verdikt 2.13 - Bund + Länder

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verdikt 2.13 - Bund + Länder
November 2013
2.13
12. Jahrgang
verdikt
Mitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter,
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di
4 Aus Treue zur Demokratie – Laudatio zur Verleihung des IALANA Whistleblower-Preises 2013 an Edward J. Snowden
7 Der Fall Snowden – die deutsche Justizgeschichte – zugleich ein Fall missbräuchlicher Medienmacht
11 Ungewohnter Aufstand der Justiz – Richter und Staatsanwälte gehen auf die Straße
13 Der Flickenteppich der Besoldung bekommt weitere Löcher (ver.di-Erklärung)
14 Bericht von der Konferenz „Sozialstaat-Spielball der Finanzmärkte?” am 21. Juni 2013 in Berlin
17 Die Unabhängigkeit der europäischen Justiz muss noch errichtet werden
verdikt 2.13 , Seite 2
3 Editorial
brennPUNKT4 Aus Treue zur Demokratie – Laudatio zur Verleihung des
IALANA Whistleblower-Preises 2013 an Edward J. Snowden
| Sonia Mikich
7 Der Fall Snowden – die deutsche Justizgeschichte – zugleich ein Fall missbräuchlicher Medienmacht
| Helmut Kramer
9 PR statt Aufklärung – Vom Elend der parlamentari
schen Geheimdienstkontrolle
| Wolfgang Nešković
JUSTIZ Im Fokus11 Ungewohnter Aufstand der Justiz – Richter und Staats-
anwälte gehen auf die Straße
| Bernd Asbrock
13 Der Flickenteppich der Besoldung bekommt weitere Löcher (ver.di-Erklärung)
Internationales14 Bericht von der Konferenz „Sozialstaat-Spielball der Finanzmärkte?” am 21. Juni 2013 in Berlin
| Thorsten Beck
17 Die Unabhängigkeit der europäischen Justiz muss noch errichtet werden
| Carsten Schütz
Rechtspolitisches20 Wie viel ist uns der Rechtsstaat wert? Zum neuerlichen
Versuch, die Prozesskostenhilfe einzuschränken
| Uwe Boysen
Aus der Justiz22 Gespräch mit der nds. Justizministerin Anje Niewisch-
Lennartz am 24.04.2013
| Martina Dierßen
22 Starke hessische Justiz sichert den Rechtsstaat
| Georg Schäfer
24 Selbstverwaltung der Justiz – Vollendung der
Gewaltenteilung?
| Georg Schäfer
In eigener Sache25
25
Aus für akzent-druck – Ende einer Erfolgsgeschichte
| Martin Bender
Mit Interdruck nachhaltig in die Zukunft
| Bernd Asbrock
Rezensionen 26
Robert Pragst: Verurteilt – Mein Jahr als Strafrichter | Christian Oestmann
26
W. O. Müller-Hill: Man hat es kommen sehen ... Kriegs
tagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/1945 | Peter Kalmbach
27 Das Oberlandesgericht München zwischen 1933 und 1945
| Wolfgang Helbig | Hans-Ernst Böttcher
28 „Die Rosenburg“ – oder: das Forschungsvorhaben der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim BMJ zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
| Hans-Ernst Böttcher
Rechts-Links 31
Impressum31
verdikt 2.13 , Seite 3
[ED I T O R I A L]
Liebe Leserinnen und Leser
. Wer heute die Journale und Zeitungen
liest, der kann sich vor Kapitalismuskritik
gar nicht retten. Bei den Juristen ist sie
allerdings noch nicht angekommen. Das
zu ändern, lässt sich als eine der Hauptaufgaben charakterisieren, die sich der von
MEDEL und ver.di am 21. Juni 2013 in Berlin
veranstaltete Kongress zum Ziel gesetzt
hatte. Griechenland, Spanien, Portugal,
diese als Krisenstaaten bezeichneten
Länder der EU machen uns gerade vor,
was man in Deutschland erwarten könnte,
sollte eine Wirtschaftskrise auch einmal in
unsere Breiten vordringen. Beschneidung
von Gewerkschaftsrechten, Demontage
öffentlicher Rundfunksender, massenhafte
Zwangsräumungen von Schuldnern, die
ihre Kreditzinsen nicht mehr bezahlen
können, unbegrenzte Steuermittel für
Banken, die ansonsten dem Untergang
geweiht wären – das ist die neoliberale
Medizin, die den Menschen in Südeuropa
zwangsweise verabreicht wird. Dass davon
in dieser Größenordnung in der Bundesrepublik derzeit noch keine Rede sein kann,
darf nur marginal beruhigen. Wer die Aufund Abwärtsbewegungen des Kapitalismus
längerfristig analysiert, der weiß, dass sie
irgendwann kommen wird, eine Krise des
gegenwärtigen Wirtschaftssystems, auch
wenn sie offensichtlich bisher nicht zu den
Umstürzen geführt hat, die sich ein Marx
oder ein Lenin früher von solchen Krisen
versprochen hatten.
. Welche Rolle spielt hier das Recht, und
welche Rolle können oder müssen aufgeklärte, an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit interessierte und diesen Prinzipien
verpflichtete Juristinnen und Juristen im
Europa des 21. Jahrhunderts spielen? Diesen
Fragen versuchte die Berliner Tagung nachzugehen (siehe den ausführlichen Bericht
von Beck, Seite 14).
. Wie es um die Justiz im Europa der
damals 27 und heute 28 bestellt ist, darüber
verhandelten Vertreter von MEDEL am 23.
Mai 2013 auch beim ersten Europäischen
Justiztag in Brüssel. Hier stellte Carsten
Schütz die deutsche Situation dar (siehe
Seite 17).
. Aber nicht nur die europäische Ebene
darf uns interessieren. Auch unsere eigene
Situation muss uns Kommentare und Überlegungen Wert sein, zumal wenn sie sich
deutlich verschlechtert, wie das derzeit der
Fall ist. Dass Richterinnen und Richter auch
Arbeitnehmer sind und daher ein vehementes Interesse daran haben müssen, sich
auch gewerkschaftlich zu engagieren, diese
These haben wir trotz vielen Naserümpfens
von Kollegen seit Langem vertreten. Gerade
bewahrheitet sie sich durch die obrigkeitlichen Sparbeschlüsse wieder einmal auf
eine – für alle öffentlich Bediensteten –
mehr oder weniger einschneidende Weise.
Da hilft auch eine Standesorganisation
wie der Richterbund nur wenig. Der hätte
nämlich das Tarifergebnis, das jetzt nicht
übertragen werden soll, allein niemals
erreicht! Dass Richterinnen und Richter hier
endlich einmal Rückgrat zeigen, lässt hoffen, dass sie es auch bei der Verteidigung
demokratischer Rechte wie des Rechts auf
eine Privatsphäre tun werden (dazu unser
Brennpunkt in diesem Heft).
Für die Redaktion
Uwe Boysen
verdikt 2.13 , Seite 4
[BRENNPUNKT]
Whistleblowerpreis 2013 für Edward Snowden am 30. August 2013 in Berlin
Mit dem diesjährigen Whistleblowerpreis wurde der 30jährige US-Amerikaner Edward J. Snowden ausgezeichnet. Der Preis wird seit 1999 alle
zwei Jahre von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.) und der deutschen Sektion von IALANA (International Association of
Lawyers Against Nuclear Arms) verliehen. Erstmals beteiligte sich in diesem Jahr daran auch die Antikorruptionsorganisation Transparency
International Deutschland e.V. Whistleblower sind Personen, die im öffentlichen Interesse schwerwiegende Missstände und gefährliche
Entwicklungen für Mensch und Gesellschaft, Demokratie, Frieden und Umwelt aufdecken.
Nach der Begründung der Jury hat Edward J. Snowden als Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) die massenhafte und verdachtsunabhängige Ausforschung und Speicherung von E-Mails, IP-Adressen sowie von Telefon- und anderen Kommunikationsdaten durch US- und
andere westliche Geheimdienste öffentlich gemacht. Dadurch wird es nach Ansicht der Jury möglich und unausweichlich, die Fakten- und
Beweislage durch Regierung, Parlament, Gerichte und die kritische Öffentlichkeit intensiv zu klären und auf gesicherter Tatsachengrundlage
dann zu prüfen, ob und in welcher Hinsicht das durch Snowden aufgedeckte Verhalten und Vorgehen in- und ausländischer geheimdienstlicher Stellen geltendes Recht verletzt haben. Abschließend heißt es, Edward Snowden hat mit seinem Whistleblowing Deutschland und den
anderen EU-Mitgliedsstaaten einen großen Dienst erwiesen. Deshalb sollten EU-Staaten wie Deutschland und andere darum wetteifern, ihn
aufzunehmen und zu schützen: Aus Überzeugung, aber auch aus Dankbarkeit.
Nachfolgend die von der Journalistin und Fernsehmoderatorin Sonia Seymor Mikich gehaltene Laudatio. bas
Eine Dokumentation findet sich unter: http://www.ialana.de/arbeitsfelder/whistleblowing/whistleblower-preis/whistleblowerpreis-2013.de
Sonia Seymour Mikich, Fernsehmoderatorin und leitende Redakteurin, WDR
Aus Treue zur Demokratie
Laudatio auf den Whistleblower-Preisträger 2013 Edward J. Snowden
. Da schwingt ein Kammerton in unseren westlichen Gesellschaften, zielgerichtet, unentrinnbar, nicht sehr laut. Er durchdringt
unseren Alltag, unseren Konsum, unsere Wünsche und Träume.
Unsere Geschäfte, unsere Willensbildung, unsere Entscheidungen.
Eingestimmt werden wir auf die Verknüpfung von Big Data und Big
State, aber noch hören die meisten kaum hin. Anstatt Misstrauen
zur höchsten Bürgertugend auszurufen unterwerfen wir uns der
Update-Diktatur von kommerziellen Netzriesen genauso wie dem
Schnüffelwahn der Staaten. Vielleicht keimt da ein ganz neuartiger
Totalitarismus heran, und wir haben schon aufgegeben, ihn erkennen
zu wollen. Wie beklemmend.
. Darum, meine Damen und Herren, liebe Jurymitglieder, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut genau hier zu sein. Wir teilen nicht
nur ein ähnliches Verständnis von Machtmissbrauch und demokratischer Gegenwehr. Wir definieren die Bedeutung der Spähaffäre als
das, was sie ist. Historisch. Die Enthüllung der NSA-Aktivitäten und
die darauf folgenden, weltweiten Diskussionen über die Zukunft der
Privatsphäre in einer digitalen Gesellschaft sind ein Wendepunkt.
Niemand wird später sagen können, er habe von der schleichenden
Erosion der Demokratie nichts mitbekommen. Edward Snowdon
hat Politiker, Diplomaten, Juristen und Geheimdienstler der Welt in
Erklärungsnot gebracht. Er hat ein Schlaglicht auf die neue Balance
zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum im digitalen Zeitalter
geworfen:
Wer kontrolliert wen, wer hat die Deutungshoheit, wer ist schützenswert? Wer sind die Profiteure von data-mining, warum machen
Weltkonzerne so eilfertig einen Kotau vor den Diensten, was haben
sie wohl davon? Große Fragen, die wir ohne Snowdens Schritt in die
Öffentlichkeit gar nicht stellen würden. Und nun? Ausgerechnet
demokratische Regierungen reagieren mit Gesten der Vormoder-
Sonia Mikich, Foto: Internet
ne. Bestrafung, Zensur, Einschüchterung, Verächtlichmachung der
Diskurse. Gesetze werden sinnentstellt:. In dieser Logik sind nur
regierbare Bürger gute Bürger. Untertanen eben. Dies ist wahrlich ein
Konflikt des 21.Jahrhunderts, verhandelt mit den Werkzeugen des 20.
Die US-Administration, aber auch die deutsche Regierung argumentieren gern mit verhinderten Terroranschlägen. 50 verhinderte
Terrorakte in den USA, 5 hierzulande. Die, zum Teil partnerschaftliche,
Datenausbeutung der Dienste hätten Schlimmes abgewehrt.
. Mag sogar sein, aber hat dann die Öffentlichkeit nicht das Recht,
Genaueres zu erfahren? Wie gefährlich waren die Anschlags-Pläne?
Wie realistisch ihre Ausführung? Wären sie auch ohne Prism-Software
aufgeflogen? Das Bundeskanzleramt und das Innenministerium
verkündeten allen Ernstes: „Die NSA und der britische Nachrichtendienst haben erklärt, dass sie sich in Deutschland an deutsches Recht
halten“. Punkt. Und das soll mir, einer Bürgerin in einer demokratischen Zivilgesellschaft die Sorge nehmen, dass ich ein Leben lang
verdächtig bin? Nicht nur digital nackt, sondern verdächtig? Das soll
meine Fassungslosigkeit beseitigen, dass - vielleicht – mit ausgespähten deutschen Handydaten amerikanische Drohnen Menschen in
Afghanistan töten – ohne Gerichtsprozess, ohne Urteil?
. Und gibt es keine Sicherheitslage, keinen Terroralarm, dann bedient
sich die Sicherheitslobby gern des schwammigen Begriffs des „Staats-
verdikt 2.13 , Seite 5
wohls“. Damit lassen sich nicht nur illegale Aktionen rechtfertigen,
sondern die zunehmende Verschiebung von roten Linien. Dazu gehört
das Mantra: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Der Satz ist, leider, Allgemeingut geworden und fördert die
Duldungsstarre der Bürger. So plausibel. So unverschämt. (Oder wie es
die Piraten sagen: Wenn ich nichts zu verbergen habe, warum wollt Ihr
das wissen?“…)
. Der Schriftsteller Ilya Trojanow sagte neulich in der NZZ dazu: „Heute gehen die informationssaugenden Behörden nicht mehr von einem
verdächtigen Individuum aus, dessen Verhalten und Kommunikation
zu überwachen ist, sondern von einer verdächtigen Gesellschaft, die als
Ganze durchleuchtet werden muss, um die Gefährlichen, Auffälligen,
Kritischen und Renitenten herauszufischen.“
. Seit Snowdens Enthüllungen treibt mich ein Bedürfnis um, den Zustand unserer Demokratie zu reflektieren, jenseits von Wahlterminen.
Ich weiß nicht, ob auch hierzulande ein „tiefer Staat“ entsteht. Dessen
Ingredienzen wären Verselbstständigungsprozesse in Apparaten, überholte Kontrolltools des Parlaments, unaufmerksame Medien, begleitet
vom ungeheuren Potential des data mining.
. Ich weiß auch nicht, ob ich die Sammelei der Dienste oder die der
Konzerne wie Apple, Google, Amazon und Co. mehr fürchten sollte.
Ich ahne nur, dass die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft tiefer
wird als die zur Zeit des Kalten Krieges, der vor-digitalen Zeit. Damals
existierte ein gewisser Konsens in den westlichen Demokratien über
das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Immer wurde der Konsens
geprüft. Volkszählung, Großer Lauschangriff Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung = Überwachungsstaat = nein Danke. Und wütende
Bürger gingen zu Zehntausenden auf die Straße.
. Und heute? Das Netz ist Überwachung, punkt. Es lockt geradezu
mit dauerhafter Überwachung der Konsumenten und Kommunikationswilligen. Das Netz verleiht mir sogar eine sehr detaillierte Identität.
Ich klicke, also bin ich. Ich bin längst berechenbar, qualifizierbar. Und
das, was über mich gespeichert und gelesen wird, ist genauso wirklich wie mein analoges Ich. Schon schwer eine besondere Sensibilität
gegenüber staatlichen Datenkraken zu entwickeln, wenn man sich
mit dem „Like“-Button durchs Leben klickt. Nur weil das Unwissen der
Bürger in Sachen Datensicherheit weiterhin groß ist, kann die Politik
ins Vage und Ungefähre abtauchen. 500 Millionen in Deutschland
gesammelte Daten in einem Monat? Oder doch von Deutschland im
Ausland ausgespäht?
. Ob das überhaupt auswertbar ist? Ohnehin, alles längst bekannter
Usus. Beziehungsweise, Neuland. Wohlklingendes behaupten, Selbstverständliches betonen, so fasst es der Blogger Sascha Lobo zusammen. So lullt man kostenfrei das Misstrauen von uns Bürgern ein bevor
es überhaupt wach wird.
. Die Reaktionen auf Snowdens Enthüllungen hierzulande waren zum
Teil erschreckend, zum Teil lächerlich. Während in den USA Senatoren
sagen durften, Snowden möge zurückkommen, ihm drohe nicht Todesstrafe oder Folter (!!!), verniedlichte unsere politische Kaste das Geschehen zum Wahlkampfthema. Oder erklärte die Debatte für beendet.
. Dabei schreit es nach Konkretisierung: Braucht der Datenschutzbeauftragte mehr Handlungsspielraum oder das Kontrollgremium des
Parlaments? Ist der BND entfesselt? Und, ich die normale Verbraucherin, muss wohl schleunigst Verschlüsselungsprogramme lernen, auf
Kryptopartys gehen, muss Privatsphäre kaufen, weil mein Land meine
Privatsphäre nicht schützen kann. Fühlt sich an wie Kapitulation.
. Edward Snowdens Tat sollte ein Weckruf für uns alle sein: Wie
wollen wir es halten mit dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit?
Was ist Staats-Aufgabe, was muss Zivilgesellschaft verlangen?
. Ein Staat hat das Recht, seine Interessen zu schützen, ja. Aber Bürger haben nicht die Pflicht, „staatstragend“ zu sein. Edward Snowden
hat – in meinem Wertesystem – „staatsbürgerlich“ gehandelt. Die
USA haben ihm dafür den Pass, den Nachweis der staatsbürgerlichen
Existenz entzogen.
. Ich habe versucht, mich in Edward Snowden hineinzuversetzen. Es
heißt, er habe sich in dem Augenblick zu seiner Tat entschieden, als
seine Vorgesetzten die Öffentlichkeit über den Umfang der Datensammlungen belogen. Und ja, es macht fassungslos, dass James
Clapper, der Chef sämtlicher US-Geheimdienste noch im Amt sein
darf, obwohl er nachweislich im März Kongressmitglieder über die
NSA-Spähprogramme anlog und dann nach Snowdens Enthüllungen
die absurde Formulierung fand, seine Lüge sei die „am wenigsten
unwahre Antwort“ gewesen. Das klingt wie Orwells 1984, Winston
Smith im Neusprech-Rausch. Vertuschen, verdrehen und die Öffentlichkeit für bodenlos dumm oder vergesslich zu halten, manche
Menschen haben eben Reflexe gegen solche Manöver. Ihren gesunden
Menschenverstand. Ihr moralisches Kapital. Snowden setzte nicht nur
einen Scoop in die Welt, sondern seine Existenz aufs Spiel.
. Wie ist wohl dieser Moment, wenn ein Whistleblower auf „SEND“
drückt, wenn die Entscheidung fällt? Oder vor ihm und anderen das
rote Licht einer Kamera angeht? Wenn der Umschlag in den Briefkasten rutscht? Die Minute Null. Muss man sie sich als Katharsis
vorstellen, endlich sind das Abwägen, das Grübeln und Zweifeln zu
Ende? Als starkes Herzklopfen? Die Minute Null. Klar ist nur: von nun
an ist nichts mehr wie vorher. Isolation, Mobbing drohen. Physischer
und psychischer Druck. Jobverlust.
. Existenzverlust. Gefängnis, Verachtung. Studien belegen, dass 90
Prozent aller Whistleblower zuerst intern auf Missstände hinweisen
und dann erst an die Öffentlichkeit gehen. Aber was ist, wenn die Behörde, die Firma, die Institution selbst Missstände zum Prinzip oder
Geschäftsmodell gemacht haben? Und Anerkennung, Schutzangebote oder Dank sind nie der erste Reflex der aufgeschreckten Öffentlichkeit. Nein, Davids Kampf gegen Goliath ist eine Schulhof-Rauferei im
Vergleich zur Minute Null.
. Edward Snowden hat Transparenz erzwungen, wo keine war.
Er hat gezeigt, wo Wanzen stecken und Freiheit verschwindet. Das
klingt nach Glanz und Gloria, aber man muss Snowden und andere
gar nicht heroisieren. Mir reicht es schon ihr Engagement für die
Wahrheit zu respektieren. Vergessen wir nicht Bradley Manning, der
der Welt die „Killer-Videos“ offenbarte. Aufnahmen von gezielten
verdikt 2.13 , Seite 6
Schüssen aus US-Kampfhubschraubern auf Zivilisten auf Bagdads
Straßen – das konnte er nicht mit seinem eigenen Patriotismus in
Einklang bringen. 12 Tote, darunter 2 Kollegen von Reuters. Mannings
Leben ist zerstört, die Schützen sind meines Wissens noch nicht
einmal angeklagt…
. Oder John Kiriakou, der ehemalige CIA-Agent, der die Folter durch
Waterboarding bekannt machte. Er sitzt, die Folterer nicht.
. Whistleblower wie Snowden oder Manning schauen hin, wo es
dunkel ist. Wo es stinkt. Uns nützt der Blick, aber sie zahlen den Preis.
Beschämend, dass die Zivilgesellschaft denen keinen festen Schutz
bieten kann, die uns auf Machtmissbrauch hinweisen. Nicht in den
USA. Nicht in Europa. Nicht in Deutschland.
. Auf den Bühnen der veröffentlichten Meinung wurde in den
letzten Wochen gern das Drama „Whistleblower: Held oder Verräter“
aufgeführt. Ein plumper Gegensatz, in meiner Sicht. Gewiss, Edward
Snowden hat einen massiven Regelverstoß begangen – mindestens
- indem er die Geheimhaltungsklauseln seines Arbeitsvertrages verletzt hat. Er hat sein Wissen nicht teuer verkauft und ... er hat seiner
Tat seinen Namen gegeben, sich sichtbar gemacht. Mir gefällt der
Begriff „ethischer Dissident“ da sehr, lieber Herr Deiseroth...
. In der Jurybegründung heißt es in schöner Sachlichkeit: Snowden
hat die massenhafte und verdachtsunabhängige Ausforschung und
Speicherung von E-Mails, IP-Adressen sowie von telefon- und anderen
Kommunikationsdaten durch US- und andere westliche Geheimdienste öffentlich gemacht (...) und seine Enthüllungen machen
es möglich und unausweichlich, die Fakten- und Beweislage durch
Regierung, Parlamente, Gerichte und die kritische Öffentlichkeit intensiv zu klären. Mit dem Ziel zu prüfen, ob geltendes Recht verletzt
wurde. „The public needs to decide whether these programs and
policies are right or wrong.“ So erklärte sich Snowden im Interview
mit dem Guardian. Die Öffentlichkeit muss entscheiden.
. Und der große Gegner erschreckte ihn nicht, die Regierung der
Weltmacht USA. Edward Snowden setzte auf die andere Weltmacht,
die öffentliche Meinung. Das ist Verrat – aus Treue zur Demokratie.
Aus streng geheim möge streng öffentlich werden. Und so müssen
wir hier (nicht nur wir hier) den Fall Snowden anders diskutieren
als etwa die Regierung der USA. Eben als Staatsbürger, nicht als
Staatsträger. Im Kontext unserer Freiheitsrechte, unseres Wertefundaments. Unserer demokratischen Bedürfnisse nach Transparenz
und Rechenschaftspflicht. Whistleblower: Von ihnen bekommt die
Zivilgesellschaft Impulse, das Falsche, das Ungerechte korrigieren zu
können. Wir haben etwas davon – auch wir Journalisten.
. Viele Enthüllungen in der Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft fangen bei einem Informanten an, der Interna weitergibt. Weil er oder sie
überzeugt ist, dass das Recht der Öffentlichkeit, von Missständen zu
erfahren, größer ist als seine Pflicht, Betriebsgeheimnisse zu wahren.
Interessenspolitik, Fehlleistungen, Gesetzesverstöße und Korruption
werden ja nie freiwillig zugegeben, sondern meist von Überzeugungstätern mühselig ausgebuddelt, gegen recherchiert, dokumentiert.
