RISIKO: Psychose
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RISIKO: Psychose
titelthema ı PSychische Störungen Risiko: Psychose Das neue Diagnosehandbuch DSM-5 soll auch ein schwächer ausgeprägtes, »präklinisches« Psychosesyndrom enthalten, das auf eine drohende Schizophrenie hindeutet. Eine Hilfe zur wirksamen Prävention oder unnötige Pathologisierung? Von Carrie Arnold S mehr zum titelthema > Die Neuordnung der Seelenleiden Psychische Störungen auf dem Prüfstand (S. 36) > »Wie viel Störung darf es sein?« Interview mit dem Psychiater Hans-Ulrich Wittchen (S. 42) 48 chon als Kind war Mike* sonderbar. Der Junge fand schlecht Anschluss an Gleichaltrige und war oft übertrieben misstrauisch. Er machte sich zudem häufig Sorgen, jemand könne seinen Spind in der Schule aufbrechen oder in seiner Abwesenheit sein Zimmer zu Hause durchwühlen. Statt dem Unterricht zu folgen, kritzelte Mike gerne Landschaften in sein Aufgabenheft, und manchmal sprach er mit sich selbst, während der Lehrer etwas erklärte. Entsprechend schlecht war es um Mikes Schul noten bestellt. All diese Verhaltensweisen können Anzeichen einer Psychose sein – einer seelischen Erkrankung, bei der die Betroffenen den Bezug zur Realität verlieren. Menschen mit voll entwickel ter Psychose sind in ihrem logischen Denkvermögen meist eingeschränkt, viele hören Stimmen oder leiden an anderen Halluzinationen. In schweren Fällen bewältigen die Betroffenen ihren Alltag nicht mehr. In Mikes Fall befand ein Psychiater, den seine Eltern zu Rate zogen, die Symptome seien zu schwach, um eine Psychose diagnostizieren zu können. Doch andererseits brauchte der Junge offenbar Hilfe. Was tun? Geht es nach dem Willen zahlreicher Fachleute, so soll in die nächste, fünfte Auflage des US-amerikanischen Handbuchs der psychischen Störungen – das DSM-5 – auch eine nicht voll entwickelte, »präklinische« Ausprägung der psychotischen Störung aufgenommen werden. Um sie attestiert zu bekommen, müsste der Betreffende beispielsweise einmal pro Woche einer Wahnidee oder Halluzination erliegen (im Gegensatz zu einem mehr oder weniger dauerhaften Auftreten über mindestens einen Monat hinweg, wie bei der klassischen Psychose). Zudem müssten die Symptomen des Patienten entweder für ihn selbst oder für einen nahen An gehörigen eine deutliche Belastung darstellen. * Name von der Redaktion geändert Die Idee, eine solche Frühdiagnose in die »Psychiaterbibel« aufzunehmen, ist freilich umstritten. Die Befürworter argumentieren, dass Menschen wie Mike möglichst schnell Hilfe benötigen, da sie sonst Gefahr laufen, eine voll ausgeprägte Störung zu entwickeln. Die neue Diagnose ermögliche es Ärzten, früher als bislang einzugreifen. Den betroffenen Patien ten wird häufig ein so genanntes atypisches Antipsychotikum mit Wirkstoffen wie Rispe ridon oder Olanzapin verschrieben. Auch bestimmte Formen der Psychotherapie können Halluzinationen und Wahnvorstellungen lindern helfen. Je früher die Patienten davon profitieren, so das Argument, desto besser. Lässt sich Psychosen vorbeugen? Im Jahr 2005 veröffentlichte der Psychiater David L. Penn von der University of North Carolina in Chapel Hill eine Überblicksstudie, für die er 30 Arbeiten zur Behandlung von Erstpsychosen ausgewertet hatte. Resultat: Frühe Medikamentengabe in Verbindung mit Psychotherapie zeitigte im Vergleich zu keiner Behandlung deutlich bessere Erfolge. Nicht nur die Symptome der Betroffenen, sondern auch deren Einschränkungen im Alltag verringerten sich drastisch. Eine noch früherer Therapie – etwa mit Menschen im »Risikostadium« – sei demnach anzuraten. Auch in einer von Wiener Medizinern um G. Paul Amminger 