MeineStrasse Hommagevon Barbara Honigmann 6 JensSteiner
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MeineStrasse Hommagevon Barbara Honigmann 6 JensSteiner
Nr. 2 | 22. Februar 2015 NZZ am Sonntag Meine Strasse Hommage von Barbara Honigmann 6 Jens Steiner Porträt der Null-BockGeneration 10 C. H. Beck Verlag mit 250 Jahren Tradition 12 Götz Aly Deutschland, ein Volk ohne Mitte 21 Bücher am Sonntag Biografien Robert Holzach zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der Schweizer Bankgeschichte. Fast 50 Jahre stand er im Dienst der SBG. Unter seiner Ägide als Verwaltungsratspräsident war das Institut äusserst erfolgreich. «Eine lesenswerte Biografie, auch als Rollenmodell für die Nachfolger.» Maja Wyss, Bilanz, 9. Januar 2015 «Das war noch ein echter Banker. Empfehlenswert.» @retolipp, 21. November 2014 Claude Baumann Robert Holzach Ein Schweizer Bankier und seine Zeit. Mit einem Vorwort von Henry Kissinger 304 Seiten, 58 Abb., gebunden mit Schutzumschlag Fr. 36.–* / € 36.– Auch als E-Book erhältlich <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDKxNAYAfBq6CA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ7DMBBE0ROtNTP2erM1jMKigCjcpCru_VGVsoAPvvT2fXjBv3U7ru0cnp60gFrWe4qij0UqaDEgSqC_CC5EZH94A7NX1Hkbg4yahDEMmNm8fN-fHzlyVadyAAAA</wm> In jedem Auto dieser Welt stecken bis zu 200 Komponenten der Schweizer Firma Feintool. Gegründet hat das Unternehmen Fritz Bösch. Dieser wollte eigentlich Radprofi werden. «Die erstaunliche Karriere des in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Feintool-Gründers Fritz Bösch.» Hans Galli, Der Bund, 9. Januar 2014 «Einen tiefen, unterhaltsamen und, gerade was die Kindheit betrifft, auch berührenden Einblick in ein Unternehmerleben.» Tobias Graden, Bieler Tagblatt, 20. Dezember 2014 Trudi von Fellenberg-Bitzi Fritz Bösch Der Feintool-Gründer. 204 Seiten, 39 Abb., gebunden mit Schutzumschlag Fr. 38.–* / € 38.– Auch als E-Book erhältlich nzz-libro.ch Inhalt Der Passionierte im laubumrankten Haus in Schwabing Barbara Honigmann (S. 6). Illustration von André Carrilho Jeden Tag fährt ein freundlicher älterer Herr, «der auch Professor für Philosophie und Geschichte sein könnte», mit dem Velo durch MünchenSchwabing – vorne im Einkaufskorb ein paar Bücher und Manuskripte, die er gerade bearbeitet. Sein Ziel ist der C. H. Beck Verlag, den er zusammen mit seinem Bruder in Familienbesitz hält und bis Anfang Jahr leitete. Der feinsinnige Wolfgang Beck (73) ist nicht nur ein Verleger, der zu Firma und Personal Sorge trägt. Er hat auch ein Credo, das dem beklagten Niedergang des Buchmarkts zu trotzen vermag: Auch wissenschaftliche Bücher, so Beck, müssen stilistisch überzeugen und Lesegenuss verschaffen. Reines Wissen nämlich bezieht das Publikum heute online (und kostenlos). Lesen Sie dazu das heitere Porträt über Wolfgang Beck (Seite 12). Einen Genuss bereiten Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vielleicht die wiederentdeckte Liebesgeschichte von Alfred Hayes (S. 4). Das elegante Porträt einer Strasse von Barbara Honigmann (S. 6), der neue Roman von Jens Steiner (S. 10) oder die Essays von Eva Menasse (S. 19). Sicher ist: Gute Bücher finden auch 560 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks ihre Leserschaft, ob gedruckt oder elektronisch, über Amazon oder die Quartierbuchhandlung. Das Beispiel des C. H. Beck Verlags zeigt, dass, wer mit Leidenschaft, Gespür und Ausdauer kluge Bücher produziert, ein Vierteljahrtausend überleben kann. Keine schlechte Nachricht in der heutigen Zeit! Urs Rauber Belletristik 4 Alfred Hayes: In Love Von Martin Zingg 5 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreissig Von Manfred Papst 6 Barbara Honigmann: Chronik meiner Strasse Von Sandra Leis Jan Himmelfarb: Sterndeutung Von Stefana Sabin 7 Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird Von Jürg Scheuzger 8 Louis Begley: Zeig dich, Mörder Von Manfred Koch 9 Mamdouh Azzam: Wie ein ferner Herzschlag Von Susanne Schanda Johanna Diehl: Borgo Romanità Alleanza Von Gerhard Mack 10 Jens Steiner: Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit Von Regula Freuler 11 Michael Frayn: Streichholzschachteltheater Von Simone von Büren Kurzkritiken Belletristik 11 Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit Von Manfred Papst Terézia Mora: Nicht sterben Von Regula Freuler Georges Perec: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler? Von Manfred Papst Linus Reichlin: In einem anderen Leben Von Regula Freuler Porträt 12 Vom Gewicht der Geschichte Im Münchner C. H. Beck Verlag findet ein Generationenwechsel statt. Manfred Papst traf Wolfgang Beck zum Gespräch Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger von 2013, legt seinen dritten – vergnüglichen – Roman vor (S. 10). Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Arno Schmidt Kurzkritiken Sachbuch 15 Andreas Müller: Bürgerstaat und Staatsbürger Von Urs Rauber Heinz Gallmann: Zürichdeutsches Wörterbuch Von Urs Rauber Peter Gross: Ich muss sterben Von Kathrin Meier-Rust Stefanie Schramm, Claudia Wüstenhagen: Alphabet des Denkens Von Geneviève Lüscher Sachbuch 16 Ricardo Tarli: Operationsgebiet Schweiz Von Urs Rauber 18 Hans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit Von Kirsten Voigt 19 Eva Menasse: Lieber aufgeregt als abgeklärt Von Nicole Althaus Wolfgang Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge Von Anja Hirsch 20 Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers Von Sieglinde Geisel Robert Salmon, Christopher Cordey: Aufwachen! Von Thomas Zaugg 21 Götz Aly: Volk ohne Mitte Von Claudia Mäder 22 André Comte-Sponville: Liebe/Sex Von Klara Obermüller Andreas Bachofner: Ur-Alpen Von Felix E. Müller 23 FlorianHuber:Kind,versprichmir, dassdudicherschiesst SusanneWiborg,JanPeterWiborg: Glaube,Führer,Hoffnung Von Claudia Kühner Samuel Mumenthaler, Kurt Stadelmann: Oh Yeah! Von Urs Rauber 24 Sven Hedin: Durch Asiens Wüsten/Abenteuer in Tibet/Trans-Himalaja Von Kathrin Meier-Rust Peter Blickle: Der Bauernjörg Von Peter Durtschi 25 Katja Kraus: Freundschaft Von Susanne Ziegert 26 Karl-Theodor Zauzich: Hieroglyphen mit Geheimnis Von Geneviève Lüscher Das amerikanische Buch Mohamedou Ould Slahi: Guantánamo Diary Von Andreas Mink Agenda 27 Miriam Kronstädter, Hans-Joachim Simm: Lob des Landlebens Von Manfred Papst Bestseller Februar 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda März 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Alfred Hayes, einer der grossen Aussenseiter der angelsächsischen Literatur, hat 1953 eine hinreissende Geschichte vom Scheitern einer Liebe erzählt. Endlich liegt das Juwel auf Deutsch vor ZeitlosesLiebesdrama imNewYork derNachkriegszeit Alfred Hayes: In Love. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Nagel & Kimche, Zürich 2015. 144 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 18.90. Von Martin Zingg Ob es Liebe war? Bis zuletzt bleibt das offen, und vielleicht war es ja nur eine Affäre, was die beiden ein gutes Jahr lang miteinander verbunden hat, eine lauwarm vor sich hindümpelnde Affäre. Sie ist etwas über zwanzig, er geht auf die vierzig zu. Genaueres dazu werden wir nicht erfahren, auch nicht, wie die beiden heissen. Sie ist ausnehmend schön, lebt allein und ziemlich unglücklich in einer kleinen Wohnung, in der sie sich nie richtig wohl fühlt. Im Alter von achtzehn Jahren hat sie geheiratet, bald darauf ein Kind bekommen, Barbara, und kurze Zeit später war sie schon geschieden. Die Tochter, inzwischen fünf Jahre alt, wächst bei den Eltern der Mutter auf, und diese weiss nicht, wie es mit ihr weitergehen soll. Sie würde gerne wieder heiraten, hätte gerne endlich ein eigenes Haus und ein zweites Kind. Ein unmoralisches Angebot Er wiederum, der uns diese Geschichte erzählt, lebt in einem Hotel, wie sich irgendwann herausstellt, und ist öfter mal unterwegs – in welcher Sache genau, sagt er allerdings nicht. Er hat immer wieder zu tun und kann sich darum nicht ständig um seine Freundin kümmern. Sie, die grosse Mühe hat, ihre Tage zu gestalten, unternimmt umständehalber auch einiges ohne ihn. Und als sie einmal von Charlie und Isabel White, einem befreun4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 deten Ehepaar, mitgenommen wird in ein Kabarett, lernt sie einen älteren Mann kennen, Howard. Auf den ersten Blick wirkt er eher spröde, er fordert sie zwar zum Tanz auf, scheint aber daran wenig Freude zu haben. Freude hat er jedoch an ihr, er ist auf Anhieb von ihr angetan und macht ihr gleich ein Angebot, das sie als unmoralisch durchschaut und eher erstaunt als empört zurückweist – und das sie dennoch interessieren wird. Howard nämlich bietet ihr tausend Dollar an, wenn sie mit ihm schläft. Nicht jetzt gleich. Irgendwann. Sie solle sich das in Ruhe überlegen, sagt er, dann könne sie sich melden. Dafür gibt er ihr seine Karte. Isabel weiss Bescheid über Howard: Er sei «furchtbar reich», sagt sie. Keine schlechte Voraussetzung für eine weitere Affäre, aber die junge Frau zögert und erzählt alles haarklein ihrem Freund, von dem wir es dann erfahren. Die Beziehung der beiden sehr Ungleichen wird auf eine seltsame Probe gestellt, und geprüft wird vor allem die junge Frau. Sie könnte das Geld sehr gut brauchen, und sie würde es in erster Linie für ihre Tochter anlegen. «Aber überleg nur mal, sagte sie. Eine Nacht, mehr nicht. Er will nur eine Nacht haben», erklärt sie im Gespräch dem Erzähler. «Ich könnte es ja einfach vergessen und so tun, als wäre nichts passiert. Und es würde dir wirklich nichts ausmachen, Darling? Denn ich liebe dich doch. An meinen Gefühlen für dich würde sich überhaupt nichts ändern.» Natürlich wird sich einiges ändern, vor allem an den Gefühlen. «Es war wie in einem schlechten Film, wenn so etwas im Film überhaupt noch vorkam. Aber vor allem war es wie in einem schlechten Leben.» Es fällt den beiden nicht leicht, voneinander loszukommen. Erst als klar ist, dass sie sich Howard zuwenden wird, gesteht sich der Erzähler allmählich seine Gefühle ein, und zugleich realisiert er auch, dass er sich nicht immer angemessen verhalten hat. «Selten war mir etwas ganz wichtig», sagt er einmal, und dieses beiläufige Bekenntnis erklärt manches. Prosa-Wunderwerk Alfred Hayes (1911–1985). «In Love» heisst der Roman von Alfred Hayes, der diese Liebesbeziehung vor allem im Lichte ihres Scheiterns erzählt. Der Roman ist im fernen Jahr 1953 zum ersten Mal erschienen und liegt nun in der geschmeidigen Übersetzung von Matthias Fienbork wieder vor – ein kleines Prosa-Wunderwerk. Mit nur wenigen Strichen skizziert Hayes die Kulissen dieses Romans, das New York der frühen Nachkriegszeit. Noch wird am UnoHauptgebäude gebaut, der Dollar ist hoch bewertet – das Alter ist dieser Prosa aber kaum anzusehen, im Gegenteil. Was am meisten überrascht und alterslos erscheint, ist die Erzählweise von Alfred Hayes, die Art, wie er über seinen Ich-Erzähler eine komplexe und zugleich äusserst elegant vorgetragene Geschichte entwickeln kann. Allein schon die knappen und psychologisch dichten Dialoge sind grossartig. Alfred Hayes war übrigens sehr lange vergessen, möglicherweise war er nie wirklich bekannt. Sein populärstes Werk ist ausgerechnet ein Lied, «Joe Hill», das von Earl Robinson vertont wurde und das den Gewerkschaftsaktivisten und Liedermacher Joe Hill beschwört. 1911 wurde Hayes in London geboren, in einer jüdischen Familie, die in die USA Autobiografie Theodor Fontanes spätes Werk – erstmals umfassend ediert Heiteres Bekenntnis Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreissig. Aufbau, Berlin 2014. 974 S., Fr. 69.90. Von Manfred Papst Kein deutscher Autor verstand sich besser auf die geistvolle Causerie als Theodor Fontane (1819–1998). Seine reifen Romane, allen voran «Effi Briest» und «Der Stechlin», zählen zur Weltliteratur. Zum Spätwerk dieses bedeutenden Realisten gehört auch das weit ausgreifende autobiografische Buch «Von Zwanzig bis Dreissig», das wenige Monate vor seinem Tod erschien. Es schliesst an den bezaubernden Roman «Meine Kinderjahre» von 1894 an und behandelt die Jahre von 1840 bis 1850. Damals übte Fontane – in den Fussstapfen seines Vaters – den Brotberuf des Apothekers aus, versuchte sich aber auch schon als Schriftsteller. Vieles kam seinen poetischen Ambitionen in die Quere: nicht zuletzt das Militär-Pflichtjahr 1844/45. Wir begleiten den Autor auf seiner ersten Reise nach England und erleben mit ihm die Revolution von 1848. Auch seine Verlobung und Heirat mit Emilie Rouanet ist ein grosses Thema. Fontane zeigt sich in diesem Buch so unverstellt wie selten. Seine Memoiren sind Erzählung und Bekenntnis zugleich. Sie zeugen von Humor und kritischer Selbstprüfung. Jedes Wort ist an seinem Platz. In diesem späten Parlando des Meisters gibt es kein Stolpern, kein Pathos, keine Verkrampftheit. Wolfgang Rasch hat den Band im Rahmen der von der Fontane-Forschungsstelle der Universität Göttingen edierten Gesamtausgabe herausgegeben. Sein fundierter Kommentar lässt keine Wünsche offen. Besonders zu loben ist, dass Rasch Fontanes Selbstdarstellung exakt hinterfragt und erstmals im Detail darstellt, wie es in diesem grossen Erinnerungsbuch um Dichtung und Wahrheit steht. ● Eine Nacht für tausend Dollar? Der Roman von Alfred Hayes kreist um eine Affäre im New York der 1950er Jahre. zog, als er drei Jahre alt war. 1985 ist er in Kalifornien gestorben. Er absolvierte ein Studium am New Yorker City College, arbeitete als Reporter, und nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachte er einige Jahre als Drehbuchautor in Rom. Dort schrieb er unter anderem für Roberto Rossellini und Vittorio de Sica. Nach seiner Rückkehr in die USA arbei- tete er weiter für den Film, unter anderem für Nicholas Ray, und schrieb Drehbücher für Fernsehserien wie «The Twilight Zone» und «Alfred Hitchcock Presents». Daneben verfasste er drei Gedichtbände und ein halbes Dutzend Romane sowie Kurzgeschichten. Jetzt ist er mit «In Love» wieder zu entdecken. Es lohnt sich. ● ARNE DAHL LIVE ERLEBEN · 11. März, 19.30 Uhr: Kantonsbibliothek Baselland / Liestal <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDIwNgcAM54x8g8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQoCQRAEXzRLd689w7qhXHZcIOabiLH_j_TMDAqqoPZ9uuHHbTse2316eDAKQq8zmionh1o5J0QJ9JV2EpfS3x_gyI6-ziegoNZX7OhcSLf38_UBHsz7u3IAAAA=</wm> © Sara Arnald · 12. März, 18.15 Uhr: Universität Zürich / Rämistr. 71 In Kooperation mit dem Europa Institut an der Universität Zürich und der schwedischen Botschaft · 13. März, 20.00 Uhr: Hotel Schweizerhof / Bern »Dahl ist was die das Beste, hwedische ak tuelle sc schaft zu Krimi-Land « bieten hat.e Spiege l O nlin 576 Seiten · Klappenbroschur sFr 24,50 · 10. März, 20.00 Uhr: Buchhandlung Schreiber Kirchgasse / Olten 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Porträt Die deutsch-jüdische Autorin Barbara Honigmann schreibt über die Menschen in ihrer Strasse Mikrokosmosder RueEdelinStrassburg die glühende Kommunisten waren – ihren jüdischen Glauben praktizieren. In ihrem erfolgreichen Debüt «Roman von einem Kinde» (1986) schreibt Barbara Honigmann von einem «dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein». Die Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition und Geschichte ist ihr zentrales literarisches Thema. So schrieb sie beispielsweise über ihren Vater, einen jüdischkommunistischen Journalisten, ein anrührendes Buch («Eine Liebe aus nichts», 1991) und ging auch den Spuren ihrer Mutter nach («Ein Kapitel aus meinem Leben», 2004). Diese war mit einem Doppelspion liiert, bevor sie Georg Honigmann heiratete und mit ihm aus dem Barbara Honigmann: Chronik meiner Strasse. Hanser, München 2015. 160 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 19.–. Über den ersten Satz eines Buches gibt es zahlreiche Abhandlungen: Er kann abstossen oder sofort und dauerhaft in den Text hineinziehen. Barbara Honigmann gelingt letzteres. Sie beginnt so: «Wenn wir sagen, dass wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.» Und schon hat sie uns am Wickel. Denn wir wollen alles erfahren über diese zuvor noch nie gehörte Rue Edel ganz im Osten von Strassburg. In der schmalen Strasse gibt es keinen einzigen Baum und keine Kathedrale, dafür den nahe gelegenen Universitätscampus und eine Ecole internationale. Ein Ghetto ist das Quartier nicht, aber eine sehr gemischte Gegend: Hier leben viele Juden, Araber, Kurden und Schwarze, aber auch Pakistani, Inder, Portugiesen und Osteuropäer. Neben den vielen Völkern wohnen hier auch ein paar Verrückte, zahlreiche Hunde und Katzen und das sogenannte «andere Frankreich». Gemeint sind Franzosen «ohne Chic und Charme», die mit struppigem Haar übers Trottoir schlurfen. Und mittendrin lebt die Schriftstellerin und Malerin Barbara Honigmann im, wie sie sagt, zweithässlichsten Haus der ganzen Strasse, vergleichbar einem «DDRAlt-Neubau» aus den späten fünfziger Jahren. 