Landlust - Schön und Gut

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Landlust - Schön und Gut
„Blau ist eine typisch himmlische Farbe, die den
Menschen in das Unendliche ruft.“ Wassily Kandinsky
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Im Blauen Land
Als sich Anfang des 20. Jahrhunderts einige Maler zwischen Kochel- und Staffelsee niederließen,
ahnte noch niemand, dass sie einmal zu den bedeutendsten Expressionisten zählen würden.
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Der Aidlinger Höhenweg geht auf einen bronzezeitlichen Handelspfad zurück.
Franz Marc: Blaues Pferd I, 1911, akg-images
M
Franz Marcs Pferdedarstellungen zählen zu den eindringlichsten Tierporträts der modernen Malerei. Das
berühmte Gemälde „Blaues Pferd I“ entstand 1911.
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it Landschaften verhält es sich
zuweilen wie mit Gemälden. Sie
erschließen sich in ihrer Gesamtheit erst
aus gewissem Abstand. Der Aidlinger
Höhenrücken verschafft uns den gewünschten Überblick: Hier, 65 Kilometer
südlich von München, zeigt sich das
oberbayerische Alpenvorland in seiner
Vielfalt. Von Osten und Westen schieben
sich die Bergmassive des Estergebirges
und der Ammergauer Alpen wie riesige
Kulissen ins Bild (siehe erste Doppelseite).
Die blaue Wand des Wettersteinmassivs
begrenzt den Horizont. Ihre zerklüfteten
Gipfel werden bis in den Frühsommer
von Schneefeldern bedeckt. Sanft heben
und senken sich die Weiden am Riegsee,
dem kleinen Bruder des nahen
Staffelsees. An klaren Tagen, wenn der
trockene Südwind von den Berghängen
fegt, umreißen Licht und Schatten die
Formen der Landschaft mit scharfen
Konturen. Gerade hat ein Gewitterschauer den Staub des warmen Frühsommertages aus der Luft gewaschen
und kühlend jene Farbe über das Land
gelegt, die ihm seinen Namen gab.
Gefühlte Bilder
Seit dem 18. Jahrhundert zog es immer
wieder Maler aus ihren städtischen
Ateliers hinaus in die Landschaft
zwischen Staffel- und Kochelsee. So war
es wohl auch Liebe auf den ersten Blick,
die zwei Sommerfrischler mit diesem
Landstrich verband: Gabriele Münter
(1877–1962) und Wassily Kandinsky
(1866–1944). Abseits des Münchner
Kunstbetriebes suchten sie eine Bleibe
auf dem Land. Hier wollten sie in den
Sommermonaten einfach und naturnah
leben – vor allem aber arbeiten. Das neu
errichtete Ferienhaus des Murnauer
Maurermeisters Streidl, in das sich die
beiden als Gäste im Juli 1909 eingemietet
hatten, erschien ideal für diesen Plan.
So war der Kauf des Häuschens, das die
Einheimischen wegen der Herkunft
Kandinskys bald „Russenhaus“ nennen
sollten, schnell beschlossen.
Heute sind die Namen dieser Künstler
und ihrer Freunde, zu denen auch Franz
Marc zählte, mit dem Aufbruch in die
moderne Kunst verknüpft. Im beschaulichen Voralpenland trugen sich jene
Wassily Kandinsky: Kirche in Froschausen, 1908, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
persönlichen Entwicklungen zu, die weit in die
Kunstwelt ausstrahlten und den Expressionismus
mitbegründeten. Die möglichst naturgetreue
Wiedergabe des Motivs wich der Darstellung des
inneren Erlebens. Die Expressionisten wollten
nicht länger nur abbilden, was sichtbar ist,
sondern auch das, was fühlbar und denkbar
wird. Im Jahre 1911 riefen Kandinsky und Marc
die Redaktion des „Blauen Reiters“ ins Leben
und veröffentlichten wenig später den gleichnamigen Almanach (lesen Sie dazu auch den
Infotext auf Seite 121). Franz Marc war es auch,
der den Begriff des Blauen Landes für seine
geliebte Wahlheimat prägte. Der Name verweist
also nicht nur auf eine Farbstimmung, sondern
vor allem auf die bedeutsamen Ereignisse, die
sich vor einhundert Jahren hier zutrugen.
Entlang des Höhenweges
Die Kirche von Froschhausen wurde von
Kandinsky im Jahre 1908 in einem Gemälde
festgehalten.
