2015 - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 9 | 27. September 2015 NZZ am Sonntag Liebe in Israel Zeruya Shalev überTerrorund Leidenschaft 7 Buchpreis Fünf Anwärter auf die Auszeichnung 11–14 Jakob Tanner Linker Blick auf Schweizer Geschichte 16 Feldenkrais Der Mann hinter der Methode 23 Bücher am Sonntag Politische Bücher im Wahljahr. Fulvio Pelli, Béatrice Acklin Zimmermann, Yann Grandjean (Hrsg.) Was heisst denn heute liberal? Que veut dire être libéral aujourd’hui? Liberale Antworten auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts u. a. von Martine Brunschwig-Graf oder Andrea Caroni. 2015. 168 Seiten, 20 Porträtzeichnungen. Fr. 28.– / € 28.– Gerhard Schwarz et al. (Hrsg.) Religion, Liberalität und Rechtsstaat. Ein offenes Spannungsverhältnis. <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NLUwNwAAJY6dpg8AAAA=</wm> <wm>10CFWKoQ7DMAwFv8jRs5Nn1wucwqqCqjykGt7_oy1jA3fSSbfvnQU_nuO4xtmZTJVQboEVxcL7ZlbQoiPVDcoHkkSG-98v0PSKOtcjSFGfX7NJwyStvO_XB33bYApyAAAA</wm> «Von der ersten bis zur letzten Seite fundiert, lehrreich und anregend. Hier wurden die Besten für dieses Thema aufgeboten.» Tages-Anzeiger 2015. 248 Seiten, 4 Abbildungen. Fr. 44.– / € 44.– Markus Freitag, Adrian Vatter (Hrsg.) Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz. Band 3 der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz». Wer wählt in der Schweiz wen und warum? Wer geht nicht zur Wahl? Welche Effekte haben Wahlkampagnen? Welchen Einfluss hat Geld tatsächlich? 2015. 480 Seiten, 129 Grafiken u. Tabellen. Fr. 38.– / € 38.– nzz-libro.ch Inhalt Kurze Rede zum langen Abschied Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 15 Hyeonseo Lee mit David John: Schwarze Magnolie Von Urs Rauber Arnd Bünker, Hanspeter Schmitt: Familienvielfalt in der katholischen Kirche Von Claudia Mäder Hans-Peter Nolting: Psychologie der Aggression Von Kathrin MeierRust Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean: Was heisst denn heute liberal? Von Urs Rauber Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek Von Wiebke Porombka 6 Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck Von Jürg Scheuzger 7 Zeruya Shalev: Schmerz Von Klara Obermüller 8 Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten Von Angela Gutzeit 9 Leila S. Chudori: Pulang. (Heimkehr nach Jakarta) Von Janika Gelinek 10 Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe Von Sandra Leis Nicole Fritz: Ich bin eine Pflanze: Naturprozesse in der Kunst Von Gerhard Mack Kurzkritik Schweizer Buchpreis 11 Meral Kureyshi: Elefanten im Garten Von Manfred Papst Monique Schwitter: Eins im Andern Von Regula Freuler Ruth Schweikert: Wie wir älter werden Von Regula Freuler Martin R. Dean: Verbeugung vor Spiegeln Von Manfred Papst Porträt 12 Ich bin keine Exilantin Regula Freuler hat die für den Schweizer Buchpreis nominierte Autorin und Wahl zürcherin Dana Grigorcea getroffen Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Friedrich Schiller Sachbuch 16 Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert Von Paul Widmer 18 David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes Von Anja Hirsch 19 IanBostridge:SchubertsWinterreise Von Corinne Holtz Science Busters: Das Universum ist eine Scheissgegend Von Thomas Köster 20 Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew Irina Scherbakowa, Karl Schlögel: Der RusslandReflex Von Reinhard