brennpunkt arznei - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg
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BRENNPUNKT ARZNEI Jhrg. 12, Nr. 2 – Mai 2007 0HARMAKOTHERAPIE 2ATIONALEUNDRATIONELLE0HARMAKOTHERAPIEINDER0RAXIS Jahrelang Bisphosphonat verordnet Was passiert, wenn ich die Therapie abbreche? Wie lange eine Bisphosphonattherapie sinnvoll ist, war bisher unklar – nun hat die so genannte FLEX-Studie einige Hinweise geliefert. Wenn es vor allem darum geht, die Hüftknochen zu stabilisieren, kann die Therapie getrost nach fünf Jahren beendet werden. Wenn es darum geht, schmerzhafte Wirbelkörperfrakturen zu vermeiden, ist die Sache nicht ganz so einfach, aber auch hier sollte man nach fünf Behandlungsjahren an einen Therapieabbruch denken. Seite 4 Brauchen wir Pioglitazon in der Praxis? Die PROactive-Studie sollte den Wert von Pioglitazon bei Typ-II-Diabetikern beweisen. Weil aber der primär definierte Endpunkt zur Enttäuschung geriet, wurde nachträglich ein neues Erfolgskriterium eingeführt. Auch jenseits dieser zweifelhaften Manipulation zeigt eine kritische Betrachtung der Studie, dass Pioglitazon bei Ihren Diabetikern mehr Schaden als Nutzen anrichten dürfte. Seite 5 Krätze und Läuse: So wird behandelt Die Krätze taucht immer wieder mal in der Praxis auf und auch die Läuse-Saison beginnt gerade wieder. Welche Möglichkeiten es gegen diese beiden Plagen gibt und wo deren Vor- bzw. Nachteile liegen, lesen Sie ab Seite 7 Warum sich die Behandlung der Schlafapnoe auszahlt Die Schlafapnoe wird primär nicht mit Medikamenten, sondern apparativ behandelt. Trotzdem ist sie in diesem Heft ein Thema, denn wenn dieses häufige Leiden rechtzeitig erkannt und therapiert wird, kann der Hausarzt auf mittlere Sicht einiges Seite 10 an Arzneimittelkosten einsparen. Immer nur das Billigste? Klar, Sie stoßen in unseren Heften immer wieder auf Kritik an diversen Varianten der Pharmakotherapie, die wir – gemessen an ihrer Wirksamkeit, Sicherheit und an den Alternativen – für zu teuer halten. Aber müssen wir deswegen immer der allerbilligsten Lösung das Wort reden? Nein! Es geht uns in erster Linie darum, Wege zu einer rationalen, evidenzbasierten und qualitativ hochwertigen Therapie zu weisen. Deswegen lesen Sie in diesem Heft auch einen Gastbeitrag, der Naproxen als bessere Alternative zu den herzkreislaufschädigenden NSAR aufzeigt – auch wenn Seite 18 das Naproxen teurer ist als ein Teil der Mittel, die es ersetzen soll. (ERAUSGEBER+ASSENËRZTLICHE6EREINIGUNG(ESSEN Seite KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Die schöne neue Welt des Wettbewerbs ... Editorial Sehr geehrte Damen und Herren, die „schöne neue Welt“ zieht nun auch mit Macht in die Pharmakotherapie ein. „Wettbewerb“ heißt das Zauberwort, mit dem der Politik die Quadratur des Kreises gelingen soll, nämlich Kostendämpfung mit Qualitätssteigerung zu verbinden. Ein Ausfluss dieser Wettbewerbs-Ideologie sind die „Rabattverträge“. In der Theorie ist ja auch alles so einfach. Der „Kunde“ oder „Nachfrager“ (nämlich die Krankenkassen) verhandelt mit dem „Lieferanten“ oder „Anbieter“ (nämlich der Pharmaindustrie) über günstigere Preise für das Produkt Arzneimittel. Beide versprechen sich Vorteile: Die Krankenkassen wollen weniger Geld für Medikamente zahlen, die Pharmafirmen setzen auf eine Umsatzsteigerung, mit der der Preisnachlass (über)kompensiert werden könnte. So weit die Theorie. Allein – die Realität in den Praxen sieht anders aus. Denn neben „Nachfrager“ und „Anbieter“ finden sich im Gesundheitswesen ja auch noch der „Experte“ (die Ärztin oder der Arzt), der die Auswahlentscheidung trifft und der „Betroffene“ (der Patient), dessen Akzeptanz dieser Entscheidung maßgeblich ist für den Erfolg der Behandlung. Und schon ist die schöne Theorie der Wettbewerbs-Ideologen zerschossen. Wie sollen Sie also mit Rabattverträgen umgehen? Auch nach reiflicher Überlegung kann man derzeit nur den Rat geben, sich jetzt nicht im Dschungel der Verträge zurechtfinden zu wollen. Denn die Einzelheiten der Verträge werden gehütet wie ein Staatsgeheimnis – was aus Sicht der Kassen und Firmen auch verständlich ist. Zu diesen Einzelheiten gehört aber nicht nur der ausgehandelte Rabatt, sondern auch Details zur Verordnungsfähigkeit, um den Rabatt auszulösen. Es scheint nämlich keineswegs so zu sein, dass ein Rabatt in jedem Fall greift, sondern es gibt auch Verträge, die den Rabatt nur für Verordnungen im Rahmen bestimmter Indikationen auslösen. All’ dies ist Ihnen (und uns) aber nicht im Detail bekannt. Aus diesem Grund sollten Sie immer, wenn Sie es aus medizinischer Sicht verantworten können, die Auswahl des Präparates dem Apotheker überlassen. Der Apotheker ist nämlich nicht nur in der Lage, die Rabattverträge korrekt anzuwenden (weil er in seiner EDV die tagesaktuellen Bedingungen findet), sondern er ist auch gesetzlich dazu verpflichtet, Rabattverträge zu berücksichtigen. Sie können in diesen Fällen also sicher sein, dass Rabattverträge auch bedient werden und Ihnen ein günstiger Preis auf das Richtgrößen-Konto gebucht wird. In den Fällen, in denen Sie es aus medizinischer Sicht für notwendig halten, ein bestimmtes Präparat zu verordnen, sollten Sie dies auch tun. Es gibt keine Pflicht, Rabattverträge zu bedienen, sie sind lediglich ein Angebot! Und dieses Angebot muss man auch mit Vorsicht genießen. Denn auch rabattierte Arzneimittel verursachen Kosten, die Ihnen und der KV „in Rechnung gestellt“ werden. Deshalb müssen Sie weiterhin darauf achten, mit möglichst wenig Verordnungen auszukommen. Rabattverträge dürfen nicht dazu verleiten, die Menge der verordneten Medikamente aus den Augen zu verlieren. Schöne neue Zeit? Sicher nicht. Die Zeiten werden lediglich unübersichtlicher. Für uns Anlass genug, mit dem aktuellen Heft von KVH Brennpunkt Arznei wenigstens auf dem medizinischen Gebiet für ein wenig „Aufklärung“ zu sorgen. Viel Ertrag beim Studieren dieser Ausgabe wünscht Ihnen mit freundlichen Grüßen Walter Plassmann KV Hamburg, stellvertretender Vorsitzender Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Editorial Seite 2 Jahrelang Bisphosphonat verordnet: Was passiert, wenn ich die Therapie beende? 4 Dr. med. Joachim Fessler Inhaltsverzeichnis PROactive-Studie zur Sekundärprävention makrovaskulärer Ereignisse bei Typ-2-Diabetikern Brauchen wir in der Praxis Pioglitazon? 5 Dr. med. Alexander Liesenfeld und Dr. med. Joachim Fessler Behandlung der Krätze Dr. med. Klaus Ehrenthal 7 Behandlung bei Kopflausbefall Dr. med. Klaus Ehrenthal 8 Wachere Patienten, bessere Prognose, weniger Arzneikosten Warum sich die Behandlung der Schlafapnoe auszahlt Dr. med. Alexander Liesenfeld 10 Vitamine und Mineralien einnehmen: sinnvoll, unsinnig oder gar gefährlich? 13 Dr. med. Klaus Ehrenthal NAPROXEN plus ASS sicherer als Cox-2-Hemmer und andere NSAR 18 Cox-2-Hypothese und Kardiotoxizität 19 NAPROXEN und die Folgen für das Budget des Verordners 23 Entlassungs-Medikation und Arztbrief: Ein immerwährendes Problem? Prof. Dr. med. Sebastian Harder und Dr. med. Joachim Fessler 24 Sicherer verordnen Dr. med.Günter Hopf Über Schaden oder Nutzen von Digitalis entscheidet der Serumspiegel Monoklonale Antikörper: Vorsicht, Infektionsrisiko Kontrazeption mit Pflaster: Auch hier gibt es venöse Thromboembolien Patent läuft aus: Mit diesen Tricks sichert die Industrie ihre Gewinne 27 Rezept des Monats: Gesunde Patienten dringend gesucht 30 Leitlinie Stabile Angina pectoris – die Tischversion zum Ausschneiden 31 27 28 28 29 Impressum Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld, Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Fax Redaktion: 069 / 79502 501 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Seite Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Jahrelang Alendronat verordnet Was passiert, wenn ich die Therapie beende? Dr. med. Joachim Fessler So umstritten der Einsatz der Therapie mit Bisphosphonaten ist, so groß die Schwierigkeiten sind, die Hochrisikopatienten zu identifizieren, so gab es über die Dauer der Therapie mit Bisphosphonaten bisher keine Erkenntnis. Hiermit hat sich jetzt die FLEX-Studie beschäftigt [1]. Dies ist insofern besonders wichtig, als Alendronat in dem Bonus-Malus-Gesetz als Leitsubstanz für die Bisphosphonate gewählt wurde. Die FLEX-Studie ist eine randomisierte kontrollierte Studie, die als Folgestudie der FIT (Fracture Intervention Trial) durchgeführt wurde. Diese Studie hat die Wirksamkeit von Alendronat untersucht und führte zur Zulassung von Alendronat. Nach Abschluss der FIT randomisierten die Autoren die 1099 Frauen, die mit Alendronat behandelt worden waren, erneut. Die eine Gruppe erhielt Alendronat 5 mg oder 10 mg, die andere Placebo. Dies bedeutet, dass man insgesamt eine zehnjährige Alendronat-Therapie mit einer fünfjährigen Alendronat-Therapie und anschließender fünfjähriger Pause verglich. Es kam im Placebo-Arm zu einem Rückgang der Knochenmineraldichte (BMD). Die Werte nahmen im Bereich der Hüfte um 2,4 Prozent und im Bereich der Wirbelkörper um 3,7 Prozent ab, verglichen mit der Gruppe, die weiter mit Alendronat behandelt wurde. Die Ergebnisse waren signifikant. Trotzdem war die BMD auch in der Placebo-Gruppe am Ende der zehnjährigen Therapie höher als zu Beginn der FIT-Studie. Dies ist Folge von der Zunahme des BMD unter der AlendronatTherapie über die fünf Jahre vor der Therapiepause. Diese Zunahme setzte sich in der Verumgruppe (keine Therapiepause) fort, allerdings nur in den Wirbelkörpern. Der BMD im Trochanter und im Schenkelhals sowie insgesamt in der Hüfte konnte nicht weiter gesteigert werden. Trotz Therapiepause keine Differenz bei Frakturen Dies erklärt, warum es bei den Frauen, die in der FLEX-Studie eine Therapiepause von fünf Jahren einlegten, nicht zu einem Anstieg der vertebralen Frakturen kam. Die Wirbelkörperfrakturen, die klinisch erkannt wurden, stiegen jedoch in der Placebo-Gruppe von 2,4 Prozent auf 5,3 Prozent. Das heißt, die klinisch erkannten Faktoren stiegen um relative 55 Prozent (95 % CI 0,24-0,85, NNT 172/Jahr). Die Gesamtzahl aller Frakturen in den Wirbelkörpern – auch jene eingeschlossen, die nur im Röntgenbild sichtbar waren, aber keine Symptome verursachten – zeigte keinen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen. Die Erklärung ist schwierig. Auf der einen Seite zeigt sich ein klarer Anstieg der Wirbelfrakturen, die Schmerzen verursachen, und andererseits zeigt sich kein Anstieg der Gesamtfrakturrate. Diese Wirbelfrakturen sind jedoch wesentlich seltener als die Frakturen im Hüftbereich, die oft der Anfang vom Ende der Mobilität der Frauen sind und die mortalitätserhöhend wirken. Zu den Nebenwirkungen wird berichtet, dass keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen bei schweren Nebenwirkungen, Therapieabbruchraten bezogen auf Nebenwirkungen oder Mortalität beobachtet werden konnten. Ebenfalls konnten keine Unterschiede beobachtet werden bezüglich leichter bzw. schwerer Nebenwirkung im oberen Magen- und Darmtrakt. Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Was bedeutet diese Studie für meine Praxis?: Die Daten sprechen eindeutig dafür, dass bei Frauen mit Osteoporose im Bereich der Hüfte eine Alendronat-Therapie nach fünf Jahren beendet werden kann. Problematischer ist es, wenn auch eine Osteoporose im Bereich der Wirbelkörper nachgewiesen ist. Offensichtlich verhindert hier Alendronat die schmerzhaften Wirbelkörperfrakturen besser als ein Placebo. Wie weit diese Patientinnen im Vorfeld identifiziert werden können, erscheint schwierig. Die Gruppe der Wirbelkörperosteoporosen ist jedoch deutlich geringer als die der Osteoporosen im Hüftbereich. In Anbetracht der NNT ist es meines Erachtens fraglich, Patientinnen ohne Nebenwirkungen mit nachgewiesener Osteoporose im Bereich der Wirbelkörper und einem hohen Frakturrisiko auch über die fünf Jahre hinaus mit Alendronat zu behandeln, da die NNT mir sagt, dass ich 172 Frauen ein Jahr lang behandeln muss, um bei einer diesen Vorteil zu erzielen, ich aber 171 Frauen ohne Vorteil dem Nebenwirkungsrisiko aussetze. Seite Bedeutung für unsere Praxis Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Black DM et al.: Effects of Continuing or Stopping Alendronat After 5 Years of Treatment. JAMA 2006; 296: 2927-2938 PROactive-Studie zur Sekundärprävention von makrovaskulären Ereignissen bei Typ-2-Diabetikern Brauchen wir Pioglitazon in der Praxis? Dr. med. Alexander Liesenfeld und Dr. med. Joachim Fessler In dieser randomisierten Studie [1] wurden 5238 Patienten mit Typ-2-Diabetes im Alter von 35 bis 75 Jahren und einem HbA1c von > 6,5 zusätzlich zur bestehenden Medikation entweder mit Placebo oder Pioglitazon, einem Agonist des Peroxisomen-Proliferator-aktivierten Rezeptor γ (PPAR γ), behandelt. Es handelt sich hier ausschließlich um Hochrisikopatienten mit bereits bestehenden makrovaskulären Erkankungen/Ereignissen. Eingeschlossen wurden Patienten mit Zustand nach Myokardinfarkt, Schlaganfall, PTCA oder Bypass, akutes Koronarsyndrom, KHK, nachgewiesen durch positiven Belastungstest, Szintigramm oder angiographisch nachgewiesener Stenose der Koronarien mit mehr als 50 Prozent bzw. AVK mit Zustand nach Amputation/Claudicatio intermittens