Vom Aidlinger Höhenweg aus beginnen wir
unsere Landpartie auf den Spuren des Blauen
Reiters. Dieser Höhenweg bestand bereits in der
Bronzezeit als Fernhandelsverbindung. Nach
einigen hundert Metern senkt er sich in schattige Wälder und führt nach einer halben Stunde
gemächlichen Fußmarsches zum Forsthaus
Höhlmühle. Für Wanderer, die den knapp sechs
Kilometer langen Rundweg absolvieren, bietet
sich hier eine Möglichkeit einzukehren.
Wir machen uns, nun „motorisiert“, auf den
Weg nach Murnau. Auf den Weiden am nördlichen Ufer des Riegsees dösen die seltenen
Murnau-Werdenfelser Rinder (lesen Sie auch den
nebenstehenden Infotext).
Am Riegsee
Wir fahren weiter auf der kleinen Landstraße in
wechselndem Abstand zu den Ufern des Riegsees
und nehmen Kurs auf die gleichnamige Gemeinde. Der See ist kaum tiefer als 16 Meter und
erwärmt sich deshalb schnell. Da er ohne
Bunte Blumenpracht an Fenstern
in Froschhausen
Auf den Weiden am Riegsee: das selten
gewordene Murnau-Werdenfelser Rind.
Das MurnauWerdenfelser Rind
Das Murnau-Werdenfelser Rind ist die
einzige ursprünglich in Bayern
gezüchtete Rinderrasse und wird auch
„Oberländer“, „Murnauer“ oder „Rote“
genannt. Sie entstand aus der Einkreuzung verschiedener Rassen und weist
daher sehr unterschiedliche Farb- und
Formmerkmale auf. Häufig sind der
helle Aalstrich und das dunkle, hell
umrandete Flotzmaul. Die Tönungen
des Fells reichen von schwarzbraun bis
sandfarbig. Schwanzquaste und Klauen
sind schwarz.
Das Murnau-Werdenfelser zeichnet sich
durch eine hohe Vitalität aus. Wegen
seiner Herkunft von den steilen Almen
des Werdenfelser Landes und feuchten
Wiesen des Murnauer Mooses ist es
ungünstigen Standortbedingungen sehr
gut angepasst.
Früher zählte die Rasse zu den
Dreinutzungsrindern. Außer Milch und
Fleisch, die die Tiere lieferten, wurden
die Ochsen als Zugtiere eingesetzt.
Bereits vor Ende des Ersten Weltkrieges
gingen die Bestandszahlen stark zurück.
Dieser Trend setzte sich bis in die 60er
Jahre des vergangenen Jahrhunderts
fort. Seit 1976 wird auf dem Gelände
des Gestüts Schwaiganger eine
Mutterkuhherde gehalten. Schätzungen
gehen davon aus, dass es derzeit noch
etwa 550 Murnau-Werdenfelser gibt.
Damit gilt die Rasse als extrem
gefährdet.
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Im Gasthof Griesbräu wohnten Münter und
Kandinsky bei ihrem ersten Besuch in Murnau.
Die bunten Fassaden der Häuser am Murnauer Untermarkt
sichtbaren Zu- und Abfluss ist, sein
Wasserstand dennoch starken Schwankungen unterliegt, schrieb man ihm
früher weissagende Kräfte zu. Von weit
her kamen die Bauern, um mithilfe
seiner schwankenden Oberfläche
Wetterkapriolen und Erntesegen zu
orakeln.
Heute ist der See in ein Landschaftsschutzgebiet eingebettet. Das Vogelschutzgebiet im Norden bietet selten
gewordenen Vögeln wie der Rohrdommel sicheren Lebensraum. Die schilfumstandenen Badestellen am See sind
auch an heißen Sommertagen nur
spärlich mit bunten Badetüchern
ausgelegt. Noch wärmer ist der kleine
Froschhauser See. Nur wenige Meter
Land trennen ihn vom größeren
Riegsee.
Mal hinter einem Traktor schleichend,
dann wieder mit frischem Fahrtwind
um die Nase, bestaunen wir die bunte
Pracht der Blumenkästen an Fenstern
und Balkonen. Die Dorfkirche in Riegsee
und das Froschhauser Gotteshaus hielt
Kandinsky 1908 in Gemälden fest.
Stadt der Farben
Nach wenigen Kilometern erreichen
wir Murnau, das quirlige Herz des
Landstriches. Der Ort wird vom
Moorgebiet des Murnauer Mooses im
Süden und dem Staffelsee im Norden
begrenzt. Seinen frühen wirtschaftlichen Aufschwung verdankte Murnau
seiner Lage an einer wichtigen
Handelsroute in Richtung Tirol und
der Salzstraße, die zum Bodensee
führte. Zudem wurden der Stadt Marktprivilegien verliehen, sodass Märkte
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Renate Sauer verkauft am Murnauer Untermarkt
„Handgemachtes und Handverlesenes“.