Meier Gabriele Oettingen: Die Psychologie des Gelingens Von Michael Holmes 21 Markus Freitag, Adrian Vatter: Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz Von Urs Rauber 22 Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen Von Manfred Koch Alexander Hosch: Architekturführer Schweiz Von Gerhard Mack GORAN BASIC / NZZ Zeruya Shalev (Seite 7). Illustration von André Carrilho Seit dem 7. Oktober 2007, der ersten Ausgabe von «Bücher am Sonntag», hat Urs Rauber an dieser Stelle die Leserinnen und Leser begrüsst. Wenn nun hier plötzlich jemand anders einige Zeilen verfasst, so aus einem einzigen Grund: Urs Rauber hat zum letzten Mal eine Ausgabe unserer Bücherbeilage betreut. Nun geht er in den Ruhestand. Als Urs Rauber die Lancierung von «Bücher am Sonntag» übernahm, fand er eine Aufgabe, die ihm zutiefst entsprach und die er mit grösster Begeisterung und profunder Sachkenntnis erfüllte. Aus diesem Grund blieb er auch über das reguläre Pensionierungsalter Mitglied der Redaktion. Dieser gehörte er seit der Gründung der Zeitung im Jahr 2002 an, in wechselnden Funktionen, die er stets mit der ihm eigenen Kompetenz, dem Pflichtbewusstsein und einem schon fast legendären Ausmass an Organisiertheit erfüllte. Letztere drückt sich etwa in der Anweisung aus, ich möchte doch ein Editorial von 1400 Anschlägen mit zwei oder drei Abschnitten verfassen. Nun brauchte es aber noch mehr Abschnitte, um Urs Rauber den ihm gebührenden Dank auszurichten, hat er doch «Bücher am Sonntag» zu dem gemacht, was sie heute ist: einer im deutschen Sprachraum einmaligen Plattform der Kulturvermittlung. Seine Nachfolge übernimmt Claudia Mäder, assistiert von Simone Karpf. Sie werden den hohen Standard von «Bücher am Sonntag» erhalten, wenn auch vielleicht mit einem Abschnitt mehr oder weniger. Felix E. Müller Der Historiker Jakob Tanner untersucht die Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts (S. 16). 23 ChristianBuckard:MoshéFeldenkrais Von Kathrin MeierRust 24 Neil MacGregor: Deutschland Von Victor Maurer 25 Robert Beachy: Das andere Berlin Von Alexis Schwarzenbach Diccon Bewes: Mit 80 Karten durch die Schweiz Von Kathrin MeierRust 26 Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären Von Simone Karpf Das amerikanische Buch Ta-Nehisi Coates: Between the World an Me Von Andreas Mink Agenda 27 Ludwig Emil Grimm: Lebenserinnerungen des Malerbruders Von Manfred Papst Bestseller September 2015 Belletristik und Sachbuch Agenda Oktober 2015 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Claudia Mäder (cmd.), Kathrin MeierRust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Matthias Nawrats Buch «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» erzählt auf hochkomische Weise von den Abgründen der polnischen Geschichte HerrDirektor liebt Delikatessen Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Rowohlt, Reinbek 2015. 416 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 22.