Leben des Galilei

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Leben des Galilei
Leben des Galilei
Materialsammlung
Spielzeit 2014/15
Inhalt
Einleitung
1
Zum Autor
 Zeittafel
 Biographie
4
8
Zum Stück





Basiswissen (Zusammenfassung)
Entstehung der 2./3. Fassung, Deutungsansätze
Anmerkungen Brechts (Auszüge)
Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei
Hanns Eisler über »Leben des Galilei«
13
16
26
30
38
Galilei und seine Zeit







Synoptischer Überblick der Ereignisse
Letztes Verhör und Widerruf
Weltsysteme
Die römische Inquisition der Neuzeit
Die Pest
Pestepidemien im Europa der Frühen Neuzeit
Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year (Auszug)
53
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70
73
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92
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Spiel
 Kurztexte und -erläuterungen von Müller, Schleef, Heidegger,
Suschke und Brecht
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Kontexte






Was ist gesellschaftlich relevante Wissenschaft?
Wie frei ist die Wissenschaft?
Die Stunde der Wahrheit?
Wissenschaft und Macht
Virologen fürchten Engpässe für Forschung
Foucault: Andere Räume
Bildmaterial
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148
149
154
155
157
164
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2.1. Zum Autor:
Zeittafel
aus: Jan Knopf. Bertold Brecht.
Suhrkamp BasisBiographie, 2006
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6
7
2.2. Zum Autor:
Biographie
aus: Knopf, Jan. Eintrag in Metzler Lexikon der Weltliteratur,
2006
8
9
10
11
Jan Knopf wurde 1944 in Arnstadt/Thüringen geboren. Er ist seit 1984
Professor für Literaturwissenschaft und seit 1989 Leiter der
Arbeitsstelle Bertold Brecht (ABB) am Institut für Literaturwissenschaft
der Universität Karlsruhe, Herausgeber und Autor diverser BrechtBiografien und Handbücher. Anzumerken ist, dass sich in seiner
ausführlichen Forschung und Publikation zu Brecht tendenziell eine
gewisse Entpolitisierung des Autors wiederfindet: »Knopf schreibt vor
allem gegen das Vorurteil an, Brecht sei Kommunist
gewesen.« (deutschlandradiokultur.de, Jörg Magenau: Im Osten
verklärt, im Westen ausgegrenzt)
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3.1. Zum Stück:
Basiswissen (Zusammenfassung)
13
aus: Jan Knopf. Bertold Brecht. Suhrkamp
BasisBiographie, 2006
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3.2. Zum Stück:
Entstehung der 2./3. Fassung.
Deutungsansätze
16
aus: Knopf, Jan. Brecht Handbuch.
J.B. Metzler 1986
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3.3. Zum Stück:
Anmerkungen Brechts (Auszüge)
aus: Brecht, Bertold. Gesammelte Werke.
Große kommentierte Berliner und
Frankfurter Ausgabe, Bd. 24, 1991
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3.4. Zum Stück:
Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei
(Auszüge)
30
31
32
aus: Brecht, Bertold. Gesammelte Werke.
Große kommentierte Berliner und
Frankfurter Ausgabe, Bd. 25, 1994
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3.4. Zum Stück:
Hanns Eisler über "Leben des Galilei"
XV Über »Leben des Galilei«
AUSMATHEMATISIEREN • EINSTEIN VERRECHNETE SICH • FALSCHES
VOKABULAR • VOM ÜBERLEBEN • EINLADUNG ZUM AUSVERKAUF •
GESCHEITER ALS DIE REGIERUNG • WAHRHEITEN IM SACK • DER
SCHILLERSCHÜLER • KRITIK MIT DEM HUT IN DER HAND • ÄSTHETISCHE
REIZE SCHLAGEN IN POLITIK UM • ELEGANZ MACHT ÄRGERLICH • ÜBER DAS
AUSPROBIEREN • DER SPEZ • EIN SCHLAUER HERR
Bunge: Während unserer Gespräche im Jahre 1958 hat Hanns Eisler
mehrmals auf Brechts »ausgesprochenen Sinn für Mathematik«
hingewiesen. Beispielsweise sagte er: »Die Musikalität von Brecht
war eine riesige Musikalität ohne Technik — genauso wie der Brecht
ein eigentümliches mathematisches Talent war, ohne mathematische
Technik.« Eisler berief sich auch darauf, daß er von Brecht oft den
Ausdruck »einen Stoff ausmathematisieren« gehört habe. Ich hätte
dieses Phänomen gern weiter untersucht, aber es dauerte mehr als
drei Jahre, bis sich die Gelegenheit dazu bot. Ich hoffte nämlich, im
Verlauf der Unterhaltung auf das Stück »Leben des Galilei« zu
kommen, nachdem andere Versuche zu keinem Erfolg geführt hatten.
Eisler wich diesem Gespräch — so schien es mir allmählich —
absichtlich aus.
Einmal, als ich referierte, daß die amerikanische Fassung des Stückes
am 1. Dezember 1945 abgeschlossen wurde und daß Charles
Laughton sie vor Brecht, Helene Weigel, Stefan Brecht, Hanns Eisler,
Berthold und Salka Viertel, Hermann Reichenbach, Lion
Feuchtwanger, Wirtele und Brush vorgelesen habe, gab Eisler
lediglich einige Erklärungen über die Zuhörer ab.
Darauf las ich das »Vorwort« der amerikanischen Fassung vor, das
anscheinend selbst bei Brecht in Vergessenheit geraten war, denn es
ist niemals irgendwo benutzt worden. Ich hatte es im Arbeitsbuch
»entdeckt«:
Geehrtes Publikum der Breiten Straße
Wir laden Sie heut in die Welt der Kurven und Maße
Zu entschleiern vor Ihrem Kennerblick
Die Geburtsstunde der Physik.
Sie sehen das Leben des großen Galileo Galilei
Den Kampf des Fallgesetzes mit dem gratias dei,
Der Wissenschaft mit der Obrigkeit
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An der Schwelle einer Neuen Zeit.
Sie sehen die Wissenschaft jung, geil und drall
Und Sie sehen ihren Sündenfall.
Sie muß essen und ihr wird Gewalt getan
Und so kommt sie auf die schiefe Bahn
Und wird, die Meisterin der Natur
Billige Gesellschaftshur.
Noch ist das Wahre nicht die Ware
Doch hat es schon dies Sonderbare
Daß es die Vielen nicht erreicht
Und macht ihr Leben schwer statt leicht.
Solches Wissen ist aktuell
Die Neue Zeit läuft ab besonders schnell.
Wir hoffen, Sie leihen Ihr geneigtes Ohr
Wenn nicht uns, so doch unserm Thema, bevor
Infolge der nicht gelernten Lektion
Auftritt die Atombombe in Person.
Eisler freute sich über die Wiederbegegnung, fand das Gedicht
großartig und sprach die Hoffnung aus, es in der wissenschaftlichen
Gesamtausgabe zu finden — aber dann lenkte er sofort wieder auf ein
anderes Thema ab.
Ich mußte sehr drängen, bevor ich eine — alles andere als
erschöpfende — Auskunft über die amerikanische Bearbeitung erhielt.
Eisler: Es war eine fabelhafte Leistung. Der Brecht hat ja, glaube ich,
mit Laughton eineinhalb Jahre lang das englische Skript hergestellt.
Das ist ja nicht nur eine Übersetzung — dadurch, daß Brecht da
mitgearbeitet hat. Brecht verstand ja enorm viel englisch. Er hat sich
geweigert, als deutscher Dichter diese ihm an sich teure Sprache zu
sprechen. Zum Unterschied von meiner Schamlosigkeit. Ich
radebrechte eben sogleich am Beginn.
Und Brecht, der wirklich englisch konnte, war sehr vorsichtig mit
seinen Formulierungen.
Also das ist eine großartige Neuschöpfung, Neudichtung.
Hat sich auch gegenüber dem Original stark verändert.
Es ist eine Riesenleistung von Laughton, ob ers haben will jetzt oder
nicht.
Bunge: Über die Aufführungen war gar nichts herauszubekommen.
Natürlich habe Eisler beide Inszenierungen gesehen, sowohl die in
Kalifornien als auch die in New York. Schließlich habe er ja die
Musik dazu geschrieben. Das war alles.
Nun hoffte ich, mit einem Gespräch über Mathematik ein Sprungbrett
zu finden.
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Obwohl sich herausstellte, daß Eislers Erinnerung an seine früheren
Äußerungen ausgezeichnet war, sah ich zunächst einen weiteren
Mißerfolg voraus. Eisler lehnte rundweg ab, über den »Mathematiker
Brecht« zu sprechen.
Eisler: Lieber Freund, das mache ich nicht.
Bunge: Aber wir haben doch diese Frage damals nur angeschnitten.
Eisler: Daß er den pythagoreischen Lehrsatz nicht verstanden hat?
Das hat doch keinen Sinn, daß ich jetzt am Grabe meines Freundes
Brecht höhnisch wie ein Dummkopf — jeder Schulbub weiß das —
auf einen gewissen Mangel an Forschung hinweise.
Aber er hat zum Beispiel gesagt, daß er seine Storys, seine Fabeln
»ausmathematisiert«. Das war der Ausdruck von Brecht. Das war
großartig. Das stimmte. In der reinen Mathematik kannte er sich nicht
aus. Warum soll er sich denn da gerade auskennen? Was wollen Sie
von Brecht noch haben? Daß er tanzen kann? Geige spielen kann?
Mathematik beherrscht?
Also ich meine: bei aller Bewunderung des Genies Brecht — das geht
doch einfach zu weit.
Bunge: Ich will nicht, daß er das kann, sondern ich wollte nur Ihre
Meinung zu bestimmten Vorstellungen Brechts hören. Was meinte er
zum Beispiel, wenn er von »ausmathematisieren« sprach?
Eisler: Das war also ganz hervorragend. Und jedem Mathematiker
hätte das Herz im Leibe gelacht über die unerbittliche Logik und
Unbarmherzigkeit gegen Effekte.
»Ausmathematisieren« bei Brecht hieß: die Sache zum Skelett zuerst
machen. Aber mit der Mathematik, das ist eine andere Sache. Um
Gottes willen! Schauen Sie, Einstein war ein schlechter Mathematiker.
Das kann Ihnen jeder Physiker sagen. Ich erinnere mich, ich kannte
einen gewissen Herrn namens Romm. Den traf ich in meiner Jugend,
1925, mit meinem Professor Hamburger, der ein Schüler von Einstein
war. Ich kannte Einstein, wie Sie wissen. Der Hamburger, der damals
Ordinarius in Köln für Mathematik war — Sie können in den
Mathematikbüchern den Hamburgischen Lehrsatz finden, den er mit
zwanzig Jahren gefunden hat —, sagte: »Na der Einstein ist ein
schlechter Mathematiker.« Zum Beispiel wenn der Einstein — als er
noch in der Universität unterrichtet hat — eine Formel aufschrieb,
dann hat sich dieser Romm (der eigentlich nur im »Romanischen
Café« saß, ein ziemlich verlumpter Bohémien) gemeldet und gesagt:
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»Herr Professor, das ist falsch!« Und hat ihm nachgewiesen, daß in
der Formel etwas falsch war.
Also Herr Romm, der inzwischen leider sittlich verkommen, vergessen
ist — das ist ein Mathematiker. Der Einstein hat sich leicht in einer
Formel geirrt. Einstein war kein großer Mathematiker, so komisch das
klingt.
Das sagten mir — ich kann das gar nicht beurteilen — die
Mathematiker, und zwar die Verehrer, die zu seinen Fußsohlen
gewissermaßen gelegen sind und in ihm eins der erstaunlichsten
Genies der Menschheit bewundert haben.
Also es ist doch kindisch, den Brecht jetzt als Mathematiker zu
bezeichnen.
Das geht doch gar nicht. Höhere Mathematik ist doch ein ganz
anderes Gebiet.
Es ist eine Art der höchsten Abstraktion, der Brecht unbedingt fähig
war, weil es ihn beschäftigt hat. Aber ein Mensch, der sich nie damit
beschäftigt hat, kann doch nicht plötzlich mit vierzig Jahren ein
Mathematiker werden.
Er hat wirklich kaum den pythagoreischen Lehrsatz verstanden.
Aber für seine Fabeln, für seine Art zu denken gebe ich fünfzig
Mathematiker hin — also noch mehr — für ein Zehntel von Brecht.
Es hat doch keinen Sinn, den Mann auf sowas festnageln zu wollen.
Bunge: Das, glaube ich, macht auch niemand. Aber wenn er selbst
einen Ausdruck gebraucht wie eben »ausmathematisieren« ...
Eisler: Mathematisieren heißt bei ihm ja nur auslogisieren.
Brecht hat vielleicht sich oft in dem Vokabular vergriffen.
Seine Fabel mußte logisch unangreifbar sein. Also was man Logistik
nennt, auch im Militärwesen. Sie waren doch einmal auch beim
Militär wie ich und wissen, was Logik ist: etwas, was ausgerechnet
werden muß, die Bewegung eines Armeekorps. Das entspricht ja auch
mathematischen Vorstellungen. Man kann also nur gewisse Dinge
machen. Wenn das geht, dann geht das andere nicht.
Insofern war Brecht ein großer Logiker. Da will ich Ihnen sofort als
erster zustimmen. Und zwar ein unerbittlicher, auch gegen sich selbst.
Aber wenn wir jetzt mit der Schulweisheit kommen, mit Mathematik,
hat das gar keinen Sinn. Da würde auch Einstein nicht standhalten.
Irgendein drittklassiger Professor an einer kleinen Provinzuniversität
würde uns alle schlagen.
Bunge: Und wie hat Brecht das bei »Leben des Galilei« gemacht?
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Eisler: Nicht nur mit Mathematik, sondern mit Politik! Vergessen Sie
das nicht.
Die erste Fassung war »Die Schlauheit des Überlebens«. Großartige
Formulierung. Schauen Sie, die Leute, die innerhalb des Faschismus
als Physiker gearbeitet haben und, wie Hahn, die Atomzertrümmerung
entdeckt haben — haben sich genauso benommen wie in der ersten
Version von »Galilei«.
Die schickte mir auch der Brecht nach Amerika. Ich fand eben: gegen
den Druck, gegen den Wind sich klein machen. Mach dich gegen den
Sturm klein, aber bring deine Wahrheit durch! Der Hahn hat die
Wahrheit nach außen gegeben. Also wenn Sie den Hahn genau
verstehen — der Mann lebt noch, er ist achtzig Jahre alt —: er hat das
wirklich gemacht.
Er hätte ja der faschistischen Regierung seine Experimente übergeben
können. Er hat sie nicht übergeben.
Er hat geschwiegen bis zum Schluß. Das ist ein Ruhm.
Er hats gewußt und nicht weitergegeben. Er hat sie der Frau Meitner
— eine Jüdin, die in Kopenhagen bei Bohr war — übergeben. Die
verstand die Botschaft und hat sie dem Bohr gegeben.
Bohr flog nach New York, kam mit Kreisen antifaschistischer,
emigrierter — meist jüdischer — Physiker zusammen.
Und sie haben den Roosevelt aufmerksam gemacht, daß die
Deutschen, wenn der Hahn das hat... Roosevelt hat gesagt: »Das
interessiert mich überhaupt nicht.«
Da kam ein Brief von Einstein.
Einstein schrieb im Brief an Roosevelt: »Also hören Sie zu, die
Atomzertrümmerung, wenn die Deutschen das haben, ist eine
Weltgefahr. Ich schlage Ihnen vor, sofort das zu betreiben.«
Ja zu betreiben. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet Tausende
von Millionen, Milliarden Dollar.
Eine ungeheure Industrie muß angeheizt werden, um das zu machen.
Und sie haben das gemacht. Auf den Brief von Einstein hin.
Und zwar die letzte Überzeugung von Roosevelt war — Sie können
das nachlesen —, daß ein ungarischer Emigrant (oder war es vielleicht
Fermi, der italienische Emigrant, dem der erste praktische Versuch
geglückt ist?) sagte: »Wissen Sie, zu Napoleon I. kam ein Mann, der
das Dampfschiff erfunden hat und sagte: Sie können England erobern,
wenn Sie meine Erfindung des Dampfschiffes benutzen. Napoleon hat
ihn rausgeschmissen.«
Das hat auf Roosevelt einen ungeheuren Eindruck gemacht — und der
Brief von Einstein. Also das wäre hier ungefähr die erste Phase
Galileis. Die stimmt ja gar nicht.
Wir haben doch in Deutschland den Hahn gehabt, der das tatsächlich
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Herrn Hitler mitteilen konnte. Nun, der technische Weg war sehr
kompliziert. Die deutschen Physiker — also die faschistischen
Physiker — arbeiteten mit einer falschen Theorie: schwerem Wasser
statt Plutonium.
Ich sage aber doch nicht, um Gottes willen, daß die erste Phase von
Galilei nicht im Stück von Brecht genial ist.
Aber mit der realen Entwicklung der Physik, dort, wo sie praktizierbar
wird zum Entsetzen der Menschheit, können Sie »Galilei« überhaupt
nicht vergleichen. Ich warne Sie vor solchen Vergleichen! Sondern
Brechts Stück ist ein historisches Stück. Es zeigt nämlich einfach nur,
wie schwer es ist, die Wahrheit durchzusetzen.
Wie lang kann man kämpfen, ohne vernichtet zu werden?
Wie lang kann man durchstehen bis zum Ende — und die Wahrheit
noch weitergeben und sich selbst erkennen als schwacher Mann?
Also wenn man als Physiker den »Galilei« sieht — und sieht nun die
Realität der letzten dreißig Jahre innerhalb des faschistischen
Deutschland —, kommt man gar nicht darauf.
Genauso wäre es, wenn Sie vergleichen einen Mörder mit Macbeth.
Da könnten Sie alles vergleichen.
Die Physik ist nur der Aufhänger, das Thema, mit dem ein Mensch
gezeigt wird, der mit einer großen Macht kämpft, sich verändert,
deformiert, ausverkauft, den Ausverkauf bedauert und das
Ausverkaufen auch decouvriert.
Also wörtlich können Sie das nicht nehmen. Gott sei Dank ist unser
Publikum nicht so gebildet, daß sie solche Bauchschmerzen haben.
Also das ist nicht eine Beschwerde für die Zuhörer. Im Gegenteil, sie
sehen etwas ganz Heroisches — und zwar zweimal umgedreht
Heroisches. Und das ist selbstverständlich eine grandiose Leistung
von Brecht.
Nämlich, den neuen Menschen in einer alten Gesellschaft zu zeigen.
Den neuen Menschen!
Wichtig ist nicht das Verhalten von Galilei gegenüber der Inquisition,
oder daß er zum Schluß nachgibt — das heißt, er ist in einer Villa
isoliert, von zwei Pfaffen bewacht —, wichtig ist nur, daß er doch
immer nach der Wahrheit gestrebt hat.
Die Gier nach dem Neuen, die Begierde, das Unwiderstehliche des
Forschens, das ist die große Tragödie Galileis — und nicht die
Umstände. Das muß man verstehen.
Bunge: Es gibt Szenen, in denen physikalische Experimente
demonstriert werden. Brecht hat sich dabei beraten und informieren
lassen ...
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Eisler: Ja, durch Schüler von Bohr.
Bunge:... und später, in Amerika, von Reichenbach …
Eisler: Hermann Reichenbach, ja, der alte Professor. Das war aber
schon die zweite Fassung. Denn damals war ich ja in Kopenhagen,
und da waren die Schüler von Bohr.
Bunge: Das Physikalische ändert sich nicht. Was sich ändert, ist die
Haltung Galileis.
Eisler: Die ist großartig. Die zweite Fassung ist wirklich großartig.
Die erste Fassung ist verschmitzt und ladet ein zum Ausverkauf. So ist
er nur ein schlauer Bursche, wissen Sie, wie ein chinesischer Weiser,
der also einfach durchschlupft durch die Maschen des Netzes der
Gewalt.
Das würde dem Westen ungeheuer gepaßt haben! Die zweite Fassung
ladet nicht mehr zum Ausverkauf ein.
Sie verurteilt das. Das ist also sehr wichtig.
Ich kann zum Beispiel sagen: ich lebe in der DDR, bin ein viel
gescheiterer Mann wie unsere Regierung — aber heimlich tu ich doch
mein Wissen vorenthalten. Eine schmutzige und schäbige Haltung,
nicht? Brecht hat das decouvriert.
Er wollte nicht irgendeinen Pinscher einladen, der glaubt, auf einem
Teilgebiet etwas besser zu wissen als die Arbeiterklasse — und hat
ihm das auch noch weggenommen.
Das finde ich großartig bei Brecht. Die zweite Fassung ist die einzige
Rektifizierung des Problems.
Bunge: Die Veränderungen betreffen allerdings nur einige Stellen des
Stückes ...
Eisler: Erkennbar zum Beispiel im Schlußmonolog.
Bunge:... und das macht die Sache kompliziert. Von der ersten
Fassung ist soviel geblieben, daß man auch in der zweiten Fassung
häufig nur den verschmitzten Galilei sieht, der überleben will.
Eisler: Schauen Sie, das ist ja auch eine schöne Haltung. Seien wir
doch ehrlich. Ich darf das als alter Kommunist sagen. Das
Überlebenwollen um jeden Preis — und zwar mit der großartigen
Formulierung: ich habe noch die Wahrheit weitergegeben. Die
Stafette!
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Der Stafettenläufer der großen Wahrheit hat natürlich auch für einen
alten Kommunisten wie mich etwas ungeheuer Anziehendes. Aber zu
gleicher Zeit etwas Demoralisierendes.
Verstehen Sie? Wenn wir uns alle so benommen hätten, da gäbe es
überhaupt keine Arbeiterbewegung mehr.
Es gäbe nur verschmitzte, schlaue Leute, die die Wahrheit im Sack
haben und überleben wollen. Das zeigt die Größe Brechts, daß er das
weggenommen hat — also diese Unmoralität.
Denn Brecht war ja der beste Schüler von Schiller, wie Sie wissen.
Das Theater ist bei ihm eine echte moralische Anstalt.
Er war in ästhetischen Dingen zwar kein Barbar, aber die Ästhetik
hatte einen gewissen Punkt erreicht, wo die Ästhetik aufhört und wo
die Moral anfängt. Also der einzige Schiller-Schüler ist eigentlich
Brecht.
Daß er das gemacht hat, wo doch die erste Fassung viel anziehender
ist, das ist eine der größten Leistungen von Brecht.
Zum Beispiel in Westdeutschland heute wäre das einfach der Ausweg
für viele Leute.
Im Englischen heißt das: »Welcome, brother rat, in the gutter!« —
»Ich begrüße dich, Bruder Ratte, im Schmutz!« sagt er zu seinem
Schüler, als der Schüler ihn lobt.
Denn das andere war brillant, anziehend, für jeden Pinscher anziehend
— aber nicht echt revolutionär. Daß er nun noch einmal kritisiert
wird, das macht ja die Stacheln, weswegen Brecht in Westdeutschland
so schwer zu schlucken ist.
Ich muß sagen, das ist eine erstaunliche Leistung. Ich erinnere mich,
daß ich mit Brecht darüber diskutiert habe.
Ich muß offen zugestehen, daß ich mit der zweiten Fassung im
vorhinein nicht einverstanden war.
Die erste Fassung fand ich großartig. Als er mir die zweite Fassung in
Hollywood zeigte, war ich ein bißchen skeptisch.
Ich fand nämlich eine merkwürdige Heroisierung, eine
Überheroisierung.
Schon die erste Fassung ist eine Heroisierung: Unter der Gewalt
schweigen, aber die Wahrheit im Sack weiterbringen.
Hier fand ich eine zweite Heroisierung. Er bringt die Wahrheit weiter
— und sagt dann doch: ich bin ein Schwein, ich bin ein Schuft, ich
hätte es auch offen machen können.
Das fand ich die Doppelheroisierung. Hochinteressant!
Heute kann man sprechen darüber wie nach getanen Schlachten.
Verstehen Sie, wenn die großen Kunstschlachten vorüber sind, setzen
wir uns, lieber Bunge und der alte Eisler, zusammen und reden über
die großen Schlachten.
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Ich habe nur auf etwas bestanden. Ich glaube, Brecht hat das auch
eingesehen.
»Laß ihn zum Schluß fressen«, sagte ich. »Das geht mir zu weit.«
Der Mann ist erstens heroisch, weil er die Wahrheit weiterbetreibt,
illegal, blind — er sagt, er ist blind —, in der Weltkugel ist sie
verborgen, sein Schüler kommt, er gibt ihm das Manuskript, der
Schüler preist ihn, er antwortet: »Du preist mich schlecht, ich hätte
widerstehen sollen.« Das ist also ein Heroe. Also das geht mir einfach
zu weit. Sagte ich: »Laß ihn zum Schluß fressen. Man soll sehen,
warum er das gemacht hat.«
Was ich beim Brecht übelnehme in »Galilei« — übelnehme mit dem
Hut in der Hand, mit Verehrung dieses großen Meisters —, ist, daß
der Mann überheroisiert ist. Er hat nämlich zwei Haltungen
eingenommen. Mir hätte eine schon genügt.
Es ist sehr schwer, unter der Unterdrückung die Wahrheit im Sack zu
haben, blind weiterzuarbeiten und den Schülern das zu übergeben.
Das wäre eine riesige Sache gewesen. Er macht aber noch eine zweite
Sache: Er erkennt sogar seine eigene Verworfenheit.
Wobei 1939/40 zurückprojiziert wird in die Renaissance.
Das sind Tricks, die selbstverständlich nur so ein Genie wie Brecht
überhaupt machen konnte. Wenn ich mich heute frage, für welche
Fassung ich bin — ich müßte erst einmal nachdenken und zaudern.
Denn mir ist jetzt der Galilei zu heroisch. Also nicht wie die Leute
meinen: Der gemeine Verstand — »gemeiner« Verstand also nicht im
Sinne des Niedrigen, sondern der allgemeine Verstand — glaubt, daß
der Heroismus von Galilei beginnt, als er den Schüler beschimpft.
In der ersten Fassung beschimpft er den Schüler nicht.
Sondern der Schüler findet es ganz außerordentlich, daß dieser Mann
unter dem ungeheuersten Druck, blind, krank, alt, die Wahrheit
aufschreibt und weitergibt.
Hier müßte der Vorhang fallen, sagt man. Nein, der Brecht hat die
Sache noch weitergetrieben: Galilei beschmutzt sich.
Sie müssen doch zugeben, daß das eine enorm heroische Haltung ist.
Nun, schauen Sie, Galilei ist nicht mit Unrecht einer der großen
Heroen der Arbeiterbewegung. Sie werden schon in der frühen
Arbeiterbewegung finden, daß der Name Galilei eines der großen
Vorbilder ist.
»Eppure si muove« — »Und sie bewegt sich doch.« (Der Satz ist nicht
historisch bewiesen; Brecht hat ihn weggelassen.)
Er war immer ein großes Vorbild — auch für mich als kleiner Knabe.
Das wurde in den sozialdemokratischen Jugendverbänden gelehrt.
Zwar hat man ihm ungeheuer zugesetzt, aber er sagte zum Schluß:
»Und sie bewegt sich doch!«
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Brecht hat das einfach weggelassen.
Ja wissen Sie, das ist etwas so Bezauberndes an Genialität, wo ich
wieder die Ästhetik einführen würde.
Hier schlägt die politische Haltung Brechts, die unerbittlich war, in
ästhetische Reize um. Und die ästhetischen Reize schlagen in Politik
um. Deswegen frißt das momentan die ganze Welt. Hätte er das nicht
gemacht, wäre er einseitig gewesen.
Aber mir hätte die erste Fassung genügt. Ich war auch gegen die
zweite.
Gott sei Dank war Brecht so klug, auf die Stimme seines Freundes
Hanns Eisler — wie immer — nicht zu hören.
Bunge: »Wie immer« ist übertrieben.
Eisler: Na, lieber Freund, wissen Sie: ich will hier keinen
Heroenkultus betreiben. Sie wissen, Brechts Tod hat mich schwer
angeknockt. Und es ist wirklich keine Sentimentalität: Der Mann fehlt
uns nun ungeheuer. Also ich will Ihnen sagen: Brecht war ein großer
Mann, der sich nicht von mir dreinreden ließ. Das muß ich einmal
feststellen. Sonst kommt das so vor, als ob ich so irgendwie die
graue Eminenz war. Das war ich in keiner Weise. Das ist kindisch.
Das muß ich auch ablehnen.
Bunge: Es handelte sich um Zusammenarbeit.
Eisler: Das ist richtig. Es war eine echte Zusammenarbeit.
Vor allem 1929, als der große Sprung kam von »Dreigroschenoper«
und »Mahagonny« bis zur »Maßnahme«. Da funktionierte ich
eigentlich mehr wie der Bote der Arbeiterbewegung. Ich war nur der
Bote.
Ich war doch keine Persönlichkeit, sondern der Bote, der dem Brecht
noch etwas mehr Praktisches von der Arbeiterbewegung mitteilte, was
auf ihn, ein sehr empfindsamer Mann — ich sage »empfindsamer
Mann«: nämlich für Haltungen empfindsam —, einen gewissen
Eindruck machte.
Bunge: Sowohl in der ersten wie auch in der zweiten Fassung von
»Leben des Galilei« zeigt die letzte Szene, wie Andrea über die
Grenze geht. Diese Szene wurde zwar gedruckt, aber nie gespielt.
Eisler: Das weiß ich: nie. Ich würde sie spielen. Brecht hat sie selbst
gestrichen in der Hollywooder Erstaufführung. Sie ist großartig.
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Ich werde Ihnen sagen: die Werke der großen Meister — ob es nun
Shakespeare oder Johann Sebastian Bach oder Bertolt Brecht ist —
werden mal so gespielt in einer Periode und in einer anderen so.
Vergessen Sie nicht, daß Shakespeare hundertfünfzig Jahre völlig
entstellt war.
Brecht ist Gott sei Dank nicht so entstellt, weil wir das »Berliner
Ensemble« haben.
Also werden einige Szenen gestrichen, nun, in zwanzig Jahren werden
sie wieder eingefügt. Ich würde das nicht so theoretisch bedeutend
nehmen.
Im September macht Buckwitz in Frankfurt am Main den »Galilei«.
Ich werde ihm vorschlagen, die Szene einzufügen. Ich halte sie für
ungeheuer interessant. Gewiß ist es ein bißchen — im Englischen sagt
man »top-heavy«.
Es gibt ja auch Gesetze des Theaters. Es muß auch eine elegante Form
sein. Brecht ist ja auch für Eleganz.
Das macht ja seine Gegner so müde und so ärgerlich, daß der Brecht
neben all diesen großartigen Erkenntnissen, dieser großartigen
Sprache und der Meisterhaftigkeit seines Theaters auch noch so
elegant sein will und lustig sein will.
Das wäre zum Beispiel hübsch und lustig, die Szene zu haben.
Vielleicht kann ich den Buckwitz in Frankfurt überreden, die Szene
noch einmal wieder aufzumachen, was er wahrscheinlich machen
wird, weil er ja etwas Neues bieten will, da das Stück sehr viel
gespielt wird.
Bunge: Die Szene paßt meines Erachtens besser zur ersten als zur
zweiten Fassung.
Eisler: Ja ... Schauen Sie, wenn mir jetzt Brecht gegenübersitzen
würde, hätte ich eine gute Diskussion mit Brecht darüber.
Denn Brecht hat sich immer alle Anregungen angehört.
Man konnte Brecht auch von Dingen überzeugen. Er würde dann
wahrscheinlich zu mir sagen: »Weißt du was, ich will es
ausprobieren.« Die Größe Brechts war das Ausprobieren. Ich hasse
auch Künstler, die nix ausprobieren. Und Brecht haßte sie auch.
Also man müßte es ausprobieren. Ich bin überhaupt für ausprobieren.
Ohne Ausprobieren gibt es gar keine Kunst. Ausprobieren in
höherem Sinne.
Bei Brecht heißt es: ob der Gedanke rüberkommt, ob er verständlich
ist, ob er richtig ist — das heißt, ob das Richtige richtig verstanden
wird. Das ist bei Brecht ausprobieren — aber nicht formal oder
schwer oder leicht verständlich. In den Künsten ist das verschieden.