Murnau – das quirlige Herz des Blauen Landes
abgehalten und Zölle erhoben werden
konnten. Noch heute nennt sich die
Stadt stolz „Markt“ Murnau. Als im
16. Jahrhundert der Handelsverkehr
nachließ, entwickelten sich verschiedene
Formen der gewerblichen Hausarbeit:
Die Murnauer spezialisierten sich auf die
Hinterglasmalerei. Neue Einkommensquellen waren auch die Herstellung von
Federblumen, bei der aus Gänsefedern
Altarschmuck und jahreszeitliche
Dekorationen gefertigt wurden, sowie die
sogenannte Lebzelterei, die Weiterverarbeitung von Bienenwachs und Honig.
Wir tauchen am nördlichen Obermarkt
in das geschäftige Treiben ein. Hier
befindet sich der über 300 Jahre alte
Gasthof Griesbräu. Während ihres ersten
Sommeraufenthaltes im Jahre 1908
quartierten sich Münter und Kandinsky
in diesem Brauereigasthof ein. Aus den
Fenstern ihrer Zimmer malten sie den
Blick über die Dächer der Stadt. Wie
damals erstrahlen die Häuserfronten am
Ober- und Untermarkt auch heute in
prächtigen Farben. Auf einer Anhöhe
über dem Markt thront das Schloss, das
aus dem 13. Jahrhundert stammt. Es
beherbergt heute ein sehenswertes
Museum, in dem unter anderem eine
Sammlung von Werken Gabriele Münters
und anderer Künstler des Blauen Reiters
zu sehen ist.
Am Ende des Untermarkts liegt der kleine
Laden von Renate Sauer. Sein Name
„Schön und Gut“ ist Programm: In den
Regalen findet sich „Handgemachtes und
Handverlesenes“: Hölzerne Handschmeichler, Schmuckstücke, Seifen und
Lederwaren aus der Ledermanufaktur
Murnau gehören zum Sortiment.
Landsitz und Künstlertreff
Durch das alte Burggrabenviertel, das aus
verschiedenen Perspektiven von Münter
und Kandinsky festgehalten wurde,
erreichen wir das Münter-Haus, in dem
sich heute ein kleines Museum befindet.
Das Münter-Haus: Hier lebten und
arbeiteten Münter und Kandinsky
in den Jahren zwischen
1909 und 1914.
Gabriele Münter: Jawlensky und Werefkin, 1908/09, VG Bild-Kunst/akg-images
Noch immer hat das im Volksmund Russenhaus
genannte Anwesen, in dem Münter und Kandinsky zwischen 1909 und 1914 ihre produktivsten
Jahre verlebten, einen besonderen Charme: Zwei
große Eichen beschirmen das Haus mit hellblauen Fensterläden und sonnengelbem Kellergeschoss. Neugierig, aber wohl auch mit einigem
Befremden, beobachteten die Murnauer das
Stelldichein der illustren Künstlerfreunde.
Münter und Kandinsky lebten unverheiratet
zusammen – ein Sachverhalt, an dem damals
einige Zeitgenossen sicher Anstoß nahmen.
Die Maler genossen die ländliche Zurückgezogenheit. Auf Fotos dieser Zeit posieren Münter
im Dirndl und Kandinsky in Lederhosen. Im
Gartenrondell vor dem Haus blüht blauer
Rittersporn, die ersten Rosen öffnen ihre
Knospen. Beide Künstler hatten große Freude an
ihrem Bauerngarten, in dem sie Obst und
Gemüse anbauten. Im Haus, vor einigen Jahren
nach alten Fotos und Plänen rekonstruiert, wird
der Lebens- und Arbeitsstil der Künstler dokumentiert.
Gleich im Erdgeschoss fällt eine verzierte
Treppenwange auf. Kandinsky bemalte sie in
Schablonentechnik mit aufwärtsstürmenden
Reitern. Auch viele Möbel hat das Künstlerpaar
mit der Volkskunst nachempfundenen Dekoren
versehen. Münter und Kandinsky zeigten reges
Interesse an regionaler Handwerkskunst,
besonders an der Hinterglasmalerei.