–. Von Wiebke Porombka Ob dem Menschen je ein Dasein in paradiesischen Gefilden vergönnt sein mag oder gar die Rückkehr zu jenem seit der Romantik allenthalben versprochenen paradiesischen Urzustand, ist schwer zu prognostizieren. Umso sinnvoller scheint es mithin, im Diesseits zumindest versuchsweise für Ersatz zu sorgen: In Matthias Nawrats Roman «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» erhält das neu eröffnete Kaufhaus des kleinen polnischen Städtchens Opole den Namen «Paradies». Direktor des Kaufhauses ist kein anderer als der titelgebende Jurek selbst – bedauerlicherweise indes nur für eine recht überschaubare Zeit. Die irdischen Paradiese haben ihre Tücken, nicht nur, wenn sie sich den ökonomischen Engpässen und den sich rasch wandelnden politischen Interessen des Ostblocks beugen müssen. Wie Jurek, der ehemalige KZ-Häftling und Betreiber des ersten Lebensmittelladens von Opole, auf den Direktorenposten gelangte und warum er ihn wieder abzugeben gezwungen war, hat er seinen Enkeln hinlänglich berichtet. Ebenso wie den Rest seines Lebens. Und jene Enkel, die mit ihren Eltern nach Deutschland emigriert sind und hin und wieder auf Besuch nach Opole kommen, tragen es in der eher ungewöhnlichen Wir-Erzählperspektive dem Leser zu. Es würde dem dritten Roman des 1979 geborenen Matthias Nawrat nicht gerecht werden, verstünde man ihn lediglich als polnische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 oder als burleske Erzählung über einen Mann, der zeitlebens mehr schlecht als recht durch die wechselnden politischen Unwägbarkeiten seiner Zeit stolpert. Vielmehr führt Nawrat in seinem Roman auf mindestens doppelbödige Weise vor Augen, mit welcher Macht Sprache unsere Vorstellung der Wirklichkeit formt – und damit natürlich immer auch verfälscht. Ein Mechanismus, der umso mehr zum Tragen kommt, je luftdichter sich ein politisches System gegen etwaige Zweifler und Kritiker abzuschotten bestrebt ist. Dass die offiziellen Organe darauf aus sind, Gängeleien der Bevölkerung durch Euphemismen und bürokratische Floskeln zu verschleiern, wird kaum verwundern. Dass all dieses «Sogenannte» von Jurek nahezu ungebrochen übernommen wird, mag da schon mehr erstaunen. Aber natürlich scheinen gerade deshalb die Widersprüchlichkeiten nur umso markanter auf. Immer wieder offenbart Nawrat die Kluft, die zwischen dem Gesagten und der Realität klafft, und vollzieht so auf der Textebene das Prinzip einer entfremdeten Sprache nach. Das allerdings in sehr lustvoller Weise. Täglicher Festschmaus Schier unerschöpflich scheint das Reservoir an Anekdoten, die illustrieren, wie die Entfremdung auf das alltägliche Denken und Handeln übergreift. Da wird etwa eine vollkommen sinnlose Verrichtung wie das permanente Herumrücken von Regalen, das in dem kleinen Lebensmittelladen genauso wie später im «Paradies» zur Tagesordnung gehört, als seriöse und unbedingt notwendige Tätigkeit ausgegeben, obwohl ganz offensichtlich ist, dass es sich nur um eine vorgeschützte Geschäftigkeit handelt, die über die ausbleibenden Waren hinwegtäuschen soll. Diese stets mit ornamentaler Umständlichkeit vorgetragenen Unverhältnismässigkeiten entfalten einerseits eine ungemein komische Wirkung. Umso mehr, als diese nie direkt benannt werden, sondern sich die Erzähler – genauso wie ihr Grossvater – in permanenten rhetorischen Relativierungs- und Abwiegelungsschleifen um Kopf und Kragen reden, um am Ende doch unfreiwillig – oder gerade gewollt? – bei der Wahrheit zu landen. Andererseits und nachgerade im selben Atemzug aber weckt Nawrat auch die Sinne für die lebensrettende Funktion der Sprache, die ihr gerade dort zu eigen wird, wo sie das Eigentliche ausblendet: Nur so kann Jurek – wie selbstredend wir alle mit ihm – sich aus der Misere des Daseins gleichsam am eigenen Sprachschlafittchen