oder mit einem Knöchel-Arm-Index unter 0,9. Die Patienten wurden von Mai 2001 bis April 2002 in die Studie eingeschlossen. Die mittlere Laufzeit der Studie betrug 34,5 Monate. Diese Patienten waren entweder mit oralen Antidiabetika oder mit Diät alleine oder in Kombination mit Insulin eingestellt. Ausgeschlossen wurden Patienten mi Typ-I-Diabetes ausschließlicher Insulinbehandlung geplanter koronarer/peripherer Revaskularisation Herzinsuffizienz im Stadium II bis IV nach NYHA ischämischen peripheren Ulcera, Gangrän und Ruheschmerzen in den Beinen Hämodialyse GPT-Erhöhung auf das 2,5-fache über dem Normwert. Für Sie gelesen Seite KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Ziel der Studie war es, bei diesen Hochrisikopatienten mit makrovaskulären Erkrankungen die Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse zu untersuchen. Im ursprünglichen Studiendesign, das 2004 in Diabetes Care veröffentlicht worden war [2], wurde der primäre Endpunkt für diese randomisierte Doppelblindstudie beschrieben. Es war die Zeit von der Randomisierung bis zum Auftreten eines der folgenden Ereignisse: Tod jeglicher Art nicht tödlicher Myokardinfarkt (einschließlich stummer Myokardinfarkt) Schlaganfall akutes Koronarsyndrom endovaskuläre chirurgische Intervention der Koronarien oder Bypässe Amputation oberhalb des Fußgelenkes. In diesem ursprünglichen Design [2] ist keine Rede von sekundären Endpunkten. Laut Studienplan kein signifikantes Ergebnis Pioglitazon förderte die Herzinsuffizienz Im Verlauf der Studie erhielten die Patienten mit Verum im ersten Monat 15 mg, im 2. Monat 30 mg und danach bei entsprechender Indikation und Dosisanpassung 45 mg Pioglitazon. Nach drei Monaten hatten etwa 89 Prozent der behandelten Patienten diese Dosis erreicht. Untersucht wurden die Patienten zunächst monatlich, später alle zwei Monate, danach alle zwei bis drei Monate. Die Ergebnisse der Studie waren so, dass in der Placebo-Gruppe 21,7 Prozent der Patienten einen primären Endpunkt erreichten, während in der Pioglitazongruppe 19,7 Prozent einen primären Endpunkt im Laufe der Beobachtungsdauer von im Mittel 34,5 Monaten erreichten. Die absolute Risikoreduktion betrug somit zwei Prozent. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant (p = 0,095). Durch die Einführung eines so genannten „sekundären Hauptendpunktes“, der nur einen Teil der primären Endpunkte (nämlich Tod, nichttödlicher Herzinfarkt und Schlaganfall) enthält, wurde dann doch noch ein signifikantes Ergebnis erzeugt mit p = 0,027. Dieser sekundäre Endpunkt senkt die Erkrankungshäufigkeit von 13,6 Prozent auf 11,6 Prozent. Die absolue Risikoreduktion war somit ebenfalls zwei Prozent. Dies entspricht einer NNT (Number needed to treat) von 50. Andererseits findet sich in der Pioglitazongruppe eine deutliche Zunahme der Herzinsuffizienz von 7,5 Prozent in der Placebogruppe auf 10,8 Prozent in der Verumgruppe. Das entspricht einer absoluten Risikosteigerung von 3,3 Prozent und damit einer NNH (Number needed to harm) von 30! Zum Schluss möchten wir darauf hinweisen, dass es sich um eine von der Pharma industrie gesponserte Studie [3] handelt, bei der viele beteiligte Wissenschaftler (z. B. Dormandy, Charbonnel, Erdmann, Standl) Interessenkonflikte haben, da sie als Berater, Vortragende, Auftraggeber oder Angestellte der Firma tätig waren oder noch sind. Zudem waren einige der Autoren Mitglied der Datenkommission, die zwischendurch (während der Verblindungsphase) die unverblindeten Daten einsehen durften (beispielsweise Lefebre, Murray, Standl). Ob dies mit dem nachträglich definierten Endpunkt zu tun hat? War die Studie gar nicht mehr „doppelblind“? Bedeutung Was bedeuted dies für unseren Praxisalltag? für unsere Praxis Bei Typ-II-Diabetikern mit bereits bestehender kardiovaskulärer Erkrankung bringt die zusätzliche Gabe von Pioglitazon, auch wenn man keine Manipulation in der PROactive-Studie annimmt, eine absolute Risikoreduktion von gerade mal zwei Prozent, das heißt: Man muss 50 Patienten knapp drei Jahre lang (Studiendauer) Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite behandeln, um ein schwerwiegendes Ereignis zu verhindern. Im Gegensatz dazu tritt bei jedem 30. Patienten ein Schaden auf. Es wird in diesem Falle also mehr Patienten geschadet als genützt. Denken wir dabei bitte an einen unserer Berufsgrundsätze: nil nocere! Im Klartext: wir sehen auf Grund dieser Studie für Pioglitazon keinen Indikationsbereich. Gestützt wird dieses Fazit durch inzwischen veröffentlichte Berichte über eine Erhöhung des Frakturrisikos bei Frauen [4]. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Dormandy J A et al.: Secondary prevention of macrovascular events in patients with type 2 diabetes in the PROactive Study (PROspective pioglitAzone Clinical Trial In macroVascular Events): A randomised controlled trial. Lancet 2005; 366: 1279-89 2 Charbonnel B, Dormandy J, Erdmann E, Massi-Benedetti M, Skene A: The prospective pioglitazone clinical trial in macrovascular events (PROaktive): can pioglitazone reduce cardiovascular events in diabetes? Study design and baseline characteristics of 5238 patients. Diabetes Care 2004; 27: 1647-53 3 PROACTIVE-STUDIE: KLINISCHER NUTZEN VON PIOGLITAZON (ACTOS) BELEGT? … Verdacht auf Datenmanipulation. arznei-telegramm 2005; 36: 95-96 4 arznei-telegramm 2007; 38: 32 Behandlung der Krätze Dr. med. Klaus Ehrenthal Beiträge der Redaktion Nach wie vor finden sich in der hausärztlichen Praxis Fälle von Krätze, an die oft nicht gedacht wird. Nicht nur Kinder, auch Altenheimbewohner oder allein lebende Senioren leiden mitunter an dem chronischen meist nächtlichen Juckreiz durch die weiblichen Milben, die in intrakutanen Gängen, bevorzugt im Bereich von Hautfalten (bei Kindern auch an allen sonstigen Körperstellen) ihre Eier legen, die dann nach drei Wochen geschlechtsreife Nachkommen produzieren. Wegen der hohen Kontagiosität sollten alle Kontaktpersonen von Erkrankten mitbehandelt werden. Womit sollten wir die Krätze behandeln? Das bisher bevorzugte Mittel in Deutschland war Jacutin® Emulsion und Gel; beide sind verschreibungspflichtig. Ihr Wirkstoff Lindan (Hexachlorcyclohexan, ein Pestizid) darf in Europa entsprechend der Europäischen Umweltschutz-Richtlinie [1] nur noch bis zum 31.12.07 angewendet werden. Jacutin® Spray enthält einen anderen Wirkstoff (Alletrin) und ist apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtig. In den USA wird Lindan von der dortigen Umweltschutzbehörde EPA als wahrscheinlich kanzerogen eingestuft. Als Nebenwirkungen wurden neurologische Komplikationen beobachtet wie Krämpfe, besonders bei Patienten mit Anfallsleiden oder bei der Einnahme von anfallsfördernden Medikameten wie Antidepressiva oder auch bei Kindern und Erwachsenen unter 50 kg Gewicht. Daneben kamen auch aplastische Anämien und Todesfälle vor [2]. In Deutschland dürfen über dreijährige Kinder noch bis zum 31.12.07 mit 0,3-prozentigem Lindan eingerieben werden, das nach drei Stunden abzuwaschen ist. Absorbiertes Lindan kann sich im Fettgewebe und in den Hoden anreichern und zum Untergang der Leydig’schen Zellen führen. Schwangere sollten nicht mit Lindan behandelt werden. Zur Krätze-Behandlung ist weiterhin Permethrin (z.B. Infectoscab 5% Creme®, verschreibungspflichtig) zugelassen, ein synthetisches Langzeit-Pyrethroid, das nicht nur in Deutschland als Mittel der ersten Wahl angesehen wird, auch bei Lindan nur noch bis Jahresende verfügbar KVH • aktuell Seite Nr. 2 / 2007 kleinen Kindern, obwohl die Datenlage bei unter Zweijährigen schlecht ist (siehe Fachinformation). Die fünfprozentige Zubereitung wird einmalig aufgetragen, das muss bei Bedarf nach ein bis zwei Wochen wiederholt werden. Anschließend ist die Leib- und Bettwäsche zu wechseln und bei mindestens 60 Grad zu waschen. Schwangere nicht mit Permethrin behandeln Da Pyrethroide (ebenso wie Lindan) Nervengifte sind, können bei jedem zehnten Patienten nach der Anwendung Parästhesien, Taubheit, Kribbeln und Brennen der Haut auftreten, Krampfanfälle wurden ebenfalls berichtet. Die US-amerikanische EPA stufte Permethrin ebenfalls als mögliches Kanzerogen ein. Schwangere sollten nicht mit Permethrin behandelt werden. In den USA ist der Gebrauch ab dem dritten Lebensmonat zugelassen. Neben einigen weiteren in Deutschland zur Behandlung der Krätze zugelassenen Mitteln (Crotamiton, Benzylbenzoat, Schwefelzubereitungen), die entweder keine ausreichenden Unbedenklichkeitsstudien oder aber ebenfalls weitere Nebenwirkungen zeigen, ist das in Deutschland noch nicht zur Behandlung der Krätze zugelassene Ivermectin zu nennen, das in Frankreich als Mittel der Wahl bei Krätze gilt. Ivermectin wird oral eingenommen. Es muss importiert werden und ist nicht ganz billig. Kinder unter 15 kg und Schwangere sollten kein Ivermectin einnehmen. Ivermectin gilt wegen ebenfalls neurotoxischer Schädigungen als Mittel der Reserve. Insgesamt sind die Daten zu Mitteln für die Behandlung der Krätze spärlich und die Risiken sind nicht sicher ausschließbar. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Amtsblatt der Europäischen Union L 158 vom 30.04.2004, L229/6/15 2 arzneimittel-telegramm 2005; 36 (Nr. 9): 70-81 Beiträge der Redaktion Behandlung bei Kopflausbefall Dr. med. Klaus Ehrenthal Aus Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Sportvereinen werden immer wieder Kopfläuse mit nach Hause gebracht. Das mehrfach tägliche Stechen zum Blutsaugen der 2 bis 3,5 mm großen Sechsbeiner schmerzt durch den in die Wunde eingebrachten Speichel des Parasiten. Die weibliche Kopflaus wird etwa 30 bis 35 Tage alt, sie kann nicht ohne einen Wirt leben und stirbt dann nach maximal drei Tagen. In ihrem Leben kann eine Kopflaus 100 bis 150 (manchmal bis zu 250) Eier produzieren [1], nach etwa drei Wochen sind die ausgeschlüpften Larven adult und können weitere Eier legen. Diese etwa 0,8 mm langen weißlichen Eier haften als so genannte „Nissen“ fest und nicht abstreifbar an den Kopfhaaren nahe dem Haaransatz, bevorzugt hinter den Ohren, an den Schläfen und im Nacken, weil dort eine optimale Temperatur für die Entwicklung von 28 bis 32 Grad herrscht (unter zwölf Grad findet keine Eiablage mehr statt). Zur chemischen Behandlung sind in Deutschland nach Prüfung durch das Umweltbundesamt zugelassen: 1. Rezeptpflichtige, Lindan-haltige Mittel wie z.B. Jacutin® Gel, Infectopedicul® Lindan Gel (alle verschreibungs- und apothekenpflichtig). Unter anderem wegen der Neurotoxizität dieser Substanz ist dieser Wirkstoff – ein Pestizid – ab Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite dem 31.12.07 in Deutschland nicht mehr zugelassen. Krämpfe und andere neurologische Effekte sind möglich. Schwangere sollen nicht mit Lindan-haltigen Mitteln behandelt werden. 2. Frei verkäuflich sind Pyrethroide (z.B. Infectopedicul®; es ist apothekenpflichtig. Verordungsfähig zu Lasten der GKV ist es nur bei Kindern bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr, bei körperlich oder geistig Behinderten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr). Das enthaltene synthetische Permethrin wirkt zwar am besten, die Substanz ist aber auch neurotoxisch und darf bei Schwangeren nur eingeschränkt angewendet werden (siehe Herstellerhinweise). Resistenzen wurden beobachtet. 3. Ebenfalls frei verkäuflich ist das aus ChrysanGetreu bis zum Todte... themensamen gewonnene Pyrethroid, z.B. in Goldgeist forte® (apothekenpflichtig; verordnungsfähig zu Lasten der GKV ist es nur bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr, bei körperlich und geistig Behinderten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr). Das Präparat enthält auch noch den synthetischen „Wirkungsverstärker“ Piperonylbutoxid sowie Clorkresol und reichlich Diethylenglykol mit erheblichem toxikologischen Risiko. Als Mittel der Wahl gilt Permethrin trotz der neurotoxischen Belastung. Eine Nachkontrolle und Nachbehandlung nach acht bis zwölf Tagen ist unerlässlich, danach sollen die Haare drei Tage lang nicht gewaschen werden, um den Verbleib des Wirkstoffes in den Haaren nicht vorzeitig zu beenden. Von besonderer Wichtigkeit ist das Auskämmen der Nissen, die mit bloßem Auge nahe dem Haaransatz sichtbar sind, mit einem geeigneten „Nissenkamm“ (nicht verordnungsfähig zu Lasten der Krankenkassen), dessen Zinken einen Abstand von nicht mehr als 0,2 bis 0,3 mm haben dürfen. Das Ablösen der Nissen vom Haar (dadurch jedoch keine Abtötung der Nissen) wird erleichtert durch ein vorheriges 10-minütiges Einweichen der Haare in Essigwasser (2 Teile Wasser auf 1 Teil Essig). Dieses Auskämmen des angefeuchteten Haares muss täglich geduldig Strich für Strich vorgenommen werden, damit auch die nachkommenden Läuse beseitigt werden. Damit wird der Befallene vor den häufigen Rezidiven geschützt. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Ratgeber Infektionskrankheiten des RKI, aktualisierte Fassung März 2005. http://www.rki.de/cln_049/nn_196878/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber Kleiner Ausflug in die Historie: Nachdem das Mikroskop erfunden war, zählte die Kopflaus neben dem Floh zu den am häufigsten untersuchten, beschriebenen und gezeichneten Objekten. Hier eine Zeichnung des Mikroskopikers Martin Frobenius Ledermüller, die um 1760 entstand. Zu dieser Zeit war die Kopflaus ständiger Gast auf den vornehmsten Köpfen – was durch die damals üblichen Perücken gefördert wurde. Und sie waren nicht loszuwerden, wie Ledermüller vermerkt: „Denn so getreu als der beste Hund, so getreu ist auch die Lauß, welche ihren Herrn gewiss nicht ehender als im Todte verläßt.