Der Blaue Reiter und der Expressionismus
„Den Namen ‚Der Blaue Reiter‘ erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in
Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter.“ Mit diesen Worten
erinnert sich der 64-jährige Kandinsky an die Namensfindung für den von ihm und
Franz Marc herausgegebenen Almanach. Dieses Jahrbuch sollte die vielfältigen
Ausdrucksformen der neuen Kunst aufzeigen. Es wurde zu einer der wichtigsten
kunstprogrammatischen Schriften des 20. Jahrhunderts.
Der Titel entstand weniger zufällig, als es das Eingangszitat nahelegt. Für Marc und
Kandinsky steht die Farbe Blau im Sinne der Romantik für Sehnsucht, aber auch für
geistige Kraft. Der Reiter kann als befreiender Retter gedeutet werden. Die erste
Ausgabe des Almanachs „Der Blaue Reiter“ erschien im Mai 1912. Bereits im
Dezember 1911 war die erste Ausstellung unter der Federführung der Redaktion des
Blauen Reiters eröffnet worden. Zuvor hatte ein Streit innerhalb der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) zum Austritt von Kandinsky, Marc und Münter geführt.
Konservative Mitglieder der Künstlervereinigung nahmen Anstoß am abstrakter
werdenden Darstellungsstil Kandinskys. Als eines seiner Gemälde nicht zur geplanten
Ausstellung der NKVM zugelassen wurde, kam es zum endgültigen Bruch. So wurde
die erste Ausstellung des Blauen Reiters in Konkurrenz zur zeitgleich stattfindenden
Ausstellung der NKVM organisiert.
Der Blaue Reiter war kein Bund mit festen Statuten. Es handelte sich um eine
Interessengemeinschaft der Künstler, die sich den Ideen Kandinskys und Marcs
verbunden fühlten. Zu ihnen gehörten Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlenksy,
August Macke, Heinrich Campendonk und Paul Klee. Klee formulierte den neuen
künstlerischen Ansatz: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht
sichtbar.“ Diese Aussage fasst die Prämissen der Künstler zusammen, die heute als
Expressionisten bezeichnet werden. Sie lehnten die naturalistische Wirklichkeitswiedergabe ab und verzichteten auf perspektivische Darstellung. Kennzeichnend für
expressionistische Gemälde war eine symbolhafte Farbgebung und eine verfremdete
Formensprache. Farben und Formen wurden so zum Ausdruck seelischer Zustände.
Auch in Dresden schlossen sich 1905 expressionistische Künstler wie Ernst Ludwig
Kirchner, Max Pechstein und Emil Nolde in der Vereinigung „Die Brücke“ zusammen.
1910 kam es in Berlin zur Gründung der „Neuen Sezession“, der sich 27 expressionistische Maler anschlossen.
Persönliche Differenzen und der Beginn des Ersten Weltkrieges besiegelten das Ende
des Blauen Reiters. Kandinsky, Werefkin und Jawlensky verließen Deutschland. Marc
und Macke fielen auf den Schlachtfeldern in Frankreich. 1916 trennte sich Kandinsky
endgültig von Gabriele Münter. Erst 1931 kehrte die Malerin, die lange unter dieser
Trennung gelitten hatte, nach Murnau zurück. Zu ihrem 80. Geburtstag im Jahre
1957 schenkte sie zahlreiche Bilder des Blauen Reiters, die versteckt im MünterHaus zwei Kriege überdauert hatten, der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in
München.
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Kandinsky posiert in
Lederhosen und Münter
im Dirndl. Beide liebten
die Gartenarbeit.
Die Volkskunst inspirierte die Maler.
Auf Spurensuche
Die Treppe gestaltete
Kandinsky mit aufwärts
strebenden Reitern.
Hinter Glas gemalt
Begünstigt durch die damals im nahen
Aschau (heute Grafenaschau) betriebene
Glashütte entwickelten sich Murnau und
Seehausen zu bedeutenden Zentren der
Hinterglasmalerei. Hinterglasbilder
wurden mit religiösen, aber auch mit
weltlichen Motiven angefertigt. Sie
hingen in Herrgottswinkeln, schmückten
Bauernstuben oder illustrierten den
Kreuzweg in Kirchen.
Besonders Gabriele Münter faszinierte die
Reduzierung der Formen auf das Wesentliche. Sie ließ sich in der Technik der
Hinterglasmalerei unterweisen: In
schwarzen Konturen wird hierbei das
Motiv spiegelverkehrt auf die Glasrückseite aufgebracht und anschließend
flächig mit Farbe ausgefüllt. Im Gegensatz zur Malerei auf Leinwand müssen
die Details des Vordergrundes als Erstes
aufgebracht werden. Anschließend
erfolgt die Gestaltung des Hintergrundes.