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Wenn ein Maler eine Dummheit auf eine Leinwand malt, ist es kein
Ausprobieren, sondern ein mieser Ausdruck oft.
In der Musik ist das oft viel komplizierter. Wir können nichts
ausprobieren. Wir haben die Musik im Kopf und schreiben sie auf.
Wir können nur ausprobieren, ob sie bei dem Zuhörer irgendeine
Wirkung macht. Wir können nicht ausprobieren, ob sie gedanklich
richtig ist. Ich muß oft Dinge ausprobieren, ob sie meine Zuhörer
überhaupt noch mitbekommen.
Ich muß sagen, daß ich mich sehr oft über meine Zuhörer einfach
frech hinwegsetze und sage: in zehn, zwanzig Jahren werden sie es
vielleicht mal verstehen.
Das ist eine grobe, vulgäre Haltung — aber es bleibt mir keine andere
übrig, besonders bei den Werken, die ich in der Emigration
geschrieben habe.
Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht sagen, daß ich alle
Sachen, die ich 1935 geschrieben habe — jetzt haben wir 1961 —,
ich kann doch nicht sagen, daß ich das ausprobieren will.
Sie müssen sich, sage ich — meine Hörer —, an meine Musik, an
bestimmte Typen meiner Musik gewöhnen. Entweder haben sie recht,
oder ich habe recht. Also das wird sich ja herausstellen, sage ich. Bei
Brecht kann man das auf einer viel höheren Stufe erleben, weil die
Literatur und die Poesie — und Brecht ist vor allem ein Poet, auch auf
dem Theater — es viel leichter haben.
Die Wahrheit muß mit wahrhaften Mitteln übermittelt werden.
Wenn Schwierigkeiten eintreten, ist es nicht die Frage des Zuhörers.
Es kann auch die Wahrheit zu kompliziert dargestellt werden.
Oft entspricht die Darstellung der Mittel nicht der Einfachheit der
Wahrheit.
Hier kommen wir in die echte Ästhetik hinein, wo ich wieder meinen
verehrten Meister Hegel bemühen muß.
Das sind die echten Probleme, wenn man wirklich ernsthaft über
Kunst reden will.
Aber wer will schon ernsthaft über Kunst reden in diesen Zeiten?
Natürlich außer Sie, lieber Genosse Bunge, und ich. Und zwar immer
wenn wir über Brecht reden.
Denn das ist ein ernsthafter Anlaß, ernsthaft über Kunst zu reden.
Schon das wäre ein Verdienst von Brecht. Denn wenn man über
Brecht spricht, kann man sich nicht drücken — weder politisch noch
ästhetisch. Weil nämlich beides widerspruchsvoll ineinander übergeht,
muß man also Farbe bekennen. Und die Farbe ist rot!
Bunge: Sie sagten vorhin, »Galilei« ist ein historisches Stück. Man
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könnte denken, Sie hätten gemeint, es handle sich um ein Stück über
den historischen Galilei.
Eisler: Das ist falsch. Da hätte ich mich falsch ausgedrückt.
Aber nehmen Sie an: ein Stück über Professor Hahn, der mit seiner
Assistentin Meitner die erste Möglichkeit der Atomfission entdeckt
hat und das der Meitner, die inzwischen als Jüdin emigriert war, nach
Kopenhagen schrieb, es aber gegenüber seinen Behörden verschwiegen hat. Ist das Galilei?
Nein, in keiner Weise. Hahn wurde unbelästigt gelassen, bis ihn die
Engländer verhaftet haben. 1944 hat man ihn irgendwo
hoppgenommen. Nach sechs oder acht Wochen Ehrenhaft in England
hat man ihn zurückgeschickt. Also das ist nicht Galilei.
Galilei ist ein viel schwieriger Typus. Auch in einer schwierigeren
Zeit.
Er mußte nämlich gegen die Kirche etwas durchsetzen.
Der Hahn konnte nur schweigen und ein kleines Brieflein nach
Kopenhagen schreiben.
Aber Galilei hat die Bibel aus dem Konzept der Kirche konterkariert.
Das war für Galilei eine der schwierigsten Situationen, in die ein
Mensch geraten kann. Stellen Sie sich vor, ohne es zu wollen! Er
wollte ja gar nicht die Bibel aufheben oder die Religion aufheben. Es
ist ja eigentlich die Tragödie des Spezialisten.
Bunge: Sie sprechen jetzt vom historischen Galilei?
Eisler: Ja, aber auch vom Brechtschen.
Brecht hat das völlig verstanden.
Das ist der »Spez«, wie die Kommunisten sagen.
Der »Spez«, das ist etwas verächtlich gesagt: der, den man braucht.
Der einem Unannehmlichkeiten macht, aber den man unbedingt
verwenden muß: der »Spez«, der sich einseitig betätigt. In erinnere
Sie an die Szene:
»Wo ist Gott?«
Sagt er: »Ich bin ein Mathematiker.«
Der Spezialist. Die Tragödie des Spezialisten.
Wenn Sie den Galilei richtig beschreiben wollen, müssen Sie sagen:
»Galileo Galilei — oder die Tragödie des Spezialisten«. Das wäre der
richtige Untertitel zu »Galilei«. So kann er nur verstanden werden.
Bunge: Wobei also von dem historischen Galilei...
Eisler: ... einige Reste da sind. Das ist ja ganz wurscht, was es ist.
50
Was ist denn von Heinrich IV. oder Heinrich V. bei Shakespeare da?
Was ist von Julius Cäsar da? Das ist ja uninteressant.
Die Tragödie des »Spez«. Wobei ich »Spez« extra so abkürze, wie es
die Kommunisten machen. Die benutzen diese.
Sie wissen doch, was wir für unerbittliche Leute sind.
Außerdem haben wir keine Moral. Wir nutzen jeden Spezialisten aus.
Ein Hundedresseur, der gut Hunde dressieren kann, wird sofort
angestellt als Hundedresseur. Also grad bei Physikern.
Das wäre eine interessante Formulierung: Tragödie des Spezialisten,
mit allem in Schwierigkeiten, weil er immer stur auf ein Spezialgebiet
kommt. Damit hat er auch viele Ähnlichkeiten mit den Physikern
heute. Und das macht das Stück besonders genial.
Bunge: Ein zweites Mißverständnis könnte auftreten, wenn Sie sagen:
»Brecht war ein großer Ausprobierer« und »probieren wir doch aus,
ob die letzte Szene geht«. So kann es wohl nicht gemeint sein, daß
man erst auf der Bühne kontrolliert, ob eine Szene überhaupt gespielt
werden soll? Zunächst handelt es sich doch um eine Untersuchung des
Textes, ob er »stimmt« . . .
Eisler: Erstens das. Die Szene ist relativ einfach. Auf der Bühne
ausprobieren, im Ablauf.
Bunge: Damit wäre gesagt, daß es nur um die theatralische Wirkung
geht?
Eisler: Nein, im Ablauf, ob das rübergeht. Wenn der Galilei den
riesigen Monolog am Schluß hat, geht eine Szene nicht, wie das
Überschreiten der Grenze.
Denn das ist tatsächlich das Ende. Die Szene war ja angehängt an der
ersten Fassung. Sie hat sehr viele Reize.
Aber nach diesem — ich erinnere Sie — riesigen Monolog, der doch
dichterisch eine bedeutende Arbeit ist (das kann man nicht weiter
erklären, das ist mal so), kann, glaube ich, keine weitere Szene
spielen. Vielleicht werde ich den Buckwitz in Frankfurt überzeugen.
Ich glaube, es wird mir sogar gelingen.
Bunge: Es ist dann ein ganz anderer Ausgang des Stückes.
Eisler: Nein, eigentlich nicht.
Bunge: Nun, wenn das Schwergewicht nicht mehr auf der
Selbstverurteilung Galileis liegt, sondern darauf, ob die Arbeit
51
rübergebracht wird?
Eisler: Naja, der Galilei ist dafür, daß die Sache rübergebracht wird.
Er hat sie ja geschrieben als blinder Mann.
Er will nur nicht haben, daß er gerühmt wird als dieser schlaue Herr.
Aber das soll doch rübergebracht werden. Dazu gibt er es ja dem
Schüler.
Der Schüler ist noch so erschüttert, daß er es ihm überhaupt gibt und
rühmt ihn.
Und den Ruhm lehnt er ab, das geschrieben zu haben unter den
schlechtesten Bedingungen.
Bunge: Wenn ich behauptet habe, daß Hanns Eisler unsere
Gespräche als eine elegante Möglichkeit ansah, mit Gedanken zu
experimentieren, so ist diese Aufzeichnung ein Beweis dafür.
Tatsächlich setzt Eisler unaufhörlich Meinung gegen Meinung, oft
ohne eine Entscheidung herbeizuführen. Aber für jede Auffassung hat
er Argumente. Manchmal werden sie ausgetauscht: was das eine
Urteil begründete, kann an anderer Stelle zur Untermauerung des
Gegenteils herangezogen werden. Das mutet hin und wieder konstruiert an. In Wirklichkeit ist es ein eher spielerischer — oder sagen
wir: künstlerischer — Vorgang. Überlegungen werden ausprobiert.
Eisler bleibt immer am Gegenstand, den er bis in Einzelheiten kennt,
aber er betrachtet ihn von allen Seiten. Er entwickelt eine
umwerfende Phantasie, aber er phantasiert nicht. Das souveräne
Hantieren mit Einfällen macht ihm Spaß. Musiker werden besser
beurteilen können als ich, ob dieses Verhalten Eislers seiner
Variationstechnik in musikalischen Arbeiten entspricht.
aus: Bunge, Hans. Fragen Sie mehr über
Brecht. Hanns Eisler im Gespräch. Rogner
& Bernhard, 1970
52
4.1. Galilei und seine Zeit:
Synoptischer Überblick der Ereignisse
Jahr
Historische Ereignisse
1492
Kolumbus' Entdeckung Amerikas
1522
Erste Weltumseglung (durch
Magellan und Elcano)
1517
Luthers Thesenanschlag in
Wittenberg
1542
Neubegründung der Inquisition
als Sanctum Officium (heiliges
Amt)
1543
Kopernikus veröffentlicht De
Revolutionibus, die Begründung
des heliozentrischen
Weltsystems
15621598
Französische Revolutionskriege
(Massaker an den
protestantischen Hugenotten)
1564
Galileo Galilei
Galileo Galilei in Pisa geboren
15721577
Tycho Brahe beobachtet
Supernova und Kometen
15771580
Francis Drake umsegelt die Welt
1581
Beginn des Studium der Mathematik und
Medizin in Pisa
1582
Papst Gregor XIII. führt den noch
heute verwendeten
gregorianischen Kalender ein
1584
Giordano Bruno veröffentlicht De
l’Infinito, Universo e Mondi,
Thesen zur Unendlichkeit der
Welten, dass Sterne ebenfalls
Sonnen seien, und dass die Erde
nicht Mittelpunkt des Universums
sei
1585
Privatlehrer in Florenz
1586
Erfindung einer Waage zur Bestimmung
spezifischen Gewichts, Veröffentlichung von
La Bilancetta (zum Schwerpunkt fester
Körper)
15891592
Lektor für Mathematik an der Universität
Pisa
53
1590
Veröffentlichung von De motu (zu den
Gesetzen der Bewegung und des freien
Falls)
15911610
Professor für Mathematik an der Universität
Padua (Republik Venedig)
1592
Verhaftung Giordano Brunos
durch die Inquisition
1593
Giordano Bruno lehnt einen
vollständigen Widerruf seiner
Thesen ab
Veröffentlichung von Le mecaniche (zur
Mechanik) und Erfindung einer Maschine,
um Wasser zu heben
1597
Beginn des Briefkontakts mit Johannes
Kepler
ca. 15981610
Liebesbeziehung zu Haushälterin Marina
Gamba
1600
Giordano Bruno wird als Ketzer
in Rom verbrannt
Geburt der unehelichen Tochter Virginia
William Gilbert veröffentlicht De
Magnete, Magneticisque
Corporibus, et de Magno
Magnete Tellure (zum
Magnetismis der Erde)
1601
Geburt der unehelichen Tochter Livia
1604
Beobachtung einer Supernova
1605
Unterrichtung des Erbprinzen der Toscana,
Cosimo II. de' Medici, in Mathematik
drei Vorlesungen zu Supernova
1606
Geburt des unehelichen Sohnes Vincenzio
Veröffentlichung von Compasso geometrico
e militare (Erfindung eines geometrischen
und militärischen Kompasses)
1608
Hans Lippershey meldet in den
Niederlanden das erste
Linsenfernrohr zum Patent an
1609
Cosimo II. de' Medici wird
Großherzog der Toscana
Johannes Kepler veröffentlicht
die beiden ersten Keplerschen
Gesetze in der Astronomia nova
(über die Bewegung und die
Ellipsenbahnen der Planeten)
Nachbau des Lippersheysche Fernrohrs
und Schenkung an Venedig, als Dank
Professur auf Lebenszeit in Padua und
Verdopplung des Gehalts
54
1610
Nicolas-Claude Fabri de Peiresc
dokumentiert den Orionnebel
Entdeckung der vier Jupitermonde
(Widmung als Mediceischen Gestirne an
Cosimo II.), der Phasen der Venus, der
Beschaffung der Milchstraße aus einzelnen
Sternen, der Dreigestalt des Saturns, der
rauen Mondoberfläche und der
Sonnenflecken; Veröffentlichung von
Sidereus Nuncius (Sternenbotschaft) und
Bekenntnis zum kopernikanischen Weltbild
Anstellung als Hofmathematiker in Florenz
und Professor in Pisa
1611
Beginn der Freundschaft mit Kardinal
Barberini (späterer Papst Urban VIII.)
Entwicklung der Lehre der Achsendrehung
der Sonne
Reise nach Rom: das Collegium Romanum
(die höchste wissenschaftliche Instanz des
Vatikans) unter Leitung von Christopher
Clavius bestätigt Galileis Entdeckungen,
Audienz bei Papst Paul V.
1612
Veröffentlichung des Discorso intorno alle
cose che stanno in su l’acqua (über
schwimmende Körper; Widerlegung von
Aristoteles)
1613
Veröffentlichung der Lettere solari (über
Sonnenflecken), enthält Verteidigung der
kopernikanischen Lehre
1614
Errechnung des Gewichts der Luft; der
Dominikaner Caccini predigt gegen Galilei
1615
Erfolglose Denunziation Galileis bei der
Inquisition durch Dominikaner Lorini
1616
Verbot der kopernikanischen
Lehre durch Inquisition,
Festlegung der römischkatholischen Kirche auf
geozentrisches Weltbild
Veröffentlichung des Discorso sul flusso e
reflusso (zu den Gezeiten)
Nicolaus Zucchi entwickelt das
erste Spiegelteleskop
Tochter Virginia tritt ins Kloster ein (als
Schwester Maria Celeste)
1617
1618
-1648
1619
Reise nach Rom, Ermahnung durch
Kardinal Bellarmino
Tochter Livia tritt ins Kloster ein (als
Schwester Arcangela)
Dreißigjähriger Krieg
Erkrankung, Wallfahrt nach Loreto
Veröffentlichung des Discorso sulle comete
(über Kometen) mit Mario Guiducci
55
1620
Francis Bacon veröffentlicht
Novum Organum scientiarum
über die empirische,
methodische Forschung
1621
Cosimo II. de' Medici stirbt
1623
Wahl Barberinis zu Papst Urban Veröffentlichung von Il Saggiatore (gegen
VIII. gewählt
Autoritätsgläubigkeit bei den
Naturwissenschaften), dem neuen Papst
gewidmet
1625
Ernennung zum Konsul der Florentiner
Akademie
Beginn der Arbeit am Dialogo di Galileo
Galilei sopra i due Massimi Sistemi del
Mondo Tolemaico e Copernicano (Dialog
über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das
Ptolemäische und das Kopernikanische),
einer Verteidigung des kopernikanischen
Weltsystems
1626
Bau des Petersdom vollendet
16291633
Ausbruch der Pest in Norditalien
1630
Tod Johannes Keplers
Vollendung des Dialogo, Reise nach Rom
um Druckgenehmigung zu erhalten
1631
Ablehnung des Angebots, die Professur in
Padua fortzusetzen
1632
Publikation des Dialogo in Volkssprache
und Anklage wegen Verstoßes gegen das
Dekret von 1616
Großinquisitor Niccolò Riccardi unterbindet
den Verkauf des Werkes
Ladung vor die Inquisition (Verzögerung
aufgrund des schlechten
Gesundheitszustandes)
1633
Reise nach Rom, vier Verhöre und 23 Tage
Haft im Inquisitionspalast
am 22. Juni Widerrufung der
kopernikanischen Lehre in der Basilika
Santa Maria sopra Minerva
Verurteilung zu lebenslanger Haft, später
durch Urban VIII. umgewandelt in
Hausarrest auf unbestimmte Zeit und
Erlaubnis in seine Villa zu ziehen
16331642
Hausarrest in seiner Villa in Arcetri bei
Florenz
56
1633
Beginn der Arbeit an den Discorsi e
Dimostrazioni Matematiche intorno a due
nuove scienze (Diskursen über die zwei
neuen Wissenschaften), seinem
physikalischen Hauptwerk
1635
geheime Verhandlungen über einen
Lehrstuhl für Galilei in Amsterdam
Abschriften des Dialogo erreichen
Deutschland, werden ins Lateinische
übersetzt und in Leiden gedruckt
1637
René Descartes veröffentlicht
Discourse de la methode, ein
Werk zur methodischen und
wissenschaftlichen Forschung
1638
Erblindung auf dem rechten Auge
Dialogo und Discorsi erscheinen mit dem
Zusatz, dass der Autor an der
Veröffentlichung nicht beteiligt sei, in Leiden
Entdeckung der Libration des Mondes
Vollständige Erblindung
16391649
Kriege um das Herzogtum Castro Gesuch um Hafterleichterung vom Papst
zwischen Papst Urban VIII. aus abgelehnt
der Familie Barberini und der
verfeindeten Familie Farnese
1642
1757
Tod am 8. Januar
Papst Benedikt XIV. hebt das
Verbot der kopernikanischen
Lehre auf
1835
der Dialogo wird vom Index der Kirche
gestrichen
1979
Papst Johannes Paul II. kündigt anlässlich
Albert Einsteins 100. Geburtstag an,
Galileis Fall neu zu prüfen
1992
Galileo Galilei wird vom Vatikan rehabilitiert
Zusammenstellung: Maresi Wagner
57
4.2. Galilei und seine Zeit:
Letztes Verhör und Widerruf
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
aus: Galileo Galilei - Schriften, Briefe, Dokumente, Band 2, Hrsg.
Anna Mudry, C.H.Beck, 1987
69
4.3. Galilei und seine Zeit:
Weltsysteme
Die Auseinandersetzung um die Weltsysteme
Zu Galileis Zeit hatten die Wissenschafter verschiedene Modelle des Universums
ausgearbeitet, die zueinander in komplizierten Beziehungen standen und
damalsWeltsysteme genannt wurden. Vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
entfesselte sich ein bitterer Konflikt zwischen den Vertretern des kopernikanischen
Systems (allen voran Kepler und Galilei) und den Verteidigern des geozentrischen
Gedankens, die sich nicht nur nach dem antiken Vorbild sondern auch nach dem neuen
Weltsystem von Tycho Brahe richteten.
Das "traditionelle" geozentrische und geostatische System, abgeleitet von der Lehre des
Ptolemäus Im Mittelpunkt befinden sich die sublunaren Sphären aus Erde, Wasser und
Feuer. Darüber dann die himmlischen Sphären: zuerst die sieben Sphären der Planeten:
Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn; dann die Sphäre der Sterne und
zuallerletzt die Sphäre der Urbewegung, die den anderen himmlischen Sphären die
tägliche Umdrehung ermöglichte.
Diese Illustration aus den
Disquisitiones mathematicae (1614)
von Christoph Scheiner zeigt ein
vereinfachtes Weltsystem, ausgeheckt
vom grossen Mathematiker Cristoforo
Clavio (1537-1612). Es entspricht
weder dem Original von Aristoteles
noch demjenigen des Ptolemäus. Im
Bereich der Traditionalisten schwelte
seit Jahrhunderten ein Konflikt
zwischen denjenigen Astronomen, die
sich einzig und allein auf die
Mathematik verlassen wollten und das
Modell des Universums nur als
Hypothese zur Berechnung der Sterne
und ihrer Positionen betrachteten und
den sogenannten philosophischen
Astronomen, die auf der Suche nach
einem der physischen Wirklichkeit des
Universums entsprechenden Modell
waren.
70
Das Weltsystem des Tycho Brahe Erdacht
vom dänischen Astronomen Tycho Brahe
(1546-1601) in der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts, ist dies sowohl ein geo- als
auch ein heliozentrisches System. Rund
um die bewegungslose Erdkugel in der
Mitte des Universums bewegt sich der
Mond in einem Monat, die Sonne in einem
Jahr und um letztere ziehen die Planeten
ihre Kreise. Die sogenannte
Sternensphäre ist verantwortlich für die
tägliche Umdrehung. In diesem System
des Tycho Brahe, das trotz Geozentrik
sehr verschieden ist von den antiken
Vorbildern, wurde davon ausgegangen,
dass die diversen Himmel aus flüssiger
Materie bestanden. Dieses Modell wurde
übrigens auch von Galileis Erzfeind,
Christoph Scheiner, verwendet.
Das kopernikanische Weltsystem
Illustration aus De revolutionibus (1543)
von Kopernikus. Im Zentrum des
Universums befindet sich die
unbewegliche Sonne. Ebenso
unbeweglich ist die Sternenspäre die das
Universum umschliesst. Um die Sonne
kreisen die Planeten in folgender
Reihenfolge: Merkur, Venus, Erde, Mars,
Jupiter, Saturn. Die Erde rotiert in 24
Stunden um ihre eigene Achse und
bewegt sich - zusammen mit ihrem
Satelliten, dem Mond - in einem Jahr
einmal um die Sonne. Die
kopernikanische Weltanschauung veröffentlicht im Jahr 1543 - wurde von
der katholischen Kirche 70 Jahre lang
geduldet, d. h. bis ins Jahr 1616.
Allerdings wurde sie im 16. Jahrhundert
dafür im Norden umso vehementer
angegriffen, vor allem in protestantischer
Umgebung und dort besonders heftig von
Melanchton.
71
Im Aschermittwochsmahl (1584) von Giordano Bruno erschien diese Illustration, mit der
Bruno aufzeigt, wie das ptolemäische Weltsystem - nur indem man Erde und Mond an die
Stelle der Sonne setzt und die Sonne selber ins Zentrum des Universums, also anstelle
von Erde und Mond rückt, - zum kopernikanischen System wird.
Quelle: http://www.library.ethz.ch/exhibit/galilei/galileob4.html
Aufgerufen am 10.9.2014
72
4.4. Galilei und seine Zeit:
Die römische Inquisition der Neuzeit
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aus: Schwerhoff, Gerd. Die Inquisition.
Ketzerverfolgung in Mittelalter und Neuzeit,
C.H.Beck, 2004
87
4.5. Galilei und seine Zeit:
Die Pest
1. Brockhaus
Pest (lat. pestis Seuche) w, Pestilenz w, in der Volkssprache jede bösartige weitverbreitete
Seuche, wissenschaftlich eine in Epidemien auftretende spezifische, durch den Pestbazillus
hervorgerufene Infektionskrankheit der Menschen und bestimmter Nagetiere, bes. Ratten,
Murmeltiere, Tarbagane, Eichhörnchen, Ziesel.
Die Übertragung der P. auf Menschen geschieht hauptsächlich durch den Stich infizierter Flöhe,
pestkranker Ratten, ferner durch Hautwunden, auch unverletzte Haut, Mund- und
Nasenschleimhaut, vorzugsweise auch durch Einatmung der in der Luft verstreuten Pestbazillen,
die von Lungenpestkranken ausgehustet werden, schließlich auch durch Wäsche, Kleider
Gebrauchsgegenstände oder Ausscheidungen der Pestkranken. Bemerkenswert ist die Tatsache,
dass Epidemien unter den Menschen meist eine große Rattensterblichkeit durch P. vorangeht. Die
Neigung zur Erkrankung ist im allgemeinen hoch, doch breitet sie sich hauptsächlich in
Bevölkerungsschichten aus, die in ungünstigen hygienischen Verhältnissen leben; die P. wütet in
den Häusern (sog. Ratten- oder Pesthäuser), in denen die Menschen namentlich in der kühlen
Jahreszeit eng zusammenleben, oder auch bisweilen schon durch ihren Beruf einem
Zusammenleben mit Ratten bes. ausgesetzt sind (Bäcker, Müller, Hafenarbeiter, Lumpenhändler)
Krankheitserscheinungen. Bei einer durch die Haut erfolgten Infektion beginnt nach einer
Inkubationszeit von 2-5 Tagen die Krankheit meist plötzlich mit heftigem Fieber, das oft von
Schüttelfrost begleitet ist; Kopfschmerzen, lallende Sprache, taumelnder Gang,
Pulsbeschleunigung, lebhafte Delirien, Benommenheit, bisweilen sogar völlige Bewusstlosigkeit
kennzeichnen den weiteren Verlauf. Die Temperatur erreicht dabei eine Höhe von über 41 ˚ C,
zeigt in den folgenden Tagen Rückgänge, die Entfieberung erfolgt meist lythisch (Lysis – Fieber).
Entsprechend der infizierten Hautstelle entwickelt sich meist schon am zweiten Krankheitstag eine
bedeutende, oft über gänseeigroße schmerzhafte Anschwellung der Lymphknoten, der Pestbubo,
vorwiegend am Schenkel, in der Achsel oder am Hals; er kann vereitern und nach außen
durchbrechen und zur Anschwellung weiterer Lymphknoten (Drüsen, Beulen, Bubonenpest)
führen. In leichten Krankheitsfällen geht nach 6-9 Tagen Dauer die Lymphknotenschwellung
zurück, das Fieber fällt ab, und der Kranke erholt sich langsam wieder. Vielfach wird aber der von
den Lymphknoten gebildete Schutzwall durchbrochen; die Bazillen gehen in die Blutbahn,
vermehren sich hier und führen binnen 2-3 Tagen zum Tode an Sepsis. Infolge schneller
Überschwemmung des Körpers mit Bazillen und Toxinen kann aber auch der Tod so jäh eintreten,
dass der Befallene mitten aus vollster Gesundheit heraus plötzlich tot hinstürzt. Durch
Verschleppung der Bazillen von den Lymphknoten auf dem Lymph- oder Blutwege können auch
stecknadelkopf- bis linsengroße Hautblutungen, Pusteln, Blasen in der Haut entstehen, aus denen
sich Geschwüre (Pestkarbunkel) entwickeln. . . . Die Sterblichkeit der Bubonenpest wechselt
stark, sie beträgt 30 – 90 % und mehr. Erst gegen Ende der Epidemie werden leichtere
Krankheitsfälle beobachtet. Das Überstehen der P. verleiht nun für einige Zeit eine Immunität.
Die Behandlung der P. erfolgt symptomatisch und beschränkt sich im wesentlichen auf
Anwendung von Umschlägen, kalten Waschungen, usw. gegen das Fieber, Darreichung einer
leicht verdaulichen Nahrung, Flüssigkeitszufuhr, Behandlung der Herzschwäche. . .
Der Bekämpfung der P. fällt zunächst die Hauptaufgabe zu, die Verschleppung der P. in pestfreie
Gegenden zu verhindern. . .
Die Bekämpfung der P. erfordert ferner durch Vertilgung der pestkranken Ratten, die in den Häfen
systematisch durch Ausgasung durchgeführt wird. In Pestgegenden ist die Bevölkerung vor dem
Berühren der an P. gestorbenen Ratten zu warnen. Die Tiere verlassen kurz vor dem Tode ihre
Schlupfwinkel. Ihre Berührung führt sehr leicht zu einem Flohstich und damit zur Pestinfektion. Vor
allem müssen auch die Pestkranken selbst, ebenso pestverdächtige Personen abgesondert
werden, Entleerungen, Bettwäsche, Gebrauchsgegenstände, Krankenräume der Pestkranken
müssen desinfiziert oder vernichtet werden. . .
Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, vierzehnter Band, F.A.
Brockhaus Leipzig 1933, S.383
88
2. Jacqes Ruffié und Jean-Charles Sournia
Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit
Ein historisches Zeugnis ist zu Recht berühmt geworden und verdient an dieser Stelle eine
ausführliche Würdigung. Es ist die Beschreibung der »Pest« von Athen durch Thukydides. 430
v.Chr. hatte der von Sparta angeführte Peloponnesische Bund Athen angegriffen, in dessen
Mauerring sich unzählige Flüchtlinge drängten, da die umliegenden Landstriche verwüstet waren.
»Die Peloponnesier weilten erst wenige Tage in Attika, als die Epidemie Athen heimsuchte. Zwar
wurde berichtet, dass die Krankheit schon einmal manchenorts gewütet habe, unter anderem in
der Gegend von Lesnos, nirgends aber konnte man sich an eine ähnliche Geißel, ein derartiges
Hinsterben von Menschen erinnern. Und nichts half, weder die Ärzte - die einer völlig
unbekannten Situation gegenüberstanden, weil sie die Krankheit zum ersten Male behandelten,
und unter denen die Zahl der Opfer sogar am höchsten war, da sie den meisten Kontakt zu den
Kranken hatten - noch irgendein anderes irdisches Mittel. Desgleichen die Bittgänge zu den
heiligen Stätten, die Zuflucht zum Orakel oder was dergleichen man versuchte - alles blieb
wirkungslos, und schließlich ließ man ganz davon ab und fügte sich in sein Los ...
Athen wurde ganz plötzlich heimgesucht; zunächst ergriff die Krankheit die Bewohner vom Piräus,
und diese behaupteten denn auch, dass die Peloponnesier ihre Zisternen vergiftet hätten - es gab
damals dort noch keine Springbrunnen. Dann erreichte die Seuche den oberen Stadtteil, und nun
schwoll die Anzahl der Toten immer weiter an ...
Normalerweise befiel einen die Krankheit ganz unvermittelt bei bester Gesundheit. Zunächst
empfand man ein starkes Hitzegefühl im Kopf, die Augen waren gerötet und entzündet, Schlund
und Zunge wie roh, der Atem kam übelriechend und unregelmäßig. Nach diesen ersten
Symptomen kam es zu Niesen und Heiserkeit, in kurzer Zeit legte das Leiden sich dann auf die
Brust und ging mit starkem Husten einher. Wenn es auf den Magen übergegriffen hatte, drehte es
ihn förmlich um, und unter schrecklicher Übelkeit wurde Galle in allen Formen - die Ärzte haben
dafür ihre besonderen Bezeichnungen - erbrochen.
Die meisten der Kranken litten auch unter einem hohlen Schluckauf, der heftige Krämpfe
verursachte - bei den einen nach Abklingen der Symptome, bei den anderen noch sehr viel später.
Äußerlich befühlt, war der Körper nicht übermäßig heiß, auch nicht bleich, er war nur ein wenig
gerötet, blutunterlaufen, übersät mit kleinen Bläschen und Geschwüren. Innerlich aber brannte er
derartig, dass man die Berührung der Betttücher, ja selbst der leichtesten Stoffe nicht ertrug, man
konnte nur noch nackt bleiben, und nichts war verlockender, als sich in kaltes Wasser zu stürzen:
Viele von denen, um die sich niemand kümmerte, taten es sogar und endeten, getrieben von
einem unstillbaren Durst, auf dem Grunde der Brunnen. Und ob man nun viel oder weniger trank,
das Ergebnis war dasselbe. Hinzu kamen die Unmöglichkeit, Ruhe zu finden, und die
Schlaflosigkeit. Während der aktiven Phase der Krankheit ermattete der Körper nicht, er
widerstand der Pein sogar in recht überraschender Weise, und so gab es zwei Möglichkeiten:
Entweder - und das war der häufigere Fall - man starb nach sechs oder acht Tagen unter der
Wirkung dieses inneren Feuers, ohne dabei alle seine Kräfte verloren zu haben, oder aber die
Krankheit griff, nachdem man sie zunächst noch überstanden hatte, auf den Unterleib über, wo es
zu starker Geschwürbildung bei gleichzeitiger wäßriger Diarrhöe kam, und im allgemeinen starb
man dann später an der daraus resultierenden Erschöpfung. Die Krankheit befiel, von oben
ausgehend, da sie ihren Anfang im Kopf nahm, schließlich den ganzen Körper; und hatte man ihre
stärksten Attacken überlebt, so griff sie auf die Gliedmaßen über. Sie erfasste dann die
Schamteile sowie Fingerspitzen und Zehen, und viele kamen nur davon, indem sie dieser
Extremitäten verlustig gingen, andere wiederum büßten dabei ihr Augenlicht ein ...
