EULENFISCH Literatur
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EULENFISCH Literatur
EULENFISCH Literatur Ausgabe 2/2014 Autorinnen und Autoren Impressum Baranzke, Dr. Heike / Essen EULENFISCH Literatur 2/2014 Dohmen-Funke, Christoph / Erkelenz Emsbach, Matthias / Koblenz Giercke-Ungermann, Dr. Annett / Aachen Heidrich, Dr. Christian / Nußloch Herborn, Dorothee / Münster Helmer, Dr. Matthias / Fulda Herzberg, Dr. Stephan / Frankfurt a.M. Kaldewey, Rüdiger / Saarbrücken Kaupp, Prof. Dr. Angela / Koblenz Kläver, Prof. Dr. Magdalene / Wiesbaden Kramp CJ, Sr. Dr. Inga / Frankfurt/M. Kruip, Prof. Dr. Gerhard / Wennigsen Leuchtenmüller, Christine / Wiesbaden Lindner, Sebastian / Wiesbaden-Naurod Lonny-Platzbecker, Ute / Essen Menges, Thomas / Limburg Mutschler, Prof. Dr. Hans-Dieter / Zürich Novian, Michael / Hundsangen Renz, Dr. Andreas / München Schmidt, Prof. Dr. Bernward / Frankfurt/M. Schmiedl ISch, Prof. P. Dr. Joachim / Vallendar Schmiz, Dr. Gustav / Eppstein Verhülsdonk, Dr. Andreas / Düsseldorf Vörckel, Dr. Karl / Grünberg Werner, Matthias / Braunfels Herausgeber Andreas von Erdmann Chefredakteur Schulamtsdirektor i.K. Martin W. Ramb Redaktion Thomas Menges Korrektorat Alexandra Reißmann Verlag Verlag des Bischöflichen Ordinariats Limburg Roßmarkt 12, 65549 Limburg verlag@bistumlimburg.de Grafik Design und Fotos Cornelia Steinfeld, www.steinfeld-vk.de Redaktionsanschrift Bischöfliches Ordinariat Limburg Dezernat Schule und Bildung Roßmarkt 12, 65549 Limburg Fon 06431-295-424, Fax 06431-295-237 E-Mail eulenfisch@bistumlimburg.de ISBN 978-3-944142-06-7 ISSN 2199-7020 Ausgabe 12 (2_2014) 7. Jahrgang Eulenfisch Literatur erscheint halbjährlich als PDF © Verlag des Bischöflichen Ordinariats, Limburg/Lahn 2014 Zu lesen unter www.eulenfisch.de/archiv/eulenfisch-literatur-archiv Bistum Limburg 2 Bibel 4 Beredtes Schweigen. Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten // 6 Der Bibel-Guide // 8 Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus // 9 Tatort Bibel. 10 spannende Kriminalfälle Jürgen Ebach Beredtes Schweigen Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2014 176 Seiten 19,99 € ISBN 978-3-579-08178-6 Zu den wesentlichen Möglichkeiten unserer Sprachbegabung zählt das Schweigenkönnen. So sehr die menschliche Existenz von der Sprache und ihren faszinierenden Aspekten getragen ist, so sehr hat auch das Schweigen seine Zeit, seinen Ort, seinen Sinn. Freilich ist das Schweigen ein komplexes Phänomen. Wir schweigen, weil wir „nichts zu sagen“ oder aber Angst haben, weil wir „kein Öl ins Feuer gießen möchten“, weil Schweigen häufig die bessere Alternative ist. Am Schluss seines „Tractatus Logico-Philosophicus“ legt uns Ludwig Wittgenstein ans Herz: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Von den mannigfachen Formen des Schweigens in der Bibel handelt Jürgen Ebachs kluge Studie über „beredtes Schweigen“. Der emeritierte Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments wählt rund zwei Dutzend biblische „Schweigestellen“ und fragt danach, „ob und in welcher Weise dieses Schweigen beredt ist“. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf erzählenden und prophetischen Texten der hebräischen Bibel, drei „Seitenblicke“ auf Schweigemotive des Neuen Testaments runden die Studie ab. Dem Leser bieten die zumeist kurzen Kapitel eine Fülle interessanter Einsichten. Denn was ist vom Schweigen Noahs in der gesamten Flutgeschichte Gen 6,5-9,17 zu halten? Kein einziges Wort sagt er während dieser archetypischen Katastrophe. 4 Erst in der sich anschließenden Passage, sinnigerweise nach einem Alkoholrausch, äußert er ein paar eher zufällige Worte. Noahs Wortlosigkeit hat Literaten wie Lord Byron und Philosophen wie Leszek Kołakowski zu Fragen und Fortschreibungen provoziert. Auch für Ebach lassen sich der Erzählung vor allem Anfragen entnehmen: „Schweigt Noah demütig ergeben, signalisiert sein Schweigen eine stillschweigende Zustimmung oder ist es gerade umgekehrt ein widerständiges Schweigen, welches jede Einverständniserklärung verweigert?“ Auch im Falle des großen Dulders Hiob, der keineswegs wortlos ist, stellt sich die Schweigefrage. Wie sollen seine Freunde mit dem desolaten Leid, mit der Hiobsfrage umgehen? Wann sind Zuspruch und Dialog angesagt, wann ist Zeit für eine wortlose Solidarität? Und, ungeheurer noch: Wie lange mag Gott noch schweigen? In der Hiobserzählung antwortet Gott schließlich doch noch, Hiob soll gar für seine Freunde, die „nicht richtig“ geredet haben, Fürbitte einlegen. Gleichwohl ist dem Leser der glückliche Ausgang suspekt, viele Fragen bleiben offen, und sie haben nicht zuletzt mit dem Verhältnis von Reden und Schweigen zu tun. Gleiches gilt für die Propheten, für Habakuk, Amos oder Ezechiel, deren Auftrag selbstverständlich das Reden ist und die dennoch immer wieder erfahren, dass dem Klugen zuweilen das Schweigen besser ansteht. Den vielzitierten Satz aus dem Amosbuch 5,13 („Darum schweigt der Verständige zu dieser Zeit, denn es ist eine böse Zeit“) sieht Ebach allerdings als eine späte redaktionelle Ergänzung, denn der Ausspruch passt so gar nicht zu dem, was wir sonst über den Propheten wissen. Vielleicht, so der Exeget, verweist jene Zeile auf die Situation derer, die das Amosbuch entstehen ließen: „Mit der ‚geretteten Zunge‘ des Amos und derer, die gleichsam in Amoszungen die Prophetenworte ergänzten und fortschrieben, reden sie – und schweigen selbst beredt.“ Jürgen Ebachs Studie ist zu empfehlen. Sie bereichert den Leser mit jedem der Fundstücke, macht ihn wachsamer bei der biblischen Lektüre. Zudem können die meisten Kapitel des Buches problemlos und mit Gewinn im Unterricht der Oberstufe gelesen werden. Christian Heidrich Auch im Neuen Testament finden wir zahlreiche Schweigemotive, wobei der „authentische“ Schluss des Markusevangeliums (16,8) schon immer Deutungen herausforderte. Es verwundert nicht, dass das Schweigen der Frauen nach dem österlichen Besuch des Grabes in vielen älteren Handschriften „ergänzt“ wird, so im „kanonischen“ Markus-Schluss 16,920. Zu abrupt, zu unbefriedigend erscheinen Schock und Stille angesichts der Freudenbotschaft vom Ostermorgen. Demgegenüber beharrt Ebach darauf, dass das Evangelium mit der Sequenz 16,1-8 endete „und dass der Grund für diesen Schluss in narratologischen und theologischen Perspektiven zu suchen ist“. Das Markusevangelium, so der Exeget, erzählt doch, was die Frauen nicht erzählt haben. Der Rest gehört dem Leser, er mag nun reden oder schweigen, oder aber von Neuem den Berichten des Markusevangeliums nachgehen. „Das Schweigen der Frauen am Ende des Buches ist im ‚Sprechen‘ des Buches selbst – im mehrfachen Wortsinn – aufgehoben.“ 5 Henry Wansbrough Der Bibel-Guide Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux Darmstadt: Konrad Theiss Verlag. 2014 288 Seiten 29,95 € ISBN 978-3-8062-2892-2 Sich einen Weg durch die biblische Literatur zu bahnen, ist nicht einfach. Zu vielfältig sind die dargestellten Geschichten und Motive in den 73 biblischen Büchern, die in unterschiedlichen Literaturgattungen (Evangelium, Brief, Weisheitsliteratur usw.) den Weg Gottes mit seinem Volk im Alten und Neuen Testament behandeln. Der Bibel-Guide des englischen Benediktiners und Exegeten Henry Wansbrough möchte dem heutigen Bibelleser helfen, einen Schlüssel zur Bibel zu finden. Das Buch soll ein „Reiseführer sein, der auf einige wichtige Gegebenheiten hinweist und ihre Bedeutungen im damaligen Zusammenhang sowie für uns Heutige erklärt“. Es möchte „Einführung und Leitfaden“ sein, um „ein grundsätzliches Gespür für Ort und Richtung der Lektüre“ zu vermitteln. Die deutsche Ausgabe basiert auf der englischen Originalausgabe mit dem Titel: The Bible: A Reader’s Guide, Quarto Publishing: London/New York 2012. Die Präsentation der biblischen Bücher ist durch das ganze Buch hindurch nach demselben Muster aufgebaut. Am Anfang steht eine kurze Einführung, die zusammen mit einer Grobgliederung eine erste Übersicht über das jeweilige Buch verschafft. Dann folgt eine kapitelweise Kurzzusammenfassung des Inhalts. Diese Inhaltsangabe wird durch Kommentare ergänzt, die in aller Kürze Hinweise auf die Literatur- und Profangeschichte geben, aber teils auch archäologische Details liefern. Daneben werden dem Leser ausgewählte biblische Zitate nahegebracht, die dem Autor als besonders wichtig erscheinen. Ergänzt wird die inhaltliche Darstellung der Bibel durch eine thematische. In Zusammenarbeit mit dem Exegeten Robin P. Nettelhorst hat Wansbrough einen Themenschlüssel entwickelt, der anhand eines Farbcodes alle Kapitel der Bibel achtzehn Themenfeldern zuordnet. Zu Recht hält 6 Wansbrough fest, dass diese Einteilung „nur einen ungefähren Hinweis auf die hauptsächliche Bedeutung eines Abschnitts“ geben kann, weshalb vielen Kapiteln mehr als eine Farbe zugeordnet wird. Aber auch die Themenfelder können in sich ganz unterschiedliche Textsorten vereinen. So fallen unter das Stichwort „Verzeichnisse“ alle Formen von Listen in der Bibel (Genealogien, Steuerberichte, Baumaterialien für den Tempel usw.). Weitere Themenfelder sind: Lobpreis, Klage, Vergebung, Dichtung, ethische Unterweisung, Gleichnisse, Prophetie, Liebe, Wunder, Anbetung, Urteil, Gebet, Apokalypse, Vertrag, Geschichte, Engel und Dämonen sowie Weisheitsliteratur, denen jeweils eine Erläuterung beigegeben ist, die die inhaltlichen Schwerpunkte des Themenfeldes beschreiben. Eine Klappkarte am Ende des Buches, die alle Themenfelder und die jeweils zugeordnete Farbe auflistet, bewahrt den Leser vor unnötigem Blättern, wenn er nicht mehr weiß, welche Farbe für welches Thema steht. Anhand der Farben kann der Leser gezielt, z.B. nach Gebetstexten, suchen. Ergänzt wird das Buch durch knappe Anmerkungen zu Altem und Neuem Testament, einen Index, mit dem man gezielt im Bibel-Guide nach bestimmten Stichworten suchen kann, ein für den deutschen Markt erstelltes Literaturverzeichnis, das hauptsächlich Überblickswerke und Einleitungen in Altes und Neues Testament enthält, und ein Abbildungsverzeichnis. Wansbroughs Bibel-Guide bietet einen knappen und strukturierten Überblick über den Inhalt der Bibel, der es dem Leser erlaubt, sich basale Informationen anzueignen. Gerade wenn man den biblischen Text parallel zu den Inhaltsangaben und Kommentaren des Guides liest, vermag das Buch ein Schlüssel zur Welt der Bibel zu sein. Für einen vertiefteren Blick auf die Bibel und ihre Umwelt ist weitere Bibellektüre und das Heranziehen von Sekundärliteratur unerlässlich. Die Aufmachung des Buches ist übersichtlich und der schnellen Orientierung dienlich. Allerdings wirken die dem Text beigegebenen Bilder aus den unterschiedlichsten Epochen der christlichen Kunstgeschichte auf den Rezensenten überwiegend kitschig. Ferner haben sich kleinere Ungereimtheiten eingeschlichen. So spricht der Text auf S.8 von 74 biblischen Büchern, während es 73 sind. Und obwohl sich die Titel der biblischen Bücher an der Einheitsübersetzung orientieren, findet man für das Buch Kohelet die Bezeichnung Ecclesiastes. Auf S.17 steht, dass man im 8. Jh. begonnen habe, die Aussprüche der Propheten aufzuschreiben. Eine Ergänzung um „v.Chr.“ wäre hier sicher ratsam gewesen. Ferner ließe sich anfragen, ob die Wahl der Themenfelder, die theologische Termini und literaturwissenschaftliche Begriffe mischt, nicht auch anders hätte aussehen können; v.a., weil die Einteilung in manchen Bereichen und das Subsumieren unterschiedlichster Textsorten unter ein Themenfeld teils zu grob ausfällt. Insgesamt ist Wansbroughs Buch für einen ersten inhaltlichen Einblick in die biblische Überlieferung eine gute Adresse. Matthias Helmer 7 Christian Lehnert Korinthische Brocken Ein Essay über Paulus Monika Gunkel Tatort Bibel 10 spannende Kriminalfälle Berlin: Suhrkamp Verlag. 2013 Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk. 2010; 3. Auflage 2014 283 Seiten 152 Seiten 22,95 € 9,95 € ISBN 978-3-518-42369-1 ISBN 978-3-460-30403-1 Begegnung mit dem Christus. Begegnung, die alles verändert. Apostel sein: aus einer Gottesbegegnung entlassen. Sich entlanghangeln am Rand des Kraters, den der Einschlag des Christusmysteriums im eigenen Leben hinterlassen hat. Alles muss neu gefunden, neu verstanden, neu stammelnd in Worte gefasst werden. In zusammengedrängter, verdichteter, ausgekaufter Zeit der Fülle. Diese Worte sind mein Versuch, die Rezension eines ungewöhnlichen, in seiner Poetik und Tiefe kaum auszulotenden Buches in dessen eigener Sprache zu beginnen. Denn Lehnerts „Korinthische Brocken“ lassen sich kaum auf rein diskursiver Ebene fassen. In seinem „Essay über Paulus“ unternimmt er in poetischer Sprache eine Auslegung des Ersten Korintherbriefes, der nicht so sehr eine fachliche, sondern vielmehr eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Text und seinem Verfasser Paulus darstellt. Die Motivation dazu verrät Lehnert in einem Zitat auf der Rückseite des Buches: „Ich versuche wieder und wieder zu ergründen, warum Paulus mir so nah ist.“ 8 Die Auseinandersetzung gelingt: Wer dieses Buch liest, hat auf ganz eigene Weise die Chance, Paulus nahezukommen – in einer Weise, wie das exegetische Literatur selten zu ermöglichen vermag. Zwar setzt sich der Verfasser kompetent mit dem griechischen Urtext auseinander, aber er nimmt auch den des Griechischen unkundigen Leser bei seinen Entdeckungen im Text in großer Leichtigkeit mit sich. Entdeckt wird immer wieder das Ungeheure, Neue, Weltverändernde, Lebensumstürzende an der Erfahrung des Paulus. Es ist die Begegnung mit Christus, die für ihn alles verändert hat und heute in unserem Leben alles zu ändern und zum eigentlich Wesentlichen hin umzustürzen vermag: zum Heiligen Gott, der uns in Jesus Christus ganz nahe, manchmal fast unerträglich nahe, andererseits faszinierend schön nahekommt. Hier zeigt sich, dass es Lehnert letztlich nicht nur um die persönliche Auseinandersetzung mit Paulus geht, sondern mit dem Christentum überhaupt. Das wird etwas reißerisch auf der Rückseite des Buches angekündigt: „Ein Essay, der die Konturen eines neuen Christentums sucht.“ Diese Beschreibung empfinde ich für den Inhalt des Buches allerdings etwas unglücklich: Lehnert sucht nicht ein neues Christentum (das kann es nicht geben), sondern das Christentum neu. Und dies tut er, indem er sich das Bahnbrechende an der Begegnung mit Christus, wie es Paulus als ein Mensch der zweiten Generation erlebt hat, neu bewusst macht – sich und natürlich auch dem Leser. Dabei ist Paulus als Urchrist der zweiten Generation eine glückliche Wahl: Er hat Jesus nie gesehen, wie auch wir heute ihn in seiner irdischen Existenz nie sehen werden – aber er ist doch zutiefst ergriffen von ihm. Lehnert befreit das Christentum geradezu vom Staub der Jahrhunderte – liebevoll, in demütiger, tastender Annäherung, die nichts Revolutionäres oder Überhebliches an sich hat, sondern vielmehr etwas zutiefst Ergreifendes, das den Leser in den Bann schlägt. Wie kann man dieses Buch im Religionsunterricht verwenden? Als Lektüre für Schülerinnen und Schüler ist es wohl eher Stoff für den Leistungskurs oder zumindest für die Oberstufe. In diesem Kontext kann es wahrscheinlich auch Schüler zu einer ganz eigenen Entdeckung des Paulus und des frühen Christentums inspirieren. Dennoch würde ich dieses Buch zunächst dem Lehrer selbst empfehlen – zur sonntäglichen Lektüre auf dem Balkon oder in einer anderen entspannten Situation. Das ist alles, was zu tun ist. Denn dieses Buch reißt mit und wird für sich selbst sprechen. Der Lehrer wird gewandelt in seinen Alltag zurückkehren, ohne dass er aus dem Buch unmittelbar ein neues didaktisches Konzept oder Stoff für den Unterricht gewonnen hätte. Dieses Buch lehrt neu sehen. Es ist keine Investition ins Tun, sondern ins Sein. Krimis und Detektivgeschichten sind aktuell und sehr beliebt – sei es als Film, als Serie oder als Buch. Wenn nun biblische Erzählungen selber als Kriminalfälle formuliert und umgeschrieben werden, so geht es zunächst um Unterhaltung. Darüber hinaus kann eine solche Modifizierung durchaus Neugierde für die den Kriminalfällen zugrundeliegenden biblischen Geschichten wecken und einen niederschwelligen Zugang darstellen. Und genau dieses gelingt dem mittlerweile in der 3. Auflage erschienenen Buch von Monika Gunkel durchaus. Die 10 Kriminalfälle des Buches werden nicht unvermittelt präsentiert, sondern durch eine kleine Rahmenhandlung miteinander verbunden. Diese ist schnell erzählt: 5 Jugendliche (vier Jungen und ein Mädchen) treffen sich regelmäßig, um sich 10 Verbrechen aus der Bibel vorzulegen und diese gemeinsam aufzuklären. Dabei werden die biblischen Erzählungen sehr stark verfremdet und aktualisiert. Personen, Orte, Hintergründe und Umstände werden in die heutige Zeit gesetzt und in moderne Lebenswelten transportiert. Die Aufgabe der Jugendlichen in der Rahmenhandlung und damit auch der Leser ist es nun, die hinter den Fällen stehenden biblischen Erzählungen durch verschiedenste Hinweise im Text und eigenständige Kombinationsarbeit zu erschließen. Da die Kriminalfälle in der Rahmenhandlung selber nicht aufgelöst werden, finden sich die zugrunde gelegten biblischen Texte als Auflösung in der Mitte des Buches. Igna Kramp CJ 9 Die Darstellungen fallen durch ihre flapsige Wortwahl, ihre spitzen und zum Teil platten Formulierungen auf. Dies ist auf der einen Seite ab und zu gewiss erfrischend und auflockernd, auf Dauer jedoch – gerade für ältere Leser – etwas nervig und mühselig. Da heißt es z.B. mit Blick auf die Darstellung der Tochter des Pharao, welche Mose aus dem Nil rettete: „Eine Tochter des Alten hatte zu ihrer Teenie-Zeit wohl so eine soziale Ader und dabei den Typen angeschleppt." Leider wird die Aktualisierung der biblischen Kriminalfälle den biblischen Botschaften nicht immer gerecht. So werden biblische Aussagen und Darstellungen in der Übertragung oftmals verengt, verzerrt, pauschalisiert oder sie gehen einfach unter. Dies ist spätestens dann der Fall, wenn aus Judtih die Inhaberin eines Bio-Ladens wird, die keinen fremden Feldherrn, sondern den Inhaber eines zwielichtigen Lokals tötet, um andere Unternehmen vor weiteren finanziellen Einbußen zu bewahren. Die ausgewählten „biblischen Fälle" stammen sowohl aus dem Alten als auch dem Neuen Testament und sind einschlägig bekannt (z.B. Ex 2,1-22 – Mose erschlägt einen Ägypter; 1Kön 18,1-40 – Gottesurteil auf dem Karmel; Jdt 10-13 – Judith tötet Holofernes; Mk 6,17-29 – Enthauptung des Täufers; Apg 6,8-8,1 – Steinigung des Stephanus). Allerdings sorgt die Verfremdung dafür, dass ein einfaches und schnelles Lösen nicht immer garantiert werden kann und von den Lesern kriminalistisches Gespür aufgebracht werden muss, um die Fälle ohne „Schummeln" zu lösen. Trotz allem ist dieses Buch eine erfrischende und unterhaltsame Lektüre für zwischendurch und durchaus zu empfehlen. Darüber hinaus lassen sich durchaus zahlreiche Impulse und Ideen für „Krimi-Bibel-Abende" mit Jugendgruppen finden. Die gewagten und kreativen Aktualisierungen der biblischen Geschichten sind sicherlich ein unterhaltsamer Lesegenuss. 