Durch die optische Wirkung des Glases
leuchten die Farben kraftvoll, eine
Eigenschaft, die dem expressionistischen
Farbgebungswillen entsprach. Auch
heute gibt es noch Hinterglasmaler in
Murnau und Umgebung wie die ausgebildete Künstlerin Christina Dichtl. Sie
gibt die handwerklichen Finessen der
Hinterglasmalerei in Kursen an interessierte Laien weiter.
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Aus dem Fenster des Wohnzimmers im
Münter-Haus fällt der Blick auf die
gegenüberliegende Anhöhe mit Schloss,
St. Nikolaus-Kirche und angrenzendem
Friedhof. Dieses Motiv hat Kandinsky
mehrfach interpretiert. Es ist auch das
Lieblingsmotiv von Fritz Walter Schmidt.
Seit 28 Jahren führt er Besucher zu
Originalmotiven zwischen Murnau und
Kochel, die von den Künstlern des Blauen
Reiters gemalt wurden. Dabei verknüpft
er historische Hintergründe mit Begebenheiten aus dem Leben der Künstler.
Immer wieder streut er Anekdoten ein,
die ihm zum Teil von einheimischen
Zeitzeugen überliefert wurden. „Mich
faszinieren die Gemälde des ‚Blauen
Reiters‘ wegen des nachvollziehbaren
Zusammenhanges mit den vielen noch
existierenden Motiven. So lässt sich eine
Art geistige Präsenz dieser Menschen
erahnen“, sagt Fritz Walter Schmidt.
Sein wichtigstes Utensil ist ein Ordner
mit den Reproduktionen der Gemälde,
deren reale Entstehungsorte während der
Führungen besichtigt werden. Fritz Walter
Schmidt zeigt auf zwei Bilder von Wassily
Kandinsky (siehe Abbildung rechts): Die
Studie zu „Murnau mit Kirche II“ stammt
aus dem Jahre 1910, die „Landschaft mit
rotem Flecken II“ malte er drei Jahre
später. „An diesem Motiv wird die
künstlerische Entwicklung Kandinskys
deutlich.“ Das früher entstandene Bild
Christina Dichtl
widmet sich der
alten Kunst der
Hinterglasmalerei. Gerade
arbeitet sie an
einer Sammlung
von Schmetterlingsporträts.
gibt die Murnauer Szenerie noch deutlich
erkennbar wieder. Im Gemälde von 1913
finden sich die Bildgegenstände nur noch
als schemenhafte Versatzstücke in einem
schwebenden Gefüge aus Farbklängen.
Weites Moos
Vom Münter-Haus führt die Kottmüllerallee in südwestliche Richtung zum
Murnauer Moos. Nach kurzer Wegstrecke
wird die Straße zu einem von alten
Eichen beschirmten Fußweg. An einem
Aussichtspunkt am Ende der Eichenallee
lässt sich der flache Teppich des Mooses
überblicken. Nur einzelne Erhebungen,
die sogenannten Köchel, ragen wie
versunkene Giganten aus dem größten
Alpenrandmoor Europas. Als sich in der
Würm-Eiszeit vor 12 000 Jahren der
Loisachgletscher mit 700 Meter Eisdicke
über das Land wuchtete, schürfte er
das Murnauer Becken aus. Nach dem
Abschmelzen der Eismassen bildete sich
ein riesiger See, der nach und nach
verlandete. Das Murnauer Moos umfasst
alle typischen Moorbiotope: weitflächige
Niedermoorbereiche, Hochmoore,
feuchte Streuwiesen und verwaldete
Gebiete. Über 1 000 Pflanzen- und
4 000 Tierarten sind hier beheimatet.
Beim Ähndl
Wer das Moos auf Rundwegen erkunden will, startet am besten vom
Ramsachkircherl aus. Das älteste
Bild links: Fritz Walter Schmidt führt zu
den Originalschauplätzen, die von den
Expressionisten gemalt wurden.
Rechts: Eine alte Eichenallee führt vom
Münter-Haus zu einem Aussichtspunkt
über dem Murnauer Moos. Von hier aus geht
der Weg weiter zum Ramsachkircherl.
Charakteristische Pflanzen der
Feuchtwiesen im Murnauer Moos:
der Wiesenknopf, das Wollgras,
und die Kuckuckslichtnelke.
