Gibt es typische kriminelle Karrieren? Do typical criminal careers

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Gibt es typische kriminelle Karrieren? Do typical criminal careers
Jahrbuch 2010/2011 | Grundies, Volker | Gibt es typische kriminelle Karrieren?
Gibt es typische kriminelle Karrieren?
Do typical criminal careers exist?
Grundies, Volker
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg
Korrespondierender Autor
E-Mail: v.grundies@mpicc.de
Zusammenfassung
In der Kriminologie versteht man unter age crime curve den Anstieg delinquenten Verhaltens in der Jugend und
den anschließenden Rückgang mit dem Alter. Dieser Zusammenhang gilt als unveränderlich, w eil er kaum
soziokulturell bedingt ist und bei verschiedenen Deliktsformen w enig variiert. W ie sich aber diese Kurve aus
individuellen Verläufen zusammensetzt, ist sehr umstritten. Um diese Frage zu beantw orten, w urden in einem
Projekt
am
Max-Planck-Institut
für
ausländisches
und
internationales
Strafrecht
Daten
aus
einer
Kohortenstudie mit der Group-based-Trajectory-Methode analysiert.
Summary
In criminological research the strong dependency of criminal behaviour on the age of the offender is generally
described as the “age crime curve”. This correlation is considered to be invariant, as it is hardly determined by
socio-cultural factors and varies only slightly amongst different offences. How ever, it is a controversial issue
how this curve is composed w ith regard to the trajectories of individual offenders. Researchers at the Max
Planck Institute for Foreign and International Criminal Law analysed data of the Freiburg Cohort Study by
applying the group based trajectory model.
Theorien zur Entwicklung krimineller Karrieren
© 2011 Max-Planck-Gesellschaft
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A bb. 1: Fre iburge r Kohorte nstudie [1].
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Kriminologische Theorien sagen den Verlauf individueller Karrieren gemäß ihren Grundannahmen ganz
unterschiedlich voraus. Persönlichkeitszentrierte Theorien [2] erklären den Verlauf individueller Karrieren als
genauso invariant w ie die Age-Crime-Kurve (ein bestimmter, allgemeingültiger Zusammenhang von Alter und
Kriminalität) selbst und lassen nur eine Änderung der individuellen Intensität der Ausprägung zu, die von der
spätestens im Kindesalter endgültig entw ickelten Selbstkontrolle abhängt. Entw icklungstheorien dagegen [3,
4, 5] gehen davon aus, dass Verhaltensänderungen in jedem Alter aufgrund der Interaktion zw ischen den
Individuen und der Gesellschaft stattfinden, w enngleich diese Verhaltensänderungen sich in bestimmten
Altersstufen häufen und das Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Rolle ein großes
Beharrungsvermögen aufw eist. Gruppen-Taxonomien [6, 7] unterscheiden zw ischen der kleinen Gruppe
chronischer
Straftäter (life-course-persistent
offenders)
und
der
großen
Gruppe
der
episodenhaften
Jugendstraftäter (adolescent-limited offenders) mit entsprechenden Karrieren.
A bb. 2: Typisie rte individue lle Age-Crime-Ve rlä ufe na ch de n
The orie n von Gottfre dson & Hirschi, Moffitt und Sa m pson &
La ub.
© Fre iburge r Kohorte nstudie 2010
In Abbildung 2 ist in der ersten Abbildung zum einen eine
empirische age crime curve (justizielle
Registrierungen deutscher Männer in Baden-W ürttemberg) zu sehen. Zum anderen w urde versucht, die nach
den erw ähnten Theorien erw artbaren individuellen Verläufe delinquenten Handelns typisiert darzustellen.
Abgesehen von den Vereinfachungen, die mit jeder Typisierung verbunden sind, ist dies besonders bei
Theorien schw ierig, die sich gerade dadurch Prognosen entgegenstellen, dass sie die Vielfalt betonen.
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Dennoch zeigt die Abbildung, w elche unterschiedlichen Verläufe auf individuellem Niveau nach den Theorien zu
erw arten sind.