10 Annett Giercke-Ungermann Kirche 12 All meine Wege sind DIR vertraut. Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit // 14 Kirche, Macht und Geld // 15 Die Reformation in Europa // 16 Die Konzilien und der Papst. Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) // 17 Einführung in das Studium der Kirchengeschichte. Einführung Theologie Tomáš Halík All meine Wege sind DIR vertraut Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit Aus dem Tschechischen von Nina Trcka Freiburg i. Br.: Herder Verlag. 2014 432 Seiten 19,99 € ISBN 978-3-451-33288-3 Der Autor der Bücher „Geduld mit Gott“ und „Nachtgedanken eines Beichtvaters“, der tschechische Psychotherapeut, Soziologie und katholische Priester Tomáš Halík, hat nun eine umfangreiche Autobiographie vorgelegt. Er berichtet darin anschaulich, wie er in der Zeit des Sowjetkommunismus zunächst Philosophie und Soziologie studierte und später zum katholischen Glauben fand, wie er den Prager Frühling 1968 zugleich als Frühling seines Lebens, seines Glaubens und der nachkonziliaren Kirche erlebte und wie er unter der darauf folgenden Restauration der sozialistischen Diktatur litt. Er erzählt, wie er 1978, fünf Tage nach der Wahl von Johannes Paul II., heimlich in Erfurt (damals DDR) zum Priester geweiht wurde und in der tschechischen Untergrundkirche tätig war, wobei er einem säkularen Beruf nachging, also in gewisser Weise ein „Arbeiterpriester“ war. Nicht einmal seine Mutter durfte davon wissen. Beeindruckend sind die Berichte darüber, wie versucht wurde, westliche Theologen verdeckt nach Prag zu Vorträgen einzuladen. Seine Schilderungen der Repression und der Verfolgung ermöglichen einen Einblick in Lebensbedingungen, die Lesern aus dem Westen aus eigenen Erfahrungen kaum oder gar nicht zugänglich sein dürften, erst recht nicht den jüngeren. Sie nachzuvollziehen ist aber wichtig, um auch das heutige Tschechien und das spannungsreiche Verhältnis der tschechischen Gesellschaft zur katholischen Kirche zu verstehen, ein Verhältnis, das auch noch durch den Reformator Jan Hus (geboren um 1369, am 6. Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt) geprägt ist. Halík betont selbst, die Entkirchlichung in Tschechien dürfe nicht nur als ein Ergebnis der kommunistischen Ideologie verstanden werden. 12 Die Wende von 1989 bedeutete eine tiefgreifende Veränderung auch im Leben von Halík. Durch seine Tätigkeit im Widerstand war er mit vielen Regimekritikern eng verbunden, unter ihnen auch mit Václav Havel, der nach der „Samtenen Revolution“ von 1989 bis 1992 Staatspräsident der Tschechoslowakei und ab 1993 bis 2003 Präsident der Tschechischen Republik war. Damit eröffneten sich für den Theologen ganz neue Wirkungsmöglichkeiten. Sein Priesterstand wurde publik, er hatte in der Öffentlichkeit großen Einfluss und übernahm wichtige Aufgaben. Havel hätte sich ihn sogar als seinen Nachfolger gewünscht. Zugleich stand ihm durch die gewonnene Reisefreiheit auf einmal die ganze Welt offen, was er intensiv nutzte und alle Kontinente einschließlich der Antarktis bereiste. Halík berichtet über sein Leben mit viel Humor. So schreibt er, bevor er Priester werden wollte, habe er als Kind ursprünglich „Eisbär“ werden wollen. Selbstkritisch meint der in bürgerlich-intellektuellen Kreisen als Einzelkind aufgewachsene Autor, die Erfahrung der Solidarität mit Altersgenossen sei bei ihm zu kurz gekommen. Verständlich wird seine zeitweilige Nähe zu konservativen kirchlichen Strömungen, die sich ja durch ihren, für Halík sicherlich positiv gesehenen Antikommunismus auszeichneten – von deren Einfluss er dann aber doch, wie er schreibt, „geheilt“ wurde. Er kritisiert, manche besonders konservative Katholiken aus dem Westen seien nach der Wende in den Osten gekommen, „als wären sie Märchenprinzen und unsere Kirche das Dornröschen, das während des Kommunismus […] das Zweite Vatikanische Konzil selig verschlafen hätte, und als würden sie es nun mit einem zauberhaften Kuss wecken, auf dass die liebliche Unbeflecktheit der vormodernen Kirche wiederhergestellt sei“. Halík weiß, dass Kirche und Glauben zu Weiterentwicklungen bereit sein müssen, wenn sie sich im „Labyrinth der Freiheit“ bewähren wollen. Er beklagt sich massiv über die häufige „invidia clericalis“, das Laster des Neids unter Klerikern, das er selbst schmerzlich erfahren musste, als er vom Dekan der Theologischen Fakultät in Leitmeritz 1992 mit einem Disziplinarverfahren aus der Fakultät hinausgedrängt wurde. Der Theologe zieht sogar Parallelen zwischen manchem Mechanismus in der kommunistischen Diktatur und in der katholischen Kirche. So stellt er sich auch deutlich gegen Forderungen nach einem „katholischen Staat“: „Dort, wo der Glaube in den Rang einer staatlichen Ideologie erhoben würde, wäre ich – im Namen des Glaubens wie auch im Namen der Freiheit – wohl der erste Dissident.“ Auch dunkle Seiten seines Lebens, seine Unsicherheit vor der Priesterweihe und andere schwierige Situationen voller Selbstzweifel und Glaubenskrisen verschweigt er nicht. Halík erzählt seine Lebensgeschichte zugleich als eine Geschichte seiner Beziehung zu Gott. Das macht den Titel des Buches und die eingestreuten theologischen Reflexionen verständlich. Als sein Vorbild nennt er den Heiligen Augustinus und seine „Confessiones“. Die umfangreiche Autobiographie ist spannend zu lesen, verständlich geschrieben und äußerst anregend. Man kann sie nur wärmstens empfehlen! Gerhard Kruip 13 Matthias Drobinski Kirche, Macht und Geld Peter Marshall Die Reformation in Europa Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2013 Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier 255 Seiten Stuttgart: Reclam Verlag. 2014 19,99 € 209 Seiten mit s-w. Abb. ISBN 978-3-579-06595-3 19,95 € ISBN 978-3-15-010866-6 Das deutsche Kirchensteuersystem, der konfessionelle Religionsunterricht, der Dritte Weg beim Arbeitsrecht und die an die Kirchen gezahlten Staatsleistungen sind Gegenstand medialer Erörterung. Matthias Drobinski greift diese aktuellen Diskussionen um das Staatskirchenrecht in seinem Ende 2013 erschienenen Buch auf. Er ist Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und dort für Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig. Seine fundierten Kenntnisse zeigen sich in seinen Ausführungen. Drobinski will „weder einfach die Kirchenposition verteidigen, noch einer laizistischen Verfassung das Wort reden. Er geht davon aus, dass, bei allen Problemen, die es gibt, Religionen und Religionsgemeinschaften insgesamt einer Gesellschaft guttun und dass ein Staat, der die Religionsfreiheit schützen will, diesen Religionen auch einen Platz in der Öffentlichkeit garantieren muss.“ Allerdings sieht er es wegen der voranschreitenden Säkularisierung in der Gesellschaft als notwendig an, dass sich das Staat-Kirche-Verhältnis in eine andere Richtung entwickeln und ändern muss. Der Verfasser zeigt historische Entwicklungen und die rechtlichen Voraussetzungen des Staatskirchenrechtes auf. Dabei verdeutlichen seine Ausführungen immer wieder, dass er die großen christlichen Kirchen für Gesellschaft und Staat als unentbehrlich einschätzt. Er hält das Staatskirchenrecht und -verhältnis für stabil, sieht es aber für die Zukunft in seiner jetzigen Form als gefährdet an. Daher plädiert er für eine Reformierung, Erweiterung und Ergänzung des gegenwärtigen Staatskirchenrechts zu einem Gesellschafts-Religionen-Recht. So sollte nach seiner Ansicht die Kirchensteuer, die im Moment noch die beste Form der Kirchenfinanzierung sei und dem Staat auch Geld bringe, in Zukunft durch eine Gemeinwohlabgabe ersetzt werden. Für die rechtlich begründeten Staatsleistungen schlägt er vor, dass die Bundesländer und die Kirchen Schritt für Schritt da- 14 rauf hinarbeiten sollten, die Staatsleistungen abzulösen. Nach seiner Ansicht sollte der Dritte Weg im Arbeitsrecht der Kirchen noch besser begründet und durch ein besonderes christliches Profil des Arbeitgebers unterstützt werden. Bei der Loyalitätspflicht der Arbeitnehmer schlägt er ein Stufenmodell vor. Als Beispiel führt er den Bischof, Pfarrer oder Religionslehrer an, dem jeweils eine andere Verpflichtung der Kirche gegenüber obliege als etwa dem Hausmeister der Gemeinde. Den konfessionellen Religionsunterricht sieht er durch die Vermittlung von Wertvorstellungen als wichtiges Fach an. Nach seiner Auffassung sinkt die Zahl der konfessionell gebundenen Schüler aber so stark, dass überlegt werden sollte, welche Möglichkeiten es jenseits des konfessionellen Religionsunterrichtes geben könnte, etwa Kooperationsmodelle von evangelischem und katholischem Religionsunterricht. Wichtig ist ihm auch die hinreichende Einbeziehung des Islam. Insgesamt hat Drobinski eine kritische Bestandsaufnahme vorgelegt. Auch wenn nicht alle Vorschläge von Drobinski überzeugen, vermitteln sie dennoch gute Denkanstöße. Von der Diktion her ist das Buch leicht zu lesen und setzt kein besonderes Wissen der Rezipienten voraus. Magdalene Kläver Soll im Vorfeld des Gedenkens an 500 Jahre Reformation noch ein weiteres Buch angezeigt werden, das ob seiner Kürze doch nur verkürzend sein kann? Nein, nach der Lektüre von Peter Marshalls Studie bleibt ein anderer Eindruck zurück. Der britische Historiker hat in gut englischer Tradition einen Essay vorgelegt, der einen breiten Bogen schlägt, alle wichtigen Themen behandelt und doch einen originellen Ansatz wählt. Sieben Kapitel fassen die Ereignisse und Entwicklungen jeweils unter einer Hauptüberschrift zusammen: Reformationen – Erlösung – Politik – Gesellschaft – Kultur – Andere – Erbe. Eine Zeittafel und Literaturhinweise aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum schließen die Studie ab. Zunächst einmal überzeugt der zeitliche Rahmen. Marshall spannt ihn von etwa 1400 bis etwa 1700. Damit kann er sowohl die „Vorläufer“ Wyclif und Hus als auch die Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts und beginnende Toleranzansätze unterbringen. Dann ist sein Ansatz interkonfessionell. „Reformation“ ist nicht nur die Opposition gegen die römische Kirche, sondern vollzieht sich zu Beginn der Neuzeit in allen religiösen Teilgruppen. Der Plural „Reformationen“ kann daher eine gute Ergänzung zum Konfessionalisierungsparadigma sein. Marshall weist auf Abhängigkeiten und Wechselwirkungen hin. Kein religiöser und theologischer Aufbruch der Frühneuzeit geschah unabhängig von der Umwelt. Die internationalen Verflechtungen zwischen den Mächten wirkten sich erheblich auf die Akteure der Reformationen aus. So kann Marshall die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen in den europäischen Ländern ebenso interpretieren wie die Ausgrenzung von Minderheiten und das missionarisch-kolonisatorische Ausgreifen in die neu entdeckten Kontinente. Dabei klammert Marshall die theologischen Fragestellungen keineswegs aus. Unter der Überschrift „Erlösung“ fasst er sie auf 25 Seiten knapp und konzis zusammen. Rechtfertigung und Glaube, Prädestination, Autorität der Schrift, Sakramente und die Erwartung eines baldigen Endes der Welt sind die Stichworte, die sowohl die reformatorischen Anfragen als auch die katholischen Antworten umkreisen. Marshall fasst seine Thesen in mehreren Paradoxien zusammen: Die Reformationen wollten gesellschaftliche und religiöse Uniformität und haben einen Pluralismus befördert. Die Festigung der Macht des Staates öffnete den Weg zur Kritik an dessen Autorität. Der Kampf gegen Aberglaube und Ketzerei schuf einen Aktionsraum für tolerantes Handeln. Die angestrebte Sakralisierung der Gesellschaft schuf die Bedingungen für deren Säkularisierung. Für eine erste Information und einen schnellen Überblick sind die 200 Seiten aus der Feder Peter Marshalls nur zu empfehlen. Sie machen Lust, an der einen oder anderen Stelle selber noch tiefer zu graben. Joachim Schmiedl 15 Bernward Schmidt Die Konzilien und der Papst Von Pisa (1409) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) Lenelotte Möller / Hans Ammerich Einführung in das Studium der Kirchengeschichte Einführung Theologie Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2014 Freiburg: Herder Verlag. 2013 160 Seiten 318 Seiten 17,95 € 24,99 € ISBN 978-3-534-23541-4 ISBN 978-3-451-30636-5 Eine etwas andere Konziliengeschichte legt der Aachener Kirchenhistoriker Bernward Schmidt vor. Er kommt aus den Münsteraner Sonderforschungsbereichen und Exzellenzinitiativen, die sich seit Jahren mit der Bedeutung symbolischer Kommunikation beschäftigen. Deshalb nimmt die Ereignisgeschichte der Konzilien auch nur einen Teil seiner Ausführungen ein. Schmidt interessiert sich für die Formen, unter denen Entscheidungen gefällt wurden, die Geschäftsordnungen und die Sitzordnung, für die Zeremonien und die (Selbst-)Darstellungen der Protagonisten. Dabei erzählt Schmidt nicht nur eine Geschichte des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, sondern weist auf, welche Bedeutung Stilfragen bis zum Zweiten Vatikanum hatten. Mit diesem Konzil ist der Endpunkt seiner Untersuchungen erreicht, die mit dem Konzil von Pisa (1409) einsetzen. Durch das Abendländische Schisma war das Ansehen des Papsttums auf einem Tiefpunkt angelangt. Theorien wurden entwickelt, die entweder den päpstlichen Primat überhöhten oder kritisierten. Drei Päpste waren nicht zum Rücktritt bereit. In ausweglos scheinender Situation übernahm König Sigismund die Initiative. Auf dem Konzil von Konstanz (1414-1418) wurde der Konsens wiederhergestellt. Die weiteren Konzilien des 15. Jahrhunderts mussten sich mit der Theorie des Konziliarismus auseinandersetzen – Kirche als Demokratie oder Monarchie? Das Fünfte Laterankonzil, einberufen zur Versöhnung der Kardinäle des Pisaner „Conciliabulums“ und zum Ausgleich mit Frankreich, ist für den Autor Höhepunkt und Exempel der symbolischen Ausdrucksform eines Papstkonzils. Der Papst thront über dem Konzil, neben ihm Kaiser und Könige. Die Überordnung des Papstes war in Zeremoniell, Liturgie und Raum deutlich zum Ausdruck gebracht. Zudem hatte der Papst in den Kardinälen und den Kurienbehörden Personen, die seinen Hofstaat bildeten. Gegenüber der Bestreitung des Papsttums durch die Reformatoren setzte Rom auf Repräsentation und Inszenierung statt auf strukturelle Reformen. Das Konzil von Trient bildete in dieser Hinsicht noch einmal eine Zwischenphase ab, insofern kein Papst direkt daran beteiligt war, sondern nur über Legaten einwirkte. Die Stärkung der bischöflichen Position führte nach Trient zur Bestreitung päpstlicher Ansprüche durch Gallikanismus und Jansenismus, Episkopalismus und Staatskirchentum. Doch im 19. Jahrhundert setzte sich die päpstliche Monarchie endgültig durch. In Frontstellung zur Moderne, besonders zu den Ideen der Französischen Revolution, war der Ultramontanismus die Antwort auf die Herausforderungen der Moderne, deren Instrumente zwar übernommen, aber gegenläufig eingesetzt wurden. Höhepunkt der päpstlichen Monarchie sind die beiden Definitionen des Ersten Vatikanums von der Unfehlbarkeit des Papstes und seinem Jurisdiktionsprimat. Auch wenn im 20. Jahrhundert alternative ekklesiologische Bilder wie das vom Leib Christi auftauchten, änderte sich im Zweiten Vatikanum an der grundsätzlichen Überordnung des Papsttums über die Kirche nichts. Doch wie das genaue Zusammenspiel von Kirchenleitung und Gläubigen, von Papst- und Bischofsamt, von monarchischen und kollegialen Strukturen aussehen kann, wird bis heute unterschiedlich gesehen und interpretiert. Man kann Bernward Schmidt deshalb nur zustimmen, wenn er eine Zukunftsoffenheit für die Konkretisierung einer monarchischen Ekklesiologie sieht und erhofft. Joachim Schmiedl 16 Die Umstellung der Studiengänge auf das Bachelor-Master-System hat auch in der Theologie eine Flut schmaler und leicht handhabbarer Einführungswerke hervorgebracht. Die Herausforderung für ihre Autoren besteht darin, angesichts eines zur Ausbildung mutierten Studiums ihre Leser an anspruchsvolles wissenschaftliches Arbeiten heranzuführen, ohne sie zu überfordern und abzuschrecken. Die Herausforderung für eine Einführung in das Studium der Kirchengeschichte besteht zudem darin, mehr als nur einen Überblick über die einzelnen Epochen zu bieten. Dies, so darf vorausgeschickt werden, gelingt dem vorliegenden Werk in Aufbau und Themenauswahl überzeugend. Es gliedert sich in sieben inhaltliche Kapitel und einige Übersichten, wobei zunächst die Disziplin charakterisiert und Fragen nach ihrem Ort im Konzert der Wissenschaften aufgeworfen werden (Kap. I und II), bevor die Einteilung in Epochen thematisiert (Kap. III) und in dem mit gut 50 Seiten längsten Teil des Buches ein grober Abriss der Kirchengeschichte in Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne gegeben wird (Kap. IV). Der Weg von der Fragestellung über die Quellen zur eigenen Darstellung wird in den folgenden beiden Kapiteln nachvollziehbar: Die Autoren stellen verschiedene Teilgebiete der Kirchengeschichte (Dogmen-, Ordens-, Konzilien-, Missionsgeschichte etc.) in knapper Form vor (Kap. V) und bieten einen Abriss der Quellenkunde und eine allgemeine Anleitung zum Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit (Kap. VI). Das letzte inhaltliche Kapitel präsentiert schließlich kirchenhistorische Themen in den Lehrplänen der Sekundarstufe I und bietet eine Auswahl an Beispieltexten für den Unterricht zur Reformationsgeschichte. 