1984 verliess sie die DDR und zog mit ihrem Mann und den beiden kleinen Söhnen von Ostberlin nach Strassburg. Sie wollte – ganz anders als ihre Eltern, UTE JUERGEN BAUER Von Sandra Leis Vor 30 Jahren hat Barbara Honigmann, heute 66, die DDR verlassen. Seither lebt sie in der gleichen Wohnung in Strassburg (Foto 2009). englischen Exil nach Ostberlin zog, um ein neues Deutschland aufzubauen. In ihrem neuen Buch beschreibt die 66-jährige Barbara Honigmann die grosse Welt im Kleinen. Ihr Sujet ist die Strasse des Anfangs, wo sie seit dreissig Jahren in derselben hellhörigen Wohnung im dritten Stock lebt und arbeitet. Sie ist eine herausragende Beobachterin und schreibt – treu ihrem schnörkellosen Stil – mit grosser Zurückhaltung und sparsam in den sprachlichen Mitteln. Ihr Buch ist kein chronologischer Rückblick, vielmehr erzählt sie einzelne Episoden und fügt diese zu einem kaleidoskopartigen Panorama zusammen. Sie berichtet von drei jüdischen Witwen, denen sie immer wieder als Sekretärin und Übersetzerin behilflich war, oder von den Nachbarn Nadja und Hakim und deren kleinem Buben. Die Familie scheint glücklich, bis die Frau auszieht und zwei Schachteln Schlaftabletten schluckt. Der Mann und der Bub ziehen fort in ein anderes Quartier, nur zufällig begegnet man sich hin und wieder, und Barbara Honigmann hält kurz und bündig fest: «Jetzt besuchen wir uns nicht mehr und können uns auch nicht mehr helfen.» Auf eine Wertung verzichtet sie ganz bewusst. In der Rue Edel gibt es manche, «die irgendeine verlassene Heimat mit sich herumtragen», schreibt die Autorin. Viele arrangieren sich mit diesem Umstand und leben an beiden Orten zugleich, «durch die Sprache ihrer Herkunft und die Speisen ihrer Küche». Manche aber haben überhaupt keine Orientierung mehr und fallen durch alle Maschen. Beide Möglichkeiten dokumentiert Barbara Honigmann anschaulich und facettenreich in ihrem literarischen Kleinod.● Roman In seinem Debüt umkreist der Ukrainer Jan Himmelfarb die Identitätssuche von Immigranten Das Leben in der Fremde neu erfinden Jan Himmelfarb: Sterndeutung. C. H. Beck, München 2015. 394 Seiten, Fr. 33.50. Von Stefana Sabin Zu Beginn und mehrmals im Verlauf dieser Geschichte wird Geburtstag gefeiert. Denn wenn man in einem ukrainischen Zug im Zweiten Weltkrieg geboren wurde und während der rabiaten Judenverfolgung aufgewachsen ist, muss man sich seines Lebens immer wieder vergewissern. So feiert Arthur Segal, der Held im Roman von Jan Himmelfarb, nachdem er als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert ist, jedes Jahr seinen Geburtstag – und zwischen diesen Feiern rekonstruiert er den 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 Verlauf seiner Existenz als eine anhaltende Überlebensgeschichte. Der Krieg und die Judenvernichtung durch die Nazis und ihre ukrainischen Handlanger, aber auch die innere Emigration im sowjetischen Totalitarismus sind die Eckpunkte einer Lebensgeschichte, die zugleich erzählt und reflektiert wird. Der Versuch, im Land der ehemaligen Verfolger sein «Leben neu zu erfinden» und die Beschreibung der Anpassung an Deutschland als eines Prozesses der ständigen Selbstbefragung machen Arthur Segal zu einer psychologisch glaubwürdigen Gestalt. Zwar haben deutsche Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache in den letzten Jahren immer wieder die Identitätssuche von Immigranten thematisiert. Aber nur wenigen ist es wie Himmelfarb in diesem Roman gelungen, den deutschen Verwaltungsund Integrationsapparat so gelassen darzustellen. Zugleich zeichnet er, der 1985 in der Ukraine geboren wurde und mit seiner Familie 1992 nach Deutschland kam, ein wohlwollend-selbstkritisches Bild der fröhlichen (Parallel-)Gesellschaft der russischen Immigranten, die sich im neuen Wohlstand arrangieren, ohne dabei je das Bewusstsein ihrer Fremdheit zu verlieren. Himmelfarb wechselt stilistisch zwischen Satire und Realismus und inhaltlich zwischen Rekonstruktion der Vergangenheit und Beschreibung der Erzählgegenwart – und konstruiert eine Geschichte, deren Vielschichtigkeit auch ihre Plausibilität ausmacht.● Roman Iris Hanika legt ein Buch vor, das häufig die Perspektive wie die Form wechselt: eine Beziehungsgeschichte um einen jungen Familienvater WarumAdriandenMüllsortiert Iris Hanika: Wie der Müll geordnet wird. Droschl, Graz 2015. 299 Seiten, Fr. 32.–. Von Jürg Scheuzger Antonius betrauert den Tod seiner Frau Magelone, und er hat nun eine Freundin, Antonina, die aber eigentlich Renate heisst – und Antonius heisst eigentlich Manfred. Eine übergeordnete Erzählerstimme belehrt uns, dass es Magelone nie gegeben hat, und auch Renate/Antonina ist bloss ein Produkt von Manfreds/ Antonius’ Einbildungskraft. Antonius hat aber eine in der Wirklichkeit existierende Frau, Gabriele, von der er getrennt lebt, mit der er vier Kinder hat, und in dieser Lebensrolle heisst er Adrian. Als Antonius hat er den Vorsatz gefasst, «nur noch sinnlose Dinge zu tun». Deshalb macht er täglich frühmorgens Ordnung in den sieben Mülltonnen, die im Hof eines Westberliner Wohnhauses stehen. Tagebuch der Langeweile Iris Hanika, die uns all dies erzählt in ihrem Roman «Wie der Müll geordnet wird», erklärt auf ihrer Webpage, sie habe «die Arbeit an diesem Buch mit dem Vorsatz [begonnen], etwas Sinnloses zu schreiben», sie habe aber «keinen Dadaismus oder ähnliches produzieren» wollen. Die 1962 geborene Hanika, von Beruf Germanistin und Journalistin, ist geprägt von der Psychoanalyse Jacques Lacans. Sie hat in den letzten Jahren in rascher Folge drei Bücher veröffentlicht, die man als Romane bezeichnen kann: «Treffen sich zwei», «Das Eigentliche» und «Tanzen auf Beton. Weiterer Bericht von der unendlichen Analyse». Alle ihre Bücher, nun auch der Roman über den Müll, sind formal vielgestaltig, enthalten wissenschaftliche und journalistische Einfügungen, literarische Zitate, Anmerkungen, und Hanika liebt es, mit dem häufigen Wechsel der Erzählperspektiven zu verwirren. Die Autorin bekennt sich zu ihrer «Russophilie», der Roman ist denn auch voll von intertextuellen Bezügen zu russischen Autoren, und der Titel «Wie der Müll geordnet wird», bezieht sich denn auch auf den Roman «Wie der Stahl gehärtet wird» von Nikolai Ostrowski. Adrian, wie wir ihn nun doch nennen wollen, findet nach der existenziellen Einsicht in seine ausweglose Einsamkeit in einer Mülltonne ein farbiges Heft, ein Quasi-Tagebuch einer Frau, die ebenfalls Renate heisst und die ihren Mann Manfred infolge eines grauenhaften Verkehrsunfalls verloren hat. Sie kann nicht sehr gut schreiben, wie Adrian mäkelnd feststellt, und klagt repetitiv über die Beschwerden der Wechseljahre, vor allem aber über die gnadenlose Langeweile, die sie überfiel, nachdem sie den Tod Manfreds scheinbar überwunden hatte. Sie will aus ihrem Leben aussteigen und alles hinter sich lassen. Iris Hanika ge- Sinnlose Dinge tun wie den Abfall anderer Leute ordnen: Das hat sich der Exzentriker in Iris Hanikas Roman zur Lebensaufgabe gemacht. lingt das Kunststück, eine Romanfigur ‹schlecht› schreiben zu lassen und diese doch zu fundamentalen Einsichten zu führen: «…das ist überhaupt der grösste Schrecken, den ich mir vorstellen kann: ewige Gegenwart. Wenn alles immer so bliebe, wenn sich nichts verändern, ändern, nicht einmal ändern würde, das wäre die Hölle. So würde ich mir die Hölle vorstellen…» Das Tagebuch, von Adrian dauernd kommentiert, endet mit einer Antiklimax: Renate findet einen Wolfgang für ihr Leben, und vieles ist gut. Meint man. Satirisch bis tieftraurig Denn dies ist nur der erste Teil des Romans; den zweiten hat die Autorin vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben (sagt sie auf ihrer Webpage). Dieser spielt in den Monaten nach dem Fall der Mauer, der aber niemanden interessiert («DIE DEUTSCHE FRAGE … bloss CDU-Gewäsch») – ausser Adrians Vater Kurt Marschner, einen Möbel-Tycoon, der bei Leipzig sehr viel Geld verdienen will. Hanika schildert die wohlhabende Westberliner Gesellschaft mit kalter Verachtung: «[ein] Gewühl von zähnebleckend gutgelaunten Monstern aus Galle, Gier und Intrigantentum.» Dieser zweite, oft satirische Teil des Romans ist beinahe ein Kriminalroman; es geht um ein Buch, das ein verschollenes Schauspiel des barocken Schriftstellers Johann Christian Hallmann enthält. Im Zentrum steht einerseits der jüdische Germanist Amos Mann, dessen Verwandte dem Holocaust zum Opfer fielen und dessen Eltern in den USA ermordet wurden, möglicherweise des besagten Buches wegen. Zu Amos’ Umkreis gehört die junge Germanistin Dorothea (wahrscheinlich ein Alter Ego der Autorin), die das Buch bei dem Möbel-Menschen Kurt Marschner vermutet, einem Bibliophilen mit einer erlesenen Sammlung. Und es geht um Adrian, den jungen Familienvater und überforderten Souschef im Betrieb seines übermächtigen Vaters. Adrian ist gleichsam die Verkörperung der Entfremdung im kapitalistischen System, der in einer grotesken Szene mit seiner Sekretärin Renate einen bizarren Glücksmoment erzwingt und der am Schluss des zweiten Teils in einem eigentlichen Showdown gewalttätig wird, um sich darauf recht gern in ein «Irrenhaus» einliefern zu lassen – und um sich dann eben im ersten Teil, etwa zwanzig Jahre später, dem Müll zu widmen. Der kurze dritte Teil handelt in der «Zukunft» – zum Beispiel 2014 – und verunklart noch einiges, was an sich schon verwirrlich genug ist. Iris Hanika hat zielbewusst des Verwirrenden zu viel getan, inhaltlich und formal. Der Roman liest sich leicht und bedarf doch höchster Konzentration. Die Autorin schlägt oft einen munteren, manchmal auch zynischen Ton an und erzählt Tieftrauriges. Ihre Gestalten sind Hyänen oder rettungslos verloren und manchmal beides. ● 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Der amerikanische Bestsellerautor Louis Begley unternimmt einen Ausflug ins Thriller-Genre VerbrechenimAnwaltsmilieu Louis Begley: Zeig dich, Mörder. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Suhrkamp, Berlin 2015. 303 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–. Von Manfred Koch Erst mit 57 Jahren begann Louis Begley zu publizieren – und landete mit «Lügen in Zeiten des Krieges» (1991) gleich einen Welterfolg. Der Roman spielt in den Jahren 1939 bis 1945. Er erzählt die Geschichte eines in Galizien aufgewachsenen jüdischen Jungen, der mit Glück und «lügnerischem» Geschick dem Holocaust entkommt. Begley, der 1946 im Alter von 13 Jahren aus Polen in die USA übersiedelte (damals noch unter dem Namen Ludwig Beglejter), hat stets betont, mit seinem Erstling nicht einfach seine Kindheitsmemoiren, sondern ein fiktionales Gebilde – einen Roman eben – vorgelegt zu haben. Die autobiografische Prägung der Geschichte des kleinen Maciek ist dennoch unübersehbar. Es sei ihm auch nicht darum gegangen, lang zurückliegende Traumata aufzuarbeiten, hat der Autor an anderer Stelle kommentiert. Offenbar wirkte dieses Werk aber doch befreiend. In seiner neuen Heimat hatte es Begley zu einem der angesehensten Wirtschaftsanwälte New Yorks gebracht. Nun, mit fast sechzig Jahren, begann er eine zweite, zunächst noch parallele Karriere als Schriftsteller. In rascher Folge erschienen Romane, deren autobiografischer Hintergrund jetzt seine Erfahrungen im Milieu der Finanz- und Bildungseliten an Amerikas Ostküste waren. Mit Albert Schmidt, dem verstörten Anwalt im Ruhestand, schuf Begley eine archetypische Figur: einen hilflosen Melancholiker des Geldadels, der das Kreisen dieser Welt um Profit, Sex, Schönheit und vermeintlich höhere Kultur eigentlich schon hinter sich gelassen hat und dennoch davon nicht loskommt. 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 Selbst lange Anwalt in New York, macht Louis Begley einen Wirtschaftsjuristen aus Manhattan zum Protagonisten seiner rasanten Story. Auch in Begleys jüngstem Roman geht es um das Schicksal eines Wirtschaftsanwalts. Harry Dana ist Sozius der noblen Kanzlei Jones & Whetstone in Manhattan, ein gebildeter, feinsinniger älterer Herr. Sein lukrativster Mandant, ein texanischer Milliardär namens Abner Brown, bereitet ihm allerdings zunehmend moralische Skrupel. Dana stösst auf «verzwickte Geschäfte», die ihn finstere Machenschaften vermuten lassen. Anstatt sich, wie viele seiner Kollegen, um die juristische Vertuschung der illegalen Praktiken zu kümmern, will Dana sie aufklären. Und begibt sich in Gefahr. Detektiv stirbt als erster So weit, so anregend. Begley hätte ein spannendes Buch über die Recherche eines Juristen-Detektivs schreiben können, mit detaillierten Einblicken in die sinistren Geschäfte von Konzernbossen und deren Einfluss auf die Politik. Denn Abner Brown ist auch ein Erzkonservativer, der nicht nur wohltätige Stiftungen, sondern auch die bösartigen Think Tanks und Propagandasender der rechtsextremen Republikaner finanziert. Dann wäre der Anwalt Harry Dana, offenbar ein sympathisches Alter Ego des Autors Begley, die Hauptfigur gewesen. Leider ist Harry aber bereits nach etwas mehr als 50 Seiten tot. Er soll Selbstmord begangen haben, heisst es. Die Aufklärung dieses Todesfalls – der natürlich ein Mord war – übernimmt sein Neffe Jack Dana, ein erfolgreicher Schriftsteller, der vor seiner literarischen Karriere als US-Marine im Irak und in Afghanistan gekämpft hat. Man fragt sich, was den vornehmen Mr. Begley wohl bewogen hat, diesen Protagonisten einzuführen, der – in einem für die Qualität des Romans verheerenden Sinn – tatsächlich ein Held ist. Wollte er statt des komplizierten Wirtschaftskrimis einen echten Thriller hinlegen? Jack Dana ist jedenfalls ein seltsam platter Supermann, der die Ermor- dung seines Onkels als Gelegenheit für eine veritable Schlacht im heimischen Amerika begreift. Er identifiziert den Auftragskiller (typischerweise ein bosnischer Serbe, der ein bestialisches Englisch radebrecht), überantwortet ihn aber nicht der Justiz, sondern fordert ihn mittels einiger mehr oder weniger raffinierter Manöver zum finalen Duell heraus. Unmittelbar vor dem Showdown tippt er noch schnell ein Kapitel seines neuesten Romans in den Laptop. Schreiben und Schiessen, Dichten und Messerstechen gehen ihm gleichermassen leicht von der Hand. Nicht fehlen darf eine Liebesgeschichte. Jack erobert das Herz einer jungen Anwältin aus Harrys Kanzlei. Auch im Bett ist der Ex-Marine äusserst leistungsfähig, unter drei Beischläfen dort und 1400 täglichen Wörtern am Schreibtisch macht er es generell nicht. Die Sexszenen haben, man muss es leider so sagen, Groschenroman-Niveau: «Bevor ich antworten konnte, glitt sie auf meinen Schoss. Ihre Glut drang zu mir durch.» Experiment gescheitert Von Begleys vielgerühmter Feinheit in der Figurenzeichnung ist bei Jack Dana nichts mehr zu spüren. Der einzige etwas komplexere Charakter des Romans bleibt somit Onkel Harry. Als «Weichei», womöglich auch Schwulen habe man ihn verdächtigt, berichtet Jack, obwohl er doch nur seiner südamerikanischen Geliebten, die von Terroristen des «Leuchtenden Pfads» getötet worden war, die Treue hielt. Was hätte Begley nicht alles entfalten können im Seelenleben eines Rechtsanwalts, der sensibel, dafür aber zu wenig tatkräftig ist und sich zwischen seinen hohen moralischen Ansprüchen und den brutalen Geschäftsinteressen aufreibt! Begley hat diesen inneren Zwiespalt aus schwer nachvollziehbaren Gründen geopfert. Wollte er einfach mal das Genre wechseln? Das Experiment ist jedenfalls gescheitert. ● Roman Das jüngste Werk des syrischen Autors Mamdouh Azzam beleuchtet den Skandal eines Ehrenmords auf literarisch überzeugende Weise HimmelfahrtdesTodes Mamdouh Azzam: Wie ein ferner Herzschlag. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Lenos , Basel 2015. 150 Seiten, Fr. 29.90. Von Susanne Schanda Der Roman beginnt mit dem Ende der Heldin: «Am Morgen erbrach sie Blut.» Er erzählt zuerst das qualvolle Sterben der 20-jährigen Salma im Keller ihres Familienclans und dann rückwärts ihr Leben und ihre Liebe in einem syrischen Dorf. Als Waise ist sie zu ihrem Onkel gekommen und von diesem an den Erstbesten verheiratet worden. Während einer längeren Abwesenheit ihres gewalttätigen Mannes verliebt sie sich in einen jungen Lehrer und flieht mit ihm. Doch bereits nach wenigen Tagen wird das Paar aufgegriffen und Salma von ihrem Onkel zur Strafe in den Keller gesperrt. In den ersten Tagen ihrer Haft versucht sie sich zu befreien, indem sie gegen die Falltür aus schwerem Holz klopft. Aber niemand hört sie ausser den alten Frauen ihrer Familie, den Vollstreckerinnen der Strafe: «Wie ein ferner Herzschlag drang es aus der Tiefe zu ihnen herauf und weckte in ihren verdorrten Leibern eine unbändige Gier nach Leben.» Doch die Irritation, die auch bei diesen Frauen zu einem Aufbegehren gegen die patriarchale Ordnung hätte führen können, dauert nicht an, sondern schlägt im Gegenteil in strikte Unterordnung und Mittäterschaft um. Sie töten Salma, indem sie ihr Glassplitter ins Essen mi- Italien Zeugen der faschistischen Vergangenheit Benito Mussolini wollte seine Politik von den späten 1920er bis in die frühen 1940er Jahre durch eine Landreform abstützen. Dazu dienten das wohl grösste Projekt, die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe südlich von Rom, an der sich Regierungen seit der Römerzeit vergeblich versucht hatten, aber auch die weitgehende Parzellierung der Ländereien der Grossgrundbesitzer in vielen anderen Landesteilen. 