“ Das ist heute zum Glück anders. Seite 10 KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Wachere Patienten, bessere Prognose, weniger Arzneikosten Warum sich die Behandlung der Schlafapnoe auszahlt Dr. med. Alexander Liesenfeld Nicht jeder nimmt die Schlafapnoe ernst, doch ein eindrucksvoller Vergleich macht klar, welch eine Belastung sie sein kann: Stellen Sie sich vor, Sie liegen in der Badewanne, tauchen ab und halten die Luft 40 Sekunden lang an; nachdem Sie den Kopf wieder aus dem Wasser erhoben haben, schnaufen Sie zwanzig Sekunden lang kräftig. Und dann tauchen Sie wieder ab und es geht von vorne los – und wiederholt sich dann im Minutentakt einige Stunden lang. So etwa sieht die Belastung aus, die manch ein Schlafapnoiker Nacht für Nacht aushalten muss. Doch schon in viel leichteren Fällen ziehen die nächtlichen Atemaussetzer einen Rattenschwanz an Krankheiten und Gefahren hinter sich her. Die Behandlung ist zwar nicht medikamentös, dennoch ist ein Beitrag über die Schlafapnoe in diesem Heft keineswegs fehl am Platz: Die rechtzeitige Therapie kann dem Patienten einiges an Leid und dem Arzt später eine kräftige Belastung seines Arzneibudgets ersparen. In der Bevölkerung ist die Schlafapnoe weit verbreitet Eine auffällige Folge nächtlicher Atemstörungen hat Charles Dickens bereits 1836 in seinem Roman „Die Pickwicker“ beschrieben. Er schildert darin einen gefräßigen fetten Jungen, der tagsüber bei jeder Gelegenheit einschläft – weshalb heute die Kombination von Obesitas und Schlafapnoe oft noch als Pickwick-Syndrom bezeichnet wird. Diese Form der schlafbezogenen Atemstörung stellt die extremste Form der Schlafapnoe dar. Ob mit oder ohne Obesitas – die Schlafapnoe ist keine Seltenheit. In zwei epidemiologischen Studien wurden 1993 fast zeitgleich in Australien [1] und Deutschland [2] die Häufigkeit der Schlafapnoe bei Männern über 40 Jahren mit 28 Prozent bzw. zehn Prozent angegeben. Das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) hat somit eine hohe Prävalenz in der Bevölkerung. Die Lebenserwartung ist durch Folgeerkrankungen und Unfallgefährdung gegenüber Gesunden deutlich herabgesetzt [3]. Hier wurde gezeigt, dass bei einem 50-Jährigen mit einem Apnoeindex (AI > 20) die Lebenserwartung deutlich sinkt. Apnoeindex bedeutet: Anzahl der Atemstillstände von einer Dauer länger als zehn Sekunden pro Stunde Schlaf. Apnoeindex von 20 heißt also, dieser Patient hat bei einer Schlafzeit von sechs Stunden insgesamt 120 Apnoen. Oft haben Patienten Atemstillstände von weit über 30 Sekunden. Dies stellt natürlich eine enorme Belastung für das Herz-Kreislauf-System dar. Durch einen Verschluss der oberen Atemwege im unteren Rachenbereich kommt es im Schlaf beim Überwinden dieser verschlossenen Atemwege zu enormen intrathorakalen Druckschwankungen von bis zu 90 cm H2O. Dies führt zu deutlicher Blutdruckerhöhung und messbarem Pulsanstieg. Entsprechend stark sind bei diesen wiederkehrenden Kreislaufbelastungen die Druckbelastungen sowohl für das linke, als auch für das rechte Herz. Dabei kommt es zu regelmäßigen Sauerstoffabfällen mit Sauerstoffsättigungswerten bis weit unter 80 Prozent. Bereits Werte unter 90 Prozent Sauerstoffsättigung sind hier als pathologisch anzusehen. Das OSAS soll auch zu einer erhöhten Koagulabilität mit verstärkter Plättchenaggregation und entsprechendem Risiko für Durchblutungsstörungen führen [4]. Die Häufigkeit der Myokardinfarkte in der Nacht und in den frühen Morgenstunden und der plötzliche Herztod sind hier wahrscheinlich im Zusammenhang mit der KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Seite 11 Schlafapnoe zu sehen. Das OSAS stellt damit einen wichtigen von anderen Risikofaktoren unabhängigen Faktor für Hypertonie, Herzinfarkte und Schlaganfälle dar [5]. Begleitet wird das OSAS von einer Reihe von Symptomen und Diagnosen aus den Bereichen Innere Medizin, Allgemeinmedizin und Pneumologie: essentielle Hypertonie Belastungsdyspnoe anderweitig nicht erklärbare myokardiale Insuffizienz nächtliche Herzrhythmusstörungen, hier insbesondere Sinusarrhythmien Vorhofflimmern Übergewicht Polyglobulie retrosternales Druckgefühl ohne Hinweis auf KHK Diabetes mellitus Hyperurikämie Auch bei unspezifischen Symptomen wie Abgeschlagenheit oder Leistungsminderungen sollte an das Auftreten einer schlafbezogenen Atemstörung gedacht werden. Neuere Untersuchungen zeigen einen sehr wichtigen Zusammenhang zwischen Schlafapnoe und Vorhofflimmern [6,7]. Patienten mit Vorhofflimmern hatten zu 49 Prozent eine Schafapnoe im Vergleich zu 32 Prozent eines kardiologischen Vergleichskollektivs [6]. Umgekehrt hatten Patienten mit einer schweren Schlafapnoe ein sechsfach höheres Risiko eines Vorhofflimmerns [7]. Der Anteil der SchlafapnoePatienten bei denen, die nach einer Kardioversion wieder Vorhofflimmern bekamen, war signifikant erhöht. Die Standardtherapie des OSAS besteht in der nächtlichen nasalen kontinuierlichen Überdruckatmung (nasal continuous positive airway pressure, nCPAP). Dabei wird über eine Maske durch den applizierten Luftdruck das Kollabieren der oberen Atemwege quasi aufgehoben; damit werden die Atempausen verhindert. Mehrere Studien haben gezeigt, dass diese nCPAP-Therapie die nächtlichen Atemstörungen und damit auch die Sauerstoffabfälle sowie klinische Folgen vermeiden kann (siehe Abb. 1 unten auf dieser Seite). Es wurde auch in einer großen Studie [8] der positive Einfluss auf die Hypertonie nachgewiesen. In dieser randomisierten Untersuchung hatten insbesondere Patienten mit schwerem OSAS einen klinisch relevanten therapeutischen Nichttödliche kardiovaskuläre Ereignisse Standardtherapie mit der Atemmaske Tödliche kardiovaskuläre Ereignisse 2,5 + AS OS OS AS sc h lei nC PA P ch r t we r 0 AS nC PA P + ch we r OS AS AS s OS OS AS lei ch t ch er Sc hn ar Ge su nd e 0 0,5 OS 0,5 1 ch e 1 1,5 Sc hn ar 1,5 2 su nd e 2 Ge Ereignisse/100 Personenjahre 2,5 Ereignisse/100 Personenjahre Bei zahlreichen Symptomen müssen wir auch an eine nächtliche Atemstörung denken Abb. 1: Die Schlafapnoe erhöht das Risiko für nicht tödliche und tödliche kardiovaskuläre Ereignisse beträchtlich. Die nCPAP-Therapie reduziert die Risiken nahezu wieder auf das Risiko einer gesunden Vergleichsgruppe [8, 9,10,11]. Grafik nach [4]. Behandlung reduziert das Risiko auf das Niveau eines Gesunden KVH • aktuell Seite 12 Nr. 2 / 2007 Nutzen mit einer number needed to treat (NNT) von etwa zwei. Dabei wurde ein Teil der Patienten suffizient und ein anderer Teil subtherapeutisch mit nCPAP behandelt. Im Laufe einer Beobachtungszeit von neun Wochen wurden bei Patienten in der Verum-Gruppe zu 95 Prozent die Atemstillstände behoben im Vergleich zu 50 Prozent in der Vergleichsgruppe. Der Blutdruck sank im Mittel um 9,9 mm Hg bei den suffizient mit nCPAP behandelten Patienten, in der anderen Gruppe war keine Änderung des Blutdrucks festzustellen. Der Unterschied war statistisch signifikant (P=0,01). Die nCPAP-Therapie wird im Allgemeinen gut vertragen. Es gibt aber Patienten, die die Therapie aus verschiedenen Gründen ablehnen: Es kann zu Haut- und zu Schleimhautirritationen der oberen Atemwege kommen oder zu Angstzuständen unter der Maske. Hier kommt es leider zu häufigen Therapieabbrüchen. Andere nicht invasive Behandlungsmöglichkeiten stellen so genannte Zahnschienen dar, die während der Nacht eingesetzt werden und dabei zu einem Vorschub des Unterkiefers führen. Operationen im HNO-Bereich haben abgesehen von Tonsillektomien bei deutlicher Tonsillenhypertrophie, hier insbesondere bei Kindern, zu keinen überzeugenden Ergebnissen geführt und werden nicht generell empfohlen. Bedeutung für unsere Praxis Auch Kinder können an Schlafapnoe leiden Was bedeutet das für uns in der Praxis? Im allgemeinmedizinischen Kollektiv gibt es viele unerkannte Patienten mit OSAS. Vergleichbar mit den unentdeckten Diabetikern und den unentdeckten Hypertonikern sollten wir in der Allgemeinpraxis bei einer Häufigkeit dieses Syndroms von über zehn Prozent in der erwachsenen Bevölkerung eigentlich bei jedem Patienten an ein Schlafapnoe-Syndrom denken. Hinweise darauf ergeben insbesondere Übergewicht, Hypertonie, Vorhofflimmern, Polyglobulie, Tagesmüdigkeit, Abgeschlagenheit, Einschlafneigung am Tage, gutes Einschlafen am Abend. Wegen der Koinzidenz von metabolischem Syndrom und Schlafapnoe-Syndrom [12] sollten wir insbesondere bei Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen an eine Schlafapnoe denken. Weitere Hinweise auf ein Schlafapnoe-Syndrom sind regelmäßige nächtliche Sinusarrhythmien im Langzeit-EKG, Zeichen der Linksherzhypertrophie im EKG, fehlende nächtliche Blutdruckabsenkung in der ABDM, starker Blutdruckanstieg im BelastungsEKG sowie die durch Blutdruck bedingten Veränderungen am Augenfundus. Ein ganz wichtiger Hinweis kann die Anamnese durch den Partner sein. Der Partner kann sicherlich leicht die Dauer der Atemstillstände nachts abschätzen. Bei Verdacht empfehlen wir die weiterführende Untersuchung mittels ambulantem Screening. Bei Diagnose des Schlafapnoe-Syndroms ist die Goldstandardtherapie die nCPAP-Behandlung. Bei Schwierigkeiten der Anwendung sollten wir wegen der deutlichen Risikominderung an erster Stelle den Patienten motivieren und ggf. Kontakt mit dem Facharzt aufnehmen, um die Compliance für die nCPAP-Therapie zu verbessern. Zum Schluss der Hinweis, dass Entwicklungsstörungen bei Kindern auch im Zusammenhang mit einem Schlafapnoe-Syndrom stehen können. Hier ist eine exzessive Tonsillenhypertrophie die Ursache. Nicht die Adenektomie, sondern die Tonsillektomie ist hier das Mittel der Wahl. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Young T, Palta M, Dempsey J, Skatrud J, Weber S, Patr S: The occurrence of sleep-disordered breathing among middleage adults. N Engl J Med 1993; 328: 1230-37 2 Liesenfeld A, Becker H, Podszus T, Kemeny C, Baumgarten W, Peter JH: Häufigkeit der Schlafapnoe in der Praxis eines niedergelassenen Allgemeinarztes bei über 40jährigen Männern (Mardorf-Studie). In: Peter JH, Penzel T, Cassel W., Wichert P von: Schlaf – Atmung – Kreislauf. Springer, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo-Hong KongBarcelona-Budapest (1993): 409 - 418 3 He J, Kryger MH, Zorick FJ, Conway W, Roth T: Mortality and apnea index in obstructive sleep apnea. Experience in 385 male patients. Chest 1994: 9-14 Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite 13 4 Laube I, Bloch KE: Schlafapnoetherapie: Auswirkungen auf Herz und Kreislauf. Schweiz Med Forum 2006; 6: 1047-50 5 Yaggi HK, Concato J, Kernan WN, Lichtmann JH, Brass LM, Mohsenin V: Obstructive sleep apnea as a risk factor for stroke and death. N Engl J Med 2005; 353 (19): 2034-41 6 Gami AS et al.: Association of atrial fibrillation with obstructive sleep apnea. Circulation 2004 Jul 27; 110: 364-7 7 Tanigawa T, Yamagishi K, Sakurai S, Muraki I, Noda H, Shimamoto T, Iso H: Arterial oxygen desaturation during sleep and atrial fibrillation. Heart 2006; 92:1854-5 8 Becker HF, Jerrentrup A, Ploch T, Grote L, Penzel T, Sullivan CE, et al.: Effect of nasal continuous positive airway pressure treatment on blood pressure in patients with obstructive sleep apnea. Circulation 2003; 107 (1): 68-73 9 Pepperell JC, Ramdassingh-Dow S, Crosthwaite N, Mullins R, Jenkinson C, Stradling JR, et al.: Ambulatory blood pressure after therapeutic and subtherapeutic nasal continuous positive airway pressure for obstructive sleep apnoea: a randomised parallel trial. Lancet 2002; 359 (9302): 204-10 10 Barbe F, Mayoralas LR, Duran J, Masa JF, Maimo A, Montserrat JM, et al.: Treatment with continuous positive airway pressure is not effective in patients with sleep apnea but no daytime sleepiness. a radomized, controlled trial. Ann Intern Med 2001; 134 (11): 1015-23 11 Gotsopoulos H, Kelly JJ, Cistulli PA: Oral appliance therapy reduces blood pressure in obstructive sleep apnea: a randomized, controlled trial. Sleep 2004; 27 (5): 934-41 12 Kaffarnik H, Steinmetz A, Peter HJ, Liesenfeld A: High coincidence between sleep apnea and metabolic syndrome (Mardorf Study). 8th International Dresden Symposium on Lipoproteins and Atherosclerosis. 