seien relevant: Gesellschaften gedeihen nur, wenn sie auch sozial innovativ sind. 22 145 Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t? ßen lassen, wenn sie sich als zu wenig innovativ erwiesen haben. Nationale Innovationssysteme sind die Produkte einer Abfolge historisch kontingen ter politischer Entscheidungen, denen je unterschiedliche Einschätzungen zugrunde liegen. Diese konstituieren ihrerseits aufgrund der Langlebigkeit von Organisationen Pfadabhängigkeiten in den (wissenschaftspolitischen) Entscheidungen. Eine historische Analyse der Entwicklung des deutschen NIS hat gezeigt, dass über einen Zeitraum von 150 Jahren und über vier sehr unterschiedliche politische Systeme hinweg, einschließlich des Quasiexpe riments der vier Jahrzehnte währenden deutschen Teilung, sich das Innova tionsprofil des deutschen Wissenschaftssystems nicht maßgeblich verändert hat: »Die Grundmuster der wissenschaftlichen Spezialisierung verändern sich auch bei großen politischen Systemänderungen nur sehr langsam … jedenfalls nicht innerhalb einer Forschergeneration« (Grupp/Breitschopf 2006, S. 195). Die Autoren kommen deshalb zu dem Schluss, dass sich Inno vationskulturen nicht mit den bisher eingesetzten Steuerungsmechanismen verändern lassen. Das verweist zugleich darauf, dass die politische Rhetorik von Innovation, Exzellenz, Relevanz, internationaler Konkurrenzfähigkeit, Clusterbildung, »public-private partnerships«, Dialog und vielen weiteren schönen Begriffen der Sache selbst, der Innovationskraft des Systems, äußer lich bleibt, allenfalls Irritationen erzeugt. Wie Innovationen durch die Wis senschaft erzeugt werden können, haben weder Ökonomen noch Soziologen oder Psychologen abschließend erklären können, deshalb jagt eine Manage mentmode die andere (vgl. Birnbaum 2000). Kurzfristige Ad-hoc-Maßnahmen sind nur so lange überzeugend, wie ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen noch nicht bekannt sind. Wenn sie es denn werden, sind diejenigen, die für sie verantwortlich sind, schon nicht mehr im Amt. Ein Aspekt des strukturellen Konflikts zwischen Politik und Wissenschaft sind eben die stark unterschied lichen Zeithorizonte, sowohl im Hinblick auf die Einschätzung von Relevan zen als auch im Hinblick auf die zu ihrer Realisierung durch Forschung zu treffenden Entscheidungen. Zur Ausgangsfrage zurückkehrend, liegt nunmehr auf der Hand: Eine in haltliche Antwort auf die Frage, welche Wissenschaft gesellschaftlich relevant ist, kann nicht gegeben werden, weil es zu viele mögliche Antworten gibt und die Wissenschaft ihrerseits ständig neue Relevanzen schafft. Keine Antwort würde sozial und zeitlich stabil sein können. Eine optimale Antwort auf die 23 146 I. Wissens-Gesellschaf t Frage, welche institutionelle Struktur und welche Verfahren am ehesten geeig net wären, die Innovativität der Wissenschaft zu gewährleisten – unterstellt, dass Innovativität als allgemeiner Nenner von Relevanz gelten kann –, ist auch nicht möglich, da nicht bekannt ist, wie Innovation hergestellt werden kann. In derartigen Situationen der Unsicherheit empfiehlt es sich, nach dem sogenannten »precautionary principle« zu verfahren: Vielfalt der Forschung erhalten und dafür günstige Rahmenbedingungen schaffen. Das heißt: die Gesellschaft offen für Veränderungen halten und die Wissenschaft in ihrer Vielfalt fördern. Zugegeben: keine sehr originelle Antwort. Literatur Abels, G./Bora, A. (2004): Demokratische Technikbewertung. Bielefeld: transcript Verlag. Atkinson, R. (23.6.2008): Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 143, No. 3 http://www.ucop.edu/pres/comments/gfleece.html [Stand 23.6.2008]. Birnbaum, R. (01. – 02.2000): The Life Cycle of Academic Management Fads. The Journal of Higher Education, Vol. 71, No. 1. BMBF (2003): Eine erste Bilanz. Futur: Der deutsche Forschungsdialog. Bonn. Gibbons, M., et al. (1994): The New Production of Knowledge. London: Sage. Grupp, H. / Breitschopf, B. (2006): »Innovationskultur in Deutschland. Qualitäten und Quantitäten im letzten Jahrhundert«, in: P. Weingart / N. Taubert (Hg): Das Wissens ministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Koizumi, K. (2001): »R & D in the FY 2002 Department of Defense Budget«, in: AAAS Report XXVI: Research & Development. FY 2002. http://www.aaas.org/spp/rd/xxvi/chap6htm [Stand 25.6.2008]. Schäfer, W. (1983): Finalization in Science. Boston Studies in the Philosophy of S cience Vol. 77, Dordrecht. Stokes, D.E. (1997): Pasteur’s Quadrant. Basic Science and Technological Innovation. Washington D. C.: Brookings Institution Press. Wissenschaftsrat (2006): Empfehlungen zur Entwicklung und Förderung der Geisteswissen schaften in Deutschland. Köln. 24 147 Wie frei ist die Wissenschaft? (Archiv) 1 von 1 http://www.deutschlandfunk.de/wie-frei-ist-die-wissenschaft.680.de.pr... Deutschlandfunk – Campus & Karriere Beitrag vom 01.03.2013 14:35 Uhr (Archiv) URL dieser Seite: http://www.deutschlandfunk.de/wie-frei-ist-die-wissenschaft.680.de.html?dram:article_id=239006 Wie frei ist die Wissenschaft? Konferenz Wissenschaft und Macht in Berlin Von Jürgen König Auf einer Tagung an der Humboldt-Universität wurde die Beziehung zwischen Macht und Wissenschaft untersucht. (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini) In der Wissenschaft hat in den letzten Jahren ein "struktureller Wandel" stattgefunden. Welche Rolle dabei das Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft hat und wie die Wirtschaft eingebunden ist, darüber debattierten Experten an der Humboldt-Universität in Berlin. "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei" - heißt es im Grundgesetz. Doch wie frei, wie autonom ist die Wissenschaft? Das war die Kernfrage der Tagung "Wissenschaft und Macht" – und Einigkeit bestand darin, dass sie zwar frei sei, dabei aber großen Einschränkungen unterworfen – zum Beispiel durch den in den letzten Jahren von der Politik forcierten Wettbewerbscharakter in der Wissenschaft. Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Berliner Humboldt-Universität: "Wie verändert sich die Wissenschaft, wenn sie auf fragiler Finanzierungsgrundlage ihre Fragestellungen nicht mehr allein aus Neugier und Erkenntnisinteresse herleitet, sondern aus einem Höchstmaß an Konformität mit dem gerade angesagten Förderformat? Wie formuliert man eine wissenschaftliche Fragestellung so, dass sie im Wettbewerb um knappe Fördermittel besteht. Ist das dann eine andere wissenschaftliche Fragestellung als wäre sie nur aus Neugier und Erkenntnisinteresse hergeleitet?" Auch ein "Wettbewerb um Geld" sei die Exzellenzinitiative gewesen, so Olbertz, ausgetragen zwischen "unterfinanzierten Universitäten". Günter Stock, Präsident der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, forderte, das ganze System auf den Prüfstand zu stellen: Alle Hochschul- und Forschungs-"Pakte" würden demnächst auslaufen, die Haushalte von Bund und Ländern stünden vor einer "Schuldenbremse": Zeit sei es, grundlegend über unsere Wissenschaftslandschaft nachzudenken. "Vielleicht sollten wir den Mut aufbringen, unser hoch differenziertes Wissenschaftssystem daraufhin zu betrachten, welche Rolle sowohl die Universität als auch die außeruniversitären Institute zukünftig darin spielen sollen. Wir sollten nicht mit der Finanzierung beginnen, sondern mit den Inhalten. Dabei sollten wir uns neben der Universität auch sehr klar die jeweiligen Profile der Max Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft bewusst machen, uns vielleicht auch darauf zurückbesinnen, aus welchen Gründen seinerzeit die Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft gegründet wurden und wie wir in Zukunft mit den vielen Landes- und Bundesressort-Forschungsinstitutionen umgehen möchten." Über das Verhältnis von "Wissenschaft und Macht" kristallisierten sich im Lauf der Tagung zwei Sichtweisen heraus. Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: Er stellte die These auf, der Einfluss der Politik auf die Wissenschaft habe seit dem Ende des Kalten Krieges stetig abgenommen. Beide "Teilsysteme" gehörten verschiedenen Welten an, die eigenen Regeln und eigenen Zeithorizonten folgen würden, ein Über- oder Unterordnungsverhältnis gäbe es nicht. Den Rahmen nationaler Bildungssysteme würde inzwischen die EU setzen, etwa bei der europaweiten Einführung der Bachelor/Master-Studiengänge. "Der Politik gelingt es kaum noch, die Wissenschaft für nationale Projekte und Anliegen zu bündeln. Auch politisch relevanten Großtechnologien wie Climate Engineering oder Refracturing werden heutzutage meist in transnationalen Forschungsverbünden entwickelt, nicht mehr in nationalen Verbünden. Gleichzeitig wird es immer schwerer, politisch gewünschte Begrenzung in der Forschung wie etwa im Bereich der Gentechnologie national durchzusetzen. Entsprechende strenge Regulierungen haben häufig eine räumliche Verlagerung der wichtigsten Forschungszentren zur Folge. Im Ergebnis ist die Macht der Politik gegenüber der Wissenschaft, verglichen mit dem Rest des 20. Jahrhunderts, also der Zeit der großen Ideologien zwischen 1914 und 1989, zurückgegangen." Auch der Münchener Politikwissenschaftler Edgar Grande sprach von einem "strukturellen Wandel" der Wissenschaft, wandte aber ein: "... dass das lange Zeit stabile Gleichgewicht von wissenschaftlicher Autonomie und staatlicher Steuerung einem beiderseits prekären Verhältnis gewichen ist." Prekär, weil die staatliche "Steuerung" von Wissenschaft in zunehmend komplexen Regelsystemen und teilweise aktionistisch erfolge: mit verschiedenen Koordinationsmechanismen, Hierarchien, Netzwerke, Wettbewerben – der wissenschaftlichen Autonomie sei das durchaus nicht förderlich. Und an der Abhängigkeit vom Geld der öffentlichen Hand, so Grande, habe sich gar nichts geändert. Mehr bei deutschlandradio.de Links bei dradio.de: Reform der Forschungsförderung [http://www.deutschlandfunk.de/reform-der-forschungsfoerderung.680.de.html?dram:article_id=238728] Mehr Ehrgeiz bei Forschung und Bildung gewünscht [http://www.deutschlandfunk.de/mehr-ehrgeiz-bei-forschung-und-bildung-gewuenscht.680.de.html?dram:article_id=238726] Ausverkauf am Bildungsmarkt? Baustelle Bildung [http://www.deutschlandfunk.de/baustelle-bildung.724.de.html?dram:article_id=99763] Deutschlandradio © 2009-2014 148 12.09.2014 19:46 P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Vom Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. ISBN: 3-934730-29-9; 397 S. Rezensiert von: Ulrich Prehn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Schulterblatt 36, D-20357 Hamburg An der Schwelle des ausgehenden 20. zum beginnenden 21. Jahrhundert vollzog sich und vollzieht sich noch - die fortschreitende Legitimationskrise der Wissenschaft, gleichsam als Signum der modernen Wissensgesellschaft. Schlägt nun den Wissenschaften angesichts der für sie charakteristischen immer enger werdenden Anbindung der Erkenntnisproduktion an soziale Anwendungskontexte und der damit einhergehenden Gefährdung der Produktionsbedingungen von überprüfbarem, ‚objektivem’, gesichertem Wissen die ‚Stunde der Wahrheit’? Diese Frage stellt der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Peter Weingart in seiner neuesten Studie, in der er die schwindende Distanz