25 Hektare grosse Einheiten mussten an Bauern verpachtet werden. Durch beide Massnahmen sollte die verarmte Landbevölkerung eine neue Lebensgrundlage erhalten. Dazu wurden auf dem Land neue Dörfer angelegt, die oft von Architekten der italienischen Moderne entworfen wurden. Viele dieser Anlagen befinden sich heute im Zerfallsstadium. Johanna Diehl hat solche «Borghi rurali» auf Sizilien fotografiert und als ländliche Ikonografie faschistischer Herrschaftsideologie kenntlich gemacht. Unser Bild zeigt die 1941 in Sizilien erbaute Parteizentrale im Borgo Lupo. Die 1977 geborene Fotografin präsentiert Gebäude und Ensembles meist isoliert und menschenleer, ergänzt durch Aufnahmen von Innenräumen und Kunstwerken. Gerhard Mack Johanna Diehl: Borgo Romanità Alleanza. Hatje Cantz, Ostfildern 2014. 160 Seiten, 71 Abbildungen, Fr. 40.–. schen. Dieser grausame Mord beruht auf einer wahren Begebenheit und hat dem syrischen Autor den Stoff für seinen Roman geliefert. Mamdouh Azzam, 1950 in einer drusischen Familie im Süden Syriens geboren, gehört heute zu den bekanntesten Autoren seines Landes. Mit dem Roman «Wie ein ferner Herzschlag» prangerte er in den 1980er Jahren die mörderischen Ehrbegriffe in der konservativen drusischen Gesellschaft an. Nicht nur weil Ehrenmord weit über die Grenzen dieser religiösen Minderheit in Syrien hinaus vorkommt, sondern auch dank Azzams literarischer Fähigkeiten gewinnt dieser Roman universale Bedeutung. Die Protagonistin Salma ist als Rebellin gezeichnet. Sie sprengt gesellschaftliche Fesseln und wehrt sich gegen ihren Clan, obwohl sie physisch keine Chance hat. Als ihr Cousin erklärt, sie verdiene es, «abgeschlachtet» zu werden, da spuckt sie ihm ins Gesicht. Die Mörder werden nicht als wesenhaft böse dargestellt. Salma erinnert sich sogar an Momente der Geborgenheit mit ihrem Cousin. Aber sobald eine Frau ihr Leben selbst in die Hand nimmt und sich den Regeln der Männer widersetzt, werden sie zu Bestien. «Wenn es um Freiheit geht, besitzt die Frau mehr Stärke als der Mann», sagt der Autor, «Frauen haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.» Der Roman entlarvt die Perversion dieses Ehrbegriffs, der Frauen jegliche Selbstbestimmung abspricht. Die tiefe Frauenverachtung, die sogenannten Ehrenmorden zugrunde liegt, schockiert nicht nur im Westen, sondern wird auch von arabischen Feministinnen heftig attackiert. Der Roman von Mamdouh Azzam ist allerdings kein feministisches Manifest. Er arbeitet mit literarischen Mitteln und erzählt in einer genauen und zugleich bildhaften Sprache von Salmas Kampf um ihre Liebe. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass ihr Tod eine vom Clan gemeinschaftlich beschlossene Hinrichtung ist. Dennoch stirbt Salma nicht als Opfer, sondern als eine leidenschaftlich mutige Frau, die sich im Leben nicht hat brechen lassen. Im Stil des magischen Realismus wird ihr Todesdelirium als ein Entschweben in einem Nebelschleier beschrieben, in dem sie sich über das irdische Leben erhebt. Dieser religiös anmutende Aufstieg nach dem Tod kann als Anspielung auf die Himmelfahrt des Propheten Mohammad gelesen werden, wie die Übersetzerin Regina Karachouli in ihrem erhellenden Nachwort schreibt. Der Originaltitel des Romans heisst «Miraj al-maut», auf Deutsch «Himmelfahrt des Todes». Für die deutsche Ausgabe wurde «Wie ein ferner Herzschlag» als Titel gewählt, der ein hiesiges Publikum wohl eher ansprechen dürfte. Mamdouh Azzams Roman erschien bereits in mehreren Auflagen und wurde 1996 in Syrien sogar verfilmt, allerdings erst jetzt erstmals in eine europäische Sprache übersetzt. ● 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der Schweizer Buchpreisträger Jens Steiner zeichnet ein versponnenes Porträt von der Null-Bock-Generation WiefülltmaneinLebenmitSinn? Jens Steiner: Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit. Dörlemann, Zürich 2015. 238 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Wer sich in dieses Leseabenteuer stürzt, muss den Kopf beieinander haben. Belohnt wird man mit ein paar ausserordentlich vergnüglichen Stunden. Also: Da gibt es die sexy Dolores im roten Trenchcoat, einen Pudel namens Butz Atman (ja genau, hallo Schopenhauer), einen knollennasigen Homunkulus, einen windigen Medienunternehmer und sonst noch allerlei rätselhafte Figuren, viele von ihnen in der ausserfiktionalen Welt mehr oder weniger verankert. Sie mischen das Leben des Ich-Erzählers, des 25-jährigen Zürcher Philosophiestudenten Paul Kübler, von einem Tag auf den anderen ordentlich auf. Bis dahin war dieses so ereignisarm wie theorielastig. Seinen Vater hatte Paul nie gekannt. Seine Mutter, die «ungekrönte Königin der Nacht», die bei ihm mit ihrer Rastlosigkeit jeden Sinn für eigene Aktivitäten im Keimstadium abmurkste, riet ihm, den Vater gar nicht erst zu suchen; dieser würde Paul nur enttäuschen. Nachdem er von zu Hause ausgezogen war, blieb sie in seinem Gedächtnis «ein stetiger Schmerzfurunkel». Trotzdem löste ihr Unfalltod drei Jahre zuvor bei Paul keine Gefühle aus. Hunde bevölkern die Szene Für reichlich Theorie in Pauls Leben sorgt sein bester und einziger Gefährte Magnus, der mit seinen Spock-Ohren und dem Kürbiskopf als eine «Neuausgabe des Glöckners Quasimodo» beschrieben wird. «Man kann sagen, dass meine Boshaftigkeit und Magnus’ Verzweiflung aneinander Gefallen gefunden hatten.» Paul knabbert noch an der Trennung von seiner letzten Freundin Lotta – auch sie eine Schönheit mit rotem Trenchcoat, was für etwas Verwirrung sorgen wird –, als Magnus ihn zu einer politischen Aktion überredet: Der Medienunternehmer Henri Kudelka – ein passgenauer TitoTettamanti-Verschnitt – wird demnächst einen Vortrag an ihrer Universität über die dem Untergang geweihten Printmedien halten. Paul und Magnus wollen während des Vortrags die Lautsprecherverbindung kappen und stattdessen die Aufnahme einer älteren Rede Kudelkas abspielen. Diese hatte er vor einer Versammlung neoliberaler Grosskapitalisten und BoniEinkassierer gehalten. Gesagt, getan, allerdings mit mittelmässigem Erfolg. Technik ist eben nicht zwingend Männersache. Auf jeden Fall entkommen die beiden. Doch dann wird Kudelka entführt, Paul wird von seinem neuen Nachbar Klöppel (eine weitere Anspielung an die reale Medienwelt) nie10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 KEYSTONE Von Regula Freuler In Jens Steiners urkomischem Roman sprengt ein Student mit seinem Kumpan eine Uni-Vorlesung. dergeschlagen. Als Paul aufwacht, muss er feststellen, dass er polizeilich gesucht wird. Es folgt eine mysteriös angeleierte Flucht nach Marseille, die ihm mit der Hilfe seiner Nachbarin Dolores gelingt. Er macht eine Entdeckung nach der anderen, unter anderem taucht immer wieder ein Homunkulus auf und gibt nichtsnutzige Ratschläge. Dann tapst immer wieder einmal ein Pudel durch die Szene, und obwohl es sich jeweils um verschiedene Hunde handelt, heissen alle Butz Atman. Jetzt auszuplaudern, wie es von Marseille aus weitergeht, wäre ein unverzeihlicher Verrat. Auf jeden Fall wird die Handlung immer verrückter, während Paul im Kopf immer klarer wird. Originelle Metaphern Das mag sich kompliziert anhören, ist aber so leichtfüssig und urkomisch geschrieben und so reich an originellen Metaphern, dass man das Buch in einem Zug durchliest. Danach ist man erst einmal hell überrascht, wie es dem Autor Jens Steiner gelungen ist, seit dem Erstling «Hasenleben» 2011 in seinen bisher drei Romanen jedes Mal einen anderen Ton anzuschlagen und eine ganz neue Erzählweise zu finden. Bei der vorletzten Vergabe des Schweizer Buchpreises, im Herbst 2013, stach Steiner mit seinem Zweitling «Carambole» nur knapp Jonas Lüschers herausragende Novelle «Frühling der Barbaren» aus. Eine schwierige Entscheidung für die damalige Jury. Der Berner Lüscher hätte den Preis genauso verdient gehabt. Aber mit seinem dritten Roman zeigt der 39-jährige Zürcher Steiner, dass die Jury sicher nichts zu bereuen hat. Auf den ersten Blick wirkt der Titel «Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit» auffällig unauffällig. Gleichwohl werden Assoziationen an andere Werke wach, an Musils «Mann ohne Eigenschaften» oder Joyces Bildungsroman «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann», ohne dass sich Steiners Roman direkt auf sie bezöge. Und doch steckt von beiden etwas darin. Etwa die «Reservate der Apathie», die Paul und Magnus im betriebsamen Zürich für sich auswählen. «Wir gehörten einfach zu einer Generation von Hasenfüssen», konstatiert Paul und beschliesst, dass es die Gegenwart nicht besser verdient hat. Ein prächtiges Exemplar der neuen Null-Bock-Generation. Um ihn herum herrschte Sinn, er steuerte mit Verachtung den Unsinn bei. Unverbindlichkeit, Unentschlossenheit, Untätigkeit – Pauls egophilosophische Trias. Dann aber kommt es zu einer Art Entwicklung. Dabei dreht Jens Steiner dem mit einer moralischen Botschaft ausgestatteten Genre des Coming-of-Age-Romans eine lange Nase. Denn wie Paul am Ende liebt und lebt, entspricht sicher nicht den gängigen Vorstellung des Reifeprozesses. Und ob er wirklich etwas gelernt hat…? Aber wie sagt doch der Homunkulus zu Paul, der seine Vergangenheit am liebsten ignorieren möchte und doch ständig über sie stolpert: «Vorwärts ist rückwärts. Rückwärts ist vorwärts. Wirst schon sehen.» ● Theater Mal höchst amüsant, mal platt: die Sketches des Briten Michael Frayn Zwei reden aneinander vorbei Kurzkritiken Belletristik Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit. Deutsch von Uli Aumüller. Hanser, München 2015. 140 S., Fr. 24.90. Terézia Mora: Nicht sterben. Luchterhand, München 2015. 161 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Ist dieses schmale, grosszügig gesetzte Buch ein Roman? Man könnte es auch als heiteren kleinen Reigen bezeichnen. Milan Kundera, der 1929 im tschechischen Brünn geborene Erfolgsautor, der seit 1975 in Frankreich lebt und seit 1993 auf Französisch schreibt, legt ein federleichtes Prosastück vor. Es erzählt von vier Männern in Paris, deren Wege sich bisweilen kreuzen. Einer denkt über das Wesen des weiblichen Nabels nach, ein zweiter kann sich nicht überwinden, in der Schlange vor dem Musée du Luxembourg auszuharren, um eine ChagallAusstellung zu sehen, ein dritter würdigt Stalin als Erzähler von Witzen, ein vierter erprobt seine schauspielerischen Künste als Diener auf Empfängen. Vierzehn Jahre nach dem Roman «Unwissenheit» beschert Kundera uns ein filigranes Alterswerk, gespenstisch heiter – ein schönes Buch aus fast nichts, ein anmutiges «Fest der Bedeutungslosigkeit». Kämen Literaturpreise als Pokale, Terézia Mora brauchte eine extragrosse Wohnung. Die Liste von Auszeichnungen, welche die in Ungarn zweisprachig aufgewachsene und seit 1990 in Berlin wohnhafte Autorin erhalten hat, ist beeindruckend. Jetzt erscheinen die Poetikvorlesungen, welche die 44-Jährige im Januar/Februar 2014 an der Frankfurter Goethe-Universität gehalten hat. Sie zu lesen, ist ein Gewinn für alle, die ihr Werk bereits kennen, von den Erzählungen «Seltsame Materie» über die Romane «Alle Tage» und «Der einzige Mann auf dem Kontinent» bis «Das Ungeheuer», für den sie 2013 den Deutschen Buchpreis erhielt. «Nicht sterben»: Der Titel spielt darauf an, dass einer seine sichere Höhle verlassen muss, um Schriftsteller zu werden; denn nur ohne Furcht vor dem Sterben kann er lernen, nicht zu sterben. Virtuos und sattelfest erklärt Mora, wie sie das bewerkstelligt hat. Georges Perec: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler? Diaphanes, Zürich 2015. 108 S., Fr. 15.90. Linus Reichlin: In einem anderen Leben. Galiani, Berlin 2015. 384 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.–. Der kleine Zürcher Verlag Diaphanes bemüht sich nachhaltig darum, dass das Werk des grossen französischen Autors Georges Perec (1936–1982) im deutschen Sprachraum präsent bleibt. Ein halbes Dutzend Bände hat er – stets in den bewährten Übersetzungen von Eugen Helmlé – bereits neu aufgelegt. Sie sind Kabinettstücke der Sprachakrobatik. Nun folgt der kleine Nachlassband «Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler», der 1991 bei Manholt erstmals erschien. «L’infra-ordinaire» hiess er im Original. Damit zielte Perec, ein Mitglied der auf Experimente spezialisierten Oulipo-Gruppe, auf Ereignisse, die unter der Wahrnehmungsschwelle liegen. Scheinbar banale Einzelheiten – Hausnummern, Mauern, Geräusche – inspirieren ihn zu luziden Beobachtungen von hintergründigem poetischem Witz. Eine Fundgrube für Neugierige. Bekannt war Linus Reichlin als Kolumnist. Dann entschied sich der gebürtige Aargauer (*1957) fürs freie Schriftstellerleben und reüssierte: Mit «Die Sehnsucht der Atome» gewann er 2009 den Deutschen Krimipreis. Jetzt ist sein vierter Roman erschienen, und Reichlin macht seinem Namen als Autor erstklassiger Unterhaltung mit Tiefgang alle Ehre. Es ist die Geschichte des Ich-Erzählers Luis Maiwald, der in einem Ostschweizer Städtchen aufwächst. Die Eltern spielen das Traumpaar ihrer Zeit nach: Liz Taylor und Richard Burton. Vorlagengetreu ist Streit der Soundtrack von Luis’ Kindheit. Die Mutter ist nach einem Unfall behindert, der Vater säuft, der künstlerisch hochbegabte Luis verlässt das Elternhaus, sobald er kann. Ein Bild, das er als Teenager fälschte, sucht ihn Jahre später heim. Ein grossartiger Roman über die Gespenster der Vergangenheit. Michael Frayn: Streichholzschachteltheater. 30 zündende Unterhaltungen. Deutsch von Michael Raab. Dörlemann, 2015. 240 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 15.90. Von Simone von Büren Es ist so eine Sache mit dem Abdrucken von Theatertexten. Die besten von ihnen wurden geschrieben, um gesprochen zu werden. So auch Michael Frayns absurde Sketches, in denen es um gescheiterte und ineffiziente Kommunikation, um Unverständliches, Aneinandervorbeireden und Missverständnisse geht: Da beendet jemand stets die Sätze der andern Person; das schicksalsentscheidende Gespräch eines Liebespaars vor der Trennung am Flughafen wird von zunehmend persönlichen Lautsprecherdurchsagen unterbrochen; zwei versuchen sich am Telefon gegenseitig zu erreichen, aus Angst, dass vielleicht ohne ihr Wissen etwas hätte geschehen können. Auf einer Buchseite sind solche Szenen nicht in ihrem Element, aber ohne diese drohen sie verloren zu gehen. In «Streichholzschachteltheater» haben sie indes eine stimmige Form der Veröffentlichung gefunden. Es ist ein BuchseitenTheater, in dem man alles machen darf, was sonst verboten ist: Handy einschalten, die Gänge blockieren, essen, Türen knallen. Da folgen die bissigen Sketches in der losen Dramaturgie einer Vorstellung samt Pause aufeinander. Auch das passt für Texte, in denen Bühne und Welt gerne verschwimmen, wenn etwa ein eifriger Regisseur «das öde, desorganisierte Kuddelmuddel» auf einer realen Strasse zu inszenieren beginnt oder Korrespondenten-Meldungen von Tschechow- und Shakespeare-Handlungen durchzogen sind. Die Sammlung der über 30 «zündenden Unterhaltungen» ist verspielt als überdimensionierte Streichholzschachtel gestaltet. Und aufs Zünden versteht sich der englische Dramatik-Altmeister gut. Das Stärkste an Frayns Sketches sind nämlich die ersten Sätze, die in frecher Knappheit etablieren, wer spricht: Ein auf einem Sarkophag seit Jahrhunderten festgemeisseltes Paar im Ehestreit; ein Es-Kontraphon-Spieler, der im Orchestergraben 1271 Takte herunterzählt bis zum nächsten Einsatz; zwei Vertreter des Nobelpreiskomitees, die sich vergebens bemühen, den Preisträgern die frohe Nachricht so mitzuteilen, dass diese nicht gleich auflegen. Schade, dass dann einige Streichhölzer nicht früher ausgeblasen und einige der originellen Ideen so plattgetreten werden. Gut, gibt es im Theater immer noch die Strichfassung der Regie. ● Manfred Papst Manfred Papst Regula Freuler Regula Freuler 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Seit über 250 Jahren ist der Münchner Verlag C. H. Beck in Familienbesitz. Für den Bereich der Kulturund Geisteswissenschaften war gut vier Jahrzehnte lang Wolfgang Beck verantwortlich. Nun gibt er den Stab mit gelassener Selbstverständlichkeit an seinen Sohn Jonathan und somit an die siebte Generation weiter. Begegnung mit einem ungewöhnlichen Menschen. Von Manfred Papst VomGewicht derGeschichte Wolfgang Beck, ein soignierter, selbstironischer Herr von 73 Jahren, könnte auch Professor für Philosophie oder Geschichte sein. Er wirkt jedenfalls eher wie ein stiller Gelehrter als wie ein Mann, der mehr als vier Jahrzehnte lang die Geschicke eines der wichtigsten deutschen Verlage geleitet hat. Doch genau das hat er getan – zusammen mit seinem neun Jahre älteren Bruder Hans Dieter, der sich um das juristische Programm kümmerte, während Wolfgang Beck die Kultur- und Geisteswissenschaften sowie die schöne Literatur oblagen. «Es ist schon etwas Besonderes», sagt Wolfgang Beck im gediegenen, von Bücherregalen gesäumten Gartenzimmer am Münchner Hauptsitz des Verlages, einem von Weinlaub umrankten Haus in Schwabing, «wenn man in ein Unternehmen hineinwächst, das sich seit einem Vierteljahrtausend in Familienbesitz befindet. Für mich war es schon als Kind verlockend, die Aufgabe meiner Vorfahren zu übernehmen und fortzuführen. In einem Verlag sind Privates und Berufliches ja nie zu trennen. Ich habe den Beruf meines Vaters ganz anschaulich erlebt, und er erschien mir immer attraktiv. Bereits als Halbwüchsiger habe ich etliche Autoren kennengelernt, bei uns daheim beim Mittagessen, manchmal gab es da auch private Lesungen. Heimito von Doderer war immer einmal wieder bei uns zu Gast. Aber auch Günther Anders, den ich später als Verleger begleitet habe.» C. H. Beck Verlag Der von Carl Gottlob Beck 1763 im bayerischen Nördlingen gegründete Verlag gehört zu den grössten Verlagshäusern im deutschen Sprachraum. Benannt nach dem Sohn Carl Heinrich Beck, wird er heute in siebter Generation in Familienhand geführt. 