Gotteshaus der Gegend wird im Volksmund
liebevoll „Ähndl“ (Ahne) genannt. Diese dem
Heiligen Georg geweihte Kirche geht auf frühchristliche Ursprünge zurück und beherbergt
ein kirchenhistorisches Kleinod: eine etwa
60 Zentimeter große, aus Eisenblech gefertigte Handglocke. Sie soll von schottischen
Wandermönchen, die Bayern missionierten, im
achten Jahrhundert hergebracht worden sein.
Nach der Rückkehr von einer ausgedehnten
Mooswanderung bietet sich eine Rast im
Gasthaus „Zum Ähndl“ an. Unter den alten
Kastanien findet sich ein schattiges Plätzchen
mit Blick über das Moos. Die Wirtsleute Elisabeth und Franz Schägger bewirtschaften das
kleine Lokal inzwischen im zwölften Sommer.
Besonders stolz ist der gelernte Metzgermeister
auf seine selbst hergestellten Wurstwaren, die als
Das Becken
des Murnauer
Mooses wurde
von einem eiszeitlichen
Gletscher ausgeschürft. Heute
sind hier viele
vom Aussterben
bedrohte
Pflanzen- und
Tierarten
beheimatet.
zünftige bayerische Brotzeit gereicht werden.
Von hier aus begeben wir uns zum Staffelsee, der
nördlich des Murnauer Höhenrückens liegt.
See mit sieben Inseln
In Seehausen, der Gemeinde am Ufer des
Staffelsees, befindet sich ein kleiner Bootsverleih. Seit 1935 startet hier alljährlich an Fronleichnam die einzige Seeprozession Bayerns.
Ihr Ziel ist die St.-Simpert-Kapelle auf der Insel
Wörth, der größten der sieben Staffelseeinseln.
Der Legende nach soll dort einstmals der Drache
gehaust haben, der auch heute noch angriffslustig vom Murnauer Stadtwappen züngelt. Wir
besteigen mit hochgekrempelten Hosenbeinen
das schwankende Ruderboot und setzen aus
eigener Kraft zur Insel über. Nach einer halben
Stunde gemütlichen Ruderns gleitet der Bug
sacht in den Uferkies der östlichen Inselspitze.
Pausieren im Schatten alter Kastanien
Die Wirtsleute Schägger bieten im Gasthaus „Zum Ähndl“ bayerische Küche an.
Seit sechs Jahren weidet eine Herde
Heckrinder auf der Insel. Diese Rasse
entstand vor mehr als 70 Jahren beim
Versuch der Heck-Brüder, den ausgestorbenen Auerochsen wieder aufleben zu
lassen (siehe Landlust Januar/Februar
2011). Die Heckrinder bewahren die
Wiesenflächen vor der Verbuschung und
sorgen für den Erhalt des Artenreichtums
der Insel. Ein Pfad führt zur erhöht
gelegenen St.-Simpert-Kapelle aus dem
19. Jahrhundert. Sie ruht auf den Fundamenten einer Steinkapelle aus dem
7. Jahrhundert und einem Kirchenbau,
der Teil eines bis ins 11. Jahrhundert
bestehenden Benedikterklosters war.
Nach der Rückkehr zum Boot setzen wir
wieder nach Seehausen über. Das Dorf
ist geprägt von Bauernhäusern mit
Lüftlmalerei und blühenden Bauerngärten. Im kleinen Heimatmuseum wird
die Geschichte der Fischerei und der
Hinterglasmalerei im Ort beleuchtet.
Gestüt mit Tradition
Vom Staffelsee aus folgen wir unserer
Route in Richtung Kochelsee und
überqueren kurz hinter Murnau den
Fluss Loisach. Einige Kilometer weiter
erstreckt sich das Gelände des Hauptund Landesgestütes Schwaiganger zu
Füßen des Heimgartenmassivs. Seit mehr
als 1 000 Jahren werden in Schwaiganger
Pferde gehalten. Heute ist das Gestüt
Zentrum der staatlichen Pferdezucht
in Bayern.
Am Ende des 18. Jahrhunderts war
Schwaiganger Witwensitz der bayerischen Herzogin Maria Anna, auch
die „Retterin Bayerns“ genannt. Durch
geschicktes diplomatisches Agieren
gelang es ihr zu verhindern, dass
Schwager Kurfürst Karl Theodor weite
Teile Bayerns in einem Tauschgeschäft
an die Österreicher verschacherte. Ihr
zu Ehren wurde am repräsentativen
Verwaltungsgebäude, in dem sie einst
wohnte, ein Medaillon mit ihrem
Porträt angebracht.