17 Hinsichtlich seines Aufbau und der Themenauswahl könnte das vorliegende Werk durchaus die Grundlage für eine einschlägige universitäre Lehrveranstaltung bieten. Doch bedauerlicherweise haben die Autoren auf etliche Details zu wenig Sorgfalt verwandt, so dass sich das Werk teilweise nicht auf der Höhe des aktuellen Diskurses befindet. Dies sei an einigen Beispielen illustriert: Die Verortung der Kirchengeschichte zwischen Theologie und Geschichte bleibt vor allem mit Blick auf den Diskurs der katholischen Kirchengeschichte der letzten 50 Jahre unterkomplex, einschlägige Ansätze (Klaus Schatz, Hubert Wolf, Andreas Holzem u.a.) werden nicht berücksichtigt. Den Verfassern gelingt es daher in der Konsequenz nicht zu begründen, warum Kirchengeschichte eine theologische Disziplin sein soll und nicht an historischen Seminaren gelehrt wird. Manche Formulierungen transportieren überholte Geschichtsbilder: Konstantin erließ kein „Toleranzedikt“, man spricht besser von der Mailänder Vereinbarung; in der mittelalterlichen Geschichte sollte man mit dem Staatsbegriff vorsichtiger umgehen, da es keinen Staat im modernen Sinne gab; dies gilt noch mehr für „Staatskirche“ – einen Begriff für das 18./19. Jh.; im Jahr 1517 zerbricht nicht die Einheit der westlichen Kirche; Karl der Große „erneuerte“ nicht das antike Kaisertum; eine Opposition zwischen historisch-kritischer Methode und Apologetik zu behaupten, geht an neueren Forschungserkenntnissen komplett vorbei; der „Dictatus papae“ von 1075 war ein internes Arbeitspapier ohne große Breitenwirkung, sollte also nicht zu hoch eingeschätzt werden; die Französische Revolution war nicht „Höhepunkt und Abschluss der Aufklärung“. Auch wenn die knappe Darstellung zu Kürze und Verkürzung zwingt, ist lobenswert, dass die Verfasser der Kirchengeschichte der DDR viel Raum geben. Dafür fehlt manches, was für das Verständnis nötig wäre: für das Spätmittelalter etwa die intensive Frömmigkeit als Voraussetzung für die Reformationszeit (56); für die Frühe Neuzeit lutherische Orthodoxie und Pietismus; für das 20. Jahrhundert fehlen das Zweite Vatikanische Konzil und seine Rezeptionsgeschichte völlig; die Dogmengeschichte wird aus evangelischer Sicht präsentiert, ohne Rücksicht auf die erheblichen Probleme in der katholischen Theologie (v.a. in der Modernismuskrise). Der Band wendet sich explizit an Studierende und an „Praktiker in Kirche und Schule“. Für diese Zielgruppe fallen die genannten Defizite scheinbar kaum ins Gewicht. Doch werden auf diese Weise Geschichtsbilder evoziert und perpetuiert, die von der Forschung nicht gedeckt sind. Der „Einführung“ muss also in jedem Fall weitere Lektüre aktueller Literatur folgen. Bernward Schmidt 18 Kunst 20 Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion // 22 Der Gott der Maler und Bildhauer. Die Inkarnation des Unsichtbaren // 24 Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „ChristusTrilogie“ bis „SUNRISE. Das Buch Joseph“ // 26 Die Fülle des Lebens. Zeichnungen im neuen Gotteslob Erich Garhammer (Hg.) Literatur im Fluss Brücken zwischen Poesie und Religion Regensburg: Pustet Verlag. 2014 176 Seiten 12,00 € ISBN 978-3-7917-2575-8 Regensburg ist eine Stadt am Fluss und reich an Brücken. Flüsse und Brücken sind topografische Orte und zugleich Metaphern, die für Austausch und Kommunikation unter Menschen vielfältig einsetzbar sind. „Mit Christus Brücken bauen“ lautete das Motto des Regensburger Katholikentages 2014. Anlässlich dieses Treffens haben der Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer und seine Mitarbeiter Texte zeitgenössischer Autoren erbeten und zu einer Anthologie zusammengestellt, die um die Themen Fluss und Brücke kreisen und zugleich eine Beziehung zu Religion oder Transzendenz eröffnen. Programmatisch heißt es im Vorwort: „Im Fluss der Zeit gibt sie (sc. die Literatur) dem flüchtigen Leben eine sprachliche Gestalt; sie beschreibt, sie erzählt, sie formt, sie entreißt mit ihrer Angel dem Meer der Zeit eine Beobachtung, eine Notiz, sie webt ein Textum, ein Netz, in dem sich Wirklichkeit verfängt. Solch festgehaltene Wirklichkeit ist nicht endgültig und irreversibel, sonst wäre sie tot. Insofern ist Literatur im Fluss, sie schlägt Brücken zwischen Flüchtigem und Bleibenden.“ Die hier versammelten „Brückentexte“ sind sehr unterschiedlicher literarischer Art und Herkunft: autobiografische Skizzen (Hugo Loetscher, Hanns-Josef Ortheil), Essays über die Kunst des Übersetzens (Ulrike Draesner) und über Wege in die Welt von Jean Paul (Petra Morsbach), die Erzählung „Die Reise des Erzengels Michael auf der Donau“ (Sibylle Lewitscharoff), Kommentare zum eigenen Werk (Patrick Roth, Thomas Hürlimann), die Übertragung des Psalms 90 (Arnold Stadler), zeitgenössische islamische Mystik in Form freier Rhythmen (SAID) sowie lyrische Gedichte von Reiner Kunze und Harald Grill. Den jeweiligen Texten sind Porträts der Autoren mit kurzen Einführungen in ihr literarisches Schaffen angefügt, wobei es den Verfassern „in literarisch-theologischer Absicht“ immer auch um die religiöse Dimension im Werk des Autors geht. 20 Dieser bleibt gelegentlich äußerlich oder wird dem Leser nicht hinreichend erschlossen (Jan Skácel / Reiner Kunze: Dank und Harald Grill: schönsee). Andere Beiträge überraschen den an der modernen Exegese geschulten Theologen, weil sie Glaubensgeheimnisse des Christentums in unerwartet direkter Weise neu vergegenwärtigen. Dies trifft vor allem für Patrick Roth zu, dem die Bibel zur Inspirationsquelle seiner Jesusbücher wird, aber auch für Sibylle Lewitscharoff, bei der das Wunder als Brücke zum Jenseits neue Aktualität gewinnt. Rüdiger Kaldewey Die Autorenporträts sind durchweg gelungen und für den Nicht-Fachmann gut lesbar. Die Verfasser zeigen sich mit dem Werk ihrer Referenzautoren vertraut, scheinen – das gilt für die Porträts Reiner Kunzes von Erich Garhammer und Harald Grills von Werner Schrüfer – sogar mit ihnen befreundet zu sein und interpretieren methodisch fachgerecht, ohne theologisch zu vereinnahmen. Auf diese Weise wird der Leser mit einer Reihe anspruchsvoller Autoren bekannt, die nicht im Mittelpunkt der öffentlichen literarischen Diskussion stehen, die kennen zu lernen und zu lesen sich für den literarisch-theologisch interessierten Leser aber lohnen dürfte. Einer Crux bei solchen zu einem bestimmten Anlass und zu einem Thema zusammengestellten Anthologien entgeht auch diese Textzusammenstellung nicht. Der Herausgeber ist auf solches Material angewiesen, das ihm die eingeladenen Autoren liefern. Deshalb sind die Primärtexte sehr heterogen. Das betrifft nicht nur die Textgattungen, sondern auch den Reflexionsgrad, das Anspruchsniveau und den Bezug zum Thema des Bandes „Brücken zwischen Religion und Poesie“. 21 François Bœspflug Der Gott der Maler und Bildhauer Die Inkarnation des Unsichtbaren Aus dem Französischen übersetzt von Annett Röper-Steinhauer ISBN 978-3-451-34149-6 Gottvater als Greis „zu einem Allgemeinplatz“, was, so die Vermutung des Verfassers, damit zusammenhängen könnte, dass alte Menschen besser als junge die Pest seit Mitte des 14. Jahrhunderts überlebten – und das Alter zum „Emblem für die Ewigkeit“ firmierte. Durch Abweichungen von der lange gültigen Regel des Christomorphismus entstanden freilich allzu anthropomorphe Darstellungen Gottes, die „zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des Gottesgedankens in Europa“ beigetragen haben könnten. Die bildtheologische Frage nach der „Inkarnation des Unsichtbaren“ steht im Zentrum von François Bœspflugs jüngstem Buch. Es beruht auf Vorlesungen, die er 2013 in Regensburg gehalten hat. Der Autor, Professor für Religionsgeschichte an der Universität Straßburg, ist ein ausgewiesener Kenner christlicher Kunst und ihrer Ikonographie. Die Bibel sagt nichts über das Aussehen Jesu, der Christomorphismus lässt es offen. Ohne lehramtliche Rückendeckung füllen Künstler diese visuelle Leerstelle aus, indem sie den menschgewordenen Gott als „schön“ und Verkörperung „aller Eigenschaften eines idealen Menschentums“ darstellen. Mit dieser ikonographischen Tradition bricht erst das 19. Jahrhundert. Freiburg: Herder Verlag. 2013 248 Seiten mit 31 Nachzeichnungen von Ines Baumgarth-Dohmen 29,99 € Für das Verhältnis von Theologie und bildender Kunst gilt ganz allgemein, dass für das Wort das Nacheinander des Erzählten, für das Bild das Simultane des Gemalten charakteristisch sind. Das diskursive Denken der Theologie und das figurative Denken der Künstler funktionieren nicht auf dieselbe Weise. Schon deshalb sind Bildwerke keine Illustrationen biblischer Perikopen oder christlicher Lehraussagen, sondern immer schon eigenständige Interpretationen. In seinem „Essay“ nun gilt das besondere Interesse des Autors solchen Bilderfindungen, die nicht mit dem Credo kongruent sind und in gelungenen Fällen die Theologie zum Nachdenken anregen und um neue Problemstellungen bereichern können. Bœspflug geht von einem menschlichen Bedürfnis nach einer Veranschaulichung des Göttlichen aus. Anders als im Judentum und im Islam kommt das Christentum diesem Bedürfnis mit seinem Bekenntnis, dass der unsichtbare Gott sich selbst in der historischen Person Jesus von Nazareth geoffenbart und so sichtbar gemacht hat, entgegen. Daher ist es nur konsequent, wenn der Verfasser seine vielen Bildbetrachtungen am narrativen Leitfaden des Lebens des Gottessohnes von der Inkarnation bis zu seiner Wiederkehr als endzeitlicher Richter orientiert – ist Jesus Christus doch „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). 22 Untersuchungsgegenstand sind Bildwerke seit der Entstehung der christlichen Kunst im 3. Jahrhundert bis ins späte Mittelalter. Hinweise auf später entstandene Kunstwerke und solche der modernen Kunst bilden eher die Ausnahme. Insbesondere die Buchmalerei erweist sich als ein Ort bildtheologischer Innovationen. Hinsichtlich der christlichen Gottesvorstellung macht Bœspflug die nirgends schriftlich niedergelegte, dennoch gut belegte und vom 3. bis zum 13. Jahrhundert befolgte Regel des Christomorphismus aus, die darin besteht, „sich an das Bild des menschgewordenen Gottes zu halten“. Ihr folgen bspw. die Darstellungen der Maiestas Domini in romanischen Kirchen. Hier lässt sich beobachten, dass der Gott der Künstler ein Gott ist, der die Gläubigen mit seinen Augen anblickt. Durch die nummerische Differenzierung zwischen Gottvater, Gottes Sohn und Gottgeist sowie die Altersdifferenzierung zwischen Vater und Sohn wurden die kühnen Neuerungen bei der Darstellung der Trinität seit Ende des 11. Jahrhunderts möglich. Ab dem 16. Jahrhundert wird die Darstellung von Grundlegend für das Christentum ist die theologische Vorstellung der Inkarnation. Um solche Glaubenswahrheiten zu verbildlichen, haben Künstler, angeregt von Autoren der Mystik und Andachtsliteratur, verschiedene Szenarien entwickelt. Die wohl bekannteste findet sich auf einer Ikone von A. Rubljow, in welcher die Beratung der Trinität über die Inkarnation Christi zur Rettung der Menschheit dargestellt ist. Andere Bilder zeigen den Aufbruch des Sohnes, die Aussendung Gabriels zu Maria oder die Eingebung der Seele Christi in den Leib Marias. Die Variante der zuletzt genannten Darstellung, welche die kreuztragende Seele Jesu ins Bild setzt, kritisierten Theologen wegen der Gefahr des Doketismus. Sie wurde auf dem Konzil von Florenz 1439 zwar verurteilt, später dennoch wieder aufgegriffen. Ein weiteres Verbot bezog sich auf die Darstellung des Hl. Geistes als junger Mann. Diese auf Visionen der Kreszentia von Kaufbeuren fußende Darstellung wurde 1745 verboten. Insgesamt jedoch, so Bœspflugs Resümee, waren „Affären um Bilder“ äußerst selten, was damit zusammenhängt, dass „der religiösen Kunst in den Augen der Theologen im Grunde keine große Bedeutung“ zukommt und sie gerade deshalb künstlerische Freiheit besaß. So wurde bspw. eine seit dem 13. Jahrhundert verbreitete Bilderfindung ohne biblische Referenz, die den auferstandenen Christus beim Verlassen des Grabes zeigt, nicht verboten, obwohl sie das Missverständnis von Auferstehung als Wiederbelebung eines Leichnams nahelegt. Eine bildtheologisch erstrangige Erfindung ist das seit dem späten 14. Jahrhundert beliebte Motiv der Not Gottes; es zeigt Gottvater, der den Leib des vom Kreuz abgenommenen Christus an sich drückt. Ein besonders schönes Beispiel ist im Städel Museum zu sehen, eine Grisaille-Malerei des Meisters von Flémalle. Da beim Frankfurter Gemälde noch die Taube des Hl. Geistes hinzukommt, handelt es sich um eines der seltenen Beispiele für ein Leiden der Trinität. Hier wird deutlich, dass sich die christliche Kunst keineswegs damit begnügt, die Magd der Theologie zu sein, sondern ausgesparte Züge eines Gottesverständnisses zum Ausdruck bringen kann, die in diesem Fall erst die Theologie des 20. Jahrhunderts explizit thematisiert hat. Das kenntnis- und erkenntnisreiche Buch von François Bœspflug wird von einem performativen Widerspruch durchzogen. Die Werke, die beschrieben und gedeutet werden, sind zumeist Bilder, häufig Miniaturen, deren Farbigkeit das Auge des Betrachters entzückt. Der Leser indes bekommt entweder gar nichts zu sehen – oder 31 schwarz-weiße Nachzeichnungen. Im Anhang werden Hinweise auf 22 Bildwerke, manche mit Internetadresse, gegeben. Wie kann so erlebbar werden, was der Autor christlicher Kunst zutraut, nämlich „das Credo glaubhaft und liebenswert zu machen… Gott für all jene erträglicher zu machen, die nicht Heilige und nicht Theologen sind: für die breite Masse“? Thomas Menges 23 Michaela Kopp-Marx / Georg Langenhorst (Hg.) Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth Von der „Christus-Trilogie“ bis „SUNRISE. Das Buch Joseph“ Göttingen: Wallstein Verlag. 2014 384 Seiten 39,90 € ISBN 978-3-8353-1452-8 Ein Sammelband präsentiert anregende Kommentare zum Werk von Patrick Roth. Der Schriftsteller ist 1953 in Freiburg im Breisgau geboren und hat 27 prägende Jahre seines Lebens in der FilmMetropole Los Angeles verbracht. Die Novellen seiner „Christus-Trilogie“ (seit Anfang der 1990er) erscheinen zu einer Zeit, da noch nicht allerorts devote Dichter und Geisteswissenschaftler die Wiederkehr der Religion durch den Kanon lärmten; sein Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ (2012) verschiebt den Akzent des klassischen Jesus-Romans und erweitert den biblischen Stoff. Roths Erzählweise ist von einer Nähe zum Film sowie dem Duktus der Klassischen Moderne geprägt – „[…] eine Ästhetik“, schreibt Michael Braun in seinem Kommentar, „die den Riss deutlich macht, der die erkennbare von der unerkennbaren Welt trennt, und diesen Riss zugleich als ‚transzendenten Überstieg‘, als spirituelle Bindung zeigt, als Religion im Wortsinn.“ Sonnenaufgang – im Gegensatz zum Sonnenuntergang bei Bert Brecht – „ist die ästhetische Grundformel und die anthropologische Grundlage für Patrick Roths postbiblisches Erzählen.“ Kurzum: Patrick Roth scheint öfters den Rechen durch die Zen-Gärten Kaliforniens gezogen zu haben, denn sein Umgang mit biblischem Stoff ist so überaus unbeeindruckt von jenem spießig-verhuschten Symbolismus, dem man sonst bei vielen Literaten begegnet. 24 Michaela Kopp-Marx (Universität Heidelberg) und Georg Langenhorst (Universität Augsburg) versammeln unter dem Titel „Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth“ siebzehn vielfältige Beiträge sowie ein Interview mit dem Schriftsteller plus einer gut sortierten Bibliographie. Erfreulich dabei ist vor allem die thematische Spannbreite. Die Herausgeber notieren, dass sie an Roth exemplarisch literarische Strategien und Funktionen mythopoetischer Rede in der Gestaltung von biblischem Material betrachten möchten; dabei reagieren sie auch auf die Ambivalenz des Gottesbildes in zeitgenössischer Literatur. Nirgends hat man das Gefühl, der Autor werde konfessionell oder ideologisch eingenommen. Uwe Schütte beispielsweise schreibt: „Was [Roths] Texte leisten, ist die vielleicht vornehmste Kunst: In der Öffnung der profanen Welt zum Transzendenten hin Trost zu spenden, Mut zuzusprechen und Kraft zu geben. Damit wir die erbärmliche Wahrheit aushalten können, dass all unsere elaborierten Denksysteme, Religionen und Geisteswissenschaften angesichts der entropischen Tendenz aller natürlichen Systeme nur notwehrhafte Konstruktionen und hilflose Versuche sind, die Kontingenz zu verleugnen, indem wir Mythologeme von Sinn, Ordnung und Dauer errichten, weil es mehr als ein Leben vor dem Tode nicht gibt.