1889 siedelte er nach München um, wo sich sein Hauptsitz befindet. Der C. H. Beck Verlag inkl. Druckerei zählt heute rund 900 Mitarbeiter, die C.H.-Beck-Gruppe, zu der auch der Basler Verlag Helbing und Lichtenhahn gehört, 1800 Personen. Der Verlag umfasst zwei Zweige: das Programm für Rechtswissenschaft (Recht, Steuern, Wirtschaft) und das Programm für Geistes- und Kulturwissenschaften (Literatur, Sachbuch, Wissenschaft). Der Umsatz beläuft sich auf 150 Millionen Euro pro Jahr. Derzeit sind 7000 Buch- und 50 Zeitschriftentitel lieferbar. Erste Adresse für Historisches Wolfgang Beck studierte zunächst Medizin, bevor er mit Hinblick auf die Laufbahn im Verlag zu den Kultur- und Geisteswissenschaften wechselte. «Dem Unternehmen ging es ja die meiste Zeit ziemlich bis sehr gut», erklärt er, «so etwas gibt man nicht leichtfertig aus der Hand.» Die ökonomisch stärkste Säule des Verlags war immer der Fachbuchbereich. Aber er hat den geistes- und kulturwissenschaftlichen Teil nicht querfinanziert. Dieser ist eigenständig und schreibt schwarze Zahlen. Gleichwohl war der juristische Verlag immer so etwas wie die Bank im eigenen Hause. Das Unternehmen war stets liquide und konnte auch aufwendige Grossprojekte in Angriff nehmen, ohne jeden Pfennig oder Cent umzudrehen, zum Beispiel die 28-bändige Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe, die C. H. Beck gemeinsam mit dem Schweizer Verlag Schwabe verlegt. Wolfgang Beck hat in Göttingen studiert, zu einer Zeit, als dort Grössen wie Walter Killy und Albrecht Schöne in der Germanistik wirkten, Günter Patzig in der Philosophie, Hans Paul Barth in der Soziologie. Die meisten von ihnen sind Beck-Autoren geworden und geblieben. Seit Urzeiten bildeten Egon Friedell mit seiner «Kulturgeschichte der Neuzeit», Oswald Spengler mit dem «Untergang des Abendlandes» und Albert Schweitzer mit seinen biografischen und ethischen Schriften einen Grundpfeiler des Verlags. Zur ersten Adresse für die Geschichtswissenschaft wurde das Haus aber erst unter Wolfgang Beck. «Wir legen viel Wert auf die erzählende Geschichtsschreibung», sagt er. «Es wird immer wichtiger, dass historische Werke auch stilistisch überzeugen und so zu einem Lesege- «Das Verlagsprogramm ist ein Gemeinschaftswerk, die Verträge unterschreibe ich. Alles muss koordiniert werden, zusammenpassen, ein Profil haben.» nuss werden. Das gebildete Publikum wird anspruchsvoller. Das reine Datenwissen kann es sich aus anderen Quellen holen, vor allem aus dem Internet.» Seit 1999 gibt der Verlag C. H. Beck unter eigenem Namen auch belletristische Gegenwartsliteratur heraus. Die Tradition geht jedoch weiter zurück: Seit 1946 gehörte der Biederstein-Verlag zu Beck; hier erschienen unter anderem die grossen Romane Heimito von Doderers. Auch Klassiker wie die Hamburger Goethe-Ausgabe und Briefeditionen – etwa Lichtenberg – hat Beck immer wieder ediert. Als einer von zwei Gesellschaftern ist Wolfgang Beck sowohl für das Programm als auch für die geschäftlichen Belange des Verlags verantwortlich. Allein im geisteswissenschaftlichen Bereich arbeiten neun Lektorinnen und Lektoren, jede Woche findet eine Programmkonferenz statt, an der Titel um Titel durchgesprochen wird. Da fehlt der Verleger nie. Auch die Presse- und die Vertriebsleitung nehmen an diesen Sitzungen teil. «Ohne Vetorecht allerdings!», sagt Wolfgang Beck lachend. «Das Programm ist ein Gemeinschaftswerk. Die Verträge unterschreibe dann ich. Alles muss koordiniert werden, zusammenpassen, ein Profil haben. Deshalb gibt es einmal pro Woche auch je eine Vertriebs- und eine Herstellungsbesprechung, auch eine spezielle mit der Presse. Man muss Lesereisen und Interviews planen. Wir diskutieren Auflagenhöhen und Ladenpreise.» Sohn Jonathan übernimmt Wolfgangs Becks ältester Sohn Jonathan arbeitet seit sieben Jahren im Haus. Am 1. Februar 2015 hat er offiziell dessen Leitung übernommen. Inoffiziell hat er sie schon etwas länger inne, da sich sein Vater nach einem Herzinfarkt im Frühjahr 2014 einige Monate schonen musste. Nun hat er einen Bypass und wirkt wieder im Verlag. «Ich habe noch ein Büro hier», sagt er heiter, ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 An Günther Anders denkt Wolfgang Beck mit besonderer Wehmut zurück. Er vermisst den scharfsichtigen Zivilisationskritiker als Gesprächspartner. «Keiner hat brillanter beschrieben, wie die Technik uns bestimmt», sagt er. «Die Formel von der ‹Antiquiertheit des Menschen› drückt ja genau das aus. Wir haben uns Dinge herbeigesehnt, mit denen wir nicht fertig werden. Insofern sind wir Zauberlehrlinge. Als ich mit ihm zusammenarbeitete, war er nicht mehr der Jüngste. Sein Weltbild war pessimistisch, aber sehr human. Er gehörte zu jenen Propheten, die das verhindern wollen, was sie voraussagen. 1992 ist er hochbetagt in Wien gestorben. Nicht auszudenken, was er zum Internet und zu den Social Media hätte sagen können!» DIETER MAYR «Es ist schon etwas Besonderes, wenn man in ein Unternehmen hineinwächst, das sich seit einem Vierteljahrtausend in Familienbesitz befindet», sagt Wolfgang Beck, hier im Gartenzimmer des Verlages am 9. Februar 2015. 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt VERLAG C. H. BECK ▲ «bin aber ein bisschen an den Rand gezogen. Natürlich bin ich noch über alles informiert. Aber die eigentliche verlegerische Arbeit mit den vielen Entscheidungen, die von Tag zu Tag zu treffen sind, liegt nun bei meinem Nachfolger. Ich hoffe, da und dort noch ein paar Anregungen und Ideen loswerden zu können.» Nach wie vor sind die Brüder Beck persönlich haftende Gesellschafter des Verlags. In Zukunft soll es sieben Gesellschafter geben, nämlich die Kinder der jetzigen Inhaber. Dann wird sich vermutlich auch die Rechtsform des Unternehmens ändern. Obwohl der Verlag ein Traditionsbetrieb ist, blickt er nach vorn. Im juristischen Sektor spielt das Online-Geschäft bereits eine enorme Rolle, namentlich bei den Zeitschriften. Im geisteswissenschaftlichen Bereich wächst der Erlösanteil der E-Books zwar von Jahr zu Jahr, bleibt aber mit gegenwärtig vier Prozent noch immer recht überschaubar. Heimliche Bestseller Umsatzträger in Wolfgang Becks Bereich sind Bestseller wie Thomas Pikettys «Kapital im 21. Jahrhundert», das sich schon über 80000 Mal verkauft hat. Daneben gibt es aber auch geheime Bestseller wie Rolf Wilhelm Brednichs Taschenbücher über moderne Wandersagen («Die Spinne in der Yucca-Palme»), die sich insgesamt über eine Million Mal verkauft haben. Wichtig war für den Verleger immer, dass er ausschliesslich Projekte realisierte, hinter denen er stehen kann. Seine besondere Liebe gilt den grossen historischen Werken, zumal, wenn sie so blendend geschrieben sind wie Jürgen Osterhammels 1500-seitige «Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts», von der 50000 Stück verkauft wurden, und Heinrich August Winklers vierbändige «Geschichte des Westens». Eine verlässliche Kalkulation über den Daumen kennt Wolfgang Beck nicht. Jedes Buch ist anders. «Bei einem Handbuch können schon 1200 Exemplare reichen, im gängigen Bereich von 14 bis 29 Euro Ladenpreis müssen es schon 5000 bis 6000 verkaufte Exemplare sein, damit sich ein Titel rechnet. Manchmal auch mehr. Übersetzungen sind oft teurer. Auch Editionen mit aufwendigem Apparat.» «Vielleicht schreibe ich noch etwas über unsere jüngere Verlagsgeschichte. Mir selbst die Zeit zu vergegenwärtigen, ist vermutlich ein ganz normales Bedürfnis.» Jeden Tag mit dem Velo zur Arbeit: Wolfgang Becks Fahrzeug steht vor dem Eingang des Verlagshauses an der Ainmillerstrasse 12 in München. Der Verlag C. H. Beck hat einen grossen und treuen Stamm von Autoren. Gleichwohl kann er nicht einfach auf die Manuskripte warten, die von selber eintrudeln. «Wir müssen uns aktiv bemühen», sagt Wolfgang Beck. «Man kennt uns zwar. Aber auch wir kommen nicht darum herum, auf Vorschuss-Börsen mitzubieten. Es ist keine schöne Entwicklung, aber da kann man nichts machen, und sie hat inzwischen auch das sogenannte Sachbuch erfasst.» Wolfgang Beck hat in den letzten Jahren stets versucht, das Programm auf einer konstanten Grösse zu halten. 170 bis 200 Titel pro Jahr. Da zählen auch die Bände der Taschenbuchreihen mit. Natürlich kommt er kaum noch dazu, selbst einmal einen Titel zu lektorieren. Eine Ausnahme bildet der Hausautor Ernst Augustin, der, obwohl alt und fast völlig erblindet, jüngst ein kleines Buch geschrieben hat: «Das Monster von Neuhausen». Das Manuskript hat der Chef als Erster gelesen und redigiert. Allerdings war diesbezüglich kaum etwas zu tun. Soeben ist das Buch erschienen. Wolfgang Beck war immer ein leidenschaftlicher Leser. Am liebsten liest er früh am Morgen. «Ich fahre jeden Tag mit dem Fahrrad zum Verlag», sagt er. «Es ist kein sehr weiter Weg, aber er hält mich fit. Manuskripte und Bücher finden im Korb vor dem Lenker Platz.» Privat sammelt Wolfgang Beck Gegenwartskunst. Regelmässig besucht er die Art Basel. Das Treppenhaus des Verlags schmücken beispielsweise Bilder von Eugène Ionesco. Antiquarische Leidenschaften pflegt er nicht systematisch. Natürlich hat er im Lauf seines langen Berufslebens zahllose Briefe mit Autoren gewechselt, aber er war nie ein Schreib-Berserker wie Siegfried Unseld bei Suhrkamp. «Wir sind eine andere Art von Verlag», sagt Wolfgang Beck. «Bei Unseld liefen viele Beziehungen mit Autoren einzig über ihn. Ich habe mich nie in diesem Sinn als Generalissimus und Impresario gesehen. Und bei uns hatte das Lektorat immer eine starke Position.» Keine Diadochenkämpfe Bei übermächtigen Verlegern gibt es immer Krisen, wenn sie aufhören. Im Hause Beck war das nie der Fall – zumindest nicht in einem Ausmass, welches die Kontinuität des Unternehmens gefährdet hätte. Es gab keine ödipalen Dramen, keine Diadochenkämpfe. Kaum je hat ein Autor den Verlag mit Getöse verlassen. Ob Wolfgang Beck noch etwas Grösseres schreiben will, muss er erst sehen. «Vielleicht tatsächlich etwas über unsere jüngere Verlagsgeschichte», sagt er. «Die Darstellung von Stefan Rebenich ist zwar sehr gut, aber er musste über 250 Jahre schreiben und exemplarisch vorgehen, was heisst: Er kam nicht umhin, vieles wegzulassen, auch Autoren und Werke, die ich wichtig finde. Mir selbst die 42 Jahre, die ich hier tätig war, noch einmal etwas umfassender zu vergegenwärtigen, ist vermutlich ein ganz normales Bedürfnis. Ob ich ihm wirklich nachgehen werde, ist eine andere Frage.» ● Zürich Basel Bederstrasse 4 Güterstrasse 137 Bern Länggassstrasse 46 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIztAQAxEhY4g8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwMQEAjzsSMg8AAAA=</wm> <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyMjIzsgAAkStyvg8AAAA=</wm> 100‘000 antiquarische Bücher buecher-brocky.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 Luzern Aarau Ruopigenstrasse 18 <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NTNeb-MaVmFRQVW-JArO_VHasoL_0du2ioZfj_X5Xl9FoIdJGloqcrS8eTF7W5KFpAT2O9IRoOPPG5jD4fNrDGnU_FxpwUmhnftxAYCSdmhyAAAA</wm> <wm>10CFXKIQ6AMAwF0BN16W-7jlJJ5giC4GcImvsrAg7x3FvXrIU_S9-OvieYrZKIOCJreImmibAyBZKbqDBshkuFTorfJ0a4so73EDcSHXASI7UR3sp9Xg82ZWsHcgAAAA==</wm> <wm>10CFWKOwrDQAwFT6TlPX3Wq6g07owL495NSJ37V1nSuRgYhtn3ioY_63Zc21kEPEQ14V6R0XTpxdS2RC9Qu4LxIs04RvrjFzC7we75uFBF_cYQw_TZvH3fnx8t3hMMcgAAAA==</wm> <wm>10CFXKoQ4CMRRE0S96zcy8TkupJOs2Kwi-hqD5f8WCQ9xcc_Z9uuDXbTse230SqA5JTZfp4aLeJodK93mwC6xXKq1q488HOFoi19cEEeyLiqyRXqcu7-frA2AIQV9yAAAA</wm> Kunst Kinder Hel vetika Freihofweg 2 Sport Politik Literatur Hobby Reisen Kochen u.v.m. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Noch kein Glücklicher hat je ein gutes Buch geschrieben. Kurzkritiken Sachbuch Andreas Müller (Hrsg.): Bürgerstaat und Staatsbürger. Milizpolitik. NZZ Libro, Zürich 2015. 214 Seiten, Fr. 39.90. Heinz Gallmann: Zürichdeutsches Wörterbuch. 3. überarb. Auflage. NZZ Libro, Zürich 2015. 723 Seiten, Fr. 74.90. Über 100000 Bürgerinnen und Bürger haben in Gemeinden, Kantonen und im Bund politische Ämter inne, meist ehrenamtlich und nebenberuflich. Um dieses Potenzial, das gemäss Denkfabrik «Avenir Suisse» einen der Erfolgsfaktoren des Sonderfalls Schweiz darstellt, geht es im vorliegenden Buch. Nach einer historischen, politischen und statistischen Analyse durch verschiedene Autoren werden drei Zukunftsszenarien skizziert. Eines davon ist der von Georg Kohler und Patrik Schellenbauer angeregte obligatorische Bürgerdienst für alle Schweizerinnen und Schweizer sowie niedergelassenen Ausländer. So könne der Milizcharakter gestärkt und der republikanische Gedanke erneuert werden. Avenir Suisse bricht damit eine «Lanze für Laientum und Amateurismus in der Politik». Provokativ und produktiv. Wie wohltuend angesichts der uns immer mehr erdrückenden Expertokratie. Kann ein Nachschlagewerk Thrillerqualität haben? Gleichermassen tiefsinnigste Erkenntnisse vermitteln und höchsten Spass bereiten? Strukturierter Forschungsbericht und gleichzeitig Wundertüte sein? Der Sprachforscher und pensionierte Gymnasiallehrer Heinz Gallmann (78) liefert genau das mit der 3. überarbeiteten und erweiterten Auflage seines 2009 erstmals erschienenen Zürichdeutschen Wörterbuchs. Wer zum Beispiel wissen will, was ein Nöwöö oder ein Zuu ist, was chosle und mungge bedeutet und wo genau man so spricht, findet die Antwort im «Gallmann». Das lesefreundliche Buch enthält – eingestreut im Lexikonteil – zudem so viele witzige Mundartgeschichten, Kinderverse, volkstümliche Sprüche und Erklärungs-Boxen, dass man es nach dem Schnoiggen nur ungern, wenn auch um eine Erkenntnis reicher, wieder aus der Hand legt. Affegäil! Peter Gross: Ich muss sterben. Im Leid die Liebe neu erfahren. Herder, Freiburg im Breisgau 2015. 157 Seiten, Fr. 24.90. Stefanie Schramm, Claudia Wüstenhagen: Alphabet des Denkens. Rowohlt, Reinbek 2015. 318 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 20.–. Sein letztes Buch – «Wir werden älter», über die Chancen der alternden Gesellschaft – war von fast überbordendem Optimismus. Nun legt der emeritierte St.Galler Soziologe Peter Gross ein sehr persönliches und sehr trauriges Buch vor. Es handelt von Schmerz, Leid und Verzweiflung, die ihn die Krebskrankheit und der Tod seiner Frau erfahren liessen. Diesen geradezu intimen Bericht verwebt Gross mit einem geheimen «Lebensmotto», das ihn mit Philipp II. von Spanien ebenso verbindet wie mit James Bond: Orbis non sufficit oder The World is not enough. Für Gross ist dies eine «Weltformel» für den Menschen schlechthin, dem die vorhandene Welt nie genüge. Trost findet der Autor deshalb im «Geschenk», das uns der Tod hinterlasse, dem Geschenk der Sehnsucht. «Welten gehen, Sehnsucht bleibt» lautet der letzte Satz dieser ergreifend dunklen Elegie. Worte können verletzen, manipulieren, erfreuen: Sie haben Macht. Das auch einzelne Buchstaben dazu in der Lage sind, das zeigen die beiden «Zeit»-Journalistinnen Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen in ihrem Buch über die Sprache. Sie tragen verblüffende Erkenntnisse aus Psychologie, Linguistik und Hirnforschung zusammen. Könnten wir ohne Worte überhaupt denken? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Klang eines Wortes und seiner Bedeutung? Verändern wir uns durch das Lernen einer Fremdsprache? Die spannende Reise in die Welt der Worte zeigt uns, dass die Sprache, jenes einzigartige Werkzeug, das wir Tag für Tag oft gedankenlos benutzen, noch heute viele Rätsel aufgibt. Ein leicht zu lesendes Buch über ein schwieriges Thema für alle, die sich für die Sprache, ihre Entstehung und vor allem ihre Wirkung interessieren. LUKAS MAEDER Arno Schmidt Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Ich habe noch nie ein gutes Buch geschrieben. Nur Schrott und Plunder habe ich produziert, ungeeignet für anständige Bücherregale, bestenfalls für die Papierabfuhr bestimmt. Manchmal, ich kann mir den Grund auch nicht erklären, sind Leser und Kritiker auf das sprachliche Blendwerk hereingefallen, das ich mit der Tastatur meines Computers zu produzieren pflege, aber wirklich gut waren die Bücher nicht. Sie konnten es gar nicht sein. Denn (empfindsame Gemüter mögen bitte weghören und die nächsten Zeilen überspringen), denn ich bin eigentlich ein ganz glücklicher Mensch. Seit fast einem halben Jahrhundert bin ich mit derselben Frau zusammen, und es passiert mir immer noch, dass mein Herz bei ihrem Anblick ins verliebte Wummern gerät. Ich habe zwei wunderbare Kinder, auf die ich furchtbar stolz wäre, wenn ich nicht wüsste, dass ihre Leistungen ihr eigenes Werk sind, zu dem ich selber nur sehr wenig beitragen konnte. Und die nächste Generation lässt sich auch sehr vielversprechend an. Ausserdem, und ich weiss, dass man das eigentlich nicht zugeben sollte, wenn man ein ernstzunehmender Künstler sein will, ausserdem (empfindsame Leser bitte schon wieder weghören und erst später weiterlesen), ausserdem macht mir mein Beruf Spass. Ich schreibe gern und würde es wohl auch tun, wenn mich niemand dafür bezahlte. Umso erfreulicher, dass mir mein Verleger jedes Jahr eine Abrechnung schickt, die mir nicht nur das tägliche Brot finanziert, sondern auch noch die Butter obendrauf. Und ab und zu ein Scheibchen Lachs. Wenn man schon mal am Beichten ist, soll man es gründlich tun. Also streue ich hiermit Asche auf mein Haupt und gestehe: Wenn ich mich jeden Morgen pünktlich um neun Uhr an meinen Computer setze (genauer gesagt: um zehn vor neun, denn das Kreuzworträtsel aus der «Washington Post» will noch vor Arbeitsbeginn gelöst sein), dann fühle ich mich keineswegs als Galeerensklave, den die Peitschenhiebe eines sadistischen Aufsehers ans Ruder zwingen, sondern freue mich auf die Überraschungen, die mir das Schreiben immer wieder neu beschert. Selbst wenn die AutorInnen der Schweiz mich für diese Tatsache aus ihren Reihen ausschliessen: Ich leide noch nicht einmal an Depressionen. Und darum habe ich eben noch nie ein gutes Buch geschrieben. Aber vielleicht irrt sich Arno Schmidt ja auch. Urs Rauber Kathrin Meier-Rust Urs Rauber Geneviève Lüscher 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Kalter Krieg Eine neue Publikation befasst sich mit DDR-Tarnfirmen in der Schweiz. Sie dienten Ostberlin zur Devisenbeschaffung und zur Umgehung des Technologieembargos AuchinderSchweiztrieb dieStasiihrUnwesen Ricardo Tarli: Operationsgebiet Schweiz. Die dunklen Geschäfte der Stasi. Orell Füssli, Zürich 2015 (erscheint am 1. März). 