So starben die Leute hier in Ermangelung von Betreuung, dort umgeben von aller nur denkbaren
Pflege. Man kann sagen, dass es nicht ein einziges bestimmtes Heilmittel gab, das man mit Erfolg
hätte anwenden können, denn was für den einen nützlich sein mochte, war für den anderen
gerade schädlich; letztlich war keine Körperverfassung, ob stark oder schwach, gegen das Leiden
gefeit, es raffte unterschiedslos einen jeden dahin, trotz der verschiedenartigsten Lebensweisen.
Das Furchtbarste dabei war aber zunächst einmal die Mutlosigkeit, die einen befiel, sobald man
spürte, dass es einen selbst getroffen hatte - da die innere Einstellung von vornherein der
89
Hoffnungslosigkeit anheim fiel, gab man sich widerstandslos gleich zu schnell auf. Und dann
wurde die Krankheit durch Ansteckung bei der gegenseitigen Pflege noch weiter übertragen, so
dass sich der Tod wie in einer Viehherde verbreitete - das erforderte überhaupt die meisten Opfer.
Wenn die Menschen sich nämlich aus Furcht keine Besuche mehr abstatteten, gingen sie elend
und verlassen zugrunde, gar viele Häuser verödeten so, da keiner da war, Hilfe zu spenden;
pflegten sie hingegen weiterhin Kontakt untereinander, so mähte die Krankheit sie nieder, vor
allem jene, die sich trotz allem einem gewissen Edelmut verpflichtet fühlten und aus Respekt vor
dem Nächsten unter Einsatz des eigenen Lebens ihre Freunde aufsuchten: Hatten doch selbst die
nächsten Angehörigen schließlich keine Kraft mehr, die Verschiedenen zu beweinen - das
Ausmaß des Leids hatte sie gebrochen ...
Auf diese Weise wurden auch alle Gebräuche aufgegeben, wie sie ehedem bei Bestattungen
geübt worden waren, jedermann begrub seine Toten, wie er eben konnte, und viele ließen sich gar
zu empörenden Leichenbegängnissen hinreißen, denn es fehlte ihnen am Notwendigsten, derartig
viele Tote hatte es um sie herum schon gegeben. So benutzten sie einen Scheiterhaufen, den
andere bereits errichtet hatten, und legten ihren Toten entweder als ersten darauf und zündeten
ihn an oder aber warfen ihn zu einem anderen, der gerade verbrannte, noch dazu und
verschwanden.
Leidtragende waren vor allem die Flüchtlinge, denn da sie keine Häuser hatten und in dumpfen
Hütten lebten, in denen man in der heißen Jahreszeit fast erstickte, wütete die Geißel dort in
einem heillosen Chaos: Die Körper lagen, während sie verendeten, einer über dem anderen;
einige wälzten sich, nach Wasser lechzend, auf den Wegen, die zu den Brunnen führten, halb tot
auf der Erde. Die geweihten Stätten, in denen man sich eingerichtet hatte, lagen voller Leichen,
die Menschen waren da gestorben, wo sie sich hinbegeben hatten. Vor einer solchen
Entfesselung des Leids achteten sie, da sie nicht wussten, was aus ihnen würde, überhaupt nichts
mehr, nicht göttliche, nicht menschliche Ordnung.
Überhaupt war die Krankheit in der Stadt Ursache einer allgemein wachsenden Sittenlosigkeit. So
gab man sich viel hemmungsloser Gelüsten hin, denen man früher höchstens heimlich gefrönt
hatte; zu viele plötzliche Schicksalswenden hatte man schon erlebt, bei denen die Wohlhabenden
unversehens starben und gestern noch Mittellose alsbald deren Habe erbten. Daher strebten die
Leute nach raschen Befriedigungen, suchten sie den Genuss, denn sie selbst wie auch ihr
Vermögen waren in ihren Augen ohne jedes Morgen. Sich im voraus für ein als hehr empfundenes
Ziel abzumühen verlockte niemanden, denn ein jeder sagte sich, man könne schließlich nicht
wissen, ob man nicht ohnehin schon vor Erreichen dieses Ziels umgekommen sei. Sofortiges
Vergnügen - das war es, was den Platz des Schönen und Nützlichen eingenommen hatte. Furcht
vor den Göttern, Gesetze des Menschen - nichts konnte sie im Zaume halten; es erschien gleich,
für fromm gehalten zu werden oder nicht, kam doch sowieso jedermann ohne Unterschied ums
Leben, und beging man ein Verbrechen, so erwartete ohnehin niemand, so lange zu leben, dass
das Urteil noch gefällt und die Strafe vollstreckt werden könnte: Die drohende Krankheit wog
mindestens genauso schwer, und man fand es nur recht und billig, das Leben noch ein bisschen
zu genießen, bevor man hinweggerafft würde ... «
In Athen selbst wütete die Seuche länger als zwei Jahre, und zwar in Wellen. Sie suchte aber
auch zahlreiche hellenische Gestade heim und brachte der griechischen Armee und Flotte eine
empfindliche Scharte bei, während die von der Krankheit verschont gebliebenen Peloponnesier
dagegen ein mächtiges Truppenkontingent aufbieten konnten. Perikles wurde während seines
zweiten Angriffs auf die Feinde von der Seuche befallen, und der Tod dieses ruhmreichen
Feldherrn lieferte die Stadt den umstürzlerischen Parteien aus: Sparta und seine Verbündeten
verdankten ihren Sieg zum großen Teil der Pest. Diodorus schätzt, dass Athen damals ein Drittel
seiner Bewohner verlor.
Aus dem packenden Bericht des Thukydides haben wir deshalb so lange Auszüge
wiedergegeben, weil der Autor uns an Geschehnissen teilhaben lässt, deren Augenzeuge er war
und die er überlebt hat. Er beschreibt Ereignisse und Reaktionen, wie sie sich mehr als
zweitausend Jahre lang immer wieder zugetragen haben müssen: die heftige Gewalt, mit der die
Krankheit ausbrach, die Suche nach vorgeblich Schuldigen, der Verfall der Sitten, die - für sie
selbst - tödliche Aufopferung von Ärzten und Angehörigen der Kranken, die nicht zulassen wollten,
dass Todgeweihte und Verendete sich selbst überlassen würden, die nutzlose Anrufung der
90
Götter, die für eine Stadt fatalen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, kurz, den
Archetypus menschlichen Verhaltens angesichts eines kollektiven Dramas. Die Schilderung der
damaligen Vorgänge kann als um so treffender angesehen werden, als ihr Grundmuster später
auf literarischem Gebiet von zahlreichen Autoren wieder aufgegriffen wurde. Es dürfte für jede
Epidemie Gültigkeit haben, obgleich die »Pest von Athen« nicht das war, was wir im streng
wissenschaftlichen Sinne heute als »Pest« bezeichnen würden. »Loimos« auf griechisch, »pestis«
auf lateinisch sind vage Begriffe, die ganz allgemein eine Geißel der Menschheit bezeichnen;
später hat man beispielsweise in Frankreich alle ansteckenden Krankheiten durchweg als
»Pestis« bezeichnet, so dass man bald gar von »den Pesten« sprach; heute aber könnte man nur
noch bei bestimmten klinischen Symptomen und nach Identifizierung des Yersinia-pestis-Bazillus
diesen Ausdruck gebrauchen.
Indessen nennt die doch recht präzise Beschreibung Thukydides' keine der eigentlich typischen
Charakteristika der Pest: weder die sehr schmerzhaften Ganglien, die Drüsengeschwülste, die
sich in den Achseln oder in der Leistengegend bilden, noch die schwärzlichen Flecke, die auf der
Haut erscheinen und dann zu Geschwüren werden, noch gar die jähen Todesfälle, welche zur
allgemeinen Bestürzung beitrugen.
Immer noch gehen die Meinungen von Medizinern und Historikern auseinander: Was war das für
eine Krankheit, diese Seuche von Athen? Eine ganze Reihe von Symptomen lässt eher auf
Typhus schließen, andere Anzeichen wiederum deuten darauf hin, dass die Griechen von einer
inzwischen ausgestorbenen Krankheit befallen wurden - zwei Hypothesen, auf die wir noch
zurückkommen werden. Auch das Dengue-Fieber und die Pocken wurden in Betracht gezogen.
Wie dem auch sei, dieser erste Bericht von einer großen Epidemie ist für uns von beispiellosem
historischen Wert.
Als »Pest« im Sinne aller klassischen Texte, der »Aeneis«, der »Ilias« und auch der Bibel,
bezeichnete man im Altertum praktisch alle großen Seuchen, die sich ganzen Völkern
unauslöschlich eingeprägt haben. Ungefähr vierzig solcher Epidemien zählte man bis zum Beginn
unserer christlichen Zeitrechnung.
Jacqes Ruffié und Jean-Charles Sournia. Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit
dtv/Klett-Cotta; München 1992
91
Mischa Meier (Hg.)
PE ST
Die Geschichte eines Menschheitstraumas
Klett- Cotta
92
Klett-Cotta
© J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659,
Stuttgart 2005
Alle Rechte vorbehalten
Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags
Printed in Germany
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Pestepidemien im Europa der Frühen Neuzeit (1500 – 1800)
von Franz Mauelshagen
Einleitung
Für die Geschichte der Pest in Europa bietet die Jahreszahl 1500 – das traditionelle
Datum für den ›Beginn der Neuzeit‹ – einen weit weniger signifikanten Einschnitt
als der ›Schwarze Tod‹ im 14. Jahrhundert. Epidemiengeschichtlich wird der Zeitraum von 1347/48 bis zum Ende der Pest in Europa zu Recht als Einheit betrachtet.
Die ›Grenzmarke‹ 1500 macht nur dann Sinn, wenn man die Pest im Zusammenhang
mit solchen Entwicklungen in den Gesellschaften Europas betrachtet, die an der
Schwelle zur Neuzeit liegen.
Renaissance und Humanismus hatten Anteil an der Formierung jener medizinischen Vorstellungen, die das Bild der Krankheit bis zur Entdeckung des Erregers gegen Ende des 19. Jahrhunderts prägten. Die ›Wiedergeburt‹ der Galenischen Medizin
mit ihrer Humoralpathologie traf mit dem Aufschwung der Astrologie zusammen.
Im 16. Jahrhundert verhalf Girolamo Fracastoro (ca. 1478–1553) dem Begriff ›Kontagion‹ zum Durchbruch und prägte damit für Jahrhunderte die Diskussionen über
die Infektionswege. Die Bedeutung des Renaissancehumanismus läßt sich gleichwohl kaum auf die Zeit um 1500 festlegen, schon darum nicht, weil Renaissance und
Humanismus in Italien weit früher etabliert waren. Die erneuerte Rezeption der medizinischen Klassiker, vermittelt durch die Araber, reicht bis zur ›Renaissance des 12.
Jahrhunderts‹ zurück. Und schon das Gutachten der Pariser medizinischen Fakultät
von 1348 bediente sich astrologischer Erklärungsmuster, wie sie Marsilio Ficinos Einschätzung der Ursachen der Pest im 15. Jahrhundert zugrunde lagen. Auch hier also
herrscht über das Jahr 1500 zurück Kontinuität vor.
Ein Einschnitt der Moderne ließe sich vielleicht am besten mit frömmigkeitsgeschichtlichem Wandel begründen. Der ›Schwarze Tod‹ des Mittelalters zeitigte erhebliche Auswirkungen auf die Frömmigkeit des 14. und 15. Jahrhunderts, auf die
Heiligenverehrung ebenso wie auf die Konjunktur apokalyptischer Vorstellungen.
Die Reformation führte zu einem tiefgreifenden Einschnitt und erzwang damit auch
neue Formen der Katastrophenbewältigung. Am deutlichsten zeigt sich dies am Verbot der Verehrung von Heiligen und ihren Bildern, das auch die Pestheiligen einschloß. Strenggläubige Protestanten oder Reformierte mußten in Pestzeiten ohne die
Hoffnung auskommen, daß der Hilferuf an diese Mittler oder an die Jungfrau Maria
94
238 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
Schutz bieten könne. Dieser Wandel ist besonders in wahrnehmungsgeschichtlicher
Perspektive relevant. Ich werde im Anschluß an einen Überblick über die schwersten
Ausbrüche der Pest in Europa darauf zurückkommen.
Die großen Pestzüge
Wenn die Schätzungen der mittelalterlichen Sterbeziffern zuverlässig sind, dann haben die meisten Epidemien der Frühen Neuzeit in Europa nicht mehr ganz die
Ausmaße des mittelalterlichen ›Schwarzen Todes‹ angenommen. Gleichwohl gab es
Infektionswellen, die nahezu den ganzen europäischen Raum erfaßten, und an manchen Orten weisen die Sterberegister im Verhältnis zur Bevölkerungszahl Quoten
auf, die den Schätzwerten des ›Schwarzen Todes‹ entsprechen.
Die Pest blieb ein Element des Alltagslebens, mit dem in regelmäßigen Abständen zu rechnen war. In Frankreich gab es zwischen 1348 und 1670 kein Jahr, in dem
nicht an irgendeinem Ort Pestfälle auftraten. Eine Studie über Zentraleuropa im Zeitraum 1560-1640 konnte nachweisen, daß etwa alle 10 Jahre größere Pestwellen zu vermerken sind.1 Zehnjahresrhythmen entsprechen ungefähr dem Zeitraum, in dem
sich Bevölkerungen durch Nachwuchs und Zuwanderungen regenerieren. Die demographischen Muster blieben weitgehend konstant. Auch im 16., 17. und 18. Jahrhundert begann nach einer Epidemie regelmäßig der Ansturm der Brautpaare auf die
Kirchen, schossen in den folgenden Jahren die Geburtenziffern in die Höhe. An
manchem Ort gab es gleichwohl nachhaltige Einschnitte in der Bevölkerungsentwicklung. Florenz erreichte – nach schweren Ausbrüchen 1497/98, 1522 – 28, 1530/31,
1630/31 und 1633 – bis ins 19. Jahrhundert nicht mehr die Einwohnerzahl wie vor dem
›Schwarzen Tod‹. Freilich erlebte auch London, das expandierende Zentrum Englands, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts kaum ein Jahrzehnt ohne eine schwere Pestepidemie, ohne daß die Bevölkerungszunahme (vor allem durch Zuwanderung) dadurch beeinträchtigt worden wäre. Die Jahre mit den höchsten Opferzahlen waren
hier 1563, 1578, 1593, 1603 (36269), 1625 (35417), 1636 (10400) und schließlich 1665 mit der
absolut höchsten Ziffer von 68596 Menschen, die an der Pest zugrunde gingen. Von
1640 bis 1648 brachte sie weniger rasch, aber kontinuierlich weitere 17955 Menschen
zur Strecke. Und dies sind nur die Zahlen der offiziellen Sterberegister. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Dennoch dauerte es auch nach der Great Plague von 1665 nur
zwei bis drei Jahre, ehe die Bevölkerung wieder auf dem Stand vor der Epidemie war.
Nach wie vor sind nicht alle Pestepidemien, die zwischen 1500 und 1800 in Europa auftraten, erforscht. Vermutlich wurden nicht einmal alle erfaßt, sofern die Überlieferung dies überhaupt gestattet. Sieht man die vorhandenen Daten nach der eu-
95
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 239
ropäischen Dimension größerer Pestwellen durch, so fallen zunächst die Jahre 1562 –
1565 und die Wende zum 17. Jahrhundert ins Auge. Zwischen 1596 und 1602 tobte die
Pest in Spanien, 1597 trat sie im Norden der britischen Insel, zuerst (1597) in Edinburgh, dann zwischen 1600 und 1608 in Schottland auf, von wo sie sich nach Irland
(1604 – 1605) ausbreitete. 1603 traf es London. Auch auf dem Kontinent ging der Zug
weiter. Im Jahr 1602 wurde Preußen erfaßt, 1610/11 trat die Pest im Alpenraum auf.2
Die nächste Welle ›schwappte‹ schon in den zwanziger Jahren durch Europa: 1622
Amsterdam, 1624 Danzig, 1625 London, Bremen und Lübeck. Im Reich wanderte die
Infektion langsam südwärts, erreichte Mainz, Hannover und Magdeburg, 1627 dann
Süddeutschland. 1628 starben alleine in Augsburg 9611 Menschen – etwa das Fünffache der durchschnittlichen Todesrate in ›normalen‹ Jahren.3 Es war eine der schwersten Epidemien nach dem ›Schwarzen Tod‹. 1629 erfaßte sie ganz Frankreich und
griff auf Norditalien über. Nicht nur Mailand, Florenz und Venedig, auch Mantua,
Vicenza, dann Pisa, Livorno, Turin und viele andere Städte und Regionen waren betroffen. Auch die britischen Inseln blieben nicht verschont, anders Spanien. Diesmal, so scheint es, wurde die Pest nicht über die Pyrenäen ›geweht‹. In Frankreich
hielt sie sich bis über die Mitte der dreißiger Jahre hinweg.
Lange Kriege bedeuteten Pest in Permanenz, weil sie eine wirksame Eindämmung verhinderten. In Frankreich begünstigten die bürgerkriegsartigen religiösen
Auseinandersetzungen zwischen 1559 und 1598 die Verbreitung des Bazillus, wie es
schon im Hundertjährigen Krieg der Fall gewesen war. Mehrere Faktoren kamen zusammen: Das Herumziehen der Truppen, die Verarmung der Bevölkerung, ihre
Schwächung durch den Hunger und, besonders an den wechselnden Schauplätzen
des Krieges, der zeitweilige oder dauerhafte Zusammenbruch klarer Herrschaftsverhältnisse, womit die grundlegende Voraussetzung für eine Isolation der Kranken
oder die Errichtung von cordons sanitaires um infizierte Städte, Dörfer oder Ländereien fehlte. Die große Epidemiewelle von 1562 – 1565 traf mit den Wirren des ersten
Religionskriegs zusammen. Auch in späteren Jahren, 1579 in der Provence, 1592 in
Amiens und an vielen anderen Orten, führten Truppen die Pest ein. Häufig mußte
sich die Landbevölkerung aus der Umgebung größerer Städte vor der plündernden
Soldateska hinter die schützenden Stadtmauern zurückziehen. Im Jahr 1597 etwa flohen 4000 Bauern nach Rennes. Kurz darauf brach die Pest aus.4
Solche Zusammenhänge wiederholten sich während des Deißigjährigen Krieges
in Deutschland. In Bremen kamen zwischen 1623 und 1628 – Jahre, in denen die Pest
ohne Unterbrechung durch die Straßen zog – gleich mehrere kriegstypische Faktoren zusammen. Handelssperren wurden nicht verhängt, weil Bremen in dieser
Kriegsphase im Einflußgebiet des dänischen Königs Christian IV. lag, dessen Truppen auf die Versorgung durch die Handelsstadt angewiesen waren. Im September
96
240 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
1627 dann strömten Flüchtlinge vor den kaiserlichen Truppen hinter die Bremer
Stadtmauern. Wohl aus populistischen wie logistischen Erwägungen verzichtete der
Rat auch in dieser Lage noch auf Versammlungsverbote. Trotz Pest fand der Freimarkt statt, und Volksfeste wurden gefeiert.5
Schon Mitte der 30er Jahre wurde Deutschland von der nächsten Pestwelle erfaßt.
Der Schuhmacher Hans Heberle beschrieb die Lage in Ulm. Zum wiederholten
Male war die Bevölkerung der umliegenden Dorfgemeinden hinter die belagerten
Stadtmauern geflüchtet – eine typische Gefahrenlage. Die Versorgung war nicht
mehr gewährleistet. Auf den Hunger folgte die Pest, was Heberle so erklärte:
Dan durch den hunger ist von denen armen menschen vüll greüwlich und abscheüliches
dings auffgefressen worden. Alls nemlich allerley ungereimbten dings: hundt und katzen, meüß und abgangen vüch [d. i. Aas, F.M.], roßfleisch, das der schinder und meister uff dem vassen sein fleisch von dem abgangne vüch, als roß, hundt und andere thier,
ist hingenomen worden, und haben dannoch einander darumb gerißen und für köstlich
gut gehalten.
Auch Feldkräuter, Disteln, Nesseln und ähnliches sei verspeist worden. »In suma
allerley kraut ist gut gewesen, dan der hunger ist ein guter koch, wie man im sprichwort sagt«. Ein ähnliches Szenario bot sich 1636 in Frankfurt am Main.6 Und es gibt
noch weit mehr Beispiele für derartige Auswüchse menschlicher Verzweiflung. Sie
gehören zu den Synergieeffekten zwischen Pest, Hunger und Krieg.
Die schwersten Pestepidemien, die nach dem ›Schwarzen Tod‹ in der Erinnerung haften blieben, sind mit den Namen großer Städte – Rom oder Neapel 1656 –
oder bedeutender Persönlichkeiten verbunden. Unvergessen blieb das Handeln des
Mailänder Bischofs Carlo Borromeo (1538 – 1584) während der Epidemie von 1576 –
1578, in Italien auch als »peste di S. Carlo« bekannt. Dieser kompromißlose Kämpfer für den nachtridentinischen Reformkatholizismus führte während der Mailänder Epidemie von 1576 – 1578 selbst barfüßig Prozessionen an und setzte sich auf ungewöhnliche Weise für die Armen ein, indem er etwa auf sein Privatvermögen
zugriff oder die Tuche, Vorhänge und Wandteppiche seines Palastes in Stoffballen
für Kleidung umarbeiten ließ. Nachdem die vor der Pest fliehenden Adeligen und
Patrizier ihr Dienstpersonal entlassen hatten, setzte er sich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein. Der Hunger, eine Konsequenz aus der desolaten Wirtschaftslage
betroffener Städte, stellte ein ebenso schwerwiegendes Problem wie die Pest dar. Die
Beispielliste für das persönliche Engagement des Bischofs und seine unbequemen
Forderungen nach Einsatz der Wohlhabenden und Kleriker ließe sich mühelos verlängern. Mit den Jesuiten führte er nachhaltige Auseinandersetzungen über das
97
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 241
Maß, in dem Angehörige des Ordens an den seelsorgerlichen Pflichten während der
Epidemie beteiligt werden sollten.7 Ausgerechnet die Jesuiten waren es, die den
Borromäus-Kult nach seiner Heiligsprechung durch Papst Pius V. im Jahr 1610 verbreiteten. Carlo Borromeo reihte sich seitdem als Pestpatron neben Rochus und
Sebastian ein.
Berühmte literarische Bearbeitungen haben ebenfalls zur Erinnerung beigetragen. Der nächsten großen Mailänder Pest von 1630 setzte Alessandro Manzoni – Italiens bedeutendster Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – in seinem Roman I promessi
sposi (Die Verlobten) ein Denkmal. Daniel Defoe beschrieb die Londoner Pest von
1665 in seinem Journal of the Plague Year, das anonym erschien und lange für einen authentischen Bericht des unbekannten Icherzählers gehalten wurde. Defoe war nicht
– wie einst der antike Historiker Thukydides während der Athener Epidemie von
430/29 v. Chr. – Augenzeuge der Ereignisse gewesen. Zum Zeitpunkt, als die Pest in
London ausbrach, war er gerade vier Jahre alt. Er verstand es jedoch, wie später Manzoni, diesen Mangel durch die Lektüre zeitgenössischer Dokumente auszugleichen.
Anlaß dazu gab ihm die Pest in Marseille 1720 – 1722, deren Verlauf Defoe als Journalist aufmerksam verfolgte.
In London traf die Pest 1665 auf eine Stadt mit rapide wachsender Bevölkerung.
Um die alten Stadtmauern herum waren neue Viertel entstanden, in denen Menschen auf engstem Wohnraum zusammenlebten. Tatsächlich läßt sich, wie schon
der Verfasser einer loimographischen Schrift von 1665 annahm, eine Beziehung zwischen der Wohndichte und der Todesrate in unterschiedlichen Stadtvierteln nachweisen.8 Im übervölkerten Armenviertel St. Giles-in-the Field nahm die Pest Anlauf
und breitete sich von dort über die ganze Stadt aus.
Die Londoner konnten sich über die Todesraten wöchentlich durch die Bills of
Mortality informieren. Als die Pest im Mai bedrohliche Ausmaße annahm, taten sie
das, was schon Galen im 2. Jahrhundert empfohlen hatten: Sie ergriffen die Flucht.
Die Adligen zogen auf ihre Landgüter. Der König, Charles II., ließ sich mit seinem
Hof in Hampton Court Palace nahe Oxford nieder. Erst im Februar 1666 sollte er zurückkehren. Während der König vor allem seinen Liebschaften nachging, drohten
die Staatsangelegenheiten zu verwahrlosen, was einigen Angehörigen des Regierungsapparates Kopfzerbrechen bereitete. Auch reiche Händler und Richter, Gelehrte und ein Großteil des Klerus verließen die Stadt – sogar das College of Surgeons. Mit
der Flucht verbreitete sich die Seuche in die umliegenden Kleinstädte und Dörfer
auf dem Land. Im Juni waren die Straßen vollends mit Flüchtlingen gepflastert, worauf der Lord Major mit Schließung der Stadttore reagierte. Nur für privilegierte Personen mit Gesundheitspässen waren sie noch durchlässig. Sofort entstand ein
Schwarzmarkt für gefälschte Passierscheine.
98
242 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
Während sich in Italien seit längerem die Evakuierung der Pestkranken in Spitäler durchgesetzt hatte, wurden in London von der Pest befallene Haushalte unter
Quarantäne gestellt. Die Haustüren wurden markiert und mit Wächtern versehen.
Unter Quarantäne bildeten Gesunde und Kranke eine Schicksalsgemeinschaft, deren Versorgung völlig von der Außenwelt abhing. Wer häufig durch die Straßen Londons zog, konnte die wachsende Zahl markierter Häuser beobachten. Zu den lebendigsten Schilderungen der Londoner Pest gehören die Einträge, die Samual Pepys
(1633 – 1703) – Sekretär, dann Leiter der Proviant-Abteilung im wichtigen Flottenamt,
ein pfiffiger Aufsteiger – in seinem Tagebuch festhielt. Am 7. Juni notierte er: »Heute habe ich, sehr gegen meinen Willen, in Drury Lane zwei oder drei Häuser mit einem roten Kreuz an der Tür gesehen, und ›Gott erbarme sich unser‹ stand dazugeschrieben – ein trauriger Anblick, das erstemal, daß ich so etwas gesehen habe«. Das
Erlebnis löste hypochondrische Anwandlungen aus, die Pepys mit Hilfe eines bewährten Räuchermittels vertrieb: »Mir wurde richtig übel, und ich bildete mir ein,
daß ein sonderbarer Geruch von mir ausgehe; war gezwungen, mir etwas Tabak zum
Riechen und Kauen zu kaufen; danach war mir gleich besser«.9
Der Tod rückte auch den Wohlhabenden immer näher auf den Leib, nachdem er
wochenlang für sie beinahe so abstrakt geblieben war wie die Sterbeziffern der Mortality Bills. Pepys schrieb sie regelmäßig auf und richtete seine Einschätzung der Lage
ebenso wie sein Handeln danach aus. Anfang Juli sah er die Zeit gekommen, seine
Frau samt Haushalt nach Woolich aus der Stadt zu evakuieren. In den nächsten Wochen pendelte er ständig zwischen London, Woolich und Hampton Court hin und
her. Das Risiko, das er auf sich nahm, war ihm bewußt. Mitte August, auf dem sommerlichen Höhepunkt der Epidemie (mit 31 159 registrierten Opfern in einem einzigen Monat), setzte er sein Testament auf: »Die Stadt ist jetzt so ungesund, daß niemand wissen kann, ob er anderntags noch lebt«.10 Kurz darauf verließ er London für
einige Monate. Anfang des Jahres 1666 war die Pest, wie so oft während der Wintermonate, weitgehend abgeklungen und erreichte in diesem Jahr, in dem London von
dem größten Stadtbrand seiner Geschichte heimgesucht wurde, keine katastrophalen Ausmaße mehr.
Die Wiener Pestepidemie von 1679 hob in der Leopoldstadt an. Im Januar warnte der Arzt Paul de Sorbait bereits vor der Ausbreitung der Seuche. Erste Fälle wurden da noch als hitziges Fieber abgetan. Der Wiener Sanitätsrat zögerte die Ergreifung von Maßnahmen heraus, wie dies übrigens viele dieser Gremien, die sich in
den europäischen Großstädten etabliert hatten, in ähnlichen Gefahrenlagen taten.
Wirtschaftliche Interessen spielten dabei eine Rolle, insbesondere in Handelsstädten. Man hatte Angst vor Sperren, die einen Zusammenbruch der Versorgung herbeiführen konnten, und hoffte darauf, daß die Epidemie glimpflich verlaufen wür-
99
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 243
de, was von unberechenbaren (auch klimatischen) Faktoren abhing. Im Juli stieg die
Zahl der Pesttoten allerdings so dramatisch an, daß offiziell gemacht werden mußte,
was längst ein öffentlich gehütetes Geheimnis war. Jetzt lösten Verordnungen und
Dekrete eine dramatische Fluchtwelle aus. Den Startschuß gab Kaiser Leopold I.
selbst, der mit einem riesigen Hofstab nach Prag aufbrach – die Pest im ›Gepäck‹. Wo
immer sich der Hof in den folgenden Monaten hinbewegte, schleppte er die Seuche
ein.
Zurück blieb eine sterbende Stadt, in der Regierung und Verwaltung weitgehend
zusammengebrochen waren. Die Versorgung durch die umliegenden Gutsherrschaften, die sich selbst schützen wollten, war nicht mehr gewährleistet, so daß zur Seuche auch noch eine Hungersnot kam. Bis November starben nach neueren Schätzungen etwa 50 000 Menschen, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung. An der
Spitze der Pestkommission avancierte einer der reichsten und zweifellos mutigsten
Fürsten, Ferdinand Wilhelm Eusebius Schwarzenberg (1652 – 1703), zum ›Pestkönig‹,
der aus dem Staatsschatz und aus eigenem Vermögen für Arme aufkam und Lazarette errichten ließ. Rigoros ging er gegen Plünderer und gegen Korruption vor. Der
Spitalsverwalter, um nur ein aufsehenerregendes Beispiel zu nennen, wurde an einem Baum bei der Lazarettpforte aufgeknüpft, weil er die Arznei, die zur freien Verteilung an die Armen bestimmt war, verkauft hatte.
Die Wiener Pest von 1679 ist vor allem durch zwei Berühmtheiten in Erinnerung
geblieben: den Augustiner-Barfüßer Abraham a Sancta Clara (1644 – 1709), der in seiner Predigt Mercks Wien, 1680 gedruckt, der Stadt eine literarisch-satirische Standpauke entgegenschleuderte, die zum Vorbild für Schillers Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager wurde; bei der zweiten Gestalt handelt es sich um den legendären
›lieben Augustin‹, einen nimmer betrübten Dudelsackpfeifer, der in trunkenem Zustand in eines der gefürchteten stinkenden Massengräber gefallen und darin seinen
Rausch ausgeschlafen haben soll, ohne Schaden zu nehmen. Die Pest hat viele ähnliche Geschichten hervorgebracht. Eine von ungezählten Varianten kann man bei
Defoe in der Erzählung vom Flötenspieler finden. Dieser launige Unterhaltungskünstler soll, anders als der ›liebe Augustin‹, noch am Rand der Grube auf dem Totenwagen aufgewacht und sich seiner gefährlichen Lage bewußt geworden sein.11
Aufmerksamkeit verdient das Typische, das sich in solchen Legenden ausspricht:
Die Mythenbildung um die Orte und das Personal des Grauens, zu dem Henker und
Totengräber sogar in normalen Zeiten zählten; aber auch die Immunität des Frohsinns – eine Charaktereigenschaft, die der Melancholie (sie galt als individuelle Disposition für eine Pesterkrankung) entgegengesetzt war. So entstanden legendäre
Hoffnungsträger, denen das nationalistische 19. Jahrhundert noch eine reale Existenz
mit lokalem Anstrich verschaffte, was im Falle des ›lieben Augustin‹ soweit führte,
100
244 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
daß man ihm im 7. Wiener Gemeindebezirk an der Kreuzung Neustiftgasse-Kellermanngasse ein Denkmal, den Augustin-Brunnen, setzte.
