brennpunkt arznei
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BRENNPUNKT ARZNEI Jhrg. 11, Nr. 3 – September 2006 0HARMAKOTHERAPIE 2ATIONALEUNDRATIONELLE0HARMAKOTHERAPIEINDER0RAXIS Zahlreiche Arzneimittel können Acetylcholin-Spiegel senken Wenn Medikamente eine beginnende Demenz vortäuschen Wenn Ihnen einer Ihrer älteren Patienten kognitiv beeinträchtigt vorkommt und er schon an der Grenze zum M. Alzheimer angekommen scheint, dann muss dies nicht wirklich der Beginn einer Demenz sein. Denn erstaunlich viele und von Hausärzten oft verschriebene Medikamente setzen den Acetylcholinspiegel im Gehirn herab – und bewirken damit das Gegenteil einiger Mittel gegen den Alzheimer-Demenz. Was dies für die Praxis bedeutet, und wie man mit diesem Problem umgehen kann, lesen Sie in diesem Heft auf Seite 4 Antibotika oder nicht? Management der akuten Pharyngitis bei Erwachsenen Die akute Pharyngitis ist für die Hausarzt ganz bestimmt keine Seltenheit – und dennoch stellt sich die Frage immer wieder neu: Antibiotika verschreiben oder nicht? Ein verblüffend einfacher Score erleichtert die Antwort enorm und erlaubt Seite 6 einen gezielten und effizienten Einsatz der Antibiotika. Therapeutische Entscheidung beim Harnwegsinfekt der Frau Symptome wichtiger als Streifentest Auch hier geht es nochmals um Antibiotika: Der Urin-Streifentest auf Leukozyten und Nitrit erlaubt bei Harnwegsinfekten der Frau eine scheinbar objektive Entscheidung, ob ein Antibiotikum notwendig ist oder nicht. Doch das ist ein verbreiteter Irrtum, denn die Symptome sind für die therapeutische Entscheidung Seite 7 wichtiger als der Test. ASS und Clopidogrel Doppelt gemoppelt hält nicht immer besser Die so genannte duale Plättchenaggregationshemmung bringt bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen oder multiplen Risikofaktoren für Arteriosklerose Seite 14 keine eindeutigen Vorteile. Chronische Herzinsuffizienz Die neue hausärztliche Leitlinie – ganz praxisnah Seite 25 (ERAUSGEBER+ASSENËRZTLICHE6EREINIGUNG(ESSEN KVH • aktuell Seite Nr. 3 / 2006 Der Druck hält an Editorial Die Vorschriften werden immer engmaschiger, die Vorgehensweisen von Politik, Kassen und Prüfeinrichtungen immer irrationaler, die Reaktionen der Pharmaindustrie nachgerade panisch, die Informationen immer unübersichtlicher – und zwischen all diesem Chaos sollen Sie ruhig und abgeklärt den Weg finden zwischen dem Anspruch des Patienten auf schnellstmögliche Heilung oder Linderung und den vielfältigen Forderungen Externer, die Ihnen hierfür die notwendigen Finanzmittel vorenthalten wollen. Wir haben uns in Hamburg in den vergangenen Jahren noch recht erfolgreich darum bemüht, die gröbsten Zumutungen zu vermeiden und die unvermeidlichen, weil gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen so praxisnah wie möglich zu konstruieren. Leider aber ist die Kassenärztliche Vereinigung mit den jüngsten Reform-Maßnahmen von der Politik sukzessive aus der alleinigen Gestaltungsmöglichkeit herausgedrängt worden – wohl nicht ohne Grund. Und so kommt es, dass viele von Ihnen sich mit absurden, durch bestimmte Krankenkassen ausgelöste Regress-Verfahren konfrontiert sehen, die häufig äußerst schlampig vorbereitet sind und bei der ersten Gegenwehr in sich zusammenfallen. Und so kommt es auch, dass die Krankenkassen in den Richtgrößen-Verfahren zum Jahr 2004 viele Praxen in die Prüfung genommen haben, obwohl jedem bekannt war, dass diese Praxisbesonderheiten aufweisen. All dies ist ärgerlich für die Betroffenen, da es immer mit Mehrarbeit verbunden ist und es ist ärgerlich für die KV, da es ihr von der Politik verwehrt wird, solche Absurditäten zu verhindern. Der Druck hält also unverändert an – und wenn die Vorstellungen zur Gesundheitsreform, die derzeit kursieren, Wirklichkeit werden, wird er noch größer werden: Da sollen „Ärzte für besondere Arzneimitteltherapie“ benannt werden, die eingeschaltet werden müssen, wenn bestimmte Präparate verordnet werden sollen. Da müssen Apotheker Rücksicht darauf nehmen, ob es Rabattverträge zwischen Kasse und Pharmafirma gibt – gleichgültig, was der Arzt verordnet hat. Und die Arzneimittelpreisverordnung wird so durchlöchert, dass ein Arzt endgültig die Übersicht über den aktuellen Preis des von ihm verordneten Medikamentes verliert. Unter diesen Umständen hilft in der Tat nur eines: Rational verordnen und sich streng nach medizinischen Kriterien richten, Leitlinien beachten, soweit sie vom Gemeinsamen Bundesausschuß anerkannt sind, nicht jedem neuen Trend hinterherlaufen und sauber dokumentieren. Es wird immer schwerer, die Ärztinnen und Ärzte von Prüfmaßnahmen zu verschonen. Um so wichtiger ist es, auf eventuelle Verfahren gut vorbereitet zu sein. Diesem Ziel dient auch die neue Ausgabe von „Brennpunkt Arznei“. Das Heft soll Sie dabei unterstützen, in der immer unübersichtlicher werdenden Landschaft die Leitplanken zu erkennen, die Sie sicher voran geleiten. Wir danken der KV Hessen ein weiteres Mal, dass wir hierbei auf deren Vorarbeiten aufbauen durften. Für weitergehende Fragen stehen Ihnen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der KV Hamburg gerne zur Verfügung. Ihr Walter Plassmann Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite Editorial 2 Wenn Medikamente eine beginnende Demenz vortäuschen Dr. med. Klaus Ehrenthal 4 Management der akuten Pharyngitis bei Erwachsenen Dr. med. Joachim Fessler 6 Harnwegsinfekt der Frau: Symptome wichtiger als Streifentest Dr. med. Klaus Ehrenthal 7 Gefahren der Diuretika im Alter Dr. med. Klaus Ehrenthal 9 Mutige Gegenposition: Demonstrationen wären überflüssig 10 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Mefloquin: Malaria-Todesfall Opiate: Suizid von Angehörigen Protonenpumpenhemmer: Interstitielle Nephritis Neuraminidasehemmer: Wirksamkeit bei Vogelgrippe Telithromycin: Hepatotoxizität 11 ASS plus Clopidogrel: Doppelt gemoppelt hält nicht immer besser Dr. med. Jutta Witzke-Gross 14 Sport und Spiel reduzieren Alzheimer-Plaques 17 Brauchen wir zertifizierte MS-Spezialisten? Dr. med. Wolfgang Weihe 18 Potentiell unangemessene Medikamente für ältere Patienten Dr. med. Günter Hopf 22 22 „Hausärztliche Leitlinie Alter“ wurde nochmals angepasst 24 Hausärztliche Leitlinie „chronische Herzinsuffizienz“ Hausärztliche Schlüsselfragen Grundregeln der Diagnostik Therapie Verlaufskontrolle und hausärztliche Schnittstellen Zusammenfassung 25 28 30 31 37 38 Leitlinie „COPD“: Die Tischversion zum Ausschneiden 39 Inhaltsverzeichnis 11 11 11 12 12 Impressum Verlag: info.doc Dr. Bernhard Wiedemann und Anne Haschke-Wiedemann GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden Herausgeber: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med Alexander Liesenfeld, Renata Naumann , Alexandra Rieger, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Fax Redaktion: 069 / 79502 501 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Seite Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Zahlreiche Arzneimittel können den Acetylcholin-Spiegel senken Wenn Medikamente eine beginnende Demenz vortäuschen Dr. med. Klaus Ehrenthal Bei Morbus Alzheimer versucht man unter anderem, die Konzentration von Acetylcholin im Gehirn zu erhöhen und damit die Symptome zu bessern. Andererseits werden bei älteren Patienten aber auch oft Medikamente eingesetzt, die das Gegenteil erreichen: Mit ihrer anticholinergen (Neben-)Wirkung senken sie die Acetylcholin-Konzentration. Wie sich dies in der täglichen Praxis auf die mentale Leistungsfähigkeit der Senioren auswirkt und wie man als Hausarzt mit den vielen betroffenen Patienten umgehen sollte, hat nun eine aktuelle Studie geklärt. Cholinesterase-Hemmer, die zur Anhebung der Acetylcholin-Konzentration im Gehirn dienen sollen, werden bei Morbus Alzheimer als Anti-Dementiva verwendet. Eine Untersuchung zur Anwendung von Mitteln mit anticholinerger Wirkung – die also die Acetylcholin-Konzentration im Gehirn absenken und somit gegenteilig wirken wie die Cholinesterase-Hemmer bei ansonsten gesunden älteren Patienten – wurde kürzlich von M. Ancelin et al. im British Medical Journal dargestellt [1]. Es wurden in einer longitudinalen Kohortenstudie in Südfrankreich von Haus ärzten 372 Patienten, die älter als 60 Jahre und ohne Anzeichen einer Demenz (nach DSM-III-R) waren, randomisiert und doppelt verblindet zu standardisierten neurologisch-psychiatrischen stationären Untersuchungen (Hôpital La Colombière, Montpellier/Frankreich) über die Dauer von zwei Jahren und zu einer späteren Nachuntersuchung nach acht Jahren zugewiesen. Unter ihnen waren 51 Fälle, die über längere Zeit mit anticholinerg wirkenden Medikamenten behandelt wurden und die keine Cholinesterasehemmer erhielten oder erhalten hatten. Diese wurden verglichen mit 297 älteren Patienten, die keinerlei anticholinerg wirkende Medikamente eingenommen hatten. Symptome wie bei Alzheimer-Vorstufe 80 Prozent der Senioren waren kognitiv beeinträchtigt Dabei stellte sich heraus, dass Medikamente mit zusätzlich anticholinergen Effekten die kognitiven Fähigkeiten gesunder Senioren deutlich herabsetzten bis zur Stufe eines „mild cognitive impairment“ (MCI), was als Alzheimer-Vorstufe beschrieben wurde. 80 Prozent der Senioren, die anticholinerge Stoffe länger als ein Jahr einnahmen, zeigten in der vorgestellten Untersuchung von Ancelin et al. [1] nach ausführlichen psychiatrischen und neurologischen Tests die Kriterien eines MCI mit psychomotorischer Verlangsamung, Verschlechterung der Aufmerksamkeit, Verschlechterung des nonverbalen, visuellen Gedächtnisses, des narrativen Erinnerns, des räumlichen Vorstellungsvermögens, des Sprachflusses und des Urteilsvermögens. Kurz- und mittelfristiges Memorieren von Wortlisten und implizite Gedächtnisfunktionen waren nicht häufiger beeinträchtigt. Zwar war nach achtjähriger Nachbeobachtungszeit bei den überlebenden älteren Patienten kein Hinweis auf Entwicklung eines Morbus Alzheimer nach MCI, ausgelöst durch Anticholinergika, zu finden, doch war schon bei der Nachuntersuchung nach zwei Jahren eine mehr als fünffache Häufung von Fällen mit MCI bei Anwendung von anticholinergisch wirkenden Pharmaka erkennbar (Odds ratio 5,12, p=0,001). KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Medikamente mit anticholinerger (Neben-)Wirkung Zahlreiche Medikamente – auch solche, die oft verordnet werden – haben eine anticholinerge Nebenwirkung. Sie können daher die kognitive Leistung beträchtlich herabsetzen und bisweilen sogar eine beginnende Demenz vortäuschen. Die Tabelle listet wichtige Beispiele auf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben [2,3]. Gruppe Substanz Analgetika Pethidin Antiarrhythmika Chinidin Disopyramid Ipatropiumbromid Procainamid Antiasthmatika Theophyllin Antidepressiva Amitryptilin Clomipramin Doxepin Imipramin Antiemetika Meclozin Peremesin Antihistaminika, Sedativa Clemastin Prometazin Diphenhydramin Antiparkinsonmittel Biperidin Trihexyphenidyl Anxiolytika Clorazepat Alprazolam Digitalis Digoxin Diuretika Furosemid Hustenblocker Codein Neuroleptika Fluspurilen Haloperidol Levomepromazin Thioridazon Spasmolytika Butylscopolaminiumbromid Vagolytika Belladonna-Alkaloide Oxybutynin Was bedeutet dies für die hausärztliche Praxis? Ältere Patienten nehmen sehr häufig über längere Zeit Medikamente mit anticholinergen Effekten ein (Antiemetika, Spasmolytica, Bronchodilatatoren, Antiarrhythmika, Antihistaminika, Analgetika, Anti hypertensiva, Anti-Parkinson-Mittel, Kortikosteroide, Skelettmuskelrelaxantien, Magenmittel zur Ulkusprophylaxe, psychotrope Medikamente und die in der nebenstehenden Tabelle aufgelis teten Substanzen). Diese unterschiedlichen Medikamente mit ihren anticholinergen Nebenwirkungen können mit mehr als fünffacher Häufigkeit (verglichen mit Patienten ohne anticholinerge Medikation) bei älteren Patienten über 60 Jahren ein kognitives Defizit hervorrufen. Sie sind deshalb im Alter mit Vorsicht anzuwenden. Vor einer eventuellen Therapie mit Cholinesterase-Hemmern sollten Medikamente mit anticholinergen (Neben-)Wirkungen erst einmal abgesetzt werden. Der Hausarzt sollte also die Lis te der langdauernd eingenom menen Medikamente seiner älteren Patienten daraufhin überprüfen, ob anticholinerge Effekte möglich sind und kog nitive Defizite im Sinne eines „mild cognitive impairment“ zu erkennen sind. In solchen Fällen muss das Präparat ab gesetzt oder gegebenenfalls ausgetauscht werden. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Marie L Ancelin, Artero S, Portet F, Dupuy AM, Touchon J, Ritchie K: Non-degenerative mild cognitive impairment in elderly people and use of anticholinergic drugs: longitudinal cohort study. BMJ 2006; 332: 455-459) 2. Zeeh J, Platt D.: Pharmakotherapie im Alter. Therapiewoche 1994; 44: 272-282 3. Leitlinie „Pharmakotherapie im Alter“, www.pmvforschungsgruppe.de >Publikationen >Leitlinien, Anhang 7 Seite Bedeutung für unsere Praxis Seite Für Sie gelesen KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Antibiotika oder nicht? Management der akuten Pharyngitis bei Erwachsenen Dr. med. Joachim Fessler Bei der Behandlung der akuten Pharyngitis – einer häufigen Erkrankung in der Allgemeinpraxis – gibt es ein Problem: Es besteht große Unsicherheit, bei welchen Patienten eine Antibiotikatherapie indiziert ist. Zudem besteht bei einem Teil der Patienten die Erwartungshaltung, ein Anti biotikum zu bekommen, während andere ein Antibiotikum ablehnen. In diesem Umfeld sind Entscheidungskriterien, bei welchem Patienten ein Antibiotikum sinnvoll ist und bei welchem nicht, für die Allgemeinpraxis hilfreich. Mit der Frage, wann Antibiotika bei Pharyngitis sinnvoll sind, beschäftigte sich eine kürzlich publizierte Studie [1]. Diese Fragestellung ist insofern auch medizinisch bedeutend, da 90 Prozent der akuten Pharyngitiden durch Viren ausgelöst werden. Hier ist eine Antibiotikatherapie naturgemäß unwirksam und der Patient wird dabei lediglich den Risiken der Therapie ausgesetzt, ohne jeden zu erwartenden Nutzen. In die Studie wurden 372 Patienten eingeschlossen, die älter als 15 Jahre waren und die wenigsten zwei von vier klinischen Zeichen einer Pharyngitis hatten (Centor Score: Temperatur 38°C oder höher, schmerzhafte zervikale Lymphknoten, tonsilläres Exsudat, kein Husten oder Rhinitis.) Bei allen Patienten mit zwei bis vier klinischen Zeichen (Centor Score) wurde ein Rachenabstrich genommen, aus diesem wurde eine Kultur angelegt und ein RAST (rapid streptococcal antigen test) durchgeführt. Ergebnisse: Die Häufigkeit einer Infektion mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (GASP) betrug bei Patienten bei einem Score von zwei 23,6 Prozent, bei einem Score von drei 41 Prozent und bei einem Score von vier 60,3 Prozent. Die Häufigkeit über alle Scoregruppen betrug 37,6 Prozent. Ein einfacher Score optimiert die Behandlung Die Autoren haben nun mehrere mögliche Strategien miteinander verglichen: A Eine Strategie wäre beispielsweise, alle Patienten nur symptomatisch zu behandeln. Dies bedeutet, dass 37,6 Prozent der Patienten ein Antibiotikum vorenthalten werden würde. B Bei allen Patienten wird eine Kultur angelegt und nur diejenigen werden behandelt, bei denen GASP nachgewiesen wird. Dies ist zwar die sicherste, aber auch die teuerste Strategie und in der freien Arztpraxis sicherlich nicht praktikabel. C Eine Antibiotikatherapie bei allen Patienten mir Score drei und vier führt zu einer massiven Übertherapie mit Antibiotika. Ca. 1/3 aller Patienten würden hier unnötigerweise mit einem Antibiotika behandelt und den Nebenwirkungen und Risiken einer Arzneimitteltherapie ausgesetzt. D Alle Patienten mit einem Centor Score von vier werden ohne weitere Tests mit einem Antibiotikum behandelt, bei allen Patienten mit einem Score von zwei und drei wird ein Streptokokken-Schnelltest gemacht und entsprechend dem Resultat behandelt. Auf diese Art und Weise werden etwa 10 Prozent aller Patienten unnötigerweise mit einem Antibiotikum behandelt; jedoch nur 2,3 Prozent der Patienten erhielten das erforderliches Antibiotikum nicht, obwohl bei ihnen eine Antibiotikatherapie indiziert gewesen wäre. Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite D dürfte die effektivste Methode (Kosten, Aufwand an Diagnostik, sowie unnötige Antibiotikatherapie bzw. Vorenthalten einer Antibiotikatherapie) sein. Was bedeutet dies für meine Praxis? Bedeutung Diese Studie zeigt, dass mit einem einfachen klinischen Score der gezielte Einsatz einer Antibiotikatherapie steuerbar ist. Wird dieser klinische Score (Centor Score) mit einem einfachen Schnelltest (in diesem Fall Streptokokken-Schnelltest, RAST) kombiniert, so führt es zu einer sehr sicheren Indikation für oder gegen eine Antibiotikabehandlung. für unsere Praxis Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Humair JP. Et al. Management of acute pharyngitis in adults. Reliability of rapid streptococcal test and clinical findings. Arch Intern Med 2006; 166: 640-644 Therapeutische Entscheidung beim Harnwegsinfekt der Frau Symptome wichtiger als Streifentest Dr. med. Klaus Ehrenthal Harnwegsinfekte sind bei Frauen häufig. Bei positivem Nachweis einer Infektion im Urin-Streifentest (Leukozyten, Nitrit) gilt die Empfehlung einer dreitägigen antiinfektiösen Behandlung. Bei negativem Streifentest und Symptomen einer Blaseninfektion sind die Meinungen bisher uneinheitlich. Dazu bewertete das Horten-Zentrum für praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer (www.evimed.ch) unlängst eine im British Medical Journal am 22.06.05 erschienene randomisierte doppelblinde plazebokontrollierte Untersuchung in 30 zufällig ausgewählten Grundversorgungspraxen aus Neuseeland [1] zur Klärung der Frage: Wie effektiv ist bei Symptomen eines Harnwegsinfektes bei Frauen eine antibiotische Behandlung trotz negativem Urinstreifentest? Untersucht wurden Frauen (zwischen 16 und 50 Jahre alt) mit klinischen Zeichen eines Harnwegsinfektes (Dysurie, Pollakisurie), die sich zufällig in den jeweiligen Praxen vorstellten und die einen negativen Urinstreifentest aufwiesen. Ausgeschlossen wurden Frauen, die innerhalb des letzten Monats einen nachgewiesenen oder vermuteten Harnwegsinfekt behandelt bekommen hatten sowie Fälle mit kompliziertem Harnwegsinfekt, Schwangerschaft, Trimethoprim-Allergie. Ausgewertet wurden die Verläufe bei 59 Frauen (Durchschnittsalter 36 Jahre), die entweder drei Tage lang täglich mit einer Tablette zu 300 mg Trimethoprim oder drei Tage lang täglich mit einer Tablette Plazebo behandelt wurden. Anschließend wurden über weitere sieben Tage die Beschwerden protokolliert. Als Outcome wurden eine weiter bestehende Dysurie nach drei und sieben Tagen sowie das mittlere Zeitintervall bis zum Abklingen der Beschwerden ausgewertet. Die Durchführung der Studie war methodisch korrekt. Ergebnisse: Von den Frauen mit initialer Dysurie (82% von 59 Fällen) hatten nach drei Tagen unter Trimethoprimtherapie 24% von 21 Fällen und unter Plazebotherapie 74% von 27 Fällen weiterhin Beschwerden. Diese signifikante Differenz (p=0,0005) blieb auch nach sieben Tagen bestehen. Für Sie gelesen KVH • aktuell Seite Nr. 3 / 2006 Die mittlere Zeit bis zum Abklingen der Beschwerden betrug unter Trimethoprimtherapie fünf Tage, unter Plazebotherapie drei Tage (p=0,002). Gelegentliche unerwünschte Ereignisse (wie beispielsweise Übelkeit, Hautjucken) traten in beiden Gruppen gleich häufig auf. Bei 5 von 59 Frauen (drei aus der Trimethoprim-Gruppe und zwei aus der Plazebogruppe) fand sich trotz negativem Urinstreifentest zu Beginn in der vor der Therapie angelegten Urinkultur ein Keimwachstum. Bedeutung Was bedeutet dieses Ergebnis für die tägliche Allgemeinpraxis ? für unsere Praxis 1. Ein negativer Urinstreifentest sagt nicht voraus, ob eine Trimethoprim-Behandlung unnötig oder erfolgversprechend ist. 2. Ein negativer Urinstreifentest sagt häufig eine negative Urinkultur voraus (negativer prädiktiver Wert für den Urinstreifentest: 92%). 3. Ein negativer Urinstreifentest spricht dann nicht gegen eine antibiotische Therapie (hier drei Tage lang täglich 300 mg Trimethoprim), wenn eine Symptomatik (Dysurie, Pollakisurie) vorliegt. 4. Da allerdings bei einem negativen Urinstreifentest und nicht vorliegendem Kulturergebnis trotz vorhandener Symptomatik eine sofortige Antibiotikatherapie nicht gezielt vorgenommen werden kann, besteht möglicherweise eine Gefahr von Resistenzentwicklung. Damit sollte für die Behandlung des häufigen banalen weiblichen Blaseninfektes in erster Linie die Symptomatik (Dysurie, Pollakisurie) zielführend sein und nicht ein positiver Urinstreifentest (Leukozyten und Nitrit) oder gar eine positive Urinkultur gefordert werden. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Dee, R., Toop,L., Chambers,S., Fletcher, L.: Response to antibiotics of women with Symptoms of urinary tract infection but negative dipstick urine test results: double blind randomised controlled trial. BMJ, 2005;331;143; originally published online 22 June 2005; doi:10.1136/bmj.38496.452581.8F Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Gefahren der Diuretika im Alter Dr. med. Klaus Ehrenthal Seite Für Sie gelesen Eine Auswertung von Daten britischer Hausärzte zeigte, dass 20 Prozent aller Hypertoniker, denen ein Thiazid-Diuretikum verschrieben worden war, Elektrolytstörungen entwickelten. Auf die Kaliumwerte achtet jeder Kollege, aber auch Verschiebungen beim Natrium können erhebliche Probleme verursachen. Von 2942 Patienten konnten im Rahmen der Studie [1] detaillierte Daten zur Verschreibung untersucht werden, von diesen waren in 951 Fällen (32,3%) Elektrolytkontrollen gemacht worden. Dabei fanden sich folgende Abweichungen von der Norm: In 196 Fällen (20,6%) Natrium- und/oder Kaliumkonzentrationen unterhalb der Normwerte. Natrium war bei 130 Patienten (13,7%) im hyponatriämischen Bereich. Hypokaliämie war etwas weniger häufig: 79 Patienten (8,5%) hatten hypokaliämische Werte. Natriummangel war signifikant mit zunehmendem Alter korreliert. Die Odds ratio für die Entwicklung einer Hyponatriämie bei über 70-Jährigen verglichen mit gleich oder unter 70-Jährigen betrug immerhin 3,87! Eine Hypokaliämie war signifikant mit erhöhten Thiaziddosen korreliert. Wenn man bedenkt, dass mit dem Alter der Durst schwindet und man deswegen im Alter von einem extrazellulären Flüssigkeitsdefizit von 1,5 bis 2 Litern ausgehen kann, dann ist es klar, dass die realen Natrium- und Kaliumwerte nach Flüssigkeitsbilanzierung mit Infusionen, wie das beispielsweise bei stationärer Behandlung vor Narkosen oder bei internistischer Behandlung die Regel ist, noch deutlich niedriger liegen. Der Patient ist dann also nach Infusion vermehrt durch sein Elektrolytdefizit gefährdet. Zum Beispiel kann auch eine Behandlung mit Macrogol zur Darmreinigung zu einer zwar seltenen, aber gefährlichen UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkung) mit schweren Elektrolytverschiebungen vor allem durch Hyponatriämie mit Koma und Krämpfen führen, was besonders bei älteren Patienten beobachtet wurde [2]. Bedrohliche Folgen niedriger Natriumspiegel Natriumwerte unter 135 mmol/l gelten als Hyponatriämie, unter 130 mmol/l treten relevante Elektrolytstörungen auf, unter 125 mmol/l gelten sie als bedrohlich. Dabei kann es bei Serumnatriumwerten unter 120 mmol/l zu Lethargie, Nausea, Vomitus, Reizbarkeit, Kopfschmerzen und Muskelschwäche kommen. Bei Werten unter 110 mmol/l treten Benommenheit, Verwirrtheit, Reflexverlangsamung, Krämpfe und Koma bis hin zum hyponatriämischen Tod auf. Nach Absetzen des Thiazids sollte der Natriumwert langsam, am besten oral (gesalzene Suppen o.ä.) um nicht mehr als 10 mmol/l am Tag korrigiert werden [3,4]. Am Herzen kommen Rhythmusstörungen auf, die besonders Folgen des erniedrig ten Serumkaliums mit Störung der Erregungsbildung sind. Der Zusammenhang zwischen plötzlichem Herztod und Thiazid-induzierter Hypokaliämie ist in der Literatur belegt [5]. Was bedeutet das für unsere Praxis ? Bedeutung Bei älteren Patienten über 60 Jahren und einer Diuretikamedikation mit Thiaziden sollte der Hausarzt die Elektrolyte in angemessener Häufigkeit und abhängig vom allgemeinen Risiko (elektrolytarme Ernährung z.B. so genannte „Puddingvegetarier“, Trinkverhalten) etwa zweimal jährlich überprüfen, zusammen mit dem für unsere Praxis KVH • aktuell Seite 10 Nr. 3 / 2006 Serumkreatinin, um Niereninsuffizienzen nicht zu übersehen. Da die Kaliumspiegel durch unsachgemäßes Handling der Proben (zu langes Stehen, Hämolyse) falsch hoch sein können, sollte auf eine sachgerechte Probennahme und -versendung geachtet werden. Bei Zeichen einer Hyponatriämie (immerhin bei 1/7 aller langzeitig mit Thiaziddiuretika behandelten älteren Patienten!) sollte der Ausgleich langsam und oral erfolgen. Hypovolämie und Hypervolämie sollten langsam und vorsichtig unter Elektrolytausgleich bilanziert werden. Serumnatriumwerte unter 120 mmol/l führen zu klinischen Allgemeinsymptomen, unter 110 mmol/l sind sie vital bedrohlich. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Clayton J A, Rodgers S, Blkey J, Avery A, Hall I P:Thiazide diuretic prescription and electrolyte abnormalities in primary care. Br J Clin Pharmacol 2005;61,1:87-95 2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Schwere Hypo-natriämie und zerebrale Krämpfe unter Darmreinigung mit Macrogol. In: Deutsches Ärzteblatt 103, Nr. 30, 28.07.2006, S. A2061, dort Literatur zu weiteren Fällen) 3. Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft: Medikamenten-induzierte Hyponatriämie. In: Arzneiverordnungen in der Praxis, Band 33, 3/2006, S.81-82 4. Goh KP: Management of hyponatremia. Am Fam Physician 2004; 59: 2387-94) 5. Freis ED. The efficacy and safety of diuretics in treating hypertension. Ann Intern Med. 1995; 122(3): 223-6 Brief an die Redaktion Mutige Gegenposition: Demonstrationen wären überflüssig Die KV Sachsen legt Ihre Veröffentlichung unseren KV-Mitteilungen regelmäßig bei. Wir lesen diese mit dem allergrößten Interesse. Wir werden die Artikel in unserem nächsten Qualitätszirkel „Diabetes“ zur Diskussion stellen. Bitte weiter so mit kritischer Überprüfung aller Gewohnheiten und mutiger Gegenposition zum Bombardement der Ärzte durch die Interessengruppen! Mein persönlicher Kommentar: Würden auch nur die Hälfte der niedergelassenen Ärzte Ihre und die Erkenntnisse von z. B. „Arzneimittelbrief“ beherzigen, brauchte niemand in Berlin in der Kälte zu protestieren. Dr. med. Gerhard Barthe,Facharzt für Allgemeinmedizin Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 11 Mefloquin: Malaria Todesfall Im Dezember 2005 starb ein 72-jähriger deutscher Tourist an Malaria tropica, nachdem er sich 14 Tage in Gambia aufgehalten und eine Prophylaxe mit Mefloquin (Lariam®) nicht regelmäßig durchgeführt hatte. Auch zwei Briten starben erst kürzlich an Malaria, nachdem sie in Gambia Urlaub gemacht hatten. Das Robert-Koch-Institut weist auf die Notwendigkeit adäquater prophylaktischer Maßnahmen bei Reisen in Gebiete mit Malariarisiko hin. Urlauber sollten sich kompetent reisemedizinisch beraten lassen und bei unklaren Krankheitszeichen nach der Rückkehr frühzeitig einen Arzt aufsuchen. Anmerkung: Insbesondere bei exotischen Fernreisen sollten aktuelle Informationen über das Infektionsrisiko in dem jeweiligen Urlaubsgebiet eingeholt werden. Abhängig von der Reiseregion kommt es nach einer Studie häufig in Afrika südlich der Sahara und in Südostasien zu systemischen fiebrigen Erkrankungen, in Zentralasien zu akuten Diarrhöen und in der Karibik, in Zentral- und Südamerika zu dermatologischen Problemen. Zusätzlich gilt: kein Urlaub ohne Impfschutz gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis! Quellen: Epidem. Bull. 2006, Nr. 2, 17; Münch.med. Wschr. 