254 Seiten, Fr. 27.90. Von Urs Rauber RUNDSCHAU SRF Dass die ostdeutsche Staatssicherheit (Stasi) in der Schweiz aktiv war, durch Agenten, Botschaftsangehörige usw., ist nicht neu. Schon kurz nach dem Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 berichteten NZZ, «Bilanz», «Facts», «Weltwoche» und andere Medien ausführlich über das Wirken östlicher Geheimdienste. Nach der Jahrhundertwende erschienen zudem Bücher wie jene von Holger Bahl («Als Banker zwischen Ost und West»), Peter Veleff («Spionageziel Schweiz») und vom kürzlich verstorbenen Erwin Bischof («Honeckers Handschlag»). Ist also das grosse Panorama bekannt, so liegen doch zahlreiche Fälle weiterhin im Dunkeln und manch personelles Rätsel harrt noch der Aufklärung. Im Unterschied zur grossflächigen Erforschung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg steckt diejenige des Kalten Krieges und insbesondere der Verflechtung der Schweiz mit der DDR noch in den Anfängen. Das Buch des 36-jährigen Berner Historikers Ricardo Tarli, der in Berlin als freier Journalist arbeitet, nimmt sich verdienstvollerweise dieses Kapitels der jüngeren Zeitgeschichte an. Tarli untermauert seine These, dass die Schweiz der Stasi als Operationsbasis 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 für diverse mafiöse Machenschaften diente, mit einer beeindruckenden Zahl bislang nicht bekannter Fälle. Im Buch werden Beispiele von Waffenhandel, Geldwäscherei, Devisengeschäften, Zigarettenschmuggel, illegalem Kunsthandel, geheimen Golddeals erzählt – bis hin zur über die Schweiz laufenden Unterstützung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Der Verfasser beschreibt, wie Menschen veruntreuten, verschleierten, tarnten, betrogen oder Dokumente fälschten. Im Zentrum steht das Wirken von zwei Schlüsselpersonen: des in Montagnola lebenden Ottokar Hermann und des in Zug wohnhaft gewesenen Michael Grossauer, die beide aus der Schweiz heraus mit den DDR-Tarnfirmen Befisa S.A., Intrac S.A. und Rexim S.A. (alle Lugano) sowie Allimex AG und Asada AG (beide Zug) agierten. Bei diesen Konstrukten handelte es sich um Tochterfirmen des Konglomerats von DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski. Der schillernde Chef der KoKo (Kommerzielle Koordinierung im ostdeutschen Ministerium für Aussenhandel) war für die Beschaffung von Hightech-Geräten und Embargo-Gütern nach Ostberlin zuständig. Schalck war Stasi-Offizier im Rang eines Obersten und genoss das Vertrauen von Stasi-Chef Erich Mielke. Gemäss Tarli fungierte Ottokar Hermann als Schalck-Golodkowskis «Statthalter in der Schweiz». Der Verfasser schildert die juristische und finanzielle Verflechtung dieser Firmen, ihre Aktivitäten, Transaktionen sowie ihr Personal mitsamt Decknamen – ohne allerdings restlose Klarheit zu schaffen. Beim Lesen durch den Wust von Informationen wünscht man sich gelegentlich ein vereinfachendes Schema oder eine Überblicksgrafik. Die Vielzahl der Briefkasten- und Holdingfirmen sowie die oft redundant wirkende Aufzählung ihrer Tätigkeiten ist manchmal eher verwirrend als erklärend. Handel mit DDR-Raubkunst Hausbank der Stasi? Die heute nicht mehr existierende Bank für Handel und Effekten in Zürich, an der Ecke Talacker/Sihlstrasse. Der Autor nennt zahlreiche Schweizer Anwälte, Politiker, Gemeindepräsidenten (von eher regionaler denn nationaler Bedeutung), die mit diesen Firmen in Kontakt standen – meist ohne Wissen um deren Verstrickung in illegale DDRGeschäfte. Das jedenfalls beteuern die genannten Personen, soweit sie dazu befragt wurden. Von besonderer Wichtigkeit scheint der Zürcher Bankier Max Moser (geb. 1918) gewesen zu sein, der bei der Bank für Handel und Effekten (BHE) arbeitete, die Tarli kurzerhand als «Hausbank der Stasi in der Schweiz» bezeichnet. Der Autor wiederholt damit eine Anschuldigung des «Spiegels» von 1998 – ohne neuere Dokumente vorzulegen. Hermann verstarb 2007, ohne strafrechtlich belangt zu werden. Grossauer, der heute in Spanien lebt, mag sich offenbar nicht mehr äussern. Und ob Max Moser noch lebt, bleibt offen. Brisant ist die Geschichte eines 2014 in Zürich versteigerten Gemäldes, «Maria mit Kind» des niederländischen Malers Jan Gossaert. Aus der Provenienz des Gemäldes geht laut Tarli nicht hervor, dass das Bild 1978 bei einem in der DDR unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Kunstsammler von staatlichen Stellen beschlagnahmt worden sei. Das Beispiel scheint kein Einzelfall zu sein, denn, wie inzwischen bekannt, presste auch die ostdeutsche Stasi, nicht unähnlich den Fällen von Nazi-Raubkunst, Privatpersonen Kunstwerke ab – zwecks Devisenbeschaffung. Leider fehlt auch bei diesem Beispiel im Buch die lückenlose Belegung mit Quellen. Damit sind die beiden Hauptmängel der Monografie angesprochen: die weitgehend fehlenden Quellenverweise und die Pauschalisierung der Vorwürfe. Tarli spricht zwar in der Einleitung von «rund 10000 Blatt Papier», darunter «unveröffentlichten Staatsschutzakten aus dem schweizerischen Bundesarchiv, Akten EASTBLOCKWORLD Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin», auf die sich seine Arbeit stütze. Doch im Buch zitiert er ausschliesslich Zeitungsund Zeitschriftenartikel. Hat der Verfasser die ominösen Originalakten gar nicht selbst eingesehen? Oder darf er daraus nicht zitieren? Die Antwort auf die Frage sucht man im Buch leider vergebens. Unverständlicherweise werden auch wörtliche Zitate aus Stellungnahmen, Dementis und Erklärungen der befragten Behörden (etwa von alt Bundesanwalt Rudolf Gerber und alt Bundespolizeichef Peter Huber) sowie von Firmen und Privatpersonen quellenmässig nicht veror- tet. Wer hat wann über welchen Kommunikationskanal (Brief, Mail, Telefon, Gespräch) was kommuniziert? Und wo sind diese Aussagen heute niedergelegt? Diese Mängel schmälern die Beweiskraft der durchaus plausiblen Hauptthese erheblich. Gravierende Vorwürfe Fragwürdig ist auch das Bestreben des Autors, einzelne Kritikpunkte zu verabsolutieren. Dass von der Stasi gesteuerte Einzelfirmen offenbar jahrelang verdeckt in der Schweiz operieren konnten, ist ein gravierender Vorwurf, der durch- <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6FMBBE0S_aZma2Cy2VBEcQBF9D0Py_4j0c4pqbs64tEt7mZTuWvRHIYVJF_H6NpHForJ4UahApMCZmLy4V_3gD6-Dw_jcGGdmZzUdj7ipK93k9yAUuLXIAAAA=</wm> Alexander SchalckGolodkowski (rechts) – hier mit Franz Josef Strauss 1985 in Leipzig – verschaffte der DDR auf legalen und illegalen Wegen Devisen. Er hatte auch in der Schweiz seine «Statthalter». aus zutreffen mag. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, die Schweizer Behörden, «allen voran die Bundesanwaltschaft und die Bundespolizei», seien nicht konsequent gegen die DDR-Spione und deren Hintermänner vorgegangen, ist eine (unzulässige) Pauschalbehauptung. Geradezu absurd mutet der Vorwurf an, die Schweizer Bundesanwaltschaft, die in den 1970er und 1980er Jahren 900000 Linke und Andersdenkende im eigenen Land überwacht hatte, habe gegenüber DDR-Spionen und deren Hintermännern in der Schweiz «beide Augen zugedrückt» und ihr habe bezüglich Ostspionage «ein echtes Problembewusstsein» gefehlt. Verunglückt ist auch das Schlussfazit des Autors: «Die Schweiz war kein Opfer der Stasi, sondern vor allem eine Profiteurin des Unrechtsregimes in Ostdeutschland.» Unser Land habe sich gar «zur Handlangerin des SED-Regimes» gemacht. Solche Verallgemeinerungen mindern den Wert der durchaus einleuchtenden Ergebnisse von Tarlis Untersuchung. Schade auch, dass im Buch ein Personen- und Firmenregister sowie ein ordentliches Quellenverzeichnis fehlen, abgesehen von einer etwas beliebig zusammengestellten SekundärliteraturListe. Der renommierte Orell-Füssli-Verlag wäre gut beraten gewesen, für das Lektorat des Buches mehr Sorgfalt aufzuwenden. ● Über 45 000 bÜcher aus zweiter hand! Grösster Onlineshop der Schweiz Kontakt: info@buchplanet.ch http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Holocaust Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg sah in Sigmund Freud und Hannah Arendt Geistesverwandte: Sie raubten dem jüdischen Volk Moses und Adolf Eichmann DieWahrheitistsubjektiv Hans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit. «Moses der Ägypter» und weitere Texte zu Freud und Arendt. Suhrkamp, Berlin 2015. 134 Seiten, Fr. 21.90. «Der Rigorismus der Hannah Arendt ist dem des Sigmund Freud sehr ähnlich. Sie glaubt an die Wahrheit – dass es ihre Wahrheit ist, kann sie nicht ändern und nicht verhindern.» Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) schrieb diesen bisher unveröffentlichten Satz wohl Ende der achtziger Jahre, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von Hannah Arendts Buch «Eichmann in Jerusalem» 1964, das auf ihre Berichte für «The New Yorker» über den Prozess gegen den Hauptorganisator des Holocaust, den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, zurückging. Es trug den epochalen, umstrittenen Untertitel «Ein Bericht über die Banalität des Bösen». Der eingangs zitierte Satz steht in Blumenbergs Text «Moses der Ägypter». Dieses Manuskript bewahrt das Deutsche Literaturarchiv Marbach in der Mappe «Unerlaubte Fragmente» auf. Der 1941 geborene Politikwissenschafter Ahlrich Meyer hat diesen Aufsatz nun herausgegeben, in den Kontext diverser Vorarbeiten und Exzerpte Blumenbergs gestellt, mit kenntnis- und facettenreichen Kommentaren und einem höchst erhellenden Nachwort versehen. Innerjüdische Debatte Das Ergebnis ist mehr als eine Fussnote zur Auseinandersetzung jüdischer Intellektueller mit dem Holocaust. Dieser lediglich zwölf Seiten lange Aufsatz und seine editorische Corona beleuchten nicht nur indirekt Blumenbergs von ihm zu Lebzeiten nicht öffentlich thematisiertes Selbstverständnis als Sohn einer jüdischen Mutter, sondern führen zu Kernpunkten der Debatte, die Arendts Deutung der Rolle Eichmanns und seiner Hinrichtung auslöste. Hans Blumenberg erkennt – und das ist eine ingeniöse Interpretation – in Arendts Werk das Pendant zu Freuds «Der Mann Moses», einer Schrift, die am Beginn der Shoah erschien. Das Kränkungspotenzial beider Bücher erscheint Blumenberg ebenbürtig und unerträglich. Freud hatte seine Studie schon in Wien entworfen, aber aus Sorge um die Resonanz und die Zukunft der Psychoanalyse in Österreich erst als Emigrant in London 1939 veröffentlicht. Seine für Menschen jüdischen Glaubens verletzende Hauptthese: Moses, der Heros jüdischer Geschichte, war Ägypter, ein Verächter der Juden, der diese brachial – von der Tradition des ägyptischen Echnaton-Kultes inspiriert – unter das Joch einer monotheistischen Religion zwang. Freud war sich im Anblick von Michelangelos Moses sicher, dass dieser Befrei18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 AP Von Kirsten Voigt Hans Blumenberg kritisiert an Hannah Arendt, dass sie Adolf Eichmann entdämonisiert habe. Eichmann-Prozess in Jerusalem, 11. Dezember 1961. er sein Gefolge im Grunde als Gesindel betrachtet und gehasst habe. Im Brief an Arnold Zweig mutmasst er, Moses sei «ein starker Antisemit» gewesen. Aus der Altertumskunde des frühen 20. Jahrhunderts übernahm Freud ausserdem die Annahme, Moses sei gar vom jüdischen Volk getötet worden. Freud arbeitete tief unzufrieden mit sich, wie er an Arnold Zweig schrieb – Blumenberg nennt fälschlicherweise Stefan Zweig –, an der romanhaften Darlegung und folgenden wissenschaftlichen Dekonstruktion des Moses-Mythos. Der Münsteraner Philosoph klassifiziert den «absolutistischen» Umgang mit dem, was Freud als Wahrheit begriff, als Skandal. Und so wie Freud die Juden ihrer Vaterfigur buchstäblich entfremdete, nahm Arendt dem Staat Israel seine negative Gründergestalt, meint Blumenberg. Höhepunkt der Arendt’schen Fehlleistung scheint ihm, dass sie Eichmann als «Hanswurst» von eminenter Dummheit darstellte. Täter war kein «Hanswurst» Welche Verhöhnung der Opfer wäre eine solche Verharmlosung. Durch «Entdämonisierung» entkleidete Arendt den Eichmann-Prozess – so Blumenberg – seiner symbolischen, seiner kathartischen Funktion. Was Blumenberg dabei übersieht, benennt Meyer unter anderem in seinen differenzierten Erläuterungen, die den Leistungen Blumenbergs ebenso gerecht werden wie Arendts unermüdlichen Bemühungen, das Unbegreifliche rational auf den Begriff zu bringen: Arendt zitierte lediglich Eichmanns stra- tegische Selbstdarstellung als «Hanswurst» im Interview mit Avner Less. Freilich – auch das warf man ihr schon bei Erscheinen vor – folgte sie damit Eichmanns Äusserungen eng und liess sich vielleicht sogar von der Maske des Bösen täuschen. Es geht Hans Blumenberg auch um das, was die Lyrikerin Ingeborg Bachmann einmal behauptete – die Wahrheit nämlich sei dem Menschen zumutbar. Blumenberg hält dies für einen Irrtum. Denn erstens begreift er Wahrheit als ein Interpretationskonstrukt und zweitens hält er einen rücksichtslosen Offenbarungsimpetus für anmassend. Zum Rigorismus-Vorwurf gesellen sich die früh gegen Arendts Text erhobenen Einwände: Dass sie erklärte, die Benutzung jüdischer Institutionen wie der Juden-Räte für die Mechanik der «Endlösung» habe die Zahl der Opfer drastisch erhöht, war nicht nur für Blumenberg eine erschütternde Behauptung. Auch Hannah Arendts Plädoyer für eine internationale Verurteilung Eichmanns wegen Verbrechen gegen die Menschheit sah Blumenberg kritisch, da sie den Juden die Einzigartigkeit ihres Schicksals geraubt hätte. Blumenbergs Text mit seinem Bekenntnis zur erlösenden Funktion mythischen Denkens und Handelns, dessen der Mensch zur Entlastung vom Absolutismus des Wirklichen bedürfe, ist insofern konsistent, als er seine These von der Subjektivität der «Wahrheit» glänzend belegt. Auch seine Wahrheit ist abhängig von Vorannahmen, Perspektiven und Entscheidungen. ● Gesellschaft Kluge Sammlung engagierter Essays Eva Menasse: Lieber aufgeregt als abgeklärt. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 256 Seiten, Fr. 29.90. Von Nicole Althaus Essaybände haben einen schweren Stand. In der Buchhandlung erhalten sie selten einen verkaufsfördernden Platz, zur Lieblingslektüre werden sie von der Leserschaft kaum erkoren und für die Kritik fehlt bei der Rezeption die wichtigste Zutat: die Emotion des Moments. Es gibt deshalb nur wenige Autoren, deren Essays, Debatten oder Reden auch im Nachhinein die Sogwirkung zu entfalten vermögen, die sie im Moment ausstrahlten. Doch wenn sie das schaffen, dann ist es so, als ob es ihnen gelungen wäre, ein Stück gefühlte Zeitgeschichte zwischen den Worten einzufrieren, auf dass sie beim Lesen auftaue. Den besten Essays, die Eva Menasse für ihren Band versammelt hat, gelingt exakt das. Zwar sind sie so sehr im Heute zu Hause, dass man nicht von eingefrorenen Emotionen sprechen kann, sondern höchstens von gekühlten – sie schreibt über künstliche Befruchtung, Pränataldiagnostik, über die Wiederbelebung des mittelalterlichen Prangers mittels Shitstorms und die Durchsichtigkeit des Menschen im Zeitalter des Internets. Doch wenn sie diese in Worte giesst, ist die Hitze der Debatte in der Schärfe der Worte sichtbar: «Wer nicht anders als mit Gott begründen kann, worin der Unterschied zwischen ‹normaler› und reproduktiver Medizin, also zwischen Infu- sion und Insemination, zwischen einer Blut- und einer Samenspende, zwischen einem Bypass, einem künstlichen Hüftgelenk und ärztlicher Hilfe beim Kinderwunsch bestehen soll, hat sich im 21. Jahrhundert intellektuell erledigt.» Pointiert bringt Menasse auf den Punkt, worin die Schwierigkeit jeglicher Diskussion über Pränatale Diagnostik besteht: Sie wirft den Menschen auf den Kern seiner Existenz zurück. Dass Menasse sich in die Debatte einmischt, und das auch noch aus persönlicher Betroffenheit, da sie selber die Fortpflanzungsmedizin beansprucht hatte, ist ein Verdienst. Jede Meinung ist ein Beitrag zum Diskurs, ohne den eine Gesellschaft seine Übereinkünfte und Grenzen nicht überprüfen und verändern kann. «Lieber aufgeregt als abgeklärt» – der Titel des Buches ist Programm. Fast in jedem Text lässt sich die 42-jährige Österreicherin als Zeitgenossin erleben, die intellektuell und emotional teilnimmt an dem, was vor ihrer Tür und in der Welt geschieht. Die Reflexion darüber ist nicht immer brillant aber immer engagiert. Das reicht wohl nicht, dass der Leser den Band ins Herz schliessen wird, aber es hat Texte darin, manchmal sind es auch bloss Passagen, die für das Durchackern des Restes entschädigen. «Diamant mit Umgebung» lautet der Titel eines Essays über die Erzählungen von Scott Fitzgerald. Ein Diamant ist auch dieser eine Satz in der Umgebung des Essays «Mut zur Wut»: «Es ist so banal wie wahr, dass die Meinungsfreiheit sich erst dort beweist, wo sie weh tut.» Oder das Ende des Abschnitts über die rückwärtsge- EKKO VON SCHWICHOW EineFrau, diesicheinmischt Die österreichische Publizistin Eva Menasse fängt in ihren Essays pointiert den Zeitgeist ein. wandten Bussübungen Deutschlands aus Anlass von Günter Grass’ Israel-Gedicht: «Man kann nicht jedes Mal, wenn es im Nahen Osten knallt, in Deutschland erschrocken ein neues Museum bauen.» Am besten ist Eva Menasse, wenn sie die kollektive Haltung der Gesellschaft seziert. Dann schafft sie es, mit zwei, drei Sätzen ein so klares Bild vom Zeitgeist zu malen, als hätte sie eine geheime App entdeckt, das ein iPhone-Bild in Worte übersetzt. Gerade so wie die Gesangslehrerin der Autorin im autobiografischen Text «Stell dir vor, du hättest den Hintern von Montserrat Caballé» ihrer Schülerin mit ein paar Worten die Magie einer Musikpassage erschliesst: «Ich blättere in meinen Noten und Notizen: ‹Gebärdekurs, leiernd› steht über der langsamen Mittelpassage einer barocken Arie, ‹mechanische Spieldosenfigur, endgültig übergeschnappt› über jener dritten Wiederholung in Glucks Orpheus-Arie.» Im Zentrum steht die Emotion des Moments. Ob sie den Rezipienten als Wort erreicht oder als Ton ist letztlich bloss eine Frage der Übersetzung. ● Ideengeschichte Ein Kulturhistoriker wirft einen Blick auf das Verhältnis der Menschen zu den Dingen Auf jede Schöpfung folgt Zerstörung Wolfgang Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion. Hanser, München 2015. 192 Seiten, Fr. 29.90. Von Anja Hirsch Mit seiner packend wie ein Drama erzählten «Geschichte der Eisenbahn» (1977) wurde der 1941 in Berlin geborene Kulturgeschichtler Wolfgang Schivelbusch bekannt. Endlich einer, der nicht trocken Fakten vermittelte, sondern auch in seinen folgenden Büchern, etwa über Genussmittel oder die elektrische Beleuchtung, den Blick darauf lenkte, wie sich das Seelenleben des Menschen unter dem Einfluss der Technik veränderte. Folgerichtig, dass sich Schivelbusch in seinem neuesten Buch nun ganz auf diese abenteuerliche Beziehung zwischen Mensch und Ding konzentriert. Spuren hinterlassen schliesslich beide aneinander. So wird ein Schuh durch langes Tragen rissig. Aber auch der Fuss kann Blasen bekommen. Schivelbuschs ideengeschichtlich ausgerichtete Zeitreise führt uns in die Eingeweide dieser Vorgänge und fördert eine erstaunliche These zutage: Zivilisation und Schöpfung gingen schon immer mit Zerstörung oder wenigstens Verwandlung einher. Auf der Ebene des Körpers sind das Stoffwechselprozesse; die Ökonomie spricht von Tausch. Damit «Gutes», also ein greifbares «Gut» entsteht, musste schon in den alten Mythen erst mal das Monster sterben. Fäulnis, Gärung, Verbrennung sind solche Vorgänge zur Veredelung von Stoffen. Und war nicht Doktor Frankenstein in Wirklichkeit der «Wissenschaftsoptimist der Aufklärung» schlechthin? Immerhin habe der, wenn auch aus Leichenteilen, Neues produziert. Solche Zuspitzungen machen Schivelbuschs Buch so charmant. Ganz nebenbei erfahren wir, wie die Fotografie unser Selbstbild veränderte, und was man denken könnte, wenn man sich wieder einmal damit abplagt, eine Ware von heute, nämlich eine CD, aus der Versiegelung zu befreien: Nicht aufregen. Zerstörung ist Grundlage des Konsums. Die CD verändert mich. Aber auch ich hinterlasse zweifelsfrei Abdrücke. Schivelbuschs vorsorglich als «Versuch» bezeichneter Parcours «über die Konsumtion» spiegelt quasi selbst eine wilde, konsumtive Aneignung aus so virulenten Denkfeldern wie der Philosophie, Mythologie, Alchimie, Ökonomie oder der Psychoanalyse. Lustvoll greift er deren Begriffe und Theorien auf, um sie für sich fruchtbar zu machen. Diese ungewöhnliche Perspektive auf ein Beziehungsdrama ist das eigentlich Aufregende an der Lektüre. ● 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Organisierte Kriminalität Hinter den oft tragisch endenden Flüchtlingsströmen nach Europa versteckt sich ein Milliardengeschäft Schlepper,Schleuser,Schmuggler Von Sieglinde Geisel Medien zeichnen in ihren Berichten über Flüchtlingsdramen oft das Bild einer skrupellosen und gewalttätigen Schleppermafia, der ein Menschenleben nichts gilt. Stimmt dieses Bild? Der italienische Kriminologe Andrea Di Nicola und sein Co-Autor Giampaolo Musumeci haben in der Welt der Schleuser recherchiert: Entgegen ihrem reisserischen Buchtitel sprechen sie aber kaum von «Menschenhändlern» und Gewalt. Sie beschreiben vielmehr ein System von «flexiblen Netzwerken», die international und mit effizienter Arbeitsteilung agieren. Diese nennen sie, etwas beschönigend, «illegale Reiseagenturen», die auch einen Ruf zu verlieren hätten. Klar, denn es spricht sich herum, wenn Flüchtlinge nicht ankommen – und das ist schlecht fürs Geschäft. Die beiden Autoren haben mit Flüchtlingen, Staatsanwälten und Schleusern gesprochen, mit letzteren oft in Gefängnissen: In den Netzwerken sind die Kapitäne und Busfahrer zwar die kleinsten Fische, doch sie gehen das grösste Risiko ein. Vom Taxifahrer zum Schlepper ist es oft nur ein kleiner Schritt. Kenntnis von Land und Leuten ist ebenso wichtig wie die Fähigkeit zur Kooperation sowie Kreativität: Für jede neue Hürde an der EU-Grenze erfinden die kriminellen Netzwerke neue Methoden der Umge- hung. Auch die Grossen in diesem äusserst lukrativen Geschäft haben klein angefangen, so etwa der Kroate Josip Jončarić, der in den 1990ern fast den gesamten Menschenschmuggel aus China nach Europa organisiert haben soll. Er war Lastwagenfahrer, bevor er seine Kenntnisse über die Grenzregion des Karst dazu nutzte, Menschen anstelle von Obst und Gemüse über die Grenze zu transportieren. Die Schauplätze, über die die Autoren berichten, wechseln rasch: Oberägypten, Calais (der Ärmelkanal gehört zu den einträglichsten Routen) oder ein Hafenstädtchen in der Türkei. Das Prinzip ist überall das gleiche. Die Anwerbung wird von Agenten im Heimatland der Flücht- REUTERS Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen. Kunstmann, München 2015. 201 Seiten, Fr. 29.90. Menschenschmuggel im Lastwagen: Französische Polizisten entdecken illegale Migranten in den Terminals von Calais (22.10. 2014). linge betrieben, Organisatoren sorgen im jeweiligen Streckenabschnitt für Transport, Unterkunft und Verpflegung der Flüchtlinge sowie allenfalls die Bestechung von Beamten, ein Kapitän oder Schleuser bringt die Flüchtlinge schliesslich über die Grenze, wo sie sich selbst überlassen werden. Aus allen Regionen der Welt versuchen Menschen, in den Westen zu gelangen. Am teuersten ist eine Flucht von China in die USA: Hier sind gefälschte Dokumente sowie mehrere Flugreisen erforderlich, das kostet 40000 bis 70000 Dollar. Meistens jedoch bezahlen Flüchtlinge (etwa aus Afghanistan, Syrien oder Afrika) einige tausend Dollar, um nach Europa zu gelangen. Zwischen drei und zwanzig Milliarden Dollar pro Jahr soll die illegale Migration den Schleppern einbringen. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn die Summen werden bar bezahlt und per Schuldschein weitergeleitet – ein de facto legales System, das so einfach ist wie raffiniert. Die internationale Fahndung gestaltet sich schwierig: Die Bosse dieser organisierten Kriminalität bleiben unerreichbar, niemand hat mit ihnen direkten Kontakt, und oft ist nicht einmal ihr wahrer Name bekannt. Das Schleusen von Menschen (im Buch wird zwischen Kriegsflüchtlingen und Armutsmigranten leider nicht unterschieden) funktioniert letztlich wie jedes Geschäft: Wo es eine Nachfrage gibt, findet sich auch ein Anbieter – und die Nachfrage wird auf absehbare Zeit nicht abreissen, im Gegenteil. Wie diesem verbrecherischen Tun jedoch zu begegnen sei, darauf haben auch die Autoren keine Antwort. ● Schweiz Zwei Manager richten einen Reformappell an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Heidi, wach auf! Robert Salmon, Christopher Cordey: Aufwachen! Ist die Schweiz in die Falle ihres eigenen Erfolgs getappt? Europa Verlag, Zürich 2015. 104 Seiten, Fr. 19.90. Von Thomas Zaugg Dieses Buch erlaubt sich, «mit der Faust auf den Tisch zu schlagen», und haut daneben. Die Erfolgsgeschichte der Schweiz habe ihre eigene innere Kultur geschaffen, benennen die beiden Autoren das Kernproblem. Im Tourismus, der Banken- und Exportbranche, den Auslandbeziehungen und bei der Jugend stellen Robert Salmon und Christopher H. Cordey eine alarmierende Starre fest. Mit 86 Prozent – laut Sorgenbarometer 2012 der Credit Suisse – seien die Schweizer zu stolz auf ihre Nation. Zwar bringen die Autoren viel Erfahrung mit: Salmon war Vize-Präsident der L’Oréal-Gruppe, Cordey arbeitete unter 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 anderem für Philip Morris, Movado, Richemont und Clarins. Jedoch beschränkt sich ihr «Aufwachen!» auf Zukunftsmusik, ja «Futurologie» im schlechtesten Sinne. Allgemeinplätze sind die Regel: «Nehmen Sie sich angesichts von Schwierigkeiten vor Unbeweglichkeit sowie übereilten Veränderungen in Acht.» Oder: «Die beste Lösung ist, pragmatisch vorzugehen und in sukzessiven Schritten zu handeln.» Störend auch, wenn alt Bundesrat Willi Ritschard sinnentstellend zitiert wird. Der Sozialist wollte folgenden Satz sicherlich nicht so unternehmerisch verstanden wissen, wie es die Autoren tun: «Die Schweizer stehen früh auf, aber sie erwachen spät.» Auch «Aufwachen!» kommt zu spät. Die jüngste Entwicklung aufgrund der zunehmenden Frankenstärke kann das auf Französisch («Heidi réveille-toi!») bereits im Januar 2014 erschienene Pamphlet nicht berücksichtigen. Seine acht Kurzratschläge für Heidi sind dennoch eine Diskussion wert: etwa die Wahlpflicht zwischen 18 und 30 Jahren, Mandarin als dritte Fremdsprache ab der Sekundarstufe oder Zivildienst im Ausland als Militärersatzpflicht für Schweizer und (!) Schweizerinnen. Aufrüttelnd wirkt das zügig zu lesende Büchlein, wenn es globale Trends behandelt. In einer Welt ohne Staaten übernehmen bald «reiche Privatpersonen, akademische Institutionen, NGOs und multinationale Konzerne» die Aufgaben der Nationen. Smartphones führen mit Übersetzungstools zu einem Sprachensterben. Die Ausbeutung von Schiefergas verschafft den USA die energetische Unabhängigkeit und fördert ihren Rückzug aus der Weltpolitik. Nicht zu vergessen der Mensch 2.0, der sich mit Computerchips ausrüstet, die unter die Haut gehen. Er wird von «Bio-Konservativen» bekämpft, die sich nicht kybernetisch hochrüsten wollen. Heidi muss sich entscheiden. ● Geschichte Verhalfen die kleinen Leute dem Nationalsozialismus zum Erfolg? Götz Aly seziert das Mitläufertum der Deutschen VonderMitschuldder Biedermänner Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus. S. Fischer, Frankfurt am Main. 272 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 23.-. Die Vergangenheit vergeht nicht. 70 Jahre nach Kriegsende stellt sich noch immer die Frage, wie «das» geschehen konnte, und anders als von Reinhart Koselleck prophezeit, ist die Forschung zur NS-Zeit mit dem Aussterben der Zeitzeugen nicht «nüchterner» geworden. Immer wieder entflammen hitzige Debatten, und Götz Aly ist einer, der sie seit Jahren mit so klugen wie provokativen Thesen mitbefeuert. Jenseits des akademischen Establishments schreibt der Historiker gegen Tabus an und wagt neue Perspektiven: Indem er den Nationalsozialismus beim Namen und die sozialistische Komponente des gemeinhin als «rechts» etikettierten Phänomens in den Blick nimmt, sieht er Hitler weniger als charismatischen Führer denn als Volkstribun, der die Leute mit wohlfahrtsstaatlichen Gefälligkeiten von Kindergeldern bis Rentenerhöhungen bei der Stange hielt – und «Massenraubmord» an den Juden beging, um die Leistungen für den kleinen Durchschnittsdeutschen zu finanzieren. Am Anfang stand der Neid Dieser Letztere steht im Zentrum des Aufsatzbandes, in dem Aly neun ältere und zwei neue Texte versammelt, die sich um das Verhalten der Deutschen während und nach der Hitlerzeit drehen. Das Millionenvolk reduziert er dabei auf den zentralen Typus des «Alfred Fretwurst». Fretwurst hatte sich unter dem NS vom Klärwerkarbeiter zum Justizwachtmeister emporgehangelt, zeigte sich in den 1960ern als strammer SED-Funktionär und steht exemplarisch für das geschmeidige Gleiten zwischen den Systemen und die konsequente Verführbarkeit einer Masse, die vorab eines wollte: «ihren sozialen Status mit entschiedener Rücksichtslosigkeit verbessern und dabei ihre biedermännische Reputation wahren.» Wo eine starke Mitte Abwehr gegen die Extreme hätte leisten sollen, schwabbelte in Deutschland ein «menschliche[r] Wackelpudding», den Hitler dem Autor zufolge mit Worten und Taten zur Basis seines Regimes stabilisierte. Wenn Kritiker zuweilen monieren, dass Aly seine aus Einzelfällen abgeleiteten Gesamtthesen nicht mit der Fachliteratur abgleiche, so gibt einer der neuen Essays Aufschluss darüber, wen der Historiker anstelle seiner Berufskollegen als Referenz hochachtet: Dem Ökonomen Wilhelm Röpke, der den Nationalsozia- ULLSTEIN BILD Von Claudia Mäder Die Masse liess sich vom Nationalsozialismus verführen: Hermann Göring nimmt ein Bad in der Menge (Anfang der 1940er Jahre). lismus von Beginn weg als illiberal kritisierte und seinen Massencharakter betonte, widmet Aly eine ausführliche Darstellung. Und an ihn knüpft er an, wenn er darauf beharrt, dass nicht Firmen, Banker oder Bürokraten, sondern die leere Mitte untersuchen müsse, wer die ungeheuerlichen Kräfte des NS-Staates analysieren wolle. Mehrere Aufsätze illustrieren dabei insbesondere die sozialpsychologischen Mechanismen, denen das Ungeheuerliche folgte. Ob in der vorchristlichen Ära oder im Industriezeitalter: Am Anfang war laut Aly der Neid. Während er sich im Alten Testament etwa an einem Weinberg entzündete, war es im 19. Jahrhundert die jüdische Mobilität, die den von der Moderne überrollten, ja abgehängten Deutschen missfiel. Wie früher der Landesfürst, anerbot sich sodann im 20. Jahrhundert der Staat, die angestauten Ressentiments aufzunehmen und die Neidhammel zufriedenzustellen, indem er im Rahmen eines «justizförmig arrangierten, im Auftrag der Obrigkeit vollzogenen Massenmords» Sündenböcke exekutierte. Das ist reichlich schematisch; subtiler sind die Folgen dieses Mechanismus. Die Entindividualisierung der Tat beförderte nämlich laut Aly das Entstehen eines «Schweigekartells» – eines Kollektivs, das, so wie es Schuld und Profit teilte, auch das Böse gemeinsam unter dem Deckel hielt. Und hält: Dass sich die Nachgeborenen bis heute im Vertuschen üben, kritisiert eine weitere Serie von Aufsätzen. Speziell nimmt der Autor die Wissenschaft ins Visier und zeichnet etwa im Detail nach, wie lange das MaxPlanck-Institut die Tatsache leugnete, dass ihre Vorzeigeforscher mit den Euthanasie-Organisatoren kooperiert hatten, um an interessante Hirnpräparate zu gelangen. Selbstverständlich schont der Historiker aber auch seine eigene Zunft nicht. Ihr und ihren Vertretern wirft Aly vor, die Forschungsthemen so eng zu wählen (etwa: die Berufsverbände/Unis/ Studienräte… und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus), dass sich ihnen fast jeder entziehen und auf die sichere Seite fliehen könne. Anders gesagt: Die Geschichtsschreiber helfen den Deutschen, «ihre Mitschuld zu reduzieren». Quälend vage Theorie Der Gedanke, dass die «Fretwursts» tatsächlich eine Mitschuld tragen, verbindet alle Texte, doch bleibt das brillant geschriebene und inspirierend zu lesende Buch gerade in diesem Knackpunkt quälend vage – weil letztlich auch sein Fokus ein beschränkter ist und es sich keinen graduellen Abstufungen öffnet: Ist jenes Gros, das dank Hitler höhere Renten oder einen neuen Posten bezog, gleichermassen schuldig wie der Nazi, der Deportationen plante? Indem das Augenmerk auf der Masse ruht, geraten die Relationen aus dem Blick und mit ihnen ein Aspekt, ohne den man 70 Jahre nach Kriegsende in die simple These einer Kollektivschuld zurückzufallen droht. ● 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 GALLERYSTOCK Sachbuch Erotik André Comte-Sponville plaudert in seinen beiden neuen Büchern über Liebe und Sex Parlez-moid’amour André Comte-Sponville: Liebe. Eine kleine Philosophie. Diogenes, Zürich 2014. 165 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 23.–. André Comte-Sponville: Sex. Eine kleine Philosophie. Diogenes, Zürich 2015. 177 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 23.