Noch ein anderes Wiener Denkmal ist der Epidemie von 1679 geschuldet, die
Pestsäule auf dem Graben. Wie so viele Stiftungen verdankt sich auch diese einem
Gelübde. Leopold I. hatte versprochen, eine Gedenksäule zum Dank für das Ende
der Plage zu errichten. Nach Aufstellung eines hölzernen Provisoriums wurden die
Pläne für die endgültige Realisierung des Denkmals mehrfach abgewandelt und den
Umständen angepaßt. Das ikonographische Gesamtprogramm änderte sich mit der
Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683. Hatten Pestsäulen zuvor stets den
konfessionellen Unterschied zum Protestantismus betont, indem sie Pestheiligen
oder der Jungfrau Maria gewidmet waren, so wurde nun mit der Dreifaltigkeit ein
Thema gewählt, durch das sich die christliche Gottesvorstellung signifikant vom
ebenfalls monotheistischen Islam unterscheidet. So entstand die aufwendige Dreifaltigkeitssäule gleichsam in doppelter Erinnerung an zwei der drei ›Geißeln Gottes‹,
Pest und Krieg. Beteiligt war ein ganzes Ensemble von Baumeistern und Künstlern,
unter ihnen Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656 – 1723) und Lodovico Burnacini (1636 – 1707), der die Wolkenpyramide gestaltete.
In Marseille und der Provence wütete zwischen 1720 und 1722 die letzte große
Pestepidemie Westeuropas. Schon die Lage Marseilles am Mittelmeer unterscheidet
diese Stadt von Wien und London, wobei London durch die Themseverbindung
und die Bedeutung seiner Häfen für ganz England regelmäßig eine sonst für Seehäfen wie Amsterdam, Venedig oder Genua typische Schlüsselrolle als Ausgangspunkt
für die Verbreitung der Pest in England spielte. Marseille war schon lange vor 1720
auf die epidemiologischen Gefahren, die der Seehandel mit sich brachte, eingestellt.
Es gab ausgefeilte Kontrollen und prophylaktische Quarantänemaßnahmen, die seit
vielen Jahrzehnten einen Ausbruch der Pest erfolgreich verhindert hatten. Die Epidemie von 1720 mag dieser Erfolgsgeschichte gegenüber wie ein tragischer Ausnahmefall erscheinen. Tatsächlich hat es immer Löcher im System der Kontrollen gegeben, und oft war es eine Sache des Glücks, wenn dies nicht zum Massensterben
führte.
Die Pest wurde durch ein Handelsschiff aus Syrien eingeführt, das Marseille am
25. Mai 1720 erreichte. Obwohl die Schiffsladung im Hafen beschlagnahmt und Besatzung und Passagiere der Grand St. Antoine wochenlang unter Quarantäne gehalten
wurden, gelang es den wieder freigelassenen Seeleuten, geschmuggelte Tuchware in
der Stadt zu verkaufen, die von infizierten Flöhen gewimmelt haben muß. Zwar
wurde diese Ware erneut beschlagnahmt und verbrannt, aber dadurch konnte nicht
mehr verhindert werden, daß einige Seeleute und Käufer erkrankten und starben.
Wie in Wien versuchte die Sanitätskommission in Marseille zunächst die Tatsache,
101
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 245
daß die Pest in die Stadt eingezogen war, zu verschleiern. Die ersten Todesfälle wurden offiziell mit einer hitzigen Fiebererkrankung erklärt. Ihre Zahl nahm im Juli rapide zu. Schon im August waren alle Stadtteile betroffen. Jetzt sahen sich die Handelspartner Marseilles gezwungen, allen Dementis zum Trotz Handelssperren zu
errichten. Aber schon waren nahezu 10 000 Bürger Marseilles in die umliegende Region geflohen und hatten damit für die Verbreitung der Epidemie in der Provence
gesorgt. Aix, Arles, Avignon, Toulon und andere Städte ebenso wie Teile der benachbarten Provinzen Venaissin und Languedoc waren betroffen. Die Blockade, die
im August über Marseille verhängt wurde, konnte weitere Flüchtlinge kaum aufhalten. Dazu fehlten die Truppen. Erst später gelang es, einen wirksamen Sanitätscordon um die Provence zu errichten, der verhindern half, daß sich die Seuche in ganz
Frankreich und von dort über Europa ausbreitete. Prophylaktische Maßnahmen
wurden allerorten getroffen und, wie in Sachsen am 10. Oktober 1721, per Mandat
verordnet. Internationale Handelssperren konnten 1723 wieder aufgehoben werden.
Die Epidemie blieb auf Südfrankreich beschränkt. Am Ende stand eine Bilanz von
mindestens 50000, vermutlich aber weit mehr Opfern, in jedem Falle mehr als die
Hälfte der Stadtbevölkerung von Marseille.
Straftheologie und Frömmigkeit
Deutung und Wahrnehmung von Pestepidemien waren auch in der Frühen Neuzeit
weitgehend religiös geprägt. Nach christlicher Vorstellung galt die Pest – neben Hunger und Krieg – als eine von drei Plagen, die Gott als Strafe für das sündhafte Menschenleben schickte. In allegorischen Darstellungen, in Predigten, Pesttraktaten und
Bildern, wurden diese Plagen zu apokalyptischen Reitern personifiziert. Immer wieder betonten Chronisten einen Zusammenhang zwischen ihnen. Der Krieg brachte
den Hunger, der Hunger die Pest, und alle drei den Tod.
Das Strafdenken warf die grundsätzliche Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf,
denn auch solche Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft wurden von der Pest
hinweggerafft, die, nach öffentlichem Ansehen, über moralische Mängel weitgehend
erhaben schienen. Unterschied der Allmächtige nicht zwischen Gerechten und Ungerechten? Strafte er im Zorn gleichsam blindwütig? Der reformierte Prediger Ludwig Lavater (1527 – 1586) berief sich auf Psalm 91, wenn er versicherte, daß niemand
ohne Gottes Willen von der Pest getroffen werde. »Gott der Herr ist seiner schützen
[d. i. Schüsse, F. M.] vnd streichen gewüß/thuot nit blind schütz oder felstreich/wie
wir menschen«.12 Gleichwohl sah er, daß auch »fromme lüth« von der Plage getroffen würden. Dies alles, so versicherte er, seien »wunderbare gericht Gottes«, die nicht
102
246 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
zu der Meinung berechtigten, die Pest wäre keine Strafe Gottes. Vielmehr ging es darum, dem Leid und Tod der Frommen und Gerechten einen besonderen Sinn abzugewinnen. Dafür gab es mehrere Möglichkeiten: Gott konnte sie den Hinterbliebenen zur Strafe genommen haben, weil sie ihrer nicht würdig waren; oder er wollte –
nach dem biblischen Vorbild Hiobs – ihren Glauben auf die Probe stellen und anderen ihre Leidensfähigkeit als beispielhaft vorhalten. Überhaupt war die Pest eine
große Probe des Glaubens, ihre Wirkung eine moralische Reinigung, eine Art Seelenarznei, vom himmlischen Oberarzt verschrieben, die den Menschen das weltliche
Dasein verleiden und ihren Blick auf das Ewige Leben ausrichten sollte.13
Zwischen »Gerechten« und »Ungerechten« konnte auch mit der Bedeutung, die
der Tod je für sie besaß, unterschieden werden. Was für die einen eine Strafe war, war
Erlösung für die anderen. Für diese Dialektik konnten Theologen und Pfarrer auf ein
reiches Reservoir biblischer Topoi zurückgreifen, die das Leben zum Jammertal erklärten. Das Ende mußte da Befreiung sein. Das Ergebnis dieser Unterscheidung war
eine Art straftheologische Doppelmoral. Erst die ihr innewohnende Doppeldeutigkeit konnte dem Pesttod die moralische Härte nehmen, Strafe und nichts als Strafe
für die Getroffenen zu sein. Sie öffnete einen Ausweg aus dieser Trostlosigkeit und
verlieh der harten Strafmoral menschenfreundliche Züge. So erst konnten Geistliche
ihrer seelsorgerlichen Pflicht nachkommen, Sterbenden und Hinterbliebenen Trost
zu spenden.
Das Individuum ist nur ein möglicher Fokus individueller wie gesellschaftlicher
Wahrnehmung. Auch andere soziale Einheiten konnten in den straftheologischen
Strudel und damit unter Rechtfertigungsdruck geraten. Das galt besonders für weltliche Herrschaften. Biblische Exempel präformierten hier den Blick, allen voran die
Beispiele des ägyptischen Pharao und König Davids. Zu den Gottesstrafen, die
Ägypten vor dem Auszug der Israeliten trafen, hatte auch die Pest gehört. König David zog den Zorn des Allmächtigen durch eine Volkszählung auf sich. Die Angst vor
dem Wiederholungsfall wurde auch in der Frühen Neuzeit noch als Argument gegen
solche Erhebungen angeführt. Die Verantwortlichkeit von Königen und Fürsten
kam propagandistisch in Stiftungen zum Ausdruck, in denen die Frömmigkeit des
Herrschers betont wurde, was immer auch der Rechtfertigung diente. Stadtobrigkeiten fühlten sich durch Katastrophen wie die Pest zum Erlaß von Sittenmandaten veranlaßt, um ihrer ordnungspolitischen Verantwortung nachzukommen.
Die Glaubensspaltung seit der Reformation schließlich forderte zur Instrumentalisierung des straftheologischen Paradigmas für die konfessionelle Polemik heraus.
Im Jahr 1543 mahnte der katholische Pfarrer der savoyischen Gemeinde Cernex,
François de Mandallaz, die Genfer, sie sollten die Pest als Strafe für den Abfall vom
rechten Glauben ansehen. Johannes Calvin erwiderte darauf in einem Brief: Von der
103
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 247
Epidemie seien keineswegs nur dem evangelischen Glauben anhängende Städte und
Regionen betroffen. Der Zorn Gottes treffe alle Christen. Calvin nannte zwei, nach
konfessionellen Gruppierungen unterschiedene Gründe:14
Das ist es, daß die einen ihm seine Ehre rauben durch Götzendienst und Aberglauben
und, statt sein Wort anzunehmen und dadurch sich auf den rechten Weg führen zu lassen, es nicht nur verachten und verspotten, sondern es sogar hassen, verabscheuen und
verfolgen. Wir andrerseits, die wir durch sein Evangelium wissen, wie man ihm dienen
und ihn ehren soll, tun unsere Pflicht nicht genügend, so daß das Wort des Lebens gleichsam müßig und unnütz ist unter uns. Wir wollen uns nicht rechtfertigen, indem wir andere verdammen.
Es blieb beim guten Vorsatz, denn sogleich bemühte sich Calvin, den Spieß umzudrehen, indem er den katholischen »Götzendienst« als besonders frevelhaften Angriff auf die göttliche Ehre brandmarkte.15
St. Paulus sagt, daß Gott in Korinth die Pest habe kommen lassen, weil das Abendmahl
nicht gefeiert wurde, wie es sollte (1 Kor 11). Was muß man nun erwarten, da es nun
schon so lange verkehrt ist in eine entsetzliche Schändung des Heiligen, wie es Ihre Messe ist? [...] Schauen Sie, wie unser Herr Jesus es eingesetzt hat, und vergleichen Sie damit Ihre Messe. Sie werden einen Abstand finden wie zwischen Himmel und Erde.
Auch der schon zitierte Lavater sah sich in einer gedruckten Predigt von 1564 offenbar genötigt, sich mit der Vorstellung, die Epidemie komme »von dem nüwen glauben vnd Euangelio«, auseinanderzusetzen. In Zürich scheint sie noch vierzig Jahre
nach Einführung der Reformation im Raum gestanden zu haben.
»Not lehrt beten«.16 Die Pest war ein Katalysator für Frömmigkeit. »Das ist
gwüß/daß die glöubigen zur zeyt der pestilentz/so vil jnen mit der gnad Gottes
müglich/deren dingen entschlahend die wider Gott sind/hörend flyssiger sein
wort/gäbend reichlicher jr allmuosen/bättend vnnd fastend trüwlicher dann zuo
anderen zeyten«, beschrieb Lavater diese Wirkung.17 Vertreter der Kirche rechneten
auf solche Besinnungseffekte der Gottesstrafe: Sie sollte das Sündenbewußtsein
schärfen, sollte an die Fragilität des Menschendaseins erinnern. Dies war in den
Sinnkonstruktionen des christlichen Denkens, über konfessionelle Grenzen hinweg, ihre tragende religiöse Funktion. Sie diente damit dem Seelenheil, das im
Christenleben dem leiblichen Wohl übergeordnet werden sollte. Ebenso topisch
wie die Frömmigkeitseffekte sind in Predigten aber auch deren Kurzlebigkeit. Die
rasche Verfallszeit des Sündenbewußtseins erklärte denn auch die Wiederkehr, den
104
248 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
ewigen Mechanismus von Sünde und Strafe, Vergessen und Vergebung, Erinnerung
und Anklage.
In der Frömmigkeitspraxis hatte die Pest schon seit dem Spätmittelalter nachhaltigere Wirkungen gezeitigt. Pestheilige, teils völlig neue Gestalten wie Rochus, teils
altbekannte Figuren wie Sebastian oder Christophorus, wurden als Anrufungsinstanzen eingesetzt. Ausdruck fand diese Praxis in der christlichen Kunst, in Heiligenbildern, in Altarretabeln oder Skulpturen. Neue Wallfahrtsorte entstanden. Kapellen, sogar ganze Kirchen wurden gestiftet. Die Wiener Karlskirche – nach Plänen
von Johann Bernhard Fischer von Erlach entworfen – verdankt sich einem Gelübde
Karls VI., das er während der Pest von 1713 abgab. Sie ist dem Namenspatron des Kaisers, Carlo Borromeo, gewidmet und verbindet katholische Frömmigkeit mit dem
Anspruch fürstlicher Selbstrepräsentation. Im 17. Jahrhundert kam eine neue Form
frommer Stiftungen hinzu, die Pestsäulen. Das Wiener Exemplar ist nur die bekannteste und wohl auch aufwendigste Konstruktion dieses Typs, und nicht immer
waren sie der Dreifaltigkeit gewidmet. Auch die Heilige Jungfrau Maria und eine
Vielzahl von Pestheiligen konnten mit dankbarer Erinnerung an das Ende eines Pestzuges bedacht werden. Am stärksten verbreitet ist das Phänomen im Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Pestsäulen findet man heute
in Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn, aber auch in Süddeutschland
und Rumänien.
Die Pestsäulen waren ein rein katholisches Phänomen. Sie kamen erst nach der
konfessionellen Spaltung Europas auf. Die Reformation markiert aber einen generellen frömmigkeitsgeschichtlichen Einschnitt, der sich auch auf zuvor etablierte
Praktiken der religiösen Bewältigung von Pestepidemien auswirkte. Segnungen von
Mensch und Vieh, Prozessionen, Heiligenverehrung, die damit verbundenen religiösen Aktions- und Kommunikationsformen standen jetzt nur noch dem katholischen Teil zur Verfügung, um den individuellen Seelenhaushalt zu regulieren. Luther
hatte schon 1516, also vor Beginn der konfessionellen Streitigkeiten, die Glaubwürdigkeit der Rochuslegende angezweifelt. Später waren die Pestheiligen für Calvinisten, Reformierte und Lutheraner tabu. 1532 erschien in Augsburg eine deutsche
Übersetzung der Schrift De remediis utriusque fortunae des italienischen Humanisten
Francesco Petrarca (1304 – 1374), eine moralphilosophische Trostschrift in Dialogform. Ein Kapitel handelte Von dem Sterben oder Pestilenz. Als Titelillustration dazu
verwandte der Drucker einen Holzschnitt, den er zwei Jahre zuvor schon einmal in
einem spanischen Gesundheitsbuch abgedruckt hatte (Abb. 1). Mit einem Unterschied: Für das protestantische Publikum der Petrarca-Ausgabe waren die Pestheiligen Sebastian und Rochus getilgt (Abb. 2).
Ohne Heilige und ohne die Mutter Gottes blieb allein Christus als Fürsprecher
105
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 249
übrig. Damit veränderten sich die Rahmenbedingungen religiöser Katastrophenbewältigung. Im Angesicht des Pesttodes waren Reformierte und Lutheraner mit ihrem
Gewissen und einer radikalen Gnadenlehre allein gelassen. Als Mittler blieb nur Jesus Christus. Auf seinen Opfertod stützte sich das Vertrauen auf die Gnade Gottes.
Freilich sind Menschen soziale Wesen, und das damit gegebene Bedürfnis nach gemeinschaftlich praktizierten Ritualen traf sich in evangelischen Gemeinden häufig
mit dem Disziplinierungswillen von Obrigkeiten und Pfarrern. Sie drängten auf regelmäßigen Kirchgang aller Gemeindemitglieder und nutzten die Predigt für moralische Appelle. Für Pestzeiten gab es auch hier besondere Gebete und – nicht zuletzt
aus gesundheitspolitischen Gründen – kollektiv vollzogene Sündenbekenntnisse.
Das Abendmahl war besonders begehrt, die Kirchen füllten sich, wo es zu haben
war, auch obrigkeitlichen Versammlungsverboten zum Trotz.
Mehr noch gerieten katholische Abwendungsrituale, weil sie auch Prozessionen
einschlossen, in Widerstreit zu Isolierungsmaßnahmen und Versammlungsverboten.
Für die Gläubigen handelte es sich um Formen der Kommunikation mit dem Allmächtigen, die dazu geeignet sein sollten, seinen Zorn zu beschwichtigen und die
Strafe zu mildern. Wenn Carlo Borromeo während der Mailänder Epidemie von 1576
– 1578 Bittprozessionen selbst barfüßig anführte, so erscheint dies aus heutiger Sicht irrational, war nach der Logik des straftheologischen Denkens jedoch ein konsequentes und vernünftiges Verhalten. Allerdings entging auch Zeitgenossen nicht, daß solche Versammlungen regelmäßig zu einem Schub neuer Erkrankungen führten. Aus
dieser Beobachtung war es konsequent, neben Jahrmärkten, Kirchweihfesten und
Tanzabenden auch religiöse Versammlungen und Aufmärsche zu verbieten.
Dies führte zum Konflikt zweier Erklärungsmodelle: Auf der einen Seite die natürliche Erklärung, die sich auf Beobachtung stützte; auf der anderen Seite die Strafmetaphysik, deren Ursachenbekämpfung auf die Sünden, also auf menschliches
Fehlverhalten zielte. Daß es sich dabei um ein Fehlverhalten handelte, das – anders
als die modernen ›Umweltsünden‹ – in keiner physikalischen Kausalbeziehung zu
den ›natürlichen‹ Folgeprozessen stand, macht den entscheidenden Unterschied
aus. Sünden konnten nur mittelbar über die metaphysische Einwirkung Gottes als
Ursachen für Katastrophen betrachtet werden. Die christliche Straftheologie beharrte allerdings auf der Priorität dieses Umwegs.
Beide Erklärungsmodelle nun konnten in der Theorie durchaus nebeneinander
bestehen, solange natürliche Vorgänge dem Zorn Gottes als sekundäre Ursachen
untergeordnet wurden. Viele Theologen waren ihrerseits durchaus gewillt, die ›natürliche‹ Erklärung gemäß dieser Staffelung von Erst- und Zweitursachen in ihre
Denkmuster einzubeziehen und der obrigkeitlichen wie der privaten Fürsorge einen
heilsmetaphysischen Sinn zu verleihen. Demnach waren weder Individuen noch so-
106
250 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
▼
Abb. 1+2: Im Jahr 1530 erschien in einem spanischen Gesundheitsbuch (Luis Lobera de Avila, Vanquete de nobles cavalleros [...], Augsburg 1530) ein Holzschnitt über die Auswirkungen der Pest. Die Pestheiligen Sebastian und Rochus sind links im Bild gut zu sehen. Einige
Jahre später wurde der gleiche Holzschnitt in einer Petrarca-Ausgabe (Francesco Petrarca,
ziale Gemeinwesen der Gnade Gottes würdig, wenn sie nicht alle als legitim betrachteten Mittel zum Selbstschutz einsetzten. Diese Argumentation ist in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen, weil sie innerhalb theologischer Sinnkonstruktionen Spielräume für menschliches Handeln in der Katastrophe schuf. Dies aber,
etwas gegen das Unheil unternehmen zu können, ist vielleicht die wichtigste psychologische Voraussetzung für eine erfolgreiche Katastrophenbewältigung. Selbstverständlich war dies nicht, denn angesichts der Vorstellung von der göttlichen Allmacht mußte erst darüber gestritten werden, was bei der Abwendung des Unheils
menschenmöglich war. Aus katholischer Sicht hatten dabei die besagten Abwendungsrituale, insbesondere Bußprozessionen, eindeutig Vorrang vor gesundheitspolizeilichen Maßnahmen.
Selten in der Theorie, aber häufig in der Praxis führte genau dies zum Konflikt
und bisweilen zur Anwendung scharfer Sanktionen in der Auseinandersetzung zwischen weltlichen und kirchlichen Machtgruppen. 1630 forderte der Gesundheitskommissar Luigi Capponi, ein Florentiner Patrizier, den Bischof von Volterra mehrmals auf, die Zahl religiöser Versammlungen zu reduzieren. Der Konflikt eskalierte
schnell. Zuerst versuchte der Bischof den Kommissar unter dem Vorwurf der Häre-
107
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 251
Das Glückbuch/Beydes des Gutten und Boesen [...], Augsburg 1539) erneut verwendet, diesmal jedoch blieb die Stelle, an der sich zuvor die Pestheiligen befanden, unbesetzt. Für das
protestantische Publikum waren sie getilgt worden.
sie vor Gericht zu ziehen, was vom Großherzog mit Hilfe des Magistrats von Florenz
abgeschmettert wurde. Als dann alle Prozessionen untersagt wurden, nahmen die
Beschwerden der Geistlichen in Rom derart zu, daß der Papst sich veranlaßt fühlte,
alle Mitglieder des Florentiner Gesundheitsrats kurzerhand zu exkommunizieren.18
Die Verbote stießen aber nicht nur auf den Widerstand der kirchlichen Führungselite, sondern auch auf den des Volkes, das sich zu spontanen Prozessionen versammelte, obwohl es dem Klerus kaum weniger mißtrauisch gegenüberstand als der
weltlichen Obrigkeit. Aber gerade das unterstreicht die Bedeutung religiöser Rituale
als Aktionsformen einer kollektiven Katastrophenbewältigung. Manche Pestprozessionen bekamen institutionellen Charakter und werden noch heute gefeiert. Der
Schäfflertanz in München, der immer noch alle sieben Jahre aufgeführt wird, soll auf
das Pestjahr 1517 zurückgehen. Die Passionsspiele von Oberammergau verdanken
sich dem Gelöbnis einiger Bürger während einer Epidemie im Jahre 1633. Sie versprachen, alle zehn Jahre die letzten Tage aus dem Leben Jesu aufzuführen, wenn der
Ort von der Pest befreit würde. Die Legende behauptet, daß daraufhin tatsächlich
niemand mehr erkrankte, was nur noch einmal unterstreicht, wie tief der Glaube an
den Erfolg expressiver Religionsausübung verankert war. Eine ähnliche ›do-ut-des-
108
252 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
Haltung‹ wie hier kommt auch in manchen Gebeten zum Ausdruck, die in lutherischen und reformierten Kirchen während Pestepidemien gesprochen wurden.19
Auch Amulette zum persönlichen Schutz waren keineswegs nur eine Angelegenheit
katholischer Laienfrömmigkeit. Hüben wie drüben gab es Praktiken, die im Bereich
der ›weißen Magie‹ lagen und Teil der Religionsausübung waren, mochten sie auch
seit der Aufklärung zunehmend als Aberglaube oder Volksglaube gebrandmarkt werden.
Soziale Ungleichheit und Mißtrauen
Welches Bild der Gesellschaft bot sich den Zeitgenossen, welches bietet sich uns im
Rückblick auf die Pestepidemien der Neuzeit dar? Kann man sagen, daß die Pest soziale Unterschiede machte, Stände oder Klassen von Menschen kannte? Ihr ständiger Begleiter, der Tod, erschien den Zeitgenossen als Gleichmacher. In den Totentanzdarstellungen, die vor allem während des 15. Jahrhunderts entstanden, mußten
alle – Könige und Päpste, Bürger, Handwerker und Bauern – mit dem Sensenmann
tanzen.
Das Bild trügt. Mochte der Tod alle gesellschaftlichen Unterschiede aufheben, sofern er früher oder später jeden traf, spielten soziale Unterschiede doch vor der Krankheit eine wichtige, manchmal entscheidende Rolle. Zwar konnte auch die Pest jeden
treffen ohne Standesunterschied. Aber der Stand machte einen Unterschied, wenn es
darum ging, sich zu schützen. So gesehen gab es niemals eine völlige Gleichheit vor
der Pest. Die Ratten tummelten sich vor allem in den Armenvierteln großer Städte. In
Augsburg brach die Pest 1627 im Bezirk Kappenzipfel aus, nach den Steuerlisten zu
schließen (durchschnittlich nur 11 Kreuzer Vermögenssteuer im Vergleich zu 175 Gulden in der reichen Oberstadt) ein bettelarmer Stadtteil. 75 Weberfamilien sind hier
nachweisbar, was etwa 40 % der Haushalte ausmachte. Neben Bauhandwerkern,
Metzgern und einigen anderen Gewerben waren weitere Textilberufe vertreten,20 was
auch unter epidemiologischen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit verdient, weil Textilien Flöhen auf ihrer Suche nach einem neuen Wirt eine willkommene Heimstatt
zum ›Überwintern‹ boten. Durch Beobachtung war die besondere Gefahr, die von
›verseuchter‹ Kleidung ausging, bekannt, nur dachte niemand an Flöhe.
Arme hatten weit weniger Möglichkeiten zum Selbstschutz als Wohlhabende. Sie
waren körperlich weniger resistent. Wer etwas besaß, konnte besser für seine Hygiene und die Sauberkeit seiner Behausung aufkommen, konnte sich mit Vorräten eindecken, seine Diener auf die Märkte schicken, um das Ausgehen zu vermeiden,
wohnte nicht in Kellern oder im Erdgeschoß, wo sich die Ratten eher als in den obe-
109
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 253
ren Geschossen tummelten, und er konnte sich alle Prophylaxemaßnahmen leisten,
die von Ärzten empfohlen wurden: Tabakgenuß, das Räuchern der Stuben, teure
Gewürze, die Einnahme von Tränken aus seltenen Pflanzen. Mochten diese auch
wirkungslos sein, halfen sie doch beim Umgang mit der Gefahr, solange nur der
Glaube an ihre Wirksamkeit bestand. Das Geschäft mit der Gesundheit hatte in Pestzeiten Konjunktur. Medizinische Ratgeber wußten um den Unterschied zwischen
Armen und Reichen, hatten zumeist für beide etwas zu bieten.
Die sozialen Unterschiede, die der Tod bisweilen verschüttete, kamen in der
Flucht besonders deutlich zum Tragen. In Städten, dichten Ballungszentren, läßt
sich das besonders gut beobachten. Eine kleine Gruppe von Patriziern, die Führungsschicht der Städte, hatte Mittel und Möglichkeiten, aufs Land zu fliehen.
Flucht allerdings war auch für Wohlhabende oft eine bittere Erfahrung. Die Einkehr
bei Freunden und Verwandten war von Furcht belastet. Auf seiten der Gastgeber gerieten Gastfreundschaft und Selbstschutz, auf seiten der Gäste Selbstschutz und
Fremdschutz in inneren Konflikt miteinander. Michel de Montaigne (1533 – 1592), der
1585 vor der Pest im Périgord floh, schrieb:
Ich, der ich so gastfrei bin, sah mich größten Schwierigkeiten gegenüber, eine Zufluchtstätte für die Meinen zu finden: Eine verstört herumirrende Familie, die, selbst von
Furcht ergriffen, ihren Freunden und Bekannten Furcht einjagte, überall auf entsetzte
Abwehr traf, wo sie unterzukommen suchte, und auf der Stelle weiterziehen mußte, sobald auch nur einem aus dem verlorenen Häuflein eine Fingerspitze weh zu tun begann.
Alle Krankheiten würden in einer solchen Lage für die Pest gehalten, beschrieb
Montaigne die allgemeine Hypochondrie. Der psychische Druck spitzte sich in der
Quarantäne zu: »Vierzig Tage voller Hangen und Bangen« müsse man abwarten, »ob
das Übel tatsächlich ausbricht, während die Einbildung jeden ihrer Art gemäß auf
die Folter spannt und die Gesundheit selbst zu fiebern beginnt«.21
Amtspflicht, sonst ein Signum gesellschaftlichen Ansehens, das Ehre machte,
konnte, wenn alles zur Flucht drängte, zum Fluch werden. In Köln und andernorts
mußte einer von zwei Bürgermeistern stets vor Ort verweilen, um die bürgerliche
Ordnung aufrechtzuerhalten. Arm oder reich ist also bei weitem nicht die einzige soziale Differenz, die in Pestzeiten einen entscheidenden Unterschied für das Überleben machen konnte. Es gab Gruppen, deren Tätigkeit sie direkt in die Gefahrenzone zog, alle jene, deren Beruf täglichen Umgang mit den Kranken, den Sterbenden
und den Toten mit sich brachte: Geistliche, Totengräber und Ärzte, besonders Chirurgen und die oft zum Aufschneiden der Pestbeulen ebenfalls eingesetzten Barbiere sind hier zu nennen. Die Sonderstellung dieser Risikogruppen konnte durch ihre
110
254 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
öffentliche Stigmatisierung sichtbar werden, wie dies 1665 in London und an vielen
Orten längst Praxis war. Die Prophylaxe forderte eine strikte Trennung zwischen
Kranken und Gesunden, in die jene Gruppen hineingezogen wurden, weil sie die
Kranken zu versorgen, die Toten zu beseitigen oder sich für die Umsetzung von Hygienemaßnahmen einzusetzen hatten. Auch in einer loimographischen Schrift von
1721 wurde daher empfohlen, »Geistliche/Medici, Chirurgi, Todten = Gräber/Abwarte/und wer mit denen Patienten umgehet«, sollten »bezeichnet werden/daß die Gesunden mit denenselben nicht/oder mit grosser Behutsamkeit umbgehen«.22
Viele Ärzte steckten sich während einer Pestepidemie an und starben. Der berühmteste unter ihnen war der Zürcher Conrad Gesner (1516 – 1565). Was dieser plötzliche Tod für die Wissenschaftsgeschichte bedeutete, läßt sich kaum ermessen. Gesners Botanik, die Historia Plantarum, blieb Fragment und wurde einige Jahre nach
seinem plötzlichen Tod verkauft, zerstreut und weiter fragmentiert. Der Basler Arzt
Felix Platter (1536 – 1614) hingegen überlebte nicht weniger als sieben Epidemien. Ärzte waren sich ihres besonderen Risikos bewußt, und dieses Bewußtsein führte zur
Ausbildung von Selbstschutztechniken, die möglicherweise sogar vor Ansteckung
schützen konnten, obwohl die Übertragungswege unbekannt waren. Geradezu legendär sind die Schutzanzüge, die 1656 zuerst in Rom aufkamen (Abb. 3). Die ›Lederrüstung‹, die das Eindringen vergifteter Luft in die Poren verhindern sollte, hielt
vielleicht auch die Flöhe fern, die tatsächlich die Infektion brachten.