der Wissenschaft zur Politik, zur Wirtschaft und zu den Medien und die weitreichenden Folgen eines solchen Wandels der Wissensgesellschaft im ‚postindustriellen’ Zeitalter in den Blick nimmt. Selbst diejenigen Historiker, deren für die Möglichkeiten und Ergebnisse inter- bzw. transdisziplinärer Forschungsansätze zuständiges Auge aufgrund prinzipieller Voreingenommenheit lange erblindet ist, müssten, sollten sie Weingarts Werk wider Erwarten doch wahrnehmen, eingestehen, dass der Autor nicht nur eine scharfsinnige wissenschaftssoziologische Analyse vorgelegt hat, sondern auch mit seinen - wenn auch zumeist knapp gehaltenen - auf soliden Kenntnissen beruhenden wissenschafts- und diskursgeschichtlichen Ausführungen zu überzeugen weiß. 1. Verwissenschaftlichung von Politik oder Politisierung der Wissenschaft? Weingarts zentraler Befund hinsichtlich der Transformation der Wissensordnung, des „Ensemble[s] gesellschaftlicher Arrangements also, das Produktion und Diffusion von Wissen reguliert“, (16) ist schnell benannt: Infolge einer risikofixierten Technikernüchterung und der Erschütterung des szien- tistischen Optimismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sieht Weingart die Wissensgesellschaft auf dem Weg einer zunehmenden „Institutionalisierung reflexiver Mechanismen in allen funktional spezifischen Teilbereichen sozialer Ordnung“ (16 f.). Dieser Wandel vollziehe sich in zwei interdependenten Prozessen, nämlich der Verwissenschaftlichung von Politik und der Politisierung der Wissenschaft (140), auf die Weingart bereits in einem 1983 erschienenen Aufsatz1 hingewiesen hatte. Die zu konstatierende institutionelle wie operative Verflechtung von Wissenschaft und Politik habe, so Weingart, zu der lediglich bei oberflächlicher Betrachtung zutreffenden Diagnose einer „Hybridisierung“ von Wissenschaft und Politik, einer „Verwischung der Grenzen“ (‚blurring of boundaries’) geführt. In terminologischer Hinsicht favorisiert Weingart den etwas blasseren, dafür jedoch allzweckwaffenartig einzusetzenden Begriff der „Kopplung von Wissenschaft und Politik“ als Beschreibung eines wechselseitig angetriebenen dynamischen Prozesses, als dessen Ergebnis ein zunehmender Distanzverlust zwischen Wissenschaft und Politik (Kap. 4 und 7 in Weingarts Studie) auszumachen sei. (159) Darüber hinaus untersucht er in jeweils eigenständigen Kapiteln (5 und 6) das immer enger werdende Verhältnis der Wissenschaft zur Wirtschaft und zu den Medien. Grundlage der als Kopplung beschriebenen Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik ist (und bleibt), daran erinnert Weingart, „der Austausch von Ressourcen für die Wissenschaft gegen gesichertes Wissen für die Politik.“ (168) Der Kopplungsprozess führe jedoch auf verschiedenen Ebenen zu paradoxen gesellschaftlichen Entwicklungen: 1. zur Inflationierung wissenschaftlicher Expertise mit dem gleichzeitigen Effekt der zunehmenden Verunsicherung derjenigen Institutionen und Personen (Richter, Verwaltungsbeamte, Politiker), die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die vorrangigen Akteure im Prozess der öffentlichen Regulierungspraxis mit der immer dominanter werdenden Zielsetzung der gesellschaftlichen Risikoprävention darstell1 Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225-241. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 149 ten und insofern verstärkt auf Ergebnisse etwa der Technikfolgenabschätzung oder Untersuchungen zur Umwelt- oder Sozialverträglichkeit angewiesen waren (151 ff.); 2. zur relativen Stabilität des zwischen Politikern und wissenschaftlichen ‚Experten’ bestehenden Beratungsarrangements trotz eines „allgemein anerkannten Autoritätsverlusts wissenschaftlicher Expertise“. (162) Ausgehend von Foucaults Macht/WissenKonzept analysiert Weingart die Ambivalenzen der Ausdehnung von „Verwissenschaftlichungsprojekten“ (25) in gesellschaftliche Bereiche, die sich, etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als nicht mehr in herkömmlicher Weise normierbar erwiesen. Als paradigmatisch für diese neue Phase von Verwissenschaftlichung benennt er die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie, die als ein Beispiel für die „Einbettung von ‚großen’ und als riskant erfahrenen Technologien in komplexe soziale Gebilde“, also - um mit Michel Houellebecq zu sprechen - für eine Art ‚Ausweitung der Kampfzone’ der Diskurszusammenhänge, aber auch als zeitgenössisches Indiz für die Gefährdung der privilegierten Definitionsmacht von Wissenschaft anzusehen sei: Die ‚Distanz’ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, so betont Weingart, sei mit der Entwicklung der industrialisierten Gesellschaften zu Massendemokratien immer weiter zusammengeschrumpft. (26) So sei im massendemokratischen Zeitalter überdies auf die wachsende Vielfalt von Funktionen wissenschaftlicher Expertisen zu verweisen: „Legitimierung, Überzeugung, Verzögerung oder Vermeidung von Entscheidungen, Rechtfertigung unpopulärer Entscheidungen, Schlichtung von Disputen und Klärung konfligierender Interessen“. (142 f.) Insgesamt vollziehe sich der Trend zur Politisierung der Wissenschaft auf der Grundlage der gesteigerten Nachfrage der Politik nach gesichertem Wissen zur Lösung von Problemen und/oder zur Legitimierung von Entscheidungen. Neben dem bereits erwähnten Prozess der Inflationierung von Expertise kann als Folge der Politisierung von Wissenschaft ein Wandel ihrer Zielvorstellungen und -vorgaben ausgemacht werden; im ausgehenden 20. Jahrhundert manifestiert sich Wissenschaft als „Vorstoß in den Bereich des noch kontroversen, nicht konsentierten Wissens“ (168). So