–. Von Klara Obermüller Wie im Deutschen, so steht das Wort «Liebe» auch im Französischen für die unterschiedlichsten Empfindungen. Mit dieser «Verwirrung» möchte André Comte-Sponville «aufräumen». Aufräumen heisst bei diesem Autor: Begriffe erklären, Bedeutungen herleiten und bei den Philosophen nachfragen, was sie zum Thema zu sagen haben. André Comte-Sponvilles Publikationen sind in der Regel aus Vorträgen hervorgegangen. Das hat Vorteile: Die Texte sind verständlich und lesen sich leicht. Der Nachteil: Sie wirken oft etwas geschwätzig, nicht selten redundant und im Aufbau nicht immer ganz logisch. Dies gilt auch für die beiden Neuerscheinungen zum Thema Liebe und zum Thema Sex, die vom deutschsprachigen Verlag im Abstand von wenigen Monaten herausgebracht wurden. Diogenes hat aufgeteilt, was in Frankreich unter dem Titel «Le sexe ni la mort» als ein Band erschienen ist. Der Titel bezieht sich auf ein Zitat des französischen Moralisten François de La Rochefoucauld, der Geschlecht, Tod und Sonne oder, anders gesagt, Sexualität, Sterblichkeit und Lebensenergie als die Bereiche bezeichnet hat, die dem menschlichen Blick entzogen und gerade deshalb so ungemein faszinierend sind. In der Einleitung zum soeben erschienen Band «Sex» knüpft Comte-Sponville nun an dieses Zitat an und liefert thematisch nach, was der erste Band vermissen liess. Dort konzentriert sich der Autor auf die drei zentralen Dimensionen von Liebe, die in der griechischen Philosophie mit Eros, Philia und Agape bezeichnet werden. Zu deutsch etwa: die Liebesleidenschaft, die Freundschaft und die Nächstenliebe. Sex hingegen kommt nur insofern vor, als behauptet wird, Eros habe mit ihm nichts zu tun. Schade, eigentlich. Ich denke, dem Thema wäre gedient gewesen, wenn der Autor der Komplexität des Phänomens Liebe von allem Anfang an mehr Beachtung geschenkt hätte. Existenziellen Tiefgang gewinnen seine Ausführungen im zweiten Band, der sich weit spannender liest als der erste. Nun fliesst seine eigene Lebenserfahrung in die Texte ein. Der Eindruck, einem philosophischen Kolloquium beizuwohnen, tritt in den Hintergrund, und man versteht, worum es dem Autor wirklich geht: das menschliche Leben, das menschliche Tun, die menschliche Moral Der französische Philosoph André Comte-Sponville will Liebe und Sex vom religiösen Überbau befreien. von ihrem religiösen Überbau zu befreien. Das war auch das erklärte Ziel seines letzten Buches, das nach einer Spiritualität ohne Gott fragte. Der Philosoph plädiert für eine Liebe, die nicht Pflicht ist, und führt eine Sexualität ins Feld, die frei ist von jeglichem Zweck. «Wen schert das Paradies, wenn er Sex hat? Und wozu braucht er einen Gott, wenn ihm der Körper des andern genügt?» Die Sexualität hält dieser Autor für einen «ziemlich überzeugenden Einwand gegen jede Religion». André Comte-Sponville ist sich und seiner Mission als bekennender Atheist treu geblieben. Er ist aber auch keinen Schritt weitergekommen. Noch immer arbeitet er sich an einem Gott ab, an den er nicht glaubt. Noch immer muss er beweisen, dass es ihn nicht braucht, um ein erfülltes Leben zu führen. Der Humanismus, den er vertritt, verdankt der religiösen Tradition allerdings mehr, als ihm vermutlich bewusst ist. Sein Menschenbild ist weit entfernt von jener Hybris, die Menschenwerk an die Stelle Gottes setzt und sich damit über die eigene Bedingtheit hinwegsetzt. Zu den schönsten Passagen seines Buches zählen deshalb jene, die nach dem Gelingen von Liebe und der Dauerhaftigkeit von Beziehungen fragen. Da muss der Autor nichts beweisen und niemanden befragen. Da schöpft er allein aus seiner Erfahrung. Da hört man ihm gerne zu. ● Bergleben Ein Buch über höchstgelegene Alpweiden, entlegenste Täler und urtümliches Menschsein Unter dem Firnis der Zivilisation Andreas Bachofner: UR-Alpen. Alp- und Bergleben im Kanton Uri. Gisler Druck, Altdorf 2014. 247 Seiten, Fr. 38.90. Von Felix E. Müller Es ist ein wunderbares Buch, das Andreas Bachofner geschrieben, fotografiert und produziert hat, eines über die Menschen, die sich noch heute im Kanton Uri den Herausforderungen des Alpen- und Berglebens stellen. Es beeindruckt durch seine Authentizität, die seinem fast journalistischen Ansatz zu verdanken ist. Der Autor verbrachte die ers22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 ten fünf Lebensjahre in Erstfeld und lebt heute in Schaffhausen. Doch der Kanton Uri hat ihn nie losgelassen, und zwar der Kanton jenseits der Reusstal-GotthardAchse. Die abgelegensten Winkel, die höchstgelegenen Alpen besuchte und beschreibt er in Text und Bild. Er vermittelt den Blick auf Menschen, die unter schwierigen Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen. So stellt er uns etwa die Familie Aschwanden vor, die auf Gitschenen zuhinterst im Isenthal seit 330 Jahren lebt und wirtschaftet, wozu auch das anstrengende und gefährliche Wildheuen an den steilen Abhängen des Zindel ge- hört. Oder das Ehepaar Bernhard und Maria Brand, die seit 30 Jahren die Alp Gnof bestossen. Diese liegt zuhinterst im Maderanertal im Schatten des Gross Dussi und ist immer noch nur zu Fuss zu erreichen. Wir erfahren etwa, dass jeden Abend Bernhard Brand seinen «Follä», einen hölzernen Milchtrichter, nimmt und seinen Betruf erschallen lässt, der das Schicksal der Menschen und der Tiere dem Allmächtigen überantwortet. Das alles lässt den Leser in eine Welt eintauchen, die unter einem Firnis von Zivilisation immer noch viel Archaisches hat und die unter der Moderne die Macht der Natur erahnen lässt. ● Nationalsozialismus Deutschland erlebte am Ende des Zweiten Weltkriegs eine regelrechte Selbstmordwelle «WirsindhiereinefideleMeute» Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschiesst. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin Verlag, Berlin 2015. 304 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 19.–. Susanne Wiborg, Jan Peter Wiborg: Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S. Antje Kunstmann, München 2015. 320 Seiten, Fr. 29.90. Von Claudia Kühner Es war ein Massenphänomen, und doch entschwand es der kollektiven Erinnerung: Zu Ende des Kriegs 1945 nahmen sich vor allem im Osten des Reichs Zehntausende Menschen das Leben. Konnten fanatische Nationalsozialisten die Niederlage nicht ertragen, fürchteten andere die Rache der Russen – oder wussten einfach nicht mehr weiter. Väter erschossen ihre Familien und dann sich selbst, Mütter erhängten sich oder ertränkten sich mit ihren Kindern. Ganze Familien löschten sich selber aus. Zwei Bücher haben dieses Thema nun aufgegriffen. Der Historiker Florian Huber hat eine Vielzahl von Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen zu einer eindrücklichen Darstellung verarbeitet. Im Zentrum steht das pommersche Städtchen Demmin, Schauplatz des mutmasslich grössten Massenselbstmords und gut dokumentiert. Huber vermittelt einen tiefen Einblick in die Psyche von Leuten, die die Konfrontation mit sich selber oder den Zusammenbruch all dessen, woran sie geglaubt hatten, nicht (mehr) ertrugen. Er stellt aber auch den Zusammenhang her mit den schwierigen Weimarer Jahren und erklärt, wie danach die Menschen mit der NS-Herrschaft in einem emotionalen Ausnahmezustand lebten. Nach einem zwölfjährigen Propaganda-Bombardement brachen viele 1945 zusammen. Die Angst vor Rache zeigte auch, dass viele von ihnen sehr wohl im Bilde gewesen waren über die Massenverbrechen, die sie sonst leugneten. Dazu flicht Huber geschickt die Beobachtungen ausländischer Zeitzeugen ein. Zu ihnen zählt der Auslandschweizer René Jouvet, Prokurist in Augsburg, der die zunehmende Fanatisierung beschrieb. Oder die amerikanischen Reporterinnen Lee Miller und Margaret Bourke White, die französisch-jüdische Korrespondentin Stéphane Roussel, der Deutsch-Brite Sefton Delmer, der spätere Emigrant Sebastian Haffner. Alle diese Autoren setzten der NZ-Propaganda damals ihre eigene nüchterne Analyse entgegen. Zeigt Huber das grosse Bild, bietet ein zweites Buch zum Thema die dramatische Detailaufnahme der Clara S., die ganz in der Nähe von Demmin aufgewachsen war. Claras Nichte und Neffe, die Historikerin Susanne und der Journalist Jan Peter Wiborg, haben deren Leben bis in die letzten Stunden im Frühjahr 1945 recherchiert. Zwar waren die genauen Umstände ihres Todes nicht mehr zu eruieren, doch die 24-Jährige starb durch die Hand ihres Geliebten oder durch die eigene. Die Autoren zeichnen hier ohne jede Beschönigung die Geschichte der eigenen Familie und ein «authentisches Zeugnis der weiblichen Seite des Dritten Reichs» nach. Der Leser folgt einem literaturinteressierten jungen Mädchen, das zu einer fanatisch gläubigen Nationalsozialistin wird, hoch aufsteigt im Bund deutscher Mädel, BDM, und so eine den Nazis genehme «Frauenkarriere» schafft. Basis der Recherche waren die unzensurierten Briefe aus Claras letzten fünf Lebenswochen, eine einzigartige Quelle. Als in der Ferne die russischen Geschütze dröhnten, lebte Clara längst in einer Art Wahn, und auch im Rausch einer Liebesbeziehung zu ihrem Vorgesetzten, dem sie bis in den Tod folgte. Gespenstisch an den Briefen sind Kitsch («Es gibt in meinem Leben nichts Höheres als diese Liebe. In Ihr fällt mein Menschsein mit der Idee zusammen»), Sentimentalität und Realitätsverlust: «Wir sind hier eine fidele Meute.» Man trank noch Sekt, als ringsum alles zerfiel. Die Frage konnten Susanne und Jan Peter Wiborg indes nicht beantworten: Warum ihre Tante nie begriffen hat, was um sie herum geschah. ● Fotografie Sechs Jahrzehnte Schweizer Popmusik «Ohne Fotos tönt die Popmusik nicht», schreiben die Herausgeber dieses Bildbandes über sechs Jahrzehnte Schweizer Popmusik. Von der Hawaii-Combo «Honolulu Girls», der ersten Schweizer Girl-Group (1959), über die gloriosen Sixties, als die Luzerner Band «Five Dorados» den noch kaum bekannten John Lennon 1965 in seinen Skiferien in St.Moritz traf, bis zum schweizerisch-japanischen Duo «Tim & Puma», den Erfindern der SkypeKonzerte. Alles, was in der Schweizer Popszene Rang und Namen hat(te), ist hier versammelt. Auch fast Vergessene wie das Zürcher Strassenmusik-Trio «Minstrels» mit ihrem legendären Hit «Grüezi wohl Frau Stirnima» (1970), der das Revival der Mundart einläutete (siehe Bild). Neben Schweizer Urgesteinen sind auch Weltstars bei ihren Auftritten in der Schweiz zu sehen: Jimi Hendrix, Bob Marley, Bruce Springsteen oder Michael Jackson. Der wunderbar-wehmütige Rückblick erscheint als Begleitband zur Ausstellung «Oh Yeah!» im Museum für Kommunikation in Bern (bis 19.7.2015). Urs Rauber Samuel Mumenthaler, Kurt Stadelmann: Oh Yeah! 200 Pop-Photos aus der Schweiz, 1957–2014. Chronos, Zürich 2014. 240 Seiten, 200 Abbildungen, Fr. 39.90. 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Expedition Der schwedische Entdecker Sven Hedin (1865–1952) reiste durch Asiens Berge und Wüsten ImFrackbeimPantschenLama men getrotzt und schliesslich als erster Europäer die Quellen des Brahmaputra und des Indus gefunden und kartiert. In wenigen Monaten verfasste Hedin danach, gestützt auf sein Expeditionstagebuch, ein weiteres seiner vielen, damals höchst erfolgreichen Reisebücher. Die ganz den grossen Entdeckungsberichten gewidmete Edition Erdmann hat nun aus Anlass des 150. Geburtstages von Sven Hedin (1865–1952) dessen Be- Sven Hedin: Durch Asiens Wüsten. Drei Jahre auf neuen Wegen in Pamir, Lop-nor, Tibet und China. 1893–1897. Edition Erdmann, Wiesbaden 2013. 416 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 23.90. Sven Hedin: Abenteuer in Tibet. 10000 Kilometer auf unbekannten Pfaden. 1899–1902. Edition Erdmann, Wiesbaden 2014. 352 Seiten, Fr. 37.90. Sven Hedin: Trans-Himalaja. Entdeckungen und Abenteuer in Tibet. 1905–1908. Edition Erdmann, Wiesbaden 2014. 416 Seiten, Fr. 37.90. richte von seinen drei grossen, mehrjährigen Asien-Expeditionen neu herausgebracht. Mit vorzüglichen Einleitungen versehen und reich illustriert mit zahlreichen der originalen Landschaftsskizzen, Karten und Fotografien von Sven Hedin selbst, lassen die schönen Bände einzig eine aktuelle Karte mit den Reiserouten des Forschers vermissen. Fasziniert von den letzten weissen Flecken auf der Landkarte der Erde – da- Von Kathrin Meier-Rust Im April 1880 stand der 15-jährige Sven Hedin in der jubelnden Menge, die Adolf Erik Nordenskjöld nach der ersten Umschiffung Asiens auf der Nordostpassage im Hafen von Stockholm empfing und dachte: «So will auch ich einst heimkommen!» Sein jugendlicher Traum sollte sich erfüllen. Knapp 30 Jahre später fuhr der nun 43-jährige Hedin 1908 umjubelt und in einem perfekt inszenierten Triumphzug in denselben Hafen ein. Hedin stand auf dem Höhepunkt seines wissenschaftlichen Ruhms und seiner Popularität. Auf seiner dritten grossen Expedition ins Innere Asiens von 1905–1908 hatte er die zuvor unbekannte Gebirgskette nördlich des Himalaja entdeckt – das Hedin-Gebirge, heute TransHimalaja; war trotz englischem und chinesischem Verbot ins Tibet gereist, wo er in Schigatse vom Pantschen Lama empfangen wurde und im Frack am tibetischen Neujahrsfest teilnahm; hatte über Monate eisiger Kälte und Schneestür- In der Wüste Takla-Makan (Nordwestchina) posiert Sven Hedin 1936 mit einem Kamel. Geschichte Im deutschen Bauernkrieg von 1524–1526 kämpften die Aufständischen für Menschenrechte Vom Retter zum Schlächter Peter Blickle: Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. C. H. Beck, München 2015. 584 Seiten, Fr. 49.90. Von Peter Durtschi Noch lange nach Kriegsende hätten die Bauern vor dem Namen «Jörg Truchsess» oder «Herr Jörg» gezittert, schreibt im 19. Jahrhundert ein bayerischer Militärhistoriker. Und der Ausspruch «man wird dir den Jörgen zeigen» diente lange dazu, jemandem eine schwere Strafe anzudrohen: Untrennbar ist der Name von Georg Freiherr Truchsess zu Waldburg (1488– 1531) mit dem Bauernkrieg von 1525 verknüpft. Als Feldhauptmann hat der oberschwäbische Adlige den Aufstand des gemeinen Mannes niedergeworfen. Seinen Standesgenossen galt von Waldburg dafür als Retter des Reiches. In der Revolutionszeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts geriet er der Geschichtsschreibung zunehmend zum Bauernschlächter. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 Hielt Georg von Waldburg den Krieg, der auf Seiten der Bauern mehrere Zehntausend Tote forderte, für rechtens? Ja, argumentiert der Historiker Peter Blickle: «Gehorsam als leitende systemische Kategorie» habe keine Abweichung geduldet; zumindest habe von Waldburg nicht erkennbar darüber reflektiert. Tatsächlich bildet um 1500 Gehorsam das verbindende Band zwischen Herrn und Leibeigenem. Der Herr erlässt Gebote und Verbote, und diese Satzungstätigkeit ist dadurch legitimiert und gesichert, dass die Leibeigenen ihm durch Eid Gehorsam versprechen. Aber in zunehmendem Mass hatten Herren wie Georg von Waldburg die Gesetzgebung monopolisiert und das «Herkommen» – die Ortsgewohnheiten und das Landrecht – ausser Kraft gesetzt. Und mit dem Aufkommen von reformatorischem Gedankengut nahmen Bauern und auch Stadtbürger Bezug auf das göttliche Recht; dies lief auf eine Kontrolle geltender Normen an christlichen Grundsätzen hinaus. Aus den Beschwerden der Bauern an die Obrigkeit schält sich ein harter Kern von Forderungen heraus. So reklamierten die schwäbischen Bauern in ihren «Zwölf Artikeln» das Recht auf Pfarrerwahl, politische und gerichtliche Zuständigkeiten der Gemeinden und, besonders brisant, Entlassung aus der Leibeigenschaft. Immer wieder haben die Bauern dem Schwäbischen Bund ihre Forderungen als Grundlage für Gespräche aufgedrängt, letztlich ohne Erfolg. Überzeugend schildert Blickle, welche juristischen Spitzfindigkeiten von Seiten des Schwäbischen Bundes, einem Zusammenschluss der Reichsstände, notwendig waren, um den Krieg gegen Bauern zu legitimieren: Man deutete die organisierten Proteste, die «Empörung» der Bauern als Landfriedensbruch. Und man warf den Bauern, die sich gegenseitig Eide geschworen und den Huldigungseid gegen ihren Herren ausgesetzt hatten, einen Verstoss gegen die Ordnung des Reichs vor. «Nicht wegen ge- stürmter Burgen und besetzter Klöster wurde der Krieg eröffnet, sondern wegen verweigerter Unterwerfung und Demutsbezeugung», hält Blickle fest. Und er weist darauf hin, dass Burgen und Klöster nach der Eröffnung des Krieges durch den Schwäbischen Bund erobert wurden, nicht vorher. In seiner flüssig geschriebenen Darstellung geht Peter Blickle, bis 2004 Professor für Neuere Geschichte in Bern, auch auf die weitere Karriere Georg von Waldburgs ein und zudem auf die Rezeptionsgeschichte des «Bauernjörgen» – so wird der Feldherr und Diplomat erstmals im Herbst 1525 genannt. 1795 schreibt ein deutscher Historiker, die oberschwäbischen Bauern hätten das verlangt, was einige Jahrhunderte später allgemeine Menschenrechte genannt wurde. «Damit war Schluss mit den noch in den 1780er Jahren erschienen Kinderbüchern, in denen der Bauernkrieg als Lehrbeispiel für die Folgen von Ungehorsam diente», hält Blickle fest. ● Beziehungen Prominente aus Sport, Politik und Kultur erzählen über ihre Lebensgefährten Freundschaftenverändern dasLeben Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz. S. Fischer, Frankfurt am Main 2015. 256 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 18.