Hat je ein Geheimdienst freiwillig zugegeben, dass er sich millionen-
fach und weltweit über verbriefte Grundrechte hinwegsetzt? Haben
je Machthaber freiwillig Machtmissbrauch eingeräumt? Hat je eine
Firma einfach so offenbart, die Umwelt vergiftet oder Mitarbeiter um
Löhne geprellt zu haben? Oder ein Pflegeheim die kriminelle Vernachlässigung alter, hilfloser Menschen? Darum müssen Whistleblower
gesetzlich geschützt werden. Und ihre Partner in den Medien müssen
sich darauf verlassen können, dass der Informanten- und Quellenschutz nicht ausgehöhlt wird.
. Edward Snowden könnte den investigativen Journalismus auch
hierzulande beleben. Unabhängig berichten, einer kritischen Öffentlichkeit dienen und keine Angst vor großen Gegnern haben – diese
eigentlich selbstverständliche Grundhaltung von Journalisten erhält
jedes Mal frischen Sauerstoff, wenn interne Hinweisgeber uns kontaktieren. Glauben Sie mir, die Stimmung, das Adrenalin steigt, wenn
unsereins im Berufsalltag das noch nicht veröffentlichte Dokument
vor sich liegen sieht… (Um ein kleines, eigenes Erfolgserlebnis einzuflechten: Bei Monitor enthüllten wir wie Lobbyisten mächtiger Branchen an Gesetzen mitschrieben und an Schreibtischen in deutschen
Ministerien saßen – ein Skandal, von Informanten sichtbar gemacht.
Die unrühmliche Praxis wurde erst bestritten, dann abgeschafft.)
. Whistleblower helfen Journalisten bei einer ganz wesentlichen
Aufgabe: die dunkle Seite der Macht auszuleuchten. Warum finden
sich wohl auf so vielen Dokumenten, Studien, Gesetz-Entwürfen und
Depeschen „top secret“-Vermerke? Wohl auch, um Entscheidungsträger vor unangenehmen Fragen zu schützen.
. Investigativer Journalismus ist im besten Sinne anti-autoritär,
unsere Verantwortung läuft nicht darauf hinaus, die Mächtigen zu
schonen. Die Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Whistleblowern organisiert Transparenz und hilft gute Fragen zu stellen:
Toleriert eine Regierung Folteraktionen? Werden aus wirtschaftlichen
Interessen Menschenrechte geopfert? Schaut man bei Korruption
und Repression weg, weil es grad mal der Verbündete ist? Welche PRArbeit wird betrieben, um uns – sagen wir mal – von einem Kriegseinsatz zu überzeugen?
. Das Recht einer Regierung auf Geheimhaltung ist in meiner
Sicht nicht grundsätzlich größer als das Recht der Öffentlichkeit auf
Information und Aufklärung. Edward Snowden ist der erste politische
Asylbewerber des digitalen Zeitalters, er lebt jetzt – wie absurd – in
Russland. Das FBI hat am 14. Juni Strafanzeige gegen ihn erstattet.
Ihm wird bisher Diebstahl von Regierungseigentum, widerrechtliche
Weitergabe geheimer Informationen sowie Spionage vorgeworfen.
Dafür kann er 30 Jahre ins Gefängnis kommen. Seine Freiheit, seine
bürgerliche Existenz zu sichern hat Europa, hat Deutschland ausgerechnet ans Regime Putin delegiert. Bei uns wird es keinen Platz
für einen transnationalen Störenfried geben. Da sei die ängstliche
Interpretation des Asylrechts vor! Wenn man freilich der Politik
hierzulande glaubt, ist alles inzwischen prima geregelt. Irgendwann
kommt das No-Spy-Abkommen zwischen den USA und Deutschland
zustande. Und Präsident Barack Obama hat doch einen Vier-PunktePlan für mehr Transparenz bei den Diensten versprochen. Na also. Alle
benehmen sich gut, das Publikum möge sich beruhigen.
Game over.
verdikt 2.13 , Seite 7
. Zeitgleich aber gibt der verschlüsselte Email-Dienst von Snowden
lieber auf, als sich dem Druck von – nun ja, wem genau – zu beugen. David Miranda, der Lebensgefährte des Guardian-Journalisten
Glenn Greenwald, wird im Transitbereich des Flughafens Heathrow
knapp neun Stunden lang festgesetzt, seine elektronischen Geräte:
beschlagnahmt. Der Guardian selbst steht unter massivem Druck,
Festplatten werden unter Aufsicht zerstört – you have had your fun.
. Wer hat das Sagen im digitalen Zeitalter? Allen Realpolitikern,
Zynikern und Hasenherzigen zum Trotz: Verbriefte Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit verknöchern nie. Konsum und Überwachung
dürfen nicht ihren Platz einnehmen. Transparenz schaffen für das
Wohl aller, für das Wissen aller, für den Fortschritt aller – das wäre ein
schönerer Ehrgeiz als unsere Informationsflüsse einfach Konzernen
und Geheimdiensten zu überlassen. Wir stehen am Scheideweg. Ich
ende mit meinem Lieblingszitat von Joseph Pulitzer, als hätte der den
Whistleblower Edward Snowden vorausgeahnt:
„Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keinen Trick, keinen Schwindel,
kein Laster, das nicht von Geheimhaltung lebt. Bringt diese Heimlichkeiten ans Tageslicht, beschreibt sie, macht sie vor aller Augen lächerlich.
Und früher oder später wird die öffentliche Meinung sie hinwegfegen.
Bekannt machen allein genügt nicht – aber es ist das einzige Mittel,
ohne das alle anderen versagen.“ 
Helmut Kramer
Der Fall Snowden – die deutsche Justizgeschichte –
zugleich ein Fall missbräuchlicher Medienmacht
. In der Affäre des Whistle-Blowers Edward Snowden sieht Stefan
Kornelius1 den „eigentlichen Kern der Sache“ darin, dass ein amerikanischer Staatsbürger schlicht und einfach „Geheimnisverrat“
begangen hat.2 Mit diesem gleichermaßen rechtlich wie politisch
verengten Blick befindet sich der Leiter des Ressorts Außenpolitik
der Süddeutschen Zeitung in (un-)guter Gesellschaft, nicht nur mit
vielen anderen staatstragenden Journalisten, sondern auch mit der
Landesverrats-Rechtsprechung der deutschen Justizgeschichte.
. „Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten“. Mit dieser pleonastischen Betonung der
besonderen Verwerflichkeit des Landesverrats pries 1951 die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Lüneburg in einem Verfahren gegen
den NS-Generalrichter Manfred Roeder die in den Jahren 1942/43 vom
Reichskriegsgericht in einem absolut „rechtsstaatlichen Verfahren“
gefällten Todesurteile gegen 49 Mitglieder der „Roten Kapelle“ als
„unausweichlich“. In einer Zeit, in der sich „Deutschland in einem
Kampf um Leben und Tod befand“, hätten sie verbrecherisch das
„Wohl des deutschen Reiches“ gefährdet.
. Für eine Perhorreszierung des „Landesverrats“ gibt es eine lange
Tradition. Bei der Reformierung des Strafrechts wollte der Preußische Gesetzgeber sich 1833 mit der Enthauptung des Verräters nicht
begnügen, sondern „für dieses scheußlichste und schrecklichste
aller Verbrechen“ an der „geschärften Todesstrafe“, d. h. an der
„des Rades“, mit der grausamen allmählichen Zertrümmerung der
Gliedmaßen, festhalten. Ob im wilhelminischen Kaiserreich mit den
Landes- und Hochverratsprozessen gegen Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg oder in der Weimarer Republik gegen tausende pazifistische Journalisten und Schriftsteller, darunter Carl von Ossietzky im
„Weltbühnen-Prozess“ vor dem Reichsgericht, immer ging es darum,
Bürger an der Aufklärung über ebenso heimliche wie friedensgefährdende Rüstungsmaßnahmen und Kriegsvorbereitungen zu hindern,
mit denen die Regierung und illegale Geheimorganisationen das ei1 Kornelius ist nicht der einzige, der so oder ähnlich verfährt. Ich behandle ihn hier als
Vertreter eines neuen Stils von Journalismus, der Hochkonjunktur hat, exemplarisch
2 Stefan Kornelius, Zurück nach Amerika, Süddeutschen Zeitung v. 04. Juli 2013
gene Volk, die Verfassung und
das Völkerrecht gebrochen
hatten. Und immer hatte die
Justiz die Macht der Massenmedien hinter sich.
. Verlaß auf die höchsten
deutschen Gerichte bei der
Edward Snowden, Foto: Internet
Abwehr der Aufdeckung verfassungswidriger Praktiken
war auch bei dem Urteil des BGH gegen Werner Paetsch, dem als Angestellten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Bedenken gegen
die unter Mitarbeit ehemaliger Gestapo- und SS-Leuten organisierte
Post- und Telefonüberwachung gekommen waren. Weil über einen
von ihm zu Rate gezogenen Rechtsanwalt die illegale Überwachungspraxis an die Öffentlichkeit gekommen war, wurde Paetsch im Jahre
1966 wegen Geheimnisverrats zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.
Die Berufung des Verurteilen auf die Pflicht auch eines Beamten,
schwerwiegende Missstände, gar Grundrechtsverletzungen in der
Praxis seiner Behörde ans Tageslicht zu bringen, wischten die Richter
mit den Hinweis zurück, erst einmal müsse der Beamte seine Kritik
auf „dem Dienstweg“ vorbringen – Er soll also den Bock zum Gärtner
machen. Diese BGH-Rechtsprechung ist bis heute nicht revidiert.
. Wie hochgradig das Wort „Landesverrat“ negativ besetzt ist
und schnell die Vernunft zurücktreten lässt, zeigte sich auch in der
Spiegel-Affäre von 1962, als Bundeskanzler Adenauer in einem SpiegelArtikel einen „Abgrund von Landesverrat“ witterte und die konservative Cellesche Zeitung die Wiedereinführung der Todesstrafe für
Landesverrat forderte.
. Noch in den Jahren 2006 bis Mitte 2009 wollte die CDU/CSU in
Übereinstimmung mit dem Koalitionspartner SPD an der Gültigkeit
der NS-Todesurteile gegen die sog. Kriegsverräter festhalten. Ihr
rechtspolitischer Sprecher Norbert Geis warf den Opfern „eine nach
allen Maßstäben der zivilisierten Welt in höchstem Maße verwerfliche“ Handlungsweise vor. Zu einer Rehabilitierung dieser Opfer der
verdikt 2.13 , Seite 8
mörderischen Wehrmachtsjustiz am 08. September 2009 durch den
Bundestag führte erst der Nachweis einer Geschichtsfälschung des
von der CDU ins Rennen vor dem Bundestag geschickten Sachverständigen Prof. Rolf-Dieter Müller vom Militärhistorischen Forschungsinstitut.3
„Der eigentliche Kern der Sache“
. Um auf den von Stefan Kornelius entdeckten vermeintlichen „eigentlichen Kern der Sache“ zu stoßen und die Meinungen des AlphaJournalisten Stefan Kornelius zu hinterfragen, muß, wer sich nicht
gläubig auf die Unabhängigkeit und Objektivität wenigstens der sog.
Qualitätsmedien verlassen will, wohl auch etwas von den hintergründigen Einflüssen wissen, die auf den real existierenden Journalismus
einwirken, insbesondere einiges über die Einbindung journalistischer
Meinungsführer in die politischen Elitenzirkel. Und wo der springende Punkt mancher journalistischer Parteinahme liegt, dafür liefert
Stefan Kornelius in eigener Person ein sehr anschauliches Beispiel.
Was bislang nur oberflächlich unter dem diffusen Schlagwort vom
haben auch eine politische Funktion. Wenn die unbeschränkt und
grenzenlos durchgeführte Überwachung die Bürger an der unbefangenen Ausübung der Grundrechte hindert, verändert sich die Balance
zwischen Regierungsmacht und Bürgerbeteiligung; das Machtgefälle
zwischen Exekutive, Parlament und Volk verschiebt sich zugunsten
der Regierungsmacht. Mit der illegalen Überwachung durch die unheimliche „unsichtbare“ Hand der Geheimdienste verschafft sich der
Staat einen entscheidenden Machtzuwachs.
. Gegen diesen Machtmissbrauch hilft nur die Herstellung von
Transparenz und Öffentlichkeit. Whistle-Blower, die als Demokraten
angesichts staatlichen Unrechts Alarm schlagen, erfüllen eine für die
freiheitlich-demokratische Grundordnung unverzichtbare Bürgerpflicht.
. Stefan Kornelius hat dem Whistle-Blower Edward Snowden den
wohlmeinenden Rat gegeben, er solle sich doch freiwillig „einem
rechtsstaatlichen Verfahren in den USA“ stellen – und sich damit in
die Fänge einer in Staatsschutzsachen durch und durch politischen
Justiz begeben und sich einem
unmenschlichen Strafvollzug aus„I don’t want to live in a world, where everything that I say, everything I do, everyone I talk to,
liefern. Welches „rechtsstaatliche“
every expression of creativity or love or friendship is recorded“
Verfahren einem in der Nachfolge
Edward J. Snowden am 8. Juli 2013
eines Carl von Ossietzky handelnden
Whistle-Blowers drohen würden,
läßt sich auch an der Konstruktion eines bislang fast unbekannten
„embedded“ Journalismus bekannt, im übrigen aber ein von den
Geheimgerichts der USA ablesen. Die Richter des sog. FiSA-Court,
Medien, aber auch von der Medienwissenschaft ausgespartes Terrain
der die Geheimdienste der USA überwachen soll, werden von dem
war, ist jetzt erstmals in einer materialreichen Analyse ans Tageslicht
Vorsitzenden Richter des Supreme-Court ernannt. Zehn von den elf
gebracht worden. In seinem Buch „Meinungsmacht“4 hat der Leipziger
der jetzigen Richter werden dem republikanischen Lager zugerechnet.
Hochschullehrer Uwe Krüger neben weiteren „meistvernetzten deutDie Verfahren sind geheim. Bis vor kurzem hat die Öffentlichkeit
schen Journalisten“ die persönlichen und institutionellen Verbindunnicht einmal von der Existenz dieses Gerichts und der Art und Anzahl
gen der führenden Journalisten in den außenpolitischen Ressorts der
solcher Verfahren etwas gewusst. Durch diesen totalen Ausschluß der
Süddeutschen Zeitung (SZ), FAZ, Die Zeit und andern überregionalen
Öffentlichkeit manipuliert werden auch die Strafverfahren, in denen
Printmedien unter die Lupe genommen und in akribischer Recherche
wegen Staatsschutzdelikten verhandelt wird.5
die von diesen Meinungsmachern aufgebauten Netzwerke mit der
dadurch entstandenen Nähe zur Macht, insbesondere zur Sicherheitsund Militärpolitik beschrieben.
. Über all diese Vorgänge, im Verlauf einer Entwicklung vom
autoritären, eines Tages vielleicht sogar bis zum totalitären Staat,
. Bei Stefan Kornelius sind es 57 Personen und Organisationen mit
schweigen manche Journalisten. Damit machen sie sich nicht nur
denen, je nach Grad der Verbindung ein „erhöhtes Kontaktpotenzum Handlanger der Macht, sondern sind mit ihrer Einbindung in die
tial“ besteht. Ähnlich wie bei den anderen untersuchten Journalisten
Politik selbst Teil der Macht.
stehen die betreffenden Personen auch untereinander in enger Verbindung. Die von Uwe Krüger angefertigten Grafiken gleichen einem
. Was die deutsche und amerikanische Militärpolitik an Stefan
vielfältig verzweigten Spinnennetz. Bei Stefan Kornelius, Ressortleiter
Kornelius und gleichgesinnten Kollegen hat, hat auch der ebenfalls
Außenpolitik der SZ, führen die allermeisten Wege direkt oder indiim Bereich Außenpolitik der SZ tätige Redakteur Peter Blechschmidt
rekt nach Washington und zur NATO und damit in eine Nähe zu den
gezeigt, nicht nur mit seinen jahrelangen Durchhalteparolen im
Schaltstellen zur Sicherheits-, Rüstungs- und Militärpolitik.
Afghanistan-Krieg, sondern kürzlich auch mit seiner Fürsprache für
den für das Massaker am Kunduz-Fluss verantwortlichen Oberst
. Tatsächlich geht es aber nicht nur um die individuellen Grund(jetzt: General) Klein. Man kann sagen: Blechschmidt orientiert sich,
rechte des Bürgers. Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, das
als es um die Beförderung dieses Haudegens geht, nicht an MaßstäDemonstrationsrecht, das Recht auf informative Selbstbestimmung
ben des Rechts, sondern an „christlichen Werten“. Mit der Überschrift
3 vgl. Helmut Kramer, Das letzte Gefecht um den „Kriegsverrat“ im NS-Staat, Kritische Justiz
„Barmherzigkeit für Oberst Klein“ besteht Peter Blechschmidt darauf,
2009, S. 89 ff.; Ossietzky Nr. 23 v. 15. November 2008, S. 864 ff.; Der Spiegel Nr. 5 v. 26.01.2009, S.
die zahlreichen Verstöße des Oberst Klein gegen das Kriegsvölker37 f.
recht und die militärischen Einsatzregeln zu ignorieren und Oberst
4 Uwe Krüger, Meinungsmacht. Der Einfluß von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse, hg. vom Institut für praktische Journalismus- und
Klein zu befördern – wie wir wissen, mit Erfolg. 
Kommunikationsforschung (IPJ), Leipzig 2013.
5 vgl. Andreas Zielcke, SZ v. 23. Juli 2013
verdikt 2.13 , Seite 9
Wolfgang Nešković1
PR statt Aufklärung – Vom Elend der parlamentarischen Geheimdienstkontrolle
. Das Niveau der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste
ist eine Kümmernis. Es lässt sich am besten mit dem Satz von Isaac
Newton veranschaulichen: ’Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir
nicht wissen, ist ein Ozean.“ Bei der Aufklärung der durch den Whistleblower Edward Snowden enthüllten Spähaktivitäten der NSA und
einer möglichen Komplizenschaft deutscher Nachrichtendienste folgt
das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestages
nicht den Regeln und dem Selbstverständnis eines Kontrollorgans,
sondern es führt sich auf wie eine PR-Agentur im Wahlkampfmodus.
Eine auf Kontrolle ausgerichtete Aufklärung durch das Gremium,
dem ich bis zu meinem Austritt aus der Fraktion der Linkspartei
Ende 2012 selbst sieben Jahre lang angehört habe, findet nicht statt.
Bei bisher fünf Sitzungen hat sich zwar das Medieninteresse an den
Gremiumssitzungen stets gesteigert, nicht jedoch der Wert der Erkenntnisse, die das Gremium zutage förderte. Die Sitzungen folgten
einem bekannten Ritual: Die Opposition übt sich im Angriff, die
Regierungsfraktionen üben sich in der Verteidigung. Letztlich liefen
alle Sitzungen darauf hinaus, dass sich die Mitglieder des Gremiums
in der Exklusivität eines fensterlosen Raumes von Herrn Pofalla und
anderen Regierungsvertretern im Kern noch einmal vortragen ließen,
was sie vorher schon in der Presse hatten nachlesen können. Dabei
beschränkt die Opposition sich lediglich darauf, Fragen zu stellen
und die Antworten der Regierung entgegenzunehmen. Welchen Sinn
macht eine Kontrolle, in der die Kontrolleure sich allein auf bloße
Erklärungen der zu Kontrollierenden verlassen? Das ist vergleichbar
mit einer Fahrscheinkontrolle, bei der sich der Kontrolleur nicht die
Fahrscheine der Fahrgäste zeigen lässt, sondern sich mit deren Zusicherung begnügt, sie besäßen einen. Für eine Kontrolle ist demnach
nicht nur entscheidend, was die Regierung sagt, sondern vielmehr
auch, ob das, was die Regierung sagt, der Wahrheit entspricht. Genau
auf diese Überprüfung verzichtet das Gremium, obwohl es durchaus
entsprechende Möglichkeiten besitzt. Es muss diese Möglichkeiten
bloß nutzen wollen. Denn während bei den allermeisten parlamentarischen Kontrollrechten das Parlament lediglich das Recht hat,
durch die Regierung informiert zu werden (Fremdinformationsrecht),
hat das Parlamentarische Kontrollgremium deutlich weiter gehende Rechte. Es kann - ähnlich einem Untersuchungsausschuss - sich
die zu seiner Kontrollausübung erforderlichen Informationen selbst
beschaffen (Selbstinformationsrecht). Die Selbstinformationsrechte
des Gremiums sind dabei kontinuierlich ausgebaut worden. Zuletzt
beschäftigte sich der Bundestag im Jahr 2009 mit einer Stärkung der
parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste. Anlass war unter anderem das Agieren des BND im Irak und während der Liechtensteiner
Steueraffäre. Auch diese Sachverhalte wurden nicht vom Kontrollgremium aufgedeckt, sondern fanden über die Medien ihren Weg in
die Öffentlichkeit und das Kontrollgremium. Ergebnis war das Gesetz
zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes vom 29. Juli 2009. Es verfolgt ausweislich
der Gesetzesbegründung das Ziel, der „herausragenden Bedeutung
der parlamentarischen Kontrolle, vor allem auch zur Wahrung der
1 Wolfgang Nešković, Richter am BGH, MdB von 2005 bis 2013; der Beitrag ist veröffentlicht
in Deutscher Bundestag – Pressedokumentation vom 11.08.2013
Freiheitsrechte der Bürger, nachhaltig Rechnung“ zu tragen. Die
parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste solle „professioneller und kontinuierlicher werden, um letztlich auch die Akzeptanz
und das Vertrauen der Bürger in die Tätigkeit der Nachrichtendienste
zu verbessern“. Die Selbstinformationsrechte, Sachaufklärungsmöglichkeiten und Befugnisse des Gremiums sollten gestärkt werden.
Seit dieser Reform haben die Mitglieder des Gremiums ein gesetzlich festgeschriebenes jederzeitiges Recht auf Zutritt zu sämtlichen
Dienststellen der Nachrichtendienste des Bundes. Außerdem wurde
dem Gremium ein Anspruch auf Herausgabe von Akten und Daten
auch im Original eingeräumt. Damit wäre es zum Beispiel auch, in
der Lage, zweifelsfrei zu klären, welche Verwaltungsabkommen auf
Regierungsebene mit ausländischen Staaten zur wechselseitigen
Informationsweitergabe abgeschlossen worden sind. Bei der Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten hat der Gesetzgeber sich zudem
gegenüber den in der Regel vielbeschäftigten und im Lesen und
Verstehen nachrichtendienstlicher Originalakten und Originalcomputerdateien unterschiedlich bewanderten Mitgliedern des Parlamentarischen Kontrollgremiums noch besonders fürsorglich gezeigt.
Diese müssen nicht zwingend selbst tätig werden und zum BND nach
Pullach oder zum Bundesamt für Verfassungsschutz nach Köln reisen.
Das Gremium kann vielmehr in einem Einzelfall wie dem Prism-Skandal einen Sachverständigen damit beauftragen, zur Wahrnehmung
seiner Kontrollaufgaben sämtliche erforderlichen Untersuchungen
durchzuführen. Statt wie derzeit das Kontrollgremium vor allem als
Wahlkampfplattform zu missbrauchen, müssen die Politiker dort
ihre Kontrollaufgaben ernst nehmen und endlich von diesen Rechten
Gebrauch machen.
. Es liegt auf der Hand, dass weder Frau Merkel noch Herr Steinmeier zur Aufklärung des Prism-Skandals irgendetwas beitragen werden.