“ Karl-Josef Kuschel und Georg Langenhorst präsentieren wesentliche Züge der Jesus-Romane im 20. Jahrhundert. Durchgängig findet man ergiebige Vergleiche zu Thomas Manns Josephs-Romanen, zum Film (wenn hier auch ein wenig retro) und der bildenden Kunst. Daniel Weidner zeigt, wie Roth Erzählverfahren der Bibel und Bibelübersetzung durch Buber/Rosenzweig in die Tat umsetzt; und Eckhart Reinmuth stellt denn Stoff des Josephs-Romans in den Kontext apokrypher Kindheitsevangelien vor, wie z.B. die koptische Erzählung „Geschichte von Joseph, dem Zimmermann“, die wohl um 400 n.Chr. entstand. Interessant ist, dass Reinmuth bei aller textkritischer Sorgfalt doch sagen kann: „Die Gotteserfahrung der Protagonisten [in Roths ‚Sunrise‘] wird weder in den Bereich des Psychischen ausgelagert noch auf andere Weise rationalisiert. Sie findet in der Profanität und Trivialität der Welt der Handelnden, ihres Lebens und ihrer Geschichte statt. Hier ist, gerade auch dann, wenn der Name Gottes nicht fällt, der Ort seiner Präsenz, die Erfahrungen seiner Gegenwart“. Andere Autoren kommen zu anderen Schlüssen; diese tolle Vielfalt an Lesarten charakterisiert das gesamte Projekt. Braun hebt auch das spezifisch gelagerte interfigurale Beziehungsnetz in „Sunrise“ hervor, das durch den Fokus auf die Josephs-Figur entsteht, und gelangt so u.a. zu einem Bild der Familie, welches eine Korrektur der einseitigen marianischen Monopolisierung des Stoffs darstellt. Unbeschadet solcher Defekte jedoch ist an dem Band hübsch, dass die Beiträge relativ voraussetzungsfrei gelesen werden können: Literaturhistorische Daten, theoriespezifischer Jargon und Wissen wie die biblischen Referenztexte lassen die Autoren ausreichend in ihre Argumentation einfließen, um keinen Leser außen vor zu lassen. Überhaupt charakterisiert Klarheit die Essays, die bei aller Ausführlichkeit meist prägnant bleiben. Abschließend möchte ich noch auf das Interview, das Rita Anna Tüpper mit dem Schriftsteller führte, hinweisen. Es lässt sich in mehrfacher Hinsicht als short cut zu seiner Poetik lesen. Tüpper stellt zunächst Fragen hinsichtlich Roths Verhältnis zum Filmemachen; dabei thematisiert jener in seiner Antwort die anders gelagerte individuelle Arbeit des Schriftstellers im Hinblick auf die kollektive Produktion eines Films, um dann festzustellen: „Die ästhetische Dimension des Textes oder Films muss – meiner Meinung nach – zunächst einmal ‚dienen‘, das heißt, sie muss die aufmerksamste Entsprechung zum Inhalt anstreben. Und dann, letztlich, muss diese ästhetische Dimension durchbrochen werden. Auf ein Anderes, uns Übersteigendes hin. Dieses Andere, dieses Erlebnis des Anderen, ist dann auch verpflichtend – ethisch verpflichtend.“ Christopher Paul Campbell Etwas ermüdend allerdings sind gelegentlich die Sentimentalität, die an den Texten klebt, sowie die verträumte Rezeptionsbehäbigkeit. Bei manchen Autoren nervt die Auto-Immunisierung gegen die „ausgemachte Peinlichkeit“, die religiöse Literatur alter Manier erweckt hätte, nur um erleichtert feststellen zu können, dass Roth nun ja gar nicht, also keineswegs mit Luise Rinser und Elisabeth Langgässer zu verwechseln sei. Da möchte man den von „Peinlichkeit“ tangierten Kommentatoren zurufen: Seien Sie doch nicht so verschämt! Locker bleiben: Ist doch in Wahrheit nur erfunden! 25 Monika Bartholomé Die Fülle des Lebens Zeichnungen im neuen Gotteslob Münster: Verlag der Akademie Franz Hitze Haus. 2013 71 Seiten m. s-w Abb. 7,50 € ISBN 978-3-930322-62-6 Katholische Kirche und Pracht der Bilder sind wie zwei Seiten einer Medaille. Doch im Gotteslob von 1975 gab es keine Bilder, die womöglich vom Beten und vom Singen hätten ablenken können. Umso bemerkenswerter ist die Entscheidung der Kommission der deutschen Bischofskonferenz unter Leitung des Würzburger Bischofs Dr. Friedhelm Hofmann, neben zwei Farbbildern 19 Zeichnungen in den Hauptteil zu integrieren. Sie treten als eigenständiges, sich in keiner Weise hervordrängendes Medium zwischen die Texte und die Noten. Den außergewöhnlichen Auftrag, für ein Buch mit einer Startauflage von ca. 4 Millionen Exemplaren Kunstwerke zu gestalten, bekam die 1950 geborene Zeichnerin Monika Bartholomé. Aus über 600 Zeichnungen kamen ca. 120 in die nähere Auswahl; daraus wurden die Bilder für das am ersten Advent 2013 eingeführte neue Gotteslob bestimmt. Auf weißes Papier sind mit dem Bleistift oder dem Pinsel wenige Linien gesetzt, die Bewegung, aber auch Ruhe evozieren. Die Zeichnungen sind keine Illustrationen; es fehlt der Bezug auf die bekannte christliche Ikonografie. In ihrer Uneindeutigkeit und Offenheit treffen die „kleinen linearen Kunstwerke“ (Bischof Hofmann) auf einen Betrachter, der sie erst lebendig werden lässt. Dazu schreibt die Künstlerin: „Das Zeichnen ist Zwiesprache, zwischen dem was entsteht, was sich zeigt und dem möglichen Betrachter. Zeichnen ist kommunizieren.“ Philosophie / Ethik In eine solche Kommunikation kann schon das elegante Signet auf dem vorderen Bucheinband der Kirchenausgabe führen. Es besteht aus drei geschwungenen Linien – auf der ursprünglichen Zeichnung sind es drei getuschte Pinselstriche –, die zu Deutungen anregen: ein Beter mit gehobenen Armen; ein Kruzifix; eine dynamische Bewegung von „unten“, die eine Antwort „oben“ erfährt… Schade nur, dass dieses Signet sich nicht auch auf den Standardausgaben des Gotteslobes befindet! Wer sich intensiver mit den Zeichnungen im neuen Gotteslob und ihrer Gestalterin befassen möchte, dem sei der kleine Katalog des Franz Hitze Hauses empfohlen, der außer den Kunstwerken u.a. ein Gespräch mit Monika Bartholomé enthält. Damit ist die Diskussion über die Kunstwerke im neuen Gotteslob eröffnet. Thomas Menges 26 28 Zukünftige Personen. Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation // 30 Alles // 32 Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben // 34 Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe // 36 Das Andere des Begriffs. Hermann Schrödters Sprachlogik und die Folgen für die Religion Anja Karnein Zukünftige Personen Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Heilbronn Berlin: Suhrkamp Verlag. 2013 270 Seiten 15,00 € ISBN 978-3-518-29586-1 Die In-vitro-Technologien radikalisieren die ohnehin heftige Kontroverse über das ungeborene menschliche Leben auf den pränidativen menschlichen Embryo hin: Erstens ist mit Blick auf die embryonale Stammzellforschung ganz grundsätzlich zu fragen, ob wir auch schon pränidative menschliche Embryonen als Personen ansehen müssen, die wir nicht zerstören dürfen, und zweitens stellt sich im reproduktionsmedizinischen Kontext die Frage, ob wir solche pränidative menschliche Embryonen, die für den Transfer in einen Uterus vorgesehen sind, genetisch bzw. biotechnologisch manipulieren dürfen, und wenn ja, nach welchen Kriterien? Diese beiden Fragen gliedern den Versuch der USamerikanischen Politikwissenschaftlerin und Philosophin Anja Karnein, eine die Forschung und Reproduktionsmedizin umfassende ethische Theorie des ungeborenen menschlichen Lebens vorzulegen. Sie beabsichtigt ferner, zwei nationalen Diskursen über den menschlichen Lebensbeginn zu begegnen, der deutschen und der US-amerikanischen. Während sie der Legislative und Exekutive in Deutschland die viel zitierten Wertungswidersprüche zwischen einer de facto liberalen Abtreibungspraxis hinsichtlich des postnidativen Embryo in vivo und restriktiven Forschungsvorschriften bezüglich des pränidativen Embryo in vitro vorwirft, kritisiert sie an den amerikanischen pro-choice-Vertretern, d.h. den Befürwortern einer liberalen Abtreibungspolitik, nicht über eine konsistente Theorie des moralischen Wertes früher menschlicher Embryonen zu verfügen, so dass die Gefahr bestehe, Embryonen, die zu Personen werden, sogar im reproduktions- 28 medizinischen Kontext vollkommen schutzlos zu lassen. Da es aber für geborene Personen durchaus relevant sei zu erfahren, was mit dem Embryo geschah, aus dem sie sich entwickelt haben – so die Grundthese der Autorin – könne dieser blinde Fleck in der liberalen US-amerikanischen Abtreibungsdebatte nicht hingenommen werden. Genau dafür entwickelt Karnein ihr „Prinzip der zukünftigen Personalität“ (PZP), demzufolge wir solche Embryonen, für die noch nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich zu Personen entwickeln, „in Antizipation jener Achtung“ behandeln, „die wir den Personen schulden, zu denen sie sich entwickeln werden“. Damit ist zugleich eine normative Entscheidungsbasis für die im zweiten Teil des Buches behandelte Frage grundgelegt, ob und inwieweit pränidative Embryonen manipuliert werden dürfen, für die die Autorin eine diskussionswürdige Kasuistik entwickelt. Unbestritten verdienstvoll ist, dass Karnein den Versuch einer umfassenden Theorie ungeborenen Lebens unternommen hat, denn die In-vitro-Technologien erlauben längst nicht mehr, zwischen den Praxisbereichen wissenschaftlicher Grundlagenforschung einerseits und Reproduktionsmedizin andererseits zu unterscheiden. Das haben nicht zuletzt die Diskussionen über die tatsächlichen oder vermeintlichen Wertungswidersprüche zwischen Embryonen in vivo und in vitro vor Augen geführt. Auch dass Karnein so deutlich unterstreicht, dass der Umgang mit frühen menschlichen Embryonen unbedingte moralische Relevanz besitzt, ist zu begrüßen. Der neuralgische Punkt ihrer Argumentation ist jedoch ihre empiristische Personentheorie, die bestimmten Stadien des Menschseins den Personenstatus vorenthält. Wenn die Philosophin zunächst „all diejenigen Wesen […], die zu moralischem Handeln imstande sind“, zu Personen erklärt, um dann „sekundär“ auch jene Wesen einzuschließen, „die vertraute Teile unserer sozialen Welt und menschlicher Abstammung sind“, obwohl sie über diese Fähigkeit empirisch nachweisbar nicht verfügen, ungeborenen Menschen aber den moralischen Personenstatus vorenthält, weil sie „auf die Entwicklung im Körper einer Frau angewiesen sind“, wird die Brüchigkeit ihrer Persontheorie offenbar, die einerseits einen humanistischen Standard und zugleich eine liberale Abtreibungspolitik gesellschaftspolitisch sichern will. Beide Anliegen mögen politisch legitim und moralisch wünschenswert sein, aber sie sind ethisch nicht gut begründet. Wenn Karnein dann auch noch für die Möglichkeit einer Adoption überzähliger Embryonen „vielleicht sogar gegen den Willen der biologischen Eltern“ plädiert, zeigt sich vollends die Inkonsistenz einer Argumentation, die den Personenstatus früher menschlicher Embryonen vom Anerkennungswillen einer Frau abhängig machen will. Immerhin unterläuft die Autorin um des offensichtlich hohen moralischen Gutes der Entwicklungsförderung früher menschlicher Embryonen willen das Eigentumsrecht der biologischen Eltern an ihren Körpersubstanzen. Das lesenswerte Buch von Anja Karnein zeigt, dass die ethische Debatte über den menschlichen Lebensbeginn noch deutlicher differenzieren muss zwischen individual- und sozialethischen Argumentationen sowie zwischen moralischen Forderungen und rechtlich erzwingbaren Ansprüchen. Heike Baranzke 29 Janne Teller Alles München: Hanser Verlag. 2013 144 Seiten 12,90 € ISBN 978-3-446-24317-0 Nach ihrem umstrittenen, aufwühlenden Jugendroman „Nichts, was im Leben wichtig ist“ erschien 2013 ein Band mit Kurzgeschichten der dänischen Autorin Janne Teller unter dem Titel: „Alles, worum es geht“. Es handelt sich um sieben Kurzgeschichten, in deren Zentrum zumeist junge Menschen stehen, die in existentiell entscheidenden Momenten dargestellt sind. Immer geht es um Situationen oder folgenschwere Entscheidungen, die an das Innerste des Menschen rühren, sein Wesen offenlegen und seine Existenz bestimmen. Dabei wird der Leser mit verstörenden Eindrücken konfrontiert, denn zumeist geht es hier um die Frage, wie es im Leben der Protagonisten zum Ausbruch von Gewalt, zu Diskriminierung, Mobbing kommt, wie ein Opfer zum Täter wird …, kurz: wo liegen die Ursachen des Bösen? Alle Geschichten wirken düster und in einer eindrucksvollen, messerscharfen, schnörkellosen Sprache von Beginn an Unheil verkündend und ziehen den Leser gerade deshalb in ihren Bann. In der ersten Kurzgeschichte „Warum?“ ist es ein jugendlicher Gewalttäter, der scheinbar sinnlos einen Migranten lebensgefährlich verletzt hat. Im beklemmenden Dialog mit einer Sozialarbeiterin benennt diese gesellschaftliche und familiäre Hintergründe bei der Suche nach Gründen für die Tat, aber der Jugendliche selbst bemerkt zu der Frage im Titel nur lakonisch: „Alles ist möglich.“ Damit hinterlässt er das ungute Gefühl, dass letztlich jeder zum Täter werden kann – ohne tragfähige Erklärung. In der zweiten Kurzgeschichte „Sich so in den Hüften wiegend…“, in der das Problem der Integration und Toleranz fremder Kulturen angesprochen ist, verwischen die Grenzen zwischen Täter- und OpferSein. Der zunächst in Leserbriefen des Ich geäußerte unverhohlene Rassismus findet Zuspruch und eskaliert, bis sich schließlich die Intoleranz umkehrt und das Ich sich selbst bedroht fühlen muss. 30 In „Gelbes Licht“ treibt die durch Medienberichte hervorgerufene Angst vor Entrechtung und Prostitution einen mit zu viel Verantwortung überlasteten Jugendlichen zu einer Verzweiflungsaktion, die ihn und seine Geschwister aber gerade in diese Gefahren hineinzuführen droht. Am Ende steht in aller Ausweglosigkeit der geflüsterte Hilferuf des Jungen, der weder genügend Vertrauen zu Freunden noch Eltern hatte: „Lieber Gott, … Kommst du?“ Auch die dritte Geschichte „Der türkische Teppich“ erzählt von der Begegnung zweier fremder Kulturen. In einer Atmosphäre, die von Anfang an „knisternd“ erscheint, wo die Beziehungen von zwei Männern aus unterschiedlichen Kulturen – Tourist und türkischer Teppichhändler – und die zwischen Vater und Tochter offenbar auf dünnem Eis stehen, führen Ignoranz und Überheblichkeit letztlich zu (selbst-)zerstörerischer Gewalt, die bleibende Wunden reißt. Es ist die Verletzlichkeit und Einsamkeit kindlicher Seelen, mit denen einige dieser Kurzgeschichten in eindrucksvoller Weise konfrontieren. Diese korrespondiert mit deren Sprachlosigkeit: Wo keinem Erwachsenen und keinem Gleichaltrigen (bedingungsloses) Vertrauen entgegengebracht wird, wo Fragen und Ängste nicht kommuniziert werden, kommt es zu einer unabwendbaren Eskalation der Geschehnisse, die den Leser zum rat- und hilflosen Beobachter machen. Der Todeskandidat in der amerikanischen Gefängniszelle konfrontiert angesichts seiner Hinrichtung mit der Feststellung: „Es gibt Momente, da darf man töten.“ Eine Verkettung unglücklicher Umstände, die in dem Monolog mosaikartig zusammengetragen werden, und berechtigte Wut haben ihn aus seiner Perspektive zum Mörder gemacht. Selbst ein Opfer, wurde er zum Täter und ist nun wieder Opfer der Justiz, denn schließlich wird er in ihrem Namen selbst getötet. Wie in allen Geschichten ist die Sprache weder belehrend noch wertend, sondern präzise. Im Moment der tiefsten Demütigung durch seine Mitschüler wird ein ausgegrenztes Mädchen in „Die Vögel, die Blumen, die Bäume“ vom Opfer zum Täter. Die Einsamkeit und Ausgrenzung eines geistig behinderten Jungen münden in „Lollipops“ auf tragische Weise genau in dem Moment in eine Katastrophe, als er vermeintlich eine Freundschaft geschlossen hat und diese mit allen Mitteln zu verteidigen sucht. In ihrem abschließenden Essay thematisiert die Autorin den Schreibprozess selbst – dieser kann also als Schlüssel zum Verständnis ihrer Texte gedeutet werden. Die Autorin deutet „Alles“ als die Quelle ihres Schaffens, von der sie gleichsam ergriffen wird. Im Schreiben „hängt Alles zusammen“; in ihrem Nachwort bezeichnet Teller „Alles“ gar als einen „Ort, an dem alles mit allem zusammenhängt, alles einen Sinn ergibt“. Dies bedeutet aber nicht, dass die vorliegenden Kurzgeschichten Antworten auf die aufgeworfenen Fragen bereithalten oder gar einen Sinnhorizont umschreiben. Vielmehr konfrontieren die Geschichten mit existentiellen Ängsten, Wünschen und Fragen, aber: „Nicht auf alle Fragen gibt es Antworten, aber auch die Annäherung, das Fehlen von Antworten, kann zwischen den Zeilen stehen wie eine Frage, die zu ihrer eigenen Antwort geworden ist.“ Ein lesenswertes Buch, das nicht nur junge Leser aufrütteln und zum Nachdenken über ihren persönlichen Sinnentwurf anregen kann. Ute Lonny-Platzbecker 31 Alain de Botton Religion für Atheisten Vom Nutzen der Religion für das Leben Aus dem Englischen übersetzt von Anne Braun Frankfurt: S. Fischer Verlag. 2013 320 Seiten mit s-w Abb. 21,99 € ISBN 978-3-10-046327-2 Religion für Atheisten, das ist nichts wirklich Neues. Allerdings stimmt der Rückblick in die Geschichte nicht sehr hoffnungsfreudig. So hat man z.B. nach der französischen Revolution versucht, einen Kult der Vernunft zu etablieren, der wegen eklatanter Lachhaftigkeit im Sand der Geschichte verlief. Weit anspruchsvoller war Hegels Versuch, das Christentum spekulativ aufzuheben im Rahmen einer die gesamte Kultur umfassenden Synthese. Das giganteske Unternehmen Hegels hielt keine 30 Jahre und die Marxisten, die ebenfalls die Religion ersetzen wollten, haben nichts als Unheil angerichtet. Man wird also skeptisch sein gegenüber einer solchen Religion für Atheisten, da alle früheren Versuche gescheitert sind. Bei Botton fällt auf, dass er sich kaum auf solche älteren Versuche bezieht, sonst wäre dieses Buch vielleicht nicht geschrieben worden. Er rekurriert einzig auf den Gründer des Positivismus, Auguste Comte. Comte entwickelte in seinen späteren Jahren eine atheistische Ersatzreligion, die er den Fürsten Europas empfahl. Ohne Erfolg. Sowohl seine atheistischen als auch seine frommen Zeitgenossen machten sich nur über ihn lustig, so dass er verbittert starb. 