zielt eine aufgabenbezogene wissenschaftliche Forschung verstärkt auf die Herstellung strategischer Handlungsfähigkeit im politischen Bereich ab; Zukunft soll „durch hypothetische Entwürfe, Simulationen und Modelle vorweggenommen“ werden. (17) Als Entstehungskontext einer solchen Verwissenschaftlichung der Politik benennt Weingart die (potenziell grenzenlose) Zunahme des produzierten Wissens infolge gesteigerter Ressourcen, um deren Erlangung die Wissensproduzenten in einen immer härteren Konkurrenzkampf treten. Eine beinahe grenzenlos erscheinende Produktion von Wissen ermögliche, so Weingart weiter, die Lieferung instrumenteller Problemlösungen und Legitimation für politische Entscheidungen durch wissenschaftliche ‚Experten’, erzeuge jedoch zugleich „politische Erwartungen, Bedrohungen der Legitimität und folglich Handlungsimperative“, konkret: Maßnahmen, die durch selektive Verfahren eine Kontraktion der Wissensnachfrage bewirken (sollen), möglicherweise gar die Einführung institutioneller Hierarchien durch die Politik. Innerhalb der Wissenschaft bedeute diese Selektion die „Zusammenführung bzw. Monopolisierung von Expertise“ (168). Insgesamt also ein mithilfe vergleichsweise farbund harmlos klingender Begriffe beschriebener Prozess - jedoch mit vielfältigen Implikationen und weitreichenden Folgen! 2. Öffentlichkeit oder ‚Wahrheit’? Insbesondere weiß Weingarts Untersuchung des Wandels, dem sich der heutige, hochgradig ausdifferenzierte Wissenschaftsbetrieb hinsichtlich seiner Wirkung in den öffentlichen Raum hinein sowie bezüglich der ‚Rückwirkungen’ verstärkter öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle auf Selbstwahrnehmung und Funktion von Wissenschaft unterworfen sieht, in den Abschnitten zu überzeugen, in denen der Autor die Rolle der Medien als Vermittlungsinstanz wissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet. Mit dem sich im 20. Jahrhundert vollziehenden Strukturwandel hin zu einer massendemokratischen Öffentlichkeit ging vor allem die ‚Popularisierung’ der im öffentlichen Diskurs noch immer als ‚überlegen’ erachteten Wissensform des wissenschaftlichen (‚wahren’) Wissens in den © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 150 P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Medien einher. Allerdings bedeute ein medial vermitteltes, ‚popularisiertes’ Wissen in der Binnenperspektive vieler Wissenschaftler, so Weingart, auch heute noch im besten Fall lediglich die „Vereinfachung, im schlimmsten Fall Verunreinigung“ des von ihnen produzierten Wissens (233), wobei dieser Trend - wenn auch meist nur für einen kurzen Zeitraum - einzelnen geschickt agierenden Vertretern eine relativ große mediale Präsenz ermöglicht. Weitaus nachhaltiger stellt sich eine andere Gefahr dar, die für die Wissenschaft, ihre Validierungskritierien sowie ihre Selbstregulierungsinstanzen und -mechanismen von der ‚Popularisierung’ wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgeht: „Die Zustimmung von ‚außen’, der leicht erheischte Massenapplaus, verfälscht unter Umständen das unbequeme und kritische Urteil der Fachkollegenschaft“ (235), in der medialen Berichterstattung über Wissenschaft, das zeigt Weingart etwa am Beispiel der Goldhagen-Debatte in Deutschland (267 ff.) eindrücklich, tritt „mediale Prominenz potenziell in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Reputation“. (239) Das Prinzip des „peer review“, der Begutachtung und Bewertung von Publikationen und Forschungsanträgen durch die dazu allein kompetenten Kollegen („peers“), und letztlich die Autonomie der Wissenschaft, ist damit potenziell bedroht. Die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Neutralität werde überdies gefährdet durch die ‚verlockende’ Möglichkeit für die Wissenschaft - insbesondere die in akute Legitimierungskrisen geratenen Disziplinen -, die Medien mit dem Ziel der Akzeptanzbeschaffung zu instrumentalisieren. (248) Mit dem Bedeutungszuwachs der Medien ging jedoch auch ein Bedeutungsverlust patriarchalischer Formen wissenschaftlicher Aufklärung ‚von oben’ einher. Diese Entwicklung ist als ein Teilprozess des grundlegenden Wandels von Öffentlichkeit (und damit auch des Öffentlichkeitsbegriffs) im 20./21. Jahrhundert zu begreifen: Weingart weist mit Recht darauf hin, „dass es DIE Öffentlichkeit, die in ihren Interessen homogen ist und wissensbegierig auf die Informationen der Wissenschaft wartet, nicht (mehr) gibt“. (249) Vielmehr beschreibt er den Wandel der Kommunikation von Wissenschaft in die Öffentlichkeit als „Wissenschaft-MedienKopplung“, woraus er die These von der „Medialisierung der Wissenschaft“ ableitet. (252) Wie im Hinblick auf die Politik komme den Medien auch in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft eine legitimatorische Funktion zu, welche im Zusammenspiel mit dem „konstruktive[n] Effekt der medienspezifischen Verarbeitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Entstehung großer politisch relevanter Themenkomplexe führen [könne], die der Tendenz zu einer auf die Erlangung von Aufmerksamkeit gerichteten diskursiven Überbietungsdynamik“ - unter dem inflationär gebrauchten Rubrum ‚der neueste Stand der Forschung’ - folgen. (253) Mit Blick auf den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft skizziert Weingart die Gefahren ihrer zunehmenden Kopplung an die Medien, doch hält er sich in der Beurteilung der Folgen dieses Distanzverlusts und ihres Ausmaßes zurück: Die entscheidende Frage laute, „ob die Medien indirekten Einfluss auf die (bzw. in Konkurrenz zu den) Selbststeuerungsmechanismen der Wissenschaft gewinnen, das heißt, ob der Bezug auf Öffentlichkeit ein größeres Gewicht erhält als der Bezug auf ‚Wahrheit’.