Das Group- based- Trajectory -Modell in der Anwendung
Um nun auf der Basis von Längsschnittdaten mögliche unterschiedliche Verläufe (trajectories) extrahieren zu
können, bietet sich das Group-based-Trajectory-Modell von Nagin und Land an [8, 9]. Diese Methode prüft eine
Struktur, die aus den Gruppengrößen und den zugehörigen Verläufen besteht, auf ihre Gesamtanpassung an
die Daten (das heißt den individuellen Verläufen) hin und variiert sie sukzessive, bis diese Anpassung optimal
w ird. Ergebnis ist ein Gefüge aus Gruppen(-größen) und den zugehörigen Verläufen, die die in den Daten
enthaltenen Strukturen so gut w ie möglich erfassen. Hier ist kritisch zu fragen, ob nicht eine Methode, die a
priori davon ausgeht, dass Gruppen existieren, diese zw angsläufig erzeugt, obw ohl es sie tatsächlich gar nicht
gibt. Diese Kritik trifft dann zu, w enn die untersuchte Verteilung, so komplex sie auch sei, keine Häufungen von
bestimmten Verläufen enthält, sondern ein mehr oder w eniger kontinuierliches Spektrum dieser Verläufe
umfasst. In diesem Fall dienen die dann fiktiven Gruppen dazu, diese – möglicherw eise komplexe –
kontinuierliche Verteilung zu approximieren. Die Differenzen zw ischen den Gruppen sind dann meist nicht mehr
inhaltlich begründbar, sondern w erden „nur“ durch die Bedingungen der Optimierung der Anpassung
bestimmt, die statistischen Gesichtspunkten folgt.
Die Freiburger Forscher haben die justiziellen Registrierungsdaten der Geburtskohorte 1970 über eine
Altersspanne von 14 bis 32 Jahren analysiert. Dabei w urden jew eils die jährliche Anzahl an Registrierungen
bezüglich
Verstößen
gegen
das
Strafgesetzbuch
(StGB)
w ie
auch
schw erer
Verkehrsdelikte
als
gleichgew ichtete Indikatoren delinquenten Verhaltens angesehen, unabhängig davon, w elche Sanktion
ausgesprochen
w urde.
Eine
andere
Analyse
ohne
Verkehrsdelikte
und
Einstellungen
nach
dem
Jugendgerichtsgesetz (JGG) hat im Wesentlichen zu gleichen Ergebnissen geführt. Insofern ist es zumindest in
diesem ersten Schritt der Analyse nicht notw endig, nach Art der Delikte zu differenzieren. Insgesamt beruht
die Analyse auf Verläufen (Registrierungskarrieren) von circa 21.000 Personen, die jew eils mindestens einmal
registriert w urden.
Am besten beschreibt ein Modell mit sieben Gruppen die Daten, w obei die Anzahl der Gruppen selbst anhand
eines statistischen Kriteriums (Bayesian Information Criterion, BIC) bestimmt w urde. Das BIC w ägt die Güte der
Übereinstimmung zw ischen Modell und Daten und die sparsame Formulierung des Modells, das heißt hier: die
Anzahl der Gruppen, gegeneinander ab. Die Age-Crime-Kurve der untersuchten Population w ird mit diesem
Modell exakt beschrieben. Allerdings zeigen die Gütew erte des Modells, dass die in den Daten enthaltenen
Strukturen nur bedingt erfasst w erden und die Varianz der Daten nur zu einem Teil aufgeklärt w ird. Darüber
hinaus ist die Zuordnung der Einzelnen zu den Gruppen, die bei dieser Methode a posteriori berechnet w ird,
keinesfalls so trennscharf, w ie man das w ünschen könnte. Im Mittel beträgt die Zuordnungsw ahrscheinlichkeit
der Einzelnen zu einer bestimmten Gruppe 68 Prozent. Dies bedeutet, dass die Einzelnen häufig mehr als
einer Gruppe zugehören. Die Charakteristika der einzelnen Gruppen schließen sich also teilw eise nicht aus und
die Gruppen „überlappen“ sich. Möglicherw eise handelt es sich aber auch hier nur um fiktive Gruppen.