Es ist unter dem Gesichtspunkt eines ernsthaften Aufklärungsbemühens reine Zeitverschwendung, beide, wie jetzt diskutiert, im
Kontrollgremium anzuhören. Es wird höchste Zeit, dass das Gremium
sich nicht länger von den Nachrichtendiensten als Märchenstunde
bespötteln lässt und „Zähne zeigt“. Es muss deshalb unverzüglich
einen Sachverständigen zur Aufklärung des größten Geheimdienstskandals des 21. Jahrhunderts bestellen. Dieser kann dann bei den
Nachrichtendiensten vor Ort überprüfen, ob die von den Diensten
gemachten Angaben vollständig sind beziehungsweise der Wahrheit
entsprechen. Dazu kann er nach der Gesetzeslage sogar selbst in die
entsprechenden Akten und Computerdateien von BND, MAD und
Bundesamt für Verfassungsschutz Einsicht nehmen. Allerdings setzt
die Inanspruchnahme der Kontrollbefugnisse jeweils einen entsprechenden Mehrheitsbeschluss des Gremiums voraus (für die Sachverständigenbestellung sogar eine Zweidrittelmehrheit). Da in dem
Gremium jedoch die Vertreter der Regierungsfraktionen die Mehrheit
besitzen, könnten sie entsprechende Aufklärungsbemühungen der
Opposition verhindern. Diese Möglichkeit darf die Opposition jedoch
nicht als Alibi benutzen, um von vornherein auf entsprechende
Aufklärungsanträge zu verzichten. Wenn sie ernsthaft an Aufklärung
interessiert ist, müsste sie zwingend solche Anträge stellen. Sollte
verdikt 2.13 , Seite 10
sich dann die Regierungsmehrheit solchen Anträgen verweigern,
wären die Regierungsvertreter als Aufklärungsverhinderer entlarvt.
Gleichzeitig könnte eine solche Verweigerungshaltung der Regierungsvertreter der Diskussion über weitere notwendige Reformen
der parlamentarischen Kontrolle neuen Rückenwind verleihen. Eine
solche Kontrollblockade durch die Regierungsvertreter könnte der
Öffentlichkeit nämlich die Augen dafür öffnen, dass die Kontrollbefugnisse nicht der Mehrheit, sondern jedem einzelnen Kontrolleur
zustehen müssten. Nur ein solches Minderheitenrecht bietet Gewähr
für eine effektive Kontrolle. Es stellt ein schweres Versäumnis des
derzeitigen Gremium-Vorsitzenden und Oppositionspolitikers Opper-
mann dar, dass er nicht schon längst dem Gremium diesen seriösen
Weg der Aufklärung gewiesen hat. Damit setzt er das Gremium dem
berechtigten Vorwurf aus, zu einer bloßen PR-Veranstaltung zu mutieren. Auch das mit dem Reformgesetz 2009 beabsichtigte Ziel, „die
Akzeptanz und das Vertrauen der Bürger in die Tätigkeit der Nachrichtendienste zu verbessern“, wird damit nicht befördert, sondern vielmehr in sein Gegenteil verkehrt. Das Gremium muss endlich den Weg
aus seiner selbstverschuldeten Ahnungslosigkeit finden. Die Welt der
Geheimdienste darf für die parlamentarische Kontrolle auf Dauer kein
unergründlicher Ozean bleiben. 
Rechtsanwälte gegen Totalüberwachung
Die Initiative »Rechtsanwälte gegen Totalüberwachung« ist eine Gruppe von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die sich zur Aufgabe gesetzt hat, ein Zeichen der Anwaltschaft gegen Totalüberwachung zu setzen und die Bevölkerung zu sensibilisieren.
Auszüge aus der „Hamburger Erklärung“*:
... Die digitale Totalüberwachung ist ein historisch beispielloser Angriff auf das verfassungsmäßige Grundrecht auf Privatsphäre
Die durch Edward Snowden enthüllte Totalüberwachung aller Bürger stellt einen historisch beispiellosen Angriff auf das verfassungsmäßige
Grundrecht auf Privatsphäre dar. Dies hat mit gezielter Spionage, die gewohnheitsrechtlich akzeptiert ist, nichts zu tun. Freiheitlich-demokratische Parteien, Institutionen und Bürger sind verpflichtet, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um diesen Angriff abzuwehren...
... Digitale Totalüberwachung zerstört das Vertrauen der Bürger in Berufsgeheimnisträger
Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten und Seelsorger sind in besonderer Weise auf ihr gesetzlich verbürgtes Berufsgeheimnis angewiesen, um als
gesellschaftliche Institutionen funktionieren zu können. Hier zeigt sich auch die trügerische »Zweitrangigkeit« der Metadaten-Erfassung: Bereits
der Anruf bei einem Strafverteidiger oder in einer Suchtklinik lässt überwältigende Rückschlüsse auf die Lebenssituation eines Menschen zu
...
Unsere Forderungen an die Bundesregierung:
• Erklären Sie, dass die anlass- und verdachtsunabhängige Totalüberwachung der deutschen Bevölkerung eine krasse Verletzung von Grundrechten sowie des deutschen (Straf-)Rechts darstellt, ganz gleich, wo sie stattfindet. Sie ist mit jeder freiheitlich-demokratischen Ordnung
unvereinbar und daher sofort einzustellen.
• Bestellen Sie die Botschafter der USA und Großbritanniens förmlich ein, verdeutlichen sie diesen diese Haltung und fordern sie die sofortige
Einstellung der Totalüberwachung.
• Prüfen Sie alle erdenklichen Maßnahmen auf EU-Ebene gegen Großbritannien als EU-Mitglied.
• Setzen Sie die Verhandlungen mit den USA über ein Freihandelsabkommen aus und kündigen Sie die »Safe-Harbour-Abkommen« sowie die
Verträge zum Austausch von Fluggastdaten, bis die Totalüberwachung seitens der USA eingestellt wird.
• Schließen Sie sämtliche Standorte der NSA in Deutschland, damit die BRD ihre volle Souveränität erhält.
• Überprüfen Sie die Netze und Netzwerkeinrichtungen in Deutschland auf ihre Integrität hin, um ein »Abzapfen« von Daten auszuschließen.
• Veranlassen Sie strengere Kontrollen der deutschen Nachrichtendienste sowie des Bundesamts für Verfassungsschutz.
• Sorgen Sie dafür, dass Berichte vor Kontrollgremien künftig mit Vollständigkeitserklärungen unter Eid erstattet werden müssen.
• Stoppen Sie die Verwendung von Programmen wie XKeyscore oder stellen Sie diese zumindest unter eine strenge Prüfung der verdachtsbezogenen Verwendung.
* Ausführliche Informationen unter https://rechtsanwaelte-gegen-totalueberwachung.de
verdikt 2.13 , Seite 11
[Justiz im Fokus]
Bernd Asbrock
Ungewohnter Aufstand der Justiz –
Richter und Staatsanwälte gehen auf die Straße
. Dass beamtete Staatsdiener wie Feuerwehrleute, Justizbedienstete, Polizeibeamte
und Lehrer für die inhaltsgleiche Übertragung der Tarifabschlüsse im öffentlichen
Dienst demonstrieren, ist bereits ein
gewohntes Bild, seit die politisch Verantwortlichen bei den Besoldungsempfängern
einfach zu beschließende Einsparmöglichkeiten entdeckt haben, ohne dass wegen des
fehlenden Streikrechts mit einer wirksamen
Gegenwehr der Beamtinnen und Beamten
gerechnet werden muss.
.In Bremen hat die grüne Finanzsenatorin
Linnert sich offen zu diesem sparpolitischen
Handlungsmuster bekannt und bereits im
Vorfeld der diesjährigen Tarifrunde insoweit
lapidar von „dem Klassiker“ gesprochen.
Die im Laufe der Jahre den besoldeten
Staatsdienern zugemuteten Sonderopfer
(einschließlich der Kürzung bzw. Streichung
der Einmalzahlungen wie Weihnachts- und
Urlaubsgeld) haben zu einer fortgesetzten
Abkoppelung von der allgemeinen Wirtschafts- und Einkommensentwicklung
geführt. Immerhin jedoch blieben bei der
jeweiligen Besoldungsanpassung „Nullrunden“ die Ausnahme. Seit der Föderalisierung
des Besoldungs- und Laufbahnrechts und
der verfassungsrechtlichen Einführung der
Schuldenbremse hat sich die Lage für die
Staatsbediensteten namentlich in einigen
Bundesländern deutlich weiter verschlechtert.
. Eine vom DGB erstellte aktuelle Übersicht zur Besoldungsrunde 2013/2014 (Stand
30.08.2013)1 zeigt, dass in den 15 in der
Tarifgemeinschaft der Länder vertretenen
Bundesländern (Hessen ist nicht Mitglied
der TdL) lediglich Bayern und Hamburg das
Tarifergebnis öD 2013 zeit- und inhaltsgleich
auf ihre Landes- und Kommunalbeamten
übertragen. In den übrigen Ländern gibt es
erhebliche Abstriche. Nordrhein-Westfalen
und Bremen, beide rot-grün regiert, haben
ihren höher eingruppierten Beamten (ab
Besoldungsgruppe A13) sowie den Richtern
und Staatsanwälten (R1 u. höher) sogar eine
doppelte Nullrunde 2013/2014 verordnet. Das
1 Siehe Homepage DGB und ver.di
hat in beiden Ländern offenbar das Fass
zum Überlaufen gebracht und in den
betroffenen Berufsgruppen der Polizei,
Lehrerschaft und Justiz eine bislang
nicht gekannte Empörung ausgelöst.
. Selbst die in Relation zu anderen
öffentlich Bediensteten besser verdienenden Richter und Staatsanwälte
haben ihre traditionelle Zurückhaltung
aufgegeben und in vielfältiger Weise
ihren Protest gegen dieses erneute
Sonderopfer zum Ausdruck gebracht.
Sie sind – ein Novum – für ihre Forderung nach angemessener Besoldung in
großer Zahl auf die Straße gegangen.
So gab es in NRW vor dem Landtag in
Düsseldorf eine vom Richterbund organisierte Demonstration, an der mehr als
1000 (!) Richterinnen und Richter (z. T.
in Roben) beteiligt waren. In Bremen haben
die Richterverbände (Brem. Richterverein,
ver.di, NRV) gemeinsam zu Protestaktionen
aufgerufen. Auf einer Demonstration am
18. Juni 2013 (1 Tag vor der 2. Lesung des
Besoldungsgesetzes) mit anschließender
Kundgebung auf dem Marktplatz vor der
Bremischen Bürgerschaft waren gemeinsam
mit Polizisten, Lehrern u. a. Beamten ca. 50
Richter und Staatsanwälte mit Transparenten und Trillerpfeifen vertreten, die wegen
ihrer Roben von dem Redner der GdP als
„schwarzer Block“ begrüßt wurden.
Und es blieb nicht bei dieser eindrucksvollen
Demonstration.
. So wie die enttäuschten Polizeibeamten
zu ungewöhnlichen Protestformen gegriffen
haben, wie z. B. die demonstrative öffentliche Abgabe ihrer Notdiensthandys und der
Aktion, bis auf weiteres im Rahmen ihres
Ermessensspielraums statt „Knöllchen“ zu
verteilen, lediglich mündliche Verwarnungen
auszusprechen („wenn wir weniger bekommen, soll auch Bremen weniger Einnahmen
haben“), haben sich auch die Richterverbände zu besonderen Protestaktionen
entschlossen. In Offenen Briefen vom 4. Juni
2013 und 1. Juli 2013 an den Justizsenator
und an die für die Ausbildung und Prüfung
des juristischen Nachwuchses zuständigen
Demonstration auf dem Bremer Marktplatz am 18. Juni 2013,
Fotos: B. Asbrock
Präsidentinnen des Hans. OLG Bremen und
des Gemeinsamen Prüfungsamtes in Hamburg hatten die Bremer Richterverbände u. a.
hervorgehoben, dass die Pflicht des Dienstherrn zur amtsangemessenen Alimentation
Verfassungsrang habe. Infolge der Personaleinsparungen sei gleichzeitig die Arbeitsbelastung kontinuierlich angestiegen. Unter
diesen Umständen könne nicht erwartet
werden, dass die Richter und Staatsanwälte
neben ihrem Hauptamt weiterhin bereit
seien, unentgeltliche bzw. nur gering vergütete Sonderaufgaben zu übernehmen wie
z. B. Schulungen für ehrenamtliche Richter,
Notarprüfungen und die Ausbildung und
Prüfung des juristischen Nachwuchses.
. Um ein „erstes Zeichen“ zu setzen, regten die Richterverbände deshalb an, dass alle
Kolleginnen und Kollegen ihren Einsatz bei
der Aufsicht über die schriftlichen Examensarbeiten und deren Korrekturen sowie der
Abnahme der mündlichen Prüfungen im 1.
und 2. Staatsexamen bis auf weiteres einstellen. Dieser „Streikaufruf“ führte alsbald
zu Engpässen, so dass selbst hochrangige
Juristen aus dem Justizressort einspringen
mussten.
. In einem Schreiben vom 12.7.2013 an die
Richterverbände bedauerte der Justiz-Staatsrat für den Justizsenator diese Initiative der
verdikt 2.13 , Seite 12
Demonstration auf dem Bremer Marktplatz am 18. Juni 2013
Richterverbände. Gleichzeitig rechtfertigte
er die Entscheidung der Bürgerschaft mit
der besonderen Haushaltsnotlage Bremens.
Richtig sei aber, dass die Vergütungssätze
für die genannten Sonderaufgaben „der
Anpassung bedürfen.“ Auch die OLG-Präsidentin räumte ein, dass die Vergütungssätze
im Vergleich mit anderen Bundesländern
„absurd niedrig“ seien, wenn z. B. für den
Prüfer in der mündlichen Examensprüfung
ein Stundenlohn von 5,11 € brutto (!) bezahlt
werde.
. Die nächste Runde im Streit um die Beamten- und Richterbesoldung wird nunmehr
mit juristischen Mitteln geführt werden.
Der DGB und die Einzelgewerkschaften
bereiten sowohl in NRW als auch in Bremen
Musterklageverfahren zur Überprüfung der
Rechtmäßigkeit der sog. Besoldungs- und
Versorgungsanpassungsgesetze vor. In Bremen hat der Senat mit dem DGB vereinbart,
dass einzelne Musterverfahren akzeptiert
und allen übrigen Betroffenen, die Widersprüche einlegen, nach einer rechtskräftigen
gerichtlichen Entscheidung die Gleichbehandlung mit den Klägern der Musterverfahren garantiert wird. Entsprechende Zusagen
sind den Gewerkschaften auch von der
Landesregierung in NRW gegeben worden.
. Da die Besoldungskürzungen der letzten
Jahre die Kritik an der Amtsangemessenheit der Besoldung im Vergleich zu anderen
Berufsgruppen und auch im europäischen
Vergleich2 neu entfacht haben, müssen sich
2 s. Ital. VerfGH 223/2012 v. 8.10.12; www. neuerichter.de
mit dieser Frage inzwischen zunehmend die
Verwaltungsgerichte befassen, die z. T. die
Verfahren dem BVerfG vorgelegt haben (so z.
B. das VG Halle im Jahr 2011 zur R1-Besoldung
in Sachsen-Anhalt im Zeitraum von 2008 bis
20103), während das VG Berlin in 2 Entscheidungen vom November 2012 die R1- und
die R2-Besoldung im Land Berlin noch als
amtsangemessen angesehen hat, obgleich
sie monatlich ca. 300 € bzw. 350 € unterhalb
des Durchschnitts der anderen Bundesländer lag.4 Noch in diesem Jahr ist mit einer
BVerfG-Entscheidung zur Richterbesoldung
zu rechnen, die auf einen Vorlagebeschluss
des OVG NRW von 2009 zurückgeht und die
R1-Besoldung bis 2003 betrifft.5
. In NRW ist seit September d.J. ein
Normenkontrollverfahren beim Landesverfassungsgerichtshof anhängig zur Prüfung
der Verfassungsmäßigkeit des aktuellen
Besoldungsanpassungsgesetzes.
. Das Ergebnis der gerichtlichen Prüfung
bleibt abzuwarten.
. Ein im Auftrag der GEW mit Unterstützung des DGB von Prof. Battis, Berlin, erstelltes 60-seitiges Rechtsgutachten vom 19.
Juni 2013 zur amtsangemessenen Besoldung
insbesondere in den Ländern Berlin, Rhein3 4 Vorlagebeschlüsse mit den AZ 5 A 206/09 HAL, 5
A 207/09 HAL, 5 A 208/09 HAL u. 5 A 216/09 HAL – BeckRS
2012,59687
4 Urteile vom 6. 11. 2012 - VG 28 K 5.12 u. vom 21. 11. 2012 –
VG 26 K 114.10 NJOZ 2013, 1574
5 Az. 2 BvL 17/09 und 18/09 Vorlagebeschlüsse des OVG
Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 2009 (1 A 1416/06 und 1 A
373/08)
land-Pfalz, Schleswig-Holstein, NordrheinWestfalen und Bremen stimmt insoweit
zuversichtlich, denn es kommt überzeugend
zu dem Ergebnis, dass die entsprechenden
Ländergesetze einer verfassungsrechtlichen
Prüfung nicht standhalten.
. Ein Aspekt kommt in der öffentlichen
Debatte zu kurz: die seit der Föderalisierung
2006 zunehmende Zerstückelung des Besoldungsrechts und das zum Teil gravierende
Auseinanderdriften bei Richterbesoldung
und Laufbahnrecht zwischen den Bundesländern. So gibt es zwischen den Eingangsgehältern der Richter in Brandenburg und
in Hamburg einen Unterschied von ca. 400
€ und bei den R1-Bezügen in der letzten
Lebensaltersstufe bzw. Erfahrungsstufe zwischen Berlin und Baden-Württemberg einen
Unterschied von 535 € (!). Diese Schere wird
durch die aktuelle Besoldungsrunde noch
weiter auseinander gehen.
. Bei derart deutlichen Einkommensunterschieden kann man davon ausgehen,
dass der qualifizierte Richternachwuchs sich
bevorzugt in den Bundesländern bewirbt,
die eine bessere Bezahlung versprechen
und dadurch die Gefahr eines Gefälles in
der Qualität der Rechtsprechung zwischen
finanzstarken und finanzschwachen Ländern
besteht.
. Die gewerkschaftliche Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ bekommt
insoweit auch für die Richterbesoldung eine
besondere Bedeutung. 
verdikt 2.13 , Seite 13
Der Flickenteppich der Besoldung bekommt weitere Löcher
Oder: Warum ver.di für die wirkungsgleiche Erhöhung der Richterbesoldung eintritt!*
. Auch Richter sind mitunter nur Arbeitnehmer: Bisher wurden
die Ergebnisse der Tarifverhandlungen für die Tarifbeschäftigten im
Öffentlichen Dienst weitgehend inhaltsgleich – wenn auch nicht
immer zeitgleich – auf die Besoldung der Richter und Staatsanwälte
übertragen. „Nullrunden“ blieben die Ausnahme. Dies ist auch richtig
so und hat seinen guten Grund: die Lebenshaltungskosten steigen
für beide Statusgruppen gleichermaßen. Tarifgehälter und Besoldung
haben sich an der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und
finanziellen Verhältnisse zu orientieren.
. Seit Einbau der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse (Art. 109
Abs. 3 und Art. 115 GG) und mit der Föderalisierung der Besoldung der
Richter und Staatsanwälte in den einzelnen Bundesländern will man
diesem Grundsatz offenbar nicht länger folgen. Gerade unter dem
Druck der Schuldenbremse fällt einigen Bundesländern, wie NRW,
Bremen oder Berlin, zur Besoldungsrunde 2013 nichts Besseres ein,
als die Einkommen der Richter und Staatsanwälte (ab Besoldungsgr.
R 1) real zu kürzen. Für die Jahre 2013 und 2014 sind für sie keine oder
keine nennenswerten Besoldungserhöhungen vorgesehen. Eine ganze
Berufsgruppe von öffentlich Bediensteten wird als „Sparschwein“
mißbraucht und mit einem „Sonderopfer“ belegt.
. Bei Richtern und Staatsanwälten ist das – anders als bei Tarifbeschäftigten – so einfach realisierbar, weil die Besoldungsanpassung
oder eben Nichtanpassung lediglich mit einfacher Mehrheit im
Landesbesoldungsgesetz beschlossen werden muss. Die fehlende Tarifautonomie und die „Ohnmacht“ der Besoldungsempfänger werden
gezielt ausgenutzt, um den Haushalt zu sanieren und Belegschaften
zu spalten.
. Wir meinen, die Föderalisierung des Besoldungs- und Laufbahnrechts war ein politischer Fehler und hat zu einem Flickenteppich in
der bundesdeutschen Gesetzgebung und dem realen Einkommensgefälle in den Bundesländern geführt. Inzwischen sind die Unterschiede
in der Besoldung der Richter und Staatsanwälte in finanzstarken und
finanzschwächeren Ländern sowie im Bund so gewaltig, dass beispielsweise ein Vorsitzender Richter in Berlin nach langer Berufskarriere weniger verdient als ein neu ernannter Richter in Baden-Württemberg. Die Schere droht angesichts der unterschiedlichen Übertragung
der Tarifergebnisse in der Besoldungsrunde 2013 sich noch weiter
auseinander zu entwickeln.Das ist Besoldung nach Kassenlage und
damit verfassungswidrig!
. Rechtliche und verfassungsrechtliche Zusammenhänge werden
dabei völlig außer Acht gelassen: die Abkopplung der Besoldung
einzelner Berufsgruppen von der Einkommensentwicklung im öffentlichen Dienst zum Zwecke der Haushaltssanierung widerspricht der
Verfassungspflicht der Länder, ihre Bediensteten amtsangemessen zu
alimentieren, und verletzt zudem den Gleichheitssatz (verfassungswidriges Sonderopfer).
. Vielmehr muss ein schlüssiges, objektiv nachprüfbares Konzept
zur Bemessung der Besoldung vorliegen, wenn der Landesgesetzge-
ber von der bisherigen Praxis abrücken will (BVerfG Urt. v.14.2.2012 – 2
BvL 4/10- BVerfGE 130,263,302).
. Es geht nicht an, dass Länder über den Bundesrat an Gesetzesvorhaben mitwirken, die zwangsläufig zu höheren Arbeitsbelastungen
in Gerichten und Staatsanwaltschaften führen, und sie gleichzeitig
beim richterlichen wie nicht richterlichen Personal massive Stellen
und Personalkosten einsparen. Ein Beispiel – neben vielen anderen –
ist das SGB II (Hartz IV): Dieses Gesetz hat zu einer Verdoppelung der
Klagen bei den Sozialgerichten geführt, ohne dass das Personal bei
den Gerichten adäquat aufgestockt wurde.
. Gerade für die Justiz als dritte Gewalt im Staat ist ein wertschätzendes und verlässliches Konzept für eine amtsangemessene
Alimentierung der Richter und Staatsanwälte unerlässlich: die Bürger
erwarten – egal, in welchem Bundesland sie wohnen oder arbeiten –
zu Recht, dass Richterinnen und Richter gleich besoldet und wirtschaftlich auf sicherem Boden stehen, um unabhängig und engagiert
gleiches Recht für alle zu sprechen!
. Nicht zuletzt sind Besoldungserhöhungen immer auch Wertschätzung für geleistete Arbeit in der Justiz. Erheblich verzögerte Übertragungen der Tarifergebnisse oder gar „Besoldungsnullrunden“ können
von den betroffenen Richtern und Staatsanwälten als nichts anderes
verstanden werden als eine Geringschätzung ihrer Arbeit.
. Hohe Leistungsbereitschaft und Verantwortung für den Rechtsstaat und vielfältiges ehrenamtliches Engagement, wie die Mitwirkung in Prüfungsausschüssen, in der Referendarausbildung und
verschiedenen Kommissionen, werden so eben nicht honoriert. Schon
seit Jahren bleibt die Besoldung deutlich hinter der Steigerung der
allgemeinen Lebenshaltungskosten zurück. Nach unserer Rechtsordnung dürfen die Länder als „Dienstherr“ von ihren Bediensteten
Loyalität und treue Pflichterfüllung verlangen, nun verhalten sie sich
„treuwidrig“, wenn sie allein den Richtern und Staatsanwälten bzw.
einzelnen Besoldungsgruppen die Übertragung der Tarifergebnisse
vorenthalten.
. Ein Justizminister am Kabinettstisch kann offenkundig für die
Justiz nicht viel bewirken. Wir brauchen – wie nahezu in allen anderen
europäischen Staaten – eine Selbstverwaltung der Justiz mit eigener
Budgetverantwortung, um der Justiz ihre unabhängige Rolle als Dritte
Gewalt im Staat zu sichern und sie von der unheilvollen Entwicklung
fiskaler, justizieller und politischer Entscheidungen abzukoppeln.
. Für die wirkungsgleiche Übertragung des Tarifabschlusses im
Öffentlichen Dienst der Länder auf Richter und Staatsanwälte!