herausziehen. Insofern handelt es sich bei den zahlreichen mehr oder weniger glaubwürdigen Geschichten und Geschichtchen aus seinem Leben, die er nicht nur anderen, sondern vor allem auch sich selbst zu erzählen scheint, nicht allein um eine nachträgliche Heroisierung seiner selbst. Mindestens so wesentlich scheint der wärmende Trost zu sein, den das Sprachgewand zu spenden in der Lage ist. Nicht von ungefähr lautet die liebste Vokabel Jureks «Delikatessen». Halb sehnsuchtsvoll, halb beschwörend erhebt dieser Mann – der in Auschwitz, das bei ihm nur «die weltberühmte Ortschaft Oświęcim» heisst, beinahe verhungert Versehrtheiten, die das System ihnen antut, schützen können. Bezeichnender weise gibt es auch in diesem Vorgänger roman ein «Paradies»: den Schrottplatz, auf dem die Kinder das Strandgut der westlichen Zivilisation abliefern, ohne dieses als Blendwerk und eigentliches Unheil zu erkennen. MARIUSZ FORECKI / EST & OST PHOTOGRAPHY Grossmeister des Absurden wäre – selbst die frugalste Mahlzeit zum Festschmaus. Und glaubt man Jurek, dann ist er nicht nur im Kaufhaus «Para dies», sondern zeitlebens Direktor gewe sen. Dass seine Frau Zofia sich hin und wieder die Bemerkung erlaubt, dass es sich etwa bei seiner letzten Tätigkeit um die eines Hausmeisters gehandelt habe, überhört er geflissentlich. Er ist eben ein «sogenannter» Direktor. Üppigkeit wird da behauptet, wo die Kargheit allzu offensichtlich ist. Einver ständnis wird zaghaft reklamiert, wo Zwang niederdrückt. Der gut erzählte Witz hallt, mit etwas Glück, lauter nach als das erfahrene Leid. Das alles ändert nichts an den Verhältnissen, wohl aber belässt es dem Menschen immerhin einen Hauch jener Würde, die ihm die Umstände abspenstig machen wollten. «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» liesse sich als Gegenstück zu Nawrats im Vorjahr erschienenen Roman «Unterneh mer» lesen, in dem ein im Schwarzwald situiertes düsteres Zukunftsszenario der westlichen Welt entworfen wird. Bereits die Kinder haben dort den Wirtschafts jargon soweit internalisiert, dass sie weder aus dem kapitalistischen Sprach korsett entfliehen, noch sich vor den In Nawrats Roman kämpft ein ehemaliger KZ-Häftling als Ladenbesitzer mit ökonomischen Engpässen. Hier: Lebensmittelgeschäft in Polen, 1987. Matthias Nawrat steht beiden Systemen, dem westlichen wie dem östlichen, und ihren sprachlichen Machtstrukturen mit Skepsis gegenüber. Der Ton seines jüngs ten Romans macht den Unterschied. Sein Spott ist nie ein bitterer. Vielmehr domi niert das Versöhnliche, auch dort, wo von Drangsalen die Rede ist. Nur vermu ten lässt sich, wie gross der autobiografi sche Anteil an dem Erzählten ist: Nawrat selbst hat als Zehnjähriger mit seinen El tern seine Geburtsstadt Opole verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Mit «Die vielen Tode unseres Opas Jurek», der von einer so herrlichen Komik ist, die sich bisweilen zu veritabler Albernheit stei gert, bisweilen von einer sanft tänzeln den Ironie strahlt, und der nur so Funken schlägt vor Fabulierlust, hat Matthias Nawrat nicht zuletzt eine Liebeserklä rung an seine Heimat mit all ihren Ab sonderlichkeiten und dunklen Seiten ge schrieben. Womöglich hätte es gar nicht Not getan, dass im Verlaufe des Romans schliesslich auch der Familienname des Grossvaters Erwähnung findet: Mrożek lautet dieser. Längst hat der Text selbst den Beweis