2006; 148 (1-2): 10, N.Engl.J.Med 2006; 354: 119 Opiate: Suizid von Angehörigen Eine Fachzeitschrift berichtet über einen Suizid und einen Suizidversuch zweier Mütter, die nach dem Tod ihrer krebskranken Kinder die im Finalstadium verordneten Opiate (Morphin resp. Methadon) selbst eingenommen hatten. Die Autoren diskutieren Ergebnisse einer dänischen Studie, in der ein „unnatürlicher“ Tod eines Kindes (z.B. durch Unfall) zu einer zweifach höheren Selbstmordrate der betroffenen Mütter im Vergleich zu anderen Müttern geführt hat. Bei Todesfällen von Kindern zwischen einem und sechs Jahren war die Selbstmordrate der Mütter besonders hoch. Die Autoren fordern Leitlinien, wie nach dem Tod eines Patienten mit nicht verbrauchten Arzneimitteln umgegangen werden soll. Anmerkung: Diese Problematik ist auch in Deutschland bekannt. Eigentümer der in Frage kommenden Arzneimittel sind die gesetzlichen Erben, die nach einem Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz nicht mehr benötigte Betäubungsmittel in Apotheken zur Vernichtung abgeben oder in Gegenwart zweier Zeugen selbst vernichten sollen. Behandelnde Ärzte sollten diese Information – insbesondere in Anbetracht der oben erwähnten Fälle - an die Angehörigen/Erben weitergeben. Ein Arzt ist nicht verpflichtet, verordnete Medikamente zurückzunehmen, da er nicht deren Eigentümer ist. Quelle: Brit. med. J. 2006; 332:647 Protonenpumpenhemmer: Interstitielle Nephritis Bei einer 84-jährigen Patientin wurde nach Ausschluss anderer Ursachen die Einnahme des Protonenpumpenhemmers (PPI) Omeprazol als wahrscheinlichste Ursache einer floriden, nichteitrigen destruierenden Nephritis eingeschätzt. Da die Latenzzeit bis zum Auftreten einer PPI-bedingten Nephritis stark variiert, empfiehlt der Kollege, auch längere Zeit nach Beginn einer PPI-Therapie und bei sich verschlechternder Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf Seite 12 Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Nierenfunktion an eine akute interstitielle Nephritis zu denken. Diese unerwünschte Wirkung (UAW) kommt zwar bei weniger als einem Prozent der Behandelten vor, aufgrund der hohen Verordnungszahlen mehren sich jedoch Berichte über diese Komplikation (Verordnungen zu Lasten der GKV im Jahr 2005: Omeprazol 335 Mio definierte Tagesdosen (DDD), Pantoprazol 125 Millionen DDD, Esomeprazol 122 Millionen DDD, Lansoprazol 18 Millionen DDD). Anmerkung: Nach einer amerikanischen nephrologischen Zeitschrift sollen 50 bis 60 Prozent aller Arzneimittel-bedingten chronischen interstitiellen Nephritiden durch PPI ausgelöst werden, wobei auch in dieser Übersichtsarbeit von einem Klasseneffekt der PPI ausgegangen wird und unterschiedliche Häufigkeiten des Auftretens dieser UAW eher mit den unterschiedlichen Verordnungszahlen korrelieren könnte. Quellen: Hamburger Ärztebl. 2006, Heft 3, 149; NephSAP 2005; 4(3): 149 ff; Schwabe-Paffrath, Arzneiverordnungsreport 2005, Springer Verlag 2006, S.722 Neuraminidasehemmer: Wirksamkeit bei Vogelgrippe Im Rahmen einer offiziellen Stellungnahme nahm ein Sachverständiger zur Wirksamkeit der Neuraminidasehemmer Oseltamivir (Tamiflu®) und Zanamivir (Relenza®) bei Verdacht auf Vogelgrippe Stellung. Erste klinische Erfahrungen seien eher enttäuschend (von fünf erst spät behandelten Patienten mit Vogelgrippe starben vier). In-vitro-Studien und Tierversuche in 2004 zeigten eine Wirksamkeit, die prophylaktische Wirkung von Oseltamivir beim Menschen sei jedoch nicht bewiesen und beruhe auf Versuchen mit Mäusen. Wichtig seien eine rasche Diagnostik (derzeit verfügbar) und Isolationsmaßnahmen im Rahmen eines Pandemieplanes (z.B. natio naler Influenzapandemieplan des Robert-Koch-Instituts). Eine Chemoprophylaxe mit Oseltamivir sei wahrscheinlich nur wenig wirksam. Anmerkung: Ein anderer Kommentator rät sogar davon ab, generell antivirale Medikamente wegen zu geringer Wirksamkeit selbst bei saisonaler Influenza zu verordnen, sondern lediglich bei ernsthaften Epi- und Pandemien und nur in Verbindung mit anderen Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitssystems. Diese Auffassungen stehen im Gegensatz zu Empfehlungen der AkdÄ, BÄK und KBV, nach denen dem Patienten die individuelle Entscheidung zu einer Bevorratung von Neuraminidasehemmern überlassen wird. Er soll vor Einnahme des Präparates mit dem Arzt noch einmal Kontakt aufnehmen. In der Fachinformation von Tamiflu® wird jedoch als Indikation nur eine Postexpositionsprophylaxe nach engem Kontakt mit einer infizierten Person bzw. eine Prophylaxe während einer Influenzaepidemie genannt. Eine Wunschverordnung kann daher derzeit als off-label-use bezeichnet werden und ist abzulehnen. Da ein wirksamer Impfschutz nicht zur Verfügung steht, sind vorsorglichen Maßnahmen einer Landesregierung (z.B. Bevorratung mit Neuraminidasehemmer) grundsätzlich zuzustimmen. Quellen: Arzneimittel-,Therapiekritik 2006, Folge 1, S. 176; Dt. med. Wschr. 2006; 131(9): 417; www.akdae.de/47/Archiv/2005, www.rki.de Telithromycin: Hepatotoxizität Bei insgesamt vier Patienten wurden nach der Gabe von Telithromycin (Ketek®), einem halbsynthetischen Makrolid-Antibiotikum, schwere Leberschädigungen KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Seite 13 (bis hin zur Transplantationsbedürftigkeit und einem Todesfall) bekannt. Bei keinem der Patienten bestanden Hinweise auf eine alkoholische Leberschädigung und bei dem in Deutschland bekannten Fall ergab die Leberhistologie Leberzellnekrosen, die vereinbar waren mit dem Bild eines medikamentös-toxischen Leberzellschadens. Telithromycin wird vorwiegend in der Leber metabolisiert. Vorsicht bei der Anwendung bei eingeschränkter Leberfunktion und das Auftreten von cholestatischem Ikterus und Hepatitis sind in der Fachinformation erwähnt. Anmerkung: 2003 informierte der Hersteller in einem Rote-Hand-Brief über Fälle von Exazerbationen bereits diagnostizierter Myasthenia gravis, darunter ein Todesfall. Die Patienten hatten Telithromycin zur Therapie von Atemwegsinfektionen erhalten. Die Tagestherapiekosten für Ketek® sind ca. dreifach höher als die von Erythromycin und Roxithromycin und ca. doppelt so hoch wie die von Clarithromycin. In der ambulanten Versorgung scheint Telithromycin aufgrund wirksamer Alternativpräparate aus anderen Antibiotikagruppen verzichtbar bzw. kein Mittel der ersten Wahl. Viele Ärzte haben daraus offenbar die Konsequenzen gezogen und in den letzten Jahren den Stellenwert von Ketek® bei ihrem Verordnungsverhalten relativiert, wie beispielsweise die folgenden Daten aus Hessen zeigen: JahrUmsatz in EURO 2003 687.295 2004 537.785 2005 376.926 Anzahl der Verordnungen in Hessen Anzahl der Verordnungen 2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 Jan 04 Mar 04 Mai 04 Jul 04 Sep 04 Nov 04 Jan 05 Mar 05 Mai 05 Jul 05 Sep 05 Nov 05 Jan 06 Mar 2006 Mai 06 Quelle: www.aerztblatt.de, Arzneiverordnungen, 21. Aufl., Deutscher Ärzteverlag2006; S. 86 Hessische Verordungsdaten Sicherer verordnen Dr. med. Günter Hopf KVH • aktuell Seite 14 Für Sie gelesen Nr. 3 / 2006 Ergebnisse der CHARISMA-STUDIE zu ASS plus Clopidogrel Doppelt gemoppelt hält nicht immer besser Dr. med. Jutta Witzke-Gross Eine so genannte duale Plättchenaggregetionshemmung mit ASS und Clopidogrel bringt bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen oder multiplen Risikofaktoren für Arteriosklerose bezüglich der Reduktion des Auftretens eines Herzinfarktes, Schlaganfalls und Eintreten von Tod aus kardiovaskulärer Ursache keinen klaren Vorteil gegenüber der alleinigen Thrombozytenfunktionshemmung mit ASS (Charisma-Studie [2]). Patienten mit manifesten arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen im Bereich der Koronarien, Carotiden und intrakraniellen Gefäße wie auch peripherer Arterien haben ebenso wie Patienten mit Risikofaktoren für Arteriosklerose ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines ersten bzw. weiteren ischämischen Ereignisses wie beispielsweise Herzinfarkt oder Schlaganfall. Das akute ischämische Ereignis beruht in der Regel auf einer plötzlichen Ruptur oder Fissur einer instabilen arteriosklerotischen Plaque mit resultierender Aktivierung und Aggregation von Thrombozyten und konsekutiver Thrombusbildung mit Verlegung des Gefäßlumens. Wegen dieser zentralen Rolle der Thrombozyten stellt die Plättchenhemmung einen Eckpfeiler der Therapie entsprechender Patienten dar. Da Aspirin die Cyclooxygenase hemmt, wohingegen Clopidogrel am Adenosin-Diphosphat-P2Y12-Rezeptor angreift, könnte man eine Potenzierung der Plättchenhemmung durch die duale Gabe beider Thrombozytenaggregationshemmer und damit eine Potenzierung der Risikoreduktion für das Auftreten erster bzw. erneuter ischämischer Ereignisse erwarten. Additive Effekte von Clopidogrel und ASS wurden immerhin im Bereich akuter koronarer Ereignisse durch die CURE-Studie [1] gezeigt. Es lag daher nahe zu überprüfen, ob auch Patienten ohne akute Ereignisse, aber mit nachgewiesenen und stabilen arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen einerseits und Patienten mit multiplen Risikofaktoren für Arteriosklerose andererseits von einer Therapie mit ASS und Clopidogrel profitieren und wie sicher diese Therapie ist. Dies war die Fragestellung der Charisma-Studie [2]. Die Studie: Es handelt sich um eine multizentrisch durchgeführte, prospektive, randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie, die bei kardiovaskulären Risikopatienten die Wirksamkeit und Sicherheit von Clopidogrel plus Aspirin verglich gegenüber der Gabe von Aspirin und Plazebo. Die Studie wurde in 32 Ländern (einschließlich Deutschland) durchgeführt. Die Patientenrekrutierung erfolgte zwischen Oktober 2002 und November 2003. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 28 Monate, wobei Evaluationen (Überprüfung der Patientencompliance und Standardmedikation, Erfassung von kardiovaskulären Ereignissen, Interventionen im Bereich des kardiovaskulären Systems und Nebenwirkungen) nach dem ersten Monat, nach drei Monaten und sechs Monaten, sowie dann jeweils nach weiteren sechs Monaten erfolgten. Neben der Gabe von ASS (75-162mg/Tag) und Clopidogrel (75mg/Tag) bzw. ASS (75-162mg/Tag) und Plazebo waren die Prüfzentren angehalten, die Patienten Leitlinien-gerecht zu behandeln (z. B.: Gabe eines Statins und/oder Betablockers). Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 15 In die Studie aufgenommen wurden Patienten älter als 45 Jahre, die eine manifeste kardiovaskuläre Erkrankung oder aber multiple artheriosklerotische Risikofaktoren (unterteilt in Haupt- und Minor-Risikofaktoren) hatten. Zu den manifesten kardiovaskulären Erkrankungen gehörten: Angina pectoris bei dokumentierter Mehrgefäßerkrankung, Zust. n. Bypass-OP oder mehrfach koronarer Stent-Implantation, Herzinfarkt innerhalb der letzten fünf Jahre, Z.n. TIA oder ischämischer Schlaganfall innerhalb der letzten fünf Jahre, symptomatische claudicatio intermittens mit einem Dopplerindex (systolischer Knöchelarteriendruck/systolischer Armarteriendruck) < 0,85 oder eine stattge– habte Intervention am peripheren Gefäßsystem wie z. B. Amputation, peripherer Bypass oder Angioplastie. Artheriosklerotische Hauptrisikofaktoren waren: Typ I oder II Diabetes, diabetische Nephropathie, asymptomatische Karotisstenosen mit über 70% Lumeneinengung. Minor-Risikofaktoren waren: arterieller systolischer Blutdruck > 150 mmHg trotz Therapie in den letzten drei Monaten, primäre Hypercholesterinämie, bestehender Zigarettenkonsum von mehr als 15 Zigaretten pro Tag. Ausgeschlossen waren Patienten mit einer oralen Antikoagulation oder solche, bei denen eine Indikation zur Clopidogrel-Gabe bestand. Primäre Endpunkte der Studien waren das Auftreten eines Herzinfarktes, Schlaganfalles (aus irgendeiner Ursache) oder kardiovaskulär bedingter Tod (einschließlich Hämorrhagie). Sekundäre kombinierte Endpunkte waren die eben genannten sowie zusätzlich eine Hospitalisierung wegen instabiler Angina, TIA oder revaskularisierender Maßnahmen im Bereich des koronaren, cerebralen oder peripheren Gefäßsystems. Bezüglich der Sicherheit der Therapie wurden schwere und mittelschwere Blutungen, tödliche Blutungen und primär intrakranielle Hämorrhagien erfasst. Insgesamt wurden 15.603 Patienten in die Studie aufgenommen, 30% waren Frauen, 70% Männer. 