Keine weitere Abkopplung von der allgemeinen Einkommensentwicklung
im öffentlichen Dienst!
Kein verfassungswidriges Sonderopfer für Richter und Staatsanwälte! 
* ver.di Information 1/13, www.justiz.verdi.de, www.richter-staatsanwaelte.verdi.de
verdikt 2.13 , Seite 14
[internationales]
Thorsten Beck, Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Hamburg
Bericht von der Konferenz „Sozialstaat-Spielball der Finanzmärkte?”
am 21. Juni 2013 in Berlin
Erfolgreiche Tagung von MEDEL und ver.di
. Am Sommeranfang und längsten Tag des Jahres 2013 fand in Berlin eine internationale Konferenz zum Thema „Sozialstaat - Spielball
der Finanzmärkte?“ statt, zu der sich etwa 150 Teilnehmerinnen und
Teilnehmer aus vielen europäischen Ländern eingefunden hatten.
Organisiert wurde die Konferenz von der Europäischen Richtergewerkschaft für Demokratie und Grundrechte MEDEL (Magistrats
Europeens pour la Democratie et les Libertes), in der sich europaweit
Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
zusammengeschlossen haben und in der auch die Richterinnen und
Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di vertreten sind
. Zur Eröffnung sprach Georg Schäfer, Vorsitzender Richter am
Landesarbeitsgericht Frankfurt/Main und Bundessprecher der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di,
der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Namen der Gewerkschaft
begrüßte. Sodann sprach der Vorsitzende von MEDEL, Antonio Cluny,
Presidente do Ministerio Publico de Portugal, der die Ungerechtigkeit
der gegenwärtigen Finanzkrise brandmarkte, die gerade Menschen
treffe, die nicht dafür verantwortlich seien. Er stellte die Sicherung
der sozialen Rechte in Europa in den Fokus. Ihm folgte Professor Dr.
Manfred Weiss vom Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht, Frankfurt/Main, das die Tagung wesentlich unterstützt hatte.
. Im Anschluss referierte Professor Dr. Lyon-Caen von der Universite
du Paris Ouest Nanterre La Defense zum Thema „Krise des Rechts und
Krise der Institutionen aufgrund der Veränderungen auf den Arbeitsmärkten“. Er betonte, dass gerade die Verbindung zwischen einerseits
Wissenschaftlern und andererseits Richterschaft zur Bewältigung der
Krise der sozialen Rechte in Europa von zentraler Bedeutung sei. Zu
Beginn seiner Ausführungen wies er auf den allgemeinen Erfolg der
neoliberalen Doktrin hin, die gebetsmühlenartig ihre eigene Alternativlosigkeit beschwöre. Diese Doktrin sei in allen europäischen
Ländern anzutreffen. Anschaulich erläuterte er den Begriff „Arbeitsmarkt“ als Bahnhofshalle. Der Arbeitsmarkt gewährleiste nach der
neoliberalen Doktrin angeblich eine perfekte Rationalität im Hinblick
auf die Konkurrenz der Arbeitssuchenden. Soziale Rechte würden
insoweit lediglich als Hindernis und Bremse für das optimale Funktionieren des Arbeitsmarktes wahrgenommen. Alles müsse sich heute
einem Benchmarking stellen. Der Referent betonte die Bedeutung des
Kampfes gegen die Fragmentarisierung. Die neoliberale Doktrin wolle
um noch größere Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt sicherzustellen, befristete Arbeitsverhältnisse verlängern, die Barrieren gegen
unbegründete Entlassungen reduzieren und strebe insgesamt eine
„light version“ des Arbeitsvertrages an. Aus Sicht der Arbeitgeber
stelle sich Recht schlicht als ein Störfaktor dar. Richterinnen und
Richter würden von diesen als unkalkulierbar wahrgenommen. Daher
gebe es in den Ländern, die besonders unter der Finanzkrise zu leiden
hätten, deutliche Versuche, die Rolle des Richters zu reduzieren. Dies
komme zum Beispiel in der Pauschalierung von Entschädigungsbeträ-
gen oder der Förderung der rechtlichen Autonomie der Unternehmen
zum Ausdruck. Recht werde verantwortlich gemacht für einen Teil der
Beschäftigungskrise. Da aufgrund des Euroverbundes keine Möglichkeit für eine Abwertung der nationalen Währungen mehr bestehe,
versuche man eine normative Abwertung, also einen Abbau der
rechtlichen Schutzstandards der arbeitenden Menschen.
. Ihm folgte Professor Dr. Jose Abrantes von der Neuen Universität
Lissabon mit einem Beitrag zum Thema „Sozialstaat und Globalisierung des Wirtschaftsraumes“. In einem historischen Abriss verdeutlichte er, dass der interventionistische Staat stets einen sozialen
Ausgleich im Blick gehabt habe. Als Beispiel bezog er sich auf den
Wohlfahrtsstaat, der bereits in der Mexikanischen Verfassung von
1917 und der Weimarer Reichsverfassung von 1919 angestrebt worden
sei. Aus seiner Sicht sei das Arbeitsrecht die größte Erfindung des 20.
Jahrhunderts, da es die effektive Gleichheit fördere. In Zeiten der Flexibilisierung des Arbeitsrechts würden jedoch die Prinzipien des Wohlfahrtsstaates zunehmend untergraben. Dies laufe parallel mit dem
Ruf nach mehr Markt im Arbeitsrecht. Der Referent verdeutlichte die
verheerenden Konsequenzen für das Arbeitsrecht am Beispiel Portugal. Dort gebe es mittlerweile zahllose prekäre Arbeitsverhältnisse. Die
Flexibilität gehe auf Kosten der Arbeitnehmerrechte. Es sei nicht wahr,
dass die sozialen Rechte der Arbeitenden überflüssig geworden seien.
Die Aufweichung des Arbeitsrechts führe auch zu einer Aufweichung
des Rechtsstaats. Er verwies auf den Verfassungsgrundsatz, dass die
Würde des Menschen unantastbar sei und betonte, dass man nicht
produktiv sein könne ohne gleichzeitige soziale Sicherheit. Durch
das Memorandum of Understanding sei das Arbeitsrecht in Portugal
2011 dramatisch beschnitten worden. Der Begriff »Flexicurity“ sei für
sein Land ohnehin geheuchelt, denn Länder wie Portugal seien nicht
mit der Situation wie beispielsweise in Dänemark vergleichbar. Als
Beispiele für den Sozialabbau nannte er, dass die Arbeitszeit der Beschäftigten früher nur im Tarifvertrag hätte festgelegt werden können,
jetzt aber mit dem einzelnen Arbeitnehmer aushandelbar sei. Beim
Kündigungsrecht seien objektive Kriterien nunmehr nicht mehr so
wichtig. Versetzungen seien erheblich erleichtert und Entschädigungszahlungen deutlich reduziert worden. Viele Feiertage seien eliminiert
und der Urlaub gekürzt worden. Das neoliberale Gedankengut habe zu
einer Machtverschiebung geführt. Die sozial Schwachen bezahlten die
Kosten der Krise. Dies sei verfassungswidrig. Regierungen versuchten,
die Krise auszunutzen, um soziale Rechte abzubauen. Dem Neoliberalismus müsse entschieden Einhalt geboten werden. Der Referent betonte, dass die Finanzkrise auch eine gesellschaftliche Krise darstelle,
die mit einer Schwächung des Staates einhergehe. Nötig sei eine Rückbesinnung auf soziale Rechte und Bürgerrechte. Anknüpfend an einem
Satz von Pierre Maurois führte er aus, dass es nicht sein könne, dass
die Freiheit der Unternehmen auf Kosten derjenigen erweitert werde,
die im Unternehmen arbeiteten. Man könne keine guten Resultate auf
Kosten der gesellschaftlichen Gerechtigkeit erzielen.
verdikt 2.13 , Seite 15
. Ihm folgte Wolfgang Däubler, emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Universität Bremen, der die „Rechtliche Regulierung von
Rating-Agenturen« in den Blick nahm. Er betonte einerseits, dass
das Rating unabdingbar sei für die Mitspieler auf dem Kapitalmarkt.
Andererseits werde aber oft von den Rating-Agenturen bei der Vergabe der Bewertungen für einzelne Länder darauf hingewiesen, dass
es „Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt“ gebe. Der Rechtsschutz
gegen Rating-Agenturen sei nur marginal ausgeprägt. In den USA sei
er teilweise gar nicht vorhanden, da die Verlautbarungen von RatingAgenturen als regelmäßig zulässige „Meinungsäußerung“ verstanden würden. Während die Rating-Agenturen bislang unkontrolliert
gearbeitet hätten, habe sich aber doch durch die Wirtschaftskrise hier
einiges geändert. So sei seit 2008 eine Registrierung der Rating-Agenturen gesetzlich verpflichtend. Die Arroganz der großen Agenturen
zeige sich aber daran, dass die drei größten sich innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Meldefrist gar nicht angemeldet hätten. Allerdings
gebe es auch positive Nachrichten hinsichtlich des Rechtsschutzes.
So habe ein Rentner aus Bremen, der kurz vor der Pleite noch Lehman
Brothers-Aktien gekauft habe, gegen die Rating-Agentur Standard
& Poors geklagt. Es gebe auch Beispiele aus den USA, wo Schadensersatzklagen am Ende mit einem Vergleich über 225 Millionen US-$
geendet hätten. Interessant sei auch die Entscheidung des Federal
Court of Australia von November 2012, in der eine Rating-Agentur zu
20 Mio £ Schadensersatz verurteilt worden sei. Allerdings sei bereits
gegen dieses Urteil Berufung eingelegt worden.
. Sodann referierte Tiziana Orru, Consigliere Corte d‘Appello Roma,
über das Thema »Basic Income – Mindeststandards Europäischer
Sozialpolitik“. Ihre These ging dahin, dass wirtschaftliche Integration ohne soziale Integration ein Trugbild sei. Es gehe zentral um die
Begriffe Würde und Wert der Person. Sie forderte ein bedingungsloses Grundeinkommen und stellte das Netzwerk BIEN (Basic Income
Earth Network) vor, dem sie angehört. Es sei wichtig, eine Definition
des Bürgerbedarfs vorzunehmen. Ein Grundeinkommen von 1000 €
sei in Monaco bereits Realität. Sie verwies auch auf die rechtlichen
Verpflichtungen der EU-Grundrechte-Charta in den Artikeln 2, 3 und
6 sowie auf die Artikel 151, 153 AEUV. Wichtig sei, dass man soziale
Rechte einfordern könne. Es müsse hier zu einer Annäherung der nationalen Gesetzgebungen kommen. Im Anschluss an ihr Referat ergab
sich eine heftige Diskussion, in der der Referentin z.T. vorgeworfen
wurde, ihr Beitrag habe zu sehr romantisiert, zumal es sich um ein
komplexes Thema handele. Zudem müsse man sich in den verschiedenen Ländern Europas erst einmal darüber verständigen, was man
überhaupt unter einem bedingungslosen Grundeinkommen verstehe.
Es gebe europäische Länder, die im Grunde in Hartz IV bereits einen
sozialen Fortschritt sähen. Prof. Däubler vertrat in der Diskussion die
Auffassung, dass ein europäischer einheitlicher Mindestlohn kein
Ziel sein könne. Versuche, hier zu einer Europäisierung zu kommen,
würden weniger demokratische Kontrolle und Transparenz mit sich
bringen und die Veränderungsmöglichkeiten bei unsozialen Gesetzen
bzw. Verordnungen erschweren.
. Nach der Mittagspause wurde der Fokus auf einzelne europäische
Länder gelegt und die dort gegenwärtig stattfindende Demontage des Sozialstaats an Beispielen verdeutlicht. Aus Griechenland
berichtete George Almpouras, Präsident des Gerichts von Karpisi. Er
unterstrich, dass unter dem Vorwand der Wettbewerbsfähigkeit das
Arbeits- und Sozialrecht in Griechenland in einer Weise unterminiert
werde, die sozial nicht mehr akzeptabel sei. So seien Tarifverträge
ausgesetzt worden und die automatische Lohnanhebung abgeschafft
worden. Letzteres sei unter Verfassungsbruch geschehen. Schiedsgerichte könnten durch die neuen rechtlichen Regelungen nur noch von
beiden Seiten angerufen werden. Rechtlich sei inzwischen auch eine
leichtere Entlassung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ohne jede Abfindung möglich. Dieser „Neokonstitutionalismus“ lasse
keinen Raum für den Rechtsstaat. Der Vormarsch der Marktkräfte sei
derzeit ungebrochen.
. Aus Spanien berichtete Rafael Lopez Parada vom Höheren Justiztribunal aus Kastilien und Leon. Er führte aus, dass das spanische
Arbeitsrecht zum Teil noch aus der Franco-Zeit stamme. Es treffe zu,
dass es sich um einen teilweise überregulierten Arbeitsmarkt gehandelt habe. Die Tarifverträge hätten sich im Wesentlichen nur auf Löhne und Arbeitszeit bezogen. Gegenwärtig sei es zu vielen Privatisierungen und Betriebsschließungen gekommen. Das Prekariat nehme
zu. Nach Einführung des Euro hätten sich viele Unternehmen und
auch Beschäftigte zu viel Geld bei den Banken geliehen. Nach dem
Rechtsschwenk bei den Wahlen 2011 habe die Regierung teilweise
Gesetze in nicht mehr transparenter Weise beschlossen. Gegenwärtig
werde die Laufzeit der Tarifverträge ständig abgesenkt und Unternehmen könnten leichter aus Tarifverträgen aussteigen. Eine Lockerung
des Kündigungsschutzes sei Realität sowie die Absenkung von Löhnen und Abfindungszahlungen. Feststellbar sei auch ein hoher Druck
auf die Richterinnen und Richter in diesem Bereich. Der Abbau des
Sozialstaates, die Zunahme der Armut und das damit einhergehende
Demokratiedefizit hätten im Ergebnis jedoch die wirtschaftlichen
Probleme Spaniens nur verschärft.
. Aus Portugal berichtete Viriato Reis, Producador da Republica,
aus Lissabon. In historischer Hinsicht wies er darauf hin, dass nach
der Revolution von 1975 zahlreiche Reformen durchgeführt worden
seien. Gegenwärtig sei jedoch ein Neoindividualismus feststellbar.
Seit 2010 habe es mehrere Wellen von Sparmaßnahmen gegeben.
So seien die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung abgesenkt
worden. Außerdem sei es zu einem Einfrieren der Renten, der Arbeitslosenversicherung und Gehaltskürzungen zwischen 3,5 Prozent
und 10 Prozent gekommen. Beispielsweise auch die portugiesischen
Richterinnen und Richter hätten eine Gehaltskürzung um ein Viertel
hinnehmen müssen. Die Beschäftigten müssten mittlerweile sieben
Tage Mehrarbeit pro Jahr ohne Lohnausgleich leisten. Tarifverträge
seien vielfach entwertet und Jahreszusatzprämien seien gestrichen
worden. 400.000 Arbeitsplätze seien weggefallen und das Land leide
unter der extrem hohen Arbeitslosigkeit. Als Lichtblick sei jedoch die
Entscheidung des portugiesischen Verfassungsgerichts vom April
2013 zu sehen, worin Teile der Sparmaßnahmen für verfassungswidrig
erklärt worden seien.
. Den Schluss der Länderberichte bildete Italien, dessen Situation
von Gualtiero Michelini, einem Arbeitsrichter vom Berufungsgericht
in Rom, dargestellt wurde. Er beschrieb die allgemeine Erosion des Arbeitsrechts in Italien. Junge Leute seien inzwischen weitgehend ohne
arbeitsrechtlichen Schutz. Der Organisationsgrad in den Gewerk-
verdikt 2.13 , Seite 16
Eröffnung durch den MEDEL-Vors. Antonio Cluny, Fotos: B. Asbrock
Podium der Ländervertreter
schaften sei schwach ausgeprägt. Die Gesellschaft werde zunehmend aufgesplittet in „Insider“ und „Outsider“. Migrationsströme
erschwerten die Problematik. Das Arbeitsrecht werde dereguliert
ohne dass eine fundierte Abschätzung des Nutzens der Maßnahmen
erfolge. Als Beispiel nannte er das Gesetz Nr. 92, das so genannte
Fornero-Gesetz, das sich auf die Kündigungsgründe beziehe. So sei
die Strafzahlung bei rechtswidrigen Kündigungen erheblich verändert
worden. Wirksamer Rechtsschutz sei nur noch bei diskriminierender
Kündigung möglich. Durch das Gesetz gebe es jetzt zwei Phasen in
Kündigungsschutzverfahren. Das gesetzgeberische Ziel, die Kündigungsschutzverfahren zu beschleunigen, werde aber nicht erreicht.
Zudem seien viele große Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten. Es müsse hier zu einer transnationalen Durchsetzung von Solidarität kommen. Nach den Länderberichten kam es zu
einer intensiven Diskussion unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz.
Grundrechtecharta komme echte Drittwirkung zu. Auch sei der Flankenschutz durch die europäische Menschenrechtskonvention nicht
zu unterschätzen. Die europäische Grundrechtecharta setze Maßstäbe bei den Grenzen des Sozialabbaus (Art. 31, 28, 21 und 30 GRC). Als
mögliche Handlungsschritte verwies der Referent insbesondere auf
die Thematisierung der sozialen Fortschrittsklausel im Primärrecht.
Auch müsse es darum gehen, wieder die Deutungshoheit durch Fachkonferenzen und Veröffentlichungen zu gewinnen. Geboten sei eine
bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wozu die MEDELKonferenz einen wichtigen Beitrag leiste.
. Im Anschluss an die Länderberichte aus den von der Krise am
stärksten betroffenen Ländern wurde in einem Forum über die
rechtlichen Strategien gegen Deregulierungsmaßnahmen im Lichte
der Krise diskutiert. Interessant war hier vor allem der Beitrag von
Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer Wien, der die gegenwärtige Austeritätspolitik heftig kritisierte. Er stellte die Sparpakete
„Six-Pack“ 2011 und „Two-Pack“ 2013 dar als Versuch der Verrechtlichung der Maßnahmen der Troika. Es sei zu einer Radikalisierung der
neoliberalen Integration gekommen. Die Instrumente seien größtenteils europarechtswidrig. Zudem sei allenthalben eine Aufwertung
der Exekutive gegenüber dem Parlament feststellbar. Die Empfehlungen der Kommission wirkten wie Nachrichten aus dem neoliberalen Paralleluniversum. Zudem machte der Referent interessante
Ausführungen zu Klagestrategien. Ihm folgte Isabelle Schömann vom
European Trade Union Institut aus Brüssel. Sie berichtete vor allem
über Prozesse von griechischen Klägern und Beklagten, verwies auf
die Rolle der ILO und betonte die Bedeutung der Entscheidung des
portugiesischen Verfassungsgerichts vom 5. April 2013, das vier von
neun Sparmaßnahmen zur Krisenbewältigung als verfassungswidrig
angesehen hatte.
. Im Schlusswort des MEDEL-Vorsitzenden Antonio Cluny schilderte
dieser noch einmal eindringlich die sich ausbreitende Armut in den
europäischen Krisenstaaten und die konzeptionelle Hilflosigkeit der
nationalen Regierungen. Gehälter und Renten nähmen tagtäglich ab
und das Prekariat nehme zu. Eigentlich werde – um an Ernst Bloch
anzuknüpfen - das Prinzip Hoffnung negiert. Die Banken finanzierten
nicht mehr die Realwirtschaft. Ein „deutsches Europa“ sei eine problematische Perspektive, führte der Referent mit Bezugnahme auf den
Soziologen Ulrich Beck aus. Am Schluss dankte er den Veranstaltern
für die vorzügliche Vorbereitung und Durchführung der Konferenz
und drückte die Hoffnung aus, dass es zu einem Bündnis zwischen
den Akteuren des Rechts und den Kräften der sozialen Bewegungen
kommen möge.
. Sodann folgte das Referat von Prof. Dr. Jens Schubert, Bereichsleiter Recht und Rechtspolitik bei ver.di. Er setzte an bei den Grundfreiheiten in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs, betonte aber
gleichfalls die Unkalkulierbarkeit von dessen Entscheidungen. Der
Gerichtshof könne nicht als Hoffnungsträger gelten. Die Europäische
Grundrechtecharta sei auch nur eingeschränkt als Bollwerk gegen
Sozialabbau tauglich. Jedoch enthalte Art. 3 Abs. 3 EUV eine soziale
Fortschrittsklausel, die nutzbar gemacht werden könne. Art. 28 der
. In der anschließenden Diskussion wurde die Thematik einer europarechtlichen Kontrolle des Budgetverhaltens von Nationalstaaten
diskutiert. Man müsse von der euphorischen zu einer analytischen
Europa-Diskussion vordringen. Betont wurde allgemein die soziale
Verantwortung der Justiz.
. Am Ende der interessanten und gewinnbringenden Tagung
bedankte sich Georg Schäfer insbesondere bei Leandro Valgolio,
Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Celle, und Barbara
Wederhake, der verantwortlichen ver.di- Gewerkschaftssekretärin für
den Justizbereich für die hervorragende Organisation der Tagung. Als
Fazit lässt sich festhalten, dass die Konferenz einen wichtigen Beitrag
für die Bestandsaufnahme der Auswirkungen neoliberaler Sparpolitik
in Europa und für die Gewinnung rechtlicher Handlungsstrategien
gegen den Abbau des Arbeits- und Sozialrechts geleistet hat. 
* Die Referate der Konferenz finden sich unter folgenden links von ver.di www.verdi.de und
MEDEL, www.medelnet.org
Les contributions au colloque de Berlin : »l`Etat social, terrain de jeu des marchés financiers«
sont en ligne. Papers of the conference of Berlin : »The Welfare State-At the Mercy of the Financial Markets?«
are on line.
Eric Alt
verdikt 2.13 , Seite 17
Dr. Carsten Schütz, Fulda
Die Unabhängigkeit der europäischen Justiz muss noch
errichtet werden
(L‘indépendance de la justice en Europe est encore à construire)
1. Einleitung
. Der Titel meines Referats ist nicht als Frage formuliert, sondern
als Feststellung. Und diese Feststellung ist zutreffend. „Le tableau de
bord de la justice dans l’UE“ vom 27. März 2013 belegt dies jenseits aller berechtigter Einwände, die man gegen die Zielrichtung der Studie
und die Art des Datenvergleichs erheben kann. Auch wenn die Daten,
wie die Commission Européenne selbst betont, sehr uneinheitlich
und nur beschränkt vergleichbar sind, zeigen sich doch einige besorgniserregende Tendenzen, die einen „Jour d’alerte pour l’indépendance
de la justice en Europe“ mehr als gerechtfertigt erscheinen lassen. Für
mich als deutschen Richter ist es dabei eine besondere Ehre, heute
hier sprechen zu dürfen, ist doch der 23. Mai der Tag der Verkündung
unserer Verfassung, des Grundgesetzes, das wir Deutsche uns dank
französischen, englischen und amerikanischen Vertrauens in unsere
Demokratiefähigkeit vor 64 Jahren geben durften.
. Lassen Sie mich dies zum Anlass nehmen, am Beispiel unserer Verfassung aufzuzeigen, dass selbst in einem Kernland der Europäischen
Union die Unabhängigkeit der Justiz nach wie vor nicht vollendet ist.
Gleichzeitig enthält das Grundgesetz aber auch Gewährleistungen,
die Vorbild für andere Justizsysteme sein können, wenn es darum
geht, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu sichern.
. In einem dritten und letzten Schritt will ich aufzeigen, dass die
positiven Aspekte der deutschen richterlichen Unabhängigkeit die
Nachteile einer fehlenden Selbstverwaltung nicht kompensieren
können.
2. Zunächst zu den Defiziten der Unabhängigkeit der deutschen
Justiz
. Entgegen der Errungenschaften anderer postfaschistischer Justizsysteme wie in Italien oder Spanien ist es Deutschland seit 1945 nicht
gelungen, eine Form der Selbstverwaltung der Justiz zu errichten. Wir
haben keinen Obersten Rat der Justiz oder ein vergleichbares Gremium, das unter Beteiligung der Richterschaft oder sonstiger durch
das Parlament gewählter Personen über die Organisation der Justiz
entscheiden oder diese verantworten würde. Solches besteht nicht
einmal im Ansatz. Es ist vielmehr ganz anders: Die Regierungen der
Bundesländer verwalten die Justiz und damit die Gerichte und Staatsanwaltschaften – letztere sind sogar unmittelbar weisungsgebunden.