Ausblicke und Einblicke
In Großweil, nordöstlich von Schwaiganger gelegen, zweigt eine kleine Straße in
Richtung Kreut-Alm ab. Sie führt zum
Gelände des Freilichtmuseums Glentleiten, das die jahrhundertealte, ländliche
Lebenswelt der Bevölkerung Oberbayerns
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Links:
Das Ramsachkircherl wird im
Volksmund Ähndl
(Ahne) genannt.
Es ist das älteste
Gotteshaus der
Gegend.
Rechts:
Bauerngarten im
Freilichtmuseum
Glentleiten
dokumentiert. Das weitläufige, an einem
Berghang gelegene Areal umfasst Bauerngärten, Wälder und Weiden mit alten
Tierrassen. Auch eine alte Wetzsteinmacherei kann besichtigt werden. Der Ort
Ohlstadt am östlichen Rand des Murnauer Mooses war über 600 Jahre lang
Zentrum der Wetzsteinfertigung.
Wir folgen der Fahrstraße weiter bergan
und besuchen die als Ausflugsziel
beliebte Kreut-Alm. Seit sieben Jahren
bewirtschaften Marion und Olivier Mayr
in vierter Generation den Gasthof. Vom
Biergarten eröffnet sich ein weiter
Ausblick ins Blaue Land. Hinter
blühenden Almen gerät der tiefblaue
Kochelsee ins Blickfeld. Nach längerem
Aufenthalt in Sindelsdorf lebte Franz
Marc in Ried bei Kochel, bis er als Soldat
zum Ersten Weltkrieg eingezogen
wurde. An ihn erinnert das Franz Marc
Museum in Kochel am See. Ein Besuch
des Museums, das einen umfassenden
Einblick in das Werk des Malers gibt,
beschließt unsere Landpartie. Wie die
Künstler haben wir die Bilder dieser
Landschaft, ihre Farben und Formen,
zu inneren Eindrücken gemacht.
Informationen
Tourist-Information
• Tourismus-Gemeinschaft Das Blaue Land, c/o Tourist-Information
Murnau, Kohlgruber Straße 1, 82418 Murnau am Staffelsee, Tel.:
0 88 41/61 41-0 bzw. -11, www.dasblaueland.de, www.murnau.de
•T
ourist-Information Kochel am See, Bahnhofstraße 23,
82431 Kochel am See, Tel.: 0 88 51/3 38, www.kochel.de
Vom Biergarten der Kreut-Alm eröffnet sich ein weiter Blick über
das Blaue Land. Zu Füßen der Berge ruht der tiefblaue Kochelsee.
Essen und Trinken
• Forsthaus Höhlmühle, Höhlmühlstraße 1, 82418 Murnau-Riegsee,
Tel.: 0 88 41/96 20, www.forsthaus-hoehlmuehle.de
• Zum Ähndl, Ramsach 2, 82418 Murnau am Staffelsee,
Tel.: 0 88 41/52 41
• Kreut-Alm, Kreut 1, 82439 Großweil, Tel.: 0 88 41/58 22,
www.kreutalm.de
• Brauereigasthof Griesbräu, Obermarkt 37, 82418 Murnau,
Tel.: 0 88 41/14 22, www.griesbraeu.de
Unterwegs im Blauen Land
Zwischen Staffel- und Kochelsee in Oberbayern liegt das
Blaue Land. Es ist rund 65 Kilometer von München entfernt.
Habach
Eglfing
MÜNCHEN
Spatzenhausen
Uffing
Sindelsdorf
Aidlinger Höhe
Seehausen
Riegsee
Neuegling
Aidling
1 Münter-Haus
2 Ramsachkircherl
3 Freilichtmuseum Glentleiten
4 Gestüt Schwaiganger
5 Franz Marc Museum
Staffelsee
Froschhauser See
1
2
Murnau
7
Großweil
h
ac
ms
Ra
Benediktbeuern
6
Riegsee
6 Höhlmühle
7 Zum Ähndl
8 Kreut-Alm
3
h
c
isa
8
Lo
4
Murnauer Moos
Schlehdorf
Kochel
5
Grafenaschau
Kochelsee
Ohlstadt
GARMISCH-PARTENK.
Bücher und Wanderkarte
•G
isela Kleine: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biografie eines Paares.
Frankfurt am Main, 1994, Insel Taschenbuch, ISBN 978-3-4583-3311-1, 16 €
• Christian Rauch: Blaues Land. 25 Kulturwanderungen zwischen Murnau,
Kochel, Werdenfelser Land und Pfaffenwinkel. München 2010,
Bergverlag Rother, ISBN 978-3-7633-3054-6, 14,90 €
• Murnau, Kochel, Staffelsee. Das Blaue Land am Staffelsee.