78% der aufgenommenen Patienten hatten eine manifeste kardiovaskuläre Erkrankung, ca. 21% hatten multiple Risikofaktoren (allerdings fanden sich in dieser Gruppe auch Patienten, die schon ein kardiovaskuläres Ereignis überstanden hatten, die aber nicht die Kriterien der Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankungen erfüllten). Die Ergebnisse 1 Unter der so genannten dualen Plättchenaggregationshemmung lag die Rate der primären Endpunkte wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulärer Tod bei 6,8% und war somit nicht statistisch signifikant besser (p=0,22) als unter der alleinigen Thrombozytenhemmung mit ASS, unter der es bei 7,3% der Patienten zum Auftreten eines primären Endpunktereignisses kam. 2 Ein statistisch signifikanter leichter Vorteil ergab sich für die duale Thrombozytenaggregationshemmung bei der Berücksichtigung der sekundären Endpunktereignisse (zusätzlich Hospitalisierung wegen instabiler Angina pectoris, TIA oder Revaskularisierung): Hier lag die Rate des Auftretens der sekundären Endpunktereignisse in der ASS plus Clopidogrel-Gruppe bei 16,7% gegenüber 17,9% in der ASS plus Plazebo-Gruppe (p=0,04). 3 Schwere Blutungen fanden sich in der ASS plus Clopidogrel-Gruppe mit 1,7% tendenziell aber nicht signifikant (p=0,09) häufiger als in der Aspirin plus Plazebo-Gruppe mit 1,3%, mittelschwere Blutungen waren in der ASS plus Kaum Einfluss auf schwere kardiovaskuläre Ereignisse Seite 16 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Clopidogrel-Gruppe mit 2,1% deutlich häufiger als in der ASS plus PlazeboGruppe mit 1,3% (p kleiner 0,001). Tödliche Blutungen und primär intrakranielle Blutungen lagen in beiden Gruppen bei jeweils ca. 0,3% und zeigten somit keinen Unterschied. 4 Eine Aufschlüsselung der Ergebnisse für Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung und Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren ergab hinsichtlich der Rate der primären Endpunkte für die so genannten symptomatischen Patienten für die kombinierte ASS und Clopidogrel-Gabe einen marginal signifikanten Vorteil (6,9% versus 7,9%, p=0,046 ) wohingegen die primäre Endpunktrate bei den so genannten asymptomatischen Patienten unter der dualen Thrombozytenaggregationshemmung sogar eher zunahm (6,6% versus 5,5%, p=0,20). Die Autoren kommen zu folgenden Schlussfolgerungen: 1 Die kombinierte Therapie ASS plus Clopidogrel ergab im Vergleich mit der alleinigen Thrombozytenaggregationshemmung durch ASS bzgl. der Reduktion des Auftretens eines Herzinfarktes, Schlaganfalls oder kardiovaskulär bedingten Todes keinen statistisch signifikanten Nutzen. 2 Clopidogrel führte zu einem signifikanten Anstieg der Rate mittelschwerer Blutungen (insgesamt wurden 94 ischämische sekundäre Endpunkte durch die zusätzliche Gabe von Clopidogrel verhindert, dafür traten aber 93 mittelschwere oder schwere Blutungsereignisse auf). 3 Die Ergebnisse der Studie unterstützen nicht den Einsatz der dualen Thrombozytenaggregationshemmung bei einer breiten Population von Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung oder entsprechender Risikofaktoren. Bedeutung für unsere Praxis Was bedeutet diese Studie für meinen Praxisalltag? Zumindest seit Bekanntwerden der Ergebnisse der Match-Studie [3], die bei Patienten nach Insult oder TIA in der Langzeittherapie für die kombinierte Einnahme von Clopidogrel plus ASS im Vergleich zu Clopidogrel keinen signifikanten Vorteil aber unter der dualen Plättchenhemmung ein erhöhtes Blutungsrisiko berichtete, überprüfe ich bei Patienten, die ASS und Clopidogrel erhalten, sehr genau die Indikation und die Dauer der Einnahme. Es handelt sich dabei überwiegend um Patienten mit Zustand nach einem akuten Koronarereignis oder Koronarintervention, bei denen ich je nach Indikation nach drei bis neun Monaten die duale Plättchenaggregationshemmung beende und in der Regel mit ASS weiter therapiere. Diese Patienten entsprechen aber nicht dem Patientenkollektiv der Charisma-Studie, bei dem es nicht um eine Akut-Therapie, sondern um eine Langzeit-Therapie von bis zum Aufnahmezeitpunkt in die Studie stabilen Patienten mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung oder aber um Patienten mit Risikofaktoren für Arteriosklerose ging! Für diese Patienten bestätigen die Ergebnisse der Charisma-Studien das bisherige Vorgehen mit Applikation von niedrig dosiertem ASS zur Thrombozytenaggregationshemmung in der Langzeit-Therapie der Primär- wie auch der Sekundärprophylaxe. Die Ergebnisse der Studie dürfen aber nicht dazu führen, dass eine kombinierte Thrombozytenaggregationshemmung vorzeitig bei den Patienten beendet wird, bei denen sie aufgrund bisheriger Studienergebnisse indiziert ist! Dies sind Patienten mit akutem Koronarsyndrom, Myokardinfarkt mit ST-Hebung bzw. ohne ST-Hebung und nach Stent-Implantation, Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 17 wobei die zur Zeit empfohlene Therapiedauer – wie bereits oben erwähnt – drei bis neun Monate beträgt. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. The Clopidogrel in Unstable Angina to Prevent Recurrent Events Trial Investigations: Effects of Clopidogrel in Addition to Aspirin in Patients with Acute Coronary Syndromes without St-Segment Elevation. N Engl J med 2001; 345:494-02 2. Bhatt D.L, Fox K.A.A., Hacke W. et al. Clopidogrel and aspirin alone for the prevention of atherothrombotic events. N Engl J Med, www.nejm.org, März 2006 3. Diener H, Bogousslavsky J Brass L. et al. Acetylsalicylic acid on a background of clopidogrel in high-risk patients randomised after recent ischaemic stroke or transient ischaemic attack : the MATCH trial results. Lancet 2004; 364:331-4. Histologie bestätigt epidemiologische Beobachtungen Sport und Spiel reduzieren Alzheimer-Plaques Der Morbus Alzheimer entwickelt sich zu einer volkswirtschaftlich bedeutenden Erkrankung, die medikamentös nur begrenzt zu beeinflussen ist. Allerdings ist aus großen epidemiologischen Studien bekannt, dass die Entwicklung der Symptome durch die gesamte Lebensweise und vor allem auch „Gehirnjogging“ in gewissem Maß modifiziert werden kann. Wissenschaftler des Instituts für Neuropathologie an der Universität Münster haben nun zusammen mit dem Institut für Verhaltensbiologie der Universität Münster auch auf zellulärer Ebene nachgewiesen, dass Sport und kognitives Training den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen kann. Sie wiesen im Tiermodell nach, dass bei entsprechenden Aktivitäten Zahl und Ausdehnung der charakteristischen Plaques im Gehirn deutlich geringer ausfallen. Als Versuchstiere dienten Mäuse. Wenn es in ihren Käfigen viel zu spielen und zu entdecken gab, waren ihre Gedächtnisleistungen signifikant besser als diejeniger ihrer Artgenossen, die in ganz einfachen Käfigen ohne anregendes Ambiente leben mussten. Anschließende histologische Untersuchungen zeigten, dass die Verhaltensunterschiede mit Zahl und Größe der Alzheimer-typischen Plaques im Gehirn korrelierten. Oder anders ausgedrückt: Die Lebensumstände scheinen den Verlauf des Alzheimer nicht nur rein symptomatisch zu modulieren, sie sind anscheinend auch in der Lage, den Krankheitsprozess auf molekularer Ebene zu bremsen. Quelle: American Journal of Pathology (2006;169:544-552) Kurze Meldung Seite 18 Beiträge der Redaktion KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Brauchen wir zertifizierte MS-Spezialisten? Dr. med. Wolfgang Weihe Betainterferone vor Reha und Rente? Therapieunwillige werden unter Druck gesetzt Mitte 2005 wurde die vorzeitige Berentung einer Patientin mit Multipler Sklerose (MS) mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich trotz dringenden ärztlichen Anratens einer Behandlung mit Betainterferonen widersetzt habe. Vor drei Monaten wies der Rentenversicherungsträger den Rehabilitationsantrag eines Leiters einer MS-Selbsthilfegruppe zurück, weil er sich bisher nicht mit Betainterferonen behandeln lassen und damit die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht voll ausgeschöpft habe. Schließlich – und dies ist erst wenige Wochen her – wurde einem MS-Patienten von seiner Privatkasse angedroht, kein Krankengeld mehr zu bekommen, wenn er sich weiterhin der dringend notwendigen Behandlung mit Betainterferonen entzöge. Der Druck, der auf Therapieunwillige ausgeübt wird, geht jedoch noch weiter: Am Arbeitsplatz werden ihnen von Vorgesetzten und Kollegen vermeidbare Fehlzeiten vorgeworfen und sogar in der Familie kann es zu erheblichen Problemen kommen, wenn ihnen unterschwellig eine Mitschuld suggeriert wird, wenn sich ihre Krankheit verschlechtert. Gibt es einen Gold-Standard in der MS-Therapie? Nicht nur unter Ärzten, bei Rentenversicherungsträgern und Krankenkassen, sondern auch unter Laien hat sich die Auffassung durchgesetzt, es gäbe so etwas wie einen Goldstandard in der MS-Therapie und jeder, der sich diesem nicht beuge, handele sich selbst und der Gesellschaft gegenüber unverantwortlich. In diesem Sinne ist auch der ärztliche Beirat der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG) zu verstehen, wenn er beklagt, dass MS-Betroffene zu selten und zu spät auf die so genannten Immunmodulatoren (Betaferon®, Avonex®, Rebif® und Copaxone®) eingestellt werden und die Therapie zu häufig vorzeitig abbrechen. Nicht zuletzt deshalb hat er beschlossen, Kliniken, neurologische Ambulanzen und Praxen zu zertifizieren [1]. Die Verleihung des Gütesiegels „Anerkanntes MS-Zentrum“, an dem sich die Betroffenen orientieren sollen, wo sie die optimale Behandlung bekommen, ist unter anderem an zwei Bedingungen geknüpft: Erstens müssen die Ärzte, die sich zertifizieren lassen wollen, mindestens 400 MS-Patienten pro Jahr behandeln, und sich zweitens verpflichten, sich an die Leitlinien zu halten, die 1999 von der Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG), einem Zusammenschluss der ärztlichen Beiräte der deutschen, österreichischen und der schweizerischen MSGesellschaften, formuliert wurden und unter dem Namen „immunmodulatorische Stufentherapie“ bekannt geworden sind. Die Therapie-Leitlinien der MSTKG Das zugrunde liegende Prinzip lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Bei schubförmiger MS soll möglichst frühzeitig eine Dauertherapie mit Betainterferonen (Avonex®, Betaferon® und Rebif®) oder alternativ mit Glatirameracetat (Copaxone®) begonnen werden. Wenn die Krankheit dennoch in das progrediente Stadium eintritt, werden als zweite Stufe Mitoxantron und als letzter verzweifelter Versuch das Cyclophosphamid (Endoxan®) empfohlen [2]. Was bringt Ärzte und Patienten dazu, den Empfehlungen der DMSG gegenüber zurückhaltend eingestellt zu sein? Handelt es sich um irrationale Motive, eine romantisch motivierte Abneigung gegen „Chemie“? Sollen Patienten wirksame Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 19 Medikamente vorenthalten werden, weil sie zu teuer sind? Oder handelt es sich einfach um Unwissenheit? Ich denke, alles dies ist nicht der Fall, sondern es gibt eine Reihe von ernst zu nehmenden Kritikpunkten an den Therapie-Leitlinien der DMSG. Ich werde mich hier auf die Beratung und Behandlung von Neubetroffenen und auf die Betainterferone als wichtigste Medikamentengruppe beschränken. Es gibt Zweifel an der Effektivität der Betainterferone. Auch wenn es als gesichert gilt, dass die Betainterferone die Schubzahl um ein Drittel senken, sticht dieser Effekt wenig ins Auge. Der wichtigste Grund ist dieser: Die Ergebnisse werden nach der üblichen Marketingstrategie „geframed“, also in relativen und nicht in absoluten Werten angegeben. Am besten lässt sich das am Beispiel der 1996 publizierten Avonex®-Studie zeigen [3]. Unter der Behandlung mit Plazebo traten innerhalb von zwei Jahren 0,82 Schübe auf, in der mit Avonex® behandelten Gruppe 0,67 Schübe. Die Schubrate wurde also um 0,15 Schübe pro zwei Jahre reduziert. Die NNT (number needed to treat) errechnet sich als 1 / 0,15 = 7. Das heißt: Man muss sieben Patienten über zwei Jahre mit Betainterferonen behandeln, um einen Schub zu verhindern. Da die Behandlung eines einzigen MS-Erkrankten mit Betainterferonen 15.000 Euro pro Jahr kostet, belaufen sich die Kosten pro verhinderten Schub auf 7 x 2 x 15.000 Euro = 210.000 Euro. Das ist eine beeindruckende Zahl, wenn man bedenkt, dass es keinen statistisch gesicherten Zusammenhang zwischen Schubrate und Langzeitverlauf gibt. Um einen Schub zu verhindern, müssen sieben Patienten zwei Jahre lang mit Interferon behandelt werden Ist tatsächlich Gefahr im Verzug? Mit dem Ziel, eine MS möglichst frühzeitig diagnostizieren und damit möglichst frühzeitig behandeln zu können, wurden die relativ komplizierten MacDonaldKriterien entwickelt und in die Leitlinien übernommen. Sie beruhen auf einem einfachen Prinzip: Man will nicht wertvolle Zeit mit dem Warten auf den zweiten Schub verlieren, sondern die MS-Diagnose so schnell wie möglich sichern, indem man nach einem halben Jahr die Kernspintomographie wiederholt. Wenn man hier neue Herde nachweist, gilt die MS entgegen früherer Definitionen als sicher. Warum, fragt man sich, dieser Zeitdruck? Das Hauptargument ist eine theoretische Überlegung: Neuropathologische Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht nur in frischen Herden mehr Nervenfasern geschädigt werden als früher angenommen wurde, sondern dass es auch in alten Herden zu einem kontinuierlichen Axonverlust kommt. Je mehr Herde also entstehen, desto mehr Nervenfasern