Es gibt auch in der Zeit zwischen 1500 und 1800 immer wieder Beispiele für die
Flucht von Ärzten, die schon in den Pestschilderungen des Spätmittelalters erwähnt
wird. Die bedeutendsten Ärzte Londons verließen während der Epidemie die Stadt,
der Präsident des College of Physicians (Edward Alston) ebenso wie der berühmte Thomas Sydenham (1624 – 1689), ein Spezialist für die Behandlung von Fiebererkrankungen. In einer Sitzung der Royal Society Anfang 1666 rechtfertigte Jonathan Goddard
(gest. 1675) sein Handeln damit, daß auch seine Patienten aus der Stadt geflohen
seien.23 Vermutlich war dies nicht nur eine Ausrede.
Es gab innerhalb der Risikogruppe der Ärzte bedeutende Statusunterschiede, die
eine Spezialisierung auf die medizinischen Anforderungen einer Pestepidemie begünstigten und somit zur Ausdifferenzierung dieser Berufsgruppe beitrugen. Einige
Mediziner machten aus der Pest eine Profession und wurden zu regelrechten Pestärzten – eine manchmal zweifelhafte und auch oft mit großem Mißtrauen betrachtete Expertengruppe. Epidemien waren Karrierechancen. Für junge Mediziner, die
weder als Gelehrte noch als behandelnde Ärzte arriviert waren, konnte sich die Risikobereitschaft auszahlen. Antoine Deidier (gest. 1746), der während der Epidemie
von 1720 – 1722 nach Marseille ging, bündelte seine Erkenntnisse in gelehrten Traktaten und knüpfte Beziehungen zu hochkarätigen Kollegen, die aus ganz Europa
111
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 255
Abb. 3: Ein Pestarzt in seiner Schutzkleidung. Schon im 17. Jh. kursierten ähnliche Abbildungen. Die Bildunterschrift behauptet, hier werde François de Chicoyneau (1672 – 1752), Kanzler
der medizinischen Fakultät der Universität zu Montpellier und Leibarzt von Louis XV., dargestellt, der während der schweren Epidemie von 1720 nach Marseille entsandt wurde. Die
Marseiller Ärzte selbst behaupteten dagegen, gänzlich auf Schutzkleidung zu verzichten. Sie
waren davon überzeugt, daß die Ansteckung nicht durch Kontakt mit den Kranken erfolgte.
Schreiben an die verantwortlichen Mediziner in Marseille richteten. Die anschließenden medizinischen Kontroversen verschafften seinen Arbeiten eine Wahrnehmungsqualität, die seinen beruflichen Aufstieg zweifellos begünstigte. Nach der Epidemie wurde er Professor in Montpellier, an einer der international angesehensten
medizinischen Fakultäten.
112
256 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
Auch in der Gruppe der Kleriker tun sich Differenzen auf. Bischöfe verließen
ebenso wie Herrscher ihre Sitze und ergriffen die Flucht. Der Mailänder Bischof Carlo Borromeo war eine eher seltene Ausnahme davon. Dienst an den Kranken taten
vor allem Vikare und Kapläne. Die höher gestellten Geistlichen vom nicht residierenden Pfarrklerus aufwärts konnten sich weitgehend von den Kranken fernhalten,
ohne ihre Amtspflichten unmittelbar zu verletzen.24 Soziale Differenzen tun sich
auch auf protestantischer Seite auf. In größeren Städten wurden während einer Epidemie neben den vorhandenen Pastoren besondere Pestprediger angestellt. Wie bei
den Pestärzten handelte es sich hier vorwiegend um junge Männer, die noch auf der
Suche nach einer Pfarrei waren und im persönlichen Risiko nicht nur ihren Glauben
unter Beweis stellen wollten, sondern auch eine Chance zum schnelleren Aufstieg
erkannten.25 Hier wie meistens würden moralische Bewertungen, die manche Historiker eilig in den Vordergrund schieben, zu kurz greifen. Die Aufgabenteilung zwischen fest installierten Pastoren und Pestpredigern war gesundheitspolitisch im Sinne der Trennung zwischen Gesunden und Kranken. Ein Pastor, der ständig zwischen
ihnen pendelte, stellte ein öffentliches Gesundheitsrisiko dar.
Ärzte und Kleriker besaßen im Lesen- und Schreibenkönnen eine Fähigkeit, die
zur Voraussetzung wurde, daß ihre Stimme in gedruckten und handschriftlich überlieferten Predigten, Hauschroniken, Tagebüchern und Briefen noch heute vernommen werden kann. Andere hingegen – es ist die Mehrzahl – blieben stumm. Zu ihnen gehörten die Totengräber. Um das Massensterben zu bewältigen, wurde ihr
Personal während Epidemien beträchtlich erweitert. Sie holten die Leichen aus den
Häusern und von der Straße und wurden für diese lebensgefährliche Tätigkeit meist
teuer entlohnt. Ihre Arbeit war entsetzlich, nicht nur wegen des Verwesungsgestanks
der Leichen, sondern auch wegen des Hasses der Verwandten, den sie auf sich zogen,
wenn sie in die unter Quarantäne stehenden Häuser eindrangen, um die Leichen zu
bergen.
Für die Verrichtung einer solchen Arbeit waren vor allem soziale Außenseiter prädestiniert, denn hier spätestens endete jede bürgerliche Freiwilligkeit. In Paderborn
unternahm man noch 1625 den Versuch, die Beerdigung der Pestleichen über die
Handwerks-Korporationen zu organisieren. Die Gildenbrüder sollten die Verstorbenen aus ihrem Kreis durch eigene Träger zu den Gräbern transportieren. Die Auseinandersetzungen, die um dieses Los zwischen Rat und Gilden sowie innerhalb der
Gilden ausgetragen wurden, führen wiederum Mechanismen sozialer Differenzierung vor Augen. Vorgesehen waren zunächst die jüngsten und am wenigsten privilegierten Gildemitglieder, die in den Ratsprotokollen namentlich genannt werden. Deren Proteste beim ›Antritt‹ am Rathaus führten dazu, daß ihnen Aufschub und
Gelegenheit gegeben wurde, Ersatz zu verschaffen. Daraufhin wurden Träger rekru-
113
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 257
tiert, die für ihren Dienst teuer entlohnt wurden und Rechte wie eine einjährige Freiheit oder die Bürgerschaft erwerben konnten.26 Es handelte sich um Randfiguren,
deren soziale Stellung so niedergedrückt war, daß sie für deren Verbesserung einen
lebensgefährlichen Einsatz zu leisten bereit waren. Am Paderborner Beispiel kann
man studieren, wie eine frühmoderne Stadtbürgergesellschaft ihre Ausschlußmechanismen in der Ausnahmesituation zur Risikovermeidung einsetzte. Wer das Risiko
auf sich nahm, konnte in die Gemeinschaft aufgenommen werden oder sein Leben
verlieren.
Nicht immer gab es genug Männer, die dazu bereit waren. In Wien wurden die
vom Tod gelichteten Reihen der Leichenträger im Laufe der Epidemie von 1679
schließlich sogar mit Gewaltverbrechern aufgefüllt. Die Totenträger standen nicht
immer grundlos in schlechtem Ruf, was auch für das Dienstpersonal in den Lazaretten galt. Diebstahl scheint hier an der Tagesordnung gewesen zu sein. Häufig entwickelte sich eine korrupte Schwarzmarktökonomie: Wenn der Versorgungsnotstand
in einer Stadt ausbrach, erschien es manchem profitabler, die Mahlzeiten der Sterbenden und die Medikamente, die unentgeltlich an die Armen verteilt werden sollten, an zahlungskräftige Interessenten zu verkaufen. Ohnedies waren die Pestspitäler
in den Monaten des Massensterbens vom Mangel beherrscht. Verpflegung und ärztliche Versorgung brachen zusammen. Wer hier eingeliefert wurde, war zum Tode verurteilt.
Schon Giovanni Boccaccio hat die soziale Sprengkraft der Pest beschrieben, das
Ende der Loyalität sogar unter Freunden und Verwandten, das allgegenwärtige Mißtrauen. Dieses Mißtrauen konnte sich zu einer Wahrnehmungsqualität mit kollektivpsychotischen Dimensionen ausweiten und in Verschwörungstheorien verdichten.
Nach dem ›Schwarzen Tod‹ hatten Juden und Lepröse als Sündenböcke herhalten
müssen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es den Nachzehrerglauben. Bei den
Nachzehrern handelte es sich um lebende Tote. In ihren Gräbern aßen sie das Leichentuch auf und entzogen den Lebenden damit ihre Kraft, und solange dies anhielt, nahm das Sterben kein Ende. Das war die Vorstellung, die tatsächlich dazu
führte, daß manche das Schmatzen von den Gräbern her zu hören meinten, daß
man Leichen ausgrub und ihnen die Kehle durchschnitt.
Lebende Opfer forderte die Vorstellung der pestis manufacta, der von Menschenhand gemachten Pest. Für die Behauptung, eine Pestepidemie könne von Giftmischern durch Anschmieren pestilenzischer Salben an Stühle, Bänke und Wände öffentlicher Gebäude oder direkt an einzelne Menschen ausgelöst werden, gibt es
schon antike Belege bei Livius und Augustin.27 Auch der international renommierte
Chirurg Ambroise Paré hielt dies als Ursache für die Pestepidemie, die er 1564/65 in
Lyon erlebte, für möglich.28 In Casale wurden 1536 nicht weniger als vierzig angebli-
114
258 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
che »Einschmierer« hingerichtet. Die Idee scheint selbst wie eine Epidemie durch
Europa gezogen zu sein: in Brüssel 1556, im Piemont 1564 und 1672, in Padua 1555, in
Anvers 1571, in Palermo 1575, in Savoyen 1587, in der Dauphiné 1591, in Turin 1599 und
1630, in Toulouse 1542 und 1629, in Saint-Lô 1626, in Forez und Thiers 1628, in
Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges kam es zu Verdächtigungen gegen
mutmaßliche Pestsalber. Die Mailänder Prozesse von 1630, die durch Manzoni berühmt wurden,29 sind also alles andere als Einzelfälle.
Die Vorstellung der Salbenschmierer wirkte sich vielleicht nirgendwo so nachhaltig aus wie im calvinistischen Genf. 1530 wurden ein Apotheker, seine Frau und
weitere Personen hingerichtet, weil sie angeblich die Seuche durch infizierte Taschentücher verbreitet hatten. Später verband sich die Vergiftungsthese mit Vorstellungen
vom Hexensabbat. In einer als »Synagoge« bezeichneten Versammlung sollten die
Anhänger der teuflischen Sekte zwei Büchsen erhalten haben, die eine mit einer giftigen Salbe, die andere mit einem Pulver gefüllt, das wie ein Antidot eingesetzt werden konnte. Indem die Teufelsanhänger die Salbe an verschiedenen Lokalitäten verteilten – so lautete der Vorwurf –, hätten sie die Pest in der Stadt verbreitet. Bis ins
17. Jahrhundert hinein führten Pestepidemien zu Hexenverfolgungen in Genf. 1545
wurden 29 Personen hingerichtet, 13 im Zeitraum zwischen 1567 und 1569; 1571 dann –
in der schweren Hungerkrise Anfang der siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts, als die
Pest nach kurzer Unterbrechung erneut zu grassieren begann – wurden gar 36 Frauen und Männer ins Jenseits befördert; sechs waren es noch im Jahr 1615.30 Im Mai 1571
hieß es in einem Brief aus Genf: »wir wüssend, daß wir mitt der pestilentz vmb vnserer sünden willen gstrafft sind, aber ietz hand wir verstanden wiß [die Weise, F. M.]
vnd maaß, wie söliche straff volfürt ist. In disem Meien hatt man 19 hexen lebendig
verbrent [...]«.31 Manzoni hat den Wahn so zu erklären versucht: Es sei leichter, die
Übel einer Pestepidemie auf menschliche Verworfenheit zurückzuführen, an der
man sich rächen könne, »als ihre Ursache in etwas zu suchen, dem gegenüber man
sich nur in sein Schicksal ergeben kann«.32
In Mailand begannen die Verdächtigungen damit, daß im Dom merkwürdige Ingredienzien auf den Bänken entdeckt wurden. Einige Tage später wurden Schmierereien an Häusern beobachtet. Es mag übrigens sein, daß hier wie im Falle der echten
und fingierten Anthraxpulver-Postsendungen, die in den Vereinigten Staaten und
dann auch in Europa nach dem 11. September 2001 verschickt wurden, ›Trittbrettfahrer‹ am Werk waren. Katastrophen lösen nicht nur Angst, sondern allzuoft auch
das zynische Spiel mit der Angst aus. Der erste konkrete Verdächtige, der von den
Mailänder Behörden zum Verhör vorgeladen wurde, war ein Totengräber namens Piazza. Er gehörte zu einer der stets verdächtigten Gruppen, denen ein Profitinteresse
am massenhaften Sterben unterstellt wurde. Piazza hielt der Folter stand, sagte aber,
115
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 259
nachdem ihm Straffreiheit versprochen worden war, aus, er habe tatsächlich Salben
verstrichen, die er zuvor von einem Barbier erworben hatte. Die damit gelegte Spur
führte durch weitere Verhöre zu neuen Beschuldigungen und Geständnissen unter
der Folter, so daß schließlich ein ganzes Netzwerk von Salbenschmierern aufgedeckt
schien. Piazza und eine Reihe angeblicher Mittäter wurden hingerichtet, ihre Leichen
verbrannt, die Häuser ihrer verbannten Familien geschleift. Nichts sollte von ihnen
übrigbleiben.
Die Verschwörungstheorien reichten über die in den Prozessen Verurteilten, die
meist den Unterschichten angehörten, noch hinaus. Außer Minderheiten und Randgruppen wie den Zigeunern galten auch militärische Feinde und Fremdherrscher
stets für jede Art von Vergiftungen als verdächtig. In Mailand waren dies die Franzosen, in Neapel 1656 die Spanier. Umgekehrt führten in Spanien die Mailänder Vorfälle von 1630 zu der Befürchtung, daß Italiener mit Hilfe der in Mailand hergestellten Ingredienzien die Epidemie auf Spanien ausweiten wollten, wie es in einem
Schreiben des Königs nach Barcelona hieß.33 Eine Art biologischer Kriegführung
hatten 1347 schon die tartarischen Belagerer von Kaffa an der Schwarzmeerküste
praktiziert, die ihre eigenen Pestopfer buchstäblich in die Stadt katapultierten. So abwegig also war der Gedanke nicht, zumal es mit gängigen medizinischen Theorien
vereinbar war anzunehmen, daß Salben, die angeblich aus Tierexkrementen und
dem Ausfluß aufgeschnittener Pestbubonen hergestellt wurden, infektiös wären.
›Pestregiment‹ und Resistenz
Das gesellschaftliche Chaos, das der ›Schwarze Tod‹ angerichtet hatte, als er Mitte
des 14. Jahrhunderts über Europa herfiel, blieb als Schreckbild des gesellschaftlichen
Zusammenbruchs in Erinnerung. Eine Druckschrift von 1720, veranlaßt durch die
große Epidemie in Marseille und der Provence, beschrieb die Pest als ein »scharffschneidendes Messer/welches nicht nur in wenigen Stunden und Tagen den Lebens
= Faden ab = sondern das Band der Menschlichen Gesellschaft entzwey schneidet«.34 Um dieser Gefahr zu begegnen, etablierten spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Obrigkeiten in Stadt und Land Regeln für den Notstand, die ein wichtiger
Bestandteil der Katastrophenbewältigung wurden. Sie erließen ›Pestordnungen‹.
Man sprach auch vom »Pestregiment«. Als »Pestregimina« wurden auch gedruckte
Ratgeber bezeichnet, die Verhaltensregeln für die Ausnahmesituation formulierten.
Die Pest herrschte im doppelten Sinne: Als Epidemie und als eine durch sie vorübergehend erzwungene Gesellschaftsordnung eigener Art. Erst so wurde die Ausnahmesituation zum Zustand, in dem sich so etwas wie eine ›sekundäre Normalität‹
116
260 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
etablieren konnte.35 Die bereits erwähnten Risikogruppen waren in dieser ›Normalität zweiter Ordnung‹ mit besonderen Aufgaben betraut und prägten das Bild einer
Gesellschaft im Ausnahmezustand mit.
Dieser Zustand war buchstäblich durch eigene Gesetze geprägt, die die gewöhnliche bürgerliche Wertordnung außer Kraft setzten, in mancher Hinsicht sogar auf den
Kopf stellten. Versammlungsverbote, Isolation und Quarantäne bedeuteten ebenso
eine Einschränkung der Freizügigkeit wie die Zwangsüberführung der Kranken in Pesthospitäler. Die Verbrennung von Kleidung, Wohnungseinrichtungen, ja manchmal
sogar ganzer Häuser war ein Angriff auf das Eigentum. Die Beerdigung der Pesttoten
in Massengräbern stellte die Erinnerungskultur des Individualgrabs in Frage, löste die
Heilsgemeinschaft zwischen Lebenden und Toten auf und ersetzte sie durch einen
»Tod ohne Zukunft« (E. LEVINAS), ohne Gedächtnis und Fürbitte. Das Begräbniszeremoniell wurde, sofern überhaupt noch vorhanden, auf ein Minimum beschränkt.
Das massenhafte Sterben erzwang die Beisetzung in Massengräbern jenseits des
Kirchhofs, oft sogar jenseits der Stadtmauern. So verfuhr man sonst nur mit den
sterblichen Überresten von Tieren, gesellschaftlichen Außenseitern, Selbstmördern,
Gotteslästerern oder Verbrechern. Das war entwürdigend. Eine nachträgliche Kompensation wurde durch die Markierung der Pestfriedhöfe mit Gedenksteinen geschaffen und durch Prozessionen, die zu ihnen hinaus vor die Tore der Stadt führten.
Das ›Pestregiment‹ bot also reichlich Stoff für Konflikt, und immer wieder leisteten Betroffene Widerstand. Es gab Fluchtversuche aus der Isolation, wie Defoe sie
in seinem Journal schilderte, Akte, oft gewalttätige Akte, des verzweifelten Ausbruchs. Vor Gericht wurde Entschädigung für vernichtetes Eigentum verlangt. In der
schwedischen Provinz Blekinge ›plünderten‹ im Jahr 1710 aufgebrachte Gemeindemitglieder den auf einem nahegelegenen Hügel errichteten Pestfriedhof, den sie als
Wolfsgrube bezeichneten, und überführten die Exhumierten auf den Friedhof der
Ortskirche. Auch geheime Totengräber wie Per Månsson in der Provinz Småland
1730/31 taten sich hervor. Nachdem er seine Frau und seine Kinder beerdigt hatte, bot
er den Familien anderer Pestopfer seine Dienste an und setzte das Risiko, das er damit auf sich nahm, in Profit um, was mit seiner Bestrafung endete.36 Natürlich kam
es auch andernorts, nicht nur in Schweden, zu Verstößen gegen die Notstandsordnungen. Zur Epidemie in Florenz 1630 – 1633 verzeichnen die Kriminalakten nicht
weniger als 332 Verfahren.37
Diese wenigen Impressionen widerspiegeln nur unzureichend, wie verwirrend
vielfältig das Bild des Ausnahmezustands in Europa war. Auch darin, wie durch die
Pest die gesellschaftliche Ordnung umgekrempelt und beherrscht wurde, gab es keine Gleichheit, wenn auch viele Parallelen von einem Ort zum anderen. Legt man die
zweifelhafte, in jedem Falle aber anachronistische Einteilung Europas in die heuti-
117
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 261
gen Nationalstaaten zugrunde, so zeichnet sich, bei allem, was wir heute wissen, ein
Süd-Nord-Gefälle in der Pestbekämpfung ab.38 In den italienischen Handelsstädten
und auf der Iberischen Halbinsel betrachteten Obrigkeiten Gesundheit schon in den
1290er Jahren als legitimes öffentliches Anliegen.39 Italien war Deutschland und England in nahezu allen Belangen der Pestbekämpfung, bei einzelnen Maßnahmen sogar um hundert Jahre voraus. Der Erfolg ist im einzelnen äußerst umstritten und war
es schon unter den Zeitgenossen. Defoe etwa übte eine scharf moralisierende Kritik
an der häuslichen Isolation der Kranken und der Mitverurteilung, die sie für die gesunden Bewohner eines Hauses bedeutete. Not und Zwang waren bei einer Verlegung ins Spital für die Betroffenen jedoch kaum weniger grausam. Handelssperren
gegen befallene Regionen und Städte waren verständliche Maßnahmen des Selbstschutzes, spitzten aber die Katastrophenlage noch zu, wenn die Versorgung nicht
mehr gewährleistet war.
Betrachtet man die langfristigen Auswirkungen der Maßnahmenpolitik, so erscheint die These plausibel, daß die Pesterfahrung in Europa Anteil am Prozeß moderner Staatsbildung hatte. Die organisatorischen Anforderungen führten an vielen
Orten, zuerst in Italien, zu dauerhaften Einrichtungen wie den permanenten Sanitätsräten oder zum Bau von Spitälern. Andererseits hatte der Staatsbildungsprozeß
auch Anteil an der Pestbekämpfung. Erst die stehenden Heere des 17. Jahrhunderts
ermöglichten die Kontrolle großräumiger cordons sanitaires. Der Ausbau staatlicher
Verwaltung unter dem Absolutismus führte überhaupt zur Ausweitung politischer
Planung und ihrer administrativen Durchsetzung. Staatsbildung und Pestbekämpfung sind also sich gegenseitig bedingende Prozesse.
Das Ende der Pest
In die Frühe Neuzeit (ca. 1500 – 1800) fällt das Ende der Pest in Europa. 1668, noch im
Gefolge der Great Plague in London, trat sie letztmalig in England auf. Schottland erreichte sie schon seit 1647 nicht mehr. 1670 kam sie auf dem Gebiet der heutigen Beneluxstaaten, 1679 im westlichen Teil Deutschlands und der Schweiz, 1711 in Spanien,
1712 in Skandinavien, 1714 in Nord- und Zentralitalien, 1716 in den Habsburger Ländern zum Stillstand. Marseille 1720 – 22 war der letzte große Ausbruch der Epidemie
im westlichen Teil Europas. Im Osten hielt sie sich noch länger. Mörderisch war ihr
Ausbruch 1770 in Moskau. 1828/29 und 1841 war der Balkan betroffen. Vereinzelte
Pestfälle gab es zwar nach 1720 auch im Westen immer wieder, sie erreichten jedoch
keine epidemischen Ausmaße mehr. Lange vor Entdeckung des Pesterregers durch
Kitasato und Yersin und noch länger vor Entdeckung einer erfolgreichen medizini-
118
262 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
schen Behandlung mit Antibiotika also zog sich die Krankheit von der europäischen
Bühne zurück.
Da eine erfolgreiche medizinische Bekämpfung in der Frühen Neuzeit nicht
möglich war, haben Historiker anderen Selbstschutzmechanismen frühmoderner
Gesellschaften große Bedeutung beigemessen, insbesondere den Quarantänemaßnahmen und Pestcordons. Cordons sanitaires gab es 1647 in Spanien, 1668 rund um
Paris, 1680/82 an der Elbegrenze von Braunschweig-Lüneburg, 1709 in Preußen oder
1720 rund um Marseille. Vor allem die zunehmende Abschottung des europäischen
Raums gegenüber jenen Regionen, in denen die Pest endemisch ist (Afrika und der
Orient in erster Linie), scheint Wirkung gezeigt zu haben. Für die italienische Halbinsel, Großbritannien, Spanien, die Niederlande und Südfrankreich waren vor allem
Hafenstädte für den Pestimport verantwortlich. Für eine erfolgreiche Prävention
kam etwa in Genua, Venedig, Marseille, Amsterdam oder London alles auf die strenge Durchführung von Quarantänemaßnahmen an. Im Osten richtete Österreich
vom Karpatenbogen bis zur Küste des Adriatischen Meeres einen mehr als 1900 km
langen Cordon ein, der als militärisches ebenso wie als seuchenpolitisches Frühwarnsystem diente.
Aus heutiger Sicht, d. h. unter der problematischen Voraussetzung eines Krankheitsbildes, das von der neueren Medizin entwickelt wurde, gab es eine Vielzahl von
Maßnahmen, die wirkungslos oder gar kontraproduktiv waren. Durch das Abschlachten ganzer Haustierpopulationen von Hunden und Katzen, wie es 1665 in
London betrieben wurde, sollte verhindert werden, daß die giftigen Körperdünste
im Fell der Tiere von einem Haus ins andere getragen würden. Tatsächlich drohte
von daher jedoch keine Gefahr, während man insbesondere mit den Katzen natürliche Feinde der Ratten und Mäuse tötete. Umstritten ist, ob die Einlieferung der Infizierten in Pestspitäler eine erfolgreichere Maßnahme zur Eindämmung einer Epidemie darstellte als die häusliche Isolierung. Die Sterbeziffern sprechen hier keine
eindeutige Sprache. Sicher scheint nur, daß die Einlieferung in ein Spital einem Todesurteil gleichkam, während andererseits die Überlebenschancen der Familienangehörigen und Mitbewohner von Infizierten, die dann separat unter Quarantäne gestellt wurden, stiegen.
Die möglichen Gründe für das Ende der Pest in Europa sind vielfältig, schwer
gegeneinander abzuwägen und daher umstritten. Neben Quarantänemaßnahmen,
der Verbesserung der Hygiene in den Städten oder der Verdrängung von Holz- durch
Steinbauten, die weniger rattenfreundlich waren, werden immer wieder biologische
Theorien angeführt, deren Tragweite nicht nur für Historiker schwer zu beurteilen
ist. Gab es eine Immunisierung der Ratten gegen die Pest durch den Pseudotuberkulosebazillus? Fand eine Verdrängung der schwarzen Hausratte, des Rattus rattus,
119
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 263
durch die Wanderratte, Rattus norvegicus, statt, die als Wirt für Pestflöhe nicht in Betracht kommt? Die These, daß der Wandel von Rattenpopulationen innerhalb Europas für das Ende wie schon für den Beginn der europäischen Pandemie (seit
1347/48) verantwortlich sei, ist von einigen Historikern bestritten worden.40 Kann
dem Rattenfloh (Xenopsylla cheopis) für Europa überhaupt die Bedeutung zugemessen werden, die ihm für die Übertragung und Ausbreitung der Krankheit während
der von Yersin und anderen in Ostasien beobachteten Epidemien zukam? Vieles
spricht dafür, daß der Menschenfloh (Pulex irritans) im europäischen Raum eine epidemiologisch bedeutendere Rolle spielte und folglich die Infektionskette MenschMenschenfloh-Mensch für die Ausbreitung der Pest in vielen Fällen, vielleicht ihrer
Mehrzahl, tragend war. Möglicherweise aber stellt sich alles noch viel komplizierter
dar, wenn man berücksichtigt, daß mehr als hundert Flohspezies als Überträger in
Frage kommen.
Bei der Yersinia pestis steht immer das Rattensterben am Anfang der Kette. Camus hat es in seiner literarischen Schilderung der Epidemie im nordafrikanischen
Oran beschrieben: Die Ratten kriechen in einer Art Fieberwahn aus ihren Löchern
und taumeln auf die Straßen, wo sie verenden. Das Rattensterben hätte eigentlich
eine signifikante Wahrnehmungsqualität sein müssen. Im Schrifttum des Hindustan
wurde es schon vor mehr als 800 Jahren mit der Pest in Verbindung gebracht. Die Bewohner von Gharwal und Kumaon im indischen Himalaya, einem Endemiegebiet,
verfolgen seit langem – auch ohne die Kenntnis biologischer Infektionsketten – die
Verhaltensmaßregel, ihre Dörfer für einen Monat zu verlassen, wenn sie eine ungewöhnliche Sterblichkeit der Ratten beobachten. Nichts dergleichen findet sich in europäischen Zeugnissen. Ratten werden nur vereinzelt im Zusammenhang mit Pestepidemien erwähnt. Defoe schreibt an der Stelle, wo er von der Tötung der Hunde
und Katzen berichtet: »Alle möglichen Anstrengungen wurden auch unternommen,
um die Mäuse und Ratten zu vertilgen, besonders die letzteren, indem man Rattengift und anderes für sie auslegte, und auch von ihnen wurde eine Unmenge vernichtet«.41 Wurde das Rattensterben hier erst durch Gift herbeigeführt, oder verdeckte die
Vergiftung nur die Tatsache, daß die meisten Ratten an der Pest starben? Ist es denkbar, daß eine so signifikante Beobachtung wie der massenhafte Tod dieser Nager vor
einer Epidemie in den Städten Europas niemals in Beziehung zum anschließenden
Menschensterben gesetzt wurde? Oder müssen wir hier eben doch anderen Übertragungswegen Vorrang geben?
Ob Ratten- oder Menschenfloh: Vom Floh als Überträger ahnte man nichts, obwohl einigen Ärzten die winzigen roten Pusteln am Körper der Kranken, die von
Flohbissen herrührten, auffielen. Flöhe gehörten zum Alltag. Robert Hooke (1635 –
1703) gab ihnen in seiner Micrographia mit Hilfe des Mikroskops ein vergrößertes
120
264 PEST, PESTANGST UND PESTBEKÄMPFUNG IN DER NEUZEIT
und erstmals gut erkennbares Aussehen (Abb. 4). Aber noch wußte er nichts von der
Starrolle, die diesen blutrünstigen Tierchen in der Pesttragödie zukam, die sich über
viele Jahrhunderte wiederholt in Europa abspielte – auch in London, an eben dem
Ort und in eben dem Jahr 1665, da das Werk Hookes im Druck erschien. Auch der
Prediger und Dichter John Donne (1572 – 1631) ahnte nichts, als er, sicher guten Gewissens, das folgende Gedicht niederschrieb:
The Flea
Mark but this flea, and mark in this,
How little that which thou deny’st me is;
It sucked me first, and now sucks thee,
And in this flea our two bloods mingled be;
Thou know’st that this cannot be said
A sin, nor shame, nor loss of maidenhead,
Yet this enjoys before it woo,
And pampered swells with one blood made of two,
And this, alas, is more than we would do.
Oh stay, three lives in one flea spare,
Where we almost, nay more than married are.
This flea is you and I, and this
Our marriage bed and marriage temple is;
Though parents grudge, and you, we’re met
And cloistered in these living walls of jet.
Though use make you apt to kill me,
Let not to this self-murder added be,
And sacrilege, three sins in killing three.
Cruel and sudden, hast thou since
Purpled thy nail in blood of innocence?
Wherein could this flea guilty be
Except in that drop which it sucked from thee?
Yet thou triumph’st, and say’st that thou
Find’st not thyself nor me the weaker now.
‘Tis true; then learn how false fears be;
Just so much honour, when thou yield’st to me,
Will waste as this flea’s death took life from thee.
121
PESTEPIDEMIEN IM EUROPA DER FRÜHEN NEUZEIT 265
Abb. 4: Die erste detailgenaue Abbildung eines Flohs erschien in Robert Hookes Micrographia, die 1665, im Jahr der Great Plague, in London gedruckt wurde. Die Koinzidenz ist zufällig, denn weder Hooke noch die Ärzte des 17. Jh. dachten an eine Beziehung zwischen den
Blutsaugern und der Pest. Erst seit dem 19. Jh. wird die Ansteckung durch die Bubonenpest
auf Flohbisse zurückgeführt.
122
Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year
(1722)
[...]
123
124
125
126
127
128
129
[...]
aus: Defoe, Daniel. A Journal of the Plague Year (Ein Bericht vom
Pestjahr, übersetzt von Ernst Betz, Carl Schünemann Verlag
Bremen, 1965
130
5: Spiel
Text = muss d. Wasser sein, in dem ihr (actors) euch bewegt (schwimmt)
(dies als Voraussetzung der (Theater)-arbeit, statt, wie üblich, als angestrebtes Resultat.
Heiner Müller
Über Text, Fatzermaterial; Theater Angelus Novus
Texte müssen zu einer Realität werden, die nicht einfach abbildet, sondern die Sehnsucht
oder Ahnung eines möglichen anderen nahe bringt.