“ (282) Auch wenn der endgültige Beweis für eine solche Tendenz nicht erbracht sei, so sieht Weingart doch eine Vielzahl von Indizien für eine tendenziell beunruhigende, durch zunehmende Interdependenzen und paradoxe Entwicklungen gekennzeichnete Veränderung der politischen, der Medien- und der Wissenschaftslandschaft. Ausdruck eines solchen Wandels sei ein - offenbar unumkehrbarer - Trend: die stärker werdende „Interferenz des (wissenschaftlichen) Kontexts der Rechtfertigung des Wissens (context of justification) und des (politischen) Bedeutungskontexts (context of relevance)“. (328) 3. „Peer review“ oder Externalisierung der Leistungsbewertung? Das bereits erwähnte „Peer-review“System, in der öffentlichen Debatte bisweilen verkürzend als eine Art (‚Wahrheits’-)TÜVPlakette der Fachzeitschriften charakterisiert, wird in Wahrheit in drei unterschiedlichen Kontexten als Beurteilungsinstrument eingesetzt, und zwar: 1. bezüglich der Qualität wissenschaftlicher Arbeiten vor deren Veröf- © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 151 fentlichung, 2. im Hinblick auf Projektanträge an Förderorganisationen zur Forschungsfinanzierung und 3., um Forschungsergebnisse zu beurteilen und zu interpretieren, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen sollen. Die Schwächen und Grenzen des Systems sind in den letzten Jahren durch die Aufdeckung einiger spektakulärer Betrugsfälle evident geworden; ein Befund, der erst kürzlich durch einschlägige Berichte von Redakteuren einer Reihe wichtiger biomedizinischer Fachjournale erneute Bestätigung gefunden hat.2 Zwar drückt „peer review“ den Anspruch der „scientific community“ auf professionelle Autonomie aus; bewusste Unredlichkeit und andere Formen der Abweichung vom ‚Ethos der Wissenschaft’ führen jedoch unweigerlich zu einem Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in selbige, bisweilen zur Unterminierung des Vertrauensverhältnisses innerhalb der „scientific community“ selbst. So glich die Externalisierung der Leistungsevaluation in den verschiedenen Phasen ihrer Umsetzung, u. A. durch die Einführung von Zitationsanalysen und anderen quantitativen Methoden (Erhebung von Publikationsziffern etc.), bisweilen einem scheinobjektiven Wissenschafts-„Controlling“ und hat(te) mithin vorrangig eine legitimatorische Funktion - jedoch auch Folgen sowohl in organisatorischer als auch epistemischer, die wissenschaftliche Kommunikation selbst betreffender Hinsicht: Der Trend zur Evaluation von außen, so Weingart, habe durchaus zur Professionalisierung von Leitungsfunktionen in den Universitäten, zu einer Ausdifferenzierung des Wissenschaftsmanagements geführt. (319) Auf die Einführung eines Systems von ‚Belohnung’ und ‚Bestrafung’ reagierten die Wissenschaftler in zunehmendem Maße strategisch, etwa in ihrem Publikationsverhalten: Hier geht der Trend zur Veröffentlichung möglichst kleiner Einheiten, im Fachjargon „least publishable units“. Externe Evaluierungen, so Weingarts schlichtes Resümee, könnten nun einmal nicht unabhängig von den Einschätzungen der Wissenschaftler selbst funktionieren. So mögen die Wissenschaften, lange Zeit eine Sphäre weitreichender selbstgewählter Abschottung von anderen gesellschaftlichen Sektoren, infolge ver- stärkter medialer Aufmerksamkeit und zunehmender öffentlicher Kontrolle die ‚Intimsphäre’ des Elfenbeinturmes verlieren, jedoch wohl kaum das Privileg der Selbstevaluation. 4. Elitäre Wissenschaft oder „Demokratisierung“ der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft? In seiner Gesamtinterpretation modifiziert Weingart die nicht mehr ganz taufrische These des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der bereits in den 1940er und 50er Jahren die demokratische Gesellschaftsformation als Entstehungszusammenhang des ‚Siegeszuges’ der modernen, universalistischen Kriterien folgenden Wissenschaft benannt hatte3 , nur insofern, als er die fortschreitende Tendenz zur „Politisierung der Wissenschaft“ als „untrennbar mit der Demokratisierung der Gesellschaft [...] verbunden“ betrachtet. (329) So zeigt Weingart mit den Stichworten „Politisierung“, „Kommerzialisierung“ und „Medialisierung“ der Wissenschaft zwar durchaus die Ambivalenzen dieses ‚Siegeszuges’ der Wissenschaft auf und weist nachdrücklich die Gefahren und Folgen ihres Autoritätsverlusts sowie ihres kaum mehr einzulösenden Exklusivitätsanspruchs hin. Gleichwohl konstatiert er nüchtern: „Es gibt keine Alternative zu wissenschaftlicher Expertise, um politische Entscheidungen mit einer instrumentell verlässlicheren Grundlage und damit einer höheren Legitimität zu versehen.“ (169) Folgt man Weingarts schlüssiger Analyse, so stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung, in der durch zunehmende politische Instrumentalisierung die Grenze zwischen gesichertem und hypothetischem Wissen mehr und mehr verwischt wird. Gleichzeitig wächst durch die bereits im Produk2 Vgl. hierzu den Artikel von Klaus Koch, Zeitschriften unter der Lupe, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 221 vom 25. September 2001. Für die Diskussion über Qualitätsstandards in der sozialwissenschaftlichen Forschung vgl. neuerdings: Franz Breuer/Jo Reichertz, Wissenschafts-Kriterien: Eine Moderation, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Qualitative Social Research [Online Journal] 2 (2001), no. 3; verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs/fqshtm 3 Vgl. etwa Robert K. Merton, Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur [1957], in: Peter Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie 1: Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozess, Frankfurt/Main 1972, S. 45-59, hier vor allem S. 48-50. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 152 P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit? tionsstadium einsetzende öffentliche, d. h. mediale Beobachtung von Wissen (‚public science’) die Bedeutung von öffentlichen Repräsentationen und Symbolen; seit Jahren ist eine steigende Konjunktur von ‚PublicRelations’-Agenturen, von Instanzen also, die zwischen einem breiten externen Publikum und der Wissenschaft vermitteln, zu beobachten. Ein solches „PR-Management“ ist aus Weingarts Sicht „ein Produkt der engen Kopplungen, ein funktionales Äquivalent für Distanz“, kurz: „die derzeitige Form der Re-Integration der Wissenschaft in die Gesellschaft“. (354) So wird sich Wissenschaft unter den geänderten Vorzeichen einer neuen Wissensordnung der ‚postindustriellen’ Informationsgesellschaft auch jener neuen Formen des PR-Managements bedienen müssen, um in der Konkurrenz um Vertrauen und Glaubwürdigkeit bestehen und weiterhin den Prozess der ‚Wahrheits’-Kommunikation gewährleisten zu können. In Übereinstimmung mit dem Münsteraner Soziologen Uwe H. Bittlingmayer seien jedoch Zweifel und partieller Einspruch in Bezug auf die - bei Weingart, wenn überhaupt, nur unterschwellig anklingende - These angemeldet, „der zufolge Wissensgesellschaften sich durch eine bereits durchgesetzte Leistungsgerechtigkeit [...] sowie durch gesamtgesellschaftlich gestiegene Handlungsoptionen auszeichneten“, was mittelfristig zu einer Nivellierung sozialer Ungleichheit, insbesondere im Hinblick auf das angeblich ‚demokratiserend’ und kulturell ‚enthierarchisierend’ wirkende Medium Internet, führe.4 Allerdings trifft diese Kritik im Kern eher auf die neueren Arbeiten des in Kanada lehrenden Soziologen Nico Stehr zu.5 Demgegenüber besteht die Stärke von Weingarts Ansatz darin, dass er, obwohl er vorwiegend die Makrostrukturen der modernen Wissensgesellschaft beleuchtet, anhand einer Vielzahl von Fallbeispielen eben auch die Handlungskontexte, -motive, und -strategien der für die Ausgestaltung der heutigen (und künftigen) ‚Ordnungen’ der Wissens- und Informationsgesellschaft maßgeblich verantwortlichen Akteure in den Blick rückt. Nicht zuletzt bestimmt das zwischen den beiden Polen „Wahrheitsorientierung der Wissenschaft“ und „Demokratisierung der ‚postin- dustriellen’ Gesellschaften“ (354) bestehende Spannungsverhältnis den Handlungskontext der aus den verschiedenen sozialen Sektoren heraus agierenden Institutionen und Einzelpersonen. Ein Spiel, in dem es um einiges geht - und die Distanz zwischen den Mitspielern schwindet zusehends. Anmkerkungen: Ulrich Prehn über Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Vom Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001, in: H-Soz-u-Kult 14.11.2001. 4 Zur Kritik an diesem Ansatz siehe Uwe H. Bittlingmayer, „Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001, S. 15-23, Zitat: S. 15. 5 Vgl. Nico Stehr, Moderne Wissensgesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001, S. 7-14, hier vor allem S. 12 f. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 153 Wissenschaft und Macht (Archiv) 1 von 2 http://www.deutschlandfunk.de/wissenschaft-und-macht.1148.de.print... Deutschlandfunk – Aus Kultur- und Sozialwissenschaften Beitrag vom 07.03.2013 20:10 Uhr (Archiv) URL dieser Seite: http://www.deutschlandfunk.de/wissenschaft-und-macht.1148.de.html?dram:article_id=239700 Wissenschaft und Macht Wie Politiker und Wissenschaftler sich in schwierigen Fragen gegenseitig die Verantwortung zuschieben Von Andreas Beckmann Ist die Finanzkrise ein Beispiel für das Versagen wissenschaftlicher Politikberatung? (AP Archiv) Auf dem Papier ist die Forschung frei von Einflüssen aus der Regierung. Praktisch beeinflussen sich Wissenschaftler mit ihren Prognosen und Politiker mit ihrer Macht gegenseitig. Das kann wie im Fall der Finanzkrise ins Desaster führen. Geist und Macht - das scheinen für viele Intellektuelle zwei gegensätzliche Sphären zu sein. Warum sonst hätten seit der Aufklärung alle demokratischen Bewegungen darauf beharrt, dass Forschung und Lehre frei sein sollten von politischem Einfluss. Doch in der Praxis wirken beide Seiten ständig aufeinander ein, weil sie voneinander abhängig sind. Kaum eine Uni oder ein Forschungsinstitut kommt ohne öffentliche Gelder aus. Und jeder Politiker freut sich, wenn er für sein Programm Unterstützung durch wissenschaftliche Autorität findet. Gleichzeitig will sich aber keiner vom anderen reinreden lassen. Da hilft es nur bedingt, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Macht im politischen Alltag zumindest theoretisch klar geregelt ist, betont Renate Mayntz, emeritierte Professorin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. "Die Ziele müssen von der Politik gesetzt werden, in einem demokratischen Prozess, hofft man, ist nicht immer so, aber immerhin, das ist das Vorrecht der Politik und dabei kann wissenschaftliches Wissen nur am Rande eine Rolle spielen. Das heißt, die Wissenschaft steckt Möglichkeitsräume ab oder formuliert Herausforderungen." Regierungen wollen ihre Möglichkeitsräume aber lieber selbst gestalten und die Wissenschaft für ihre Ziele in die Pflicht nehmen. Umgekehrt glauben viele Professoren, qua bessere Einsicht in die Materie bestimmen zu können, wie gute Politik auszusehen habe. So versuchen beide Seiten immer wieder, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben. In den letzten 20 Jahren habe sich dabei die Waage eindeutig in Richtung