gehen kurzoder langfristig zugrunde, und desto früher wird die Erkrankung in den sekundär progredienten Verlauf übergehen. Da aber die Herdproduktionsrate in der frühen Erkrankungsphase am höchsten ist, ist eine Therapie, die hauptsächlich darauf abzielt, die Neuentstehung von Herden zu unterdrücken, am effektivsten, wenn sie so früh wie möglich einsetzt. Soweit die Theorie. Durch Studien ist diese Annahme nicht belegt. Auch wird in den Therapieempfehlungen nicht differenziert zwischen den relativ gutartigen „weißen Flecken“, in denen der Axonuntergang gering oder nicht vorhanden ist, und den wesentlich aggressiveren „schwarzen Löchern“, die kernspintomographisch leicht voneinander zu unterscheiden sind. Der Langzeiteffekt der Betainterferone ist nicht erwiesen. Ich erwähnte bereits, dass es keinen statistisch gesicherten Zusammenhang zwischen Schüben bzw. Herden und dem Langzeitverlauf der MS gibt. Die vorliegenden Studien waren auf zwei, höchstens drei Jahre begrenzt. Ein Schluss auf den Langzeitverlauf ist auch deswegen nicht möglich, weil es im Laufe der Zeit in einem nicht geringen Prozentsatz zu einer Antikörperbildung gegen die Betainterferone kommt, die ihre Wirksamkeit beeinträchtigen. Die DMSG verweist in diesem Zusammenhang gern auf die PRISMS-8- Die Theorie ist nicht durch Studien belegt Seite 20 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Studie der Firma Serono (Hersteller von Rebif®). Es handelt sich um eine nach acht Jahren vorgenommene Nachuntersuchung von Patienten, die an einer auf zwei Jahre angelegten Studie zur Wirkung von Rebif® teilgenommen hatten. Durch eine statistisch fragwürdige Extrapolierung der Daten wurde berechnet, dass es bei einem mit Rebif® behandelten Patienten im Schnitt 5,9 Jahre dauert, bis sich sein EDSS (gebräuchlichste Skalierung der MS-Behinderung von 0 = keine Behinderung über 7 = Rollstuhlabhängigkeit bis 10 = Tod durch MS) um 1.0 Punkte verschlechtert, während dies bei Plazebo-Patienten bereits nach 2,9 Jahren der Fall ist. Da es sich um eine offene Studie handelt, in der nichts über die erhebliche Zahl der Patienten bekannt ist, welche die Therapie abgebrochen haben, ist sie statistisch nicht aussagekräftig. Die Patienten werden gezielt verunsichert Die Prognose der MS ist günstiger als erwartet. Vor allem Neubetroffenen wird oft Angst eingejagt, indem man den oben erwähnten ständigen Axonuntergang („Die MS schläft nicht.“) oder die drohende Rollstuhlabhängigkeit als Menetekel an die Wand malt. Nun verläuft die MS aber heutzutage wesentlich günstiger als zu der Zeit, aus der die meisten heute noch zitierten deprimierenden Verlaufsstudien stammen, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass der Anteil der leichten und leichtesten Verlaufsformen durch die Verfeinerung der diagnostischen Maßnahmen immer mehr zunimmt. Der Trend zu einer immer günstigeren Prognose wird von einer epidemiologischen Studie bestätigt, die 2004 in NEUROLOGY veröffentlicht wurde. Sie bezieht sich auf 162 MS-Patienten in Olmstedt-County, die 1991 erfasst und neurologisch genau untersucht wurden. Alle bis auf einen einzigen Patienten konnten nach genau zehn Jahren nachuntersucht werden. Das überraschende Ergebnis war, dass die meisten Patienten stabil geblieben waren oder nur eine minimale Progression zeigten. Die durchschnittliche Verschlechterung des EDSS nach 10 Jahren betrug für die gesamte Gruppe 1.0 Punkte [4]. Wenn man dagegen hält, dass sich in der PRISMS-8-Studie die PlazeboPatienten schon innerhalb von knapp drei Jahren um einen EDSS-Punkt verschlechterten, wird die Fragwürdigkeit der Übertragung von Daten aus der künstlichen Welt der Studien auf den Praxisalltag besonders deutlich. Die Nebenwirkungen sind erheblich. Die Betainterferone werden vom ärztlichen Beirat der DMSG als gut verträglich eingestuft. Das ist eine Beschönigung. Schon allein die zweitäglichen Injektionen unter die Haut (Betaferon®, Rebif®) oder die wöchentlichen intramuskulären Injektionen (Avonex®) sind nicht nur wegen der Überwindung, die es jeden Menschen kostet, sich selbst zu stechen, unangenehm. Hinzu kommen die grippeähnlichen Nebenwirkungen mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und Abgeschlagenheit, die Stunden und Tage anhalten können und nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsfähigkeit einschränken. Weiterhin treten Reizungen und Verhärtungen an den Einstichstellen auf, und einige Patient(inn)en finden nach einigen Monaten keine gesunde Stelle mehr, an der sie sich spritzen können. Die zunehmende Praxis, in diesen Fällen so genannte „MS-nurses“, die von den Herstellerfirmen ausgebildet und bezahlt werden, einzusetzen, ist durchaus kritisch zu sehen. Bei der Aufklärung unerwähnt bleiben oft die Menstruationsstörungen, ebenso wie es meist unter den Tisch fällt, dass eine Frau unter der Behandlung mit Betainterferonen nicht schwanger werden darf. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Depressionen und die Persönlichkeitsveränderungen, die unter der Therapie auftreten können; ganz abgesehen davon, dass das Leben der jungen Menschen durch die Behandlung von der MS geprägt und wie durch einen Fahrplan bestimmt wird. Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 21 Fazit Zur Betainterferon-Therapie bleiben also viele Fragen offen. Sie sind gut von den beiden MS-Experten D.H. Miller und A.J. Thompson in dem amerikanischen Standardlehrbuch „Diseases of the Nervous System“ (2002) zusammengefasst: „Die Langzeitwirkung der Betainterferone ist unklar. (...) Besonders brennende Fragen sind: Verzögert eine frühzeitige Behandlung die sekundäre Progression und die schwereren motorischen Ausfälle? Beeinflussen neutralisierende Antikörper, die sich bei 20-40 Prozent der Patienten entwickeln, den Langzeitverlauf? Gibt es bisher noch unentdeckte Langzeit-Nebenwirkungen, könnte z.B. das Krebsrisiko erhöht sein, wie man es bei anderen Medikamenten kennt, die das Immunsystem beeinflussen? Wegen des unterschiedlichen und unvorhersehbaren Verlaufs der MS sind systematische Langzeituntersuchungen erforderlich, um diese Antworten befriedigend beantworten zu können.“ Es ist und bleibt ein Dilemma, junge MS-Betroffene, von denen wir wis sen, dass sie zu einem großen Teil niemals schwerwiegende Behinderungen durch die Erkrankung erleiden werden, aufs Geradewohl den Nebenwir kungen und Risiken einer Langzeittherapie mit Immunmodulatoren auszu setzen, um den Verlauf bei einem kleineren Anteil mit einer aggressiveren MS abzumildern. Das Ziel kann nicht sein, alle Betroffenen möglichst frühzeitig zu behandeln, sondern wir müssen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt unterscheiden lernen, wer von der Therapie profitieren wird und wer nicht. Es gibt bereits eine Reihe von relativ zuverlässigen Kriterien, die auf eine günstige Prognose hindeuten: Beginn mit einer Optikusneuritis oder mit sensiblen Störungen, weitgehende Rückbildung der Schubsymptome, großer zeitlicher Abstand zwischen den Schüben, niedrige Herdproduktionsrate, Fehlen von „black holes“ usw., die in den Prozess der Entscheidungsfindung mit einbezogen werden sollten. Obwohl jedes einzelne von ihnen umstritten ist, sind sie in ihrer Gesamtheit in der Hand der Erfahrenen wertvoll. Nach wie vor ist der Spezialist unersetzbar, wenn es in unklaren Fällen um die Diagnosesicherung geht, und er wird gebraucht, wenn die MS einen aggressiveren Verlauf einschlägt, also wegen einer raschen Progredienz eine Behandlung mit Mitoxantron oder bei unbeherrschbarer Spastik die Implantation einer Lioresalpumpe erwogen werden muss. Aber bei der Entscheidung, ob ein Neuerkrankter auf Medikamente eingestellt werden soll, ist der MS-Betroffene bei dem Arzt in besseren Händen, der sich den Besonderheiten seines Falls annimmt, seine Lebenseinstellung (und auch seine Abneigung gegen Spritzen) respektiert und ihn unabhängig von Leitlinien und wissenschaftlichen Interessen berät. Sollte diese Möglichkeit nicht mehr gegeben sein, wird ein Großteil der MS-Erkrankten in die Arme von Außenseitern getrieben. Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Mitteilung auf der Homepage der DMSG vom 18.10.2005 2. DMSG „Immunmodulatorische Stufentherapie” (Stand Oktober 2004) 3. LD Jacobs et al. Intramuscular interferon beta-1a for disease progression in relapsing multiple sclerosis. Ann Neurol 1996;39:285-294 4. Pittock SJ et al.: Change in MS-related disability in a population-based cohort: a 10-year follow-up study. Neurology 2004 Jan 13;62(1):51-9 Wir müssen unterscheiden lernen, wer von der Therapie wirklich profitiert So werden viele Betroffene in die Arme von Außenseitern getrieben KVH • aktuell Seite 22 Beiträge der Redaktion Nr. 3 / 2006 Potentiell unangemessene Medikamente für ältere Patienten Dr. med.Günter Hopf In der sog. amerikanischen Beers-Liste werden Arzneistoffe aufgelistet, die speziell bei älteren Menschen verstärkt zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) führen oder als unwirksam gelten oder für die grundsätzlich besser verträgliche Substanzen zur Verfügung stehen. Nach einem Kommentar könnte diese Liste einer Überprüfung des eigenen Verordnungsverhaltens dienen und – wie zusätzlich angemerkt und das ist nur zu unterstützen – eine Anregung für deutsche Geriater sein, diese Liste sinnvoll zu adaptieren. Diese Liste von Arzneistoffen bedeutet nicht, dass die genannten Arzneimittel nicht mehr verordnet werden dürfen. Im Einzelfall und unter Beachtung der Gefahrenhinweise kann eine Verordnung für ältere Menschen weiterhin vertretbar sein. Die Freiverkäuflichkeit einzelner Präparate sollte bei einer Arzneimittelanamnese besonders beachtet werden. Auf der gegenüberliegenden Seite finden Sie eine gekürzte und leicht geänderte Fassung, nach Arzneistoffgruppen geordnet und mit Schwerpunkt auf Arzneistoffe mit hohem allgemeinem Verordnungsvolumen und auf freiverkäufliche Arzneimittel. Jeder Fünfte nahm ein unangemessenes Medikament ein Zusätzlich werden in der Liste noch als potentiell unangemessene Arzneimittel genannt: Amphetamine, Butylscopolamin (z.B. Buscopan®), Disopyramid (Rhythmodul®), Dipyridamol (Persantin®), Ethacrynsäure (Hydromedin®), Methyldopa (z.B. Presinol®), Methyltestosteron, Orphenadrin (Norflex®), Pentazocin (Fortral®). Eine europäischen Bestandsaufnahme (AdHOC-Projekt, leider ohne deutsche Zahlen) der Arzneimittelversorgung pflegebedürftiger älterer Menschen wies nach, dass circa 20 Prozent aller Patienten mindestens einen nach den Kriterien obiger Beers-Liste (oder einer ähnlichen kanadischen Liste, der McLeod-Liste) unangemessenen Arzneistoff einnahmen. Dabei ergaben sich, nicht unerwartet, erhebliche Differenzen zwischen den Verordnungen in den einzelnen Ländern. Extreme sind in Tschechien beobachtet worden (z.B. 20 Prozent der Patienten erhielten Pentoxifyllin), aber auch in Italien (8,3 Prozent der Patienten erhielten Ticlopidin). Für niedergelasse Ärztinnen und Ärzte ist von zusätzlichem Interesse, dass der behandelnde Arzt bei 18 Prozent aller Patienten die Medikation in den letzten sechs Monaten nicht überprüft hat (in Großbritannien: 56 Prozent!), zwölf Prozent der Patienten als „non-compliant“ eingestuft wurden, weil sie weniger als 80 Prozent der verordneten Medikamente eingenommen hatten. Dabei zeichnete sich ab, dass die Compliance eng mit der Anzahl der verordneten Medikamente verbunden war: je mehr, desto schlechtere Compliance, 51 Prozent der Patienten mehr als sechs, 22 Prozent mehr als neun verschiedene Medikamente einnahmen. Da keine deutschen Zahlen vorliegen, kann nur gehofft werden, dass die Zahlen bei uns aufgrund des „Sparzwanges“ günstiger ausfallen, zumindest bei Vertrags ärztinnen und -ärzten. Bei Verordnungen aus Krankenhäusern kann nur auf die hier oft publizierten „Rezepte des Monats“ verwiesen werden. Interessenkonflikte: keine Literatur: Arzneimittelbrief 2005; 39: 44 und 2005, 39: 54 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Seite 23 Arzneistoffgruppe genannte Arzneistoffe Verordn. Erhöhte Gefahr bei älteren Patienten 2004* Antiarrhythmika Amiodaron (z.B. Cordarex®) Antibiotika Nitrofurantoin(z. B. Furadantin®) Gyrasehemmmer Makrolide 6,9 Lungenfibrose (nicht dosisabhängig!), Niereninsuffizienz, Durchgangssysndrome, Interaktionen mit Marcumar, Theophyllin Antidementiva Dihydroergotoxin (z.B. Hydergin®) 5,3 kein klinisch relevanter Wirksamkeitsnachweis Antidementiva Cyclandelat (Natil®) 1,8 nach Studienlage unwirksam Antidepressiva Fluoxetin (z.B. Fluctin®) Amitryptilin Doxepin Antihistaminika Diphenhydramin (z.B. Emesan®), auch als Addukt mit Chlortheophyllin als Dimenhydrinat (z.B. Vomex®) NB: Arzneistoff ist auch in freiverkäuflichen Schlaf- und Hustenmitteln enthalten! Promethazin 6,4 Verwirrtheitszustände, (verstärkte) Sedierung Antihypertonika Methyldopa 1,8 Gefahr von Bradykardien und Depressionen Antihypertonika Reserpin über 0,25 mg in Kombinationen 41,6 Depressionen, als Hirnleistungsstörungen verkannt Antihypertonika Doxazosin (z.B. Cardular®) 62,7 Hypotension, Mundtrockenheit, Miktionsstörungen Antihypertonika Clonidin (z.B. Catapresan®) 19,5 orthostatische Hypotension, ZNS-UAW, Mund trockenheit, Reservemittel bei hypertoner Krise Antihypertonika Nifedipin, kurzwirkend (z.B. Adalat®) Benzodiazepine, lang wirkend Chlordiazepoxid (z.B. Librium®), Diazepam (z.B. Valium®), Flurazepam (z.B. Dalmadorm®) 1,7 extrem