Zwar stehen allen Gerichten – so wie etwa ich selbst – Richter vor,
wir sind aber zugleich weisungsgebundene Amtsträger des Justizministers, soweit es die Frage der Organisation und Verwaltung der
Gerichte angeht.
. Dies hat historische Gründe: Während die Garantie der Menschenrechte im Grundgesetz den Bruch mit der deutschen Vergangenheit
und Tradition dokumentiert, wird
die Organisation des Staates von
Kontinuität beherrscht. So auch
in der Justiz. Daher brauchte man
1949 insgesamt auch nur 24 Stunden, um die Frage der Organisation
der Justiz zu klären.
. Wie die Gerichte organisiert
Dr. Carsten Schütz, Foto: privat
sind und in welchem Umfeld die
Richter ihre Tätigkeit ausüben,
wird daher von der Regierung bestimmt – und dem Parlament, indem
es die Höhe der finanziellen Ressourcen der Justiz festsetzt. Ein richterliches Mitspracherecht existiert nicht. Wir Richter müssen mit dem
leben, was uns gegeben wird.
. Gleiches gilt auch für die Einstellung und die Beförderung der
Richter. Dies ist allein Sache des Justizministers, dem in verschiedenen Bundesländern, für die Berufung in das Richteramt ein Wahlausschuss zur Seite steht. Jedoch gelangt kein Richter in sein Amt ohne
die Zustimmung des Ministers.
3. Deutsche Errungenschaften zum Schutz der Unabhängigkeit
. Trotzdem darf sich Deutschland zu den demokratischen Rechtsstaaten zählen – und das Vertrauen der Betroffenen in die Unabhängigkeit richterlicher Entscheidungen in Deutschland scheint hoch. Im
„Tableau de bord de la justice dans l’UE“ erreichen wir in der EU Platz
4, weltweit Platz 7 – jedenfalls aus Sicht der Wirtschaftsvertreter. Und
in der Tat kann es schon überraschen, wie es der deutschen Justiz gelungen ist, sich vom willfährigen Vollstrecker des Nationalsozialismus
zu wandeln in die Verteidiger der Grundrechte und des Rechtsstaats
– ohne einen organisatorischen Bruch mit der exekutiven Verwaltung
zu vollziehen.
. Dafür dürften neben einer Demokratisierung der deutschen
Gesellschaft, aus der die Richter stammen, besonders zwei Gründe
verantwortlich sein:
1. die strikte Durchsetzung des Gebots des gesetzlichen Richters und
seine organisatorische Sicherung, gestützt durch den grundrechtlichen Schutz dieses Gebots.
2. der Rechtsschutz jeden Richters gegen Eingriffe in die Unabhängigkeit.
Lassen Sie mich dies kurz erläutern:
Die Zuständigkeit für ein gerichtliches Verfahren ist nach dem Gesetz
über die Gerichtsverfassung individuell im Voraus bestimmt und
verdikt 2.13 , Seite 18
kann einzelfallbezogen nicht nachträglich geändert werden. Dies
gilt zunächst für das zuständige Gericht: Dies ist durch örtliche und
sachliche Kriterien durch Parlamentsgesetz festgelegt.
. Innerhalb der Gerichte wird für jedes Kalenderjahr vorab durch das
Kollegium aller Richter oder durch ein von ihnen gewähltes Gremium
– genannt das „Präsidium“ – ein Plan über die so genannte Geschäftsverteilung beschlossen. Dieser Plan regelt mit abstakten Kriterien im
Voraus, welcher Richter im kommenden Jahr für welche Verfahren
. Gleichzeitig hat jeder Richter jederzeit das Recht, das so genannte
„Dienstgericht“ anzurufen, wenn er sich durch die Gerichtsverwaltung der Regierung in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt fühlt.
Dadurch haben Richter stets das letzte Wort darüber, ob eine konkrete Handlungsweise der Regierung zulässig ist oder nicht.
. Dieses organisatorische System zum Schutz des einzelnen Richters vor der Justizverwaltung der Regierung hat über die Jahrzehnte
hinweg zu einem weitgehenden Schutz des Richters geführt und
MEDEL, unsere europäische Dachorganisation der Richtergewerkschaften, hat am 23. Mai in Brüssel einen „jour d’alerte pour la justice“ veranstaltet. „Alarm schlagen“ für die Justiz und den demokratischen Rechtsstaat in Zeiten des Sozialabbaus und der Ökonomisierung“ – darum ging es.
Carsten Schütz war als Grundsatzreferent eingeladen, nicht zuletzt wegen seines Alarmrufs „Der ökonomisierte Richter“ (Carsten
Schütz, Der ökonomisierte Richter – Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit als Grenzen Neuer Steuerungsmodelle in den
Gerichten, Berlin (Duncker &Humblot) 2005). Wir drucken seinen Brüsseler Beitrag hier in deutscher Übersetzung ab.
Carsten Schütz ist Sozialrichter und leitet als Direktor das Sozialgericht Fulda. Er ist Mitglied der Redaktion von BETRIFFT:JUSTIZ. Wir
freuen uns ganz besonders über dies erneute Zeichen freundschaftlicher Verbundenheit zwischen den beiden Zeitschriften und Redaktionen.
zuständig sein wird. Gleiches gilt für die Zuständigkeiten innerhalb
eines Spruchkörpers. Dabei wird auch bestimmt, wer den zuständigen
Richter im Falle von Krankheit oder Urlaub vertritt.
. Einzelne Verfahren können sodann niemals unter Abweichung
von diesem Plan von einem anderen Richter als dem bestimmten
entschieden werden. Eine Änderung des Planes im Laufe eines Jahres
ist zwar möglich, erfordert aber einen objektiven Grund, wie etwa
eine unerwartet große Zahl von Verfahren für einzelne Richter oder
eine Änderung der Zusammensetzung des Richterkollegiums. Dann
kann das Präsidium eine Veränderung beschließen, jedoch wiederum nur nach abstrakten Kriterien, nicht in Bezug auf einzelne
Verfahren.
. Dieses Prinzip wird zum Schutz der Bürger durch das Grundrecht
auf den gesetzlichen Richter in Art. 101 des Grundgesetzes und das
Prozessrecht abgesichert. Eine Entscheidung, die durch einen nicht
zuständigen Richter getroffen wurde, ist verfassungswidrig und kann
keinen Bestand haben – unabhängig davon, ob sie in der Sache „richtig“ ist. Dieses Grundrecht kann von jedem auch vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.
. Auf dieser Basis hat es sich als Selbstverständlichkeit entwickelt,
dass niemand außer dem zuständigen Richter über ein Verfahren entscheidet. Daher darf als Errungenschaft für Deutschland festgehalten
werden, dass es keinerlei Einflussnahme gibt, die Zuständigkeiten
der Richter in einem Gericht für den Einzelfall zu ändern. Dies schützt
den Richter enorm, weil er weiß, dass sich niemand in seinen Fall
einmischen wird.
innerhalb der Richterschaft grundsätzlich das Bewusstsein gestärkt,
sich auch unabhängig von den Erwartungen der Regierung zu verhalten – mit den Defiziten, auf die ich noch zu sprechen komme.
4. Wo liegen somit die Probleme?
. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum Deutschland
nach meiner Auffassung Organe einer Selbstverwaltung wie einen
Obersten Richterrat braucht, wenn doch schon alles in unabhängiger
Ordnung ist.
. Dies hat mit dem beschränkten Verständnis des Parlaments und
der Regierung für die Besonderheiten der Rechtsprechung zu tun.
Zwar werden bei festlichen Gelegenheiten gerne die Bedeutung und
die Leistung einer unabhängigen Justiz betont. Im Alltag aber bleibt
davon meist wenig übrig. Die Gerichte sind Teil eines Ministeriums,
dem der Finanzminister das Geld streicht, als ginge es um ein Straßenbauprojekt. Und diese Umstände haben sich in der Finanzkrise
keineswegs verbessert.
. Aber bereits zuvor hatten die Regierungen nur wenig Verständnis für die Besonderheiten der Justiz. Anfang dieses Jahrhunderts
glaubte man in den deutschen Verwaltungen, dass mit den Methoden der privaten Wirtschaft ein besserer, vor allem aber effizienterer
und billigerer Staat zu schaffen sei. So wurden die Methoden von
Unternehmen, deren Ziel einzig und allein die Gewinnmaximierung
darstellt, auf die staatliche Verwaltung übertragen, um die Kosten der staatlichen „Produkte“ zu messen. Gleichzeitig sollten die
einzelnen Verwaltungsstellen nur noch so viel Geld erhalten, wie sie
verdikt 2.13 , Seite 19
zu der Herstellung ihrer „Produkte“ angeblich benötigten – also eine
Budgetierung.
. Hierbei fiel kaum jemandem auf, dass sich das Handeln der Justiz
einer Bewertung in Geld entzieht. Vielleicht kann man berechnen, wie
teuer ein Urteil einschließlich der hierzu erforderlichen Arbeitszeit
ist. Den Wert der mit der Tätigkeit der Justiz vermittelten Gerechtigkeit, Rechtssicherheit oder Befriedung der Gesellschaft kann man
nicht berechnen. Daher entzieht sich die Justiz einer Kosten-NutzenBetrachtung, wie sie sich in einem Unternehmen vornehmen lässt.
. Nimmt man zur Kenntnis, dass das Ökonomische in der Politik allgemein und in der gesamten Gesellschaft zum tragenden Prinzip geworden ist, wird diese auch die Justiz erfassen. Auch Rechtsprechung
wird zunehmend und weithin sogar vorrangig unter dem Blickwinkel
des damit verursachten finanziellen Aufwands betrachtet. Indem
die Rahmenbedingungen der Justiz geändert werden, nimmt man
Einfluss auf das Ergebnis richterlicher Tätigkeit.
. Dies zu verdeutlichen und die Verschiedenheit der Justiz von
anderer Staatstätigkeit klar zu machen, kann nur gelingen, wenn gar
nicht erst der äußere Eindruck entsteht, die Gerichte und Staatsanwaltschaften seien nur irgendeine, wenn auch irgendwie unabhängige Abteilung der Regierungstätigkeit. Hierfür bedarf es einer Organisation, die getrennt ist von den beiden anderen Staatsgewalten
und ihre eigenen Regeln für ihr Handeln bestimmen kann. Hierzu ist
ein Oberster Rat der Richterschaft, der unabhängig von irgendeinem
Ministerium über die Organisation der Justiz entscheidet, unverzichtbar.
. Das Urteil des Italienischen Verfassungsgerichts vom 8. Oktober
2012 über die Verfassungswidrigkeit der Gehaltskürzungen für Richter
verdeutlicht dies – und das zudem noch in einem Land, in dem mit
dem „Consiglio Superiore della Magistratura“ ein zentrales Organ
der richterlichen Selbstverwaltung besteht. Das Verfassungsgericht
hat dabei zutreffend herausgehoben, dass die Stellung der Judikative
auch vom Gesetzgeber zu beachten ist und die Bezahlung der Richter
nicht einen Arbeitslohn darstellt, der auf der einfachen Beziehung
von Leistung und Gegenleistung beruht.
. Ein solches Organ ist auch von besonderer Bedeutung, weil es verhindert, dass die Handlungsprinzipien und Erwartungen der Exekutive
unvermittelt in die Richterschaft eindringen können. Eine Erwartung
der Regierung an die Richter ist es regelmäßig, mit möglichst geringem Personal und finanziellem Aufwand möglichst viel zu „erledigen“. Die Einhaltung der Verfahrensprinzipien und die Qualität der
Entscheidungen spielen regelmäßig keine Rolle. Hinzu kommt, dass
die qualitativen Kriterien richterlichen Handelns nicht oder kaum
messbar sind – die quantitativen aber sehr wohl. Auch „Le tableau de
bord de la justice dans l’UE“ zeigt dies: Es werden Daten erhoben und
verglichen über die durchschnittliche Dauer eines Verfahrens und die
Quote der erledigten Verfahren. Insofern haben die Außenminister
Deutschlands, der Niederlande, Dänemarks und Finnlands mit Recht
gegenüber Kommissionspräsident Barroso darauf hingewiesen, dass
eine unabhängige Justiz mehr ist als nur ein Wirtschaftsfaktor, der
Kosten reduziert und ausländische Investitionen erleichtert.
. Man kann in der deutschen Justiz beobachten, dass die Richter
sich dieser Erwartung anpassen. Sie sind bereit, die Zahl der Verfahrensabschlüsse immer weiter zu steigern. Dies tun sie auch deshalb,
weil sie wissen, dass sie Verantwortung tragen für die Parteien eines
Rechtsstreits. Es hilft einem Kläger, dessen Verfahren nicht zur
Entscheidung steht, nicht, wenn er weiß, dass der zuständige Richter
andere Verfahren zu erledigen hat. Die natürliche Reaktion darauf
ist es, seine Arbeitsweise anzupassen und ein Verfahren mit immer
weniger Sorgfalt zu erledigen.
. Erst recht funktioniert dieses System, wenn ein Richter den
Eindruck gewinnt, dass er für diese Anpassung an die Erwartungen
der Regierung mit einer Beförderung und besserer Bezahlung belohnt
wird. Dabei geht es nicht um Eingriffe in die Unabhängigkeit von
außen, sondern die Anpassung des eigenen Verständnisses von Unabhängigkeit durch die Richter selbst.
5. Lassen Sie mich zusammenfassen:
. Ein Rechtsstaat ist unvollkommen, solange die Verwaltung der
Justiz in den Händen der Regierung liegt. Daher ist die Einrichtung
eines richterlich getragenen Selbstverwaltungsorgans für die Justiz
unabdingbar und kann auch durch andere Formen der Sicherung der
Unabhängigkeit für die Dritte Gewalt als solche nicht kompensiert
werden. Dies gilt insbesondere in Zeiten zunehmender Kürzung der
finanziellen Ressourcen.
. Ein für die Sicherung der individuellen Unabhängigkeit des Richters bedeutender Schritt kann erreicht werden, wenn die Garantie des
gesetzlichen Richters strickt eingehalten wird. Hierzu hat die Assemblée parlementaire du Conseil de l´Europe 2009 mit Recht folgende
Empfehlung abgegeben:
. “l’indépendance des juges vis-à-vis des présidents de tribunaux et
des juges de juridictions supérieures doit être protégée, notamment
par la définition préalable de systèmes objectifs d’attribution des
affaires, l’établissement de règles strictes interdisant qu’un juge soit
dessaisi d’une affaire pour des raisons non expressément prévues par
la loi et une evaluation des performances basée sur d’autres critères
que le nombre de décisions confirmées ou annulées par des instances
supérieures.”1 
1 „Die Unabhängigkeit der Richter gegenüber den Gerichtspräsidenten wie gegenüber Richtern der höheren Instanzen muss vor allem durch die Einführung eines objektiven Systems der
Zuteilung der einzelnen Sachen sowie durch die Formulierung verbindlicher Zuständigkeitsregeln gewährleistet werden. Diese Vorschriften müssen es eindeutig verbieten, einem Richter
einen Fall aus anderen als aus den im Gesetz selbst vorgesehenen Gründen zu entziehen.
Ebenso wenig darf das auf Grund anderer Kriterien als der Zahl von bestätigten oder abgeänderten Entscheidungen durch eine höhere Instanz geschehen.“ (Übersetzung der Redaktion)
verdikt 2.13 , Seite 20
[rechtspolitisches]
Uwe Boysen
Wie viel ist uns der Rechtsstaat wert?
Zum neuerlichen Versuch, die Prozesskostenhilfe einzuschränken
. Seitdem ich mich für Rechtspolitik interessiere, fällt mir ein Phänomen auf: Immer
wieder werden von interessierter Seite –
häufig von der Justizbürokratie – Vorschläge
zu Gesetzesänderungen neu eingebracht,
auch wenn sie mehrfach vom Parlament
abgelehnt worden sind. irgendwann werden
sie dann – oh Wunder – doch Gesetz. Das
kann man gut an Verschärfungen im Strafund Strafprozessrecht beobachten, wo
immer wieder – und das teilweise auch mit
Erfolg – versucht wurde, Beschuldigten- und
Verteidigerrechte einzuschränken oder Strafvorschriften zu verschärfen. Es gilt aber auch
für sog. Reformen der ZPO (in der ich mehr
zu Hause bin). So wurde bei Einbringung des
Rechtspflegeentlastungsgesetzes 1992 die
massive Ausdehnung des Einzelrichtereinsatzes gefordert. Ebenso war damals schon bei
der Berufung von einer Zurückweisung durch
Beschluss die Rede. Beide Vorschläge haben
sich dann tatsächlich in der Reform des
Jahres 2002 mit den neu gefassten §§ 348,
522 ZPO durchgesetzt. Dass der Bundesgesetzgeber sich 2011 genötigt sah, die zuletzt
genannte Vorschrift wieder restriktiver zu
fassen, sei nur am Rande erwähnt.
. Auch bei der Prozesskostenhilfe (im folgenden PKH) gibt es seit langem Bestrebungen der Länder, ihre Kosten zu senken. So
machten sie bereits 2006 mobil (vgl. BR-Drs
250/06 = BT-Drs 16/1994) und erklärten dem
von ihnen offenbar massenhaft gesehenen
„Missbrauch“ der PKH den Kampf (vgl. dazu
Bader, BJ 83, 144 ff.; sehr krit. auch Boysen
verdikt H. 2/2006, S. 16; aus familienrechtlicher Sicht Rakete-Dombek, NJW 2007,
3162), damals noch ohne Unterstützung des
BMJ, so dass ihr Entwurf letztlich zu keinen
Veränderungen der §§ 114 ff. ZPO führte. Nun
haben sie es erneut versucht (BT-Drs 17/1216),
diesmal mit ausdrücklicher Hilfe des Bundes
(BT-Drs 17/11472). Die Argumentation hat sich
indes kaum geändert.
Die Vorschläge des Gesetzentwurfs
. Gleiches gilt für die unterbreiteten
Vorschläge. Dabei sah der Entwurf drei
Gruppen von Maßnahmen vor: „Änderungen im PKH-Verfahren sollen sicherstellen,
dass die Gerichte die persönlichen und
wirtschaftlichen Voraussetzungen für die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe (die
Bedürftigkeit) umfassend aufklären, um auf
diese Weise ungerechtfertigte Prozesskostenhilfebewilligungen zu vermeiden und
der missbräuchlichen Inanspruchnahme
von Prozesskostenhilfe entgegenzuwirken.
Durch die Absenkung von Freibeträgen, die
Verlängerung der Ratenzahlungshöchstdauer
um zwei Jahre und die Neuberechnung der
PKH-Raten sollen die Prozesskostenhilfeempfänger in stärkerem Maße als bisher an
der Finanzierung der Prozesskosten beteiligt
werden. Die Änderung der Vorschriften zur
Anwaltsbeiordnung in Scheidungssachen
und im arbeitsgerichtlichen Verfahren sowie
die neue Möglichkeit zur Teilaufhebung der
PKH-Bewilligung sollen die Ausgaben der
Länder für Prozesskostenhilfe reduzieren“
(Regierungsentwurf, BT-Drs 17/11472 S. 1).
. Statt wie bisher 48 Monatsraten sollte
der PKH-Empfänger nunmehr ggf. bis zu 72
Monatsraten zahlen müssen. Einen zinslosen
Justizkredit nennen die Entwurfsverfasser
das.
. Auch der Gegner der PKH beantragenden
Partei soll nunmehr nach § 118 Abs. 1 Satz 1
ZPO-E nicht nur zur Erfolgsaussicht Stellung
nehmen, sondern auch ein Wörtchen zur
Bedürftigkeit mitreden, „soweit dies aus
besonderen Gründen nicht unzweckmäßig
erscheint.“ Konsequenterweise müsste ihm
dann auch Einblick in die Erklärung über die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der PKH-Partei gewährt werden – zum
Teufel mit dem Datenschutz! Das wiederum
verhindert aber § 117 Abs. 2 Satz 2 ZPO.
Kritik
. Was der Entwurf sorgsam vermied, ist,
die Frage zu stellen, wie viel der soziale
Rechtsstaat, zu dem als integraler Bestandteil gehört, sein (gutes oder weniger gutes)
Recht auch gerichtlich überprüfen zu lassen,
dem Staat wert ist. Bürger sind keine systemrelevanten Banken. Ihre Rechte kann der
Gesetzgeber getrost – und natürlich ohne
schlechtes Gewissen – beschneiden.
. Auch die These, die Reform sei wegen der
gestiegenen Kosten notwendig, wird von den
vorgelegten Zahlen so nicht eindeutig gedeckt. So wurde an beigeordnete Anwälte im
Jahr 2005 ein Betrag von 494,5 Mio. € ausgezahlt, 2008 waren es 507,3 Mio. € und 2010
knapp 509 Mio. €, was eine Steigerung um
nicht einmal 4 Prozent ausmacht. Dabei ist
der Anteil der ordentlichen Gerichte hieran
kontinuierlich gesunken. Während es 2005
noch 434 Mio. € waren, betrug der Aufwand
2010 lediglich noch 424,6 Mio. € Demgegenüber stieg der Anteil in den Fachgerichtsbarkeiten steil an, nämlich von 60,3 Mio. € im
Jahr 2005 auf 84,3 Mio. € im Jahr 2010, und
zwar in erster Linie auf Grund von Verfahren
in der Sozialgerichtsbarkeit. Zurückgegangen sind die Rückflüsse, und zwar von 23,09
Prozent 2005 auf 19,29 Prozent 2010, wobei
nicht alle Länder Rückflüsse gemeldet hatten
(vgl. BT-Drs 17/11472 S. 20; zu den Zahlen aus
den einzelnen Ländern ebd. S. 18 f.).
. Nicht erläutert wurde im Entwurf, wem
die prognostizierten Einsparungen zu Gute
kommen sollen. Würden sie dazu genutzt,
die Justiz insgesamt effektiver, bürgerfreundlicher und möglicherweise sogar
schneller zu machen, ließe sich – vielleicht
– über die eine oder andere Änderung diskutieren. So aber scheint es nur ums Sparen um
des Sparens willen zu gehen.
Das Resultat
. Das Gesetz ist, nachdem der Bundesrat zunächst den Vermittlungsausschuss
angerufen, das aber später wieder zurückgenommen hat, verabschiedet. Insgesamt
sind sie nun doch noch einmal - halbwegs
- davongekommen, die Unterprivilegierten
in Deutschland, die Menschen, die nicht
in der Lage sind, Kosten zur Führung eines
Rechtsstreits aufzubringen. Sie sind noch
einmal davongekommen, weil eine Reihe der
verdikt 2.13 , Seite 21
eben beschriebenen Änderungen, wie sie von
der Bundesregierung aber vor allem von den
Bundesländern vorgeschlagen worden waren,
dank der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten nicht Gesetz geworden sind. So bleibt
es bei der Höchstratendauer von 48 Monaten. Ebenso wenig gibt es eine Herabsetzung
der nach § 115 Abs. 1 Satz 3 ZPO eingeräumten
Freibeträge. Gleichfalls bleibt es bei der
Regelung von § 113 Abs. 1 FamFG, wonach
einem zur Inanspruchnahme von Verfahrenskostenhilfe Berechtigten stets ein Rechtsanwalt beizuordnen ist, wenn der Gegner
einen hat. Auch die Idee, dass der oder die
Vorsitzende die Bedürftigkeitsprüfung auf
die Rechtspflegerin oder den Rechtspfleger
übertragen können soll (§ 20 Nr. 4a RPflG-E),
die bekanntlich ein Faible für Zahlen haben,
ist so nicht Gesetz geworden. Stattdessen
bringt die Reform nun eine Länderöffnungsklausel.
. Dagegen wird die bisher geltende Tabelle
zu § 115 Abs. 2 ZPO abgeschafft. Stattdessen
wird jetzt die Hälfte des einzusetzenden
Einkommens als Monatsrate festgesetzt.