Erkenntnisse aus der statistischen Analyse
Die Gruppen unterscheiden sich im Wesentlichen in zw ei Punkten: der Häufigkeit, mit der die Registrierten
erfasst w urden, und den Altersbereichen, in denen diese hauptsächlich auftreten. Es gibt drei große Gruppen,
deren Mitglieder nur w enige Registrierungen aufw eisen und die zusammen insgesamt 87 Prozent der
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Registrierten umfassen. Die restlichen 13 Prozent der Registrierten verteilen sich auf vier Gruppen, die hohe
Registrierungsraten aufw eisen. In den Abbildungen 3 und 4 sind die mittleren Anzahlen an Registrierungen,
die für typische Gruppenmitglieder erw artet w erden, nach Alter dargestellt.
A bb. 3: R e gistrie rungswa hrsche inlichk e ite n de r e inm a l ode r
se lte n R e gistrie rte n (Gruppe n 1–3).
© Fre iburge r Kohorte nstudie 2010
Die Mitglieder der Gruppe 1 haben beispielsw eise mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent eine
Registrierung im Alter von 16 Jahren. Summiert man über die Jahre 15 bis 19 auf, so ist die mittlere Anzahl der
Registrierung minimal größer als 1, das heißt, fast alle Mitglieder der Gruppe 1 haben in dieser Alterspanne
eine Registrierung. Einige Mitglieder der Gruppe 1 (circa 40 Prozent) haben zusätzlich eine oder in seltenen
Fällen auch mehrere (< 5) w eitere Registrierungen, die dann auch in eine andere Alterspanne fallen können.
Der aufgezeigte Gruppenverlauf gibt folglich nur die Wahrscheinlichkeit w ieder, mit der es im Allgemeinen an
einem bestimmten Zeitpunkt im Lebenslauf zu einer, meist einmaligen, justiziellen Reaktion kommt. Er kann
nicht als individueller Verlauf gesehen w erden, da sich ein solcher (bei einer Registrierung) nur als flache
Nulllinie darstellen ließe, die im Registrierungsjahr durch eine kurze Zacke unterbrochen w ürde. Dies gilt
entsprechend auch für die Gruppen 2 und 3, deren Mitglieder, w ie die der Gruppe 1, im Mittel 1,8
Registrierungen in der betrachteten Alterspanne haben, w obei etw a 60 Prozent nur eine Registrierung
aufw eisen. Vereinfacht betrachtet handelt es sich damit bei allen drei Gruppen um Einmal-Registrierte.
Die Gruppe der einmal oder nur selten Registrierten w ird durch die Group-based-Trajectory-Analyse je nach
Alter bei der Registrierung Gruppen zerlegt. Allerdings erscheint dies aus kriminologischer Perspektive
angesichts der kontinuierlichen Übergänge (Überlappungen) zw ischen diesen drei Altersgruppen (Abb. 3) als
sinnlos und w illkürlich. Hier bestätigt sich die von Kritikern geäußerte Vermutung, dass durch die Methode eine
an sich kontinuierliche Verteilung durch eine Anzahl von Gruppen approximiert w ird, die in w ichtigen Aspekten
als beliebig zu bezeichnen ist.
Eine ähnliche Aufteilung des Altersbereichs w ie bei den einmal oder selten Registrierten ist auch bei den
Gruppen 4, 5 und 7 der häufiger Registrierten zu beobachten. Die Mitglieder dieser Gruppen w eisen im
Durchschnitt circa 7 bis 8 Registrierungen auf, die sich auf einen bestimmten Altersabschnitt konzentrieren.