32 Botton wagt einen neuen Versuch. Sein Grundgedanke ist: Die Religion hat wesentliche soziale und psychologische Funktionen, die in der aufgeklärten Gesellschaft brachliegen. So vermittelte sie eine allgemeine Moral, die imstande war, die Sittlichkeit der Gesellschaft zu garantieren und die den Menschen daran erinnert, dass letztlich alle gleich sind, arm oder reich, dumm oder intelligent. So etwas fällt heute weitgehend aus. Die Religion spendete Trost in den Wechselfällen des Lebens und sie erlaubte es dem Menschen, seine Schwächen zu zeigen, während wir heute in der Öffentlichkeit beständig den Sieger spielen müssen. Bottons Gesellschaftskritik ist durchaus nachvollziehbar. Anders sieht es mit seinen Lösungen aus. Mir kommt eine Religion ohne Gott so ähnlich vor wie ein Luftballon ohne Luft, ein kraftlos und schlaff herabhängender Gummi, der – wie einstmals bei Comte – bloß noch Gelächter hervorruft, wenn er denn als Ersatz für einen vormals prall gefüllten Ballon ausgegeben wird. Tatsächlich musste ich bei der Lektüre dieses Buches oft schallend lachen, aber immer auf Kosten des Autors. Wie würde nun ein atheistisches Nachfolgeprojekt der christlichen Religion aussehen? Zunächst einmal müsste man menschheitsvereinigende Mahlzeiten in den Restaurants einführen, bei denen der Bettler neben dem Professor sitzen dürfte, nicht ohne eine gewisse Nötigung, so wie man früher zur Kirche gehen musste. Man sollte die Museen in moralische Anstalten verwandeln, nicht mehr gegliedert nach Epochen, sondern nach Tugenden. Ein Stockwerk für die Mäßigung, eines für Tapferkeit, eines für die Nächstenliebe und weil man bei den modernen Künstlern oft nicht mehr den Inhalt errät, müsste man sie fragen, was sie eigentlich gewollt hätten, um sie in den atheistischen Tugendkatalog einzurangieren. Die großen Reklamebildschirme in den Städten sollten ebenfalls umfunktioniert werden zur Tugenddarstellung. Auch müsste man überall atheistische Tempel errichten, in denen Whitman statt Jeremias, Schiller statt Matthäus zitiert würde. Statt der Heiligen würde man Gutenberg und Einstein verehren, statt Weihnachen und Ostern würde man die sterbende und wiedererwachende Natur feiern. Stratford-upon-Avon und Weimar würden zu Wallfahrtsorten. Der leidende Mensch würde an das Universum verwiesen, angesichts dessen Größe unsere Leiden gering seien. In den Städten würden riesige Videoleinwände installiert, damit man sich angesichts des Kosmos klein fühlen kann. Außerdem brauche man Jammerzirkel, wo die Leidenden gemeinsam ihrem Elend Ausdruck verleihen. Man würde des Weiteren säkulare Kreuzwege einführen. Botton gibt das Beispiel eines alten, inkontinenten Mannes in großen Windeln als zu empfehlendes Objekt einer säkularisierten Kreuzwegersatzstation. Warum wirkt all dies lächerlich oder sogar lästerlich? Weil Botton ein durch und durch funktionalistisches Verständnis von Religion hat, wie schon der Untertitel des Buches signalisiert. Alles ist zu irgendetwas gut und lässt sich deshalb im Sinn multipler Realisierbarkeit durch ein atheistisches Äquivalent ersetzen. Konsequenterweise kommt in diesem Buch das zentrale Prinzip des Christentums, die Gnade, nirgends vor. Das Gute um des Guten willen gibt es hier nicht und deshalb degeneriert selbst die Kunst zur moralförderlichen Propagandaveranstaltung und die Religion erscheint als etwas technisch Machbares. Wir müssten eine neue Religion „erfinden“, heißt es ständig. Ob der Blick in den gestirnten Himmel auch nur mein Zahnweh geringer erscheinen lassen würde, bleibt fraglich, und ob gemeinsames Jammern den Jammer vielleicht nicht noch größer macht, wäre ebenfalls zu fragen. Die Ersatzreligion Auguste Comtes ging als Skurrilität in die Geschichte ein, während Alain de Bottons Ansatz vermutlich überhaupt nur eingehen wird. Hans-Dieter Mutschler 33 Michael Blume Evolution und Gottesfrage Charles Darwin als Theologe Freiburg: Herder Verlag. 2013 176 Seiten 9,99 € ISBN 978-3-451-06582-8 In Blumes ausführlicher Skizze der Rezeptionsgeschichte spart der Autor den desaströsen Wildwuchs des Sozialdarwinismus ebenso wenig aus, wie er die positiven Rezeptionen – so etwa Michael Endes „Jim Knopf“ – in seine Überlegungen einbindet. Roma locuta: Evolution – das ist „mehr als nur eine Hypothese“, so zumindest Papst Johannes Paul II im Jahr 1996. Im öffentlichen Diskurs kommt das päpstliche Diktum allerdings gar nicht an. Wenn es um Darwin und die Evolutionstheorie geht, wird nach wie vor mit hoher Emotionalität gestritten. Kreationisten und Intelligent Designer stempeln den britischen Forscher mit Vorliebe zum Erz-Atheisten, Evolutionsbiologen wie Richard Dawkins meinen mit ihm gegen den Gottesglauben zu Felde ziehen zu können. In dieser Situation kommt das Buch von Michael Blume genau richtig. Sehr unaufgeregt hat es sich der Religionswissenschaftler in dem 176 Seiten starken Bändchen zur Aufgabe gemacht, gegen die „Zerrbilder“ von Vereinnahmung und Verteufelung anzuschreiben. Neben dem gängigen und häufig verkürzten Quellenmaterial zieht Blume auch solches heran, das bislang wenig oder mangels Übersetzung gar keine Beachtung gefunden hat. Der Autor zeichnet im ersten Großkapitel das sehr differenzierte Bild eines Mannes, der mit seinem einzigen Studienabschluss in Theologie mehr und mehr zum Agnostiker wird. Der Ansatz ist zunächst biografisch orientiert, fokussiert aber klar die sich im Laufe der Zeit verändernde Haltung Darwins in der Gottesfrage. Es wird deutlich, dass diese Veränderungen nur bedingt auf den Konflikt von empirischem Wissen und spezifischen Glaubensaussagen zurückzuführen ist. Wenigstens gleichberechtigt stehen daneben Darwins Beschäftigung mit der Theodizee-Problematik sowie seine aufklärerische Ablehnung jeder Form eines christlichen Heilsexklusivismus. 34 In das differenzierte Bild Darwins gehören nicht zuletzt dessen Arbeiten zur Evolution der Religion als kulturelles Phänomen. Hat man das heute vielfach verbreitete Verdikt im Kopf, wonach es sich bei der Religion lediglich um ein nutzloses bis schädliches Nebenprodukt der Evolution handelt, wird die Lektüre des zweiten Großkapitels umso spannender. In akribischer Arbeit mit den Quellen arbeitet Blume heraus, „dass man Darwin keinen biologistischen Reduktionismus von Religion unterstellen kann, sondern eine grundsätzliche Wertschätzung reflektierter Theologie(n) und Philosophie(n) beobachten kann.“ Leicht vergröbernd kann man es auf den Punkt bringen, dass Darwin in der biologischen Evolution lediglich eine Voraussetzung für die Kultur- und Religionsentwicklung sah. Die von Darwin angenommenen Stufen der Religionsentwicklung selbst, deren höchste der Monotheismus und sein Moralgefüge ist, sind bis heute in der Religionswissenschaft anschlussfähig. Bemerkenswert ist dabei Darwins Weitblick, die Gottesthematik als metaphysische Fragestellung von den bloß empirischen Beschreibungen entkoppelt zu haben. Das dritte Großkapitel widmet sich schließlich dem Briefwechsel zwischen Darwin und dem englischen Philosophen und Juristen William Graham unter dem systematischen Gesichtspunkt des evolutionären Theismus. Graham hatte mit dem Werk „The Creed of Science“ 1881 ein Buch platziert, in dem es um die Vereinbarkeit von empirischer Forschung und theistischem Gottesglauben ging. Er entwickelte darin Überlegungen, die in gegenwärtiger Nomenklatur als panentheistisch-prozesstheologisch zu bezeichnen wären. Der Briefwechsel zeigt einmal mehr Darwins innere Überzeugung, „dass das Universum kein Resultat des Zufalls“ sein kann, andererseits aber auch seine erkenntnistheoretisch „furchtbaren Zweifel“ an der Zuverlässigkeit und Gültigkeit des evolvierten Menschengeistes, in dieser Frage zu einer letzten Gewissheit zu kommen. Das Buch ist ein gefährliches Buch! Zumindest für diejenigen, die sich in reduktionistischen Synthesen mit Lückenbüßer-Göttern oder naiven Empirismen andererseits samt einem verkürzten DarwinBild wohlig eingerichtet haben. All denjenigen, die existenzielle Spannungen und geistige Friktionen aushalten können, sei es empfohlen. Matthias Werner 35 Linus Hauser / Eckhard Nordhofen (Hg.) Das Andere des Begriffs Hermann Schrödters Sprachlogik und die Folgen für die Religion Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2013 180 Seiten € 24,90 ISBN 978-3-506-77627-3 Im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes steht Hermann Schrödters Definition von „Religion“. Diese wurde erstmals 1975 in kritischer Auseinandersetzung mit den maßgebenden Religionskonzeptionen der damaligen Religionspädagogik in einer genuin philosophischen Perspektive von ihm ausgearbeitet und seitdem in zahlreichen Publikationen weiterentwickelt. In dem hier wieder abgedruckten Beitrag von Klaus Ebeling und Schrödter, der dem Leser als Einstieg in das Thema des vorliegenden Bandes empfohlen sei, lesen wir: „Religion ist Ausdruck und Erscheinung des Bewusstseins radikaler Endlichkeit der menschlichen Existenz und deren realer Überwindung.“ Es sind zwei Anforderungen, denen ein angemessener Religionsbegriff zu genügen hat: „Er muss 1. auf einer Einsicht in die natürliche Grundausstattung von uns Menschen beruhen und 2. eine selbstverantwortliche Entscheidung (Wahl) über mögliche Welt- und Lebensorientierungen zulassen.“ Beide Anforderungen erfüllt die Schrödter‘sche Religionsdefinition in paradigmatischer Weise: Religion beruht auf einer allen Menschen zugänglichen anthropologischen Grundverfasstheit, dem Bewusstsein der radikalen Endlichkeit menschlicher Existenz, ist aber selbst kein Grundzug der menschlichen Natur. Ansonsten müsste eine nicht-religiöse Lebensform als anthropologisch defizitär gelten. Die Definition gestattet es, Religion als eine mögliche Stellungnahme zum fundamentalen Endlichsein des Menschen zu verstehen, die eine bestimmte Form von Weltund Lebensorientierung neben anderen darstellt. Damit kommt nach Schrödter ein Entscheidungsmoment mit hinein: „Das für einen philosophischen Religionsbegriff unabdingbare Moment der Freiheit“, so Schrödter im Nachwort zum vorliegenden Band, 36 „findet hier in der Struktur des Religionsbegriffs seinen logischen Ort.“ Das für die Religion charakteristische Verhältnis zum Bewusstsein radikaler Endlichkeit beruht auf dem „absoluten Transzendieren“, in dem der Horizont menschlicher Verfügbarkeit „auf eine ‚neue‘ Wirklichkeit hin“ überstiegen wird: Die Überwindung der radikalen Endlichkeit, die menschliches Können übersteigt, wird hier als Realität erfahren. Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich unter verschiedenen Rücksichten mit dem Sinn dieses Religionsbegriffs und sie machen, indem sie ihn in verschiedenartiger Weise konkretisieren, seine Leistungsfähigkeit deutlich. Hans-Jürgen Müller erläutert den begrifflich-systematischen Hintergrund der Religionsdefinition, wobei er besonders auf die Religion als einen vernünftigen actus humanus eingeht: Entscheidungen im Feld der Religion stehen nicht jenseits von Rationalität und Humanität, sie „implizieren reflexive Distanzierung vom unmittelbaren Lebensvollzug, Ausdrücklichkeit, sprachlich-symbolische Artikulation.“ Hans-Joachim Höhn setzt bei Schrödters „Identifikation eines existenziellen Bezugsproblems“ für Religion an und entwickelt von hier ausgehend einen existentialpragmatischen Religionsbegriff. Im Blick auf die Limitationen des Daseins und unseres rationalen Umgangs mit ihnen stellt sich die Frage, wo für die Religion ein existenzielles Bezugsproblem identifiziert werden kann. „Die Fragen“, so Höhn, „auf die Religion die Antwort sein bzw. geben soll, beziehen sich […] nicht auf etwas in der Welt, sondern auf das In-der-Welt-Sein des Fragenden.“ Religion kann verstanden werden „als eine spezifische Einstellung zu Lebenseinstellungen, als eine besondere Umgangsform, mit den Formen, mit den Limitationen des Daseins umzugehen“. Damit gewinnt Höhn einen Maßstab sowohl für die Kritik an angemaßten Zuständigkeiten der Religion als auch für den Nachweis ihrer „unabgegoltenen existenziellen Relevanz“, nämlich dort, wo es „die Vernunft mit dem […] Unbegreiflichen, Unverfügbaren und Unheimlichen zu tun bekommt, wofür sie selbst keine zureichenden vernunftgemäßen Umgangsformen entwickeln kann“: Hier ist es Sache der Religion, „sinnvolle Bezugnahmen auf das in Vernunftverhältnisse Unübersetzbare auszubilden“, um so das Dasein trotz alles Befremdlichen „für letztlich zustimmungsfähig zu halten“. Eckhard Nordhofen widmet sich dem Zusammenhang von Monotheismus und Liturgie: Im Gott der Offenbarung stehe dem Menschen eine Wirklichkeit gegenüber, der ein ontologischer Sonderstatus zukommt, was in Ex 3,15 deutlich wird. Die reine Anwesenheit ohne jede weitere Bestimmung wird hier, so Nordhofen, als Name ausgerufen, Intension und Extension koinzidieren: „Auf buchstäblich einmalige Weise ist es hier gelungen, die Einzigkeit und Andersheit Gottes zum Ausdruck zu bringen.“ Das zeige sich im „privativen Index“ aller Offenbarungsgeschichten, in dessen Folge sich eine „Semantik des Entzugs“ ausbildet. Kult und Liturgie sollten endlich „in der Tradition privativer Alteritätsmarkierung“ begriffen und gedeutet werden. Michael Novian knüpft an Schrödters Arbeiten zur „neomythischen Kehre“ in der Moderne an und bezieht seine religionsphilosophischen Überlegungen auf eine Theorie des Retromythos. Während der Neomythos die radikale Endlichkeit des Menschen negiert und als innerkosmisch, und zwar durch menschliches Handeln, überwindbar vorstellt (Fortschrittsgläubigkeit, Wissenschaftsmythen), wird dies durch den Retromythos verneint: „Retromythen sind aus einem kritischen Reflexionsvollzug erwachsenes, kulturelles und individuelles SichBeziehen auf Endlichkeit im Bewusstsein ihrer Radikalität und im Bewusstsein der Grenzen menschlichen Fortschrittvollzugs.“ Dies vollziehe sich im Ausgriff auf tradierte Mytheme, die reformuliert werden und die so auf eine erneute Verzauberung der Welt abzielen. 37 Linus Hauser analysiert den Begriff „Sinn des Lebens“ im Begriffsfeld von „Weltanschauung“. In ihrem Horizont liegt, so Hauser, „zum einen die Feststellung von Endlichkeit und zum anderen das Streben nach ihrer Aufhebung als menschlichem Zweckhorizont.“ Von hier aus lässt sich die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ eines Menschen als die Art und Weise bestimmen, wie er die Spannung zwischen diesen beiden Momenten interpretiert und/ oder lebt. Johannes Drescher widmet sich der Frage nach dem Verhältnis der Begriffe „Offenbarung“ und „Vernunft“. Er wendet sich gegen ein positivistisch verengtes Verständnis von Vernunft als bloßem Werkzeug, „denn die Möglichkeiten werden nicht nur festgestellt, sondern der Mensch nimmt dazu Stellung“ und entwirft sich auf Sinn hin. „Offenbarung“ bestimmt Drescher in Anlehnung an Kant „als die für religiöse Erkenntnis bestimmende Form der Anschauung“. Hans-Dieter Mutschler vertritt die These, „dass es Geist entweder überall oder nirgends gibt, dass also der Naturalismus nicht falsch sein kann für den Menschen und wahr für die Natur, sondern nur entweder überhaupt ganz wahr oder ganz falsch.“ Über eine Kritik des szientifischen Naturalismus kommt er zu einem „weichen Naturalismus“ oder Protopanpsychismus, der bestreitet, dass man die Natur als „an sich“ geistlos denken könne. Während in den meisten Beiträgen die Möglichkeit von Religion als solcher im Mittelpunkt stand, beleuchtet Iris Gniosdorsch das Verhältnis zwischen den Religionen: Sie unterzieht den Dialog zwischen Christen und Muslimen einer kritischen Reflexion mit Hilfe des philosophischen Wahrheitsbegriffs. Susanne Nordhofen macht auf „die vielen kleinen Endlichkeiten“ aufmerksam, die in ähnlicher Weise religionsgenerativ sind wie die große. 38 Der Band bietet eine vielgestaltige Auseinandersetzung mit Hermann Schrödters Religionsbegriff. Er regt zur weiteren Beschäftigung mit seinem Werk an. Stephan Herzberg Religionspädagogik 40 Die Grundschulbibel // 42 Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen. Konturen einer religionspädagogischen Grundlagentheorie // 44 Schule interkulturell. Geschichte – Theorie – pädagogische Praxis am Beispiel Nürnberg // 46 Mit Bildern lernen. Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht // 48 Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen // 50 Jesus Christus. Themenheft für den evangelischen Religionsunterricht in der Oberstufe // 51 Fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie Axel Wiemer (Hg.) Die Grundschulbibel Erarbeitet von Esther Richter, Juliane Zeuch, Axel Wiemer unter Mitarbeit von Karin Hank, Sara Henkel. Illustration von Liliane Oser Mit Audio-CD Stuttgart / Leipzig: Ernst Klett Verlag. 