Waren bei einem einzusetzenden Einkommen zwischen mehr als 200 Euro bis 250
Euro 75 Euro als Monatsrate zu zahlen,
sind es jetzt bei 250 Euro also 125 Euro. Die
Grenze, bei der der Antragsteller den Rest
seines einzusetzenden Einkommens für die
PKH-Rate aufzuwenden hat, wird außerdem
von 750 auf 600 Euro herabgesetzt (§ 115 Abs.
2 ZPO-neu). Nun ist es nicht von vornherein schlimm, auf die Tabelle zu verzichten.
Richtig wäre allerdings gewesen, nicht die
Hälfte des einzusetzenden Einkommens für
die Ratenhöhe heranzuziehen, sondern ca. 30
Prozent. Tatsächlich soll der Gegner nach §
118 Abs. 1 Satz 1 ZPO-neu nun umfassend zum
PKH-Gesuch gehört werden mit der expliziten Absicht, ihm auch Gelegenheit zu geben,
zu den persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen des Antragstellers vorzutragen
(vgl. BT-Drs 17/11472 S. 24 und 31). Was dabei
in verhärteten Konfliktfällen herauskommen
wird, können sich alle Richterinnen und Richter, die je einen Rechtsstreit mit verfeindeten
Parteien geführt haben, schnell ausmalen.
Dagegen bleibt dem Gericht nach Intervention des Bundestagsrechtsausschusses immerhin erspart, im PKH-Verfahren auch noch
Zeugen zur Bedürftigkeit der Antragsteller
zu hören, wie es noch § 118 Abs. 4 ZPO-E der
Bundesregierung vorsah.
. Verschärft werden auch die Meldepflichten der Menschen, denen die Gnade
der Bewilligung von PKH tatsächlich zu Teil
geworden ist. Auf Verlangen des Gerichts
müssen sie jetzt nach § 120a Abs. 1 Satz 3
ZPO-neu jederzeit erklären, ob eine Veränderung der Verhältnisse eingetreten ist. Ist sie
wesentlich, soll das Gericht die Entscheidung
zur PKH ändern (§ 120a Abs. 1 Satz 1 ZPO-neu).
Wann eine Änderung der wirtschaftlichen
Verhältnisse wesentlich ist, verrät uns § 120a
Abs. 3 Satz 1 ZPO-neu, der dazu das durch
den Prozess Erlangte zählt. Dann soll das
Gericht schon wieder prüfen (§ 120a Abs. 3
Satz 2 ZPO-neu), diesmal ob eine Änderung
des PKH bewilligenden Beschlusses geboten
ist. Abbau von Justizbürokratie sieht anders
aus. Aber das spielt, wenn es darum geht,
staatliche Einnahmen im Justizhaushalt zu
generieren, offenbar keine ausschlaggebende Rolle.
Ein Fazit
. Auch wenn nicht alle Änderungen
durchgesetzt worden sind, bleibt ein fader
Nachgeschmack. Steter Tropfen höhlt den
Sozialstaat. Das wissen wir schon länger.
Und die Länder werden auch in der nächsten
Legislaturperiode wieder mit ihren Uraltforderungen in die Gesetzgebungsschlacht
ziehen und bemüht sein, Menschen, die
lediglich versuchen, ihr Recht durchzusetzen,
als Parasiten, Schmarotzer oder Sozialbetrüger zu diskreditieren, wie es teilweise
Mode geworden ist. Um des Rechtsstaats
willen, um der prekären Verhältnisse willen,
in denen diese Menschen leben, um unserer
eigenen Glaubwürdigkeit als sozial verantwortliche Justiz willen sollten, nein müssen
wir diesen Tendenzen mit ihrer potenziell
diskreditierenden Konnotation auch in Zukunft energisch entgegentreten. 
verdikt 2.13 , Seite 22
[Aus der Justiz]
Martina Dierßen
Gespräch mit der nds. Justizministerin Anje Niewisch-Lennartz am 24.04.2013
. Das eineinhalb stündige Gespräch fand in sehr angenehmer, offener Atmosphäre statt.
. Vorab bat die Ministerin um eine kurze Vorstellung der GesprächsteilnehmerInnen. Für die ver.di Fachgruppe der Richter waren dies:
Peter Scheider und Karl Schulte (beide LSG), Tobias Walkling (LAG) und
Dr. Michael Schwickert (AG Lingen). Die Ministerin selbst nutzte die
Gelegenheit zu einer Erläuterung und Einordnung ihres Werdegangs.
. Die Themen »Selbstverwaltung der Justiz« und die Etablierung von
Richterwahlausschüssen seien aus ihrer Sicht zu trennen.
. Die Diskussion zur Selbstverwaltung solle auf die Tagesordnung
genommen werden, das Ministerium wolle dazu eine Anhörung
durchführen, wie sie vor wenigen Tagen von der Grünen Bundestagsfraktion durchgeführt worden sei. Kritisch vermerkte die Ministerin
dazu, das Thema könne wohl nur dann tatsächlich erfolgreich vorangebracht werden, soweit es gelinge, die junge Richterschaft dafür
zu begeistern. Dem Einwand, dass Interesse und Begeisterung ggfls.
auch durch entsprechende Initiative des Justizministeriums ausgelöst
bzw. befördert werden könne, widersprach sie nicht.
. Das Thema der Richterwahlausschüsse solle von ihrem Ministerium unmittelbar angegangen werden, in die Grundkonstruktion seien
die Verbände/Gewerkschaften aktiv einzubinden. Man sei auf der
Suche nach einem guten Modell, vor allem müsse geklärt werden,
welche Kompetenzen die Richterwahlausschüsse haben sollten. Ver.
di sei insoweit besonders gefragt. Noch in dieser Legislaturperiode
sollen Änderungen angeschoben werden, innerhalb der nächsten
Monate werde das Ministerium Verbände und Gewerkschaften einladen.
. Aus Sicht des Justizministeriums sollte der Zusammenschluss von
Gerichten gefördert werden; es gehe aber ausdrücklich nicht um die
Zusammenlegung von Gerichtsbarkeiten. Die Ministerin zeigte sich
Argumenten zur Erhaltung von kleinen Gerichten durchaus aufgeschlossen; man könne aber keine Garantieerklärung zur Erhaltung
aller kleinen Gerichte geben.
. Hinsichtlich PEBB§Y plädierte sie bei aller Kritik dafür, dass sich
die Gerichte/die RichterInnen an der anstehenden neuen PEBB§YErhebung aktiv beteiligen. Sie versuche, überall PEBB§Y 1.0 zu erreichen; sofern sich in den Fachgerichtsbarkeiten der Trend zu tendenziell komplexeren und arbeitsintensiveren Verfahren abzeichne, müsse
sich dies in den neuen Arbeitszeitaufschreibungen zu PEBB§Y auch
widerspiegeln.
. In der HAZ hatte die Ministerin kürzlich sehr eindeutig für die PKH
in der jetzigen Form plädiert, die geplanten Änderungen der Bundesregierung seien völlig inakzeptabel, das nds. Justizministerium werde
seine Möglichkeiten in die Waagschale werden, um das zu verhindern
(vgl. dazu aktuell Boysen, in diesem Heft S. 20)
In unserem Gespräch verwies die Ministerin auf die prekäre finanzielle
Situation: auch der Justizetat müsse sich anteilig an der Finanzierung
der Studiengebühren beteiligen, die „Schuldenbremse“ werfe ihre
Schatten voraus. An einer Anhebung der Gerichtsgebühren gehe aus
ihrer Sicht kein Weg vorbei, das betreffe aber nicht die Sozialgerichtsbarkeit. Das Thema PKH sei „im Paket“ zu sehen; z.B. in Scheidungsverfahren stehe sie einer Verschlechterung der PKH kritisch gegenüber. Dem Hinweis, dass auch die Länder „egal welcher politischen
Couleur“ die Frage der Justizgewährung einseitig nur noch unter dem
Blickwinkel der Kostendeckung betrachten, widersprach sie nicht. 
Georg Schäfer, Vors. Richter am Hess. Landesarbeitsgericht, Sprecher des Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter,
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
Starke hessische Justiz sichert den Rechtsstaat
. Am 27. August 2013 - und damit zu Beginn der heißen Phase des
hessischen Landtagswahlkampfs - fand im Audimax des Behördenzentrums Frankfurt am Main eine Veranstaltung statt, zu der der ver.
di-Landesbezirksvorstand Hessen und der Landesbezirksfachausschuss der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte (LBFA) gemeinsam eingeladen hatten.
Forderungen nach selbstverwalteter Justiz (abgedruckt im Anschluss)
siehe den nach, was dort zu einer sehr lebendigen Diskussion führte
und schließlich zu dem Beschluss, im Vorfeld der Landtagswahl eine
öffentliche Informationsveranstaltung durchzuführen, in der allerdings nicht nur dieses, sondern auch andere justizpolitische Themen
behandelt werden sollten.
. Diese Veranstaltung hatte folgende Vorgeschichte: In einem
Gespräch, das der Bundesfachausschuss (BFA) im Januar 2012 mit
Frank Bsirske u.a. zum Thema „Selbstverwaltete Justiz“ führte, regte
dieser an, die Positionen des Bundesfachausschusses stärker in
die Organisation hineinzutragen. In der Folge hielt Georg Schäfer,
Sprecher des Bundesfachausschusses, im Dezember 2012 vor dem
versammelten hessischen Landesbezirksvorstand ein Referat über die
. Eine Arbeitsgruppe des LBFA erarbeitete dann gemeinsam mit
Conny Kröll, der stellvertretenden Landesbezirksleiterin, das Konzept.
Schnell war man sich darüber einig, dass man die rechtspolitischen
Sprecher der Landtagsfraktionen zu einer Stellungnahme und Diskussion veranlassen wollte. Als Themen wurden neben der Selbstverwaltung die Richterbesoldung und die Ausstattung der Justiz ausgewählt. Und um die Gemeinsamkeit der drei Richterorganisationen in
verdikt 2.13 , Seite 23
verschiedenen Kernbereichen herauszustellen, wurden Richterbund
und NRV gebeten, sich mit jeweils einem Kurzreferat zu beteiligen.
Guido Kirchhoff (NRV) und Dr. Ursula Goedel (Richterbund) sagten
sofort zu.
. Die Veranstaltung richtete sich an zwei Zielgruppen: Einerseits lud
der Landesbezirksvorstand über seinen Verteiler haupt- und ehrenamtliche Angehörige der Gewerkschaft ein, bei denen ein Interesse an
den justizpolitischen Themen erwartet wurde. Andererseits wurden
über das Justiz-Intranet alle Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Hessen mit einem Flugblatt eingeladen.
Plakate in den Gerichten des Rhein-Main-Gebiets vervollständigten
die Werbeaktion.
. Für die Parteien sagten die rechtspolitischen Sprecher Jürgen
Frömmrich (Bündnis 90/Grüne), Hartmut Honka (CDU), Stefan Müller
(FDP) und Ulrich Wilken (Linke) sofort zu, für die SPD meldete sich
die für den Posten der Justiz- und Frauenministerin vorgesehene Ute
Sacksofsky.
. Als Moderator der Veranstaltung wurde schließlich der Kollege
Hans-Ernst Böttcher aus Lübeck gewonnen, da sich die Vorbereitungsgruppe darüber einig war, dass am besten eine bestens
informierte Person, die aber nicht in Hessen tätig ist, diese Funktion
übernehmen sollte.
. Alle Beteiligten waren im Vorfeld davon ausgegangen, dass interessante Themen, kompetente Gesprächspartner und die Tatsache,
dass die entscheidenden Wochen des hessischen Landtagswahlkampfs begonnen hatten, viele Kolleginnen und Kollegen dazu veranlassen würden, einmal einen Vorabend – der Beginn war auf 17.30
Uhr festgelegt – ihrer Freizeit zu opfern oder den Schreibtisch etwas
früher zu verlassen. Und immerhin füllte sich das große Audimax mit
ca. 50 Personen, viele von ihnen auch Funktionsträger der Richterorganisation.
. Hochspannend verlief der Abend in inhaltlicher Hinsicht, was
nicht zuletzt auch an den qualifizierten Diskussionsbeiträgen der
Erschienenen lag – darunter mehrere Präsidentinnen und Präsidenten
hessischer Gerichte.
. Zunächst begrüßte Jens-Peter Hoth in seiner Eigenschaft als
Sprecher des Landesbezirksfachaussusses die Gäste auf dem Podium
und im Saal, bevor er schnell Platz machte für die Kurzreferate zu
folgenden Themen:
• Selbstverwaltung der Justiz – Vollendung der Gewaltenteilung!
• Ausstattung der Justiz – Handlungsfähigkeit trotz Schuldenbremse
• Richterbesoldung – Amtsangemessenheit und Fairness
. Es begann Georg Schäfer mit einer in 9 Thesen zusammengefassten Begründung, warum alle drei Richterorganisationen die Selbstverwaltung der Justiz als immer noch ausstehende Vollendung der
Gewaltenteilung fordern (siehe Text).
. Anschließend referierte Guido Kirchhoff die Ergebnisse einer
Umfrage, die die NRV unter allen hessischen Richtern per E-Mail
durchgeführt hatte. Insgesamt 251 Richterinnen und Richter, darunter 19 Richterinnen oder Richter auf Probe, hatten den Fragenkatalog
beantwortet, und als erstaunlichstes Ergebnis führte er an, dass genau
50% angaben, dem fast von allen festgestellten erhöhten Arbeitsdruck dadurch zu begegnen, dass sie weniger Zeit für Aktenarbeit und
Recherche aufwendeten, also bei der Qualität ihrer Arbeit Abstriche
machten. Ein offener Brief des NRV-Sprechergremiums an den hessischen Justizminister, in dem die Ergebnisse dargestellt werden, gipfelt
in der Forderung: „Die NRV Hessen fordert Sie deshalb auf, nicht nur
von weiteren Kürzungen abzusehen, sondern die selbst nach PEBB§Y
notwendigen Stellen zu schaffen.“
. Frau Dr. Goedel legte in ihrem Referat einen besonderen Schwerpunkt auf das inzwischen immer deutlicher zu Tage tretende Auseinanderdriften der Richterbesoldung in den verschiedenen Bundesländern (vgl. dazu auch das Flugblatt des ver.di-Bundesfachausschusses)
und sprach auch die Stimmen an, die von einer verfassungsrechtlich
bedenklichen Abkopplung der Richterbesoldung von der Entwicklung
der Lebenshaltungskosten sprechen. Am hessischen Gesetzgeber
kritisierte sie, dass zwar die prozentuale Erhöhung im Tarifbereich
des Landes für die R-Besoldung übernommen wurde, nicht aber die
Einmalzahlungen.
. Nach diesen kurzen Einführungen in die Themen des Abends
übernahm es Hans-Ernst Böttcher, die folgende Podiumsdiskussion
kompetent, charmant, aber auch präzise nachfragend zu leiten und
dabei insbesondere Antworten zu der Frage einzufordern, wie sich die
Parteien zur Forderung nach Selbstverwaltung stellen. Die Antworten
waren natürlich nicht völlig überraschend, aber sie erhellten doch
einige Standpunkte und machten darüber hinaus deutlich, dass die
Diskussion darüber nicht mehr als völlig abseitig abgetan wird, sondern dass das Bewusstsein darüber inzwischen auch in der politischen
Sphäre deutlich gewachsen ist. Interessant war, dass Stefan Müller
(FDP) sein Interesse am Fortgang der Diskussion betonte und darauf
hinwies, dass Staatssekretär Kriszeleit Mitglied der „Albrecht-Kommission“ ist.
. Hartmut Honka (CDU) lobte die Arbeit des Richterwahlausschusses
und sah keine Notwendigkeit einer weitergehenden Selbstverwaltung,
während Ute Sacksofsky auf das SPD-Wahlprogramm hinwies, das
einen Prüfauftrag und den Dialog mit den Richterinnen und Richtern
über eine erweiterte Selbstverwaltung der Justiz enthalte. Jürgen
Frömmrich (Bündnis 90/Die Grünen) und Ulrich Wilken (Die Linke) kündigten für den Fall der Regierungsbeteiligung an, zuallererst einmal
die bestehenden Mitbestimmungsgremien, deren Befugnisse in den
Jahren schwarz-gelber Regierung stark zusammengestrichen wurden,
wieder mit echten Mitbestimmungsrechten ausstatten zu wollen.
. Zu den anderen Themenkreisen verhielten sich die Podiumsteilnehmer so, wie es zu erwarten war. Während die Vertreter der Regierungsparteien den Zustand der hessischen Justiz und deren Leistungen lobten und angesichts Schuldenbremse und Krise der öffentlichen
Haushalte um Verständnis für Einsparungen warben, hielten sich
die Vertreter der Opposition mit Versprechungen merklich zurück
und kündigten zunächst einen Kassensturz an, nach dem man erst
entscheiden könne, wo Investitionen getätigt werden. Ute Sacksofsky
verdikt 2.13 , Seite 24
meinte zusätzlich, sie freue sich darauf, in ihrer vorgesehenen Doppelfunktion besonders die Förderung von Frauen in allen Bereichen der
Justiz betreiben zu können.
. Insgesamt war die Bilanz des Abends – abgesehen davon, dass er
noch mehr Teilnehmer verdient gehabt hätte – durchaus positiv. Alle,
die zu seinem Gelingen beigetragen haben, gingen mit dem Gefühl
nach Hause, dass gerade die Diskussion über die Selbstverwaltung der
Justiz wieder ein kleines Stück vorangekommen war und die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer – gleich in welcher Funktion
sie gekommen waren – in ihrem Tätigkeitsbereich als Multiplikatoren
weiter aktiv daran arbeiten werden. 
Georg Schäfer
Selbstverwaltung der Justiz - Vollendung der Gewaltenteilung!
Kurzreferat für die Veranstaltung „Starke hessische Justiz sichert den Rechtsstaat“ vom 27. August 2013 in Frankfurt am Main
. Seit einigen Jahren sind sich die drei großen Richterorganisationen, die auch bei dieser Veranstaltung vertreten sind, in der Forderung nach einer selbstverwalteten Justiz einig.
. Zwar unterscheiden sich die Modelle von Richterbund, NRV und
ver.di in einigen Bereichen, aber da wir noch nicht soweit sind, dass
wir morgen gleich über die Umsetzung eines der Modelle in Form
eines Gesetzes diskutieren dürfen, möchte ich heute nicht in aller
Ausführlichkeit unsere Position vorstellen - d.h. die Position des
Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen
und Staatsanwälte in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.
di - die inzwischen auch vom Gewerkschaftstag insgesamt übernommen wurde, sondern in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden
Zeit die Argumente für eine selbstverwaltete Justiz schlagwortartig
benennen.
Warum also Selbstverwaltung der Justiz?
. Weil es europäischer Standard ist. Wir können uns mit unserer traditionellen, der Unabhängigkeit nicht gerecht werdenden obrigkeitsstaatlichen Gesamtorganisation der Justizverwaltung international
kaum noch verständlich machen. Dies zeigt sich insbesondere immer
dann, wenn man mit Kolleginnen und Kollegen anderer europäischer
Länder über die Justizorganisation diskutiert.
. Weil die deutsche Justizorganisation nach 1945 in den Ländern
und mit dem Grundgesetz 1949 in der Bundesrepublik auf halbem
Weg in Richtung Gewaltenteilung und Demokratie stehen geblieben
ist: Mit parlamentarischen Richterwahlausschüssen, Präsidien der
Gerichte, Richterdienstgerichten und einer eigenen Richterbesoldung
und -mitbestimmung gibt es nur einige wenige demokratie-adäquate
Elemente. Das Gesamtsystem aber blieb, wie es 1877 geschaffen worden war: wilhelminisch, obrigkeitsstaatlich.
. Es kann nicht angehen, dass an der Spitze der Verwaltung der
Justiz, also der rechtsprechenden Gewalt, die gem. Art. 92 GG den
Richtern anvertraut ist, mit dem Justizminister ein Mitglied der Regierung und damit der zweiten Gewalt, der Exekutive, steht.
. Wir fordern Selbstverwaltung auch, weil die Justiz dann auf allen
Ebenen von denjenigen nach innen verwaltet und nach außen vertreten wird, die etwas von der Sache verstehen und die als Angehörige
der Justiz auch die Folgen zu spüren haben. Für die Wahl auf allen
Ebenen ist das Verhältniswahlrecht verpflichtend vorzusehen, damit
die internen Strömungen und damit auch die Gewerkschaften und
Verbände proportional repräsentiert sind.
. Nur dann kann Justiz auch nach außen authentisch mit eigener
Stimme sprechen und sachkundig und ohne Drittinteressen - z.B.
parteipolitischer Art - mit dem Finanzministerium und dem Haushaltsausschuss verhandeln. Wie viel der Justizminister am Kabinettstisch für die Justiz ausrichten kann, sehen wir zurzeit im Rahmen der
Umsetzung oder Nichtumsetzung der Tariferhöhungen für Richterinnen und Richter in mehreren Bundesländern.
. Die Selbstverwaltungsmodelle verknüpfen Selbstverwaltung auf
„oberster Ebene“ in Form der Gerichtsbarkeitsräte mit der Selbstverwaltung an der Basis, nämlich in den Eingangsgerichten und in den
größeren Gerichtsbezirken und bilden so - jeweils unter Beteiligung
von Repräsentanten der zum Bezirk gehörenden Gerichte ein durchgängiges und in sich schlüssiges Organisationsprinzip.
. Mit der Selbstverwaltung und der Abkopplung von der Exekutive
verbinden wir in ver.di die Enthierarchisierung des Richteramtes und
die grundsätzlich einheitliche Richterbesoldung, gleich in welcher Instanz. Dies führt den Gedanken konsequent zu Ende, der Anfang der
70-er Jahre zur heutigen besonderen Richterbesoldung, der R-Besoldung, geführt hat. Der Vorsitz in den Spruchkörpern rotiert oder wird
in anderer Weise, z.B. durch zeitlich begrenzte Wahl der Mitglieder,
festgelegt. Letzteres gilt auch für die Gerichtsvorstände, die durch
das Plenum der Richterinnen und Richter auf Zeit gewählt werden.
. In einer selbstverwalteten Justiz darf die Mitbestimmung aller
dort Beschäftigten - also auch der nichtrichterlichen Beschäftigten
- natürlich nicht vernachlässigt werden. Darauf legen gerade wir als
Gewerkschafter besonderen Wert. Es müssen daher im Einzelnen
noch zu diskutierende Formen der Mitbestimmung innerhalb und neben der Selbstverwaltungsgremien geschaffen werden, damit dieser
Aspekt nicht zu kurz kommt.
. Schließlich gehört auch die Staatsanwaltschaft eindeutig zur
Dritten Gewalt. Für sie sollen deshalb grundsätzlich dieselben Regeln
zur Unabhängigkeit und zur Selbstverwaltung gelten wie für die
Richterinnen und Richter. Nicht zuletzt spektakuläre Prozesse mit
Beschuldigten, denen eine gewisse „Staatsnähe“ zugesprochen
wird, machen deutlich, wie sensibel die Öffentlichkeit auf tatsächliche oder vermutete Einflussnahme durch Mitglieder der Exekutive
reagiert. 
verdikt 2.13 , Seite 25
[IN EIGENER SACHE]
Martin Bender
Aus für akzent-druck - Das Ende einer Erfolgsgeschichte
. Gestaltung und Druck von verdikt liegen
seit Ende vergangenen Jahres nicht mehr in
den Händen von der akzent-druck gGmbH in
Hannover, sondern werden nunmehr von der
Interdruck Berger + Herrmann GmbH verantwortet, die ebenfalls in Hannover ansässig
ist. Dies markiert zugleich das Ende des
ältesten sozialen Betriebs in Deutschland.
Die Gründung von akzent-druck im Jahr 1992
durch den Kirchenkreis Hannover-Linden, der
mit dem Stadtkirchenverband Hannover bis
zur Schließung der Druckerei Ende Dezember vergangenen Jahres zu den Trägern des
Betriebs gehörte, war eine Reaktion auf den
starken Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit
Anfang der 90 er Jahre. Statt Arbeitslosigkeit
zu bezahlen, hielten es die Initiatoren mit
dem Geschäftsführer des Betriebs Jürgen
Schabram für sinnvoller, Arbeit zu bezahlen.