1994 June 10-12. Program abstracts: 33 Vitamine und Mineralien einnehmen: sinnvoll, unsinnig oder gar gefährlich? Teil 2 – Keine generelle Evidenz für positive Wirkungen Dr. med. Klaus Ehrenthal Bei einer hochkarätig besetzten „State-of-the-Science Conference“ in den USA wurden die Multivitamin- und Mineralstoff-Supplements in der Prävention chronischer Krankheitsbilder bewertet. In der letzten Ausgabe von KVH aktuell – Pharmakotherapie (Nr. 1/2007) wurde der erste Teil der durchweg ernüchternden Ergebnisse dieser Konferenz besprochen. In diesem Heft stellen wir weitere Resultate vor. Kardiovaskuläre Erkrankungen Herzerkrankungen sind die häufigsten Todesursachen in den USA, nach den Untersuchungen der American Heart Association besonders auch bei Frauen. Die jahrzehntelange multifaktorielle Vorgeschichte dieser Krankheiten ist durch eine gesunde Ernährung (mit ungesättigten Fetten, Vollkorn („whole grains“), Obst, Gemüse und ausreichend Omega-3-Fettsäuren), Einhalten eines gesunden Körpergewichtes, täglichem Körpertraining von 1/2 Stunde und mehr und Konsumieren von nur moderaten Alkoholmengen (bis zu 5g/d) aufzuhalten. Die entsprechenden Empfehlungen zur Ernährungsumstellung wurden nur wenig realisiert. Trotz intensiver Maßnahmen zur Empfehlung einer gesunden Ernährung fand sich in der Women´s Health Initiative (Randomized Controlled Dietary Modification Trial) kein signifikanter Effekt bei der koronaren Herzkrankheit, lediglich „trends toward greater reductions in coronary heart disease risk…“. Antioxidantien: Warum vermutet man bei Antioxidantien eine Schutzwirkung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Zur Frage, wie Cholesterol Atherosklerose verursachen kann, wurde 1989 erkannt [3], dass LDL-Cholesterin dabei wichtig ist. Es wurde angenommen, dass die Veränderung durch Lipid-Peroxidation geschah. Diese Hypothese wurde als die „Oxidative Modifikations-Theorie“ („the oxydative modification theory“) bekannt. Daraus leitete man ab, dass Antioxidantien günstig wirken, indem sie die Lipid-Peroxidation unterdrücken. Da Vitamin E das stärkste bekannte Antioxidant ist, das Lipidperoxidation Beiträge der Redaktion Seite 14 Es hilft nicht und es schadet nicht KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 unterdrückt, wurde in Studien die Wirkung von Vitamin E bei Herzerkrankungen untersucht. Nach zehn Jahren und etwa 200 solcher Studien mit Vitamin E wurde weder ein Benefit noch ein Nachteil durch Vitamin E bei Herzerkrankungen gefunden. Dabei ist bemerkenswert, dass in den meisten dieser Studien weder Biomarker verwendet wurden noch oxidative Stressmarker oder Lipid-Peroxidations-Marker beobachtet wurden oder die Plasma-Vitamin-E-Kozentration gemessen wurde. Trotz verschiedener bekannter Gewebseffekte (Verhinderung der Proliferation glatter Muskelzellen, Thrombozyten-Adhäsions- und -Aggregationshemmung, Hemmung der Adhäsion von Monozyten am Endothel) ist der eigentliche Wirkmechanismus von Vitamin E letztendlich noch unbekannt. Bei Menschen mit oxidativem Stress wird das Vitamin E im Plasma besonders schnell abgebaut. Speziell fand sich bei Rauchern durch ihren starken oxidativen Stress ein schnellerer Abbau des Plasma-Vitamin-E. War bei diesen Menschen auch das Plasma-Vitamin-C niedrig, wurde das Vitamin E noch schneller abgebaut. Bei mit Vitamin C supplementierten Rauchern normalisierte sich die Plasma-Vitamin-E-Rate. Auch bei Langläufern (50 km) stieg die Vitamin-E-Abbaurate nach dem Lauf zusammen mit der F2-Isoprostane-Konzentration an. Durch Vitamin-E-Supplementation (400 IU) zusammen mit Vitamin-C-Supplementation (1000 mg) täglich sechs Wochen vor dem Lauf normalisierten sich die F2-Isoprostan-Werte, nicht aber die Entzündungsparameter („but not markers of inflammation“). Nimmt man diese beiden Beobachtungen zusammen, muss man annehmen, dass Vitamin E antioxidative Eigenschaften hat, speziell „as a lipid soluble antioxidant preventing the propagation of lipid peroxidation und that inadequate levels would led to greater oxidative stress and its sequelse, such as heart disease”. Vitamin-ESupplementation hätte somit einen Benefit, zwar nicht in der Behandlung, aber in der Prävention von Herzerkrankungen. In der Women´s Health Study wurde bei 40.000 Frauen über 45 Jahren zehn Jahre lang 600 IU Vitamin E jeden zweiten Tag randomisiert mit Placebo plus Aspirin sowie mit Placebo alleine verglichen. Es fand sich eine signifikante Reduktion der kardiovaskulären Mortalität immerhin um 24 Prozent verglichen mit Placebo, jedoch kein Effekt auf die Gesamtmortalität. Die Schlaganfallrate sank nicht. Als Nebenwirkung war lediglich ein Anstieg von Nasenbluten zu beobachten. Die Autoren der Studie betonen, dass Vitamin E keinen allgemeinen Benefit („overall benefit“) und dass es keinen Sinn habe, Vitamin-E-Supplementation als Prävention gegen kardiovaskuläre Erkrankungen bei gesunden Frauen durchzuführen. Vitamin E findet sich in Sonnenblumenkernen, Olivenöl und Mandeln. Andere Ernährungsbestandteile: Fischöl zeigte eine signifikante Reduktion bei der Gesamtsterblichkeit, bei kardiovaskulärer Mortalität und bei plötzlichem Herztod. Zusätzlich ist eine ausreichende Versorgung mit Vitamin E erforderlich, da Fischöl einen hohen Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren enthält, die durch Viamin E vor einer vorzeitigen Oxidation geschützt werden müssen. Homozysteinämie ist mit erhöhter kardiovaskulärer Mortalität assoziiert. Ob die Behandlung mit Folsäure nur die erhöhten Werte senkt oder auch mit einer Senkung der kardiovaskulären Mortalität einhergeht, ist weiterhin unklar bis zur Auswertung derzeit laufender Studien. Zusammenfassung Herzerkrankungen Herzerkrankungen sind ein sehr komplexes Krankheitsbild. Da verwundert es nicht, dass bisher kein einfaches Rezept zur Prävention gefunden wurde. Ernährung und Lebensstil müssen sehr dramatisch verändert werden, um Herzgesundheit zu erreichen. Studien, wie diese Änderungen und wie die Beibehaltung solcher Änderungen erreicht werden können, müssen dringend durchgeführt werden. Obwohl es Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite 15 möglich ist, dass ein oder zwei Mittel entdeckt werden, die einen Benefit haben mögen, sollte auch klar bekannt sein, welche Nebenwirkungen dabei vorkommen und wo diese gefährlich werden können. Degenerative Erkrankungen Unter „Makronutrients“ werden Eiweiß, Kohlehydrate und Fette verstanden, unter „Mikronutrients“ werden etwa 40 essentielle Mineralien, Vitamine, besondere Fettsäuren und essentielle Aminosäuren, verstanden. Die Ernährungsdiskussion dreht sich im Allgemeinen um Diäten mit Makronutrients, hier wird in den industrialisierten Ländern zuviel an kostengünstigen Kohlehydraten und Fetten, die wenig Mikronutrients enthalten, konsumiert. Bei Übergewichtigen in den industrialisierten Ländern ist eine Malnutrition mit Mikronutrients die Regel. Mangel an diesen Stoffen kann in verschiedenen Schweregraden zu metabolischen Störungen führen, was wiederum die verschiedenen chronisch-degenerativen Erkrankungen nach sich ziehen kann. Besonders vom dritten Schwangerschaftsdrittel bis zum zweiten Lebensjahr, während Milliarden von Neuronen myelinisiert und verknüpft werden mit intensivem energiereichen Stoffwechsel, ist eine überreichliche Versorgung mit Mikronutrients (besonders Eisen, Omega-3-Fettsäuren, Cholin) erforderlich. Mangelversorgung in dieser Zeit kann späterhin in der mentalen Entwicklung eine kognitive Dysfunktion hinterlassen. Zellmembranen benötigen einen energiereichen mitochondrialen Stoffwechsel, damit es nicht zu Zellverfall und -untergang kommt. Die Hauptursache des Alterns liegt hier im mitochondrialen Verfall. Dieser führt zu Abnahme des Membranpotentials, des zellulären Sauerstoffverbrauchs, zu oxidativem Stress durch Zunahme von Oxidantien und dadurch zu Schäden an DNA und RNA, Eiweißen, Proteinen und Lipiden in den mitochondrialen Membranen in vielen Organen, besonders im Gehirn. Mangel an Mikronutrients beschleunigt diesen mitochondrialen Verfall. In den USA ist solcher Mangel weit verbreitet mit Zufuhr von weniger als der Hälfte des Bedarfs: So findet sich z.B. Eisenmangel bei einem Viertel der menstruierenden Frauen, Zinkmangel bei einem Zehntel der Bevölkerung, Biotinmangel bei 40 Prozent der Schwangeren, Mangnesiummangel bei der Hälfte der Bevölkerung (besonders bei der armen Bevölkerung). Alles dies kann zu DNA-Schäden führen. In den USA haben 20 Jahre Bemühungen um eine bessere Ernährung kaum Veränderungen hierin gebracht. Es fehlt an den in den verschiedenen Altersstufen unterschiedlich notwendigen Bestandteilen von Mikronutrients wie Mineralien, faserhaltige Kost, docosahexaenoic acid (DHE) aus Fischöl, Folsäure. Deswegen erscheint es einigen Autoren als sinnvoll, Mikronutrients als Pille zu empfehlen. Allerdings haben einige Stoffe bei Überdosierungen toxische Effekte: z.B. Eisen, Zink, Kupfer und Selen, einige Vitamine wie z.B. Vitamin A. Dabei müssen die Dosierungen beachtet werden. Zusätzlich sollte eine sinnvolle und nicht einseitige Ernährung vorgenommen werden. Knochengesundheit Da Knochengesundheit mit der Zufuhr von Kalzium und Vitamin D beeinflusst werden kann, wurden in Studien die hierfür erforderlichen empfohlenen Dosen erarbeitet. Dabei war durch die schlechte Compliance die Aussage allerdings am Ende nicht sehr stabil. Der obligatorische Kalziumverlust eines Erwachsenen beträgt 200 mg/d hauptsächlich über Niere und Haut, diesen gilt es zu ersetzen. Da die hormongesteuerte (PTH, Östrogene) Absorption diesen Wert nicht immer erreicht, muss zum Schutz vor Frakturen durch Zufuhr von 1000 – 1500 mg Kalzium/d und 400 bis 800 IU/d Vitamin D (im Alter von 50 – 70 Jahren) die Kalziumresorption verbessert werden. Bei Mangelzuständen ist ein Ausgleich sinnvoll Seite 16 KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Multivitamin-/Multimineral-Produkte bei chronischen Erkrankungen Multivitamin-/Multimineral-Produkte, definiert als Produkte mit drei oder mehr Vitaminen und/oder Mineralien ohne pflanzliche Stoffe, Hormone oder Medikamentenzusatz jeweils dosiert unterhalb der Höchstgrenze (bestimmt durch das Foodand-Nutrition Board der USA), wurden in ihrer Wirkung auf folgende chronische Krankheiten untersucht: 1 Brustkrebs, kolorektalen Krebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Magenkrebs oder andersartige Malignombildung, 2 Herzinfarkt, Schlaganfall, 3 Typ-2-Diabetes, 4 Morbus Parkinson, Demenz, 5 Katarakt, Makuladegeneration, Hörverlust, 6 Osteoporose, Osteopenie, rheumatoide Arthritis, Osteoarthritis, 7 nichtalkoholische Fettleberhepatitis, 8 chronische Niereninsuffizienz, chronische Nierensteinbildung und 9 HIV-Infektion, Hepatitis C, Tuberkulose. Dabei wurden gründliche Recherchen in EMBASE, MEDLINE und der COCHRANE Database mit sorgfältig überprüften Daten zur Vergleichbarkeit, zur Studienqualität, zum Studiendesign und zur Aussagekräftigkeit vorgenommen. Ausgeschlossen waren Studien, die folgende Kriterien enthielten: 1 nicht in Englisch veröffentlicht, 2 keine humanen Daten enthalten, 3 nur schwangere Frauen untersucht, 4 nur Kinder untersucht, 5 nur bis unter 18-Jährige untersucht, 6 nur Patienten mit chronischen Krankheiten untersucht, 7 nur Patienten mit Behandlung chronischer Leiden oder solche, die in Langzeiteinrichtungen leben, untersucht, 8 nur Ernährungsdefizite untersucht, 9 Untersuchungen, die Nahrungszusätze nicht getrennt zur Ernährung beschrieben, 10 Untersuchungen ohne definierten Endpunkt, 11 Berichte, die aus einem Editorial, Kommentar oder Brief bestanden. Diese ausführliche Recherche identifizierte die in der Tabelle 1 stehenden Studien, die sich mit der primärpräventiven Wirksamkeit von Multivitamin-/Multimineral-Supplementen auf Krebs, kardiovaskuläre Krankheiten, Katarakt und altersbezogene Makuladegeneration beschäftigten. Daten zu anderen Krankheiten fehlten. Die Studien waren von guter Qualität: randomisiert, doppelt verblindet, mit gesichertem Endpunkt, stabiler Einnahmetreue und mit einer Intention-to-treatBetrachtung in der statistischen Analyse. Tabelle 1: Brauchbare Studien zur Wirkung von Multivitamin/Multimineral-Produkten 1 Linxian General Population Trial in China, 2 Supplementation en Vitamines et Mineraux Antioxidants (SU.VI.MAX) Studie in Frankreich, 3 Multi-Center Ophthalmic and Nutritional EyeRelated Macular Degeneration Study in den USA, 4. Roche European American Kataract Trial (REACT) in the United States und the United Kingdom, 5. Aged-Related Eye Disease Study (ARED) in den USA. Die Ergebnisse zu Krebs und kardiovaskulärem Outcome kamen aus der Linxian General Population Studie und der SU.VI.MAX Studie. Es fand sich eine grenzwertig signifikante Reduktion der Magenkrebshäufigkeit, Magenkrebssterblichkeit und Krebssterblichkeit bei Personen mit täglicher Supplementation von Beta-Karotenen, Vitamin E und Selen in Dosen des 1- bis 2-fachen der USAEmpfehlung zur fünfjährigen Dauereinnahme. Jedoch ergaben sich keine signifikanten Effekte auf die gesamte Krebshäufigkeit und die cerebrovaskuläre Sterblichkeit. Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite 17 Die SU.VI.MAX Studie dokumentierte ein reduziertes Krebsrisiko bei täglicher Supplementation von 120 mg Vitamin C, 30 mg Vitamin E, 6 mg Beta-Karotene, 100 mg Selen, 20 mg Zink verglichen mit Placebo über 7,5 Jahre bei Männern, aber nicht bei Frauen. Bei Männern fand sich ein reduziertes Prostatakarzinomrisiko mit normalem PSA, aber kein signifikanter Effekt auf die Inzidenz ischämischer kardiovaskulärer Erkrankungen. Die Einnahme von Multivitamin-/Multimineral-Supplementen hatte nach drei bis sechs Jahren keinen Effekt auf die Verhinderung von Katarakt. Die Kombination 80 mg Zinkoxyd mit 2 mg Kupferoxyd und Antioxidantien (500 mg Vitamin C, 400 IU Vitamin E, 15 mg Beta-Karotene) in 5- bis 15-facher Dosierung der USA-Empfehlung zur Dauereinnahme hatte bei der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) nur bei der intermediären AMD auf einem oder beiden Augen oder bei vorangeschrittener AMD auf einem Auge einen Benefit. Die Gesamtsterblichkeit fand sich in der LINXIAN General Population Studie bei der Einnahme von Beta-Karotenen, Selen und Vitamin E vermindert. In der ARED-Studie war die Gesamtsterblichkeit weder höher noch niedriger bei Einnahme von Antioxidantien alleine oder in Kombination mit Zink verglichen mit Placebo. In der SU.VI.MAXStudie fand sich für das relative Risiko der Gesamtsterblichkeit bei der Einnahme von Antioxidantien und Zink verglichen mit Plazebo ein Geschlechtsunterschied (Männer: RR 0,63; 95 % CI 0,42 bis 0,93, Frauen: RR 1,03; 95 % CI 0,64 bis 1,63). Zusammenfassung Multivitamin-/Multimineral-Produkte Die begrenzte Evidenz („limited evidence“) suggeriert einen gewissen Benefit von Multivitamin-/Multimineral-Supplementen in der Krebsprävention bei Menschen mit schlechter Ernährung oder Diät mit wenig Obst und Gemüse. Die Heterogenität der Studienpopulationen begrenzt die Anwendung dieser Aussagen auf die USamerikanische (und deutsche) Bevölkerung. Multivitamin-/Multimineral-Supplementation erbringt keinen signifikanten Benefit in der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen und des Kataraktes. Patienten mit hohem Risiko für vorangeschrittene AMD mögen von einer Kombination von Antioxidantien mit Zink profitieren. Die Gesamt-Evidenz für einen Benefit von Multivitamin-/Multimineral-Supplementen in der Prävention chronischer Erkrankungen ist sehr gering. Teil drei der Serie folgt im nächsten Heft zusammen mit einer Darstellung der Ergebnisse einer soeben in JAMA erschienenen kritischen Meta-Analyse zur Mortalität durch Supplementierung mit Antioxidantien [4]. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 National Institutes of Health, State-of-the-Science Conference Statement. Multivitamin/Mineral Supplements and Chronic Disease Prevention, May 15-17, 2006 http://consensus.nih.gov/news/pr/may2006/od-17.htm und http://consensus.nih.gov/2006/2006MultivitaminMineralSOS028html.htm 2 WHO. A model for establishing upper levels of intake for nutrients and related substances. Report of a Joint FAO/WHO Technical Workshop an Nutrient Risk. Assessment. 2005 http://www.food.gov.uk/multimedia/pdfs/vitmin2003.pdf. Accessed April 6, 2006 3 Steinberg D, Parthasarathy S, Carew TE, Khoo JC, Witztum JL: Beyond cholesterol. Modifications of low-density lipoprotein that increase is atherogenicity. N Engl J Med. 1989; 320: 915-924 4 Bjelakovic G, Nikolova D, Gluud LL, Simonetti RG, Gluud C: Mortality in Randomized Trials of Antioxidant Supplements for Primary and Secondary Prevention. Systemic Review and Meta-analysis. JAMA. 2007 Feb 28; 297: 842-857 Zweifelhafter Nutzen bei Krebsprävention, möglicher Erfolg bei Makuladegeneration KVH • aktuell Seite 18 Der Gastbeitrag Nr. 2 / 2007 Neuer Standard NAPROXEN plus ASS sicherer als Cox-2-Hemmer und andere NSAR Für die Cox-2-Hemmer Rofecoxib (VIOXX®, außer Handel), Celecoxib (CELEBREX®) und Valdecoxib (BEXTRA®, außer Handel) und Parecoxib (DYNASTAT®) ist in mehreren randomisierten placebokontrollierten Studien ein erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Komplikationen wie Herzinfarkt nachgewiesen worden (a-t 2005; 36: 256). [1-4] Auch bei Etoricoxib (ARCOXIA®) sprechen die bei der FDA zur Zulassung eingereichten Studien für ein kardiovaskuläres Schädigungspotenzial (a-t 2005; 36: 22). [5] Die Kardiotoxizität dieser Mittel ist biologisch plausibel. Sie ist mit ihrem Wirkmechanismus, der Unterdrückung des endothelialen Prostazyklins durch Hemmung der Cox 2, vereinbar (siehe Kasten auf der gegenüberliegenden Seite). Es dürfte sich um einen Klasseneffekt handeln. Eine offene Frage ist jedoch, ob herkömmliche NSAR ebenfalls in diese Klasse gehören, und wenn ja, welche. Kardiovaskuläres Risiko von Naproxen liegt auf Placebo-Niveau NICHTSTEROIDALE ANTIRHEUMATIKA: Die Datenlage zum kardiovaskulären Risiko unter herkömmlichen nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) ist weniger gesichert. Valide ausreichend große placebokontrollierte Studien fehlen. Nach einer Mitte 2006 veröffentlichten Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien von mindestens vierwöchiger Dauer scheint hochdosiertes Diclofenac (VOLTAREN® u.a., 100-150 mg/Tag), das im Hinblick auf die in vitro gemessene Cox-2-Selektivität den Cox-2-Hemmern ähnlich ist, das kardiovaskuläre Risiko (einen kombinierten Endpunkt aus Herzinfarkt, Schlaganfall oder Gefäß-bedingtem Tod) gegenüber Placebo ebenfalls zu steigern (relatives Risiko [RR] 1,63; 95 % Vertrauensbereich [CI] 1,12-2,37). Eine nicht signifikante Erhöhung ergibt sich unter hochdosiertem Ibuprofen (IBUHEXAL® u.a., 2.400 mg/Tag, RR 1,51; 95 % CI 0,96-2,37). Hochdosiertes Naproxen (PROXEN u.a., 1.000 mg/Tag) unterscheidet sich nach dieser Metaanalyse dagegen nicht von Placebo (RR 0,92; 95 % CI 0,67-1,26). Wegen der unzureichenden Datenbasis aus direkten placebokontrollierten Studien mit NSAR fließen in diese Auswertungen allerdings auch indirekte Vergleiche ein, das heißt, aus dem Vergleich beispielsweise von Diclofenac mit einem Cox-2-Hemmer und von letzterem wiederum mit Placebo wird auf das Verhältnis von Diclofenac zu Placebo geschlossen. [6] Diese Daten der Metaanalyse sind daher mit Vorsicht zu interpretieren. Zu ähnlicher Risikoeinschätzung kommt aber auch eine wenig später publizierte systematische Übersicht von Fallkontroll- und Kohortenstudien. Das relative Risiko von Herzinfarkten und anderen kardiovaskulären Komplikationen beträgt im Vergleich zu Nicht- oder früherem Gebrauch von NSAR unter Diclofenac 1,40 (95 % CI 1,16-1,70), Ibuprofen 1,07 (95 % CI 0,97-1,18), Indometazin 1,30 (95 % CI 1,07-1,60) und Naproxen 0,97 (95 % CI 0,87-1,07). [7] Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass vor dem Hintergrund einer häufigen Erkrankung wie dem Myokardinfarkt eine Risikosteigerung um 40 Prozent, wie sie für Diclofenac beschrieben wird, von den möglicherweise durch Bias bedingten Effekten in Beobachtungsstudien nicht sicher zu unterscheiden ist. Nach der zitierten Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien kommt es unter der Gruppe der Cox-2-Hemmer, darunter auch das im Januar neu eingeführte Lumiracoxib (PREXIGE)*, im Vergleich zu Naproxen signifikant häufiger zu * Bei Lumiracoxib besteht nach dem derzeitigen Stand unserer Recherche (Anm. der KVH-aktuell-Redaktion: Recherche des arznei-telegramm) Unklarheit im Hinblick auf eine wirksame Dosis. [24] ** ADAPT = Alzheimer‘s Desease Anti-Inflammatory Prevention Trial; APC = Adenoma Prevention with Celecoxib; EDGE = Etoricoxib Diclofenac Gastrointestinal Evaluation; MEDAL = Multinational Etoricoxib and Diclofenac Arthritis Long-term Programme; VIGOR = Vioxx Gastrointestinal Outcome Research Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite 19 Herzinfarkten (RR 2,04; 95% CI 1,41-2,96) und kardiovaskulären Komplikationen insgesamt (RR 1,57; 95% CI 1,21-2,03). Ibuprofen und Diclofenac sowie andere NSAR unterscheiden sich dagegen nicht von den Coxiben. [6] Naproxen scheint daher beim derzeitigen Kenntnisstand im Hinblick auf kardiovaskuläre Risiken unter den NSAR die sicherste Wahl zu sein. Im Widerspruch dazu stehen die Daten der jetzt veröffentlichten ALZHEIMERPräventionsstudie ADAPT** mit Celecoxib (zweimal 200 mg/Tag) und Naproxen (zweimal 220 mg/Tag) im Vergleich zu Placebo bei 2.528 älteren Menschen, in deren Verwandtschaft M. ALZHEIMER aufgetreten ist. Diese Studie wurde nach Bekanntwerden des erhöhten kardiovaskulären Risikos unter Celecoxib in der APC**Studie2 (a-t 2005; 36: 15-16) vorzeitig gestoppt, ohne dass die Studiendaten selbst dies erfordert hätten. Ein nachträglich gebildeter Kombinationsendpunkt aus Cox-2-Hypothese und Kardiotoxizität Die Cyclooxigenase (Cox), die die Umwandlung der Arachidonsäure zu biologisch aktiven Prostaglandinen und Thromboxan A2 katalysiert, liegt in zwei Isoformen vor: Cox 1 und 2. Selektive Cox-2-Hemmer wurden unter der vereinfachten Vorstellung entwickelt und vermarktet, dass die erwünschten Effekte der herkömmlichen nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) auf Hemmung der Cox 2 beruhen, die bei Schmerz und Entzündungen neu gebildet wird, ihre Störwirkungen aber auf Hemmung der Cox 1, die in vielen Geweben ständig vorhanden ist und physiologische Prozesse wie den Schutz der Magenschleimhaut reguliert. Inzwischen weiß man, dass die Cox 2 nicht nur bei der Heilung von Schleimhautentzündungen und Ulzera ebenfalls eine Rolle spielt, die Enzymvariante ist auch die wichtigste Quelle des vaskulären Prostazyklins, ein endogener Thrombozytenaggregationshemmer, der außerdem vasodilatatorisch und antiatherogen wirkt. Das in plazebokontrollierten Studien in Verbindung mit drei strukturell unterschiedlichen selektiven Cox-2-Hemmern dokumentierte erhöhte Risiko von Herzinfarkten oder Schlaganfällen ist derzeit am besten mit ihrem Wirkmechanismus, der Hemmung der Cox-2-abhängigen Prostazyklinsynthese, zu erklären. [19,20] Die kardioprotektiven Effekte von ASS werden andererseits auf die irreversible Hemmung der Cox 1 und damit der Synthese von Thromboxan A2 in Thrombozyten zurückgeführt. Thromboxan A2 wird von Blutplättchen auf verschiedene Stimuli hin synthetisiert und freigesetzt und induziert eine irreversible Aggregation der Thrombozyten, ist ein potenter Vasokonstriktor, führt zur Proliferation von glatten Muskelzellen der Gefäße und wirkt proatherogen. Auf die Prostazyklin-abhängigen kardioprotektiven vaskulären Funktionen hat ASS in niedriger Dosierung dagegen keinen messbaren Einfluss. [20] Die herkömmlichen NSAR sind im Hinblick auf den Grad ihrer Cox-2-Selektivität – wie die Cox-2Hemmer selbst auch – eine heterogene Gruppe. Diclofenac und Meloxicam (MOBEC u.a.) beispielsweise scheinen nach In-vitro-Tests ähnlich selektiv zu sein wie Celecoxib. [19] Bei den nicht selektiven NSAR wie Ibuprofen und Naproxen könnte die gleichzeitige Hemmung der Cox 1 die durch Cox-2Hemmung induzierte kardiovaskuläre Gefährdung abschwächen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Hemmung der Prostazyklin-abhängigen vaskulären Funktionen nach experimentellen Daten eher linear mit der Dosis zunimmt, während die Thromboxan-A2-abhängige Plättchenaktivierung erst dann gehemmt wird, wenn mehr als 95 Prozent der Cox 1 blockiert sind. [19] Dies wird unter den nicht selektiven NSAR, deren Cox-1-hemmende Wirkung im Unterschied zur ASS reversibel ist, insbesondere bei kurzwirksamen Stoffen wie Ibuprofen allenfalls während eines Teils des Dosisintervalls erreicht. [19,21,22] Nicht selektive NSAR wie Ibuprofen blockieren jedoch möglicherweise die irreversible Hemmung der Thrombozytenaggregation durch ASS (a-t 2002; 33: 22). Dies scheint nach einer kleinen experimentellen Studie mit neun gesunden Freiwilligen auch für Naproxen zu gelten. [23] In hoher Dosierung von zweimal 500 mg pro Tag regelmäßig eingenommen, scheint jedoch die reversible Hemmung der Cox 1 durch das lang wirkende Naproxen selbst zumindest bei einem Teil der Patienten bis zum Ende des Dosisintervalls auszureichen, um die Thrombozytenfunktion zu hemmen. [19,23] Literaturangaben am Ende des Hauptbeitrags. Seite 20 KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 kardiovaskulär bedingtem Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) ist unter niedrig dosiertem Naproxen im Vergleich zu Placebo marginal signifikant erhöht (RR 1,63; 95% CI 1,04-2,55; p = 0,03). Unter Celecoxib ist das Risiko zumindest numerisch ebenfalls erhöht (RR 1,10; 95% CI 0,67-1,79). [8] Insbesondere wegen des studienintern nicht begründeten vorzeitigen Abbruchs sind diese Daten als wenig aussagefähig zu werten. Die Wahrscheinlichkeit, dass marginal signifikante Unterschiede im Frühstadium einer Studie bei Studienende Bestand haben, ist gering (a-t 2005; 36: 107-8). [10,11] Es handelt sich bei den Ergebnissen zudem nicht um Endpunkte, sondern um Störwirkungsberichte, die mit Ausnahme der tödlich verlaufenden Komplikationen keiner Adjustierung unterzogen wurden. [8] Ein Beratergremium der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA hat Anfang 2005 auf der Basis der insgesamt verfügbaren Daten zu Naproxen einschließlich der auf der Konferenz ebenfalls vorgestellten ADAPT-Studie empfohlen, als bevorzugtes Vergleichspräparat in zukünftigen verumkontrollierten Studien zur Sicherheit von Cox-2-Hemmern Naproxen zu verwenden. [12] ETORICOXIB VERSUS DICLOFENAC: Seit November 2006 liegt mit der vom Etoricoxib-Anbieter Merck & Co. (MSD) gesponserten MEDAL**-Studie [13] erstmals der Vergleich eines Cox-2-Hemmers mit einem traditionellen NSAR vor, der primär auf die kardiovaskuläre Sicherheit angelegt ist. Es handelt sich um eine gemeinsame Auswertung von drei randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt 34.701 Patienten, die entweder Etoricoxib oder Diclofenac einnehmen. Zwei der Teilstudien (EDGE** und EDGE II) sollten ursprünglich primär prüfen, ob Etoricoxib Magen-Darm-verträglicher ist als Diclofenac. Die dritte Studie (MEDAL) und die gleichnamige prospektiv geplante gemeinsame Auswertung sind primär auf die Frage der kardiovaskulären Toxizität angelegt. [14,15] Die Hypothese der gepoolten Analyse ist, dass Etoricoxib dem Diclofenac hinsichtlich Kardiotoxizität nicht unterlegen ist. [13] Die Grenze, die für die Akzeptanz der Nichtunterlegenheit nicht überschritten werden darf, ist mit einer Risikosteigerung von 30 Prozent jedoch relativ weit. [16] Mehr als zwei Drittel der Studienteilnehmer leiden an Arthrose, die übrigen an rheumatoider Arthritis. Die Patienten sind durchschnittlich 63 Jahre alt, bei 11 Prozent ist ein Diabetes bekannt, bei 12 Prozent eine atherosklerotische Erkrankung. 