verlängerte Halbwertszeit über Tage, hohe 37,2 Sturzgefahr 5,7 Benzodiazepine, kurz bis mittellang wirkend Lorazepam (z.B. Tavor®), Oxazepam (z.B. Adumbran®), Triazolam (Halcion®) bei längerer Anwendung 32,4 erhöhte Empfindlichkeit gegen Benzodiazepine, 19,4 tagsüber Unruhezustände 2,0 H2-Blocker Cimetidin (z.B. Tagamet®) NB: freiverkäufliche Präparate 0,9 ZNS-UAW wie Verwirrtheitszustände häufiger Herzglykoside Digoxin 6,9 Toxizität wegen verminderter renaler Clearance Laxantien, länger angewandt z.B. Bisacodyl (Dulcolax®) NB: freiverkäufliche Präparate 1,3 Darmfunktionsstörungen NSAID (Nichtsteroidale Antiphlogistika) alle NSAID mit längerer Halbwertszeit (wie Naproxen, Piroxicam ) und bei längerer Einnahme NSAID Indometacin (Amuno®) 18,7 höchste Rate an ZNS-UAW Neuroleptika Promethazin z.B. Atosil® 28,2 anticholinerge UAW und verstärkte Sedation Sedativa Zolpidem, Triazolam Östrogene (oral) z.B. Monopräparate zur Hormontherapie in der Menopause Thrombozytenaggre gationshemmer Ticlodipin (z.B. Tiklyd®), Dipyridamol 24,9 QT-Verlängerung, Hypothyreose, Pneumonitis, Sehstörungen, ungewisse Wirksamkeit 33,4 lange Halbwertszeit, exzessive ZNS-Stimulation, Schlafstörungen, Agitiertheit, anticholinerg, sedierend 151,0 Kardiodepression, Angina pectoris 8,0 resp. GI-Blutungen, 17,0 Niereninsuffizienz, Hochdruck, Herzinsuffizienz 32,7 / 2,0 171,7 karzinogenes Potential, Thromboembolien 4,4 Toxizität, Agranulozytose Orthostase * Gesamtanzahl der Verordnungen in Deutschland zu Lasten der GKV in Millionen Tagesdosen (DDD) nach Schwabe/Paffrath, Arzneiverordnungsreport 2005 KVH • aktuell Seite 24 LeitlinienUpdate Nr. 3 / 2006 Der neueste Stand „Hausärztliche Alter“ im Alter: SpezielleLeitlinie Pharmakotherapie wurde nochmals angepasst Osteoporose Die Leitlinie „Pharmakotherapie im Alter“, die wir vor einigen Monaten veröffentlicht hatten, wurde punktuell der neuesten Entwicklung angepasst. Unten auf dieser Seite Ì Maßnahmen, die der Arzneitherapie finden Sie die dem neuesten Stand angepassten Teile zur speziellen Pharmakotherapie vorangehen der Osteoporose. Stand der Leitlinie ist nun 05.07.2006. Ì Arzneitherapie xx Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen oder diese unterstützen s. Therapieempfehlung AkdÄ, DVO [46,256] Motivation zur Mitarbeit Vigilanzförderung Gewichtsnormalisierung Körperliche und geistige Aktivierung {B} regelmäßiges Gehtraining [85] {B} (IIa) Schwindeltraining „Gehirn-Jogging“ Sturzprophylaxe [88] {A} (Ia) Stolperfallen beseitigen Ggf. Hüftprotektoren] mit Schulungsprogramm bei überdurchschnittlich sturzgefährdeten Personen in Altenheimen [198] Toilettensitzerhöhung Gehhilfen, Haltegriffe Sehhilfen, Nachtbeleuchtung Evtl. „Sturzprophylaxetrainingseinheiten“ auf häuslicher Basis, angeleitet durch eine speziell ausgebildete Krankenschwester u. a. [224] {A} (Ib) Arzneitherapie Modifiziert nach Therapieempfehlungen AkdÄ, DVO 2006 [46,256] Indikation nach Risikoprofil, nicht nur nach TScore) (s. Empfehlungen zur Indikationsstellung) Basismedikation [37] {A} (Ib), [89] (Ia) wenn indiziert (nach Therapieempfehlung der AkdÄ [256]): (s. Anhang 23) Calcium kombiniert mit Vitamin D: Calcium: 500-1000 mg/d s DVO Vitamin D: in Abhängigkeit von vermutetem Defizit 400-1200 IE/d Spezifische Medikation: Bisphosphonate {B} Alendronat [30] {A} (Ib) (auch zur Therapie bei Männern zugelassen) Risedronat [155] {A } (Ib), Etidronat [46] {B} (Ib) Ibandronat [46] {A} (auch i.v.) SERM (s.u.) Raloxifen [46] {A} Strontium Ranelat [46] {A} Teriparatid [46] {A} für Verminderung von Wirbelkörperfrakturen bei postmenopausalen Frauen mit Osteoporose , {B} für Verminderung von peripheren Frakturen bei postmenopausalen Frauen mit Osteoporose Therapiedauer auf max. 18 Monate beschränken (Reservemedikation) Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 25 Hausärztliche Leitlinie Fettstoffwechselstörung Hausärztliche Leitlinie – Dyslipidämie Chronische Herzinsuffizienz Bewertung und Therapie Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Stand 01. März 2006 Revision bis spätestens Stand Version 3.00 März 05.2009 Juli 2006 Hausärztliche Leitlinie Herzinsuffizienz Version 3.11 Revision bis spätestens Chronische Juli 2009 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Anmerkung: Version 3.00 Diese Leitlinie umfasst insgesamt 37 Sei Stand Version 3.00 ten. Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs 05. aufJuli den2006 folgenden Seiten nur Auszüge mit den wichtigsten Inhalten. Revision am bis spätestens Die Seitenzahlen unteren Rand der Juli 2009 Seite korrespondieren mit den Seiten zahlen der Original-Leitlinie. Die Seiten zahlen am oberen Rand entsprechen den Seitenzahlen dieses KVH aktuell. Versionim3.00 Die ansonsten Text erwähnten An hänge und Literaturstellen (Ziffern in Klammern), die hier nicht abgedruckt sind, finden Sie in der vollständigen Leitlinie. Sie ist im Internet unter www. pmvforschungsgruppe.de verfügbar. Auf dieser Webseite bitte den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite auf Publikationen positionieren und im aufklappenden Untermenü auf Leitlinien klicken. F. W. Bergert M. Braun D. Conrad K. Ehrenthal J. Feßler J. Gross K. Gundermann H. Hesse U. Hüttner B. Kluthe W. LangHeinrich A. Liesenfeld E. Luther F. W. Bergert M. Braun R. Pchalek D. Conrad J. Seffrin A. Sterzing K. Ehrenthal J. Feßler H.-J. Wolfring W. Bergert J. Gross U. Zimmermann M. Braun K. Gundermann D. Conrad H. Hesse K. Ehrenthal U. Hüttner J. Feßler B. Kluthe J. Gross W. LangHeinrich K. Gundermann A. Liesenfeld H. Hesse E. Luther U. Hüttner R. Pchalek B. Kluthe J. Seffrin W. LangHeinrich A. Sterzing A. Liesenfeld H.-J. Wolfring E. Luther U. Zimmermann R. Pchalek J. Seffrin A. Sterzing H.-J. Wolfring U. Zimmermann Seite 26 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Inhaltsverzeichnis 02 Kontext und Kooperation 03 Verantwortlichkeit 05 Chronische Herzinsuffizienz Epidemiologie Ätiologie Pathophysiologie 17 Kontraindikationen und Nebenwirkungen für ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorblocker, Betablocker und Thiaziddiuretika 18 Kontraindikationen und Nebenwirkungen für Schleifendiuretika, Aldosteronantagonisten und Digitalisglykoside 19 Verlaufskontrolle und hausärztliche Schnittstellen 06 Hausärztliche Schlüsselfragen Therapieziele 07 Risikoabschätzung/Therapieentscheidung 20 Zusammenfassung 08 Grundregeln der Diagnostik 21 Literatur Zur Erarbeitung herangezogene Leitlinien 22 Zitierte Literatur 09 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Therapieschritte: Kausale, allgemeine, medikamentöse Therapie 10 Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen Arzneitherapie 11 Algorithmus zum Einsatz der medikamentösen Therapie nach klinischen Gesichtspunkten 12 Besonderheiten 14 Substanzen mit nachgewiesener Verbesserung der Prognose 15 Hinweise zu ACE-Hemmern, Betablockern und Diuretika 16 Hinweise zu Diuretika (Fortsetzung), Aldosteronantagonisten, AT1-Rezeptorblockern und Digitalisglykosiden 26 Anhang Ursachen der Herzinsuffizienz und mögliche Therapieansätze 27 ACE-Hemmer: Eliminationshalbwertzeiten 28 Studien zur Herzinsuffizienz 31 Metaanalysen zur Herzinsuffizienz 32 Statistik Übersicht über Risikomaße und statistische Kenngrößen 34 Evidenzkategorien 35 Informationen zur Leitliniengruppe Hessen 37 Disclaimer und Internetadressen Anmerkung: Die hier angegebenen Seitennummern beziehen sich auf die Seiten der Leitlinie am unteren Rand der Seiten. 01 Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 27 Chronische Herzinsuffizienz Ì Epidemiologie Ì Ätiologie Ì Pathophysiologie Epidemiologie Die Inzidenz der Herzinsuffizienz steigt exponentiell mit dem Alter und liegt in der Altersdekade »75 bis 84 Jahre« bei 0,98 % bei Männern und bei 0,59 % bei Frauen [10]. Die Prävalenz liegt bei den über 45-Jährigen bei 3,1 % [12]. Ätiologie Die Herzinsuffizienz ist das Endstadium vieler unterschiedlicher Krankheiten. Die häufigsten Ursachen sind Hypertonie und KHK, allein oder in Kombination [41]. Eine Übersicht der Ursachen der Herzinsuffizienz zeigt eine Tabelle im Anhang. Pathophysiologie Unabhängig von der Ursache der Herzinsuffizienz führt die Verminderung der linksventrikulären Funktion zu Gegenregulationsmechanismen (z. B. Aktivierung des sympatho-adrenergen Systems, Aktivierung des Renin-Angiotensin-AldosteronSystems), die zunächst zu einer Besserung des Herz-Minutenvolumens führen. In der Folge kommt es jedoch zu einer Vasokonstriktion mit Erhöhung der Nachlast, Flüssigkeitsretention, Reduktion der myokardialen Katecholaminrezeptordichte und Förderung des myokardialen Zelltods. Diese Prozesse erhöhten längerfristig die Belastung des Myokards und fördern in einem circulus vitiosus das pathologische Remodeling: die Dilatation und den morphologischen Umbau des linken Ventrikels durch Myozytenreduktion und bindegewebige Umwandlung des Myokards [37]. Die Erforschung der pathophysiologischen Mechanismen hat in den letzten Jahren zu einer fundamentalen Änderung der Therapiekonzepte geführt (z. B. Einführung der Betablocker, ACE-Hemmer und Aldosteronantagonisten in die Therapie) damit wurde eine deutliche Besserung der Prognose der Herzinsuffizienz erreicht. 05 Seite 28 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Hausärztliche Schlüsselfragen Ì Therapieziele Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ist bei der Herzinsuffizienz besonders stark. Sie führt zu häufigen stationären Aufenthalten und ist nach der Hypertonie die zweithäufigste kardiovaskuläre Ursache für einen Praxisbesuch [44]. Die unbehandelte Herzinsuffizienz hat eine besonders schlechte Prognose, vergleichbar mit der einiger Malignome! In der Framingham Studie lag die mediane Überlebenszeit bei 1,7 Jahren für Männer und 3,2 Jahren für Frauen [41]. Da diese schlechte Prognose medizinisch gut beeinflussbar ist, kommt dem betreuenden Hausarzt eine wichtige Aufgabe bei der Therapie und Überwachung dieses Krankheitsbildes zu. Die Stadieneinteilung (s. NYHA-Klassen) und die damit verbundene Verlaufsbeobachtung basieren auf anamnestischen und klinischen Befunden (s. u.) und sind somit Domäne der hausärztlichen Tätigkeit. Die Therapie und die Prognose des Patienten werden durch den Stadienverlauf bestimmt. Es gibt jedoch Hinweise, dass Hausärzte sich hinsichtlich der Indikationsstellung und Therapie unsicher sind [21]. Trotz eindeutiger Evidenz für den Nutzen von ACE-Hemmern werden diese in der Praxis immer noch zu selten und in zu niedrigen Dosen eingesetzt [15, 33] {C}. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch dem Patientengespräch mit Aufklärung über die Erkrankung und Vereinbarung von Therapiezielen gelten. Eine wichtige hausärztliche Aufgabe stellt die Schulung des Patienten zur Messung des Körpergewichts unter stets gleichen Bedingungen dar, die Information des Patienten, wie er sich bei Verschlechterung der Werte verhalten soll sowie die Anleitung zu den nichtmedikamentösen Maßnahmen. Therapieziele Durch eine konsequente Therapie sollen die Progression der Erkrankung gestoppt sowie die Hospitalisationsrate und die Letalität gesenkt werden; die Symptome und die Lebensqualität sollen verbessert werden [29]. 06 Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 29 Hausärztliche Schlüsselfragen Ì Risikoabschätzung/Therapieentscheidung Risikoabschätzung/Therapieentscheidungen Zentrale Fragen für die Anamnese zur Feststellung einer Herzinsuffizienz sind: Leidet der Patient unter Dyspnoe, Müdigkeit, Ödemen? Bestehen kardiale Vorerkrankungen? Durch die Diagnostik können Ursachen der Herzinsuffizienz erkannt und z. T. kausal therapiert werden (s. Grundregeln der Diagnostik, zu den wichtigsten Ursachen s. Tabelle im Anhang). Der Therapieerfolg kann durch eine Verbesserung der NYHA-Klasse belegt und dokumentiert werden, die Progredienz der Erkrankung durch eine Verschlechterung der NYHA-Klasse. Die Verschlechterung der NYHA-Klasse gibt somit einen Hinweis auf eine notwendige Ausweitung der Therapie (s. Algorithmus). Wann entscheide ich mich für eine Therapie? Eine medikamentöse Therapie ist sowohl bei Symptomen des Patienten als auch bei asymptomatischer Herzinsuffizienz (NYHA I) einzuleiten, da die Therapie neben der Symptombesserung auch die Besserung der Prognose anstrebt. Im NYHA Stadium I wird man einen ACE-Hemmer geben, der Algorithmus (s. u.) führt den Arzt nur bei zusätzlichen klinischen Symptomen zu weiteren medikamentösen Maßnahmen. Welchen Stellenwert haben Betablocker? Der Einsatz von Betablockern in der Therapie der Herzinsuffizienz stellt ein typisches Beispiel für einen Paradigmenwechsel in der Medizin dar, da diese noch in den 80er Jahren als kontraindiziert angesehen wurden. Ein solcher Paradigmenwechsel setzt sich nur langsam im Alltagshandeln durch und ist oftmals mit Unsicherheit verbunden, zumal vielfach in der Roten Liste bei vielen eingeführten Präparaten noch die Herzinsuffizienz als Kontraindikation aufgeführt wird. 07 Seite 30 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Grundregeln der Diagnostik Ì Diagnostisches Vorgehen Ì Wichtige Symptome und Befunde Ì Klassifikation der Herzinsuffizienz Diagnostisches Vorgehen Eine genaue Diagnostik ist erforderlich, da zum Teil eine kausale Therapie möglich ist. Zum Vorgehen siehe auch [5]. Basisdiagnostik: Anamnese und klinische Untersuchung (s. Symptome und Befunde) {C} EKG [11] {B} Spirometrie {C} Labor {C} Erweiterte Diagnostik: Sonographische, nuklearmedizinische und invasive Diagnostik durch Kardiologen {C} Wichtige Symptome bei Herzinsuffizienz (nach [61]) Wichtige Befunde bei Herzinsuffizienz (nach [61]) Dyspnoe und/oder Orthopnoe Nächtlicher Husten Verminderte Belastbarkeit Palpitationen (thorakales Unruhegefühl) Periphere Ödeme Nykturie Gewichtzunahme, Gewichtsverlust Tachykardie Dritter Herzton Pulmonale Rasselgeräusche Periphere Ödeme Hepatomegalie und/oder Aszites Pleuraerguss Klassifikation der Herzinsuffizienz Darüber hinaus liefert die klinische Stadieneinteilung nach NYHA (New York Heart Association) eine wichtige Hilfestellung zur Therapie, Verlaufskontrolle und Prognose (nach [71]): Klasse I: asymptomatisch Patienten mit einer Herzkrankheit, aber ohne Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit. Übliche körperliche Aktivität führt nicht zu übermäßiger Müdigkeit, Palpitationen, Dyspnoe oder Angina pectoris. Klasse III: mittelschwer Keine Beschwerden in Ruhe. Weniger als übliche körperliche Aktivität, z. B. Gehen in der Ebene, führt zu Müdigkeit, Palpitationen, Dyspnoe oder Angina pectoris.. Klasse II: leicht Keine Beschwerden in Ruhe. Übliche körperliche Aktivität, z. B. Bergaufgehen, Treppensteigen, führt zu Müdigkeit, Palpitationen, Dyspnoe oder Angina pectoris. Klasse IV: schwer Symptome der Herzinsuffizienz sind sogar in Ruhe vorhanden mit Zunahme bei jeglicher körperlicher Aktivität. Keine körperliche Aktivität kann ohne Müdigkeit, Palpitationen, Dyspnoe oder Angina pectoris ausgeführt werden. 