Dafür muss der Rahmen des Theaters, der ja schon durch die Theaterbauten, also die
politischen Strukturen, vorgegeben ist, gesprengt werden. Der Text darf nicht als Mitteilung,
als Information transportiert werden, sondern muss eine Melodie sein, die sich frei im Raum
bewegt. Jeder Text hat einen Rhythmus, zwar nur unterschwellig, aber doch so spürbar,
dass er wie bei einem Popkonzert vom Körper aufgenommen wird. Das ist die Qualität, die
das Theater wieder bekommen muss, aber dazu braucht es sehr gute Texte. Gute Texte
leben von ihrem Rhythmus und strahlen ihre Information über diesen Rhythmus ab, und nicht
über die Mitteilung. In der elisabethanischen Renaissance hat man die Shakespeare-Stücke,
die heute ungestrichen in vier bis fünf Stunden aufgeführt werden, in zwei, maximal
zweieinhalb Stunden abgespult. Es war nur Rhythmus, alles war nur Beat. Niemand hat
darüber nachgedacht, was jetzt mit diesem oder jenem Satz gemeint ist – das konnte man ja
hinterher, wenn man ein Bedürfnis empfand. Auch das ist ein Negativprodukt von Aufklärung
– dass die Leute ständig meinen, sie müssten etwas verstehen im Theater. Aber der Kopf
gehört nicht ins Theater, denn dann macht man keine Erfahrung. Erfahrung kann man nur
blind machen. Und ein wichtiges Charakteristikum der europäischen Kultur ist der ständige
Versuch, den Menschen die Fähigkeit abzutrainieren, Erfahrungen zu machen. Überall
werden Zwischenschaltungen eingebaut, damit zwischen der Sache und dem Menschen
keine unmittelbare Beziehung entsteht [...]
Einar Schleef
FAUST DROGE PARSIFAL
Tempoanziehen, Tempodehnen. Bei den ausgedehnten Tischproben zu meinen
Inszenierungen versuche ich die jeweilige Sprachmelodie des Autors aufzuspüren und diese
dann bei den unterschiedlichen Sprechern herauszuarbeiten, damit das Sprachbild dieses
speziellen Autors erscheint und sich von dem anderer Autoren absetzt. Ein Ideal für die
Umsetzung eines Autors wäre, wenn alle Sprecher „eine“ Sprache sprechen würden, die sich
nur durch Färbung, Intonation und Sprachführung von einander unterscheidet, inhaltlich und
darstellerisch aber gleich ausgerichtet ist. Das dieses Ideal in einigen Theaterepochen
angestrebt worden ist, belegt die Konzentration der Entwicklung des Sprechtheaters um
bestimmte Autoren, die die jeweilige Theaterperiode mit ihrer Sprache und deren
Darstellungsweise prägen. (92)
Hat man von dieser Notierung keine Ahnung, so muss man laut lesen und sich selber
zuhören, z.B. RÖMISCHE ELEGIEN. Man braucht überhaupt kein Ahnung vom Vers zu
haben, beim zehnten laut Lesen wird man feststellen: 1. Dass die Anfangszeilen immer
schneller als die Endzeilen sind, dass zum Ende hin eine Tempodehnung ist, so als müsse
man jedes Wort einzeln aussprechen, ja die Worte in sich trennen, um sie bedeutsamer zu
machen, denn auf jedem einzelnen Wort liegt die Bedeutung. 2. Dass die Stimme mit
Tempoanzug hell werden muss, mit Tempodehnung dunkel, das kommt sowohl aus der
Bedeutung des einzelnen Wortes als auch aus dem Gesamtgefüge, das besonders gegen
Ende hin die Dunklung verstärkt. (93)
131
Ob historisches Stück oder Gegenwartsstück, der Definitionscharakter der Sprache ist
verloren. Sprache ist nicht mehr Grund, sondern Begleiterscheinung. Sprache benennt nicht
mehr, sondern umschreibt, verliert ihre Künstlichkeit, ein wichtiger Aspekt in der
Unterscheidung zu Film und Fernsehen, sucht stattdessen Natürlichkeit, die die sprechenden
Figuren nie haben, verliert in dieser Angleichung an Substanz, an unterwühlender Kraft.
Damit werden die Figuren liquidiert, sowohl die toten als auch die lebenden. Die Behauptung
der Senkrechten wird nur noch als umständlich angesehen, als lästiger Versuch Pathos zu
behaupten, als Störelement, das eine allgemeine Duckung irritiert. Pathos wir als falsch,
überholt, verlogen, leer, dumm bezeichnet, dagegen eine Menschelei behauptet, die die
Künstlichkeit des Pathos bewusst niederknüppelt. Damit hat die Theatersprache, die
Sprache, die sich gegenüber Zuschauern artikuliert, im Voraus verloren. Die Diskreditierung
des Pathos, die verständlicherweise aus den politischen Gegebenheiten resultiert, ist jetzt
reaktionäre geworden, genauso wie sich die Pathos-Behauptung in anderen politischen
Gegebenheiten als reaktionär erwies. Diese Beobachtung, Feststellung ist für Darsteller und
Autor von Wichtigkeit, da sie eine Korrektur der theaterpraktischen Mittel notwendig macht,
genauso wie man sich technischen Neuerungen anpasst, seine Werkzeuge nachrüstet. (99)
Wie der Autor die Figuren aus sich herausschickt, so auch deren Sprachen, die alle einen
Autor gehören, alle einem Sprachvermögen, alle eine Sprache sprechen. Der normale
Sprechtheaterbetrieb ignoriert bewusst diese Zugehörigkeit, die Verbindung der Figuren
untereinander, umgeht eine gemeinsame Sprache, versucht die Figuren brutal zu
individualisieren, sie damit ihres zusammenhängenden Sprachkörpers zu berauben und
untereinander zu isolieren. Die so hergestellten „Kunstmenschen“ gehören zwar dem Titel
nach noch dem Autor, möchten aber als Sprache, als Figur autonom erscheinen. Diese
falsche Autonomie ist zerstörerisch. Die Existenz des Vers-Dramas verbietet solche
Individualisierungen. Jedem Darsteller müsste das klar sein, trotzdem wird der Sprachleib
egoistisch zerstückelt, die vorgegebene, streng durchzuführende Vers-Form aufgebrochen.
Diese Fehlversuche verursachen Splitter, mahlen willentlich die großangelegte Kontur eines
Werkes, eines Gedankengangs klein. Der Autor wird von den Darstellern vernichtet. (101)
Martin Heideggger
Sprache und Sein
Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden
und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der
Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der
Sprache aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, dass von ihm eine
Wirkung ausgeht oder dass es angewendet wird . Das Denken handelt, indem es denkt.
Dieses Handeln ist vermutlich das Einfachste und zugleich das Höchste, weil es den Bezug
des Seins zum Menschen angeht. . .
Die überall und rasch fortwuchernde Verödung der Sprache zehrt nicht nur an der
ästhetischen und moralischen Verantwortung in allem Sprachgebrauch. Sie kommt aus einer
Gefährdung des Wesens des Menschen. . .Der neuerdings viel und reichlich spät beredete
Sprachverfall ist jedoch nicht der Grund, sondern bereits eine Folge des Vorgangs, dass die
Sprache unter der Herrschaft der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität fast
unaufhaltsam aus ihrem Element herausfällt. Die Sprache verweigert uns noch ihr Wesen:
dass sie das Haus der Wahrheit des Seins ist. . .
Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor lernen,
im Namenlosen zu existieren. Er muss in gleicher Weise sowohl die Verführung durch die
Öffentlichkeit als auch die Ohnmacht des Privaten erkennen. Der Mensch muss, bevor er
spricht erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, dass er unter diesem
Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit
seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des
Seins wiedergeschenkt.
132
Ernst Jünger
Über die Vokale
Wenn man diese Laute zunächst mit den Konsonanten vergleicht, so fällt das zartere und
vergänglichere Leben auf, das ihnen innewohnt.
In diesem Sinne bilden sie das eigentliche Fleisch der Worte und Sprachen, während durch
die Konsonanten das festere Knochengerüst verkörpert wird. Daher werden auch durch die
Veränderungen der Sprach, durch ihr Wachstum, ihre Wanderungen und ihren Verfall, die
Vokale am ersten und leichtesten berührt. Sie wittern wie der flüchtige Lebensstoff am
schnellsten aus dem Körper der Sprache heraus, während der härtere Panzer der
Konsonanten oft durch Jahrhunderte hindurch und selbst über den mannigfaltigen Wechsel
der Rassen, Völker und Sprachen hinweg seinen Zusammenhang bewahrt.
2
Der Vokal stellt also den vergänglicheren Stoff des Wortes dar. In ihm ruht die Farbe,
während durch den Konsonanten die Zeichnung gegeben ist.
Der Rhythmus besitzt eine konsonantische, der Akkord, ein vokalische Natur. – Es wird mit
den Konsonanten aber auf den Vokal gereimt. Also auch hier fällt die Darstellung der
Verschiedenartigkeit den Mitlauten zu.
Diese Tatsache ist erstaunlich, wie alle einfachen Dinge erstaunlich sind: denn wenn man
einen Menschen ohne alles Gehör, etwa einen Mondbewohner, als Axiom mitteilen würde,
dass die Vokale die eigentlichen Träger des sprachlichen Lebens seien, so würde er daraus
schließen, dass deren Spiel und Wechsel auch das stärkste Mittel des Ausdrucks ist.
Worauf aber mag der höhere Rang des Vokals beruhen, der hier so deutlich wird? – denn es
ist ein sicheres Kennzeichen des höheren Ranges, dass eine Kraft durch ihre Ruhe mehr als
durch ihre Bewegung bewirkt.
. . .Der Reim ist die Erinnerung an die gemeinsame Wurzel der Worte, bis zu der keine
Sprachforschung jemals vordringen wird und die der Dichter in seine Träumen errät.
3
. . . In der Tat schmelzen die Bedeutungen der Lautsprache mannigfaltig ineinander ein, und
unentwirrbar sind die Extreme der Leidenschaft. Wohl auf keinem Gebiet wird dies deutlicher
als auf dem der Tragödie. Hölderlin sagt in einem übrigens nicht einfach zu entziffernden
Absatz seiner Anmerkungen zum „Ödipus“, dass die Darstellung des Tragischen vorzüglich
auf diesem Verhältnis beruhe, und oft stoßen wir in seiner Übersetzung dieses Trauerspiels
auf Stellen, an denen die Gewalt des Schmerzes die Gefüge der Wortsprache vulkanisch
zersprengt:
Weh! Weh! Weh! Weh!
Jo Dämon, wo reißest du hin?
Jo Nachtwolke mein! du furchtbare,
Umwogend, unaussprechlich, unbezähmet,
Unüberwältigt! o mir, o mir!
Das sind Laute, die an Götter und Steine gerichtet sind.
4
Jeder bedeutende Schmerz, auf welchem Gebiet er auch empfunden werden mag, drückt
sich nicht mehr durch Worte, sondern durch Laute aus. Die Stätten der Geburt und des
Todes sind von solchen Lauten erfüllt. Vielleicht haben wir sie in ihrer vollen Stärke um
ersten Male wieder im Kriege vernommen – auf den nächtlichen, von den Rufen der
Verwundeten erfüllten Schlachtfeldern, auf den großen Verbandplätzen und in der Erstarrung
des jähen Todesschreies, dessen Bedeutung niemand verkenn. Das Herz empfindet dieses
Laute anders als Worte; es wird gleichsam durch Wärme und Kälte unmittelbar berührt. Die
Menschen werden sich hier sehr ähnlich; durch den großen Schmerz wird die Eigenart
dessen, der ihn empfindet, zerstört. Ebenso werden die Besonderheiten der Stimme zerstört.
Die Konsonanten werden verbrannt; die Laute des höchsten Schmerzes sind rein
vokalischer Natur.
133
Aber nicht nur der Schmerz besitzt seine Lautsprache, sondern die Leidenschaft überhaupt.
Liebe, Hass, Wut, Entsetzen, das Geschlecht, der Triumph des Sieges, die Klage des
Untergangs, die hohe Begeisterung – sie alle haben ihre Laute, deren Kenntnis und
Anwendung uns auf natürliche oder übernatürliche Weise durch Geburt gegeben ist. Sie alle
umschließen nicht nur die Wortsprache, sondern dringen auch in sie ein. Wie oft erstaunt
man, wenn man die großen Reden list, die die Geschichte uns überliefert hat und die die
Hörer so unwiderstehlich begeisterten, über die völlige Nichtigkeit ihrer Inhalte. Freilich
nimmt man, indem man das Verklungene liest, nur die ausgebrannte Hülse wahr, nicht aber
das Feuerwerk der politischen Leidenschaft.
Bei allen wesentlichen Begegnungen zwischen Menschen horchen wir durch die
Wortbedeutung auf die reine Lautbedeutung hindurch. Wir erkennen den Feind besser an
seiner Stimme als an dem, was er sagt. Aus diesem Grunde ist es schwieriger, in einem
dunklen Zimmer zu lügen, als in einem beleuchteten. Die feinsten Ohren hat die Furcht, wie
denn auch die furchtsamsten Tiere die Ohrentiere sind. Die besten Gespenstergeschichten
zeichnen sich dadurch aus, dass man die Annäherung des Gefährlichen nicht sieht, sondern
hört: und in der Schlacht wird man am heftigsten durch Geräusche erschreckt. Das Opfer
erkennt seine Mörder bereits in dem Augenblick, in dem er es in ein Gespräch zu verwickeln
sucht, und die Stimme, die uns das Todesurteil spricht, unterscheidet sich von allen anderen.
In engen Wohnvierteln der großen Städte wird man zuweilen Zeuge jener Steigerung, mit der
der reine Wortstreit sich zu ungezügelten Ausbrüchen des Hasses entflammt, und das
Lautbild, das man so empfängt, gehört zu den Symbolen menschlicher Unzulänglichkeit.
Unterschiede, die in der Sprache der Diplomaten so lautlos wie der Gang von Katzenpfoten
sind, setzen sich auf anderen Ebenen im Jubel der Angreifer und im Geschrei der
Sterbenden fort.
So lassen sich beliebig Beispiele anführen für den Umfang, den die wortlose Sprache der
Leidenschaft besitzt, und immer wieder erstaunt man über die Rolle, die der Vokal in dieser
Sprache spricht.
[...]
6
Wenn wir nun versuchen, die einzelnen Vokale in ihrer besonderen Beziehung zu den
Leidenschaften zu betrachten, so finden wir bald, dass es hier an greifbaren Regeln fehlt. So
teilen sich in das A und O sowohl die Lust als auch der Schmerz. . .Darüber hinaus besitzt
nicht nur jeder einzelne Vokal eine große Spannweite, sondern die sinnliche Bedeutung der
Vokale wandelt sich auch mit dem Unterschiede der Sprachen, der Dialekte, ja selbst der
Stammeseigentümlichkeiten ab. . .Die Arten des Erstaunens und der Überraschung lassen
sich überhaupt mit fast allen Vokalen zum Ausdruck bringen, ebenso die des Schmerzes,
seltsamerweise aber nicht die des Glückes und der Lust.
Ebenso wie die einzelnen Vokale in sich selbst, so weisen sie auch untereinander
Spannungen auf. Innerhalb dieser größeren Spannung drängt sich die allgemeine
Beobachtung auf, dass das A und das O den hohen und erhabenen Dingen zugewandt sind,
während das E ein Mittellage beizubehalten strebt. An eine Welt des A und O schließt sich
eine andere des I und U , und es klingen hier nicht nur die Unterschied zwischen Oben und
Unten, Hoch und Tief, Flamme und Dunkelheit, sondern auch di zwischen Vater und Mutter
an. . .
In unseren Zurufen drücken das A und das O vor allem Zuneigung, Bewunderung, Beifall
aus. Dem U und I dagegen sind Abneigung, Ekel, Verachtung und Angst zugeteilt. . .
7
Die verschiedenen Beziehungen der Vokale zu den Leidenschaften klingen naturgemäß
auch in den Arten des Lachens und Weinens an. . .
Als vollkommen angenehm empfinden wir eigentlich nur das Lachen auf A, weniger das auf
O, während das E bereits bedenklich klingt und das Hämische streift. Als durchaus bösartig
betrachtet man ganz allgemein das Lachen auf I, aus dem man Spott, Ironie, verhüllte
Schadenfreude und Schlimmeres hört. Merkwürdig ist, dass man gerade dieses Gelächter,
134
das Kichern, häufig von gnomenhaften und verwachsenen, aber auch von ausgesprochen
geistreichen Personen vernimmt. Auf U endlich lacht überhaupt kein Mensch.
[...]
10
Das A, das in fast allen Alphabeten den ersten Platz behauptet, ist als der unbestreitbare
König der Vokale anzusehen. Selbst dort, wo man es als reines Bedeutungszeichen
verwendet, kündet es das Erste und Hervorragende an.
Das A ist vielmehr der eigentlich väterliche Laut, das höchste und königliche Zeichen der
Paternität, in ihm kling zugleich die Höhe und die umfassende Weite des Lebens und der
Herrschaft an.
Die Farbe, die wir für das A wählen würden, müsste das Purpur sein – ein Purpur, der an
den tonlosen oder sich dem E nähernden Stellen allmählich verblasst.
11
Während im A der Gegensatz von Höhe und Weite ruht, tritt im O der Gegensatz von Höhe
und Tiefe hervor. Das O ist der Laut der Aristokratie, die zugleich beschränkter und
exklusiver ist als das väterliche Königtum. Unter den Farben scheint ihm die gelbe, unter den
Metallen das Gold zugeordnet, was auch damit zusammenhängt, dass ihn ihm der
eigentliche Lichtlaut zu erblicken ist. Das A ist der Adler, das O der Falke der tönenden Welt.
Das anrufende O des Vokativs führt sich wohl auf Urformen der Verehrung zurück. . .
12
Wie dem A die Höhe und Weite, dem O die Höhe und Tiefe, so ordnet sich dem E die
Ausdehnung der Ebene zu. Die beiden Reiche, die sich in diesem Laut begegnen und
überschneiden, sind die des Leeren und des Erhabenen. Dem E steht die weiße Farbe zu;
Wörter wie Meer und Schnee, See und Seele besitzen einen schimmernden Glanz. Dicht
neben der Eigenschaft der höchsten Reinheit steht die des Langweiligen und Eintönigen, wie
sie uns in Wendungen wie „Der Regen regnete“ sinnfällig wird. . .
Unter den Elementen ist dem E vielleicht der Sauerstoff am engsten verwandt; es verfügt
über einen hohen Grad an oxydierender Kraft. . .
13
Das Ei ist der Laut der heiteren Zauberei und der glänzenden Geheimnisse. Man kann sich
diesen Laut schlecht einfarbig vorstellen. Seine strahlende Wirkung tritt besonders dort
schön hervor, wo es gegen das eintönige Weiß des E abgesetzt erscheint, wo in Wörtern wie
Edelstein, Elfenbein, Geschmeide. Unsere Sprache wendet das Ein mit Vorliebe in
Nachsilben an, wie in -ei, -heit und -keit, und sie hebt damit die Bedeutung der Wörter
empor, die sich durch die Nachsilben, in denen das U regiert, in die Tiefe versenkt . So
vergleiche man Wortpaare wie Zufriedenheit und Befriedung, Weisheit und Weistum,
Fürstenheit und Fürstentum, Zauberei und Bezauberung.
14
Neben dem Ei ist es nicht minder das Au, das unserer Sprache eine ganz bestimmte
Färbung verleiht. Seine eigentümliche Kraft liegt darin , dass in ihm der höchste Vokal sich
mit dem tiefsten durchdringt; dies ruft in der körperlichen Welt eine schattige Wirkung, in der
geistigen ein Gefühl des Schwindels hervor, wie es uns im Nebeneinander von Höhe und
Tiefe befällt. Für den einen Anklang nennen wir das Laub, für den anderen den Traum. Mit
dem Helldunkel hängt zusammen, dass es sich bald heiteren, bald traurigen Stimmungen
zuzuwenden vermag; der Wechsel ist das Bezeichnende. Auch scheinen das Helle und das
Dunkle bald kräftig voneinander abgesetzt, wie wir es etwa in Raum, Rausch, gaukeln und
schaukeln empfinden, bald schmelzen sie ineinander ein – daher sind Wörter wie grau,
Grauen, Schauer, raunen gut geeignet zur Andeutung unbestimmter Zustände.
135
15
Schwierig ist die Deutung des I, das wie alle Vokale eine zwiefache Richtung in sich birgt.
Während das A und das O der väterliche Welt zugeordnet sind und das E einen
geschlechtslosen Charakter besitzt, gehört das I dem mütterlichen Reiche zu. Wir hören in
ihm den eigentlichen Lebenslaut, den Laut der Verbindungen und des Zerfalls, und vom
fleischigen Kern des Lebens aus strebt die eine seiner Fähigkeit der tiefen Einheit, die
andere der Verwesung zu.
16
Unter allen Vokalen fällt dem U die mächtigste Schwerkraft zu. Das U ist dem väterlichen A
entgegengesetzt; seine Tiefe und Geschlossenheit ist weitaus bedeutender als die des I,
denn in ihm klingen Formen des Daseins an, die diesseits oder jenseits der Verwesung
stehen. Auch ist es nicht eindringend, sondern verkörpert die Tiefe dimensional.
Im U begegnen sich die Geheimnis der Zeugung und des Todes; es steht unterhalb der
farbigen und mannigfaltigen Welt. Sein Reich umschließt die Gründe der Gesteins – und
Meereswelten, der uralten Kulte, der unbekannten Geschlechterfolge und die Schwerkraft
unsichtbarer Gestirne, die aus unermesslicher Entfernung wirkt. . .
Auf der Todesseite des U stehen das Ehrwürdige, das Feierliche, der Ahnenkult, das
Nächtliche, das dunkel Dämonische und Gespenstische. „nun ruhen alle Wälder“ beginnt ein
Lied, in dem die herandunkelnde Abend und Todesahnung uns mächtig ergreift. U ist der
Laut der Gräber, des hohen saturninschen Alters und des Sturmwindes, der sich nächtlich
erhebt. . .
Die andere, die Lebensseite des U, birgt die Geheimnisse der Tiefe, der ungeschriebenen
Gesetze und der mütterlichen Fruchtbarkeit. In diesem Zusammenhang ist das U auch der
Laut der häuslichen Gemütlichkeit und des sicheren Schutzes, den man in Burgen, Türmen
und Stuben genießt. Zum vollen Genuss dieser Sicherheit gehört der dunkle Laut des
Sturmes und die grausige Nähe des Geister- und Totenreichs.
Ernst Jünger. Über die Vokale; in: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Band 12, Stuttgart 1979
Stephan Suschke
Textarbeit mit Marianne Hoppe
Suschke: Ich traf mich zwei bis drei mal in der Woche in ihrer winzigen Wohnung um mit ihr
den Text zu arbeiten. Es fiel ihr schwer, den Text zu behalten. Was nicht nur an ihrem hohen
Alter lag, sondern an der sprunghaften Qualität der Texte, wo unvermittelt Brüche, neue
Gedanken assoziativ aneinander gereiht war, ohne dass es eine zwingende kausale Logik
gab. Man musste Scharniere finden, die es ermöglichten, den Text zu erfassen. Außerdem
waren es immense Textmengen, im wesentlichen monologisch, die sie bewältigen musste.
Sie arbeitete den Text Wort für Wort durch, es war wie das Erlernen einer Sprache. Sie
begann mit der kleinsten Einheit, dem Wort, dessen sinnliche Qualität sie erkundete, das sie
in Silben zerlegte. Seit dieser Zeit weiß ich das ein Augenblick ein Augen – Blick ist.
Zerteilen und neu zusammensetzen, sezieren, sinnliche Bedeutung erkunden, zum
sinnlichen Bild – Sinnbild formulieren, ohne dessen Bedeutung zu unterstreichen, praktisch
nebenher, aber durch die vielen Vorstufen in einer anderen Qualität überführen.
Das Zurückgeben der Sinnlichkeit über die Erforschung des Sinns.
Wenn sie diese Qualität erkundet hatte, begann sie den Satz zu formulieren, verschiedene
Klangfärbungen auszuprobieren, wobei sie niemals versuchte, besondere Betonungen zu
setzen, sondern eher die natürliche Sprachmelodie der Sätze herauszufinden und sich dann
auf dieser zu bewegen wie der Surfer auf einer Welle, der Segler in den aufstrebenden
Luftströmungen. Die Nichtbetonung von Worten ist eine Qualität von Marianne Hoppe, das
Fließende und dadurch auch das Zurücktreten, hinter den Text, hinter den Autor, eher
Medium zu sein als Verkünder.
136
Gerhard Ahrens: Marianne Hoppes Textarbeit ist einzigartig. Sie beginnt jedes Mal von
Neuem, bei Null. Es ist so, wie wenn sie in den Garten geht und ein Beet beackert, und da
nimmt sie sich ihr Rüstzeug, die Schaufel und die Harke, und dann geht es los.“ Es existiert
kein Vorverständnis vom Text, denn das Verstehen kommt nur aus dem, was geschrieben
steht. –
Marianne Hoppe nimmt den Text in die Hand und sobald sie anfängt zu lesen, ist es so als
ob sie nicht lesen könnte. Es ist ein Buchstabieren. Sie liest jedes Wort, jede Silbe und
nimmt sie auseinander. Beim „Lesen lernen“ versucht sie den Text und seine Bedeutung zu
verstehen, herauszufinden, was der Schriftsteller sagen möchte. Es ist die Anstrengung, eine
Vokabelvorlage zu be- greifen und zu er- fassen.
Den Text fügt sie dann wieder mit den Mitteln, die ihr eigens zur Verfügung stehen,
zusammen. Sie macht Striche und Betonungen, setzt Zäsuren und Akzente. . .
Sie arbeitet niemals oberflächlich, indem sie versucht mit ihrer Ausnahmestimme über etwas
nicht Verstandnes zu legen – dadurch sprechen die Texte durch sie hindurch. Sie versteht
sich wie die meisten Künstler dieser Generation als die Vermittler des Werkes der Dichter,
ein Bindeglied, ein Werkzeug.
Stephan Suschke, Archiv
Bertolt Brecht
Abnehmen des Tons
Neben vielem anderem, was zum Handwerk des Schauspielers gehört, droht auch das
Abnehmen des Tons vom Partner in Verfall zu geraten. Ein Schauspieler muß dem andern
die Replik abnehmen wie ein Tennisspieler dem andern den Tennisball. Das geschieht
dadurch, daß der Ton aufgefangen und weitergeleitet wird, so daß Schwingungen und
Tonfälle entstehen, welche durch ganze Szenen hingehen. Fehlt dieses Abnehmen, dann
entsteht ein akustischer Eindruck, der dem optischen Eindruck entspricht, welcher entstünde,
wenn Blinde miteinander sprechen und dabei niemals auf den schauen, zu welchem sie
sprechen. Es hat etwas für sich, das Wort „Replik“, das für alle Äußerungen und Antworten
gebraucht wird, aus denen eine Rolle besteht, mit „Entgegnung“ zu übersetzen, weil so das
Gegnerische alle Äußerungen und Antworten angedeutet wird. Auch wenn eine
zustimmende Meinung in einer Replik zum Ausdruck kommt, enthält sie doch fast immer
irgendeine Korrektur des eben Gehörten, in der sich besondere Interessen geltend machen.
Bei einer vollen Zustimmung, einem unerweiterten, das heißt unbegrenzten „Ja,“, wird ein
Zweifel des Fragers angegriffen oder eine mit ihm gemeinsame Gegnerschaft zu Dritten
bestätigt.
Diese allseitigen Konflikte der Stückfiguren müssen vom Ensemble in engster
Zusammenarbeitet gestaltet werden. Jedoch findet auch diese Zusammenarbeit der
Schauspieler in Form des Wettbewerbs statt. Ein Versagen beim Abnehmen des Tons kann
da von einem bloßen Mangel an Musikalität, von mangelhafter Erkenntnis es Sinnes,
manchmal aber auch von einem Mangel an Sinn für Zusammenarbeit zeugen. Nicht immer
unbewusst, spielt ein Schauspieler ganz für sich selbst und fängt mit jedem Satz neu an, den
vorausgegangenen des Partners einfach negierend. Solch ein Schauspieler pflegt dann auch
jene gefürchteten kleinen Löcher im Dialog zu setzen, jene oft winzigen Stockungen nach
dem Satz des Partners, welche den neuen Satz vom Rest trennen, herausheben,
unterstreichen und den Sprecher eigens in Szene setzen.
Bertolt Brecht. Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen
Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Gesammelte Werke Bd. 15, S.341-357
137
6. Kontexte
Was ist gesellschaftlich relevante
­Wissenschaft?
von Peter Weingart
Gibt es irrelevante Forschung?
Ein angesehener amerikanischer Senator, William Proxmire, ist der Urhe­
ber des von ihm so genannten »Golden Fleece Award«, einer Ehrung für den
größten Unfug, für den öffentliche Behörden verantwortlich gemacht wer­
den können. Im Jahre 1975 hat er die »National Science Foundation«, die
Förderorganisation für Forschung, aufs Korn genommen. Er verlieh das »Gol­
den Fleece« an die NSF für die Finanzierung eines Projekts über das »Sexual­
verhalten der ›screw-worm‹-Fliege«. Die NSF sah sich dem Gelächter der
­Senatoren und Abgeordneten sowie der Medien ausgesetzt. Einige Zeit später
gestand Proxmire gegenüber dem Direktor der NSF jedoch offen seine späte
Erkenntnis ein, dass die von ihm verlachte Forschung von großer Bedeutung
auf dem Gebiet der Schädlingsbekämpfung war (vgl. Atkinson 1999). Dieses
Beispiel steht für die Fehleinschätzung der Relevanz von Forschung seitens
eines Politikers, der sich in der guten Absicht, verschwenderischen Umgang
mit Steuergeldern zu verhindern, an einem irreführenden Indikator, dem
Titel des Projekts, orientiert hatte. Das Beispiel illustriert aber zugleich auch
einen Aspekt des grundlegenden Konflikts, der zwischen den Politikern als
Repräsentanten der Bürger und Wissenschaftlern als den Empfängern von
Forschungsgeldern besteht. Ganz offensichtlich ist es möglich, dass zwischen
ihnen unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, welche Forschung
relevant ist und welche nicht.
Ein anderes Beispiel: Die Geisteswissenschaften befinden sich seit vielen
Jahren in einer Dauerkrise, weil sie sich gegenüber der Frage, welche ge­
sellschaftliche Relevanz sie hätten, nicht recht zur Wehr setzen können. Ihr
Anteil an der Förderung der gesamten Wissenschaft durch die DFG bleibt
15
138
I. Wissens-Gesellschaf t
zwar über die Jahre hinweg in etwa stabil, aber die »gefühlte« Situation ist
deutlich schlechter (Wissenschaftsrat 2006, S. 151). Einige schon fast für tot
gehaltene Fächer wie die Sinologie und die Islamwissenschaften, deren ge­
sellschaftliche Relevanz kaum einer recht sehen wollte, erfreuen sich jedoch
urplötzlich eines großen Zuspruchs. Die Sinologie profitiert vom dramati­
schen Aufstieg Chinas zur Welthandelsmacht, die Islamwissenschaften von
der Ratlosigkeit gegenüber den Islamisierungstendenzen vor der eigenen
Haustür. – In diesem Fall hat sich offensichtlich die Auffassung darüber, was
als gesellschaftlich relevant gelten kann, aufgrund äußerer Entwicklungen
grundlegend verändert. Wohlhabende jungverheiratete Paare in Manhattan,
deren Eltern noch mit einer Mischung aus Angst und Verachtung auf die
»blauen Ameisen« aus Maos China schauten, lassen ihre Kinder von chinesi­
schen Kindermädchen Mandarin lernen.
Ein drittes Beispiel: Seit einer Reihe von Jahren ist die Nanoforschung in
aller Munde, vor allem denen der Wissenschaftspolitiker. In allen Wissen­
schaftsnationen wird viel Geld für diesen neuen Forschungszweig ausgege­
ben, werden neue Zentren gegründet. Die Wissenschaftler haben zu diesem
Hype selbst viel beigetragen, unter anderem mit Versprechungen von atoma­
ren Robotern, die wie U-Boote durch die Adern fahren und ihre Innenwände
von lebensbedrohenden Ablagerungen reinigen, oder von Mikrochips, die
ins Gehirn eingepflanzt werden und dessen Kapazitäten unermesslich erwei­
tern. Noch nicht ein einziges dieser Versprechen ist derzeit eingelöst worden,
und die Wissenschaftler distanzieren sich derweil von ihren medienwirksa­
men Utopien. – In diesem Fall ist die gesellschaftliche Relevanz der betref­
fenden Forschung von den Wissenschaftlern aufgrund von Erkenntnissen in
der Grundlagenforschung (der Manipulierbarkeit von Atomen) überzeugend
behauptet, aber bislang nicht bewiesen worden. Die Politiker in den reiche­
ren Industrieländern haben die Versprechen der Wissenschaftler geglaubt
und ihnen (viel) Geld im Vertrauen auf ihre Versprechen gegeben.