35 Prozent nehmen niedrig dosierte Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) ein. Für Patienten mit hohem Risiko einer oberen gastrointestinalen Komplikation wird zusätzlich ein Protonenpumpenhemmer oder Misoprostol (als Import: CYTOTEC 200 Eurim Pharm u.a.) empfohlen. Etoricoxib wird in Tagesdosierungen von 60 mg bis 90 mg eingenommen, Diclofenac in der hierzulande zugelassenen Höchstdosis von 150 mg pro Tag. Mehr als 50 Prozent der Patienten brechen die Studie vorzeitig ab. Wie viele davon vollständig nachbeobachtet werden, bleibt unklar. Mindestens 16 Prozent gehen in der Nachbeobachtung verloren. [13] Die durchschnittliche Therapiedauer beträgt 18 Monate. Das Ziel, Nichtunterlegenheit von Etoricoxib nachzuweisen, wird erreicht: Laut PerProtokoll-Analyse erleiden unter dem Mittel pro Jahr 1,24 Prozent der Patienten eine thrombotische kardiovaskuläre Komplikation (Herzinfarkt, instabile Angina pectoris, intrakardialer Thrombus, Reanimation nach Herzstillstand, thrombotischer Schlaganfall, zerebrovaskuläre Thrombose, TIA, periphere arterielle oder venöse Thrombose, Lungenembolie, plötzlicher oder unerklärter Tod), unter Diclofenac sind es 1,3 Prozent (Hazard Ratio [HR] 0,95; 95% CI 0,81-1,11). Bei Intention-totreat-Analyse sind 1,25 Prozent bzw. 1,19 Prozent betroffen (HR 1,05; 95% CI 0,93-1,19). [13] Der Cox-2-Hemmer wird häufiger wegen Hypertonie abgesetzt (Differenz je Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Seite 21 nach Dosis 0,6 bis 1,6 Prozent), die höhere Dosis auch häufiger wegen Ödemen (Differenz 0,2 bis 1,1 Prozent), Krankenhauseinweisungen wegen Herzinsuffizienz nehmen unter der höheren Dosis ebenfalls zu (Differenz bis 0,4 Prozent). Diclofenac wird andererseits häufiger wegen gastrointestinaler (Differenz 1,6 bis 3,2 Prozent) und hepatischer (Differenz 1,2 bis 4,7 Prozent) Unverträglichkeit abgesetzt. [13] Klinisch auffällige obere gastrointestinale Ereignisse wie Ulzera kommen unter Etoricoxib seltener vor als unter Diclofenac (0,67 vs. 0,97 Prozent pro Jahr). Ulkuskomplikationen (signifikante Blutungen, Perforationen oder Obstruktionen) unterscheiden sich jedoch nicht (0,30 vs. 0,32 Prozent pro Jahr). Die Mortalität wird nur für den Zeitraum bis zwei Wochen nach Absetzen der Therapie angegeben (0,48 Prozent pro Jahr unter Etoricoxib vs. 0,50 Prozent pro Jahr unter Diclofenac). [13] Hierfür gibt es keine wissenschaftliche Begründung. [16] Bei einem potenziell atherogenen Therapieprinzip ist nicht auszuschließen, dass sich negative Konsequenzen auch noch längere Zeit nach Absetzen manifestieren. Wichtigste Kritik an der MEDAL-Studie auch von verschiedenen FDA-Beratern [16,17] ist das Vergleichspräparat. Etoricoxib hätte mit Naproxen, dem nach derzeitiger Kenntnis sichersten Mittel, verglichen werden müssen und nicht mit Diclofenac. Bei einer FDA-Anhörung räumt ein Merck & Co.-Sprecher ein, dass die Firma von einem Vergleich mit Naproxen eine erneute Bestätigung des Vorteils von Naproxen hinsichtlich kardiovaskulärer Komplikationen erwartet hätte. [15] In einem zornigen Editorial vergleicht ein FDA-Mitarbeiter die Strategie, die angebliche kardiovaskuläre Sicherheit von Etoricoxib durch Nichtunterlegenheitsvergleich mit Diclofenac nachweisen zu wollen, mit dem manipulativen Umgang der Firma mit Sicherheitsdaten zum Beispiel in der VIGOR**-Studie [9] (a-t 2001; 32: 87-8). [18] Die Strategie muss scheitern: Da die Sicherheit von Diclofenac selbst nicht erwiesen ist, es im Gegenteil Hinweise auf ein kardiotoxisches Potenzial gibt, kann die MEDAL-Studie die kardiovaskuläre Sicherheit von Etoricoxib nicht belegen. Die Studie unterstreicht eher Sicherheitsbedenken gegen Diclofenac. Erneut sind im randomisierten Vergleich unter Diclofenac kardiovaskuläre Komplikationen nicht seltener als unter einem Cox-2-Hemmer. Die MEDAL-Studie bestätigt zudem die bekannte Leberschädlichkeit von Diclofenac. Ein relevanter Vorteil von Etoricoxib, das mit einer gleich hohen Rate an Ulkuskomplikationen einhergeht wie Diclofenac, ist andererseits nicht belegt. Nachweise für einen Vorteil im Hinblick auf Ulkuskomplikationen in Studien wie MEDAL, in denen bei Hochrisikopatienten standardgemäß ein wirksamer Magenschutz vorgesehen ist, gibt es unseres Wissens auch für andere Cox-2-Hemmer nicht. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass diese Komplikationen, bei denen es sich meist um Blutungen handelt, zwar schwerwiegend sein können, mehrheitlich jedoch ohne Folgen abheilen. Für Herzinfarkte und Schlaganfälle gilt dies nicht. Fazit Für die Therapie mit selektiven Cox-2-Hemmern wie Celecoxib (CELEBREX) sehen wir weiterhin keine Begründung. Die Nachteile schwerwiegender kardiovaskulärer Komplikationen unter den Mitteln werden nicht durch valide nachgewiesene relevante Vorteile aufgewogen. Die langfristige Einnahme der auch von uns bislang positiv bewerteten traditionellen nichtsteroidalen Antirheumatika Diclofenac (VOLTAREN u.a.) und Ibuprofen (IBUHEXAL u.a.) in hohen Dosierungen scheint nach derzeitigem Kenntnisstand ebenfalls mit erhöhtem Risiko kardiovaskulärer Komplikationen einherzugehen, nicht dagegen von Naproxen (PROXEN u.a.), das im Hinblick auf das kardiotoxische Potenzial nach heutiger Datenlage das sicherste Mittel zu sein scheint. Wenn eine Dauertherapie mit NSAR gebraucht wird, ist daher unseres Erachtens beim derzeitigen Kenntnisstand Naproxen Mittel der Wahl. Studie kann Sicherheit von Etoricoxib nicht beweisen Seite 22 KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Risikopatienten sollten zusätzlich einen Magenschutz einnehmen. Mittel der Wahl ist Misoprostol (als Import: CYTOTEC 200 Eurim Pharm u.a.), bei Unverträglichkeit ein Protonenpumpenhemmer. Klinische Hinweise auf einen Nachteil der Kombination von Naproxen mit niedrig dosierter Azetylsalizylsäure (ASS; ASPIRIN u.a.) finden wir nicht. Bei Indikation für Dauertherapie mit NSAR und Low-dose-ASS sollten Naproxen und ASS kombiniert werden. Für die Kurzzeittherapie akuter Schmerzen über wenige Tage lässt sich aus den vorhandenen Daten ein Vorteil von Naproxen gegenüber Ibuprofen und Diclofenac nicht ableiten. Hier haben unseres Erachtens auch diese beiden traditionellen NSAR weiterhin eine Nischenindikation. Literatur: (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse) R 1 BRESALIER, R.S. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 352: 1092-102 R 2 BERTAGNOLLI, M.M. et al.: N. Engl. J. Med. 2006; 355: 873-84 R 3 OTT, E. et al.: J. Thorac. Cardiovasc. Surg. 2003; 125: 1481-92 R 4 NUSSMEIER, N.A. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 352: 1081-91 5 FDA: Briefing Package for NDA 21-389, Etoricoxib; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/05/briefing/2005-4090B1_31_AA-FDA-Tab-T.pdf M 6 KEARNEY, P.M. et al.: BMJ 2006; 332: 1302 M 7 McGETTIGAN, P., HENRY, D.: JAMA 2006; 296: 1633-44 R 8 ADAPT Research Group: PLoS Clin. Trials 2006, 17. Nov.; 1: E33 R 9 BOMBARDIER, C. et al.: N. Engl. J. Med. 2000; 343: 1520-8 10 PACKER, M.: Joint Meeting of the Arthritis Advisory Committee and the Drug Safety and Risk Management Advisory Committee, 18. Febr. 2005; Vol. III; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/05/transcripts/2005-4090T3.pdf M 11 MONTORI, V.M. et al.: JAMA 2005; 294: 2203-9 12 Advisory Committee Discussion of Questions: Joint Meeting of the Arthritis Advisory Committee and the Drug Safety and Risk Management Advisory Committee, 18. Febr. 2005; Vol. III; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ ac/05/transcripts/2005-4090T3.pdf R 13 CANNON, C.P. et al.: Lancet 2006; 368: 1771-81 14 CANNON, C.P. et al.: Am. Heart J. 2006; 152: 237-45 15 CURTIS, S.P.: Joint Meeting of the Arthritis Advisory Committee and the Drug Safety and Risk Management Advisory Committee 17. Febr. 2005; Vol. II; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/05/transcripts/2005-4090T2.pdf 16 FURBERG, C.D.: Am. Heart J. 2006; 152: 197-9 17 Joint Meeting of the Arthritis Advisory Committee and the Drug Safety and Risk Management Advisory Committee 18. Febr. 2005; Vol. III; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/05/transcripts/2005-4090T3.pdf 18 GRAHAM, D.J.: JAMA 2006; 296: 1653-6 19 GROSSER, T. et al.: J. Clin. Invest. 2006; 116: 4-15 20 PATRONO, C. et al.: N. Engl. J. Med. 2005; 353: 2373-83 21 RODRIGUEZ, L.A.G., PATRIGNANI, P.: Lancet 2006; 368: 1745-7 22 PATRONO, C. et al.: Chest 2004; 126: 234S-64S 23 CAPONE, M.L. et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2005; 45: 1295-301 24 VILLALBA, L.: Joint Meeting of the Arthritis Advisory Committee and the Drug Safety and Risk Management Advisory Committee 17. Febr. 2005; Vol. II; http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/05/transcripts/2005-4090T2.pdf Nachdruck dieses Beitrags aus dem arznei-telegramm Nr. 1/2007 sowie des folgenden Leserbriefes zu diesem Thema (aus arznei-telegramm Nr. 2/2007) mit freundlicher Genehmigung der A.T.I. Arzneimittelinformation Berlin GmbH Bergstraße 38A 2169 Berlin Fax: 030 / 79499229; www.arznei-telegramm.de KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Seite 23 Leserbrief: NAPROXEN und die Folgen für das Budget des Verordners ...Die ökonomischen Folgen dieses in a-t 2007; 38: 1-3 empfohlenen „Neuen Standards” für das Gesundheitswesen, aber auch für das Budget des Verordners, werden – ganz gegen den bisherigen Usus des a-t – weder mitgeteilt noch wird dazu Stellung genommen. Dr. med. W. SOMMER (Facharzt für Innere Medizin) D-14052 Berlin Interessenkonflikt: keiner Wird von Diclofenac auf Naproxen umgestellt, steigen die Kosten der Therapie mit einem nichtsteroidalen Antirheumatikum (NSAR) bei Verordnung der preisgünstigsten Generika auf mehr als das Doppelte. Für die Einnahme der maximalen Tagesdosierungen fallen pro Patient und Monat Mehrkosten von 11,76 Euro an (21,32 Euro für NAPROXEN AL statt 9,56 Euro für DICLOFENAC SANDOZ, s. Tabelle). Angesichts der Bedenken gegenüber Diclofenac (a-t 2007; 38: 1-3) lassen sich diese Mehrkosten unseres Erachtens vertreten. Sollte Naproxen in Zukunft häufiger verordnet werden, dürfte jedoch mit mehr Anbietern und einer Kostenentwicklung nach unten zu rechnen sein. Derzeit (2005) steht mit 60 Prozent der NSAR-Verordnungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen Diclofenac an erster Stelle, gefolgt von Ibuprofen (28 Prozent). Naproxen macht nur etwa ein Prozent der NSAR-Verordnungen aus. Einsparungen sind vor allem durch Verzicht auf Cox-2-Hemmer möglich: Celecoxib (CELEBREX®) und Etoricoxib (ARCOXIA®) kosten monatlich 78,28 Euro bzw. 45,77 Euro, also das Zwei- bzw. Dreieinhalbfache von Naproxen. Sie wurden 2005 zusammen mehr als viermal so häufig verordnet wie Naproxen. [1] NSAR IM KOSTENVERGLEICH (Preise in Euro) Naproxen Celecoxib NAPROXEN AL NAPROXEN GENERIC. DICLOF. SANDOZ SL DICLOF. S MED RET. IBU 800 1A PHARMA DOLGIT CELEBREX® Etoricoxib ARCOXIA® Lumiracoxib PREXIGE® Diclofenac Ibuprofen 100 Tbl. 50 Tbl. 100 Kps. 50 Tbl. 100 Tbl. 50 Tbl. 100 Kps. 30 Kps. 100 Tbl. 30 Tbl. 100 Tbl. OP 35,53 Mon.* 21,32 15,93 9,56 19,49 17,54 130,47 78,28 152,56 45,77 99,00 29,70 * Für täglich 1.000 mg Naproxen (Tbl. zu 500 mg), 150 mg Diclofenac (Tbl. zu 75 mg), 2.400 mg Ibuprofen (Tbl. zu 800 mg), 400 mg Celecoxib (Kps. zu 200 mg), 90 mg Etoricoxib (Tbl. zu 90 mg), 100 mg Lumiracoxib (Tbl. zu 100 mg). Literatur: 1 BÖGER, R.H., SCHMIDT, G.: in: SCHWABE, U., PAFFRATH, D. (Hrsg.): „Arzneiverordnungs-Report 2006”, Springer, Heidelberg 2007, S. 457-76 Seite 24 Beiträge der Redaktion KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Entlassungs-Medikation und Arztbrief: Ein immerwährendes Problem? Prof. Dr. med. Sebastian Harder und Dr. med. Joachim Fessler Bei einer stationären Einweisung ist die Kommunikation zwischen dem Einweiser und seinen Kollegen in der Klinik wichtig, aber nicht immer ohne Probleme. So manches Mal klagen die Kliniker über mangelnde Einweisungsinformationen zu Diagnose und bestehender Medikation; kehrt der Patient zurück, ärgert sich der Hausarzt im Gegenzug immer wieder mal über eine Entlassungsmedikation, die keinerlei Rücksicht auf sein Budget nimmt. Mit letzterem Problem haben sich diverse Untersuchungen beschäftigt. Der folgende Beitrag zeigt die dabei aufgefallenen typischen Probleme und analysiert die Probleme sowie die Lösungsmöglichkeiten. Der Arztbrief (Kurzarztbrief und Entlassungsbrief) ist weiterhin die Standardkommunikation zwischen Klinik und Hausarzt/-ärztin, auch im Hinblick auf die Entlassungsmedikation und Empfehlung zur Weiterbehandlung. Die Klinik erwartet dabei, dass der weiterbehandelnde Arzt die im Krankenhaus angesetzte (oder modifizierte) Therapie fortführt. Der Hausarzt erwartet andererseits, dass eine hausärztliche Therapie nicht unbegründet abgeändert wird. Die Auswahl von Präparaten und Wirkstoffen im Krankenhaus ist für Hausärzte/innen nicht immer transparent, besonders bei der Einführung neuer Therapieschemata oder der Verwendung von Analoga im Zuge von Klinikrabatten. Es wird vorausgesetzt, dass Hausärzte/-innen die Kenntnisse zu notwendigen Innovationen, weniger notwendigen Analoga sowie medizinisch statthaften, kostengünstigeren Alternativen haben und ihren Spielraum bei der Umsetzung der Entlassungsmedikation nutzen. Die Wahrnehmung dieses Spielraumes hängt unzweifelhaft auch von den Angaben zur Medikation und den seitens der Krankenhausärzte im Arztbrief sanktionierten Alternativen ab. Im Brief aus der Klinik werden oft keine Wirkstoffe genannt Das Format und die Qualität dieser Information war Gegenstand einer Befragung von Hausärzten [1]. In einem postalischen Survey wurden 536 Hausärzte/innen bezüglich der Information zur Medikation nach Entlassung der Patienten aus dem Krankenhaus befragt. Der Fragebogen (26 Einzelfragen) enthielt Fragen zur Bezeichnung der Entlassungsmedikation (Präparatenamen, Wirkstoffbezeichnung [INN]) im Kurzarztbrief und Entlassungsbrief, nach weiteren Angaben zur Fortführung der Medikation oder den Austauschmöglichkeiten, z.B. durch ein Generikum, und zur Bewertung von Verbesserungsvorschlägen hinsichtlich ihrer Eignung in der Praxis. Die Rücklaufquote lag bei 39 Prozent. 