–. Von Susanne Ziegert Sie waren 15 und vollkommen auf einer Wellenlänge. In ihrem Gymnasium hatte sich die spätere Ski-Olympiasiegerin Maria Höfl-Riesch oft als Aussenseiterin gefühlt. Dann traf sie die Amerikanerin Lindsey Vonn, ein anderes Ausnahmetalent, und fühlte sich endlich verstanden. Mehrere Monate verbrachten die Freundinnen nach dem Abitur zusammen, feierten gemeinsam Weihnachten. Als beide an die Weltcup-Spitze rasten, begann ein erbitterter Kampf. In ihrem Sachbuch über Freundschaft beschreibt die Autorin Katja Kraus, wie aus engsten Freundinnen harte Rivalinnen wurden, die drei Jahre lang gegeneinander um Zehntelsekunden rangen. Für ihr Buch ist sie durch Deutschland gereist und hat mit Sportlern, Politikern, Medienleuten und einem Schriftsteller über ihre Lebensmenschen, Zweckbündnisse oder Ersatzfamilien gesprochen und jeder der besonderen Beziehungen ein Kapitel gewidmet. Den schwierigen Spagat zwischen Freundschaft und sportlichem Wettkampf kennt die frühere Fussballerin Katja Kraus aus ihrer eigenen Vergangenheit als Bundesliga-Torhüterin und Nationalspielerin. Sie legt hiermit ihr zweites Sachbuch vor, ihr Erstlingswerk «Macht – Geschichten vom Erfolg und Scheitern» verfasste sie nach dem jähen Karriereende als Vo r s t a n d s m i t - Zwei Skiasse, vereint in Freundschaft und Rivalinnen auf der Piste: Lindsey Vonn (links) und Maria Höfl-Riesch. EQ mals waren das nur noch die beiden Pole und das Innere Asiens samt dem Tibet –, galt Hedins Leidenschaft von Anfang an mehr dem Abenteuer des Entdeckens als der wissenschaftlichen Forschung. Zwar hatte er sich in einem schnell absolvierten Studium das nötige Rüstzeug für Feldforschung verschafft, die er gewissenhaft mit vielen mehrmals täglichen Messungen durchführte. Doch er überliess die Auswertung der Daten meist anderen Wissenschaftern, um mit seinen eigenen Büchern das grosse Publikum mit gefährlichen Abenteuern und Exotik zu fesseln. Entsprechend spannend sind diese Reiseberichte noch heute zu lesen. Man lernt die sorgfältig ausgewählten Reisegefährten – je nach Route und Sprachbedarf muslimische Karawanenführer, Hirten, Kosaken, mongolische Lamas – ebenso kennen wie die zahlreichen Lastund Reittiere – von Pferden, Kamelen, Mauleseln und Yaks bis zu den Hunden, die allzu oft den Strapazen der Reise erlagen. Man erfährt von schier unglaublichen Reisestrecken auf Kamel- und Pferderücken, wenn nicht zu Fuss. Von kolossalen Strapazen, die in den berühmten Episoden gipfeln, als Hedin in der Wüste Takla-Makan beinahe verdurstet und in den eisigen Höhen Nordtibets beinahe erfroren wäre. Auch die vielen Treffen mit gekrönten Häuptern werden gebührend geschildert, nebst dem Pantschen Lama und dem schwedischen König etwa mit dem russischen Zaren und dem Schah von Persien. Dass sich der germanophile und politisch naive Hedin in seinem späteren Leben mit seiner nazifreundlichen Haltung diskreditierte – er traf Hitler mehrmals persönlich –, zeigt, wie wenig dieser abenteuerlustige Geist ins 20. Jahrhundert passte. Wagemutig bis zur Tollkühnheit, vielsprachig und ein exzellenter Zeichner war er ein Epigone in der grossen Geschichte der europäischen Entdeckung der Welt. ● glied beim Hamburger Sportverein. Mit der Auswahl ihrer Gesprächspartner bildet Katja Kraus eine Vielfalt von unterschiedlichsten Lebenswelten ab. Nicht jeder Interviewte möchte die Fragestellerin aber in die Tiefen seiner Seele blicken lassen. Gleich im ersten Kapitel lässt der Politiker Egon Bahr die Fragen zu seiner Zeit mit Willy Brandt an der Oberfläche abprallen. Neue Erkenntnisse über die legendäre Männerfreundschaft fördert sie nicht zu Tage. Spannend ist der Einblick in das Leben der digitalen Bohème. Eine jahrzehntelange Freundschaft könnte sich die ehemalige Parteivorsitzende der Piratenpartei, Marina Weisband, nicht vorstellen. Für sie seien die Beziehungen etwas «phasisches». Nirgends habe sie so zartfühlende Menschen kennengelernt, wie im Internet. Die Hemmschwelle, wirklich etwas zu sagen, sei dort viel geringer. Ihre Bekanntschaften pflegt sie am liebsten über Twitter. Über Freunde auf dem Papier spricht der junge Schriftsteller Benjamin Lebert, Autor des Jugendromans «Crazy». Er hatte mit dem Schreiben begonnen, um sich Freunde zu basteln, mit denen er die grossen Fragen des Lebens diskutieren konnte. Der Protagonist ist wie der Autor halbseitig gelähmt und stets der letzte, der in eine Mannschaft gewählt wird. In Wirklichkeit hatte er keine Schulfreunde, nur die Mädchen wollten mit ihm spielen. Auch als Erfolgsschriftsteller ist er ein «alleiniger» Mensch geblieben. Einen seltenen Einblick in sein persönliches Netzwerk gibt der Adidas-Vorstandschef Herbert Hainer, der für seine Verbindung zum Steuersünder Uli Hoeness heftige öffentliche Kritik einstecken musste. Ein Freund, so der Unternehmer, hilft und ist immer da, auch wenn er daraus keinen Nutzen zieht oder sogar Schaden nimmt. Einst hatte Uli Hoeness ihn nach dem Tod seiner Tochter aufgefangen, ihm einen Rückzugsort geboten und Anteil genommen. Nun war es an ihm, den Freund zu stützen. Denn in der Krise zeige sich die Substanz einer Freundschaft. Die Vielfalt der Lebensphilosophien machen das Buch lesenswert, auch wenn die Wiedergabe der Gesprächssituation in einigen Fällen zu weitschweifig ausfällt. Eine stringentere Darstellung, die sich stärker auf das eigentliche Thema fokussiert, wäre wünschenswert gewesen. ● 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Schrift Ein Ägyptologe erklärt, wie sich unsere Buchstaben entwickelt haben könnten Wir alle schreiben mit Hieroglyphen Karl-Theodor Zauzich: Hieroglyphen mit Geheimnis. Zabern, Darmstadt 2015. 176 Seiten, Fr. 28.90. Von Geneviève Lüscher Nach seinem ersten, erfolgreichen Buch zum Thema «Hieroglyphen ohne Geheimnis», das 2012 in der 12. Auflage erschienen ist, publiziert Karl-Theodor Zauzich einen Nachfolgeband, dessen Titel seinen Bestseller zu widerlegen scheint: «Hieroglyphen mit Geheimnis». Ging es im ersten darum, eine allgemeinverständliche Einführung in die altägyptische Schrift zu geben, handelt dieses Werk von der Herkunft des Alphabets. Wieder ist es dem emeritierten Ägyptologen, der bis 2004 an der Uni Würzburg gelehrt hat, ein Anliegen, ein Werk vorzulegen, das nicht nur von Spezialisten, sondern auch von Interessierten ohne sprachwissenschaftliche Ausbildung gelesen werden kann. Die Herkunft des Alphabets sei «ein uraltes Problem der Menschheit», ganze Bibliotheken seien über das Thema geschrieben worden, ohne dass die Forschung einer allgemein akzeptierten Lösung näher gekommen wäre. Übereinstimmung besteht nur darüber, dass unsere Buchstaben vom phönizischen Alphabet abgeleitet sind; sie gelangten von dort über griechische oder etruskische Zeichen zu uns; unklar bleibt, wann, wo und wie das geschah. Das phönizische Alphabet seinerseits habe sich, gemäss der Standardthese, aus proto-sinaitischen Zeichen entwickelt, die bis anhin nur auf dem Sinai gefunden wurden. Zauzich lehnt diese Ansicht ab. Er nimmt eine alte Theorie wieder auf, die besagt, dass unser Alphabet nach einer phönizischen Zwischenstufe aus den kursiven ägyptischen Hieroglyphen abgeleitet ist. Das heisst, dass wir, wenn wir – wie jetzt gerade – lateinische Buchstaben tippen, eigentlich Hieroglyphen in veränderter Form verwenden. «Das ganze abendländische Wissen ist in morgenlän- dischen Schriftzeichen fixiert», meint Zauzich. Nach einer Einführung für die Leserschaft ohne ägyptologische Kenntnisse, diskutiert der Wissenschafter Schritt für Schritt, wie jeder einzelne phönizische Buchstabe sich aus einer Hieroglyphe entwickelt hat und von dort weiter ins griechische Alphabet gelangte. Er gibt dabei offen zu, dass längst nicht alles geklärt ist, und die ägyptische Kursivschrift noch etliche Geheimnisse birgt. Für den Laien scheint Zauzichs Argumentation zwar überzeugend, aber ob sie es für den Fachmann ebenfalls ist, wird sich weisen. Der Autor vertritt seine These seit 1973; sie wurde von der Fachwelt, die sich weiterhin an die Standardthese hält, abgelehnt. Auch wenn Zauzich keine Kenntnisse voraussetzt, ist die Lektüre des Buches kein Sonntagsspaziergang. Sie ermöglicht aber einen Ausflug in ferne Zeiten, als der Mensch erst begann, Gedanken in Zeichenform zu fixieren – eine seiner wohl bedeutendsten Kulturleistungen. ● Das amerikanische Buch Zucker, Tee und Terror in Guantánamo Bay Es waren nur zwei Worte in einem Abhörprotokoll, die amerikanische Geheimdienste nicht losliessen. Als Mohamedou Ould Slahi Ende der 1990er Jahre mit einem Cousin telefonierte, sprachen die Mauretanier über «Zucker und Tee». Die Amerikaner vermuteten dahinter einen Code. Wie Slahi in seinem internationalen Bestseller Guantánamo Diary (Little, Brown and Co. 2015; 381 Seiten) schreibt, fragten ihn Verhörspezialisten des FBI und des Militärs vier Jahre lang immer wieder nach der Bedeutung von «Zucker und Tee». Doch selbst die von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld persönlich abgesegnete Folter von Juli bis Oktober 2003 brachte weder einen Code noch Beweise für die vermutete Mitwirkung Slahis an Terrorkomplotten der Al Kaida zu Tage. Der im August 2002 in Guantánamo (Kuba) eingelieferte Elektroingenieur versichert in seinem «Tagebuch», er teile schlicht die Vorliebe seiner Nation für gesüssten Tee. So fokussiert die amerikanische Kritik in zahlreichen und durchweg positiven Rezensionen auf die Absurdität der Geschichte Slahis. Diese trägt für die «New York Times» und die «Washington Post» kafkaeske Züge: Der heute 44-Jährige sei in eine sture, bürokratische Maschinerie geraten. Diese habe Slahi auch nach einer fruchtlosen Abfolge von Schlägen, Unterkühlung, Schlafentzug, sexueller Misshandlung und Isolierung als «gefährlichen und hochintelligenten Terroristen» behandelt. Ganz ohne Anlass ging Washington jedoch nicht gegen Slahi vor. Er trainierte und kämpfte 1991 mit der Al Kaida in Afghanistan, hatte anschlies26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 22. Februar 2015 über 2500 Streichungen in seinem Manuskript. Slahi hat das Tagebuch 2005 auf Englisch geschrieben. Die Sprache hat er sich auf Kuba selbst beigebracht. Die Lagerverwaltung gab das Manuskript erst 2011 frei. Danach begann der Menschenrechtler Larry Siems mit der Bearbeitung. Die Regierung untersagte ihm jeden Kontakt zu Slahi. Ein Häftling wird ins Gefängnis von Guantánamo geführt. Das Leben hinter Stacheldraht hat der inzwischen freigekommene Insasse Mohamedou Ould Slahi (unten) beschrieben. send während seines zehnjährigen Aufenthaltes als Ingenieur in Deutschland Kontakte zu Islamisten und ist zudem mit einem Al-Kaida-Imam verwandt. Allerdings hatten FBI-Spezialisten Slahi bereits 2000 und 2001 mehrfach vernommen und nach «9/11» begab er sich freiwillig auf eine erneute Vorladung hin in mauretanische Haft. Erst dann nahmen ihn die Amerikaner fest, flogen ihn zu ebenfalls erfolglosen Verhören nach Jordanien und dann weiter nach Kuba. Deshalb hat ein Bundesrichter nach der Intervention von Menschenrechtsanwälten 2010 seine Freilassung angeordnet. Doch die Obama-Regierung hat dagegen Einspruch eingelegt, nun sitzt Slahi weiterhin in Guantánamo. Als Motiv vermutet er, Washington wolle die Wahrheit über seine Leiden im Haftlager verbergen. Dafür sprechen die Während sie Washington deshalb kritisieren, übergehen die meisten Rezensenten in den USA andere Aspekte des «Tagebuches». Denn neben dem offenkundigen Motiv der Selbstbehauptung und der Aufarbeitung seiner Qualen verfolgt Slahi weitere Ziele. So überrascht er mit seinem geistreichen Humor, indem er etwa alte BeduinenWitze auf seine Situation anwendet. Gleichzeitig gibt er der Analyse des Guantánamo-Personals viel Raum. Dabei tönt Slahi fast mitleidig: Er nennt Wachen «Babies», die lediglich an Videospielen, Bodybuilding, Essen und Sex interessiert seien. Bösartig seien die Wenigsten. Doch Krisen wie «9/11» brächten das Schlimmste im Menschen zu Tage. Dies gelte auch für Staaten. Allein deshalb habe es geschehen können, dass der «Anführer der freien Welt, die USA» ihn gefoltert habe. Dann appelliert Slahi an die Bürger Amerikas: Aus ihrem Idealismus heraus sollten sie die US-Regierung zur Aufarbeitung ihrer Folterpraxis bewegen. Diese Forderung wird auch von der Kritik geteilt. Mit seinem Buch trägt er nun zu diesem Prozess bei. Von Andreas Mink ● Agenda Bilder und Gedichte Zurück zur Natur Agenda März 2015 Basel Montag, 9. März, 19 Uhr Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: Tel. 061 261 29 50. Dienstag, 17. März, 19 Uhr Lizzie Doron: Who the Fuck is Kafka. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (siehe oben). Mittwoch, 25. März, 20 Uhr Pedro Lenz: Radio. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32. Vorverkauf: Tel. 061 264 26 55. Bern AKG Sonntag, 1. März, 11 Uhr Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Lesung, Fr. 20.– inkl. Ausstellungseintritt. Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. Info: 031 359 01 01. Immer wieder haben sich Menschen nach dem einfachen Leben gesehnt, nach der Nähe zur Natur, nach einer Existenz in Übereinstimmung mit dem Kreislauf der Jahreszeiten. Diesem Bedürfnis gehen Miriam Kronstädter und Hans-Joachim Simm nach – in einem TextBild-Band, der Werke der bildenden Kunst und literarische Texte einander gegenüberstellt. Zu Pflanzen und Tieren, Feldarbeit und Handwerk, Äckern und Gärten, zu Kirchen, Höfen und Wirtshäusern sowie zu den Kalenderfesten haben sie Gemälde, Gedichte und Prosa versammelt – quer durch die Jahrhunderte, Länder und Stile. Damit haben sie ein sorgsam gestaltetes «Coffeetable»-Buch geschaffen, das man kaum systematisch lesen wird, aber immer wieder gern zur Hand nimmt. Unser Bild zeigt einen handkolorierten Stahlstich des französischen Künstlers Edouard Traviès, der 1856 publiziert wurde und einen Grünspecht so genau zeigt, wie keine Fotografie es vermag. Texte von Christian Morgenstern und Rainer Maria Rilke begleiten ihn. Manfred Papst Miriam Kronstädter, Hans-Joachim Simm (Hrsg.): Lob des Landlebens. Reclam, Stuttgart 2015. 192 S., Fr. 59.90. Bestseller Februar 2015 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes. 224 Seiten, Fr. 29.90. Michel Houellebecq: Unterwerfung. Dumont. 272 Seiten, Fr. 28.80. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 19.45. Paulo Coelho: Untreue. Diogenes. 320 Seiten, Fr. 29.90. Kazuaki Takano: Extinction. Bertelsmann. 560 Seiten, Fr. 19.45. Tana French: Geheimer Ort. Fischer Scherz. 704 Seiten, Fr. 19.45. Lukas Bärfuss: Koala. Wallstein. 220 Seiten, Fr. 24.55. Jo Nesbø: Der Sohn. Ullstein. 528 Seiten, Fr. 26.90. Guillaume Musso: Vielleicht morgen. Pendo. 480 Seiten, Fr. 19.45. Sebastian Fitzek: Passagier 23. Droemer/Knaur. 432 Seiten, Fr. 25.40. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.70. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 10.95. Pascal Voggenhuber: Zünde dein inneres Licht an. Giger. 160 Seiten, Fr. 30.90. Martin Werlen: Heute im Blick. Herder. 192 Seiten, Fr. 23.90. Guinness World Records 2015. Hoffmann und Campe. 256 Seiten, Fr. 25.40. Hape Kerkeling: Der Junge muss an die frische Luft. Piper. 320 Seiten, Fr. 24.55. Karoline Arn: Elisabeth de Meuron von Tscharner. Zytglogge. 320 Seiten, Fr. 36.90. Benjamin Behnke, Kai Daniel Du: Trick 17 – 365 Alltagskniffe. Frech. 400 Seiten, Fr. 27.90. Guido M. Kretschmer: Eine Bluse macht noch keinen Sommer. Edel. 288 Seiten, Fr. 23.70. Laura Hillenbrand: Unbroken. Klett-Cotta. 521 Seiten, Fr. 16.05. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 10.2.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 18. März, 20 Uhr Katharina Zimmermann: Umbrüche – Aus meinem Leben. Lesung, Gratistickets im Vorverkauf. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Info: Tel. 031 313 63 63. Mittwoch, 25. März, 20 Uhr Christine Brand: Stiller Hass. Lesung. Gratistickets im Vorverkauf. Stauffacher Buchhandlungen (s. oben). Zürich Mittwoch, 4. März, 19.30 Uhr Evelina Jecker Lambreva: Vaters Land; Gabriele Markus: Das Geschichtenhaus. Doppellesung, Fr. 10.–. ZSV Forum im Gartensaal, Cramerstr. 7. Info: www.zsv-online.ch. Freitag, 6. März, 19 Uhr Hermann-Burger-Abend, anlässlich der Gesamtausgabe. Apéro. Museum Strauhof, Augustinergasse 9. Info: www.publishersinresidence.ch. Montag, 9. März, 20 Uhr A. L. Kennedy: Der letzte Schrei. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 18. Karten: Tel. 044 225 33 77. Montag, 16. März, 19.30 Uhr Albert Sánchez Piñol: Der Untergang Barcelonas. Lesung, Fr. 18.– inklusive Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 08. Donnerstag, 26. März, 19.30 Uhr Simona Ryser: Der Froschkönig. Buchpremiere, Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Bücher am Sonntag Nr. 3 erscheint am 29.3.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 22. Februar 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Jet iPad zt A best ir 2 ellen <wm>10CAsNsja1NLU01DU3MDIzNgQAtEffHw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKIQ7DMBAEX3TW7to-n2tYhUUBUblJVdz_o8RlBSPNSLPvoyb8eG7HaztH7bXTGuSZK5Kaj5ASShsQJbA-6HRE9Pj7Deyeked6DDJq0u323GZRpO_7cwHD0SmRcgAAAA==</wm> Tablet und Smartphone mit Mehrwert. Profitieren Sie beim Kauf Ihres neuen iPad oder iPhone. Beim Kauf inklusive: ✓ Gerät nach Wahl iPad Air 2 WiFi 16 GB Fr. 549.– iPhone ✓ 3 Monate «Neue Zürcher Zeitung» digital 6 oder 6 Plus, 16 GB ✓ 3 Monate «NZZ am Sonntag» digital ab Fr. 1.– Jetzt bestellen: nzz.ch/mehrwert3 ✓ Edles NZZ-Smartcover (erhältlich in 6 Farben)