2014 304 Seiten 19,95 € (Audio-CD: 25,95 €) ISBN 978-3-12-006660-6 (Audio-CD: 987-3-12-006664-4) Mit der „Grundschulbibel“ hat der Klett Verlag eine Bibel veröffentlicht, die speziell für den Einsatz in der Grundschule entwickelt wurde. Zunächst zeigt sich das in der Textauswahl: Es finden sich die biblischen Texte, die in den Lehrplänen der Bundesländer für den Grundschulunterricht vorgesehen sind; man stößt erfreulicherweise aber auch auf Texte, die weniger häufig in Kinder- oder Schulbibeln vorkommen wie z.B. eine Auswahl von Psalmen oder Exemplarisches aus dem Buch der Sprüche. So ist mit etwas mehr als 300 Seiten eine ausgesprochen umfangreiche Bibel zusammengekommen, bei der in den wenigsten Fällen vergeblich ein Text für den Unterricht gesucht werden dürfte. Den Autoren Esther Richter, Axel Wiemer und Juliane Zeuch war es wichtig, dass sie mit ihrer Bearbeitung einerseits nahe am Ursprungstext bleiben (hier: der Lutherbibel von 1984) und andererseits durch einfache Satzstrukturen Verständlichkeit für Kinder bieten. Wie man es von einer guten Kinder- oder Schulbibel erwarten kann, verzichten sie auf Harmonisierungen, die Widersprüche oder Anstößiges glätten, und sie sparen selbst Texte nicht aus, die im Hinblick auf Gott oder die großen Figuren der biblischen Tradition Fragen aufwerfen. So gibt es keine Erklärung dafür, dass Gott das Opfer Abels ansieht, das von Kain aber nicht. Und die Erzählung, in der Gott von Abraham das Opfer seines Sohnes Isaak fordert, wird dem Leser nicht vorenthalten oder beschönigt. Vielleicht gehören ja gerade Fragen, die sich bei solchen Texten stellen, zu den fruchtbaren Elementen des Religionsunterrichtes. 40 Den Unterricht bereichern können noch weitere Elemente dieser Grundschulbibel. Da sind zum einen die einleitenden Texte zu Beginn größerer Kapitel. Hier wird auf Fragen und Erfahrungen verwiesen, die einen Zugang zu den biblischen Texten eröffnen können. „Warum ist die Welt so, wie sie ist? ... Warum geschieht so viel Böses in der Welt? ... Was hat Gott damit zu tun? ... Schon früher haben Menschen solche Fragen gestellt. Antworten haben sie gefunden in den Geschichten vom Anfang, die die Bibel erzählt.“, heißt es etwa vor dem ersten Kapitel. Nicht immer mögen diese Fragen und Erfahrungen für die eigene Lerngruppe die richtigen sein, aber sie sind ein Modell, wie man im Unterricht vorgehen kann. Daneben enthalten die Seiten am unteren Rand Hinweise auf weitere didaktische Möglichkeiten. Ein Symbol verweist auf zum Text passende Lieder einer CD, ein weiteres auf Arbeitsmöglichkeiten mit einer Lernkartei. Daneben gibt es zu einzelnen Begriffen des Textes Hinweise auf einen Anhang am Ende des Buches. Dieser enthält ein Kapitel mit Wort-, ein Kapitel mit Namenserklärungen sowie jeweils ein Kapitel mit einer Ortsliste zum Alten und eine zum Neuen Testament. Beide Kapitel enthalten übersichtlich gestaltete Landkarten, auf denen sich die erläuterten Orte finden lassen. Neben den genannten Symbolen gibt es ggf. einen Verweis auf einen anderen Text der Bibel, in dem derselbe Sachverhalt noch einmal in einem anderen Zusammenhang aufgegriffen wird. So wird die Tatsache in den Blick genommen, dass viele Ereignisse in der Bibel aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Ganz bewusst werden daher die Erzählungen von der Geburt Jesu bei Lukas und Matthäus nacheinander und nicht miteinander vermischt präsentiert. Natürlich kann das irritierend für Kinder sein, die in der Weihnachtszeit irgendwo die übliche Mischung dieser beiden Geschichten hören. Aber diese „Irritation“ kann zu der Beobachtung führen, dass es im Neuen Testament zwei Versionen dieser Geschichte gibt und dass die Verfasser vielleicht Unterschiedliches erzählen wollen. An einigen wenigen Stellen sind Parallelstellen direkt nebeneinander abgedruckt (z.B. die Berufung der ersten Jünger). Bei der Bebilderung haben sich die Autoren für eine Mischung entschieden: Auf der einen Seite finden sich Bilder, die für diese Bibelausgabe von der Hamburger Illustratorin Liliane Oser erstellt worden sind, zum anderen Bilder verschiedener Künstler vor allem des 20. Jahrhunderts. Neben eher illustrierenden Bildern laden viele andere dazu ein, sich über ihre Betrachtung dem Thema des zugehörigen Bibeltextes anzunähern. Insgesamt haben die Autorinnen und Autoren eine Bibel vorgelegt, die eine wirkliche gute Grundlage für die Bibelarbeit in der Grundschule bietet. Neben dem Text bieten sie eine Vielzahl von didaktischen Anregungen, die vielleicht in dem noch nicht erschienen Lehrerkommentar ergänzt und erläutert werden. Christoph Dohmen-Funke 41 Paul Platzbecker Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen Konturen einer religionspädagogischen Grundlagentheorie Stuttgart: Kohlhammer Verlag. 2012 464 Seiten m. Abb. 49,90 € In den beiden folgenden Kapiteln „Diskurse“ erprobt der Autor seinen Ansatz an zwei Konfliktfeldern der aktuellen religionspädagogischen Praxis: der Einführung des Kompetenzmodells sowie der gegenwärtigen Diskussion um die Korrelationsdidaktik. Platzbecker vertieft diesen Diskurs, indem er alternative Modelle religionspädagogischen Handelns (abduktive Korrelation, performativer RU) und deren Bewertung von Erfahrung im religiösen Lernprozess aufgreift. Dem Rahmen der Arbeit ist geschuldet, dass die verschiedenen Modelle nicht systematisch dargestellt werden können. ISBN 978-3-17-022439-1 Bereits der Titel der von Paul Platzbecker vorgelegten Habilitationsschrift „Religiöse Bildung als Freiheitsgeschehen“ zügelt die Erwartungen des religionspädagogisch tätigen Lesers, in diesem umfangreichen Buch „vorgefertigte“ Leitprinzipien für den Religionsunterricht vorzufinden. Statt der vielerorts kritischen Situation des Religionsunterrichts in einer Bewegung nach vorne – etwa durch die Entwicklung didaktischer und methodischer Alternativen – zu begegnen, tritt der Verfasser einen Schritt zurück, um dem religionspädagogischen Handeln ein neues Fundament zu legen. Hierzu vollzieht Platzbecker den notwendigen Schritt einer Beziehungsbestimmung von systematischer und praktischer Theologie. Dieser recht umfangreiche Prolog ist geboten, weil er das prekäre Verhältnis beider Seiten zueinander und zu sich selbst in ausreichendem Maße abbilden möchte. Der Autor hütet sich davor, eine exakte Determinierung des Verhältnisses im Allgemeinen vorzunehmen, betont aber die jeweilige Verwiesenheit beider aufeinander und die unerlässlich gewordene Kooperation zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen. Im zweiten Kapitel entfaltet Platzbecker einen Grundriss des in seinem Werk anvisierten Dialogs mit der Religionspädagogik, nämlich eine transzendentalphilosophisch gedachte Theologie der Freiheit, die entlang Fichte, Krings und vor allem Pröpper und Verweyen entwickelt wird. Anschließend lotet der Autor die unter anderem auch ökumenisch relevanten Dimensionen des für den weiteren Fortgang wichtigen Begriffsinstrumentariums „Glaube“ und „Religion“ aus. An dessen Ende betont er die letztendliche Unverfügbarkeit von Glauben als eines personalen Aktes und kommt anhand der zuvor gemachten Ausführungen zu dem Schluss, dass „Glaube lernt, indem Religion gelehrt wird“. Am Ende der Arbeit stehen eine sehr knapp gefasste Zusammenfassung des Gedankengangs und das Aufzeigen offener Arbeitsfelder. Hier erweist sich, dass Platzbecker Extrempositionen vermeidet und für die Aufrechterhaltung des Spannungsfelds, in dem schulisches religiöses Lernen stattfindet, plädiert, würde eine Aufhebung doch „den Balanceakt zum Kippen bringen, der gerade den einzigartigen Reiz und die Bedeutung religiöser Bildung (…) ausmacht“. Die Stärke des Werkes ist die Betonung der Notwendigkeit eines tieferen Austausches der Religionspädagogik mit der Systematischen Theologie und der allgemeinen Bildungstheorie. Wie der Autor anhand zweier ausgesuchter Felder zeigt, bietet der freiheitstheoretisch begründete Ansatz die Grundlage für einen Dialog mit den genannten Gesprächspartnern der Religionspädagogik. Für die Leserin und den Leser bleibt beim konkreten Weiterdenken offen, wie die auszubalancierenden Merkmale „Erfahrungsorientierung“ und „Traditionsbezug“ (z.B. im Falle des Trinitätsglaubens) in Bildungsprozessen zu verknüpfen sind; Platzbecker verweist auf den transzendentalen Charakter seiner „Begründungsfigur“, der eine direkte Ableitung auf religionspädagogische Prinzipien verbietet. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Werk keine Vorlagen für Übertragungen in die Praxis bereitstellt, sondern einen fundierten Beitrag, eben eine „Grundlagentheorie“ zur systematischen Standortbestimmung des Religionsunterrichts liefern möchte. Zu empfehlen ist es allen, die sich wissenschaftlich mit dem Religionsunterricht beschäftigen, aber auch Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die sich für die Positionierung und das Selbstverständnis ihres Faches interessieren. Matthias Emsbach In den beiden Kapiteln „Klärungen“ versucht Platzbecker neben dem Ausweis der Lernbedürftigkeit des Glaubens und der Lehrbarkeit von Religion die religiöse Bildung in einen freiheitstheoretisch begründeten Bildungsbegriff einzutragen. Hierbei spricht er von einer „wechselseitigen Verwiesenheit des Glaubens, der Religion und der Bildung“, in der die Freiheit die vermittelnde Basis für deren gemeinsamen Vollzug darstellt. 42 43 Schule interkulturell Geschichte – Theorie – pädagogische Praxis am Beispiel Nürnberg Würzburg: Echter Verlag. 2013 104 Seiten 9,95 € ISBN 978-3-429-03675-1 Bildung nicht nur retrospektiv an die Dokumentation interkultureller Projektarbeit rückzubinden, sondern aktuelle Ansätze innerhalb der Interkulturellen Pädagogik mit Blick auf die zukünftige interkulturelle Arbeit des Instituts zu diskutieren und fruchtbar werden zu lassen. In ihrem Buch „Schule interkulturell“ dokumentieren und reflektieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie der Stadt Nürnberg (IPSN) die bisherige interkulturelle Projektarbeit in der bayrischen Metropole. Die Leserinnen und Leser erwartet in diesem Buch ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik (Kapitel 1). Kompakt wird der Weg von defizitorientierten Ansätzen der Ausländerpädagogik über die differenzorientierten Ansätze der frühen Interkulturellen Pädagogik hin zu begegnungsorientierten neuen Ansätzen einer Pädagogik der Vielfalt (Annedore Prengel) oder der Transkulturalität nachgezeichnet. Diese Entwicklung wird exemplarisch am Rückblick auf die eigene interkulturelle Projektarbeit des IPSN veranschaulicht (Kapitel 2). Ob Ausbildung von Elternlotsen oder interkulturelle Kommunikationsseminare an Schulen, Leserinnen und Leser erhalten vor allem in der Darstellung der Projekte nach der Jahrtausendwende interessante Einblicke in die Nürnberger Praxis. Ziel der Veröffentlichung ist es, künftige Ziele und Aufgaben der interkulturellen Projektarbeit am IPSN in Nürnberg genauer zu konturieren. Dazu werden Ergebnisse einer Expertenbefragung, die mit dreißig Beteiligten und Verantwortlichen der interkulturellen Stadt- und Schularbeit geführt wurden, diskutiert und ausgewertet (Kapitel 3). Wünsche der Befragten nach Informationsseminaren zur Vertiefung des interkulturellen Wissens oder nach Fortbildungsangeboten zur Verbesserung der interkulturellen Kompetenzen werden in Vorschlägen zum Ausbau bestehender Projekte am IPSN konkretisiert (Kapitel 4). Den Abschluss bildet ein wertschätzendes Nachwort des Oberbürgermeisters der Stadt Nürnberg Ulrich Maly. 44 Das Buch bietet einen kompakten und informativen Rückblick auf die pädagogische Praxis des IPSN und liefert damit für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an vergleichbaren Instituten und interessierten Schulen in Deutschland engagierte Projektideen im Bereich Interkultureller Trainings und Anregungen für die Personal- und Projektentwicklung vor Ort. Die Ausführungen zu Geschichte und Theorie von Migration und Bildung erfolgen mit Blick auf die Selbstvergewisserung der eigenen Arbeit. Hier stößt die Projektdokumentation an ihre Grenzen, denn mit wissenschaftlichen Standards kann und darf das Buch wohl nicht gemessen werden. Entgegen dem eigenen Anspruch, den Stand der wissenschaftlichen Diskussion darzustellen, werden zentrale Begriffe wie Interkulturelle Bildung, Interkulturelle Kompetenz oder auch Kultur nur unzureichend und teilweise auf Basis von Internetquellen (darunter Wikipedia) definiert. Auch die Darstellung der Einwanderungsgeschichte nach Deutschland ist zu sehr verkürzt. Die Auswertung der Expertenbefragung erfolgt leider nur unsystematisch anhand von Einzelzitaten, sodass der Leser keinen wirklichen quantitativen oder qualitativen Einblick erhält. Wünschenswert wäre außerdem gewesen, die Einsichten in die Genese Interkultureller Einen profunden Einblick in die Theorie und Geschichte einer „interkulturellen Schule“, wie es der Untertitel verspricht, bietet dieses Buch folglich nur bedingt. Der Einblick in die Praxis interkultureller Projektarbeit, die Migration, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit als Chancen für die Stadtentwicklung begreift, bleibt nichtsdestotrotz gewinnbringend. Dorothee Herborn 45 Rita Burrichter / Claudia Gärtner Mit Bildern lernen Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht München: Kösel Verlag. 2014 272 Seiten, durchgehend vielfarbige Ill. 24,99 € ISBN 978-3-466-37086-3 Wer sich je in einem barocken Gotteshaus der überwältigenden Flut von Bildwerken ausgesetzt hat, wird nicht daran denken, dass intellektuelle Kämpfe um die Rolle des (Kult-)Bildes im Christentum ausgefochten und zentrale Fragen gestellt wurden: Wie soll der unsichtbare Gott in einem Bild visualisiert werden? Oder: Wie soll in einem Bildnis Jesu Christi sein wahres Gottsein dargestellt werden? Die Antworten, die sich schließlich durchgesetzt haben, stammen von Gregor dem Großen (600) und Johannes von Damaskus (8.Jh.): Gregor erkannte den religionspädagogischen Nutzen von Bildern für die Gläubigen – frei nach dem Motto: Und wer nicht lesen kann, der schaut sich die Bilder an. Das theologische Argument stammt von Johannes, Thomas von Aquin hat es später wiederholt: Das Christentum ist weder eine Bild- noch eine Schriftreligion, im Zentrum steht vielmehr die Inkarnation des unsichtbaren Gottes im Leib des einst sichtbaren Jesus von Nazareth. „Da Gott Mensch geworden ist“, so Thomas, „kann Er in einem körperlichen Bild angebetet werden.“ 46 Damit ist der bildtheologische Hintergrund skizziert, den Rita Burrichter und Claudia Gärtner in ihrer „Bilddidaktik für den Religionsunterricht“ darstellen. In ihren bilddidaktischen Ausführungen schreiben sie das Anliegen von Günter Lange fort, der einen „Inhaltismus“ kritisierte, der auf der Linie Gregors Bilder zu Illustrationen verkürzt. Bilder indes sind eine eigenständige Objektivation menschlichen Geistes: Was ein Text in einem zeitlichen Nacheinander präsentiert, ist auf einem Bild gleichzeitig gegenwärtig – und damit etwas anderes! Im Zuge der Betonung ästhetischen Lernens im Religionsunterricht haben Bilder, wie ein Blick in neuere Schulbücher zeigt, Konjunktur; Langes griffige Formel „Kein Gehalt ohne Gestalt“ ist allgemein akzeptiert worden. Doch wie mit Bildwerken, insbesondere zeitgenössischen, umgehen, wenn man nicht Kunst studiert hat? Konkrete Hilfen bietet die vorliegende Bilddidaktik. In drei großen Kapiteln werden (1) bilddidaktische und (2) bildtheologische Grundfragen reflektiert sowie (3) die Rezeption von Bildern an unterschiedlichen Lernorten bedacht. Der Clou dabei ist die enge Verzahnung von (manchmal zu knappen) bildtheoretischen Darlegungen und (ausführlicher) praktischer Bilderschließung. Insgesamt 49 Bildwerke – überwiegend Gemälde, darüber hinaus Installationen, Fotos und einige weitere Bildformen – werden auf je vier Seiten nach dem gleichen Muster erschlossen: Das (zumeist in ausreichender Größe) reproduzierte Werk wird mit Bezug auf die zuvor dargelegten theoretischen Überlegungen beschrieben und gedeutet; ein Infokasten informiert über die Künstlerin/den Künstler; es folgen instruktive „Praxisbausteine“ und einige wenige „Literaturhinweise“. Von hinten nach vorn gelesen ergibt „Mit Bildern lernen“ eine Bilddidaktik. Die besondere Qualität des Buches liegt in der Auswahl, die traditionelle wie zeitgenössische, religiöse wie religionsferne und einige provokative Bildwerke umfasst; da sind selbst für Kunstinteressierte manche überraschenden Entdeckungen zu machen! Das Buch durchzieht die Spannung zwischen dem ausdrücklichen und wiederholt betonten künstlerischen Eigensinn der Bilder auf der einen und den unterrichtlichen Erfordernissen auf der anderen Seite. Denn anders als im Kunstunterricht kommen Bilder im Religionsunterricht vornehmlich mit Blick auf Thematik und Motivik, die nicht immer ausdrücklich religiös sein müssen, zum Zuge. So wird an je einem traditionellen wie einem zeitgenössischen Bild zu den Themen Schöpfung, Inkarnation, Erlösung, Trinität und Eschatologie belegt, dass Bilder wegen ihrer visuellen Eigenlogik theologische Gehalte niemals eins zu eins abbilden und wegen ihres „Mehrwerts“ sogar zu einem locus theologicus werden können. Hinsichtlich der Bildrezeption reflektieren die Verfasserinnen nicht nur auf das Alter der Schülerinnen und Schüler, sondern halten darüber hinaus Aspekte wie Gender, soziokulturelles Milieu sowie die geistige und körperliche Entwicklung für relevant. Für Religionslehrerinnen und -lehrer wichtig sind die Überlegungen zum außerschulischen Lernort Museum, der ja die anschauliche Begegnung etwa mit einem Altaraufsatz ermöglicht. Dabei muss bedacht werden, dass das Museum einen hermeneutischen Rahmen bildet, der einst für die religiöse Praxis geschaffene Werke zu ästhetischen Objekten macht und sie so einer Außenperspektive unterwirft. Gerne hätte ich noch ein weiteres Kapitel gelesen, in dem sich die Autorinnen anhand einschlägiger Dokumente den grundsätzlichen Problemen der Bildtheologie gewidmet hätten. Vielleicht wird sich der eine oder andere Schüler fragen, warum es trotz Bilderverbot im Christentum so viele Gottesbilder, etwa den verbreiteten Gnadenstuhl, gibt. – Natürlich muss man nicht von jedem reproduzierten Bild und jeder Interpretation begeistert sein und wird eigene Lieblingsbilder vermissen. Das ändert aber nichts an dem großen Gewinn, mit dem man das Buch liest und die ausgewählten Bildwerke zu betrachten lernt. Thomas Menges 47 Rudolf Englert/ Elisabeth Hennecke/ Markus Kämmerling Innenansichten des Religionsunterrichts Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen München: Kösel Verlag. 