geführt, dass Sławomir Mro żek, polnischer Grossmeister des Absur den und der komischen Entlarvung der gesellschaftlichen Verhältnisse, als eine Art Pate über Nawrats Roman schwebt. Lässt sich diese Reminiszenz als Verbeu gung vor dem im Jahr 2013 verstorbenen Schriftsteller lesen, so bleibt zugleich voller Freude zu konstatieren, dass die ser in Matthias Nawrat einen fabelhaften Nachfolger gefunden hat. l Schwester Benediktas Lebensgeschichte ist eine Inspiration für Suchende, der eigenen inneren Stimme zu folgen. <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDMwNgMAQhA0Nw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKIQ4DMQwEX-Ro15HtuIFVWHTgdDzkVNz_ozZlBQNGM3N2K_jxHMc1zm5pSQk6qm8pGt6ZWsK8I9kUtAfJQIvwv1_A9Iq69iNIYVuk8BuwVFt5368PLX6ovnIAAAA=</wm> Überall erhältlich, wo es Bücher gibt. ISBN 978-3-280-05589-2 CHF 26.90 UVP 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Kriminalroman Ermittler Jakob Franck deckt die Lügen einer Mittelstandsfamilie auf EinfühlsamerSherlockHolmes Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für Jakob Franck. Suhrkamp, Berlin 2015. 302 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Jürg Scheuzger zu leben. Die Gestalt dieses grauen Mannes gehört zu den überzeugenden Leistungen des Autors, der beim Porträtieren anderer Gestalten oft einen skurrilen Humor aufblitzen lässt. Im Zentrum des Romans steht aber Jakob Franck, der pensionierte Ermittler. Auch er erscheint grau, und auch er ist ausweglos allein, aber er ist, im Unterschied zu vielen Ermittler-Gestalten der gegenwärtigen Kriminalliteratur, nicht depressiv, und er wird auch nicht, wie so oft, zum Sprachrohr von platter Zeit- und Gesellschaftskritik. Er löst seine Fälle dank seiner «Gedankenfühligkeit», einem bewusst herbeigeführten Zustand, der ihm ermöglicht, «das Schreckliche, Unbegreifliche, Unzusammenhängende, das Chaos und das Labyrinth des Verbrechens als etwas Natürliches» wahrzunehmen. Dieses Hineinfühlen und Hineindenken in ein Verbrechen kontrastiert total mit dem Verfahren, das Sherlock Holmes und Hercule Poirot die Krimileser gelehrt haben, und es ist deshalb einsichtig, dass Anis Roman vom Verlag nicht als Kriminalroman bezeichnet wird. Wer sich auf Jakob Francks totale Empathie einlässt, kann viel über die Menschen in ihrer Verlorenheit erfahren. Es wäre schön, Jakob Franck in den nächsten Jahren besser kennenzulernen. ● Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag Foto: Klaus Einwanger / © Diogenes Verlag * unverb. Preisempfehlung Eine Schülerin begeht Suizid, sie erhängt sich in einem Münchner Park; ihre Mutter folgt ihr ein Jahr später in den Tod. Der Vater, aus dem Leben geworfen, geht 20 Jahre später zu dem frisch pensionierten Kriminalhauptkommissar Jakob Franck. Dieser solle den Fall endlich aufklären – es handle sich um Mord. Friedrich Ani (*1959) ist ein sehr produktiver Autor, vor allem von Kriminalromanen. Tabor Süden, Polonius Fischer und Jonas Vogel sind seine bisherigen Ermittler. Der Roman «Der namenlose Tag» mit Jakob Franck steht nun offenbar am Beginn einer neuen Reihe, diesmal bei Suhrkamp. Ein Kriminalroman also, aber erst diesmal, so suggeriert der Verlagsname, mit literarischem Anspruch. Damit täte man Ani unrecht, seine Romane waren nie Dutzendware. Die Toten seiner schwierigsten Fälle lassen Jakob Franck nicht los, sie sitzen nachts in seiner Wohnung. Er war im