82 Prozent der Hausärzte/innen gaben an, dass im Kurzarztbrief immer bzw. häufig Präparate ohne Angabe der Wirkstoffbezeichnung genannt werden und zusätzliche Hinweise auf ein Generikum oder auf einen anderen Wirkstoff der gleichen Wirkstoffklasse fehlen. Auch für den Entlassungsbrief gaben 65 Prozent der Antwortenden an, dass häufig bis immer nur der Name des Präparates mitgeteilt wird, Hinweise auf ein Generikum oder auf einen Wirkstoff der gleichen Wirkstoffklasse erfolgen bei 41 Prozent im Entlassungsbrief und bei 18 Prozent im Kurzarztbrief. Nur 41 Prozent der Antwortenden gaben an, dass immer oder häufig Hinweise zur besonderen Anwendung und Überwachung der Medikation im Entlassungsbericht gegeben werden. Nach Angaben von 95 Prozent der Antwortenden wird die Gabe von neuen Medikamenten oder der Wechsel von Medikamenten im Arztbrief selten oder nie begründet, Patienten werden selten oder nie bei der Entlassung über Medikamentenwechsel oder Neuansetzung Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell informiert (88 Prozent). 97 Prozent der Antwortenden ersetzen eine Originalverschreibung des Krankenhauses häufig oder immer durch ein Generikum oder einen ähnlichen Stoff derselben Wirkstoffklasse (81 Prozent). 83 Prozent halten VorabInformationen, z.B. via Fax, für sinnvoll, 67 Prozent regelmäßige Treffen zwischen Krankenhausärzten und Hausärzten, 54 Prozent die Einrichtung einer Hotline zum Krankenhaus für Medikationsprobleme. Die Umfrage zeigte somit deutliche Defizite bei der Übermittlung der Informationen zur Entlassungsmedikation, welche den Handlungsspielraum von Hausärzten/innen bei der Therapieführung und Nutzung kostengünstigerer Alternativen einschränken. Seite 25 Defizite im Informationsfluss schränken Spielraum der Hausärzte ein Dass dies kein typisch deutsches Problem ist, zeigt eine aktuelle Metanalyse aus dem angelsächsischen Sprachraum, bei der Publikationen zur Qualität von Arztbriefen ausgewertet wurden [2]. Der Schwerpunkt lag hierbei auf der Gesamtschau des Arztbriefes und – systembedingt – weniger auf dem Medikationsproblem. Hinsichtlich der wichtigsten Inhalte fehlten in den Entlassungsberichten am häufigsten die noch ausstehenden Testresultate (65 Prozent), die Beratung von Patienten und Angehörigen (91 Prozent, range 90 bis 92 Prozent), diagnostische Testresultate (38 Prozent, range 33 bis 63 Prozent) und weitere Diagnosen (28 Prozent, range 7 bis 37 Prozent). Auch hier zeigt sich, dass die Befundübermittlung beim Wechsel vom Krankenhausarzt zum ambulant tätigen Arzt zu wünschen übrig lässt. Verbesserungsmöglichkeiten müssen sicher im Zusammenhang mit gegenwärtig aktuellen Umstrukturierungen im Bereich der integrierten Versorgung, der Einführung der sektorübergreifenden, elektronischen Patientenkarte und der DRGs gesehen werden. Besonders letztere sind bei Verkürzung einer stationären Liegedauer sensibel für die angemessene hausärztliche Weiterführung der Therapie. Es wäre vorstellbar, dass bei Vorliegen einer elektronischen Patientenakte ein Informationszugriff direkt durch den Hausarzt erfolgt. Eine weitere Verbesserungsmöglichkeit wäre die elektronische Abfassung des Kurzarztbriefes mit einem Modul, welches die Medikamentenbezeichnung (INNName, Generikaaustausch, ggf. wirkstoffähnliches Präparat und Äquivalenzdosen) sowie weitere therapierelevante Informationen (Titration, Anwendungsdauer) bei Eingabe des Präparatenamens und Verknüpfung mit den Diagnosen automatisch generiert. Diese könnte in Klinikdokumentationsprogramme integriert werden oder bestehende Klinikinformationssysteme nutzen. Interessant ist hierbei ein aktuelles Projekt des Instituts für Allgemeinmedizin der Heidelberger Universität (HEICARE), in dem zusammen mit der AOK und Hausärzten in Baden-Württemberg ein sektorübergreifendes Medikationsmanagement erfolgen soll. Medikamentenverschreibungen sollen zwischen Klinik- und Hausärzten besser abgestimmt werden. Hausarzt und Klinik nutzen dabei dasselbe Arzneimittelinformationssystem (AIDKlinik), der Patient erhält bei Entlassung ferner eine auf ihn abgestimmte Therapieinformation und der Hausarzt einen Arztbrief mit den gleichen Arzneimittelinfos, die er nach der Entlassung ausführlich mit seinem Patienten erörtern kann. Was bedeutet das alles nun für mich als Hausarzt? Der täglich Unmut mit den Arztbriefen aus dem Krankenhaus wird wohl noch lange fortbestehen! Eine Interpretation dieser Daten besagt, dass die Probleme in der Hausarztpraxis von den Kollegen im Krankenhaus nicht wahrgenommen werden. Wie sollten sie auch? Ein junger Kollege im Krankenhaus hat mehr als genug damit zu tun, diese für ihn neue Welt kennen zu lernen und mit den Alltagsproblemen im Krankenhaus zurechtzukommen. Das Schreiben von Arztbriefen ist dabei nur lästiges Beiwerk, bei dem man zusätzlich häufig von Ober- und Chefärzten alleine gelassen Bedeutung für unsere Praxis KVH • aktuell Seite 26 Der Niedergelassene ist Kunde der Klinik! Nr. 2 / 2007 wird. So schreibt man halt, was man für richtig hält, ohne Kenntnis der Realität „draußen“. Hat man dann nach vielen Monaten und Auseinandersetzungen mit Hausärzten langsam allmählich eine Art Kenntnis und Verständnis bekommen, ist man dann auch lange genug dabei, um keine Arztbriefe mehr schreiben zu müssen, die nächste Generation ist dran mit „learning by doing“ auf Neudeutsch. Dabei spielt dann auch das Medium keine Rolle, ob traditioneller Brief oder elektronische Karte. Wichtig ist, dass jede Seite die Sorgen und Nöte der anderen Seite kennt, sie ernst nimmt und sich darum kümmert. Und dies gilt in erster Linie für die, die dauerhaft miteinander kommunizieren, d.h. für Niedergelassene und Ober- bzw. Chefärzte. Nur wenn die ein Interesse an gelungener Kommunikation haben, kann es gelingen. Die Frage ist in Anbetracht der oben geschilderten Umfrageergebnisse also: Warum haben Ober- und Chefärzte kein Interesse an einer wirklichen, fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Hausärzten – trotz gegenteiliger Bekundungen? Ein Interesse kann man meines Erachtens nur haben, wenn man einen Nutzen hat. Welchen Nutzen haben also Krankenhausärzte von guter Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten? Neuerdings werden zunehmend Krankenhäuser von privaten Trägern geleitet. In diesen Häusern gilt die Philosophie, dass der niedergelassene Arzt ein Kunde ist, dessen Bedürfnisse zumindest bekannt sein sollten und berücksichtigt werden sollten. Somit wird auch krankenhausinternes Verhalten initiiert, dass dazu führt, dass der Brief als „Visitenkarte“ des Krankenhauses gesehen wird. Vielleicht sind solche Strukturen erforderlich, um uns Hausärzten bei der Medikation unserer Patienten mehr Unterstützung durch die Krankenhäuser zukommen zu lassen. Neben allen technischen Neuerungen ist entscheidend, dass ein gemeinsamer Wille entwickelt wird, zum Wohle der Patienten zusammenzuarbeiten. Der Weg dahin ist allerdings noch sehr weit. Doch nur wer anfängt, kommt weiter! In diesem Sinne ist den Kollegen aus Heidelberg viel Erfolg zu wünschen. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1 Roth-Isigkeit A, Harder S: Die Entlassungsmedikation im Arztbrief – eine explorative Befragung von Hausärzten. Med Klinik 2005 Feb 15;100(2): 87-93 2 Kripalani S, LeFevre F, Phillips CO, Williams MV, Basaviah P, Baker DW: Deficits in communication and information transfer between hospital-based and primary care physicians: implications for patient safety and continuity of care. JAMA. 2007 Feb 28; 297 (8): 831-41. Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Nicht kritiklos Dosisempfehlung des Herstellers übernehmen Über Schaden oder Nutzen von Digitalis entscheidet der Serumspiegel Kardiale (Arrhythmien) und gastrointestinale (Übelkeit, Erbrechen mit Exsiccose, Appetitlosigkeit) Symptome können Zeichen einer in jedem Lehrbuch erwähnten chronischen Digitalisintoxikation sein. Dennoch kommt es in der Praxis immer wieder zu Digitalisüberdosierungen. Eine 96-Jährige mit einem Körpergewicht von circa 40 kg und einer Therapie mit 0,07 mg Digitoxin/d musste nach fünf Monaten mit obigen Symptomen in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Dort wurde eine Digitoxinblutspiegel von 46μg/l festgestellt (ab 30 μg/l toxisch). Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes verstarb die Patientin nach drei Tagen. Der Hausarzt wurde wegen fahrlässiger Tötung rechtskräftig zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Der Fall ist den Akten einer Ärztekammer entnommen. Er gibt jedoch Anlass, generell über die Digitalis-Behandlung nachzudenken. Die Indikationen für eine Digitalisierung sind aufgrund neuerer Erkenntnisse und Verfahren zurückgegangen. Dies zeigt sich auch im Verordnungsverhalten: Die Statistiken zeigen einen generellen zweistelligen prozentualen Rückgang in 2004 und in den vorangegangenen Jahren [1], einen zweistelligen prozentualen Rückgang von Digoxin und einen einstelligen prozentualen Rückgang von Digitoxin in 2005 [2]. Je nach Art einer supraventrikulären Rhythmusstörung, aber auch nach nicht befriedigendem Erfolg anderer Threapiemöglichkeiten wie z.B. einer Kardioversion, oder auch nach individuellen Verträglichkeiten wie z.B. Multimorbidität, können Digitalisglykoside auch heute noch medizinisch sinnvoll eingesetzt werden [3, 4]. Dabei scheinen niedrige Serumspiegel zumindest bei Digoxin von Vorteil zu sein: In einer amerikanischen Studie hatten Männer mit Serumspiegel von 0,5 bis 0,8 ng/ml ein um 6,3 Prozent niedrigeres Mortalitätsrisiko als unter Placebotherapie, Konzentrationen von Digoxin über 1,2 ng/ml resultierten dagegen in einem um 11,8 Prozent höheren Mortalitätsrisiko [5]. Es ist also sicher nicht falsch, vor und während einer Behandlung mit Digitalis Folgendes zu berücksichtigen: 1 Genau überlegen, ob das Digitalis-Präparat im konkreten Einzelfall wirklich notwendig und sinnvoll ist. 2 Die Dosisempfehlung des Herstellers nicht kritiklos übernehmen, auch die Auswirkungen des hohen Lebensalters und eines eventuellen Untergewichts berücksichtigen. Wichtig zu wissen: Neben einer Dosierung von 0,07 mg/Tablette (Digimed, Digimerck minor, Digitoxin AWD) existiert noch eine 0,05 mg/ Tablette-Dosierung (Digimerck pico). In oben beschriebenen Sonderfall könnte allerdings auch die etwas niedrigere Dosierung von 0,05 mg zu den gleichen Symptomen geführt haben. 