Wander- und Radkarte 7, 1:50 000, Kompass, 7,95 €
■ Text: Cornelia Weber, Fotos: Cornelia Weber (25),
Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München (2)
Museen und Sehenswürdigkeiten
•M
ünter-Haus, Kottmüllerallee 6, 82418 Murnau am Staffelsee,
Tel.: 0 88 41/62 88 80, Öffnungszeiten: Di – So 14 – 17 Uhr,
www.lenbachhaus.de
• Schloßmuseum Murnau, Schloßhof 4–5, 82418 Murnau am
Staffelsee, Tel.: 0 88 41/47 62 01, www.schlossmuseum-murnau.de,
Öffnungszeiten: Di – So 10 – 17 Uhr; Juli – September
Sa + So bis 18 Uhr, an Feiertagen geöffnet
• Franz Marc Museum, Franz Marc Park 8–10, 82431 Kochel
am See, Tel.: 0 88 51/9 24 88-0, Öffnungszeiten: April – Oktober
Di – So und an Feiertagen 10 – 18 Uhr; November – März
10 – 17 Uhr, www.franz-marc-museum.de
•H
eimatmuseum Seehausen, Dorfstraße 3, 82418 Seehausen,
Tel.: 0 88 41/67 28 58, Öffnungszeiten: ab Mai Do, Sa + So 14 – 17 Uhr
• Freilichtmuseum Glentleiten, An der Glentleiten 4,
82439 Großweil, Tel.: 0 88 51/1 85-0, www.glentleiten.de,
Öffnungszeiten: 19.3. bis 11.11.: Di – So 9 – 18 Uhr; Juni bis
Ende September auch montags geöffnet
•B
ayerisches Haupt- und Landgestüt Schwaiganger,
Schwaiganger 1, 82441 Ohlstadt, Tel.: 0 88 41/61 36-0,
www.schwaiganger.bayern.de, Führungen von Mai bis Mitte Oktober
immer Di – Do 13.30 + 15 Uhr (außer an Feiertagen)
Führungen „Auf den Spuren des Blauen Reiters“
Informationen zur Buchung erteilen die Tourist-Informationen in
Murnau und Kochel. Inhaltliche Auskünfte zu den Führungen gibt
Fritz Walter Schmidt. Bei ihm sind auch das Begleitbuch zur Führung
„Auf den Spuren des Blauen Reiters. Ein Führer zu den Originalschauplätzen in Murnau, Sindelsdorf, Ried und Kochel“ (12 €)
und die entsprechende Radwanderkarte (6,90 €) bestellbar.
• Fritz Walter Schmidt, Birkenallee 39, 82445 Grafenaschau,
Tel.: 0 88 41/62 33 50, Fax: 0 88 41/62 33 51,
E-Mail: schmidt-irene-graf@t-online.de, www.blauer-reiter.com
Handgemachtes und Kunsthandwerk
• Schön und Gut, Renate Sauer, Untermarkt 39, 82418 Murnau,
Tel.: 0 88 41/4 87 46 73, www.schoen-und-gut.com
• Kurse zur Hinterglasmalerei, Christina Dichtl,
Ludwigstraße 1, 82435 Bad Bayersoien, Tel.: 0 88 45/70 36 44,
www.christina-dichtl.de
Bootsverleih und Schifffahrt
Staffelsee Motorschifffahrt, Im Hinterfeld 8, 82418 Seehausen,
Tel.: 0 88 41/62 88 33, www.staffelsee.org
Der Bootsverleih in Seehausen befindet sich am Ende des
Burgweges an der Bootslände. Der Verleih hat bei guter Witterung
von 8 bis 19 Uhr geöffnet.
Tipps
Murnauer Kunstspaziergang: Auf einer festgelegten Route durch
Murnau können Motive der Maler des „Blauen Reiters“ besichtigt
werden. Stationäre Bildtafeln bieten kurze Erläuterungen und zeigen
die entsprechenden Gemälde. Ausgangspunkt ist die Tourist-Info im
Kultur- und Tagungszentrum in Murnau, Kohlgruber Straße 1. Hier
ist auch ein Flyer erhältlich, der die Route beschreibt. Auf aktuelle
Veranstaltungen, Ortsführungen und geführte Wanderungen
beispielsweise im Murnauer Moos wird auf den Internetseiten der
Tourist-Informationen hingewiesen.
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