2010 veröffentlichten Studie verringerte die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren die Wahrscheinlichkeit einer Psychose bei jungen Leuten mit subklinischen Krankheitsanzeichen um 23 Prozent (siehe G&G 5/2012, S. 24). Auf Basis solcher Daten glaubt der Psychiater William T. Carpenter Jr. von der University of Maryland, der die DSM-5-Arbeitsgruppe zu psychotischen Störungen leitet, eine Behandlung im präklinischen Stadium könnte bei vielen G&G 6_2012 EIN SCHMALER GRAT Deutet womöglich auch der Glaube an Verschwörungen und Magie schon auf eine labile Neuffer-Design seelische Verfassung hin? efährdeten ernsteren Problemen vorbeugen G helfen. Wer die Kriterien des »abgeschwächten Psychose-Syndroms« erfülle, entwickle um das 10- bis 100-Fache eher eine Schizophrenie als der Durchschnittsbürger. Dem entgegenzuwirken, wäre ein Segen für die Betroffenen und ihre Familien wie auch für das Gesundheitssystem. Kritiker hingegen bezweifeln, dass sich das Erkrankungsrisiko eines Menschen präzise genug bestimmen lässt. Während die Diagnose einer schweren Psychose normalerweise leichtfällt, sind die frühe Warnsignale oft subtiler Natur. Sind Mikes Ängste nun Vorboten einer sich anbahnenden Störung – oder nur eine stärkere Form üblicher Teenagerprobleme? Auch die Folgen von Drogenkonsum oder einer depressiven Verstimmung sind davon nicht gut zu unterscheiden. Angesichts solcher Unschärfen würden viele Menschen zu »Beinahe-Psycho tikern« abgestempelt, die vermutlich nie eine Störung erleiden, meint etwa Allen Francis, emeritierter Psychiater der Duke University. Franics leitete Anfang der 1990er Jahre die Überarbeitung der derzeit aktuellen Auflage DSM-IV, die im Frühjahr 2013 durch das DSM-5 ersetzt werden soll. Er verweist auf eine Studie von 2003, in der Forscher um den australischen Psychiater Patrick McGorry herausfanden, dass sechs von zehn Menschen mit »hohem Risiko« keine Psychose entwickelten. Fehldiagnosen seien vor allem deshalb problematisch, weil jede Behandlung auch Risiken berge. Menschen mit einer psychotischen Störung bekommen häufig Medikamente mit starken Nebenwirkungen verschrieben – wie Gewichtszunahme, erhöhten Blutzucker- und Cholesterinwerten sowie motorischen Störun gen. Bei einer Fehldiagnose leide der Patient völlig unnötigerweise darunter. Um ihre Prognosen zu verbessern, versuchen Forscher, klarere Hinweise auf eine drohende www.gehirn-und-geist.de Psychose zu finden. Doch eine genetische Sig natur, an der man das Erkrankungsrisiko ablesen könnte, oder auch typische Erregungs muster im Hirnscan fanden sie bislang nicht (siehe G&G 12/2011, S. 28). Ob Mike ohne weitere Behandlung also wirklich Gefahr läuft, eine Psychose zu entwickeln, ist kaum zu beantworten. Die kognitive Verhaltenstherapie jedenfalls, die er auf Anraten des Arztes absolvierte, hat sein seelisches Gleich gewicht gestärkt. Die DSM-Experten für psychotische Stö rungen müssen unterdessen entscheiden, ob das »abgeschwächte Psychosesyndrom« in das neue Diagnosesystem aufgenommen wird oder nicht. Möglicherweise beschreiten sie aber auch einen Mittelweg und nehmen es nur vorläufig in den Katalog auf – zwecks weiterer Erforschung. Ÿ Quellen Penn, D. L. et al.: Psychosocial Treatment for First-Episode Psychosis: A Research Update. In: American Journal of Psychiatry 162, S. 2220 – 2220, 2005 Yung, A. R. et al.: Psychosis Prediction: 12-Month Follow up of a High-Risk (»Prodromal«) Group. In: Schizophre nia Research 60, S. 21 – 32, 2003 Weitere Literaturhinweise im Internet: www.gehirn-und- Carrie Arnold ist freie Wissenschaftsjournalistin in geist.de/artikel/1148636 Norfolk (US-Bundesstaat Virginia). 49