3 Vor allem im hohen Alter und bei Untergewicht sollte der Digitoxin-Blutspiegel gemessen werden. Gegebenenfalls sollte man Digitalispausen in Betracht ziehen. Literatur: 1 Schwabe, Paffrath: Arzneiverordnungsreport 2005, Springer Verlag Heidelberg 2006, S. 686 ff 2 Schwabe, Paffrath: Arzneiverordnungsreport 2006, Springer Verlag Heidelberg 2007, S. 678 ff 3 Lewalter, Nickenig: Pharmakotherapie der supraventrikulären Rhythmusstörung. Internist 2006; 47(1): 80 ff 4 Ertl, Angermann: Therapie der chronischen Linksherzinsuffizienz. Internist 2007; 48(1): 59 ff 5 Weiß: Niedrigere Digoxinspiegel wirken am besten. DMW 2003; 128(16): 850 zitiert nach JAMA 2003; 289: 871-878 Seite 27 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Seite 28 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 2 / 2007 Monoklonale Antikörper: Vorsicht, Infektionsrisiko In einer Übersichtsarbeit werden neben den unbestreitbaren Nutzen monoklonaler Antikörper deren infektiöse Komplikationen dargestellt. Alemtuzumab (MabCampath®): hohe Inzidenz bakterieller und mykotischer Infektionen bei immunsuppressiv vorbehandelten Malignom-Patienten, gleiche Infektionsrate wie andere Therapieregimen bei Organtransplantation. Basiliximab (Simulect®): keine erhöhte Infektionsrate im Vergleich zu anderen Therapieregimen bei Organtransplantation, jedoch inhomogene Datenlage. Rituximab (MabThera®): hohe Inzidenz infektiöser Komplikationen bei Kombinationstherapie bei CLL, in der Regel keine erhöhte Infektionsrate bei anderen B-Zell-Lymphomen und bei rheumatoider Arthritis. TNF-α-Antikörper (Adalimumab, Humira®; Etanercept, Enbrel®; Infliximab, Remicade®): deutlich erhöhtes Infektionsrisiko (insbesondere Mykobakterien) bei rheumatoider Arthritis und entzündlichen Darmerkrankungen. Anmerkung: Je wirksamer ein Medikament, desto höher auch seine Potenz UAW zu verursachen. Da alle monoklonalen Antikörper noch nicht allzu lange im Handel sind, ist das letzte Wort über ihr UAW-Risiko noch nicht gesprochen. Sorgfalt bei der Festlegung der täglichen Dosis und ebenso sorgfältige Indikationsstellung bei nicht akut lebensbedrohlichen Erkrankungen sind auch weiterhin zu empfehlen. Die grundsätzlich zu fordernde enge Kooperation zwischen Hausarzt und erstverordnendem Facharzt ist bei der Anwendung monoklonaler Antikörper von besonderer Bedeutung. Eine Information des Hausarztes in engem zeitlichem Abstand zur Verordnung kann für den Patienten lebenswichtig sein, denn unter einer Behandlung mit einem monklonalen Antikörper wird der Hausarzt Anzeichen einer Infektion ganz anders gewichten als bei anderen Patienten. Quelle: DMW 2006; 131: 2414 Kontrazeption mit Pflaster: Auch hier gibt es venöse Thromboembolien Die kanadische Arzneimittelüberwachungsbehörde warnt zusammen mit dem Hersteller vor einer erhöhten Gefahr venöser Thromboembolien bei der Anwendung von Evra® (Ethinylestradiol(EE)/Norelgestromin) im Vergleich zu oralen Kontrazeptiva, insbesondere bei Übergewichtigen (BMI> 30 kg/m2). Obwohl die entsprechenden Studienergebnisse mit einem Pflaster mit einem 25 Prozent höheren EE-Gehalt gefunden wurden, erachtet die Behörde beide Pflaster als bioäquivalent. Anmerkung: Behauptungen über eine bessere Verträglichkeit von Hormonpflastern im Vergleich zu oralen Kontrazeptiva scheinen eher Verkaufsargumente zu sein. Pharmakokinetische Untersuchungen haben ergeben, dass durch ein Hormonpflaster zwar geringere Spitzenwerte als bei oraler Gabe erreicht werden, die Gesamtexposition („Area under Curve“) jedoch vergleichbar ist. Zusätzlich ist die interindividuelle Schwankungsbreite bei Pflaster höher als bei Tabletten und auch intraindividuelle Resorptionsschwankungen (z.B. bei Fieber, Saunabesuchen) müssen bedacht werden. Auch bei dem implantierbaren Hormonstäbchen Implanon® könnten, neben fehlerhafter Implantation, Resorptionsunterschiede verantwortlich sein für die Anzahl ungewollter Schwangerschaften. Quelle: www.hc-sc.gc.ca Nr. 2 / 2007 KVH • aktuell Sind Sie auch schon drauf reingefallen? Patent läuft aus: Mit diesen Tricks sichert die Industrie ihre Gewinne In einer unabhängigen medizinischen Zeitschrift werden die Strategien der Industrie kommentiert, sobald der Ablauf des Patentschutzes eines ihrer Präparate droht: Änderung der Darreichungsform (z.B. schneller lösliche Pellettabletten wie bei Omeprazol-Präparaten (Antra Mups®) oder Retardierung der Darreichungsform eines kurz wirksamen Arzneistoffes wie Doxazosin (Cardular PP®)) Kombination mit einem anderen Arzneistoff, z.B. Zusatz von Vitamin D zu einem Bisphosphonat (Fosavance®) Razemat ersetzt durch ein Enantiomer z.B. Levocetirizin (Xusal®), Esomeprazol (Nexium mups®), Escitalopram (Cipralex®) Einsatz eines wirksamen Metaboliten oder eines Analogon z.B. Desloratadin (Aerius®), Pregabalin (Lyrica®) Die Autoren bemängeln das Fehlen direkter Vergleichsstudien zwischen den alten Präparaten und den „Neuentwicklungen“ und – wenn diese Studien vorhanden sind – das Fehlen klinisch relevanter Vorteile des neuen Präparates. Aufgrund des in der Regel höheren Preises der „Innovationen“ würden bestenfalls unnötige Kosten und schlimmsten Falles unnötige Therapieänderungen mit Präparaten mit eingeschränkten Sicherheitsdaten verursacht. Anmerkung: In einer anderen unabhängigen Zeitschrift wird von einem noch fraglicheren Fall berichtet: Angebote von Millionenzahlungen der beiden Hersteller des Originals an einen Generikahersteller, um ihn von der Markteinführung eines Clopidogrel-Generikums abzubringen. Aus dieser Problematik resultiert letztendlich auch die Bonus-Malus-Regelung. In diesen sieben Substanzgruppen wird unter mehreren Mee-too-Präparaten nach pharmakologischen Kriterien eine Substanz als Leitsubstanz ausgewählt und festgelegt, wie hoch der Verordnungsanteil sein soll. Quellen: Drug Ther.Bull. 2006; 44: 73, Arzneimittelbrief 2006, 40:79 Alle Texte in Sicherer verordnen von Dr. med. Günter Hopf. Interessenkonflikte: keine Seite 29 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Seite 30 Rezept des Monats Gesunde Patienten dringend gesucht Unten sehen Sie die Medikation für eine 67-jährige Patientin, die neben diversen chronischen internistischen Krankheiten auch wegen Coxarthrose und Gonarthrose behandelt wird. Interessant ist hier einmal ein Blick auf die ökonomische Seite der Medikation vor dem Hintergrund des begrenzten Ausgaben-Volumens. Wir haben deshalb der Medikation (links in der Tabelle) die Kosten und einige Anmerkungen (rechts) gegenübergestellt und am Ende die Quartalskosten errechnet: Stattliche 813,60 Euro im Quartal. In Hessen beispielsweise stehen einem Hausarzt pro Rentner und Quartal rund 130 Euro zur Verfügung, bei Mitgliedern und Familienmitgliedern ist es noch viel weniger. In anderen Regionen sieht der finanzielle Spielraum nicht viel anders aus. Deswegen wird man eine solche Verordnungsliste immer der kritischen Frage unterwerfen müssen: Ist das wirklich alles nötig? Braucht die Patientin beispielsweise neben dem ACE-Hemmer (Acerbon®) tatsächlich noch einen AT-II-Antagonisten (Micardis®)? Nun gibt es allerdings multimorbide Patienten, die in der Tat eine umfangreiche Polymedikation brauchen und bei denen jedes einzelne Medikament rational begründet ist. Der Arzt seinerseits braucht dann als Ausgleich dafür eine Reihe ziemlich gesunder Patienten, um mit seinen Verordnungskosten nicht in Nöte zu geraten. Arzneimittel Dosis Ibuprofen Acerbon (Lisinopril) Wirkstärke 400 mg 20 mg Bisoprolol 5 mg 1–0–1–½ 0,38 € Moxonidin 0,4 mg 1–0–½ 0,50 € Carmen (Lercanidipin) Torem (Torasemid) 10 mg 10 mg 1–0–½ 1x½ 0,31 € 0,13 € Euthyrox (Levothyroxin) Micardis Simvahexal Novonorm Esidrix Aldactone Pantozol Metformin Novalgin 100 ug 1x1 0,16 € 80 mg 30 2 mg 25 mg 50 mg 20 1000 1x1 1x½ 3x1 1x1 1x½ 2x1 2x1 4 x 40 1,07 € 0,21 € 1,48 € 0,20 € 0,21 € 1,77 € 0,26 € 1,14 € Summe Nr. 2 / 2007 4x1 2x1 Kosten / Tag 0,59 € 0,63 € Bemerkung Einsparung durch Generika von bis zu 37 Prozent; damit wird auch der Patient von der Zuzahlung befreit. Bisoprolol hat eine HWZ für eine Dosierung 1 x täglich. Die 5 mg Arzneiform ist für Bonus/Malus sehr ungünstig. 0,6 mg ist die Tageshöchstdosis. Liegt über dem Festbetrag. Einsparung durch Generika von bis zu 30 Prozent; damit wird auch der Patient von der Zuzahlung befreit. Einsparung durch Generika von lediglich drei Prozent. 9,04 € 813,60 € im Quartal Tischversion Seite Stabile Angina pectoris KVH • aktuell Nichtmedikamentöse Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen oder diese unterstützen Medikamentöse Therapie Absolute Priorität: Dringender ärztlicher Rat zur Aufgabe des Rauchens {A] Fettarme, antiatherogene Kost: mediterrane Kost {A} Gewichtsreduktion {B} Körperliche Belastung (mind. 30-45 Min. Bewegung 4-5mal pro Woche) {B}, Koronarsportgruppe Reduktion von psychosozialem Stress {C} Allgemeine Maßnahmen zur Reduktion der Risikofaktoren Hypertonie {A}, Diabetes {B} und Fettstoffwechselstörung {C} Ggf. unterstützende psychotherapeutische und/oder medikamentöse Maßnahmen bei Patienten mit Depression, fehlendem sozialen und emotionalen Rückhalt Grippeschutzimpfung {A} Invasive, interventionelle und operative Therapie nur in Abstimmung mit Kardiologen {C} Notfallplan für Angina pectoris-Anfall Der Hausarzt sollte dem Patienten und seinen Angehörigen einen Notfallplan (Inforezept) für den Angina pectoris-Anfall an die Hand geben. Wenn pektanginöse Beschwerden trotz Therapie mehr als 20 Minuten andauern oder wenn die Beschwerden plötzlich intensiver und in kürzeren Abständen auftreten, muss man an ein akutes Koronarsyndrom (= instabile Angina pectoris, akuter Myokardinfarkt) denken und den Patienten in Begleitung eines Notarztes stationär einweisen. Basistherapie: ASS 100 {A}, ggfs mit PPI; bei Unverträglichkeit Clopidogrel Kombination von ASS 100 und Clopidogrel: In den ersten 4-6 Wochen nach Implantation eines unbeschichteten Stents. Nach Implantation eines beschichteten Stents je nach Typ bis über 12 Monate (auch wenn dies bisher nicht durch Studien belegt ist), nach akutem Koronarsyndrom 3-12 Monate, bei anderen Indikationen besteht kein Vorteil der Kombination Basistherapie: Betablocker {A} Basistherapie: ACE-Hemmer (vor allem bei Herzinsuffizienz) {A} Medikamentöse Maßnahmen zur Reduktion der Risikofaktoren Hypertonie {A}, Diabetes {B} und Fettstoffwechselstörung (Statintherapie) {A} Bei Tachycardie und Betablocker-Unverträglichkeit: Diltiazem, Verapamil {A} Symptomatische Therapie: Nitrate (cave Nitrattoleranz), nichtretardierte Nitrate zur Anfallskupierung, retardierte zur Anfallsprophylaxe {A} Symptomatische Therapie: Molsidomin {B} Symptomatische Therapie: Langwirksame CaAntagonisten vom 1,4-Dihydropyridin-Typ {A} Notfallbehandlung durch den Hausarzt 1. Nitrospray verabreichen (nur wenn RR syst. > 90 mmHg) 2. falls keine Besserung: Notarzt bestellen und i.v.Zugang (Braunüle) legen 3. evtl. Schmerztherapie einleiten (z. B. 5 mg Morphinum hydrochloricum langsam i.v.), evtl. kombiniert mit Antiemetikum (z. B. 1 Amp. Metoclopramid, i.v.) und einem Sedativum (z. B. 5 mg Diazepam i.v.) 4. evtl. ASS i.v nach Absprache mit dem Notfallkrankenhaus. Für die Gabe dieses Medikamentes besteht kein Zeitfenster. Korrespondenzadresse Ausführliche Leitlinie im Internet Hausärztliche Leitlinie PMV forschungsgruppe Fax: 0221-478-6766 Email: pmv@uk-koeln.de http:\\www.pmvforschungsgruppe.de www.pmvforschungsgruppe.de > publikationen > leitlinien www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/ pdf/hessenkhk »Therapie der stabilen Angina pecotris« Tischversion 1.0 April 2007 info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689 Tischversion Stabile Angina pectoris und KHK Definition Die koronare Herzkrankheit ist die Manifestation der Atherosklerose an den Herzkranzarterien. Diese sind isoliert oder diffus befallen, der Verlauf ist unterschiedlich progredient. Das Krankheitsbild ist multifaktoriell bedingt. Die KHK ist in den Industrieländern die Haupttodesursache. Zur Abschätzung der Prognose (relative Wahrscheinlichkeit für Tod oder nicht-tödlichen Herzinfarkt innerhalb des nächsten Jahres) kann ein Score (s. Langfassung) herangezogen werden. Die Therapie beinhaltet nichtmedikamentöse und medikamentöse Maßnahmen. Sie sollen zum einen die Risikofaktoren beeinflussen, zum anderen die Symptome und die Prognose der KHK bessern. Allgemeine Maßnahmen Die nichtmedikamentösen Maßnahmen stellen die Basis der Behandlung zur Reduktion der Risikofaktoren dar. So verbessert regelmäßige angepasste körperliche Aktivität die Prognose (Training in Herzsportgruppen, s. MRFIT-Studie) {A}. Deutlich reduziert sich das Risiko für einen Herzinfarkt bei Aufgabe des Rauchens. {A} Mediterrane Kost senkt ebenfalls die koronare Sterblichkeit {A}. Beratung und Schulung des Patienten zu den die Prognose verschlechternden Risikofaktoren, die über Änderungen des Lebensstils beeinflusst werden können, sind ein wesentliches Element des Managements der KHK. Pharmakotherapie Die medikamentöse Therapie dient ... der Besserung der Prognose: ASS, Clopidogrel, Betablocker, Statine und begrenzt Diltiazem, ACEHemmer (bei Herzinsuffizienz). Bei Magenbeschwerden unter ASS wird empfohlen, ASS mit PPI zu kombinieren. der langfristigen Besserung der Symptomatik: Betablocker, retardierte Nitrate, Molsidomin, langwirksame Ca-Antagonisten vom 1,4-DihydropyridinTyp. Bei dieser symptomatischen Therapie muss die Notwendigkeit der Dauertherapie und auch der verabreichten Dosis regelmäßig überprüft werden. Bei der Nitrattherapie muss ein substanzfreies Intervall von mindestens acht Stunden innerhalb von 24 Stunden gewährleistet werden, um eine evtl. Toleranzentwicklung zu vermeiden. Bei Bedarf kann, z. B. zur Nacht, Molsidomin verabreicht werden. der kurzfristigen Besserung der Symptomatik: nichtretardierte Nitrate (als Spray oder Zerbeisskapsel). Über die Dauer der Clopidogrel-Therapie bei beschichtetem Stent wird zur Zeit intensiv diskutiert. Es existieren Empfehlungen bis zu einem Jahr. Deswegen sollte die Behandlungsdauer individuell mit dem behandelndem Kardiologen abgestimmt werden. Bei nichtbeschichteten Stents sollte Clopdigrel 4 bis 6 Wochen neben ASS gegeben werden. Die Risikostratifizierung bei Patienten mit stabiler Angina pectoris und asymptomatischer KHK sollte durch den Hausarzt erfolgen. Der Patient sollte bei Diagnosestellung, bei Verschlechterung der Symptomatik und zur jährlichen Verlaufskontrolle (Echokardiographie, Belastungs-EKG, wenn diese nicht vom Hausarzt durchgeführt werden können), dem Kardiologen vorgestellt werden.