Wissenschaft geneigt, bilanziert Professor Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin. Immer mehr politische Verantwortung werde Parlamenten entzogen und Expertengremien überlassen. "In sage und schreibe 84 Ländern sind seit 1990 Reformen vorgenommen worden, die eine Stärkung der Zentralbank beinhaltet haben. Mindestens genauso wichtig ist die Bedeutungszunahme von Verfassungsgerichten. Auch die sind in den letzten Jahrzehnten parallel zu den Zentralbanken in über 80 Ländern der Welt gestärkt worden. In beiden Fällen, Zentralbanken und Verfassungsgerichten, handelt es sich um nicht-majoritäre und expertokratische Institutionen, als ihre Autoritätsausübung nicht auf der Beteiligung der Bevölkerung, nicht auf dem Mehrheitsmodus, sondern auf dem Fachwissen der Mitglieder des Gremiums beruht." Interessanterweise, so Michael Zürn, seien aber nicht machthungrige Wissenschaftler die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung, sondern Politiker, die freiwillig Gestaltungsspielräume abgäben, weil sie auf vielen Gebieten nicht mehr glaubten, noch Mehrheiten für sachgerechte Lösungen finden zu können. "Ganz gleich, ob es sich um die öffentliche Verschuldung, die Vernachlässigung der Bildung oder die Klimafrage handelt, in all diesen Fällen scheint eine Mehrheit der vom Status Quo Begünstigten notwendige Veränderungen auf Kosten von Minderheiten und zukünftiger Generationen zu verhindern. Das verweist auf ein möglicherweise neues Verhältnis von Mehrheitsentscheidung und Problemlösung." Dass immer mehr Entscheidungen an Experten delegiert werden, befürworten offenbar auch viele Wähler. Michael Zürn zitierte Umfragen aus diversen westlichen Ländern, wonach Bürger zwar mehrheitlich das Prinzip der Demokratie bejahten, im Zweifelsfall aber eher Wissenschaftlern als den von ihnen selbst gewählten Politikern vertrauten. Ob sich die Wissenschaft über diesen Zuwachs an Einfluss aber freuen sollte, daran zweifelt nicht nur Michael Zürn. David Gugerli, der an der ETH Zürich Wissenschaftsgeschichte lehrt, weist darauf hin, dass Forscher von vielen Krisen genauso überfordert seien wie Politiker. Die alternde Gesellschaft oder der Klimawandel seien schließlich auch für die Wissenschaft vollkommen neue Phänomene, mit denen sie keine Erfahrung habe. "Wenn Sie keine Erfahrung haben, aus der Sie Wissen ableiten können, wird es sehr schwierig. Dann müssen Sie, das hat man dann in den 70er-, 80er-Jahren langsam angefangen aufzubauen, dafür hat man dann Modellierungen gemacht, man hat in Szenarien gedacht, man hat gerechnet, man hat simuliert, um Vorstellungen zu gewinnen, was denn passieren könnte. Das war gewissermaßen ein Empirieersatz." Doch auch, wenn sich diese Vorstellungen und Modelle noch so sehr auf Fachwissen stützten, sie könnten leicht zu Ratlosigkeit oder gar in die Irre führen, konstatiert David Gugerli. Beispiel Atomkraft: In komplexen Simulationen hatten Kernphysiker ermittelt, wie gering das Restrisiko eines Reaktorunfalls sei. Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima ereigneten sich trotzdem. Beispiel Finanzmarkt: Mit ausgeklügelten mathematischen Modellen hatten Wirtschaftswissenschaftler getestet, wie sicher all die neuartigen Wertpapiere und Fonds der Banken waren. Ihre Berechnungen seien weitgehend korrekt gewesen, so David Gugerli, sie hätten nur ein paar Faktoren übersehen. "Das trivialste Beispiel ist, dass man irgendwann vergessen hat, worauf Finanzmarktderivate massenhaft gebaut worden sind, nämlich auf den steigenden Markt für amerikanische Immobilien. Das wurde ausgeblendet." Die Finanzkrise wurde zum Desaster für viele europäische Regierungen, die eine nach der anderen abgewählt wurden, weil sie die Probleme nicht in den Griff bekamen. Sie ist aber gleichzeitig ein Beispiel für das Versagen wissenschaftlicher Politikberatung, stellt Renate Mayntz fest. "Ganz eindeutig. Das ist nicht nur meine Meinung, diese Meinung ist ausgesprochen verbreitet. Selbst eine Reihe von Mainstream-Ökonomen, hinterher haben sie sich schuldig bekannt, dass sie die falsche Theorie gehabt hätten und dass sie nun gelernt hätten. Das ist ein sehr gutes Beispiel. Hängt damit zusammen, dass gerade die Wirtschaftspolitik ganz stark beeinflusst wurde von wissenschaftlichen Theorien." Viel zu lange, so Renate Mayntz, sei die Politik der monetaristischen Wirtschaftslehre gefolgt und habe auf Deregulierung gesetzt. Aus der Krise werde sie nur herausfinden, wenn sie es schaffe, wieder eigene Handlungsmaximen aufzustellen. Doch praxistaugliche Konzepte können Politiker ohne wissenschaftliche Expertise kaum entwerfen. Das gilt für die Wirtschaftspolitik, aber auch für jedes andere Handlungsfeld. Wissenschaft und Macht bleiben also aufeinander angewiesen. Sie werden ihre Sphären nicht trennen können. Stattdessen müssen sie ihr Verhältnis immer wieder neu austarieren. 