Amt lebenslang der Todesbote, er meldete den Hinterbliebenen, dass ihr Liebs- ter, ihre Liebste zu Tode gekommen war. So sagte er auch der Mutter der 17-jährigen Ester Winther, diese habe sich erhängt. Die Frau schaute ihn an, umfasste ihn mit ihren Armen und blieb, wimmernd, sieben Stunden lang, in dieser Umarmung stehen. Der Vater der Toten sagt über seine Tochter: «Sie hatte ein heiteres Gemüt und ein glückliches Zuhause.» Daran ist kein Wort wahr, und je mehr Jakob Franck mit seinen Ermittlungen vorankommt, desto klarer wird ihm, wie Schweigen und Lügen und eine rigorose Sparsamkeit für Esther lebensverhindernd gewesen sind und wie verzweifelt und brutal sie sich dagegen gewehrt hat. Friedrich Ani zeichnet das Bild einer familiären Hölle im Münchner Mittelstand. Ärmlichkeit, emotionale Kleinlichkeit und Brutalität führen zu Katastrophen, deren Überlebende fürs Leben versehrt sind. Die Auflösung des Falls ist banal und absolut entsetzlich und führt zu der Einsicht, dass schreckliche Eltern noch schrecklichere Kinder haben. Friedrich Ani zeichnet seine Gestalten einfühlsam in wechselnder Erzählperspektive, er verurteilt nicht und zeigt vor allem anhand des überlebenden Vaters, was es bedeutet, zwanzig Jahre lang zu existieren, ohne im eigentlichen Sinne <wm>10CAsNsja1NLU01DU3sDAzMwUAjJd4Cg8AAAA=</wm> <wm>10CFWKOw6AMAzFTpTqpSEpj46oG2JA7F0QM_ef-GwMtmTJy1I94WNu69626nSqFIwR_kbKxauRKayCGhnqEwjLoOG3C5RhsP4-AopGf4wsQ-kFmq7jvAH4B66scQAAAA==</wm> Martin Walker Germany 2064 Ein Zukunftsthriller Roman · Diogenes 432 Seiten, Leinen, sFr 32.–* Kommissar Aguilar ermittelt 2064. Sein engster Mitarbeiter: ein Roboter. Doch kann er diesem nach dem letzten Update noch trauen? Ein visionärer und realistischer Thriller über die Welt von morgen. Alle Titel auch als E-Book erhältlich 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 Dennis Lehane Am Ende einer Welt Roman · Diogenes 400 Seiten, Leinen, sFr 32.–* Joe Coughlin hat seine kriminelle Vergangenheit hinter sich gelassen. Bis eines Tages aus heiterem Himmel ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wird und auf dem Spiel steht, was ihm am wichtigsten ist: sein Sohn – und der einzige Freund, den er hat. Ein Kommissär im Unruhestand: Hunkelers neuer Fall. Hansjörg Schneider Hunkelers Geheimnis Der neunte Fall Roman · Diogenes 208 Seiten, Leinen, sFr 30.–* Ein Krimi über Schweizer Banker, die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg und den Weg der Achtundsechziger in der Gesellschaft. Roman Zeruya Shalev erzählt von einer so packenden wie problematischen Beziehung zwischen Terror und Leidenschaft Liebesgeschichteimewig zerrissenenIsrael Zeruya Shalev: Schmerz. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2015. 380 Seiten, Fr. 32.50, E-Book 20.–. Es gibt sie also doch, die eine, die grosse, die unbedingte Liebe. Iris hat sie mit Eitan erlebt, als sie siebzehn war. Doch dann verliess er sie, und alles, was danach kam – die Ehe, die Kinder, der Beruf – fühlte sich an wie zweite Wahl. Dreissig Jahre später begegnen sich die beiden durch Zufall wieder. Er ist mittlerweile Arzt und sie seine Patientin. Und als ob keine Zeit vergangen wäre, erleben sie sie noch einmal, die grosse, die unbedingte Liebe, die alles in den Schatten stellt, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat. Läse man diesen Plot bei Rosamunde Pilcher, man wüsste unverzüglich, wie