2014 247 Seiten 19,99 € ISBN 978-3-466-37098-6 Seit den 70er Jahren ist „Korrelation“ der Leitbegriff der katholischen Religionsdidaktik. Er steht für einen Religionsunterricht, der die religiöse Tradition und ihre Zeugnisse in Beziehung zur Lebenswirklichkeit und zu den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler (SuS) setzt. Er beschreibt damit auch die Differenz zwischen einem konfessionellen und einem religions- oder christentumskundlichen Unterricht. Während letzterer die Schüler mit religiösen Texten, Ritualen und Lebensweisen bekannt macht, beansprucht ein konfessioneller Religionsunterricht, den Geltungsanspruch einer bestimmten religiösen Tradition und deren Relevanz für das Leben hier und heute zu erschließen. Wie dieser Anspruch religionsdidaktisch umgesetzt und vor allem wie die beiden Pole „religiöse Tradition“ und „Lebenswelt“ ins rechte Verhältnis gesetzt werden sollen, darüber wurde in den vergangenen Jahrzehnten in der Religionspädagogik heftig gestritten. Es hat auch nicht an grundsätzlicher Kritik am Korrelationsbegriff gefehlt, aber – abgesehen von der Symboldidaktik von Hubertus Halbfas – hat keiner der Kritiker einen didaktischen Alternativentwurf vorgelegt, der jenseits der „Korrelation“ anzusiedeln wäre. 48 Doch inwiefern steuern religionspädagogische Konzeptionen den Religionsunterricht? Welche Formen der Korrelation werden in der Unterrichtswirklichkeit umgesetzt? Kann die gegenwärtige Unterrichtpraxis überhaupt sinnvoll als Korrelationsgeschehen verstanden werden? Diesen Fragen ist eine Forschergruppe an der Universität EssenDuisburg unter Leitung des dortigen Religionspädagogen Rudolf Englert nachgegangen. Zu diesem Zweck wurden 113 Unterrichtsstunden zu dreizehn Unterrichtsreihen im vierten Jahrgang der Grundschule und in Klasse 10 verschiedener Schulformen im Ruhrgebiet aufgezeichnet und ausgewertet. Das Ergebnis liegt nun in einem gut lesbaren Buch vor, das der Verlagsankündigung gerecht wird und „Innenansichten des Religionsunterrichts“ vermittelt. Die Verfasser skizzieren ebenso präzise wie konzise die verschiedenen Varianten der Korrelationsdidaktik und stellen bei der Auswertung der Unterrichtsstunden fest, dass jene Typen von Korrelation, die die Relevanz religiöser Tradition erschließen und den Geltungsanspruch des christlichen Glaubens kritisch prüfen, kaum mehr in der Unterrichtswirklichkeit vorkommen. Eher wird die Perspektive des christlichen Glaubens als eine unter mehreren Optionen präsentiert, die individuell wählbar oder eben auch nicht wählbar ist. Inhaltliche Kontroversen, die die SuS zur Stellungnahme herausfordern könnten, werden eher vermieden. Nicht selten konzentriert sich der Unterricht auf die – sicher unverzichtbare – Vermittlung sachkundlichen Wissens. Dieses Ergebnis ist überraschend. Denn man sollte doch meinen, dass die religiöse Pluralität im Klassenraum kontroverse Diskussionen hervorruft, die Anlass zur vertieften Beschäftigung mit religiösen Themen bieten. Das ist zumindest nicht generell der Fall. Die hier thetisch zugespitzt wiedergegebenen Ergebnisse der Studie werfen grundsätzliche Fragen zur Zukunft des Religionsunterrichts auf. Offenkundig sichert die konfessionelle Organisation des Religionsunterrichts im Sinne der Trias (Lehrer, Lehre, Schüler) keineswegs schon das konfessionelle Profil. Wer den konfessionellen Religionsunterricht erhalten will – wofür es gute Gründe gibt –, der sollte weniger Energie und Zeit auf die administrative Durchsetzung der Trias verwenden und sich stattdessen der Frage zuwenden, wie der Geltungsanspruch des christlichen Glaubens im Unterricht so zur Sprache kommen kann, dass die SuS zur eigenen Stellungnahme herausgefordert werden. Dabei wird man die Lehrerinnen und Lehrer aber auch nicht überfordern dürfen. Es mag ja sein, dass die Alltagsrelevanz des Glaubens im Religionsunterricht zu wenig zur Sprache kommt. Aber ist das nur ein Problem des Religionsunterrichts oder nicht vielmehr der kirchlichen Verkündigung? Andreas Verhülsdonk Nun könnte man versucht sein, diese Entwicklung mit dem religiösen Desinteresse der SuS zu erklären. Doch die Auswertung der Unterrichtsbeispiele stützt diese These nicht. Die wiedergegebenen Unterrichtssequenzen zeigen vielmehr, dass SuS Fragen aufwerfen und Überlegungen anstellen, die eine theologische Klärung geradezu herausfordern. Zu den enttäuschenden Ergebnissen der Studie gehört, dass genau diese theologische Klärung kaum stattfindet. Religionslehrerinnen und -lehrer agieren im Unterricht weniger als „Zeugen des Glaubens“ (Adolf Exeler) oder als theologische Experten. Vor allem in der Grundschule verstehen sich viele eher als Moderatoren. Allerdings ist hier eine Einschränkung anzubringen. Ob dieser Befund auch für die gymnasiale Oberstufe gilt, muss offen bleiben, da diese Jahrgänge nicht Gegenstand der Untersuchung waren. 49 Silke Hagemann / Marion Keuchen Jesus Christus Themenheft für den evangelischen Religionsunterricht in der Oberstufe Viera Pirker Fluide und fragil Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie Göttingen: Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2014 Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. 2013 48 Seiten mit s-w Abb. 459 Seiten 14,99 € 39,00 € ISBN 978-3-525-77670-4 ISBN 3-7867-2975-1 Jesus Christus gehört zweifellos zu den zentralen Inhalten des Religionsunterrichtes, gerade auch in der gymnasialen Oberstufe. Die vorliegende Arbeitshilfe orientiert sich inhaltlich und formal (bis hin zu den Operatoren in den Aufgabenstellungen) an den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Evangelische Religionslehre. Aber natürlich lässt sich das Allermeiste auch für den katholischen Religionsunterricht übernehmen. Gerade aufgrund der innovativen Auswahl von Texten, Bildern und Sachbezügen stellt das Heft eine Bereicherung für den Unterricht beider Konfessionen dar. Es handelt sich hier um eine reine Materialsammlung, die auf lange fachdidaktische Hinführungen verzichtet und zum sofortigen Loslegen einlädt. Die Materialien können größtenteils einzeln verwendet werden. Sie sind jedoch in einer gut nachvollziehbaren und inhaltlich stimmigen Reihenfolge dargeboten, in der sich mühelos eine didaktische Struktur für die Gestaltung einer längeren Unterrichtsreihe erkennen lässt. Von daher erscheint das Heft nicht bloß als „Steinbruch“-Kopiervorlage für die Lehrkraft, sondern auch als durchgängiges Arbeitsmaterial für die Schülerinnen und Schüler bestens geeignet. In allen Bausteinen geht es neben den eigentlichen Themen um die Auseinandersetzung mit dem biblischen Textverständnis, so dass sich hermeneutische Fragen und Vergewisserungen wie ein zweiter roter Faden durch die ganze Arbeitshilfe ziehen. Letztlich zielt der Band auf die Entwicklung und argumentative Aneignung eines eigenen Jesus-Bildes. Gegliedert ist der Band in vier sogenannte „Bausteine“. Inhaltlich geht es darin um Jesu Geburtsgeschichten, um seine ethische Ausrichtung, um die Reich-Gottes-Dimension sowie um Tod und Auferstehung Jesu. Am Anfang jedes Bausteins steht eine Anforderungssituation mit Bezug zur heutigen Lebenswelt. Dadurch wird die Auseinandersetzung mit dem Thema eröffnet. In den nachfolgenden Materialien und Aufgabenstellungen wird jeweils ein anderer Kompetenzschwerpunkt gesetzt, so dass die verschiedenen Kompetenzbereiche des RU abgedeckt sind. Neben klassischen Sachtexten finden sich Interviews, Zeitungsartikel, Romanauszüge, Bibeltexte in verschiedenen Übersetzungen (u.a. auch Volxbibel und Bibel in gerechter Sprache) und eine Reihe von Bildern. Die Auswahl der Bilder reicht von der mittelalterlichen Malerei bis zu moderner Fotografie oder einem Werbeplakat. Leider sind die Abbildungen schwarz-weiß gehalten. Gerade wenn die Arbeitshilfe im Klassensatz vorliegt, wären farbige Bilder wegen der größeren Ausdruckskraft hilfreich. 50 Die Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und die Einbeziehung unterschiedlicher theologischer Deutungsvorschläge machen dieses Themenheft zu einer inspirierenden Fundgrube für Religionslehrkräfte und zu einem anregenden Arbeitsbuch für den Oberstufenunterricht. Sebastian Lindner Der Begriff „Identität“ ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Kernbegriff der Praktischen Theologie avanciert. Identitätstheorien bauen „auf vielfältigen inter- und transdisziplinären Vermengungen“ auf, die den Diskurs erschweren, da sich z.B. der philosophische und der human- bzw. sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff unterscheiden. In der philosophischen Tradition wird mit Hilfe dieses Begriffs die Frage zu beantworten versucht, wie eine Person trotz aller biographischen Veränderungsprozesse dieselbe bleibt. Das Gesamtspektrum der Begriffsgeschichte wird im ersten Kapitel dargestellt. Um die „Landschaft der Identitätsdiskussion zu systematisieren“, verwendet Viera Pirker das Modell des Rhizoms, das von Gilles Deleuze und Félix Guattari aus der botanischen Metapher der Wurzel entwickelt wurde. Anders als die hierarchisch strukturierte Metapher des Baums „bedient [sich] dieses Modell der Wissensstrukturierung „vielfältiger Vernetzungen und [erlaubt] heterogene Zugänge“, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Einen umfassenden Überblick über die humanund sozialwissenschaftliche Diskussion bietet Kapitel 2: von den psychologischen Theorien der Identitätsentwicklung (Erikson, Marcia), dem Symbolischen Interaktionismus (Mead, Goffmann, Krappmann) und den Theorien der Identitätskonstruktion (Gergen, Keupp) bis zu psychotherapeutischen und diagnostischen Ansätzen (Psychoanalyse, humanistisch-psychologische und verhaltenstherapeutische Ansätze, die Frage von Identitätsstörungen; zusätzlich ein neurowissenschaftlicher Diskurs). Da „die heterogene Verwendung des Begriffes eine vollständige Definition erschwert“, stellt die Verfasserin graphisch ein „integratives Modell von Identität“ dar, das die genannten Ansätze bündelt. 51 neue Möglichkeitsräume, aber auch für das nicht Fassbare und Flüchtige. Fragilität wird im Anschluss an Paul Ricœur mit Fehlbarkeit konnotiert. Die Metapher einer fluiden und fragilen Identität „birgt einen starken Widerspruch in sich, der indes Wesentliches der Anthropologie zur Geltung bringt“. Im nächsten Kapitel skizziert Pirker die Entwicklung der Pastoralpsychologie als wissenschaftlicher Disziplin von ihren Anfängen bis heute als eine „transdisziplinäre Wissenschaft“, die zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Psychologie und in Abgrenzung zur Religionspsychologie verortet ist. Sie ist in der Praktischen Theologie „als Forschungszweig mit transdisziplinärem Selbstverständnis für eine lebensweltorientierte und psychologisch starke Hermeneutik für das subjektive Erleben, Handeln und Reflektieren der Menschen etabliert“. „Wie ein zeitsensibles und subjektorientiertes Verständnis vom Menschen, vermittelt durch die Identitätsdiskurse, praktisch-theologisch fruchtbar werden kann“, ist Leitfrage des 4. Kapitels. Hierzu legt die Verfasserin aufbauend auf Karl Rahner ein theologisch-anthropologisches Fundament. Es folgen drei zeitgenössische Varianten eines Identitätsmodells in der Praktischen Theologie: ein pastoralanthropologischer Entwurf (Stenger), Identität im Horizont gewährter Freiheit (Mette/Werner) und Identität im Fragment (Luther). Auf dieser Basis formuliert Pirker „eine transdisziplinäre Identitätsmetapher“, welche die Vorstellung des Fragments weiterführt und Identität als fluide und fragil beschreibt. Das Fluidum steht für Prozessualität, für 52 Die Autorin fasst „Identität als Grundoption einer zeitsensiblen Pastoraltheologie“ zusammen, die sich mit dem „Postulat gelingender Identität“ und der „Grenzerfahrung Identität“ auseinandersetzt und sich als „Praxis des Heilens und Befreiens“ versteht. Abschließend formuliert sie, dass Pastoraltheologie Menschen besonders im Bereich „der Reflexivität, der Differenzbefähigung und der solidarischen Begegnung in Compassion“ begleitet und damit immer wieder Wandlungsprozesse in den Blick nimmt. Insgesamt bietet das Buch eine profunde Auseinandersetzung sowohl mit der Entwicklung als auch der aktuellen Diskussion des Identitätsbegriffs, die zu einer Neuformulierung von Identität als fragil und fluide führt. Mit Hilfe der RhizomTheorie und durch zusammenfassende Graphiken und Thesen sowie eine gut lesbare Sprache gelingt es der Verfasserin, die Breite der Diskussion zu bündeln und weiterzuführen. Obwohl sich die Arbeit pastoralpsychologisch verortet, ist die Lektüre auch aus religionspädagogischer Perspektive ein Gewinn. Am Ende sei ein Gedanke von Viera Pirker noch einmal aufgegriffen: „Identität ist letztlich ein Begriff der konkreten Lebenspraxis. Ohne Relationen und Interaktionen ist sie nie zu denken.“ Angela Kaupp Theologie 54 Was Christen glauben. 20 Antworten für kritische Zeitgenossen // 55 Was Atheisten glauben Franz M. Wuketits Was Atheisten glauben Wolfgang Beinert Was Christen glauben 20 Antworten für kritische Zeitgenossen Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2014 Regensburg: Pustet Verlag. 2014 191 Seiten 376 Seiten 19,99 € 24,95 Euro ISBN 9978-3-579-08503-6 ISBN 978-3-7917-2575-4 In Zeiten zunehmender Globalisierung und Beschleunigung verlieren für viele Menschen nicht nur materielle, sondern auch geistige Güter ihren überkommenen Alleinvertretungsanspruch, auch und gerade in Sachen Religion/Religionen. Dieser unaufhaltbare Modernisierungsprozess mit seiner prägenden Signatur „Vom Singular zum Plural“ löst traditionelle Selbstvergewisserungen auf und zwingt dazu, autochthone Identitätsressourcen zu reformulieren und zugleich sich mit seinem Proprium auf dem Markt der Sinnangebote attraktiv zu profilieren. In dieser Verschränkung von Innen- und Außenperspektive entwickelt Wolfgang Beinert, emeritierter Dogmatikprofessor und langjähriger Weggefährte von J. Ratzinger, aus expliziter Glaubensposition für „kritische Zeitgenossen“ – so der Untertitel des Werkes – eine umfängliche „Rechenschaft“ biblischer Hoffnung im Sinne von 1 Petr 3,15, um „eine rationale und auch eine möglichst umfassende Annäherung an das christliche Glaubensgut zu erleichtern.“ Der Verfasser gliedert seine Darlegungen in die beiden Hauptteile „Grundlagen“ und „Grundthemen“: Im ersten Teil rollt er für die Leserschaft klassische Problemkreise, wie man sie etwa von der Einführungsphase eines Theologiestudiums her kennt, auf. Es sind dies z.B.: „Wirklichkeit“ („Was ist Wirklichkeit?“, empirischer versus transzendenter Wirklichkeitsbegriff, Möglichkeiten und Grenzen der Wirklichkeitserfassung); „Vernunft“ (Wahrheitsfähigkeit endlicher Erkenntnis, Diskurskriterien rationaler Aussagen). Es folgen zwei sehr umfangreiche Abschnitte zum Thema „Glauben“ (etwas/jemandem/an jemanden glauben, Glauben als Liebe, Glaubensbekenntnisse, Bezeugungsinstanzen: Schrift/ Tradition/Lehramt/ Theologie/sensus fidelium). Ein Kapitel zur Heiligen Schrift (Offenbarungsverständnis, Kanon u.a.) schließt den ersten Teil ab. 54 Im zweiten Teil stellt der Verfasser klassische Topoi der Theologie im Horizont aktueller Forschung dar; es sind dies: ein Jesus-Kapitel (Quellen/historischer Jesus); ein Kapitel zu „Wundern“ (geschichtlicher Begriff von Wundern, ein biblisches Beispiel, ein Abschnitt zur Auferstehung u.a. mit der soteriologischen Bedeutung des Ostersamstages). Es folgen dann Kapitel zu den Schwerpunkten: Gott, Trinität, Leiden (Theodizee-Frage), Kirche, Ökumene (ein Herzensanliegen des Autors!), Jenseits-Vorstellung. Abschließend folgt ein Blick zurück mit Zukunftsperspektive auf das Zweite Vatikanische Konzil, das Beinert nach wie vor – besonders mit seiner Kernbotschaft von „Gaudium et Spes“ – als richtungsweisend ansieht. Johannes Paul ll. und Benedikt XVI. werden auf diesem Hintergrund explizit für ihre Versuche eines „rollback“ getadelt, während der Franziskus-Papst als Hoffnungsträger gehandelt wird. Summa summarum sieht man: Beinert hat ein quantitativ umfangreiches und sachlich anspruchsvolles Credo des christlichen Glaubensschatzes vorgelegt. Positiv hervorzuheben sind drei Schwerpunkte, die bereichernd sein können: Erstens seine aufrichtigen Erörterungen zur Theodizee-Frage, zweitens sein hoffnungsvolles Plädoyer dafür, dass die Kirche auch angesichts konstatierter Krisensymptome auf den Spuren des Zweiten Vatikanums wird fruchtbar sein können. Drittens profiliert Beinert überzeugend den unausweichlichen und nötigen Dialog der weltweiten Religionen (Plural!). Kritisch indes muss die Form des ganzen Werkes gesehen werden: Der (Unter-)Titel des Buches („Antworten für kritische Zeitgenossen“) suggeriert, dass Bezugs- vielleicht sogar: Ausgangspunkt der Überlegungen die Fragen seien, die „kritischen Zeitgenossen“ auf den Nägeln brennen. Das Buch ist jedoch weder methodisch noch inhaltlich daraufhin angelegt. Allenfalls tauchen mögliche Fragestellungen jener Personengruppe an nur raren Stellen indirekt auf; etwa: dies oder jenes stelle „eine besondere Hürde für den heutigen Menschen dar“, damit würden sich die meisten „schwertun“ oder daraufhin „skeptisch werden“. Die Darstellungsweise des Verfassers ist insgesamt weniger von aktuellen Fragen (der Verlag bewirbt das Buch mit Hinweis auf den Katholikentag 2014!) als vielmehr von dogmatisch-katechetischen Antworten her konzipiert. Abschließend sei im Blick auf die spezielle Leserschaft von Eulenfisch Literatur ernüchternd erwähnt, dass der Dogmatiker den schulischen Religionsunterricht tendenziell als ein gescheitertes Projekt ansieht, weil dessen „Ergebnis frustriert“ habe und bezüglich der Glaubensvermittlung „leer“ ausgegangen sei. Wenn man mehr mit Antworten als mit Fragen operiert, ist diese Einschätzung kein Wunder. Gustav Schmiz In seiner neuesten Veröffentlichung gibt der österreichische Biophilosoph und Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits vor, sich mit dem Glauben der Atheisten auseinanderzusetzen. Was dem Titel nach verheißungsvoll klingt – als würde der Autor den Versuch einer (selbst-)kritischen Reflexion glaubensförmiger Strukturen im modernen Neoatheismus wagen –, erweist sich bereits im Vorwort als eine Apologetik des Nicht-Glaubens. Seine Rechtfertigung gründet in der Unterstellung, ein gläubiges und/oder unwissendes Gegenüber erblicke im Atheismus nicht mehr als eine sowohl amoralische als auch sinnentleerte Lebensform. Entsprechend kann Wuketits, der selbst der Giordano-Bruno-Stiftung angehört, sich und dem Leser im Ausgang die Frage stellen: „Wie lebt es sich in einer Welt, in welcher der Gottesglaube als eine (evolutionär begründete) Nutzfunktion, eine auf Illusion beruhende Gehirnakrobatik entlarvt ist?