154 12.09.2014 19:43 FORSCHUNG Virologen fürchten Engpässe für Forschung Von Birgitta vom Lehn Der Wettlauf um die Gelder von Big Pharma hat begonnen. In der Pharmaindustrie werden seit längerem Mega-Deals abgeschlossen wie lange nicht. Universitäten und Institute befürchten nun, das könnte sich künftig schlecht auf Forschungsbudgets und Standards für die Entwicklung von Medikamenten auswirken. Wenn Pharmagiganten den Arzneimittelkuchen neu aufteilen und die Märkte zur Monopolisierung drängen: Lässt das die Wissenschaftscommunity kalt? In Großbritannien hat der Kanzler der Universität Cambridge, unterstützt von zwei Londoner Kollegen, heftig gegen die AstraZeneca-Übernahme durch Pfizer gewettert. Forschung und Entwicklung seien in Gefahr, falls die Amerikaner sich das britische Unternehmen tatsächlich einverleiben. Und hier? Die Universitätsmedizin hängt vielerorts zwar genauso am Pharma-Tropf wie in England, übt sich aber in vornehmer Zurückhaltung. Die Uniklinik Heidelberg möchte sich auf Anfrage zu den jüngsten Pharma-Deals genauso wenig äußern wie die Charité. An Spekulationen beteilige man sich nicht, heißt es, oder: keine Zeit. Das ist insofern kein Wunder, als es sich mit den Großen der Branche, also denen, die viel Geld zu vergeben haben, niemand verderben will. Denn Arbeitsplätze, Rankings, Ansehen und leistungsorientierte Mittelvergabe hängen daran, wenn die Pharmariesen in ihre Institute investieren. Deshalb buhlen die Hochschulen um sie und rollen ihnen den roten Teppich aus. „Die Versuchung wächst, sich aktiv als Kandidat für eine strategische Partnerschaft oder gar Symbiose attraktiv darzustellen“, sagt Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Mit den Fusionen sinke der Wettbewerb und damit auch die Vergabe von Drittmitteln, prophezeit der Bildungsforscher. Sinkende Budgets Das Hauen und Stechen unter den Hochschulen werde zunehmen. Auch rechnet er in Zukunft eher mit qualitativ schlechteren Arzneimittelstudien, denn die riesigen internationalen Konzerne würden dann dafür eher in Länder gehen, wo es weniger unbequeme Auflagen und Regularien gibt. „Desto leichter entstehen Studien zu Themen und mit Ergebnissen, die den Auftraggeber zufriedenstellen“, sagt Kliche. Unliebsame Ergebnisse oder Nebenwirkungen würden dann natürlich schneller „eingemottet“. Auch der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske rechnet mit sinkenden Forschungsbudgets: „Fusionen haben bisher nie den Forschungsanteil wachsen lassen.“ Letztlich wirkten Fusionen „nicht wirklich forschungsfördernd“. Zudem habe sich bei „Big Pharma“ das Konzept durchgesetzt, kleinere potente Forschungsfirmen vor allem aus dem biopharmazeutischen und gentechnologischen Bereich zu kaufen. So ziehe man sich aus der teuren eigenen, kostenmäßig nur schwer kalkulierbaren Forschung immer weiter zurück. Christiane Fischer vom Deutschen Ethikrat befürchtet, dass bislang ohnehin schon vernachlässigte Krankheiten wie Tuberkulose und Schlafkrankheit noch weiter ins 155 Abseits rutschen, weil es sich hier um Krankheiten vor allem in armen Ländern handelt, für die nicht viel Geld fließt. Mehr Forschung für Scheininnovationen „Stattdessen werden wir das nächste überflüssige Medikament gegen Bluthochdruck oder Diabetes bekommen, das dann sechsmal so teuer ist wie das alte, aber keinen zusätzlichen Nutzen bringt.“ Die Medizinerin prophezeit „mehr Forschung für Scheininnovationen“ und weniger Forschung für Medikamente, die dringend gebraucht werden wie etwa Antibiotika. Letztere sind für die Firmen wegen ihrer nur zeitweiligen Einnahme bei weitem nicht so lukrativ wie Medikamente, die chronisch kranke Patienten schlucken oder spritzen müssen. Alarm schlagen auch die Virologen. Mit dem Verkauf der Impfsparte durch Novartis an den ehemaligen Konkurrenten GlaxoSmithKline verringere sich die Zahl der ImpfstoffHersteller von drei auf zwei. Die Monopolbildung sei „sehr kritisch“, warnt Hartmut Hengel, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Freiburg und Vizepräsident der Gesellschaft für Virologie. Denn Impfstoffe seien keine gewöhnlichen Arzneistoffe. Komme es zu Lieferengpässen, etwa aufgrund verunreinigter Chargen, wie dies im Winter bei etlichen Kinderimpfungen bereits der Fall war, so sei das Risiko von darauf folgenden Immunitätslücken in der Bevölkerung groß. Gebe es verschiedene Hersteller, so könne man in solch einem Fall immer noch auf einen anderen Produzenten zurückgreifen. Beim Berliner Robert-Koch-Institut zeigt man sich diesbezüglich gelassen. „Wir mischen uns nicht in die Sache von Privatunternehmen“, sagt die Sprecherin. Völlig unverständlich findet Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg, die Sorglosigkeit des Bundesinstituts. Schließlich gehe es um den Impfschutz der Bevölkerung: „Warum schauen jetzt alle nur stumm zu, während sich bei großen Fusionen in anderen Sparten, etwa in der Telekommunikation, sofort Wettbewerbshüter einschalten? Auf Gesundheit kann man nicht verzichten, aufs Telefonieren schon.“ Einzig beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg blickt man optimistisch nach vorn. „Der Hintergrund der gegenwärtigen Fusionen ist: Die Pipeline der Unternehmen ist leer, aus eigener Forschung können sie nur noch wenige Produkte auf den Markt bringen“, sagt Vorstandsvorsitzender Otmar D. Wiestler. Das werde auch noch einige Zeit so bleiben. Selbst habe man aber eine „interessante Pipeline“ anzubieten, man würde „gern intensiver mit ausgewählten Unternehmen zusammenarbeiten“. Der Wettlauf um die Gelder von Big Pharma hat also längst begonnen. Berliner Zeitung, 18. 5. 2014 156 157 158 159 160 161 162 163 Galilei als 70jähriger (Sustermann, 1635) 164 Titelblatt des »Dialogo« (Erstausgabe 1632) Quelle: library.ethz.ch 165 Titelblatt und Seiten aus den »Discorsi« (Erstausgabe 1638) Galilei vor der Inquisition (Banti) 166 Galilei vor der Inquisition (Fleury) Titelblatt der »Lettere Solari« (Erstausgabe 1613) 167 Hessisches Landestheater Marburg, 2014 Materialsammlungzur zur Produktion »Ein des Sommernachstraum« Materialsammlung Produktion »Leben Galilei« Zusammengestelltvon von Alexander Leiffheidt und Katharina Zusammengestellt Maresi Wagner und Alexander LeiffheidtPlum Die in dieser Sammlung zitierten Texte dienen ausschließlich der künstlerischen und wissenschaftlichen/didaktischen Vorbereitung und Begleitung der Produktion nach §51 UrhG. 168