08 Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 31 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Therapieschritte: Kausale, allgemeine, medikamentöse Therapie Die Therapie besteht in kausaler Behandlung (z. B. Therapie der Hypertonie, der Hyperthyreose, Herzrhythmusstörungen, KHK, etc.), allgemeinen (Gewichtsreduktion, Ernährung) und medikamentösen Maßnahmen. Die medikamentöse Basistherapie (auch bei asymptomatischer Herzinsuffizienz, s. NYHAKlasse I) besteht in der Gabe von ACE-Hemmern (bei Unverträglichkeit AT1-Blocker) zur Entlastung des Herzens durch Vasodilatation. Durch die Therapie soll auf jeden Fall eine Stabilisierung (d. h. der Zustand des Patienten soll sich nicht verschlechtern) bzw. eine Verbesserung der Symptomatik erreicht werden (zur Halbwertzeit der verschiedenen ACE-Hemmer s. Anhang). Steht bei dem Patienten eine Überwässerung im Vordergrund, so sollte die Therapie mit einem Diuretikum eingeleitet werden, dem dann innerhalb einiger Tage nach Überprüfung von Blutdruck, Kalium und Kreatinin die Gabe eines ACE-Hemmers folgt. Einer neuen Studie [76] zufolge kann die Therapie mit einem Betablocker begonnen werden, um dann in der Regel ebenfalls rasch – noch vor Erreichen der Zieldosis – mit einem ACEHemmer zu folgen. Die Leitliniengruppe empfiehlt dies bei Patienten, bei denen eine erhöhte Ruhefrequenz im Vordergrund steht (cave: zunächst Verschlechterung der Symptomatik der Herzinsuffizienz möglich). Nach hausärztlicher Erfahrung kommt diese Therapieoption nur bei wenigen Patienten zur Anwendung, hier wird auch die Mitbetreuung durch den Kardiologen empfohlen. Falls keine Stabilisierung eintritt, werden aus der Trias ACE-Hemmer, Betablocker und Diuretikum der noch fehlende Wirkstoff zusätzlich eingesetzt: bei schnell erwünschter Diurese ist ein Schleifendiuretikum einzusetzen, bei vorhersehbarer Langzeittherapie eher ein Thiazid. Die Therapie mit Thiaziden stellt eine Dauerbehandlung dar! Wenn das Serum-Kreatinin auf über 1,8 mg/dl steigt, sind Thiazide nicht mehr wirksam und kontraindiziert. Dann muss auf ein Schleifendiuretikum umgestellt werden. Wird mit der Kombination ACE-Hemmer und Diuretikum und Betablocker keine Stabilisierung erreicht, erfolgt die Gabe von Spironolacton (s. Algorithmus) [54]. Sollte auch unter diesen vier Wirkstoffen keine Stabilisierung erfolgen, sind Herzglykoside indiziert. Bei Männern mit Sinusrhythmus hat eine Studie die Wirksamkeit belegt [58]. Nach Auffassung der Leitliniengruppe ist ein Therapieversuch mit Herzglykosiden auch bei Frauen – trotz fehlender Studienlagen – gerechtfertigt. Herzinsuffiziente Patienten mit absoluter Arrhythmie und schneller Überleitung erhalten immer zusätzlich Herzglykoside [72]. Die Digitalisdosierung richtet sich nach dem Digitalisspiegel, beginnend mit der Standarderhaltungsdosis, d. h. ohne schnelle Aufsättigung. Zur Initialdosis und Zieldosis der anderen Medikamente siehe Dosierungsempfehlungen im Anhang. Die Initialdosis ist hier schrittweise langsam unter Kontrolle des Blutdrucks zu erhöhen, Phasen starker Hypotension können sogar eine stationäre Einstellung erforderlich machen. 09 Seite 32 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen Ì Arzneitherapie Maßnahmen, die der Arzneitherapie vorangehen oder diese unterstützen Arzneitherapie (siehe unten) Basistherapie (auch bei asymptomatischer Herzinsuffizienz): ACE-Hemmer [8, 27, 28, 50, 51, 70, 73] {A} ղU Bei Unverträglichkeit: AT1 Rezeptorblocker [42, 53, 68] {A} ղU Therapieplan erläutern, um die Compliance zu fördern {C} Gewichtsnormalisierung [60] {C} Beseitigung kardiovaskulärer Risikofaktoren inkl. Alkohol [31] {C} und Nikotin [47, 60] {B} (Alkoholkarenz bei alkoholischer Kardiomyopathie; sonst: Reduktion auf maximal 30g/Tag bei Männern und 20g/Tag bei Frauen) Salzarme Diät (2-3 g/Tag) [60] {C} Flüssigkeitsrestriktion (1-2 L/Tag) [60] {C} Regelmäßige, moderate körperliche Aktivität (Gehen, Radfahren) bei stabiler Herzinsuffizienz langsam beginnen (5 bis 45 min/Tag) [3] {A} [17] Pneumokokkenimpfung [62] und Grippeimpfungen [46, 60] {B} Tägliche Gewichtskontrolle unter gleichen Bedingungen [68] {C} Bei KHK oder Klappenfehlern frühzeitige invasive oder chirurgische Intervention [60], Herztransplantation [60] oder neuere chirurgische Verfahren {C} Modernere Elektrostimulationssysteme [60] {C} Bestehen unter dieser Monotherapie weiterhin Insuffizienzzeichen: Diuretika [19, 24, 59, 60,] {A} ղU und/oder Betablocker [6, 39, 45, 56] {A} ղU Kommt es unter dieser Dreiertherapie nicht zu einer Stabilisierung der klinischen Symptomatik: Spironolacton [54] {A} ղA Sollte auch unter dieser Vierertherapie keine Stabilisierung gelingen: Digitalis [58, 72, 74] {A} ղV Besonderheiten: Steht eine Überwässerung im Vordergrund: Beginn mit Diuretika, dann 1-3 Tage später ACE-Hemmer, anschließend Betablocker. Steht eine erhöhte Ruhefrequenz im Vordergrund: Beginn mit Betablocker (Carvedilol, Bisoprolol, Metoprololsuccinat), dann 1-3 Tage später ACEHemmer, anschließend Diuretika [76]. Hinweis zur Multimorbidität: Nach Meinung der Leitliniengruppe ist die Therapie bei multimorbiden Patienten „Unverzichtbar“ (ղU), „Verzichtbar“ (ղV) bzw. ist die Verordnung „abzuwägen“ (ղA) 10 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Seite 33 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Algorithmus zum Einsatz der medikamentösen Therapie nach klinischen Gesichtspunkten manifeste ambulant behandelbare Herzinsuffizienz oder linksventrikuläre Auswurffraktion <40% ja Hypervolämie im Vordergrund ja Diuretikum Nach Akutintervention möglichst bald in Abhängigkeit von K+, Krea und RR Diuretikum + ACE-Hemmer nein Erhöhte Ruhefrequenz im Vordergrund (wenige Patienten) nein ja Beta-Blocker Nach 1-3 Tagen ACE-Hemmer ggf. Kardiologen zuziehen Betablocker + ACE-Hemmer Besserung ? ACE-Hemmer Besserung ? nein ACE-Hemmer + Beta-Blocker Besserung ? nein nein ACE-Hemmer + Beta-Blocker + Diuretikum Diuretikum + ACE-Hemmer + Beta-Blocker Besserung? nein ACE-Hemmer + Beta-Blocker + Diuretikum + Spironolacton Besserung ? nein ACE-Hemmer + Beta-Blocker + Diuretikum + Spironolacton + Digitalis 11 Seite 34 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Besonderheiten Der Patient muss bei erstmaliger ACE-Hemmer Gabe über den ausgeprägten Blutdruckabfall bei der ersten Dosis aufgeklärt werden. Nach der ersten Einnahme sollte eine einstündige ärztliche Überwachung erfolgen. Zur Ersteinstellung empfiehlt es sich, eine Dosis von 3,125 mg Captopril zu nehmen (Testdosis), um dann mit dem gewünschten ACE-Hemmer fortzufahren. Sollte bei lange vorbestehender Diuretikumeinnahme ein ACE-Hemmer neu angesetzt werden, so ist dies erst nach einer zweitägigen Auslassphase des Diuretikums möglich, da es sonst initial zu ausgeprägter Hypotonie kommen kann. Dies gilt auch für Kombinationen aus Diuretikum und kaliumsparendem Mittel [65]. Das Diuretikum kann dann zwei Tage nach Beginn der ACE-Hemmer Therapie bei Bedarf wieder hinzugegeben werden. Patient mit NSAR/ASS-Therapie: Die blutdrucksenkende Wirkung der ACE-Hemmer ist abgeschwächt (möglicherweise durch die natrium- und wasserretinierende Wirkung der NSAR; z. B. schon ab Dosen von 300 mg ASS). Hier ist der Patient auf ein anderes Schmerzmittel umzustellen bzw. die Patienten sind auf diese Wechselwirkung hinzuweisen (Selbstmedikation mit NSAR/ASS!). Patient hat eine Hyperkaliämie: Hier sollte zusätzlich zum ACE-Hemmer ein Schleifendiuretikum gegeben werden. Da eine solche Einstellung nicht frei von Risiken ist sowie engmaschige Kaliumkontrollen erfordert, kann man sie auch stationär durchführen. Patient hat eine schwere Hypotonie: Hier ist die ambulante Einstellung immer problematisch; ggf. stationäre Einstellung. Patient zeigt deutliche Verschlechterung nach Beginn der Betablockertherapie: Falls möglich Dosisreduktion und langsame Dosiserhöhung (z. B. alle 4 Wochen, sonst alle 2 Wochen). Sollte beides erfolglos bleiben, stationäre Einstellung erwägen! Auch Patienten mit relativer Betablocker Kontraindikation (z. B. COPD) profitieren von der Prognoseverbesserung [39]. Bei COPD mit reversibler Obstruktion sind ß1-selektive Betablocker zu bevorzugen [30]. Patient weist trotz Thiazidgabe Ödeme/Wassereinlagerung auf: Hier kann das Thiaziddiuretikum (nur dieses unterstützt die Wirkung des ACE-Hemmers) mit einem Schleifendiuretikum kombiniert werden. Die Meinung, dass ein therapeutischer Vorteil (keine Sturzdiurese, Kaliumstoffwechsel) bei Torasemid im Vergleich zu Furosemid bestünde, kann aus den vorliegenden Studien nicht abgeleitet werden (s. Drugdex Evaluation zu Torasemid, s. [1, 2]). Darüber hinaus gibt es auch keine Belege, dass Xipamid weniger Störungen des Kaliumhaushaltes verursacht als HCT (s. Drugdex Evaluation zu Xipamid, s. [19]). 12 Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 35 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Besonderheiten (Fortsetzung) Bei der Therapie der Herzinsuffizienz mit Betablockern scheint kein Klasseneffekt der Betablocker vorzuliegen, da ein Nutzen (Mortalitätsreduktion) nur für Metoprolol, Carvedilol und Bisoprolol gezeigt werden konnte (s. zusammenfassend [30, 35]). Nebivolol zeigt einen signifikanten Rückgang des kombinierten Endpunktes Mortalität und stationäre Aufnahme wegen eines kardiovaskulären Ereignisses, veränderte die Gesamtmortalität jedoch nicht (95% CI 0,71-1,08; p=0,21) [20]. Die Leitliniengruppe empfiehlt deshalb, die Medikamentenauswahl auf die drei oben genannten Substanzen einzuschränken, Nebivolol ist nur bei Unverträglichkeit dieser drei in Erwägung zu ziehen. Bei Patienten mit Herzinsuffizienz und gleichzeitig vorliegender obstruktiver Ventilationsstörung sind die zur Therapie der Herzinsuffizienz zugelassenen ß1-spezifischen Betablocker (Bisoprolol, Metoprolol) vorzuziehen [30]. Auch Diabetiker mit Herzinsuffizienz profitieren von einer Betablockertherapie. Antiarrhythmische Therapie bei Patienten mit Herzinsuffizienz: Eine antiarrhythmische Therapie verschlechtert die Prognose insbesondere bei Patienten mit schlechter LV-Funktion (s. CAST-Studie [69]). Orale Antikoagulation ist indiziert bei Patienten mit Herzinsuffizienz mit Vorhofflimmern. Ein INR von 2,0 bis 2,5 ist anzustreben. Der Nutzen einer routinemäßigen oralen Antikoagulation bei Patienten mit Sinusrhythmus konnte dagegen nicht gezeigt werden [16, 67]. 13 Seite 36 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Ì Substanzen mit nachgewiesener Verbesserung der Prognose Ì Substanzen mit nachgewiesener Verbesserung der Symptomatik Es werden Substanzen aus mehreren Medikamentengruppen eingesetzt, die man in zwei Kategorien – Verbesserung der Prognose bzw. Verbesserung der Symptomatik – einteilen kann. Es werden nur Substanzen benannt, für die Endpunktstudien vorliegen. Substanzen mit nachgewiesener Verbesserung der Prognose Hierzu gehören alle ACE-Hemmer [8, 27, 28, 36, 50, 51, 70, 73], Metoprolol [45], Bisoprolol [6], Carvedilol [39], Spironolacton [54] bzw. Eplerenone [55] und AT1-Rezeptorblocker [42, 53, 68] {A}. Die Wirksamkeit von Spironolacton ist offensichtlich stärker als die von Eplerenone, jedoch treten bei Spironolacton häufig Unverträglichkeiten auf (vor allem Gynäkomastie). In diesem Fall sollte Eplerenone als Alternativmedikament eingesetzt werden. Es ist zur Zeit in Deutschland noch nicht zugelassen. Die Therapie mit Betablockern kann am Anfang zu einer Verschlechterung des Befindens des Patienten führen. Es bedarf daher einer ausführlichen Aufklärung über die enorme Bedeutung für die Besserung der Prognose. Dies muss dem Patienten im Hinblick auf die Compliance deutlich gemacht werden [6, 39, 45]. Initial muss die Betablockertherapie niedrig dosiert begonnen werden (ca. 1/10 der Zieldosis) und die Dosis langsam (höchstens wöchentliche Steigerung) unter engmaschiger Kontrolle auf die Zieldosis gesteigert werden (s. Anhang). Es gibt Hinweise darauf, dass Carvedilol besser als Metoprolol die Gesamtmortalität senkt [56] {A}. Metoprolol ist in der retardierten Form einzusetzen, bei Bisoprolol entfallen galenische Überlegungen. Da AT1-Rezeptorblocker in der ELITE II Studie [53] nicht besser als ACE-Hemmer abschnitten, bleibt diese Therapie für Patienten mit ACE-HemmerIntoleranz reserviert {A}. Substanzen mit bisher nicht nachgewiesener Verbesserung der Prognose aber Verbesserung der Symptomatik Hierzu gehören Diuretika [24, 59, 60] und bei Männern mit Sinusrhythmus Digitalisglykoside [58, 72, 74] {A}. In einer Metaanalyse, die 8 Studien mit Thiaziden versus Placebo berücksichtigt [18], wurde zwar ein Rückgang der Gesamtmortalität errechnet, doch konnte diese Verbesserung der Prognose nicht durch einzelne Studien gezeigt werden (s. hierzu auch den Behandlungsalgorithmus und die Dosierungsempfehlungen im Anhang). Auf Grund des Blutungsrisikos sollte nur bei gleichzeitigem Vorliegen von Vorhofflimmern, großen ventrikulären Aneurysmen, einer Anamnese von Thromboembolien sowie bei flottierenden Wandthromben eine orale Antikoagulation durchgeführt werden {C}. Für ASS ist bei chronischer Herzinsuffizienz kein günstiger Effekt belegt [60] {C}. 