Alle drei Beispiele ließen sich vielfach vermehren. Sie belegen die Schwie­
rigkeit im Verhältnis von Wissenschaft und Politik bzw. Gesellschaft. Die
(gesellschaftliche) Relevanz von Forschung ist offenbar keine stabile Größe,
sondern wandelt sich in Abhängigkeit von Entwicklungen, die außerhalb der
Kontrolle der Politik liegen. Außerdem verändern sich Vorstellungen von Re­
levanz in Abhängigkeit von Erkenntnissen der Wissenschaft selbst, die neue,
16
139
Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t?
vorher gar nicht vorhandene, nur in faszinierenden Utopien beschriebene
Perspektiven eröffnen. Fazit: Ob es irrelevante Forschung gibt, lässt sich also
ebenso schwer beantworten wie die umgekehrte Frage, welche Forschung
gesellschaftlich relevant ist.
Wer stellt wie fest, welche Forschung gesellschaftlich relevant ist?
Wenn sich schon keine inhaltliche Antwort auf die Frage nach der gesellschaft­
lichen Relevanz der Forschung geben lässt, führt vielleicht die Frage weiter,
mittels welcher Verfahren sich ggf. eine Antwort finden lässt. Verfahren ver­
leihen Legitimität. Hier stellt sich jedoch wieder das gleiche strukturelle Pro­
blem. Anders als z. B. im Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaften
oder Arbeitgebern besteht zwischen Regierung und Wissenschaft eine spe­
zifische Asymmetrie. Eine Regierung kann sich ein genaues Bild über die
Arbeitsbedingungen verschaffen. Sie kann aber vernünftigerweise nicht dar­
über befinden, welche nächsten Forschungsschritte am besten geeignet sind,
um den Ursachen der Alzheimerkrankheit auf die Spur zu kommen. Sie kann
zwar – unter dem oben angedeuteten Risiko – entscheiden, das Forschungs­
gebiet der Entomologie zugunsten der Nanoforschung zurückzufahren, weil
ihr deren Erkenntnisse nicht relevant genug erscheinen. Die Entscheidungen
darüber, welche Forschungsergebnisse von den verbliebenen Entomologen
für richtig und wichtig erkannt werden, bleibt aber eine Angelegenheit eben
dieser Wissenschaftler selbst. Anders gesagt: Ein wesentlicher Mechanismus
zur Bestimmung von wissenschaftlicher (nicht gesellschaftlicher!) Relevanz ist
der »organisierte Skeptizismus« unter den Mitgliedern einer Disziplin bzw.
spezialisierter Forschungsgebiete (s. das dritte Beispiel oben).
Die Entscheidungen von Politikern über die gesellschaftliche Relevanz
bestimmter Forschungsgebiete bleiben also notgedrungen »außen vor«. Sie
müssen sich auf die Qualität und Verlässlichkeit der wissenschaftsinternen
Entscheidungsverfahren verlassen. Das fällt ihnen zunehmend schwer, was
angesichts des unbegrenzten Universums möglicher, aber eben auch unbe­
zahlbarer Forschungsfragen verständlich ist. Politiker wollen sich nicht auf
eine »Relevanz in ferner Zukunft« einlassen, sie müssen in spätestens vier
Jahren wiedergewählt werden.
17
140
I. Wissens-Gesellschaf t
Seit einiger Zeit versuchen sie deshalb, über Evaluierungen der Wissen­
schaftler bzw. ihrer Einrichtungen eine bessere Kontrolle zu gewinnen. In
derartigen Evaluierungen kommt manchmal ein Kriterium wie »gesellschaft­
liche Relevanz« der Forschung vor, oder die Wissenschaftler werden außer
an ihren Publikationen und der Häufigkeit der Zitate, die sie erhalten, u.a.
an ihren Auftritten in der Öffentlichkeit »evaluiert« (englisch: »outreach«). Es
gibt aber keine Instanz, die die vielfältigen Vorstellungen von gesellschaftli­
cher Relevanz zu einem einheitlichen Maß amalgamieren könnte. Deshalb
bleibt die Bewertung letztlich den Wissenschaftlern selbst überlassen, und
auch die anderen Kriterien (Publikationen, Zitate, Drittmittel usw.) bilden
nur den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess ab. Die Kontrolle bleibt
also dem Forschungsprozess äußerlich, sie orientiert sich unweigerlich an
Indikatoren des Prozesses.
Neben der »internen« Steuerung des Forschungsprozesses, die dessen Ori­
entierung an »gesellschaftlicher Relevanz« gerade nicht garantiert, gibt es
noch andere Mechanismen. Die Geldgeber, staatliche Organisationen wie
Ministerien oder aber Fördereinrichtungen wie die Deutsche Forschungsge­
meinschaft und private Stiftungen (Volkswagenstiftung, der Stifterverband,
Thyssen usw.) sind u. a. auch dem Ziel verpflichtet, gesellschaftlich relevante
Forschung (meistens parallel zu dem Ziel, die Wissenschaft als solche oder
einzelne Gebiete) zu fördern. Das geschieht durch die Formulierung von For­
schungsprogrammen.
Forschungsprogramme haben eine selektive und eine steuernde Wirkung auf
die Forschung. Die selektive Wirkung ergibt sich aus dem einfachen Umstand,
dass mit ihnen Geldströme verbunden sind. Geldströme sind auch ein indirek­
ter Ausdruck politischer Entscheidungen für Relevanz. Es macht sicher einen
Unterschied, ob ein Land wie die USA rund die Hälfte der staatlichen Ausga­
ben für Forschung und Entwicklung (F & E) für Militärforschung ausgibt; in
England ist es immerhin noch ein Drittel der öffentlichen Ausgaben, während
Japan und Deutschland weniger als 5 Prozent in diesem Gebiet ausgeben (vgl.
Koizumi 2002).* In aller Regel geht die umfangreiche Förderung militärischer
Forschung auf Kosten anderer Bereiche und zumal der Grundlagenforschung.
*Dabei wird unterstellt, dass die Zahlen verlässlich und die Kategorien
vergleichbar sind.
18
141
Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t?
Während des Kalten Krieges lagen die Ausgaben für militärische Forschung in
den USA noch höher. Es ist allerdings zu bedenken, dass das amerikanische
Verteidigungsministerium als größter Finanzier von F&E nicht nur direkte
Waffenforschung fördert, sondern z. B. auch die Nanoforschung – freilich in
Erwartung späteren militärischen Nutzens. Ein nicht unerheblicher Teil der
rund 50 Milliarden US-Dollar geht deshalb in Forschungsgebiete, die Innova­
tionen in der zivilen Wirtschaft initiieren (z.B. das Internet!). Außerdem ist
das DOD ein zentraler Förderer der Sozialwissenschaften. Dies ist eine Beson­
derheit des amerikanischen Wissenschaftssystems und zeigt zugleich, dass
die Auffassung davon, welche Wissenschaft für die Verteidigung relevant ist,
ein breites Spektrum der Wissenschaft erfassen kann.
Die steuernde Wirkung von Forschungsprogrammen beruht in erster Linie
auf ihrer monetären Anreizwirkung. Wissenschaftler sind gezwungen, dort
ihre Forschungsgelder zu holen, wo sie sie finden können. Wenn es keine
»freien« Mittel für Grundlagenforschung ihrer eigenen Wahl gibt, müssen
sie sich in Programme einfügen. Je nachdem, wie konkret die Vorstellungen
von Relevanz sich in Forschung übersetzen lassen, fallen die Programme spe­
zifischer oder allgemeiner aus. Aber selbst im Bereich der Militärforschung,
wo man aufseiten der Politik (bzw. des Militärs) sehr klare Vorstellungen
hinsichtlich der Relevanz vermuten darf, sind die Auftraggeber darauf an­
gewiesen, mit den Wissenschaftlern über die Aussichten bestimmter For­
schungsstränge im Bezug auf die von ihnen gewünschten Waffen zu ver­
handeln. Diese Mitwirkung der Wissenschaftler bei der Formulierung von
Forschungsprogrammen ist in den Förderorganisationen, denen vor allem
das Wohl der Wissenschaft insgesamt am Herzen liegt, noch sehr viel aus­
geprägter. Eine Steuerung der Forschung ohne die Mitwirkung der Wissen­
schaftler selbst wäre zumindest sehr ineffizient. Wo diese Mitwirkung nicht
gegeben ist, müssen die Auftraggeber sich mit der interpretativen Fantasie
der Wissenschaftler auseinandersetzen. Die Forscher werden immer versu­
chen, ihre eigenen Forschungsinteressen als relevant für ein gegebenes For­
schungsprogramm zu deklarieren, und je nachdem, wie überzeugend diese
Interpretation ausfällt, können sie für sich Handlungsspielräume eröffnen
und sich ggf. der direkten Steuerungsabsicht entziehen.
Der eingangs erwähnte Konflikt zwischen Politik und Wissenschaft ist ein
Konflikt um Kontrolle über den Gang der Forschung, soweit sie aus öffent­
19
142
I. Wissens-Gesellschaf t
lichen Mitteln finanziert wird, und schlägt sich im Verhältnis der über Pro­
gramme gesteuerten Forschung zu der Förderung ohne inhaltliche Bedingun­
gen nieder. Letztere wird als Grundlagenforschung ausgeflaggt. In den Augen
der meisten Wissenschaftler an Universitäten (nicht allen!) im Unterschied
zu denen in anderen (industriellen oder ressorteigenen) Forschungseinrich­
tungen hat die Grundlagenforschung ein höheres Prestige. Diese Hierar­chi­
sie­rung hat eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition mit Be­
zügen zur Höherwertigkeit der Kopf- über die Handarbeit und historischen
Sonderentwicklungen wie dem deutschen Idealismus. Im frühen 19. Jahr­
hundert zur Zeit der Gründung der Berliner Universität nach den Plänen
Humboldts wurde die Nutzlosigkeit der Wissenschaft geradezu zum Prinzip
erhoben. Die Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung, die der Entde­
ckung von Naturgesetzen gewidmet ist, und angewandter Forschung, die die
Grundlagenerkenntnisse für praktische Zwecke nutzbar macht, wurde nach
dem Zweiten Weltkrieg zum Paradigma der Wissenschaftspolitik in den
OECD-Ländern und bildet die kategoriale Grundlage für die Forschungssta­
tistiken. Sie beruht auf einem Konzept von forschungsbasierter Innovation –
dem sogenannten »linearen Modell« –, wonach alle anwendungsbezogene
Forschung und Technikentwicklung auf der vorangehenden Grundlagenfor­
schung beruht – ohne sie gar nicht zu haben ist. Dieses Modell hat in den ca.
vier Jahrzehnten zwischen Kriegsende und dem Fall der Berliner Mauer aber
auch noch eine starke ideologische Funktion gehabt. Grundlagenforschung
wurde mit »Freiheit der Wissenschaft« identifiziert, Steuerung der Forschung
durch den Staat mit Unterdrückung à la sozialistische Staaten, ungeachtet
des Umstands, dass der Anteil der für militärische und industrielle Zwecke
finanzierten Forschung in jener Zeit eher höher als danach war. Schon der
bloße Appell an »gesellschaftliche Relevanz« der Forschung konnte die Empö­
rung von Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern auslösen.*
Gemessen an den noch eher kruden Steuerungsversuchen jener Zeit sind
Umfang und Intensität der staatlichen Steuerung seitdem dramatisch gestie­
gen, ohne dass sich die einen oder die anderen darüber aufregen. Ganz im
Gegenteil: Das lineare Modell ist für tot erklärt worden, stattdessen werden
neue Modelle propagiert, ein »Modus 2« der Wissensproduktion, in dem For­
*Zur zeitgenössischen Aufregung vgl. W. Schäfer (ed.) 1983, insbes. Appendix.
20
143
Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t?
scher und Bürger, Universitäten und Industriebetriebe (angeblich) mit­einan­
der forschen oder zumindest die Forschung sehr viel enger an den Bedürf­
nissen der Gesellschaft orientiert ist (vgl. Gibbons et al. 1994). An die Stelle
der Abfolge von Grundlagenforschung – Anwendung – Entwicklung werden
Modelle gesetzt, die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen For­
schungstypen und damit natürlich auch den ihnen entsprechenden Institutio­
nen, Universitäten und Industrie, postulieren (vgl. Stokes 1997). Partizipation
der Bürger, der sogenannten »stakeholder« oder auch zivilgesellschaftlicher
Organisationen ist geradezu zum Mantra der Wissenschaftspolitik erhoben
worden. Damit wird, so sollte man meinen, die gesellschaftliche Relevanz
der Wissenschaft per Deliberation gesichert und bedarf gar nicht mehr der
verfahrensmäßigen Absicherung. Die Begeisterung, mit der diese Konzepte
insbesondere von Wissenschaftsadministratoren in den Universitäts-, Stif­
tungs- und anderen wissenschaftsbezogenen Verwaltungen aufgenommen
worden sind (und noch weiter werden), sollte Grund zu skeptischem Auf­
horchen sein. Funktionieren die verschiedenen Verfahren der »Beteiligung«
der Öffentlichkeit an der Forschung (und an der Technikfolgenabschätzung)
wirklich so, dass damit die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft ge­
währleistet ist?
»Dialog« ist inzwischen zum Schlagwort für Bemühungen geworden, die
Öffentlichkeit an die Wissenschaft heranzuführen, gar an der Prioritätenset­
zung für die Wissenschaftspolitik zu beteiligen. Die vom BMBF veranstalte­
ten »Wissenschaftsjahre« stehen unter diesem Motto, sie sollen das eher pa­
ternalistische Konzept des »Public Understanding of Science« ablösen. Noch
weitergehend ist der von 2001 bis 2005 vom BMBF organisierte sogenannte
Futur-Prozess, in dem 1500 ausgewählte »Experten« in einem aufwändigen
Prozess Themen zukünftiger Forschungspolitik erarbeiten sollten (vgl. BMBF
2003). Dieses und ähnliche Verfahren (z. B. die dänischen Konsensuskonfe­
renzen) leiden unter unüberwindlichen Problemen: Die Auswahl der »Exper­
ten« kann keine Repräsentativität erreichen, selbst wenn sie es wollte. Die
Gremien stehen in einem ungeklärten Verhältnis zur Politik, d.h., ihre Ver­
handlungsergebnisse können nicht in politische Entscheidungen umgesetzt
werden, weil ihnen dazu das Mandat fehlt. Die Wirkung ihrer Empfehlungen
bleibt letztlich intransparent. Selbst wenn man ihnen nicht unterstellen will,
dass sie nur zur Legitimationsbeschaffung dienen sollen, bleiben sie den
21
144
I. Wissens-Gesellschaf t
Nachweis eines nachhaltigen Dialogs schuldig (vgl. Abels/Bora 2004). Eine
allseits akzeptierte Antwort auf die Frage nach gesellschaftlich relevanter
Wissenschaft wird man also weder von den wissenschaftspolitischen Steue­
rungsinstrumenten noch von den Mechanismen der »Beteiligung« erwarten
können.
Nationale Innovationssysteme und Relevanz
Angesichts der Schwierigkeiten, Verfahren oder Akteure zu identifizieren,
die in der Lage wären, die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft zu
bestimmen – von inhaltlichen Antworten ganz zu schweigen –, tut man
gut daran, das Wissenschaftssystem insgesamt aus analytischer Distanz zu
betrachten. Spätestens seitdem Europa in den 1960er Jahren die »technolo­
gische Lücke« gegenüber den USA entdeckte (die Amerikaner kurz darauf
wiederum ihre Lücke gegenüber Japan), gilt die Wissenschafts- und Techno­
logieentwicklung eines Landes als Motor der Innovationskraft. Da Innovation
mit gesellschaftlichem Wohlstand identifiziert wird, kann man innovativer
Forschung auch unterstellen, gesellschaftlich relevant zu sein.* Man könnte
also schließen, dass die jeweiligen Wissenschaftssysteme – inzwischen ist
von Nationalen Innovationssystemen (NIS) die Rede – so organisiert sind,
dass sie den stetigen Fluss an Innovationen garantieren.
Schon der flüchtige Blick auf verschiedene nationale Systeme offen­
bart, dass das nicht der Fall ist. Verschiedene Länder haben auf recht un­
terschiedliche Weise ihre Wissenschaftssysteme organisiert, hatten also
offenbar divergierende Auffassungen darüber, wie Innovationen am besten
zu gewährleisten seien. Es kommt erschwerend hinzu, dass Institutionen
wie z. B. Universitäten, Akademien, die staatlichen Ressortforschungs- und
Großforschungseinrichtungen und Forschungsorganisationen wie die Max­
Planck-Gesellschaft – einmal gegründet – sich über lange Zeiträume hinweg
entwickeln und sich weder beliebig verändern noch per Handstreich schlie­
*Entgegen der verbreiteten Meinung, nur technische, wirtschaftlich verwertbare
Innovationen seien relevant: Gesellschaften gedeihen nur, wenn sie auch sozial
innovativ sind.
22
145
Was ist gesellschaf tlich relevante Wissenschaf t?
ßen lassen, wenn sie sich als zu wenig innovativ erwiesen haben. Nationale
Innovationssysteme sind die Produkte einer Abfolge historisch kontingen­
ter politischer Entscheidungen, denen je unterschiedliche Einschätzungen
zugrunde liegen. Diese konstituieren ihrerseits aufgrund der Langlebigkeit
von Organisationen Pfadabhängigkeiten in den (wissenschaftspolitischen)
Entscheidungen. Eine historische Analyse der Entwicklung des deutschen
NIS hat gezeigt, dass über einen Zeitraum von 150 Jahren und über vier sehr
unterschiedliche politische Systeme hinweg, einschließlich des Quasiexpe­
riments der vier Jahrzehnte währenden deutschen Teilung, sich das Inno­va­
tions­profil des deutschen Wissenschaftssystems nicht maßgeblich verändert
hat: »Die Grundmuster der wissenschaftlichen Spezialisierung verändern
sich auch bei großen politischen Systemänderungen nur sehr langsam …
jedenfalls nicht innerhalb einer Forschergeneration« (Grupp/Breitschopf
2006, S. 195). Die Autoren kommen deshalb zu dem Schluss, dass sich Inno­
vationskulturen nicht mit den bisher eingesetzten Steuerungsmechanismen
verändern lassen. Das verweist zugleich darauf, dass die politische Rhetorik
von Innovation, Exzellenz, Relevanz, internationaler Konkurrenzfähigkeit,
Clusterbildung, »public-private partnerships«, Dialog und vielen weiteren
schönen Begriffen der Sache selbst, der Innovationskraft des Systems, äußer­
lich bleibt, allenfalls Irritationen erzeugt. Wie Innovationen durch die Wis­
senschaft erzeugt werden können, haben weder Ökonomen noch Soziologen
oder Psychologen abschließend erklären können, deshalb jagt eine Manage­
mentmode die andere (vgl. Birnbaum 2000). Kurzfristige Ad-hoc-Maßnahmen
sind nur so lange überzeugend, wie ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen noch
nicht bekannt sind. Wenn sie es denn werden, sind diejenigen, die für sie
verantwortlich sind, schon nicht mehr im Amt. Ein Aspekt des strukturellen
Konflikts zwischen Politik und Wissenschaft sind eben die stark unterschied­
lichen Zeithorizonte, sowohl im Hinblick auf die Einschätzung von Relevan­
zen als auch im Hinblick auf die zu ihrer Realisierung durch Forschung zu
treffenden Entscheidungen.
Zur Ausgangsfrage zurückkehrend, liegt nunmehr auf der Hand: Eine in­
haltliche Antwort auf die Frage, welche Wissenschaft gesellschaftlich relevant
ist, kann nicht gegeben werden, weil es zu viele mögliche Antworten gibt und
die Wissenschaft ihrerseits ständig neue Relevanzen schafft. Keine Antwort
würde sozial und zeitlich stabil sein können. Eine optimale Antwort auf die
23
146
I. Wissens-Gesellschaf t
Frage, welche institutionelle Struktur und welche Verfahren am ehesten geeig­
net wären, die Innovativität der Wissenschaft zu gewährleisten – unterstellt,
dass Innovativität als allgemeiner Nenner von Relevanz gelten kann –, ist
auch nicht möglich, da nicht bekannt ist, wie Innovation hergestellt werden
kann. In derartigen Situationen der Unsicherheit empfiehlt es sich, nach dem
sogenannten »precautionary principle« zu verfahren: Vielfalt der Forschung
erhalten und dafür günstige Rahmenbedingungen schaffen. Das heißt: die
Gesellschaft offen für Veränderungen halten und die Wissenschaft in ihrer
Vielfalt fördern. Zugegeben: keine sehr originelle Antwort.
Literatur
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24
147
Wie frei ist die Wissenschaft? (Archiv)
1 von 1
http://www.deutschlandfunk.de/wie-frei-ist-die-wissenschaft.680.de.pr...
Deutschlandfunk – Campus & Karriere
Beitrag vom 01.03.2013 14:35 Uhr (Archiv)
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Wie frei ist die Wissenschaft?
Konferenz Wissenschaft und Macht in Berlin
Von Jürgen König
Auf einer Tagung an der Humboldt-Universität
wurde die Beziehung zwischen Macht und
Wissenschaft untersucht. (picture alliance /
dpa / Maurizio Gambarini)
In der Wissenschaft hat in den letzten Jahren ein "struktureller Wandel" stattgefunden. Welche Rolle dabei das Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft hat und wie
die Wirtschaft eingebunden ist, darüber debattierten Experten an der Humboldt-Universität in Berlin.
"Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei" - heißt es im Grundgesetz. Doch wie frei, wie autonom ist die Wissenschaft? Das war die Kernfrage der Tagung "Wissenschaft
und Macht" – und Einigkeit bestand darin, dass sie zwar frei sei, dabei aber großen Einschränkungen unterworfen – zum Beispiel durch den in den letzten Jahren von der Politik
forcierten Wettbewerbscharakter in der Wissenschaft. Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Berliner Humboldt-Universität:
"Wie verändert sich die Wissenschaft, wenn sie auf fragiler Finanzierungsgrundlage ihre Fragestellungen nicht mehr allein aus Neugier und Erkenntnisinteresse herleitet, sondern aus
einem Höchstmaß an Konformität mit dem gerade angesagten Förderformat? Wie formuliert man eine wissenschaftliche Fragestellung so, dass sie im Wettbewerb um knappe
Fördermittel besteht. Ist das dann eine andere wissenschaftliche Fragestellung als wäre sie nur aus Neugier und Erkenntnisinteresse hergeleitet?"
Auch ein "Wettbewerb um Geld" sei die Exzellenzinitiative gewesen, so Olbertz, ausgetragen zwischen "unterfinanzierten Universitäten". Günter Stock, Präsident der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, forderte, das ganze System auf den Prüfstand zu stellen: Alle Hochschul- und Forschungs-"Pakte" würden demnächst auslaufen, die
Haushalte von Bund und Ländern stünden vor einer "Schuldenbremse": Zeit sei es, grundlegend über unsere Wissenschaftslandschaft nachzudenken.
"Vielleicht sollten wir den Mut aufbringen, unser hoch differenziertes Wissenschaftssystem daraufhin zu betrachten, welche Rolle sowohl die Universität als auch die außeruniversitären
Institute zukünftig darin spielen sollen. Wir sollten nicht mit der Finanzierung beginnen, sondern mit den Inhalten. Dabei sollten wir uns neben der Universität auch sehr klar die
jeweiligen Profile der Max Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft bewusst machen, uns vielleicht auch darauf zurückbesinnen, aus welchen Gründen seinerzeit die
Helmholtz- und die Leibniz-Gemeinschaft gegründet wurden und wie wir in Zukunft mit den vielen Landes- und Bundesressort-Forschungsinstitutionen umgehen möchten."
Über das Verhältnis von "Wissenschaft und Macht" kristallisierten sich im Lauf der Tagung zwei Sichtweisen heraus. Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung: Er stellte die These auf, der Einfluss der Politik auf die Wissenschaft habe seit dem Ende des Kalten Krieges stetig abgenommen. Beide "Teilsysteme" gehörten
verschiedenen Welten an, die eigenen Regeln und eigenen Zeithorizonten folgen würden, ein Über- oder Unterordnungsverhältnis gäbe es nicht. Den Rahmen nationaler
Bildungssysteme würde inzwischen die EU setzen, etwa bei der europaweiten Einführung der Bachelor/Master-Studiengänge.
"Der Politik gelingt es kaum noch, die Wissenschaft für nationale Projekte und Anliegen zu bündeln. Auch politisch relevanten Großtechnologien wie Climate Engineering oder
Refracturing werden heutzutage meist in transnationalen Forschungsverbünden entwickelt, nicht mehr in nationalen Verbünden. Gleichzeitig wird es immer schwerer, politisch
gewünschte Begrenzung in der Forschung wie etwa im Bereich der Gentechnologie national durchzusetzen. Entsprechende strenge Regulierungen haben häufig eine räumliche
Verlagerung der wichtigsten Forschungszentren zur Folge. Im Ergebnis ist die Macht der Politik gegenüber der Wissenschaft, verglichen mit dem Rest des 20. Jahrhunderts, also der
Zeit der großen Ideologien zwischen 1914 und 1989, zurückgegangen."
Auch der Münchener Politikwissenschaftler Edgar Grande sprach von einem "strukturellen Wandel" der Wissenschaft, wandte aber ein:
"... dass das lange Zeit stabile Gleichgewicht von wissenschaftlicher Autonomie und staatlicher Steuerung einem beiderseits prekären Verhältnis gewichen ist."
Prekär, weil die staatliche "Steuerung" von Wissenschaft in zunehmend komplexen Regelsystemen und teilweise aktionistisch erfolge: mit verschiedenen Koordinationsmechanismen,
Hierarchien, Netzwerke, Wettbewerben – der wissenschaftlichen Autonomie sei das durchaus nicht förderlich. Und an der Abhängigkeit vom Geld der öffentlichen Hand, so Grande,
habe sich gar nichts geändert.
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Reform der Forschungsförderung [http://www.deutschlandfunk.de/reform-der-forschungsfoerderung.680.de.html?dram:article_id=238728]
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Ausverkauf am Bildungsmarkt?
Baustelle Bildung [http://www.deutschlandfunk.de/baustelle-bildung.724.de.html?dram:article_id=99763]
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12.09.2014 19:46
P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit?
Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Vom
Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft
und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. ISBN:
3-934730-29-9; 397 S.
Rezensiert von: Ulrich Prehn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Schulterblatt 36, D-20357 Hamburg
An der Schwelle des ausgehenden 20. zum
beginnenden 21. Jahrhundert vollzog sich und vollzieht sich noch - die fortschreitende
Legitimationskrise der Wissenschaft, gleichsam als Signum der modernen Wissensgesellschaft. Schlägt nun den Wissenschaften angesichts der für sie charakteristischen immer
enger werdenden Anbindung der Erkenntnisproduktion an soziale Anwendungskontexte und der damit einhergehenden Gefährdung der Produktionsbedingungen von überprüfbarem, ‚objektivem’, gesichertem Wissen
die ‚Stunde der Wahrheit’? Diese Frage stellt
der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Peter
Weingart in seiner neuesten Studie, in der
er die schwindende Distanz der Wissenschaft
zur Politik, zur Wirtschaft und zu den Medien
und die weitreichenden Folgen eines solchen
Wandels der Wissensgesellschaft im ‚postindustriellen’ Zeitalter in den Blick nimmt.
Selbst diejenigen Historiker, deren für die
Möglichkeiten und Ergebnisse inter- bzw.
transdisziplinärer Forschungsansätze zuständiges Auge aufgrund prinzipieller Voreingenommenheit lange erblindet ist, müssten,
sollten sie Weingarts Werk wider Erwarten
doch wahrnehmen, eingestehen, dass der Autor nicht nur eine scharfsinnige wissenschaftssoziologische Analyse vorgelegt hat, sondern
auch mit seinen - wenn auch zumeist knapp
gehaltenen - auf soliden Kenntnissen beruhenden wissenschafts- und diskursgeschichtlichen Ausführungen zu überzeugen weiß.
1. Verwissenschaftlichung von Politik oder
Politisierung der Wissenschaft?
Weingarts zentraler Befund hinsichtlich
der Transformation der Wissensordnung,
des „Ensemble[s] gesellschaftlicher Arrangements also, das Produktion und Diffusion
von Wissen reguliert“, (16) ist schnell benannt: Infolge einer risikofixierten Technikernüchterung und der Erschütterung des szien-
tistischen Optimismus im letzten Viertel des
20. Jahrhunderts sieht Weingart die Wissensgesellschaft auf dem Weg einer zunehmenden „Institutionalisierung reflexiver Mechanismen in allen funktional spezifischen Teilbereichen sozialer Ordnung“ (16 f.). Dieser
Wandel vollziehe sich in zwei interdependenten Prozessen, nämlich der Verwissenschaftlichung von Politik und der Politisierung der
Wissenschaft (140), auf die Weingart bereits in
einem 1983 erschienenen Aufsatz1 hingewiesen hatte.
Die zu konstatierende institutionelle wie
operative Verflechtung von Wissenschaft und
Politik habe, so Weingart, zu der lediglich
bei oberflächlicher Betrachtung zutreffenden
Diagnose einer „Hybridisierung“ von Wissenschaft und Politik, einer „Verwischung der
Grenzen“ (‚blurring of boundaries’) geführt.
In terminologischer Hinsicht favorisiert Weingart den etwas blasseren, dafür jedoch allzweckwaffenartig einzusetzenden Begriff der
„Kopplung von Wissenschaft und Politik“ als
Beschreibung eines wechselseitig angetriebenen dynamischen Prozesses, als dessen Ergebnis ein zunehmender Distanzverlust zwischen Wissenschaft und Politik (Kap. 4 und 7
in Weingarts Studie) auszumachen sei. (159)
Darüber hinaus untersucht er in jeweils eigenständigen Kapiteln (5 und 6) das immer enger werdende Verhältnis der Wissenschaft zur
Wirtschaft und zu den Medien.
Grundlage der als Kopplung beschriebenen Beziehung zwischen Wissenschaft und
Politik ist (und bleibt), daran erinnert Weingart, „der Austausch von Ressourcen für die
Wissenschaft gegen gesichertes Wissen für
die Politik.“ (168) Der Kopplungsprozess führe jedoch auf verschiedenen Ebenen zu paradoxen gesellschaftlichen Entwicklungen: 1.
zur Inflationierung wissenschaftlicher Expertise mit dem gleichzeitigen Effekt der zunehmenden Verunsicherung derjenigen Institutionen und Personen (Richter, Verwaltungsbeamte, Politiker), die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die vorrangigen Akteure im Prozess der
öffentlichen Regulierungspraxis mit der immer dominanter werdenden Zielsetzung der
gesellschaftlichen Risikoprävention darstell1 Peter
Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift
für Soziologie 12 (1983), S. 225-241.
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149
ten und insofern verstärkt auf Ergebnisse etwa der Technikfolgenabschätzung oder Untersuchungen zur Umwelt- oder Sozialverträglichkeit angewiesen waren (151 ff.); 2. zur
relativen Stabilität des zwischen Politikern
und wissenschaftlichen ‚Experten’ bestehenden Beratungsarrangements trotz eines „allgemein anerkannten Autoritätsverlusts wissenschaftlicher Expertise“. (162)
Ausgehend von Foucaults Macht/WissenKonzept analysiert Weingart die Ambivalenzen der Ausdehnung von „Verwissenschaftlichungsprojekten“ (25) in gesellschaftliche Bereiche, die sich, etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als nicht mehr in herkömmlicher Weise normierbar erwiesen. Als paradigmatisch
für diese neue Phase von Verwissenschaftlichung benennt er die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie, die als ein Beispiel für die „Einbettung von ‚großen’ und
als riskant erfahrenen Technologien in komplexe soziale Gebilde“, also - um mit Michel Houellebecq zu sprechen - für eine Art
‚Ausweitung der Kampfzone’ der Diskurszusammenhänge, aber auch als zeitgenössisches Indiz für die Gefährdung der privilegierten Definitionsmacht von Wissenschaft
anzusehen sei: Die ‚Distanz’ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, so betont Weingart, sei mit der Entwicklung der industrialisierten Gesellschaften zu Massendemokratien
immer weiter zusammengeschrumpft. (26) So
sei im massendemokratischen Zeitalter überdies auf die wachsende Vielfalt von Funktionen wissenschaftlicher Expertisen zu verweisen: „Legitimierung, Überzeugung, Verzögerung oder Vermeidung von Entscheidungen,
Rechtfertigung unpopulärer Entscheidungen,
Schlichtung von Disputen und Klärung konfligierender Interessen“. (142 f.)