“ In seinen Antworten zeichnet der Autor einen Atheismus, der – wenig überraschend – in seinen Moral- und Sinnkonzeptionen ohne die Hypothese eines Gottes auskommt. Hierzu greift er in durchaus lesenswerter Manier altbekannte Theorien einiger Aufklärer auf und verknüpft sie mit modernen evolutionstheoretisch-naturalistisch begründeten Atheismen. Einen Gewinn kann der Leser vor allem dann aus diesen Passagen ziehen, wenn er die von Wuketits proklamierte Inkompatibilität von Glaube und Wissenschaft aufbricht und in den Hartzeichnungen religiöser Missbräuche berechtigte Anfragen und fundamentalistische Irrwege erkennt. So prangert er ein auch fern kreationistischer Positionierungen in theologischen Diskursen auffindbares Denkmodell an, demnach die Leerstellen wissenschaftlicher Theorienbildungen mit Postulaten göttlichen Einwirkens gefüllt würden, und hält berechtigt fest: „Als Lückenbüßer sollte uns Gott ent- 55 Abhängigkeiten gedacht wird. Zumindest räumt der Biophilosoph ein, dass der Glaubende nicht – wie von dem Briten Richard Dawkins unlängst formuliert – an einem Wahn leide, und er erkennt in der Religiosität eine anthropologische Universalie – von der der vorgestellte Atheismus gänzlich unberührt scheint. behrlich erscheinen.“ An anderer Stelle konstatiert Wuketits nicht selten vorzufindende Jenseitsvertröstungen in den Religionen, die das Diesseits zum „Diesseitsstadium“ und einem „Ort der Bewährung“ degradierten. Um solche Sinnspitzen zu ergründen, muss sich der religiöse Leser bei der Lektüre allerdings oftmals mit banalen Skizzen von Gläubigen konfrontieren lassen, die sich seiner Auffassung nach allzu oft jeder Doktrin ergeben und für Gewaltmissbrauch anfällig seien. Auf diese Weise überantworteten sie ihr Geschick leichtgläubig dem Wohlwollen einer höheren Macht und verwirkten ihre individuelle Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Die dem Atheisten eigene kritische Vernunft setze ihn hingegen in die Lage, dort nach naturwissenschaftlichen Prozessualitäten zu forschen, wo der Gläubige sich noch mit Fragen des Warums in der Ergründung göttlichen Handelns herumplage. Letztlich befähige dies den Atheisten, ein besseres Leben zu führen – ein Leben, dessen Sinn sich in der hedonistischen Befriedigung von Bedürfnissen erschöpft und das ohne die Untiefen zwischenmenschlicher 56 Wuketits bemerkt mit Recht, dass, wer ein „geschlossene[s] in sich stimmiges Weltbild“ haben möchte, sich zwischen Glaube und Religion entscheiden muss, verkennt aber zugleich, dass die Inanspruchnahme eines in sich geschlossenen und stimmigen Weltbildes einen unerfüllbaren Absolutheitsanspruch markiert. So verbleibt sein Bild des Gläubigen beim unkritischen Wunschdenker, der die Welt als ohne Widersprüche geschaffen und gelenkt annimmt, wohingegen ein Atheist sein von Sinnfragen und religiösen Sehnsüchten befreites Vernunftkalkül unablässig vorantreiben kann. Der Autor selbst vermeint mittels der Evolutionstheorie bereits einen absoluten Standpunkt gewonnen zu haben, von dem aus Ideen von göttlichem Wirken ausgeschlossen und noch offene Fragen in der Erklärung von Welt künftig beantwortet werden können. Hierfür kommt er nicht ohne dogmatisch erscheinende Theoreme wie das „physikalische Prinzip der Unordnung“ oder die in der natürlichen Auslese begründeten Lebenspotentiale und -strategien aus; bestehende Anfragen an das Erklärungsmodell der Evolutionstheorie im Bereich der spontanen Mutation bleiben gänzlich unthematisiert. Es hätte gelohnt, diese Fragen näher zu betrachten, will man wirklich dahinterkommen, was Atheisten glauben. Michael Novian Andere Religionen / Weltanschauungen 58 Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und Christentum // 60 Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte // 62 The Circle Hamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.) Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und Christentum Beiträge zur Komparativen Theologie, Band 10 Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. 2014 186 Seiten 24,90 € ISBN 978-3-506-77281-1 Verschärfen monotheistische Religionen Konflikte oder liegt in ihnen sogar die Ursache von Gewalt schlechthin? Darauf versuchen Klaus von Stosch, Professor für Katholische Theologie an der Universität Paderborn, und Hamideh Mohagheghi, wissenschaftliche Mitarbeiterin für islamische Theologie an der Universität Paderborn, eine Antwort zu geben. Der von ihnen herausgegebene Sammelband „Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und Christentum“ dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung. Anhand ausgewählter Textbeispiele wird das Gewaltpotential von Islam und Christentum untersucht. Dazu zählt der kriegerische biblische Text Dtn 7,1-6: „Wenn der Herr, dein Gott [...] dir viele Völker aus dem Weg räumt […], dann sollst du sie der Vernichtung weihen“. Die historisch-kritische Auslegung zeigt, dass die Gewaltdarstellung in Dtn 7,16 nicht zur Tötung anderer Völker aufruft, sondern sich gegen bestimmte religiöse Praktiken innerhalb der eigenen Gruppe richtet. Texte des Terrors, erfahren wir, gibt es keineswegs nur im Alten, sondern ebenso im Neuen Testament, vor allem im letzten Buch der Bibel, der Johannesapokalypse. 58 Der zweite Teil der Studie setzt sich mit dem Koran auseinander. Er gelte den Gläubigen als das geoffenbarte und unmittelbare Wort Gottes und besitze damit überzeitlichen Charakter. Damit sei die koranische Botschaft nicht auf eine bestimmte Zeit und Gesellschaft begrenzt. Aus diesem Verständnis heraus seien Gewaltverse in ihrer wörtlichen Bedeutung ernst zu nehmen. Anhand von ausgewählten Suren (Abschnitten) wird etwa den Fragen nachgegangen, ob die heilige Schrift der Muslime die Vormachtstellung des Mannes gegenüber der Frau festschreiben oder Gewalt gegen Andersgläubige rechtfertigen würde. So heißt es im Koran, Sure 9, Vers 5: „[...] tötet jene, die etwas anderes neben Gott als Göttlichkeit zuschreiben, wo immer ihr auf sie stoßt, und nehmt sie gefangen [...]. Doch wenn sie bereuen und sich an das Gebet machen [...], lasst sie ihres Weges ziehen [...].“ Zum Verständnis werden klassische exegetische Arbeiten herangezogen, die darlegen, dass dieser Text, auf den sich häufig Extremisten beziehen, weder die Ermordung von Nichtmuslimen befürwortet noch zu Zwangskonversionen aufruft. Der Koran, so die Analyse, unterstützt die Idee eines rechtfertigbaren Krieges ausschließlich im Falle der Selbstverteidigung. Für das Verstehen koranischer und biblischer Gewalttexte gelte, dass sie immer nur im Blick auf ihre Kontexte zu verstehen seien. Der Sinn ergebe sich aus dem Kontext ihrer Entstehungs-, Überlieferungs- und Rezeptionszusammenhänge; dennoch blieben, so die Quintessenz der Studie, Gewalttexte auch nach Anwendung aller literarischen, historischen und theologischen Kontextualisierungsmethoden sperrig. Diese Anstößigkeit könne nicht aufgehoben werden: „Es ist nicht zu leugnen, dass in den Religionen Elemente zu finden sind, die als verstärkende, vielleicht sogar treibende Kraft für das Auftreten von Gewalt dienen können. Gleichwohl wäre es ein Trugschluss zu behaupten, dass die Welt ohne Religionen friedfertiger wäre.“ So hätten die großen atheistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts unzählige Todesopfer gefordert. Gleichzeitig lebten Milliarden von gläubigen Menschen in Frieden und handelten friedfertig. Es gehe, so die Herausgeber, an der Realität vorbei, würde man die Religion einseitig glorifizieren oder verurteilen. Vielmehr gehe es darum, beide Seiten von Religion zu sehen und sich um eine sorgsame Auslegung der jeweiligen heiligen Schrift zu bemühen. Christine Leuchtenmüller 59 Katajun Amirpur Den Islam neu denken Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte München: C.H. Beck Verlag. 2013 256 Seiten 14,95 € ISBN 978-3-406-64445-0 Angesichts von Terrorgruppen wie IS, Hamas oder Boko Haram, die derzeit ganze Völker terrorisieren und sich dabei auf den Islam berufen, angesichts von Salafismus und vorerst weitgehend gescheiterten Freiheitsbewegungen in arabischen Ländern hat der Islam in der öffentlichen Wahrnehmung kein gutes Image, ganz zu schweigen vom Wort „Dschihad“. Wenn Katajun Amirpur, Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg und Publizistin, in diesem Kontext für einen „Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“ wirbt, sollen damit bewusst gewohnte Wahrnehmungen und Denkmuster gestört und in Frage gestellt werden. Dass es „den Islam“ und „die Muslime“ nicht gibt, ist heute zumeist ein Allgemeinplatz, dass die islamische Welt vielfältig, komplex, ja widersprüchlich ist, wissen die aufgeklärten Zeitgenossen. Doch viel zu wenig bekannt sind die intellektuellen Neuaufbrüche und theologischen Reformansätze, die die Autorin in ihrem leicht und doch interessant zu lesenden Buch beispielhaft vorstellt. 60 wichtigsten Stimmen innerhalb der Diskussion um die Reform islamischen Denkens im 20. Jahrhundert“. Mit Ausnahme von Rahman nehmen die genannten Reformer mehr oder weniger Anleihen bei modernen westlichen philosophischen und geisteswissenschaftlichen Denkern und Strömungen, greifen aber auch auf rationale Diskurse in der eigenen Tradition zurück. Alle zielen auf individuelle Freiheit, Gleichheit und Pluralismus. Der ideologiekritische Impetus all dieser Ansätze brachte deren Vertreter in den Heimatländern meist in Bedrängnis, nicht selten ins westliche Exil. Erste Reformansätze in der islamischen Welt gab es zwar schon Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts in Reaktion auf die europäische Moderne, doch gerieten diese Ansätze schnell in den Sog islamistischer Ideologien. Heutige Reformer definieren sich bewusst als Gegenbewegung zu den politisch-religiösen Machtideologien. Amirpur konzentriert sich bei ihrer Auswahl der Reformer im Wesentlichen auf hermeneutische Ansätze, die die Frage nach der Interpretation des Korans ins Zentrum stellen, ist der Koran doch die entscheidende Bezugsquelle islamischen Denkens und Strebens bis heute. Zu Wort kommen ausführlich der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid († 2010), der pakistanischstämmige islamische Gelehrte Fazlur Rahman († 1988), die US-amerikanische Konvertitin und Aktivistin Amina Wadud (geb. 1952), die 2005 erstmals ein öffentliches Freitagsgebet einer gemischten Gemeinschaft leitete, die gebürtige Pakistanerin Asma Barlas (geb. 1950) sowie die beiden iranischen Denker Abdolkarim Soroush (geb. 1945) und Mohammed Mojtahed Shabestari (geb. 1936). Dabei wird nicht klar, warum Amirpur nicht mit Fazlur Rahman beginnt, beziehen sich doch viele Reformansätze mehr oder weniger auf ihn, „eine der Weitere Pioniere wie Khaled Abou El Fadl, Farid Esack, Ebrahim Moosa, Muhammad Shahrour, Mahmoud Muhammad Taha, Abdullahi An-Na’im, Sadiq al-Azm, Mohammed Arkoun oder der schillernde Tariq Ramadan, die sich allesamt auf ihre Weise dem Problem des Glaubens in der modernen Welt stellen, werden zumindest kurz angerissen. Leider kommen von kurzen Hinweisen abgesehen (vgl. 113: Mehmet Paçacı, 115: Ömer Özsoy) keine Stimmen aus dem türkischen oder südostasiatischen Raum ausführlicher zur Sprache, die das Spektrum an Positionen noch bereichern würden. Insgesamt sind es immer noch Minderheitenpositionen, doch sie vernetzen sich zunehmend und befruchten sich gegenseitig. Junge muslimische Nachwuchswissenschaftler/-innen in Deutschland und anderen westlichen Ländern werden von diesen Ansätzen angesprochen, sodass zu hoffen ist, dass sie immer mehr Einfluss auf den islamischen Mainstream nehmen werden. Auch die nichtmuslimische Welt kann einen Beitrag dazu leisten, diesen Stimmen – gegen die Schreihälse der Salafisten – Gehör zu verschaffen. Andreas Renz 61 Dave Eggers The Circle Roman – Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag. 2014 560 Seiten 22,99 € ISBN 978-3-462-04675-5 Dave Eggers, geboren 1970, ist Menschenrechtsaktivist und engagiert sich dafür, Menschen an die Schreibkultur heranzuführen. In seinem Roman setzt er sich mit der Verführungskraft der sozialen Netzwerke und ihrem Potential auseinander, auf sanfte Art totale Herrschaft zu erobern. Die fiktive Firma „The Circle“ verfügt über Technologien, die es bereits gibt: das Internet, Videokameras, Drohnen – nichts Phantastisches. Bei der Beschreibung der Interna des Circle stand offenbar die Firma Google Pate, deren Rundumbetreuung der Mitarbeiter mit Sportangeboten, Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge, Wohnheimen, großzügigen Arbeitszeitregelungen legendär ist. Auf Empfehlung ihrer Freundin Annie wechselt die Protagonistin, Mae Holland, von einem drögen Job bei den Strom- und Gaswerken zum Circle: Wahnsinn, dachte Mae, ich bin im Himmel. Mit diesem ersten Eindruck beginnt der Roman. Er bezieht sich auf die Ausstattung des Campus, auf dem sich Mae fortan bewegt. Ihr erster Job ist in der Customer Experience-Abteilung, in der sie sich um Kundenrückmeldungen kümmert. Mae ist mit Hunderten Circlern zusammen im großen Saal, als eine Webkamera vorgestellt wird, die sich jedermann kaufen soll, um die Orte zu überwachen, die ihn interessieren. In großen Lettern wird der Slogan an die Wand projiziert: Alles, was passiert, muss bekannt sein. Denn selbstverständlich werden die Millionen Livestreams auch im Circle eingespeist und für alle Welt verfügbar: Wir werden allwissend sein – allsehend, verkündigt einer der Geschäftsführer unter donnerndem Applaus. 62 Die transparente Mae wird zum Star auf dem Campus. Millionen von Viewern und Followern lassen sich von ihr die Ereignisse im Circle erklären, während Mae mit der unübersichtlichen Welt da draußen immer weniger klarkommt. Zuletzt muss sie eine Entscheidung treffen. Unterdes steigt Mae im Unternehmen auf. Da alle ihre Leistungen ununterbrochen überwacht und bewertet werden, weiß sie, dass sie nicht nur in der Beantwortung der Kundenanfragen zu den besten gehört, sondern auch in den sozialen Netzwerken hohe Punktzahlen erreicht. Ein grober Schnitzer führt zu Maes großem Durchbruch: Nachts entdeckt die Kajakbegeisterte ein Boot, das ungesichert am Strand ihrer Lieblingsbucht liegt, und fährt damit los. Eine Webcam erfasst den Diebstahl, Polizei ist da, die Festnahme droht, bis die Besitzerin des Kajaks ihre Stammkundin aus der peinlichen Lage befreit. Mae wird zum Geschäftsführer des Circle zitiert. Sie muss einsehen, dass sie sich nur deshalb unmoralisch verhalten hat, weil sie sich unbeobachtet fühlte. Sie beschließt, sich transparent zu machen, also eine Kamera zu tragen, die aller Welt ermöglicht, zu sehen und zu hören, was sie sieht und hört. Mae selbst formuliert die neuen Slogans: Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Alles Private ist Diebstahl. Mit großem Tamtam machen sich nun Politiker transparent, und die Öffentlichkeit beginnt zu fragen, was diejenigen, die sich weigern, wohl zu verbergen haben. Eggers erzählt seine Geschichte konsequent aus der Perspektive Maes, und er erzählt streng chronologisch. Das führt dazu, dass der Roman streckenweise zäh zu lesen ist, etwa wenn Mae seitenweise Kundenreaktionen beantwortet oder im sozialen Netzwerk unterwegs ist. Aber gerade dadurch macht uns der Autor bewusst, mit welchen Belanglosigkeiten Menschen sich Stunden um Stunden befassen, wenn sie sofort durch eine gute Bewertung belohnt werden. Der Autor erzeugt Sympathie für seine Protagonistin und veranlasst den Leser zugleich, über Maes Verhalten zu erschrecken: Das erzeugt eine Spannung eigener Art. Und der Leser denkt unweigerlich darüber nach, ob er selbst schon seine Privatheit den diversen Verlockungen der Netzwelt zu opfern bereit war. Karl Vörckel 63 Bistum Limburg ISBN 978-3-944142-06-7