Ein Programm der niedersächsischen Landesregierung zur Förderung sozialer Betriebe
ermöglichte es, dass zunächst zehn Beschäftigte die Arbeit in der Druckerei aufnahmen,
finanziert durch die Bundesagentur für
Arbeit. Der Jahresumsatz überschritt nach
zwei Jahren die Millionengrenze und nach
fünf Jahren konnte der Betrieb allein aus
den erwirtschafteten Umsätzen finanziert
werden. Kunden von akzent-druck waren vor
allem kirchliche Verbände und Organisationen, die ihre Broschüren, Zeitungen, Mitteilungsblätter und Flyer dort herstellen ließen,
nicht zuletzt aber auch Externe wie ver.di
mit unserer Zeitschrift verdikt, die seit ihrer
ersten Ausgabe im März 2002 dort gestaltet
und produziert worden ist. Auf diese Weise
konnten in den 20 Jahren des Bestehens
von akzent-druck mehr als 150 Menschen,
darunter etlichen Auszubildenden eine neue
berufliche Perspektive eröffnet werden.
. Die Beendigung des Programms der
Förderung sozialer Betriebe und die Veränderung des Fördersystems der Bundesagentur für Arbeit als Folge der Gesetzgebung
zum Sozialgesetzbuch 2. Buch („Hartz IV“)
bedeutete einen Bruch in der Entwicklung
von akzent-druck, weil die Veränderung des
Charakters der geförderten Maßnahmen,
wie z. B. die sog. Ein-Euro-Jobs, auch die
wirtschaftliche Existenz des Betriebs gefährdete. Akzent-druck musste dann Ende
2012 seinen Betrieb einstellen, weil eine
finanzielle Förderung von Umschulungs-
Mit Interdruck nachhaltig in die Zukunft
Haben Sie gedacht,
. ... dass für die Produktion der Druckform eines einfarbigen Druckes – wie der
Inhalt von verdikt – nur ein Viertel so viel
Aluminium und Energie verbraucht, wie der
entsprechende vierfarbige Druck?
. ... dass eine Druckmaschine, die nur
zwei statt vier Farbwerke hat, natürlich
auch nur halb so viel Platz und Ressourcen
verbraucht, wie die entsprechende Vierfarbmaschine?
. ... dass Recyclingpapiere nicht nur
Rohstoffe einsparen helfen, sondern viele
Transportwege zur Beschaffung des Rohstoffs verkürzen?
. ... dass es mittlerweile Druckfarben gibt,
die vollkommen mineralölfrei sind?
. Das persönliche Engagement für das zu
erstellende Druckprodukt, der bewusste
Umgang mit Ressourcen und Nachhaltigkeit sind Leitlinien für Interdruck.
. Katrin Herrmann und Matthias Berger
betreiben den kleinen Familienbetrieb
seit über 25 Jahren. Ursprünglich aus dem
Buchhandel kommend, fühlen sie sich der
Herstellung von Druckerzeugnissen wie
Zeitschriften oder Büchern eher verbunden,
als der Produktion von tausenden Werbeflyern.
. Wir freuen uns sehr, bei der Herstellung
von verdikt mit Rat und Tat mitwirken zu
dürfen, so Katrin Herrmann. Hiervon konnte
sich die Redaktion bei ihrem Besuch in der
Druckerei einen eigenen Eindruck verschaffen.  bas
und Weiterbildungsmaßnahmen vermutlich
aufgrund einer geänderten politischen
Schwerpunktsetzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht mehr
bzw. nicht mehr in dem bisherigen Maß
stattfand. Die Weiterführung des Betriebs
war danach nicht mehr möglich. Das bedeutet jedoch nicht auch, dass die Notwendigkeit für eine Förderung und Fortführung von
Initiativen wie akzent-druck entfallen wäre,
weil Arbeitslosigkeit in Deutschland gegenwärtig keine Bedeutung mehr hätte. Ganz
im Gegenteil: Zum Zeitpunkt der Gründung
von akzent-druck im Jahr 1992 gab es nach
Angaben der Arbeitsverwaltung in Deutschland 2.978.570 Arbeitslose. Im Jahr 2011, also
ein Jahr vor der Schließung des Betriebs,
lag die Zahl bei 2.975.800 Arbeitslosen. Hat
sich also nichts verändert? Dies gilt sicher,
soweit es um eine Reduzierung der Zahl der
Arbeitslosen geht. Diese Einschätzung wird
jedoch sicher nicht von den Beschäftigten
geteilt, die bei akzent-druck oder einem
anderen sozialen Betrieb die Gelegenheit zu
einer Ausbildung oder Umschulung erhielten und damit eine erstmalige oder neue
berufliche Perspektive. 
verdikt 2.13 , Seite 26
[REZENSIONEN]
Christian Oestmann
Verurteilt – Mein Jahr als Strafrichter
Robert Pragst, Verurteilt – Mein Jahr als Strafrichter, dtv premium München 2013, 220 Seiten, 19,90 €
. Viele Richter und Staatsanwälte werden sich bei der Lektüre des
neuen Buches von Robert Pragst vielleicht mit einem Schmunzeln an
ihre eigene Probezeit erinnern. Viele andere erhalten einen authentischen Einblick in die Wirklichkeit des Justizalltages eines Amtsrichters in Berlin.
. Nach seinem Erfolg mit dem Buch „Auf Bewährung – Mein Jahr
als Staatsanwalt“, in dem Pragst bereits seine Erfahrungen in der
Staatsanwaltschaft Berlin als Berufsanfänger lebendig und originell
die Arbeit der Staatsanwälte geschildert hatte, schlägt er in dem Buch
„Verurteilt – Mein Jahr als Strafrichter“ ein weiteres, lesenswertes
Kapitel aus seiner Probezeit als Betreuungsrichter und als Strafrichter
auf. Wieder gelingt es ihm, die eigenen beruflichen Erfahrungen mit
verschiedenen Fällen aus der Praxis in interessanter Weise zu verknüpfen. Seine Betrachtungen sind nicht ohne Witz und Selbstironie
geschrieben.
. Er zeigt überraschende, erheiternde und auch sehr bedrückende
Situationen und Lebensgeschichten aus dem Alltag eines Amtsrichters. Dabei geht es ihm nicht um spektakuläre Justizfälle oder
juristische Auslegungen. Pragst konzentriert sich auf die Menschen,
die in der Justiz arbeiten oder mit ihr zu tun bekommen. Der Amtsrichter steht oft allein, unter Zeit- und Aktendruck vor schwierigen
Entscheidungen, sei es, wenn er über den
Abbruch lebenserhaltender Behandlungen
oder über mehrjährige Freiheitsstrafen
entscheiden muss. Pragst schildert nicht
Täglicher Akteneingang,
nur die schwierigen Aufgaben des Richters,
Foto: privat
sondern bezieht auch die anderen Berufsgruppen in der Justiz ein. Er beschreibt, wie sich die Wachtmeister
und die Protokollführerin trotz geringer Vergütungen tagtäglich
erheblichen Belastungen und Risiken aussetzen müssen. Das oft angespannte Verhältnis zwischen Strafrichter und Strafverteidiger wird
von ihm anhand eines Falles einer Drogenbande, der sich wie ein roter
Faden durch das Buch zieht, sehr anschaulich nachgezeichnet.
. Pragst zeigt in seinem neuen Buch ein schonungsloses und teilweise beklemmendes Bild der Berliner Justiz, in der ein junger Richter
vor großen Herausforderungen und unter schweren Belastungen
steht und frühzeitig Verantwortung für Entscheidungen übernehmen
muss, auf die er kaum vorbereitet ist. Dabei geht es ihm stets um die
Menschen, denen er mit Empathie begegnet, und um den eigenen
Anspruch, trotz der hohen Belastungen im Einzelfall gerecht zu entscheiden.
Eine Pflichtlektüre für Richter und solche, die es werden wollen. Ein
lesenswerter Beitrag über die Justiz, wie sie wirklich ist. 
Dr. Peter Kalmbach*
„Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert“ – Das Kriegstagebuch
eines deutschen Heeresrichters
Werner Otto Müller-Hill, „Man hat es kommen sehen und ist doch erschüttert“, Das Kriegstagebuch eines deutschen Heeresrichters 1944/45, Siedler
Verlag München 2012, 176 S., 19,99 €
. Zeugnisse von Juristen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 in der
„Rechtspflege“ tätig waren, sind rar – und meist mit Vorsicht zu
genießende Quellen. Erich Schwinge, einflussreicher Theoretiker
des Militärstrafrechts, etwa zeichnete ein apologetisches Bild seiner
Richterkollegen und seiner selbst. Die von der Wehrmachtjustiz
ausgesprochenen Todesurteile rechtfertigte er als unumgänglich,
behauptete nach dem Krieg gar, sie seien notwendig gewesen,
um das Militär als einzige aussichtsreiche Opposition gegen Hitler
handlungsfähig zu halten (nachzulesen in seiner Autobiographie
„Ein Juristenleben im 20. Jahrhundert“, Frankfurt 1997). Der unter
dem Pseudonym Güstrow schreibende frühere Rechtsanwalt Dietrich
Wilde konnte – jedenfalls kurzzeitig – seiner Leserschaft das Gefühl
vermitteln, dass in der Juristenschaft „nicht alle mitgemacht hätten“
– diese Stimmung hielt freilich nur so lange, bis offengelegt wurde,
dass der Autor verschwiegen hatte, selbst Hetzartikel gegen jüdische
Mitbürger verfasst zu haben. Sicher, es gab rechtschaffene Juristen,
die dem Druck des Regimes nicht wichen. Auch derartige Richterbiographien sind vereinzelt bekannt wie etwa jene von Lothar Kreyssig,
der Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Euthanasiemorde
gestellt hatte, oder – seit jüngstem – die des Wehrmachtrichters
Heinrich Heinen, der es vermocht hatte, trotz des sich rasend steigernden Justizterrors innerhalb der Streitkräfte kein einziges Todesurteil auszusprechen.
. Mit einem umfangreichen Vorwort von Wolfram Wette, dem
vielleicht profundesten Kenner der NS-Militärjustiz, liegt nun die
Veröffentlichung der Tagebücher des Kriegsrichters Werner Otto
Müller-Hill vor. Vom 28.3.1944 bis zum 7.6.1945 führte er ein geheim
gehaltenes Tagebuch, das jedem Interessierten einen glaubhaften
und bis dahin nicht möglich gewesenen Einblick in die Erlebens- und
Gedankenwelt eines Richters während der NS-Zeit erlaubt. MüllerHill zeichnet vor allem ein nachvollziehbares Bild seiner im Militär
eingesetzten Richterkameraden: Dort sind zwar die überzeugten Nationalsozialisten in der Minderheit, doch ist die Masse infolge eines
falsch verstandenen Loyalitätshabitus trotzdem autoritätsgläubig
und daher ein nützlicher Diener des NS-Systems. Fast erstaunlich ist
dabei die immer wieder aufgezeigte Naivität vieler dieser Protagonisten. Trotz zusammenbrechender Fronten hielten sich etliche an die
verdikt 2.13 , Seite 27
ausgegebenen Propagandaformeln von Wunderwaffen, die noch in
letzter Stunde die Wende bringen sollten. Noch etwas anderes wird
durch die Aufzeichnungen Müller-Hills deutlich: Juristen konnten
durch persönliches Engagement, und zwar ohne Gefahr für Leib und
Leben, Milderungen für Angeklagte erreichen. Dies korreliert mit den
Darlegungen des 2007 verstorbenen Widerständlers und Judenretters
Heinz Drossel, der zeitweilig als Verteidiger vor Kriegsgerichten tätig
war.
. Der Verfasser bringt ungetrübt die sich stetig radikalisierende
Praxis der NS-Gerichte zum Ausdruck. So erwähnt er mehrfach die
ausufernde Anwendung des Wehrkraftzersetzungsparagraphen, der
ursprünglich als Auffangtatbestand konzipiert war. Diese Normierung
des Kriegsstrafrechts war ausgesprochen weit auslegbar und sah als
Regelstrafe den Tod vor. In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges nutzten viele Gerichte diese Umstände, um schnelle, harte Urteile
zu produzieren. Müller-Hill weist darauf hin, dass bewusst speziellere
Regelungen – mit milderen Sanktionsmöglichkeiten – schlicht übergangen wurden.
Standgerichtliche Erschießung – hier eine Inszenierung – für 30.000 zum
Tode Verurteilte grausame Realität – undatiert, Fotos: Archiv
. Hervorzuheben ist die ungeschminkte Kenntnis des Tagebuchschreibers von den Massenmorden an Juden. Es wird bei diesen
Anmerkungen deutlich, dass in allen militärischen Stäben ähnliche
Vorstellungen vom Umfang der Verfolgungen vorhanden gewesen
sein müssen; dies zumal Müller-Hill vornehmlich in einem rückwärtigen Gebiet des Krieges, im Elsass, eingesetzt war.
. Wette beschreibt den Lebensweg Müller-Hills treffend: Er war ein
untypischer Wehrmachtjurist. Seine kritische Haltung und die milde
Urteilspraxis sind Ausnahmen angesichts etwa 3.000 eingesetzter
Kriegsrichter, die bis zu 50.000 Todesurteile während des Zweiten
Weltkrieges verhängten. Diese authentischen Aufzeichnungen eines
moralisch integeren Juristen zu lesen, ist nicht nur wissenssteigernd,
es ist auch ermutigend, denn tatsächlich haben wenigstens einige
„nicht mitgemacht“. 
* Der Autor ist Rechtsanwalt in Bremen. Er hat jahrelang über die nationalsozialistische Militärjustiz geforscht und die Ergebnisse, die u.a. auch auf der Befragung zahlreicher Zeitzeugen
beruhen, in dem 2012 im Metropol Verlag, Berlin, erschienenen Buch ‚Wehrmachtjustiz’
veröffentlicht.
Justizgebäude: Offiziere verlassen nach einer kriegsgerichtlichen Verhandlung
den Palais de Justice, Bordeaux – undatiert
Wolfgang Helbig/Hans-Ernst Böttcher
Das Oberlandesgericht München zwischen 1933 und 1945
Hannes Ludyga, Das Oberlandesgericht München zwischen 1933 und 1945, herausgegeben im Auftrag des Präsidenten des Oberlandesgerichts München,
Metropol Verlag Berlin 2012
. Das OLG München hat seine Rolle in der Zeit von 1933 bis 1945
untersuchen lassen durch den Rechtshistoriker Hannes Ludyga und das
Ergebnis nun in Buchform vorgestellt. Das Buch enthält interessante
Aspekte über die Rolle des Oberlandesgerichts und über den Umgang
mit einzelnen Richtern jüdischen Glaubens und deren weiteres Schicksal. Auch die Rolle, die der damalige Justizminister und spätere „Generalgouverneur“ in Polen Hans Frank spielte, wird sehr gut beleuchtet,
ebenso die Rolle der jeweiligen Präsidenten des Gerichts, die allesamt
überzeugte Nationalsozialisten waren. Unter ihnen in diesem Sinne
noch besonders hervorzuheben ist Georg Neithardt (Präsident von 1933
bis 1937), der als Vorsitzender den Prozess um den Hitlerputsch 1923
geleitet hatte.
. Es gab auch Kollegen, die Widerstand leisteten, wenn auch nur einige wenige. Unter ihnen war Johann David Sauerländer, der dem Bayerischen Obersten Landesgericht angehörte, bis zu dessen Auflösung 1935.
Sauerländer versuchte, gegen das lügnerisch so genannte Gesetz über
Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3.7.1934 einen Plenumsbeschluss
des BayObLG herbeizuführen. Das Gesetz sollte nicht mehr und nicht
weniger, als die blanken Morde auf Befehl Hitlers im Zusammenhang
mit innerparteilichen Machtkämpfen nachträglich legitimieren, Mord
zu „Staatsnotwehr“ umdefinieren. Noch heute verwenden ja geschichtsblinde Zeitgenossen den zur Verharmlosung des „Mordes von
oben“ von Goebbels erfundenen Begriff „Röhm-Putsch“. Ein bevorstehender Putsch der SA und vor allem ihres Stabsführers Ernst Röhm sei
– so die NS-Propaganda – die alles rechtfertigende Ursache der Aktion
der hitlertreuen SS gewesen, bei der außer Röhm und anderen SA- und
Parteigenossen auch gleich noch missliebige demokratische Politiker
aus der Weimarer Zeit und Hitlers unmittelbarer Vorgänger als Reichskanzler (!), der General von Schleicher, umgebracht wurden. Sauerländers Initiative scheiterte letztlich. Der Schlusssatz seines Beschlussentwurfes lautete: „Wir sind Richter, nicht Götzendiener“.
. Unter den diskriminierten und verfolgten Richtern lernen wir auch
Sigmund Elsässer kennen, der als Amtsgerichtsrat wegen der – nach
NS-Doktrin – jüdischen Herkunft seines verstorbenen Vaters von
verdikt 2.13 , Seite 28
Entlassung bedroht war, dann aber wegen seines Kriegsdienstes 1916
bis 1918 und durchaus auch wegen der Fürsprache von Kollegen und
Vorgesetzten im Dienst verbleiben „durfte“. In der Nachkriegszeit
wurde Elsässer Oberlandesgerichtspräsident (1956 bis 1966) und Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (1959 bis 1965).
. Zu denjenigen unter den Richtern, denen die Verfolgungswut der
Nazis galt, zählte auch der auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 (Wieder eine dieser
lügnerischen Gesetzesbezeichnungen!) entlassene und alsbald in die
Emigration getriebene Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner (1887 bis
1980), nach dem Krieg von 1945 bis 1946 und von 1954 bis 1957 bayerischer Ministerpräsident.
. Wir lesen – die Rezensenten bekennen: mit einigem Erstaunen –,
dass auch Erich Emminger (1880 bis 1951) zu den „furchtbaren Juristen“ (Ingo Müller) zählte: derselbe, der in der Weimarer Zeit kurzzeitig
(30.11.1923 bis 15.4.1924) Reichsjustizminister war und dessen Name
den Verordnungen anhaftet, deren eine uns bis heute andauernde
(und immer wieder fortgeschriebene) Reduzierungen der Richterbank
in Strafsachen gebracht hat. Er war eben nach seiner Zeit als Politiker
und insbesondere MdR (1913 bis 1933, bis 1918 für die Zentrumspartei,
danach für die Bayerische Volkspartei) wieder Richter am Obersten
Landesgericht (ab 1935 OLG) in München geworden. Von 1946 bis 1949
war Emminger dann Senatspräsident am wieder errichteten BayObLG.
Warum wir Emminger zu den „furchtbaren Juristen“ rechnen? Wir
stoßen auf ihn in Ludygas Hauptteil (S. 135 bis 263), der die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München zwischen 1933 und 1945
schildert. Die Übersicht umfasst alle Rechtsgebiete und widerlegt
zum wiederholten Male die These von der „Sauberkeit“ der Justiz
außerhalb der politiknahen oder ideologiegeneigten Rechtsgebiete.
Nicht nur die Beispiele zum Zivil- und Zivilprozessrecht zusammenfassend, sagt Ludyga treffend (S. 149) nach der Schilderung einer
Willkürentscheidung von 1935 zum Verlagsrecht1:
1 Der Kommentator des Erbrechts im „Staudinger“ Felix Herzfelder hatte auf sein vereinbartes Honorar gegen den J. Schweitzer Verlag und seine Inhaber Arthur Sellier, Arthur Louis
Sellier und Johann Georg Auer geklagt. Das OLG hielt, gestützt auf § 242 BGB, den Anspruch
für unberechtigt, weil „dem Verlag … die Erfüllung der durch den Verlagsvertrag von 1929 übernommenen Verpflichtung , das Werk des Klägers zu vervielfältigen und zu verbreiten…, aus
einem nach Entstehung eingetretenen Umstand unmöglich geworden (ist) und er damit nach §
275 BGB insoweit von der Verpflichtung zur Leistung frei geworden ist.“ (OLG München, zitiert
„Die Entscheidung zeigt, dass sich die Entrechtung von Juden nicht
etwa auf sogenannte Rassenschande-Urteile oder Eheanfechtungen
beschränkte. Vielmehr bezog sich die Entrechtung von Juden vor dem
Oberlandesgericht München auf alle Rechtsbereiche. Im Übrigen billigte
das Gericht unter Bestätigung der landgerichtlichen Entscheidung Herzfelder einen Entschädigungsanspruch zu.“2
. Nun zu Emminger in diesem Zusammenhang: Ludyga führt die
strafrechtlichen Beispiele auf, dass Emminger als Beisitzer im 1.
Strafsenat 1936 an einer Rechtsprechung in „Rassenschandesachen“
mitgewirkt hat, die noch über die Vorgaben der Nürnberger Gesetze,
insbesondere des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre“ hinausging (S. 171 ff); dass der Senat ferner unter seinem Vorsitz 1944 eine Strafe von zwei Jahren Gefängnis wegen „Wehrkraftzersetzung“ gegen eine Frau verhängt hat, die geäußert haben
soll: “Der Krieg wird in 1 – 2 Monaten … zu Ungunsten Deutschlands
zu Ende sein und dann werden die besiegten Nationen wie Frankreich,
wieder das Fleisch und Deutschland wird die Kartoffeln essen, Deutschland wird dann, so groß es jetzt ist, wieder so klein werden.“ (S. 197).
. Das Werk hat ein imponierendes Quellen- und Literaturverzeichnis. Das ebenfalls beigegebene Namensregister ist hilfreich. An vielen
Stellen kann der Leser erkennen, dass der Autor bei seiner erfolgreichen Suche nach weiteren Spuren dankbar (und selbstverständlich
mit Belegen) den Wegen nachgegangen ist, die Helmut Kramer, Ingo
Müller und Hans Wrobel gebahnt haben und die noch längst nicht
„auserforscht“ sind (s. dazu Böttcher, „Die Rosenburg“ in diesem
Heft, S. 28 zum Forschungsvorhaben des BMJ zur NS-Vergangenheit
des eigenen Hauses).
. Ludygas Buch zum Oberlandesgericht München ist eine gute und
hilfreiche Regionalstudie, die die Forschungslandschaft bereichert. Es
ist informativ und ein wichtiger und guter, wenn auch etwas später
Beitrag der Justiz zur Aufklärung ihrer Rolle in der NS-Zeit. 
nach Fn 667 bei Ludyga S. 148. Ludyda zitiert hier noch (Fn 664 und 666) Tilmann Krach, der
darauf hinweist, dass die Parteien erstmals im Jahr 1897 (!) einen Verlagsvertrag geschlossen
hatten und dass der seit 1889 als Rechtsanwalt zugelassene Herzfelder bei Prozessbeginn 70
Jahre alt war und seit 1898 Mitherausgeber des „Staudinger“ und verantwortlich für die Kommentierung des Erbrechts; er konnte 1938 nach Palestina fliehen und starb 1944 in Haifa.
2 Bei Ludyga S. 149, mit Verweis wiederum auf Krach in Fn 669
Hans-Ernst Böttcher
„Die Rosenburg“ – oder: das Forschungsvorhaben der Unabhängigen
Wissenschaftlichen Kommission beim BMJ zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit1
„Da will doch jetzt das BMJ tatsächlich untersuchen, ob und in welchem Umfang es in der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland alte
Nazis in seinem Hause gab!“ So hieß es ironisch in Kreisen aufgeklärter JuristInnen und ZeitgeschichtlerInnen des Rechts, als die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger Anfang dieses Jahrzehnts eine Unabhängige Kommissionbeim Bundesministerium der Justiz zur
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit (UWK) berief.
1 So lautet der offizielle Titel der Kommission. Was bei Wortauslegung nicht sogleich klar wird: Es geht um die NS-Vergangenheit von (leitenden) Mitarbeitern des BMJ und um die Auswirkung der
Tätigkeit der alten Eliten auf die Verwaltung und Gesetzgebungsvorbereitung „des Hauses“ und darüber hinaus auf Staat und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik.