Insgesamt vollziehe sich der Trend zur Politisierung der Wissenschaft auf der Grundlage der gesteigerten Nachfrage der Politik
nach gesichertem Wissen zur Lösung von
Problemen und/oder zur Legitimierung von
Entscheidungen. Neben dem bereits erwähnten Prozess der Inflationierung von Expertise kann als Folge der Politisierung von Wissenschaft ein Wandel ihrer Zielvorstellungen
und -vorgaben ausgemacht werden; im ausgehenden 20. Jahrhundert manifestiert sich
Wissenschaft als „Vorstoß in den Bereich des
noch kontroversen, nicht konsentierten Wissens“ (168). So zielt eine aufgabenbezogene wissenschaftliche Forschung verstärkt auf
die Herstellung strategischer Handlungsfähigkeit im politischen Bereich ab; Zukunft
soll „durch hypothetische Entwürfe, Simulationen und Modelle vorweggenommen“ werden. (17) Als Entstehungskontext einer solchen Verwissenschaftlichung der Politik benennt Weingart die (potenziell grenzenlose)
Zunahme des produzierten Wissens infolge
gesteigerter Ressourcen, um deren Erlangung
die Wissensproduzenten in einen immer härteren Konkurrenzkampf treten. Eine beinahe grenzenlos erscheinende Produktion von
Wissen ermögliche, so Weingart weiter, die
Lieferung instrumenteller Problemlösungen
und Legitimation für politische Entscheidungen durch wissenschaftliche ‚Experten’, erzeuge jedoch zugleich „politische Erwartungen, Bedrohungen der Legitimität und folglich Handlungsimperative“, konkret: Maßnahmen, die durch selektive Verfahren eine Kontraktion der Wissensnachfrage bewirken (sollen), möglicherweise gar die Einführung institutioneller Hierarchien durch die
Politik. Innerhalb der Wissenschaft bedeute
diese Selektion die „Zusammenführung bzw.
Monopolisierung von Expertise“ (168). Insgesamt also ein mithilfe vergleichsweise farbund harmlos klingender Begriffe beschriebener Prozess - jedoch mit vielfältigen Implikationen und weitreichenden Folgen!
2. Öffentlichkeit oder ‚Wahrheit’?
Insbesondere weiß Weingarts Untersuchung des Wandels, dem sich der heutige,
hochgradig ausdifferenzierte Wissenschaftsbetrieb hinsichtlich seiner Wirkung in den
öffentlichen Raum hinein sowie bezüglich
der ‚Rückwirkungen’ verstärkter öffentlicher
Wahrnehmung und Kontrolle auf Selbstwahrnehmung und Funktion von Wissenschaft
unterworfen sieht, in den Abschnitten zu
überzeugen, in denen der Autor die Rolle der
Medien als Vermittlungsinstanz wissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet. Mit dem sich
im 20. Jahrhundert vollziehenden Strukturwandel hin zu einer massendemokratischen
Öffentlichkeit ging vor allem die ‚Popularisierung’ der im öffentlichen Diskurs noch immer
als ‚überlegen’ erachteten Wissensform des
wissenschaftlichen (‚wahren’) Wissens in den
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150
P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit?
Medien einher. Allerdings bedeute ein medial
vermitteltes, ‚popularisiertes’ Wissen in der
Binnenperspektive vieler Wissenschaftler, so
Weingart, auch heute noch im besten Fall
lediglich die „Vereinfachung, im schlimmsten
Fall Verunreinigung“ des von ihnen produzierten Wissens (233), wobei dieser Trend
- wenn auch meist nur für einen kurzen
Zeitraum - einzelnen geschickt agierenden
Vertretern eine relativ große mediale Präsenz
ermöglicht.
Weitaus nachhaltiger stellt sich eine andere Gefahr dar, die für die Wissenschaft, ihre Validierungskritierien sowie ihre Selbstregulierungsinstanzen und -mechanismen von
der ‚Popularisierung’ wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgeht: „Die Zustimmung von
‚außen’, der leicht erheischte Massenapplaus,
verfälscht unter Umständen das unbequeme
und kritische Urteil der Fachkollegenschaft“
(235), in der medialen Berichterstattung über
Wissenschaft, das zeigt Weingart etwa am
Beispiel der Goldhagen-Debatte in Deutschland (267 ff.) eindrücklich, tritt „mediale Prominenz potenziell in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Reputation“. (239) Das Prinzip
des „peer review“, der Begutachtung und Bewertung von Publikationen und Forschungsanträgen durch die dazu allein kompetenten
Kollegen („peers“), und letztlich die Autonomie der Wissenschaft, ist damit potenziell
bedroht. Die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Neutralität werde überdies gefährdet
durch die ‚verlockende’ Möglichkeit für die
Wissenschaft - insbesondere die in akute Legitimierungskrisen geratenen Disziplinen -, die
Medien mit dem Ziel der Akzeptanzbeschaffung zu instrumentalisieren. (248)
Mit dem Bedeutungszuwachs der Medien ging jedoch auch ein Bedeutungsverlust
patriarchalischer Formen wissenschaftlicher
Aufklärung ‚von oben’ einher. Diese Entwicklung ist als ein Teilprozess des grundlegenden Wandels von Öffentlichkeit (und
damit auch des Öffentlichkeitsbegriffs) im
20./21. Jahrhundert zu begreifen: Weingart
weist mit Recht darauf hin, „dass es DIE
Öffentlichkeit, die in ihren Interessen homogen ist und wissensbegierig auf die Informationen der Wissenschaft wartet, nicht (mehr)
gibt“. (249) Vielmehr beschreibt er den Wandel der Kommunikation von Wissenschaft in
die Öffentlichkeit als „Wissenschaft-MedienKopplung“, woraus er die These von der
„Medialisierung der Wissenschaft“ ableitet.
(252) Wie im Hinblick auf die Politik komme den Medien auch in ihrem Verhältnis zur
Wissenschaft eine legitimatorische Funktion
zu, welche im Zusammenspiel mit dem „konstruktive[n] Effekt der medienspezifischen
Verarbeitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Entstehung großer politisch
relevanter Themenkomplexe führen [könne],
die der Tendenz zu einer auf die Erlangung
von Aufmerksamkeit gerichteten diskursiven
Überbietungsdynamik“ - unter dem inflationär gebrauchten Rubrum ‚der neueste Stand
der Forschung’ - folgen. (253)
Mit Blick auf den Wahrheitsanspruch der
Wissenschaft skizziert Weingart die Gefahren
ihrer zunehmenden Kopplung an die Medien, doch hält er sich in der Beurteilung der
Folgen dieses Distanzverlusts und ihres Ausmaßes zurück: Die entscheidende Frage laute, „ob die Medien indirekten Einfluss auf
die (bzw. in Konkurrenz zu den) Selbststeuerungsmechanismen der Wissenschaft gewinnen, das heißt, ob der Bezug auf Öffentlichkeit ein größeres Gewicht erhält als der Bezug auf ‚Wahrheit’.“ (282) Auch wenn der
endgültige Beweis für eine solche Tendenz
nicht erbracht sei, so sieht Weingart doch
eine Vielzahl von Indizien für eine tendenziell beunruhigende, durch zunehmende Interdependenzen und paradoxe Entwicklungen gekennzeichnete Veränderung der politischen, der Medien- und der Wissenschaftslandschaft. Ausdruck eines solchen Wandels
sei ein - offenbar unumkehrbarer - Trend: die
stärker werdende „Interferenz des (wissenschaftlichen) Kontexts der Rechtfertigung des
Wissens (context of justification) und des (politischen) Bedeutungskontexts (context of relevance)“. (328)
3. „Peer review“ oder Externalisierung der
Leistungsbewertung?
Das bereits erwähnte „Peer-review“System, in der öffentlichen Debatte bisweilen
verkürzend als eine Art (‚Wahrheits’-)TÜVPlakette der Fachzeitschriften charakterisiert,
wird in Wahrheit in drei unterschiedlichen
Kontexten als Beurteilungsinstrument eingesetzt, und zwar: 1. bezüglich der Qualität
wissenschaftlicher Arbeiten vor deren Veröf-
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151
fentlichung, 2. im Hinblick auf Projektanträge
an Förderorganisationen zur Forschungsfinanzierung und 3., um Forschungsergebnisse
zu beurteilen und zu interpretieren, die als
Grundlage für politische Maßnahmen dienen
sollen. Die Schwächen und Grenzen des
Systems sind in den letzten Jahren durch die
Aufdeckung einiger spektakulärer Betrugsfälle evident geworden; ein Befund, der erst
kürzlich durch einschlägige Berichte von
Redakteuren einer Reihe wichtiger biomedizinischer Fachjournale erneute Bestätigung
gefunden hat.2
Zwar drückt „peer review“ den Anspruch
der „scientific community“ auf professionelle Autonomie aus; bewusste Unredlichkeit
und andere Formen der Abweichung vom
‚Ethos der Wissenschaft’ führen jedoch unweigerlich zu einem Vertrauensverlust der
Öffentlichkeit in selbige, bisweilen zur Unterminierung des Vertrauensverhältnisses innerhalb der „scientific community“ selbst.
So glich die Externalisierung der Leistungsevaluation in den verschiedenen Phasen ihrer Umsetzung, u. A. durch die Einführung
von Zitationsanalysen und anderen quantitativen Methoden (Erhebung von Publikationsziffern etc.), bisweilen einem scheinobjektiven Wissenschafts-„Controlling“ und hat(te)
mithin vorrangig eine legitimatorische Funktion - jedoch auch Folgen sowohl in organisatorischer als auch epistemischer, die wissenschaftliche Kommunikation selbst betreffender Hinsicht: Der Trend zur Evaluation
von außen, so Weingart, habe durchaus zur
Professionalisierung von Leitungsfunktionen
in den Universitäten, zu einer Ausdifferenzierung des Wissenschaftsmanagements geführt. (319) Auf die Einführung eines Systems von ‚Belohnung’ und ‚Bestrafung’ reagierten die Wissenschaftler in zunehmendem
Maße strategisch, etwa in ihrem Publikationsverhalten: Hier geht der Trend zur Veröffentlichung möglichst kleiner Einheiten, im
Fachjargon „least publishable units“. Externe
Evaluierungen, so Weingarts schlichtes Resümee, könnten nun einmal nicht unabhängig
von den Einschätzungen der Wissenschaftler
selbst funktionieren. So mögen die Wissenschaften, lange Zeit eine Sphäre weitreichender selbstgewählter Abschottung von anderen gesellschaftlichen Sektoren, infolge ver-
stärkter medialer Aufmerksamkeit und zunehmender öffentlicher Kontrolle die ‚Intimsphäre’ des Elfenbeinturmes verlieren, jedoch
wohl kaum das Privileg der Selbstevaluation.
4. Elitäre Wissenschaft oder „Demokratisierung“ der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft?
In seiner Gesamtinterpretation modifiziert
Weingart die nicht mehr ganz taufrische
These des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der bereits in den 1940er
und 50er Jahren die demokratische Gesellschaftsformation als Entstehungszusammenhang des ‚Siegeszuges’ der modernen, universalistischen Kriterien folgenden Wissenschaft
benannt hatte3 , nur insofern, als er die fortschreitende Tendenz zur „Politisierung der
Wissenschaft“ als „untrennbar mit der Demokratisierung der Gesellschaft [...] verbunden“ betrachtet. (329) So zeigt Weingart mit
den Stichworten „Politisierung“, „Kommerzialisierung“ und „Medialisierung“ der Wissenschaft zwar durchaus die Ambivalenzen
dieses ‚Siegeszuges’ der Wissenschaft auf und
weist nachdrücklich die Gefahren und Folgen ihres Autoritätsverlusts sowie ihres kaum
mehr einzulösenden Exklusivitätsanspruchs
hin. Gleichwohl konstatiert er nüchtern: „Es
gibt keine Alternative zu wissenschaftlicher
Expertise, um politische Entscheidungen mit
einer instrumentell verlässlicheren Grundlage
und damit einer höheren Legitimität zu versehen.“ (169)
Folgt man Weingarts schlüssiger Analyse, so stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung, in der durch zunehmende politische Instrumentalisierung die Grenze zwischen gesichertem und hypothetischem Wissen mehr und mehr verwischt wird. Gleichzeitig wächst durch die bereits im Produk2 Vgl.
hierzu den Artikel von Klaus Koch, Zeitschriften unter der Lupe, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 221
vom 25. September 2001. Für die Diskussion über Qualitätsstandards in der sozialwissenschaftlichen Forschung vgl. neuerdings: Franz Breuer/Jo Reichertz,
Wissenschafts-Kriterien: Eine Moderation, in: Forum
Qualitative Sozialforschung / Qualitative Social Research [Online Journal] 2 (2001), no. 3; verfügbar über:
http://www.qualitative-research.net/fqs/fqshtm
3 Vgl. etwa Robert K. Merton, Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur [1957], in: Peter Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie 1: Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozess, Frankfurt/Main
1972, S. 45-59, hier vor allem S. 48-50.
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P. Weingart: Die Stunde der Wahrheit?
tionsstadium einsetzende öffentliche, d. h.
mediale Beobachtung von Wissen (‚public
science’) die Bedeutung von öffentlichen Repräsentationen und Symbolen; seit Jahren
ist eine steigende Konjunktur von ‚PublicRelations’-Agenturen, von Instanzen also, die
zwischen einem breiten externen Publikum
und der Wissenschaft vermitteln, zu beobachten. Ein solches „PR-Management“ ist
aus Weingarts Sicht „ein Produkt der engen Kopplungen, ein funktionales Äquivalent
für Distanz“, kurz: „die derzeitige Form der
Re-Integration der Wissenschaft in die Gesellschaft“. (354) So wird sich Wissenschaft
unter den geänderten Vorzeichen einer neuen Wissensordnung der ‚postindustriellen’ Informationsgesellschaft auch jener neuen Formen des PR-Managements bedienen müssen,
um in der Konkurrenz um Vertrauen und
Glaubwürdigkeit bestehen und weiterhin den
Prozess der ‚Wahrheits’-Kommunikation gewährleisten zu können.
In Übereinstimmung mit dem Münsteraner Soziologen Uwe H. Bittlingmayer seien jedoch Zweifel und partieller Einspruch in Bezug auf die - bei Weingart, wenn überhaupt,
nur unterschwellig anklingende - These angemeldet, „der zufolge Wissensgesellschaften
sich durch eine bereits durchgesetzte Leistungsgerechtigkeit [...] sowie durch gesamtgesellschaftlich gestiegene Handlungsoptionen auszeichneten“, was mittelfristig zu einer Nivellierung sozialer Ungleichheit, insbesondere im Hinblick auf das angeblich ‚demokratiserend’ und kulturell ‚enthierarchisierend’ wirkende Medium Internet, führe.4 Allerdings trifft diese Kritik im Kern eher auf
die neueren Arbeiten des in Kanada lehrenden Soziologen Nico Stehr zu.5 Demgegenüber besteht die Stärke von Weingarts Ansatz darin, dass er, obwohl er vorwiegend
die Makrostrukturen der modernen Wissensgesellschaft beleuchtet, anhand einer Vielzahl
von Fallbeispielen eben auch die Handlungskontexte, -motive, und -strategien der für
die Ausgestaltung der heutigen (und künftigen) ‚Ordnungen’ der Wissens- und Informationsgesellschaft maßgeblich verantwortlichen Akteure in den Blick rückt. Nicht
zuletzt bestimmt das zwischen den beiden
Polen „Wahrheitsorientierung der Wissenschaft“ und „Demokratisierung der ‚postin-
dustriellen’ Gesellschaften“ (354) bestehende
Spannungsverhältnis den Handlungskontext
der aus den verschiedenen sozialen Sektoren
heraus agierenden Institutionen und Einzelpersonen. Ein Spiel, in dem es um einiges geht
- und die Distanz zwischen den Mitspielern
schwindet zusehends.
Anmkerkungen:
Ulrich Prehn über Weingart, Peter: Die Stunde
der Wahrheit? Vom Verhältnis der Wissenschaft
zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001, in: H-Soz-u-Kult
14.11.2001.
4 Zur
Kritik an diesem Ansatz siehe Uwe H. Bittlingmayer, „Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001,
S. 15-23, Zitat: S. 15.
5 Vgl. Nico Stehr, Moderne Wissensgesellschaften, in:
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001, S. 7-14, hier
vor allem S. 12 f.
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Wissenschaft und Macht (Archiv)
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Deutschlandfunk – Aus Kultur- und Sozialwissenschaften
Beitrag vom 07.03.2013 20:10 Uhr (Archiv)
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Wissenschaft und Macht
Wie Politiker und Wissenschaftler sich in schwierigen Fragen gegenseitig die Verantwortung zuschieben
Von Andreas Beckmann
Ist die Finanzkrise ein Beispiel für das
Versagen wissenschaftlicher Politikberatung?
(AP Archiv)
Auf dem Papier ist die Forschung frei von Einflüssen aus der Regierung. Praktisch beeinflussen sich Wissenschaftler mit ihren Prognosen und Politiker mit ihrer Macht
gegenseitig. Das kann wie im Fall der Finanzkrise ins Desaster führen.
Geist und Macht - das scheinen für viele Intellektuelle zwei gegensätzliche Sphären zu sein. Warum sonst hätten seit der Aufklärung alle demokratischen Bewegungen darauf beharrt,
dass Forschung und Lehre frei sein sollten von politischem Einfluss. Doch in der Praxis wirken beide Seiten ständig aufeinander ein, weil sie voneinander abhängig sind. Kaum eine Uni
oder ein Forschungsinstitut kommt ohne öffentliche Gelder aus. Und jeder Politiker freut sich, wenn er für sein Programm Unterstützung durch wissenschaftliche Autorität findet.
Gleichzeitig will sich aber keiner vom anderen reinreden lassen. Da hilft es nur bedingt, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Macht im politischen Alltag zumindest theoretisch klar
geregelt ist, betont Renate Mayntz, emeritierte Professorin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
"Die Ziele müssen von der Politik gesetzt werden, in einem demokratischen Prozess, hofft man, ist nicht immer so, aber immerhin, das ist das Vorrecht der Politik und dabei kann
wissenschaftliches Wissen nur am Rande eine Rolle spielen. Das heißt, die Wissenschaft steckt Möglichkeitsräume ab oder formuliert Herausforderungen."
Regierungen wollen ihre Möglichkeitsräume aber lieber selbst gestalten und die Wissenschaft für ihre Ziele in die Pflicht nehmen. Umgekehrt glauben viele Professoren, qua bessere
Einsicht in die Materie bestimmen zu können, wie gute Politik auszusehen habe. So versuchen beide Seiten immer wieder, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben. In den
letzten 20 Jahren habe sich dabei die Waage eindeutig in Richtung Wissenschaft geneigt, bilanziert Professor Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin. Immer mehr politische
Verantwortung werde Parlamenten entzogen und Expertengremien überlassen.
"In sage und schreibe 84 Ländern sind seit 1990 Reformen vorgenommen worden, die eine Stärkung der Zentralbank beinhaltet haben. Mindestens genauso wichtig ist die
Bedeutungszunahme von Verfassungsgerichten. Auch die sind in den letzten Jahrzehnten parallel zu den Zentralbanken in über 80 Ländern der Welt gestärkt worden. In beiden Fällen,
Zentralbanken und Verfassungsgerichten, handelt es sich um nicht-majoritäre und expertokratische Institutionen, als ihre Autoritätsausübung nicht auf der Beteiligung der Bevölkerung,
nicht auf dem Mehrheitsmodus, sondern auf dem Fachwissen der Mitglieder des Gremiums beruht."
Interessanterweise, so Michael Zürn, seien aber nicht machthungrige Wissenschaftler die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung, sondern Politiker, die freiwillig
Gestaltungsspielräume abgäben, weil sie auf vielen Gebieten nicht mehr glaubten, noch Mehrheiten für sachgerechte Lösungen finden zu können.
"Ganz gleich, ob es sich um die öffentliche Verschuldung, die Vernachlässigung der Bildung oder die Klimafrage handelt, in all diesen Fällen scheint eine Mehrheit der vom Status Quo
Begünstigten notwendige Veränderungen auf Kosten von Minderheiten und zukünftiger Generationen zu verhindern. Das verweist auf ein möglicherweise neues Verhältnis von
Mehrheitsentscheidung und Problemlösung."
Dass immer mehr Entscheidungen an Experten delegiert werden, befürworten offenbar auch viele Wähler. Michael Zürn zitierte Umfragen aus diversen westlichen Ländern, wonach
Bürger zwar mehrheitlich das Prinzip der Demokratie bejahten, im Zweifelsfall aber eher Wissenschaftlern als den von ihnen selbst gewählten Politikern vertrauten. Ob sich die
Wissenschaft über diesen Zuwachs an Einfluss aber freuen sollte, daran zweifelt nicht nur Michael Zürn. David Gugerli, der an der ETH Zürich Wissenschaftsgeschichte lehrt, weist
darauf hin, dass Forscher von vielen Krisen genauso überfordert seien wie Politiker. Die alternde Gesellschaft oder der Klimawandel seien schließlich auch für die Wissenschaft
vollkommen neue Phänomene, mit denen sie keine Erfahrung habe.
"Wenn Sie keine Erfahrung haben, aus der Sie Wissen ableiten können, wird es sehr schwierig. Dann müssen Sie, das hat man dann in den 70er-, 80er-Jahren langsam angefangen
aufzubauen, dafür hat man dann Modellierungen gemacht, man hat in Szenarien gedacht, man hat gerechnet, man hat simuliert, um Vorstellungen zu gewinnen, was denn passieren
könnte. Das war gewissermaßen ein Empirieersatz."
Doch auch, wenn sich diese Vorstellungen und Modelle noch so sehr auf Fachwissen stützten, sie könnten leicht zu Ratlosigkeit oder gar in die Irre führen, konstatiert David Gugerli.
Beispiel Atomkraft: In komplexen Simulationen hatten Kernphysiker ermittelt, wie gering das Restrisiko eines Reaktorunfalls sei. Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima
ereigneten sich trotzdem. Beispiel Finanzmarkt: Mit ausgeklügelten mathematischen Modellen hatten Wirtschaftswissenschaftler getestet, wie sicher all die neuartigen Wertpapiere und
Fonds der Banken waren. Ihre Berechnungen seien weitgehend korrekt gewesen, so David Gugerli, sie hätten nur ein paar Faktoren übersehen.
"Das trivialste Beispiel ist, dass man irgendwann vergessen hat, worauf Finanzmarktderivate massenhaft gebaut worden sind, nämlich auf den steigenden Markt für amerikanische
Immobilien. Das wurde ausgeblendet."
Die Finanzkrise wurde zum Desaster für viele europäische Regierungen, die eine nach der anderen abgewählt wurden, weil sie die Probleme nicht in den Griff bekamen. Sie ist aber
gleichzeitig ein Beispiel für das Versagen wissenschaftlicher Politikberatung, stellt Renate Mayntz fest.
"Ganz eindeutig. Das ist nicht nur meine Meinung, diese Meinung ist ausgesprochen verbreitet. Selbst eine Reihe von Mainstream-Ökonomen, hinterher haben sie sich schuldig
bekannt, dass sie die falsche Theorie gehabt hätten und dass sie nun gelernt hätten. Das ist ein sehr gutes Beispiel. Hängt damit zusammen, dass gerade die Wirtschaftspolitik ganz
stark beeinflusst wurde von wissenschaftlichen Theorien."
Viel zu lange, so Renate Mayntz, sei die Politik der monetaristischen Wirtschaftslehre gefolgt und habe auf Deregulierung gesetzt. Aus der Krise werde sie nur herausfinden, wenn sie
es schaffe, wieder eigene Handlungsmaximen aufzustellen. Doch praxistaugliche Konzepte können Politiker ohne wissenschaftliche Expertise kaum entwerfen. Das gilt für die
Wirtschaftspolitik, aber auch für jedes andere Handlungsfeld. Wissenschaft und Macht bleiben also aufeinander angewiesen. Sie werden ihre Sphären nicht trennen können.
Stattdessen müssen sie ihr Verhältnis immer wieder neu austarieren.
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12.09.2014 19:43
FORSCHUNG
Virologen fürchten Engpässe für Forschung
Von Birgitta vom Lehn
Der Wettlauf um die Gelder von Big Pharma hat begonnen.
In der Pharmaindustrie werden seit längerem Mega-Deals abgeschlossen wie
lange nicht. Universitäten und Institute befürchten nun, das könnte sich künftig
schlecht auf Forschungsbudgets und Standards für die Entwicklung von
Medikamenten auswirken.
Wenn Pharmagiganten den Arzneimittelkuchen neu aufteilen und die Märkte zur
Monopolisierung drängen: Lässt das die Wissenschaftscommunity kalt? In
Großbritannien hat der Kanzler der Universität Cambridge, unterstützt von zwei
Londoner Kollegen, heftig gegen die AstraZeneca-Übernahme durch Pfizer gewettert.
Forschung und Entwicklung seien in Gefahr, falls die Amerikaner sich das britische
Unternehmen tatsächlich einverleiben.
Und hier? Die Universitätsmedizin hängt vielerorts zwar genauso am Pharma-Tropf wie
in England, übt sich aber in vornehmer Zurückhaltung. Die Uniklinik Heidelberg möchte
sich auf Anfrage zu den jüngsten Pharma-Deals genauso wenig äußern wie die Charité.
An Spekulationen beteilige man sich nicht, heißt es, oder: keine Zeit. Das ist insofern
kein Wunder, als es sich mit den Großen der Branche, also denen, die viel Geld zu
vergeben haben, niemand verderben will. Denn Arbeitsplätze, Rankings, Ansehen und
leistungsorientierte Mittelvergabe hängen daran, wenn die Pharmariesen in ihre
Institute investieren. Deshalb buhlen die Hochschulen um sie und rollen ihnen den roten
Teppich aus.
„Die Versuchung wächst, sich aktiv als Kandidat für eine strategische Partnerschaft oder
gar Symbiose attraktiv darzustellen“, sagt Thomas Kliche von der Hochschule
Magdeburg-Stendal. Mit den Fusionen sinke der Wettbewerb und damit auch die
Vergabe von Drittmitteln, prophezeit der Bildungsforscher.
Sinkende Budgets
Das Hauen und Stechen unter den Hochschulen werde zunehmen. Auch rechnet er in
Zukunft eher mit qualitativ schlechteren Arzneimittelstudien, denn die riesigen
internationalen Konzerne würden dann dafür eher in Länder gehen, wo es weniger
unbequeme Auflagen und Regularien gibt. „Desto leichter entstehen Studien zu Themen
und mit Ergebnissen, die den Auftraggeber zufriedenstellen“, sagt Kliche. Unliebsame
Ergebnisse oder Nebenwirkungen würden dann natürlich schneller „eingemottet“.
Auch der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske rechnet mit sinkenden
Forschungsbudgets: „Fusionen haben bisher nie den Forschungsanteil wachsen lassen.“
Letztlich wirkten Fusionen „nicht wirklich forschungsfördernd“. Zudem habe sich bei
„Big Pharma“ das Konzept durchgesetzt, kleinere potente Forschungsfirmen vor allem
aus dem biopharmazeutischen und gentechnologischen Bereich zu kaufen. So ziehe man
sich aus der teuren eigenen, kostenmäßig nur schwer kalkulierbaren Forschung immer
weiter zurück.
Christiane Fischer vom Deutschen Ethikrat befürchtet, dass bislang ohnehin schon
vernachlässigte Krankheiten wie Tuberkulose und Schlafkrankheit noch weiter ins
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Abseits rutschen, weil es sich hier um Krankheiten vor allem in armen Ländern handelt,
für die nicht viel Geld fließt.
Mehr Forschung für Scheininnovationen
„Stattdessen werden wir das nächste überflüssige Medikament gegen Bluthochdruck
oder Diabetes bekommen, das dann sechsmal so teuer ist wie das alte, aber keinen
zusätzlichen Nutzen bringt.“ Die Medizinerin prophezeit „mehr Forschung für
Scheininnovationen“ und weniger Forschung für Medikamente, die dringend gebraucht
werden wie etwa Antibiotika. Letztere sind für die Firmen wegen ihrer nur zeitweiligen
Einnahme bei weitem nicht so lukrativ wie Medikamente, die chronisch kranke
Patienten schlucken oder spritzen müssen.
Alarm schlagen auch die Virologen. Mit dem Verkauf der Impfsparte durch Novartis an
den ehemaligen Konkurrenten GlaxoSmithKline verringere sich die Zahl der ImpfstoffHersteller von drei auf zwei. Die Monopolbildung sei „sehr kritisch“, warnt Hartmut
Hengel, Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Freiburg und Vizepräsident
der Gesellschaft für Virologie. Denn Impfstoffe seien keine gewöhnlichen Arzneistoffe.
Komme es zu Lieferengpässen, etwa aufgrund verunreinigter Chargen, wie dies im
Winter bei etlichen Kinderimpfungen bereits der Fall war, so sei das Risiko von darauf
folgenden Immunitätslücken in der Bevölkerung groß. Gebe es verschiedene Hersteller,
so könne man in solch einem Fall immer noch auf einen anderen Produzenten
zurückgreifen. Beim Berliner Robert-Koch-Institut zeigt man sich diesbezüglich
gelassen. „Wir mischen uns nicht in die Sache von Privatunternehmen“, sagt die
Sprecherin.
Völlig unverständlich findet Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums in
Freiburg, die Sorglosigkeit des Bundesinstituts. Schließlich gehe es um den Impfschutz
der Bevölkerung: „Warum schauen jetzt alle nur stumm zu, während sich bei großen
Fusionen in anderen Sparten, etwa in der Telekommunikation, sofort Wettbewerbshüter
einschalten? Auf Gesundheit kann man nicht verzichten, aufs Telefonieren schon.“
Einzig beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg blickt man
optimistisch nach vorn. „Der Hintergrund der gegenwärtigen Fusionen ist: Die Pipeline
der Unternehmen ist leer, aus eigener Forschung können sie nur noch wenige Produkte
auf den Markt bringen“, sagt Vorstandsvorsitzender Otmar D. Wiestler. Das werde auch
noch einige Zeit so bleiben. Selbst habe man aber eine „interessante Pipeline“
anzubieten, man würde „gern intensiver mit ausgewählten Unternehmen
zusammenarbeiten“. Der Wettlauf um die Gelder von Big Pharma hat also längst
begonnen.
Berliner Zeitung, 18. 5. 2014
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Galilei als 70jähriger (Sustermann, 1635)
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Titelblatt des »Dialogo« (Erstausgabe 1632)
Quelle: library.ethz.ch
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Titelblatt und Seiten aus den »Discorsi« (Erstausgabe 1638)
Galilei vor der Inquisition (Banti)
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Galilei vor der Inquisition (Fleury)
Titelblatt der »Lettere Solari« (Erstausgabe 1613)
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Hessisches Landestheater Marburg, 2014
Materialsammlungzur
zur
Produktion
»Ein des
Sommernachstraum«
Materialsammlung
Produktion
»Leben
Galilei«
Zusammengestelltvon
von
Alexander
Leiffheidt
und Katharina
Zusammengestellt
Maresi
Wagner
und Alexander
LeiffheidtPlum
Die in dieser Sammlung zitierten Texte dienen ausschließlich
der künstlerischen und wissenschaftlichen/didaktischen
Vorbereitung und Begleitung der Produktion nach §51 UrhG.
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