Daraus lässt sich schließen, dass auch bei einer Mehrheit der häufiger Registrierten die Karrieren nur
mittelfristig andauern, sonst könnte es nicht zu solchen auf bestimmte Altersbereiche beschränkten Verläufen
kommen. Andererseits macht gerade die relativ gleichmäßige Aufteilung des gesamten Bereichs, w ie schon bei
den „Einmal-Registrierten“, stutzig. Vermutlich sind auch hier eher fiktive Gruppen, die eine kontinuierliche
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Verteilung w iedergeben, als kriminologisch unterscheidbare Gruppen zu sehen.
A bb. 4: Gruppe n m it e rhöhte n R e gistrie rungsra te n (4–7)
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Die Gruppe 6 ist die einzige, deren Verlauf mit fast gleichbleibender Registrierungshäufigkeit den gesamten
beobachteten Altersbereich überspannt. Sie erfasst mit durchschnittlich 14 Registrierungen pro Person die
kleine Gruppe der chronisch Delinquenten (circa 2 Prozent), w obei es aber fließende Übergänge zu den
Gruppen 4, 5 und 7 gibt. Möglicherw eise entspricht diese Gruppe den von Moffitt postulierten life course
persistent offenders [6, 7], die aber hier nur als extreme Fälle aller möglichen kriminellen Karrieren auftauchen.
Fazit
Die erfassten kriminellen Karrieren zeichnen sich durch große, aber gleichmäßig verteilte Vielfalt an einzelnen
Verläufen aus. Sie unterscheiden sich in ihren drei Kenngrößen Einstiegsalter, Häufigkeit der Registrierungen
und Dauer der Karriere. Aus diesem breiten Spektrum an möglichen Ausprägungen lassen sich keine typischen
Verläufe extrahieren. Die mit der Group-based-Trajectory-Methode gefundenen Gruppen erw eisen sich als
fiktive Approximationspunkte einer kontinuierlichen Verteilung.
Damit w erden die Taxonomien von Moffitt und anderen infrage gestellt, müssten doch gerade die beiden von
der Taxonomie postulierten Gruppen in einer solchen Analyse als reale, unterscheidbare Gruppen erkennbar
sein.
Auch an der Persönlichkeitstheorie w erden Zw eifel laut. Zw ar sind nach dieser Theorie auch nur fiktive
Gruppen zu erw arten, doch müssten sich die einzelnen Verläufe der Gruppen (Abb. 2) jew eils über den
gesamten Altersbereich erstrecken. Damit zeigt sich einmal mehr die Vielfältigkeit individuellen delinquenten
Verhaltens, das sich auch komplexen theoretischen Einordnungen w eitgehend entzieht.
[1] V. Grundies (Leitung)
Kohortenstudie zur Entwicklung polizeilich registrierter Kriminalität und strafrechtlicher Sanktionierung.
Freiburg, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.
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[2] M. Gottfredson, T. Hirschi
A General Theory of Crime.
Stanford University Press, Stanford 1990.
[3] J. H. Laub, R. J. Sampson
Shared Beginnings, Divergent Lives: Delinquent Boys to Age 70.
Harvard University Press, Cambridge 2003.
[4] R. J. Sampson, J. H. Laub
Crime in the Making: Pathways and Turning Points through Life.
Harvard University Press, Cambridge 1993.
[5] R. L. Akers
Social Learning and Social Structure: A General Theory of Crime and Deviance.
Northeastern, Boston 1998.
[6] T. E. Moffitt
Adolescence-limited and Life-course-persistent Antisocial Behavior: A Developmental Taxonomy.
Psychological Review 100, 4, 674–701 (1993).
[7] G. Patterson, K. Y oerger
Developmental Models for Delinquent Behavior.
In: Mental Disorder and Crime. (Ed.) S. Hodgins. Sage, New bury Park 1993, 140–172.
[8] D. S. Nagin, K. C. Land
Age, Criminal Careers, and Population Heterogenity: Specification and Estimation of a Nonparametric,
Mixed Poisson Model.
Criminology 31, 3, 327–362 (1993).
[9] D. S. Nagin
Group-Based Modeling of Development.
Harvard University Press, Cambridge 2005.
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