Zugleich eine Besprechung von:
a) Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit, eine Bestandsaufnahme, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2013; im
folgenden: „Bestandsaufnahme“
b) Bundesministerium der Justiz/Unabhängige Wissenschaftliche Kommission beim BMJ zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, 2. Symposium: Die Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess, Berlin (Eigendruck) 2013; im folgenden: „Verantwortung“
c) Ralph Giordano, Der perfekte Mord – Die deutsche Justiz und die NS-Vergangenheit. Mit einem Geleitwort von Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger, Göttingen (Vandenhoeck &
Ruprecht) 2013
verdikt 2.13 , Seite 29
. „Die Rosenburg“ – so hieß der erste Sitz des BMJ in Bonn und so
heißen denn (s. Fn. 1) auch zwei der drei Bände die bis jetzt (oder soll
ich sagen: schon jetzt?) dem Vorhaben gewidmet sind. „Die Rosenburg“ als Buchtitel mit entsprechender Bebilderung - das klingt
dunkel und geheimnisvoll. Und das Schlösschen auf der Höhe über
Bonn, das uns auf den beiden Titelblättern präsentiert wird (bei der
„Bestandsaufnahme“ das Bild im Chamois-Ton, also auch schon leicht
braun, der Titel in braunrot; bei der „Verantwortung“ das Bild auf weißem Grund, der Titel auf blauem Grund, oben links das heute übliche
Logo des BMJ mit Bundesadler und dem ganz schmalen Schwarz-RotGold), sieht auch so aus. Wenn Sie mich fragen: Die Herausgeber begeben sich in die gefährliche Nähe der mythischen Verklärung eines
ernsten Sachverhalts. Soll hier ein Krimi präsentiert werden oder die
Arbeit einer wissenschaftlichen Kommission?
Aber der Reihe nach und „zur Sache“:
. Es soll hier nicht noch einmal der Frage nachgegangen werden,
wie und warum es zur Auswahl gerade dieser beiden Leiter des
Forschungsprojekts2 kam. Sie haben ihre Bewährungsprobe vor sich.
Am Ende werden sie sich fragen lassen müssen, ob sie über den Stand
der Erkenntnis hinausgekommen sind, zu dem Reinhard Strecker
schon Ende der fünfziger Jahre3 und später Helmut Kramer4, Ingo
Müller5, Hans Wrobel6 oder Klaus-Detlev Godau-Schüttke7 beigetragen haben, von Zeitzeugen aus Wissenschaft und Justizpraxis, die
sowohl Widerstand geleistet und Verfolgung im NS erlitten haben als
auch wissenschafts- und/oder justizpolitisch in der Bundesrepublik
eine Rolle spielten wie Wolfgang Abendroth, Fritz Bauer und Richard
Schmid8 ganz abgesehen.
. Vielmehr will ich (2.) von den nach außen wahrnehmbaren Aktivitäten bis heute9 berichten und dann (3.) ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf den Inhalt der Veröffentlichungen eingehen.
. 2012 haben eine Auftaktveranstaltung im Kammergericht in
Berlin10 und eine weitere Veranstaltung im Landgericht Nürnberg11
stattgefunden, jeweils absichtsvoll in den damaligen Sitzungssälen
des IMT. Im Mai 2013 gab es dann in Berlin eine expertenöffentliche
gemeinsame Konferenz der Repräsentanten der Kommission beim
2 Auch wenn beide zur Thematik des Forschungsprojekts Berührungspunkte hatten, so
waren sie jedoch nicht oder nicht in erster Linie mit Arbeiten zu diesem Bereich befasst und
hervorgetreten.
3 Ich denke an die von ihm konzipierte Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“
4 Als Beispiel für viele: Die Aufarbeitung des Faschismus durch die Nachkriegsjustiz in der
Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Ernst Böttcher (Hrsg.), Recht Justiz Kritik – Festschrift
für Richard Schmid zum 85. Geburtstag, Baden-Baden (Nomos) 1985, S. 107 ff
5 Insbesondere: Furchtbare Juristen – Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München (Kindler) 1987
6 Verurteilt zur Demokratie – Justiz und Justizpolitik in Deutschland 1945 – 1949, Heidelberg
(Decker&Müller) 1989
7 Ich habe doch nur dem Recht gedient – Die „Renazifizierung“ der Schleswig-Holsteinischen
Justiz nach 1945, Baden-Baden (Nomos) 1993; Der Bundesgerichtshof – Justiz in Deutschland,
Berlin (Verlagsgesellschaft Tischler) 2005
8 Sie kommen übrigens im Gegensatz zu den Vorgenannten im Literaturverzeichnis nicht
vor – dazu auch noch später unter 2.
9 Sie sind – den heutigen Standards entsprechend, aber wohl auch absichtsvoll, um einen
transparenten Forschungs- und Kommunikationsprozess zu dokumentieren (dies wohl auch
um einer kleinen Polemik gegen die Kollegen Forscher zum AA willen), auf der Website des Projekts www.uwk-bmj.de nachgezeichnet. Dort findet sich auch unter „Forschungsgegenstand“
eine einigermaßen präzise Beschreibung desselben. Eine etwas vertieftere Beschreibung findet
man auf der Website der Universität Potsdam www.uni-potsdam.de) unter „Historisches
Institut“, dort weiter zu Prof. Görtemaker und „Drittmittelprojekte“.
10 Dazu die Eröffnungsansprachen in der Broschüre zu d) und die Dokumentation zu a) in Fn 1
11 Dazu „Verantwortung“, s. zu b) in Fn 1
BMJ mit Vertretern von Kommissionen bei anderen Ministerien oder
sonstigen Behörden des Bundes. Es waren dies: Das AA, das BMF, das
BMAS, das BMWT, der BND (!), das BKA, das BFV und das BMI. Die
hochspannende Tagung kann in einem Videomitschnitt auf der
Website der UWK 12 verfolgt werden. So sehr offenbar jetzt, zwei
Generationen nach dem Kern des untersuchten Zeitraums (1945/49
bis in die sechziger Jahre des vergangen Jahrhunderts), in gleicher
oder jedenfalls ähnlicher Weise alle genannten Institutionen an ihrer
eigenen Geschichte interessiert sind, so unterschiedlich sind die
Budgets, der Untersuchungszeitraum (Einige beschränken sich strikt
auf die oben angesprochene „Kernzeit“ - natürlich samt ihrer
NS-Vorgeschichte, das ist dem Thema ja eigen! - , andere fassen den
Untersuchungszeitraum länger, und zwar in beide Richtungen der
Zeitachse), die Zusammensetzung der Kommissionen, ihre jeweilige
Arbeitsweise und interne Struktur, auch das Alter der ForscherInnen.
Einige können schon fertige Ergebnisse präsentieren (AA und BKA),
andere stehen, ähnlich wie das BMJ, erst am Anfang. Alle legen Wert
auf die – von den jeweiligen Auftraggebern respektierte – Unabhängigkeit als Wissenschaftler. Im Juni schließlich wurde, wiederum in
Berlin, der Band „Bestandsaufnahme“13 medienöffentlich präsentiert
und bei dieser Gelegenheit hielt Ralph Giordano eine – ich wage das
Wort – ergreifende Rede, die das BMJ dankenswerterweise inzwischen
in einem eigenen kleinen Band veröffentlicht hat.14 Beginnen wir bei
einer ersten kurzen Betrachtung des Inhalts der Veröffentlichungen
mit dem Bändchen von Ralph Giordano! Einige unserer LeserInnen
werden sich noch an ihn und seine Rede auf dem Richterratschlag in
Damp/Schleswig-Holstein im November 1994 erinnern. Damals nahm
er mit Staunen und Freude wahr, dass Richterinnen und Richter,
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ihn einladen und dass sie für
den demokratischen und sozialen Rechtsstaat stehen. Nun erinnert er
an erlebte und erlittene Diskriminierung und Verfolgung bis 1945 und
danach und begrüßt leidenschaftlich das Vorhaben des „Gerechtigkeitsministeriums“, sich der eigenen braunen Vergangenheit zu
stellen. Man kann fast den Eindruck haben, Giordano sehe – nach
Lektüre des ersten großen Bandes („Bestandsaufnahme“) – das Werk
schon als vollbracht an15. Davon aber kann, auch aus Sicht der Projektleiter, noch längst nicht die Rede sein. Ralph Giordanos Befreiungsschrei ist durchaus verständlich. Und er erklärt ihn auch16: „..lese ich:
‚Das westdeutsche Justizwesen ist in den drei Jahrzehnten nach dem
Krieg in ganz erheblichem Maße von einstigen Parteigängern des
NS-Regimes bestimmt worden.‘ Das ist einer jener Ecksätze, die
schnörkellos eine historische Schande beim Namen nennen, … Ist es
doch ein Thema, mit dem ich mich mein ganzes Leben befasst habe
und hier nun auf einen Ton stoße, auf den ich so lange vergeblich
gehofft hatte: Konfrontation mit den konkreten Handlungen;
politische und moralische Unbestechlichkeit; innere Positionen, die
unberührt sind vom Dunst der Täter- und Mittäterschaft – das Ende
der Verdrängung.“ Aber auch abgesehen von diesem wichtigsten
inhaltlichen Punkt trifft Giordanos (zu) frühes Lob durchaus etwas
Richtiges: Wer als Außenstehender die Öffentlichkeitsarbeit der
Kommission und des BMJ erlebt, der fragt sich, ob hier Vorhaben
12 S. Fn 4
13 S. Fn 1, dort a)
14 S. Fn 1, dort c)
15 Auf S. 15 nennt er die „Bestandsaufnahme“ … „ein wahres Schwergewicht an politischer
Aufklärung“, sagt: “Vor uns liegt eine bedeutende materielle und mentale Investition für die
Zukunft“ und spricht jetzt schon vom „Opus Magnum“.
16 Ebenfalls S. 15
verdikt 2.13 , Seite 30
angekündigt werden, ob es sich um Zwischenberichte handelt oder ob
hier schon Ergebnisse präsentiert werden. Die Wahrheit und zugleich
das Problem liegen in der Mitte: Bei den beiden Bänden „Bestandsaufnahme“ und „Verantwortung“ handelt es sich jeweils um ein mixtum
compositum. Ich meine, solche Irrtum erregende Veröffentlichungspraxis sollte vermieden werden.17 in „Bestandsaufnahme“ sind die
meisten Beiträge, nämlich diejenigen von Ulrich Herbert18, Horst
Dreier19, Thomas Vormbaum20, Christoph Safferling21, Jan Thiessen22
und Dieter Schwab23 eher Hintergrundberichte, als dass sie schon
direkt etwas mit dem eigentlichen Thema des Forschungsprojektes
zu tun hätten, bei Dreier mit Ausnahme der Notiz zu dem NS-belasteten zunächst im BMJ tätigen späteren Bundesverfassungsrichter Willi
Geiger.24. Eine Ausnahme ist Bernd Rüthers. Er bringt25 eine Art Thesen
(Er nennt sie Hypothesen) – Das ist mehr als nur eine Wiederholung
des verdienstvollen Teils seines Lebenswerkes, nämlich seiner
kompromisslosen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte des
Rechts und der Justiz und insbesondere mit den opportunistischen
juristischen Mittätern der Barbarei an Hochschulkathedern, an
Schreibtischen der Verwaltung und in den Sitzungssälen der Justiz.
Rüthers skizziert, jedenfalls passagenweise, vorstellbare Bestandteile
eines Forschungsprogramms. Der Text hätte allerdings, insbesondere
hinsichtlich seiner Gliederung, eine redaktionelle Überarbeitung
verdient gehabt. Interessant ist bei Manfred Görtemakers Einleitung26
des Bandes, dass bei der Schilderung früherer Anläufe des BMJ, die
braune Vergangenheit 1933 bis 1945 und dabei auch die Nachkriegsgeschichte einschließlich des Wiederauftauchens der alten Eliten auch
im eigenen Hause aufzuklären, immer wieder, um nicht zu sagen:
nur, Justizminister mit FDP-Parteibuch vorkommen, insbesondere,
außer Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die Herren Engelhard und
Kinkel (die ja, neben den eigentlichen „Machern“, den Referenten im
BMJ, durchaus Verdienste z.B. um die großen Wanderausstellungen
zur NS- und zur SED-Justiz haben). Die Hausleitungen aus der SPD,
hier insbesondere Minister Vogel und Staatssekretär de With (mit
ihrem „Ghostwriter“ Hans Wrobel27) kommen als Aufklärer mit ihren
durchaus auch vorhandenen Meriten nicht oder allenfalls am Rande
vor. Dem Leser erschließt sich nicht, wie bei diesem Befund Michael
17 Im weitesten Sinne, also einschließlich der bereits veröffentlichten Bücher und/oder
Broschüren
18 Bei Erscheinen dieses Heftes (Anfang November), dessen Redaktionsschluss der 1. 10. 2013
war, wird gerade vom 25. bis 27. 10. die diesjährige Wissenschaftliche Tagung des Forums
Justizgeschichte e.V. in Wustrau stattgefunden haben. Dort wird Safferling vor einem fachkundigen und kritischen Publikum über das Vorhaben berichten und womöglich die Struktur
des Vorhabens und die „Veröffentlichungspolitik“ näher erläutern. Deshalb für alle Fälle hier
die Website des Forums, auf der sicher alsbald über die Tagung berichtet werden wird: www.
forum-justizgeschichte.de.
Oder sollte – bei aller Unabhängigkeit der Kommission – hinter dem Veröffentlichungseifer der
Wunsch der – damals gewiss noch auf Wiederwahl hoffenden - Ministerin stecken, mit dem
Vorhaben und damit verbundenen eigenen Auftritten möglichst oft in den Medien präsent zu
sein?
19 Justiz und NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik 1945 – 1970, S. 43 ff
20 Das Bundesministerium der Justiz und die Verfassungsentwicklung in der frühen Bundesrepublik Deutschland, S. 88 ff
21 Die „strafrechtliche“ Aufarbeitung der nationalsozialistischen Justizverbrechen in der
Nachkriegszeit, S. 142 ff
22 „…daß es sich empfiehlt, generell tabula rasa zu machen…“. Die Anfänge der Abteilung II –
Strafrecht im BMJ, S. 169 ff
23 Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsrechtler im Schatten der NS-Vergangenheit, S. 204 ff
24 Entwicklungen im Familienrecht vor und nach 1945, S. 296 ff
25 S. 95 ff
26 Die Gesetzgebung – Vom ‚Dritten Reich‘ zur Bundesrepublik Deutschland. Vierzehn Hypothesen, S. 119 ff
27 In eigener Sache. Das BMJ und seine Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, S. 17 ff
Stolleis28von einem „mit dieser Tagung begonnenen29 Forschungsprojekt“ sprechen kann. Zu loben ist in „Bestandsaufnahme“ grundsätzlich das hilfreiche und weiterführende Literaturverzeichnis. Allerdings
fehlen hier, wie bereits angemerkt30, Namen wie Richard Schmid,
Wolfgang Abendroth und Fritz Bauer. Möglicherweise liegt hier ein
– noch zu korrigierendes! – Manko auch des Forschungsansatzes zu
Tage: die Beschränkung auf die „rein akademische“ Literatur unter
Ausklammerung der aus der Praxis entsprungenen und/oder (auch)
politisch wertenden. Man könnte auch mit Handke sagen: „Die Angst
des Torwarts vor dem Elfmeter“ oder im Klartext gefragt: Scheuen
sich die Herausgeber, bei der Kritik der Renazifizierung (wie es der
Schleswig-Holsteinische Innenminister Pagels (CDU) verzweifelt 1948
nannte31) des Öffentlichen Dienstes der werdenden Bundesrepublik
Deutschland, auch die radikalen Kritiker (und zugleich intimen
Kenner) von Hochschulen, Justiz und „besserer Gesellschaft“ im NS
und in der Nachkriegszeit zu Wort kommen zu lassen? Anzumerken
ist als kleine Kritik auch noch, dass gelegentlich im Text geheimnisvolle „Literaturbelege“ auftauchen, die sich im Literaturverzeichnis
nicht finden, so Fn 65 auf S. 41: ‚Ausarbeitung „Die Rolle des Justizressorts im NS-Regime und personelle Kontinuitäten nach 1945 sowie
deren Aufarbeitung durch das Bundesministerium der Justiz“, S. 3‘32 f.
Während die „Bestandsaufnahme“ groß aufgemacht und in einem
richtigen Verlag erschienen ist, kommt die „Verantwortung“ bescheidener daher: als im Eigendruck erschienene Broschüre. Sie hat aber
nicht minderes Gewicht. Safferlings Beitrag� führt vom Titel her etwas
in die Irre. Es handelt sich um Prolegomena zu einer näheren
„Würdigung“ der Tätigkeit von Eduard Dreher im BMJ. Ein Höhepunkt
des Bandes ist der Abdruck des Vortrages des israelischen Anklägers
im Prozess gegen Adolf Eichmann Gabriel Bach33 kaum minder
derjenige des Untersuchungsrichters im Frankfurter Auschwitz-Prozess Heinz Düx34. Der frühere Präsident des BGH Günter Hirsch, der
am Ende seines richterlichen Berufslebens zu klaren Worten zur
NS-Vergangenheit der deutschen Justiz gefunden hat, schließt sich
an35. Nicht genug kann man – wie er36 auf das (sinnigerweise in einem
Prozess gegen einen DDR-Richter wegen Rechtsbeugung ergangene)
Urteil des BGH v. 19. 11. 199537 hinweisen, in dem eine neue Generation
von RichterInnen den (auch von Hirsch beschriebenen) Skandal des
„freisprechenden“ Umgangs der deutschen Strafjustiz und insbesondere des BGH mit den NS-Richtern beim Namen nennt. Einen
würdigen Abschluss des Bandes bildet der Beitrag der Göttinger
Rechtshistorikerin Eva Schumann38. Insgesamt ist aber von allen
28 Regierungsdirektor im BMJ, später Senatsrat in Bremen. Er kommt nur am Rande und mehr
wegen Bremen-bezogener Veröffentlichungen vor, sieht man von der „rührenden“ Geschichte
ab, dass sein wichtiges Buch „Verurteilt zur Demokratie“ in hoher Zahl vom BMJ angekauft
und an Gäste verschenkt wurde – auch dies sei eine Form der Förderung wissenschaftlicher
Arbeiten und Veröffentlichungen gewesen, heißt es bei Görtemaker. So kann man es auch
nennen…: Hans Wrobel hat das Buch als Privatgelehrter geschrieben – ein bitteres Los, wie
außer ihm auch Theo Rasehorn, Helmut Kramer, der leider viel zu früh gestorbene Diether
Huhn und viele andere( auch der frühe Ingo Müller!) wissen.
29 Schlussbemerkungen, S. 327 ff, 331
30 Hervorhebung der Verfasserin
31 In Fn 9
32 Nachzulesen bei Godau-Schüttke „Renazifizierung“, s. Fn 7
33 Möglicherweise soll sich die Fn auf einen Vortrag von Ingo Müller bei der DRiAk beziehen,
dies bleibt aber für den Leser unklar.
34 Die Arbeit der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission, S. 15 ff
35 Der Prozess gegen Adolf Eichmann, S. 24 ff
36 Der Frankfurter Auschwitzprozess, S. 42 ff
37 Die bundesdeutsche Justiz und die Aufarbeitung des NS-Unrechts, S. 57 ff
38 S. 67 f
verdikt 2.13 , Seite 31
Beiträgen (auch) dieses Bandes zu sagen, dass
sie eher Bekanntes berichten und zusammenfassen (also ebenfalls mehr einen Hintergrundbericht geben), als dass sie einen
Forschungsansatz beschreiben oder präzisieren.
. Zum Schluss: Jetzt müssen wir dem
Projekt erst einmal wünschen, dass wer
auch immer als BundesjustizministerIn und
natürlich ebenso der oder die, neue oder alte
FinanzministerIn das Projekt mit der gleichen
Verve unterstützt wie Frau LeutheusserSchnarrenberger und offenbar Herr Schäuble;
und vor allem natürlich: der Haushaltsgesetzgeber. Aber wer wird sich da verweigern wollen? „Man trägt das heute!“ – 50 bis 60 Jahre
danach … Benennen wir es positiv: Niemand
kann und wird sich heute mehr der Aufgabe
entziehen, die systematische und vertiefte
Erforschung der Verstrickung der deutschen
Juristen in der Zeit des Nationalsozialismus
zu fördern, ganz besonders natürlich zu den
Akteuren und ihren Taten im BMJ der frühen
Bundesrepublik als der Schaltstelle für den
juristischen Blick zurück ebenso wie nach
vorn.
. Nötig ist es allemal. Also: freuen wir
uns darüber und seien wir gespannt
auf die weitere transparente Planung
und Durchführung und vor allem die
Ergebnisse … und dass sie in Rechts- und
Personalpolitik, in Juristenaus- und –
Fortbildung bedacht, umgesetzt und gelebt
werden. 
Impressum
Herausgeber
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Frank Bsirske, Vorsitzender
Achim Meerkamp, Mitglied des
Bundesvorstandes
Fachbereich Bund + Länder
Paula-Thiede-Ufer 10
10179 Berlin
Fachgruppen
Niedersachsen/Bremen
Hamburg
Schleswig-Holstein/
Mecklenburg-Vorpommern
Berlin/Brandenburg
Bayern/Sachsen-Anhalt
Nordrhein-Westfalen
Hessen
Presserechtlich verantwortlich
Barbara Wederhake
ver.di-Bundesfachgruppenleiterin Justiz
barbara.wederhake@verdi.de
[RECHTS-LINKS]
. Unsere heutigen RECHTS LINKS befassen sich noch einmal mit geschichtlichen
Aspekten des Rechts. denn ohne historisches
Verständnis geht es nun einmal auch im
juristischen Alltag nach wie vor nicht.
www.justizgeschichte-aktuell.de
. Dies ist die Webseite von Helmut Kramer,
Jurist und Historiker sowie Mitglied der
verdikt-Redaktion.
. Einer der Schwerpunkte der Webseite
befasst sich mit der juristischen Zeitgeschichte, vor allem mit der NS-Justiz und
einigen bis heute andauernden Defiziten bei
der Aufarbeitung. Die Rubrik „Gedenkstätte
Wolfenbüttel“ berichtet kritisch über diese
bundesweit einzige Gedenkstätte zur NSJustiz und zu den besonders interessanten
juristischen Schreibtischtätern. Dabei ersetzt
Helmut Kramer deren von ihm als mangelhaft
geschilderte Arbeit durch eigene Forschungsergebnisse mit teils ausführlichen Biographien, die an die Schicksale von Justizopfern
und die Karriere der in der Bundesrepublik vor
Strafe verschonten juristischen Schreibtischtäter erinnern.
. Mit den Nachwirkungen der NS-Justiz
und der Notwendigkeit einer auf die Gegenwart bezogenen Vergangenheitsbetrachtung
beschäftigen sich Texte, wie sie u. a. in den
Rubriken bzw. Unterrubriken „Juristen und
Krieg“, „Kriegsverrat“ und „Bundeswehrjustiz
durch die Hintertür“ nachzulesen sind. Unter
dem Stichwort „Lernen aus der Geschichte?“
widmet sich ein Text dem Thema „Legalisierung und Verrechtlichung von Unrechtshandeln im Nationalsozialismus und von
Menschenrechtsverletzungen heute“.
. Eine Plattform für Rezensionen geschichtlicher Werke ist das Internetjournal sehepunkte
www.sehepunkte.de.
. In der Ausgabe 2/2013 finden sich u.a.
Besprechungen zu Büchern über die Vernichtung der indigenen Völker Kaliforniens in den
1850er und 1860er Jahren, über den Aufbau
freier Gewerkschaften in der DDR nach der
Wende oder über Griechenland zwischen 1940
und 1950 – eine traumatische Epoche, die für
das Verständnis der heutigen griechischen
Probleme sicherlich von großem Wert ist. 
UB
Redaktion
Dr. Bernd Asbrock
Martin Bender
Hans-Ernst Böttcher
Uwe Boysen
Dr. Helmut Kramer
Christian Oestmann
Klaus Thommes
Kontakt
redaktion.verdikt@verdi.de http://
verdikt.verdi.de
Art Direction/Layout
block\m Büro für Gestaltung.
Hannover
Gestaltung/Druck
Interdruck Berger + Herrmann GmbH,
berger@interdruck.net
Auflage
3.300 Stück
Papier
Recyclingpapier aus 100 Prozent
wiederaufbereiteten und de-inkten
Fasern
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