14 Nr. 3 / 2006 KVH • aktuell Seite 37 Verlaufskontrolle und hausärztliche Schnittstellen Verlaufskontrolle Es sollten – abhängig von der Symptomatik – engmaschige hausärztliche Kontrollen erfolgen. Hierzu zählt die Überprüfung der Gewichtsprotokolle, Blutdruckmessung sowie anamnestische und klinische Beurteilung gemäß der NYHA-Klassifizierung. Laborkontrollen sind bei stabilen Patienten jedes halbe Jahr ausreichend. Woran erkennt man eine Verschlechterung (Dekompensation)? Wichtige Hinweise sind Atemnot, Gewichtszunahme von mehr als 2 kg innerhalb von 1 bis 3 Tagen (täglich wiegen!) und Zunahme der Beinödeme. Als erste Maßnahme ist die Diuretikumdosierung zu erhöhen. Wenn innerhalb von 24 Stunden keine Besserung eintritt, ist unbedingt eine Überweisung an den Facharzt oder eine Einweisung ins Krankenhaus erforderlich. Patientenschulung: Zur Früherkennung von Dekompensationen soll der Patient geschult werden, sich täglich unter den gleichen Bedingungen zu wiegen und bei Gewichtszunahme von mehr als 2 kg innerhalb von 1 bis 3 Tagen [68] den Hausarzt aufzusuchen {C}. Einmal im Jahr ist eine kardiologische Untersuchung zur Verlaufsbeobachtung sinnvoll. Multimorbidität Da ACE-Hemmer und Betablocker die Prognose deutlich bessern und die Diuretika zu einer deutlichen Symptombesserung führen, sind sie bei Multimorbidität im allgemeinen unverzichtbar (ղU). Der Einsatz von Spironolacton ist abzuwägen (ղA), Digitalis-Glycoside erscheinen verzichtbar, auch in Anbetracht der zahlreichen, möglichen Interaktionen (ղV). Schnittstellen Im Rahmen der kausalen Abklärung bei Diagnosestellung sollte grundsätzlich eine fachkardiologische Untersuchung erfolgen, um eine – eventuell mögliche – kausale Therapie nicht zu versäumen. In Abhängigkeit von den dabei erhobenen Befunden wird vom Facharzt in Absprache mit dem Hausarzt die Intervalldauer der Kontrolluntersuchungen (mindestens einmal pro Jahr) entschieden. Bei Verschlechterung der Symptomatik trotz Therapieanpassung soll der Patient erneut kardiologisch vorgestellt werden, bei Dekompensation ist eine stationäre Einweisung erforderlich {C}. Bei Versagen der medikamentösen Therapie sollte rechtzeitig an die additiven chirurgischen Therapieoptionen (kardiale Resynchronisation mit speziellen Schrittmachern, Reduktionsventrikuloplastie, Kardiomyoplastie) gedacht werden [63]. Implementierung Die Leitlinienruppe empfiehlt, die Leitlinie in Qualitätszirkeln zusammen mit praxisindividuellen Feedback-Analysen zur Behandlung der Herzinsuffizienz zu diskutieren. Folgende Indikatoren können hierzu herangezogen werden: Anteil der Herzinsuffizienzpatienten mit einer ACE-Hemmerbehandlung (bzw. AT 1Antagonisten) als empfohlene Basistherapie, Betablockertherapie sowie Anteil mit Wirkstoffen, für die Endpunktstudie vorliegen, einem Verordnungsmuster, das nicht der Leitlinienempfehlung entspricht (Herzglykoside/Kardiaka ohne gleichzeitige Verordnung eines ACE-Hemmers oder AT1-Antagonisten), mit Verordnung von Calciumantagonisten (außer Amlodipin), die auf Grund ihrer negativ inotropen Wirkung bei Herzinsuffizienz möglichst nicht eingesetzt werden sollen. 19 Seite 38 KVH • aktuell Nr. 3 / 2006 Zusammenfassung Ì Therapie der chronischen Herzinsuffizienz Die Inzidenz der Herzinsuffizienz steigt exponentiell mit dem Alter. Die Herzinsuffizienz ist das Endstadium vieler unterschiedlicher Krankheiten, die häufigsten Ursachen sind Hypertonie und KHK. Andere seltenere Ursachen, wie z. B. Herzvitium, Anämie, Tachyarrhythmie, Hyperthyreose u. a., dürfen aber wegen des therapeutischen Vorgehens nicht übersehen werden. Prinzipiell soll nach der ätiologischen Abklärung, wenn möglich, eine kausale Therapie und Beseitigung der kardiovaskulären Risikofaktoren angestrebt werden. Durch eine konsequente Basistherapie der symptomatischen und asymptomatischen Herzinsuffizienz sollen die Progression der Erkrankung, die Hospitalisationsrate und die Letalität gesenkt werden; die Symptome und die Lebensqualität sollen verbessert werden. Die unbehandelte Herzinsuffizienz hat nämlich eine besonders schlechte Prognose, vergleichbar mit der einiger Malignome! Die Breite der Therapie richtet sich nach der Symptomatik (NYHA-Klassifikation) des Patienten, wobei die asymptomatischen Patienten (NYHA I) aus prognostischen Gründen auf jeden Fall von der ersten Therapiestufe auch profitieren sollen. Nichtmedikamentöse Basistherapie der Herzinsuffizienz Gewichtsreduktion Salzarme Kost Flüssigkeitsrestriktion Moderate körperliche Aktivität Medikamentöse Therapie 1. Gabe eines ACE-Hemmers (bei Unverträglichkeit AT1-Rezeptorblocker), bei Überwässerung Beginn mit Diuretikum, bei Sinus-Tachykardie Beginn mit Betablocker, rasch ACE-Hemmer. 2. Bei nicht ausreichender Stabilisierung, d. h. bei Verschlechterung bzw. fehlender Verbesserung der Symptomatik: zusätzliche Gabe eines Diuretikums oder eines für diese Indikation zugelassenen Betablockers (Bisoprolol, Metoprolol, Carvedilol) 3. Bei nicht ausreichender Stabilisierung: zusätzliche Gabe eines Diuretikums und eines Betablockers 4. Bei nicht ausreichender Stabilisierung: zusätzliche Gabe von Spironolacton 5. Bei nicht ausreichender Stabilisierung im Sinusrhythmus: Gabe von Digitalis Merke Der Patient muss bei erstmaliger ACE-Hemmer-Gabe über den ausgeprägten Blutdruckabfall bei der ersten Dosis aufgeklärt werden, nach der ersten Einnahme sollte eine einstündige ärztliche Überwachung erfolgen. Sollte bei bestehender Diuretikumeinnahme ein ACE-Hemmer neu angesetzt werden, so ist dies erst nach einer zweitägigen Auslassphase des Diuretikums möglich, da es sonst initial zu ausgeprägter Hypotonie kommen kann. Wenn das Serum-Kreatinin auf über 1,8 mg/dl steigt, sind Thiazide nicht mehr wirksam und kontraindiziert. Dann muss auf ein Schleifendiuretikum umgestellt werden. Zur Früherkennung von Dekompensationen soll der Patient geschult werden, sich täglich unter den gleichen Bedingungen zu wiegen und bei Gewichtszunahme von mehr als 2 kg innerhalb von 1 bis 3 Tagen den Hausarzt aufzusuchen. 20 Tischversion KVH • aktuell Praxishinweise zur Behandlung der COPD Die Behandlung mit Theophyllin soll wegen der geringen Effizienz, zahlreicher Interaktionen und der relativ geringen therapeutischen Breite erst nach Einsatz von langwirksamen ß2-Sympathomimetika und/oder Anticholinergika erfolgen. Inhalative Glukokortikoide sind nur indiziert bei 1015% der COPD-Patienten („Responder“): Therapiekontrolle über FEV 1 (Anstieg gegenüber Ausgangswert: >15% und 200 ml) und/oder klinische Symptomatik (Dyspnoe, Husten, Auswurf). Bei Langzeitanwendung höherer Dosierungen ist gehäuft mit Heiserkeit und Mundsoor zu rechnen und auch einer Abnahme der Knochendichte ist möglich. Eine orale Glucocorticoid-Dauertherapie sollte vermieden werden. Bei respiratorischer Insuffizienz ist die Sauerstofflangzeittherapie (Nasensonde, Maske) effektiv und sollte rechtzeitig eingeleitet werden. Unterernährung findet sich häufig bei Patienten mit schwerer COPD und verschlechtert die Prognose (Achtung: Circulus vitiosus: vermehrte Atemarbeit, vermehrter Grund- und Energieumsatz). Patienten haben häufig keinen Appetit. Neben gesteigerter Kalorienzufuhr soll die Muskelkraft (Atemmuskulatur) durch körperliches Training bzw. Training der Atemmuskulatur gekräftigt werden. Patienten mit COPD profitieren von körperlichem Training. Vor der Teilnahme am ambulanten Lungensport ist eine ärztliche Untersuchung notwendig. Voraussetzung zur Teilnahme in Lungensportgruppen sind: - Mindestbelastbarkeit: 50 Watt über 3 min; - ggf. 30 min. nach 2 Hüben eines rasch wirk samen ß2-Sympathomimetikums; - FEV 1 > 60% Soll; - arterieller p02 > 55 mmHg unter Belastung (50 Watt); - syst. RR < 220 mmHg, diast. RR < 120 mmHg unter maximaler Belastung. Seite COPD Behandlung der Exazerbation Antibiotika: primär z. B. Amoxicillin, Makrolide, Tetrazykline; bei Stufe 3 und 4 Oralcephalosporine der 3. Generation (z. B. Cefpodoxim); Reserve: Gyrasehemmer. Rasch wirksame inhalative ȕ2-Sympath. (200 µg Salbutamol) und/oder Anticholinergika max. Tagesdosis beachten. Theophyllin wegen der geringen therapeutischen Breite nachrangig einsetzen. Cave: Tachykardie, Tachyarrhythmie. Orale Glucocorticoide (0,5 mg Prednisolon/kg KG, ggf. verteilt auf 2 x tgl. – bei schwerer Exazerbation 1 mg bis 2 mg Prednisolon/kg KG) maximal 14 Tage (längere Behandlung bringt keine Vorteile). Kurzzeitsauerstofftherapie über Nasensonde oder Gesichtsmaske in schwereren Fällen. O2-Sättigung sollte auf > 90-92% angehoben werden. Wenn keine Besserung eintritt, ist evtl. mechanische Beatmungstherapie notwendig, schon wegen der muskulären Erschöpfung. In der Regel ist dann eine stationäre Einweisung oder zumindest Hinzuziehung eines Pulmologen erforderlich. Schwerer, anhaltender Reizhusten Grundsätzlich gilt: Kein Einsatz von Codein/ Dihydrocodein bei obstruktiver Ventilationsstörung oder Kindern mit Reizhusten. Wegen des protektiven Effektes eines erhaltenen Hustenreflexes wird der regelmäßige Einsatz von Codein (60 mg) oder Dihydrocodein (20 mg) nicht empfohlen. Adressen für Informationen: Bundesärztekammer, Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärzteschaft, Dezernat Fortbildung und Gesundheitsförderung, Herbert-Lewin-Platz 1, 510623 Berlin. www.bundesaerztekammer.de; Fortbildungsmaterial zur Raucherberatung für Ärzte: »Frei von Tabak«. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin; www.akdae.de: Therapieempfehlungen Tabakabhängigkeit www. patienten-information.de www.gesundheitsinformation.de Korrespondenzadresse Ausführliche Leitlinie im Internet Hausärztliche Leitlinie PMV forschungsgruppe Fax: 0221-478-6766 Email: pmv@uk-koeln.de http:\\www.pmvforschungsgruppe.de www.pmvforschungsgruppe.de > publikationen > leitlinien www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/index/deutsch/ qualitaetszirkel/index/hessen/pdf/hessenasthma »Therapie des Asthma bronchiale und der COPD« Tischversion 1.0 Mai 2006 info.doc Verlag GbR, Pfingstbornstr. 38, 65207 Wiesbaden PVSt Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt, 68689 Tischversion Chronisch obstruktive Bronchitis Eine chronische Bronchitis liegt vor, wenn Husten und Auswurf über mindestens 3 Monate in 2 aufeinander folgenden Jahren bestehen (WHO-Definition). Die chronisch obstruktive Bronchitis ist zusätzlich durch eine permanente Atemwegsobstruktion gekennzeichnet. Heilung ist nicht möglich. Ziele der Therapie sind u. a.: Verminderung der Progression der Symptome, Symptomlinderung, Vorbeugung von Exazerbationen, Erhöhung der körperlichen Belastbarkeit und Verbesserung der Lebensqualität. Hausärztliche Aufgaben Raucherentwöhnung Schulung im Gebrauch der Inhalationssysteme Nichtmedikamantöse Maßnahmen sind auf jeder Stufe auszuschöpfen: Körperliches Training, Physikalische Therapie, Atemgymnastik, Inhalationstherapie, Grippe- und Pneumokokkenimpfung und Normalisierung des Gewichts. Stufe 4 sehr schwer FEV 1 < 30 % Stufe 3 schwer FEV 1 30 % - < 50 % Stufe 2 mittelschwer FEV 1 50 % - < 80 % Stufe 1 leicht FEV 1 80 % Soll keine medikamentöse Dauertherapie Ausschöpfung aller allgemeinen Maßnahmen Dauertherapie: inhalative langwirksame ß2-Sympathomimetika und/oder Anticholinergika Bei unzureichendem Therapieeffekt retardiertes Theophyllin Dauertherapie: inhalative langwirksame ß2-Sympathomimetika und/oder Anticholinergika Bei unzureichendem Therapieeffekt retardiertes Theophyllin plus ICS, wenn Therapieerfolg (Kontrolle nach Versuch über 3 Monate) Dauertherapie: inhalative langwirksame ß2-Sympathomimetika und/oder Anticholinergika Bei unzureichendem Therapieeffekt retardiertes Theophyllin plus ICS, wenn Therapieerfolg (Kontrolle nach Versuch über 3 Monate) plus Langzeitsauerstofftherapie bei chronischer resp. Insuffizienz Bedarfsmedikation: rasch wirksame inhalative ß2-Sympathomimetika und/oder Anticholinergika Die Langzeittherapie der COPD ist in Abhängigkeit vom Schweregrad eine Stufentherapie wie beim Asthma bronchiale. Mit einer medikamentösen Therapie lässt sich eine weitere Verschlechterung der Lungenfunktion i. d. R. nicht verhindern.