die Geschichte ausgeht. Nicht so bei Zeruya Shalev, dieser Spezialistin für schwierige Beziehungen und komplizierte Liebesangelegenheiten. Zeruya Shalevs Romane kommen nicht aus der Retorte. Sie wurzeln tief in der Realität der israelischen Gesellschaft mit all ihren Konflikten und Phobien. Auch wenn Politik im eigentlichen Sinn darin kaum eine Rolle spielt, so ist sie doch als eine Art bedrohliches Hintergrundrauschen stets präsent. Dies gilt in besonderem Masse für Shalevs jüngstes Buch «Schmerz», in dessen Zentrum ein Ereignis steht, das jeden Israeli ins Mark trifft: ein Terroranschlag. Die Autorin selbst wurde 2004 bei einem Selbstmordattentat in Jerusalem schwer verletzt. Der Schmerz, der jetzt ihrem jüngsten Roman den Titel gegeben hat, ist seither auch ihr ständiger Begleiter. Doppelt traumatisiert Zehn Jahre später hat das Trauma nun Eingang in ihr literarisches Werk gefunden. Zehn Jahre ist es auch für ihre Protagonistin Iris her, dass neben ihrem Auto ein Bus explodierte und sie schwer verletzt zu Boden geschleudert wurde – inmitten von Blut, Geschrei und zerfetzten Gliedmassen. Wie ein Fanal steht am Beginn des Romans der Satz: «Und plötzlich war der Schmerz wieder da, und sie erinnerte sich.» Schmerz und Erinnerung sind in dieser Geschichte eins. Denn hinter dem physischen lauert noch ein ganz anderer Schmerz: jener, den Eitan ihr zugefügt hatte, als er sie nach dem Tod seiner Mutter von einem Tag auf den andern verliess. In Iris’ Erinnerung ist das eine Trauma vom andern nur schwer zu unterscheiden. Beide halten sie gefangen, binden sie an die Vergangenheit und hin- ODED BALILTY / AP Von Klara Obermüller 2004 selbst Opfer eines Terroranschlages geworden, setzt Zeruya Shalev das Thema nun literarisch um. Hier: Jerusalem nach einem Selbstmordattentat, 22.9.2004. dern sie am Leben im Hier und Jetzt. Zunächst aber sieht es so aus, als könnte aus Vergangenheit Gegenwart werden und aus der alten Liebe eine neue hervorgehen. Hals über Kopf stürzen sich Iris und Eitan in ihre alt-neue Beziehung und holen nach, was sie all die Jahre verpasst haben. Doch nun sind sie beide keine Kinder an der Schwelle zum Erwachsensein mehr. Nun ist ihre Beziehung eine Affäre und Iris eine ehebrecherische Frau. Das hässliche Wort fällt, als sie einmal von ihrer Haushalthilfe bei einem Stelldichein überrascht werden, und es macht Iris schlagartig bewusst, wie prekär und illusorisch ihr Traum von der wiedererwachten Liebe ist: prekär und illusorisch wie alles in diesem ewig bedrohten und zerrissenen Land, denkt sie und erinnert sich einmal mehr daran, dass ihr Vater im Yom-Kippur-Krieg gefallen ist, dass sie selbst beinahe einem Terroranschlag zum Opfer gefallen wäre und dass auch schon die nächste Generation, ihr Sohn, demnächst beim Militär sein Leben aufs Spiel setzen wird. Rein äusserlich ereignet sich in diesem doch recht umfangreichen Roman nicht viel. Zeruya Shalevs Blick geht nach innen und hinter die Fassade alltäglicher Betriebsamkeit. Ihre Stärke liegt dort, wo es darum geht, subtilste Empfindungen in Worte zu fassen. Zeruya Shalev hat zwar Psychologie studiert, aber als Schriftstellerin analysiert sie nicht, sondern begnügt sich damit zu schildern, was ihre Figuren im Innersten bewegt. Wie viel an autobiografischen Bezügen in der Romanhandlung enthalten ist, bleibt offen. Das Attentat, ja, das hat es gegeben. Aber wie steht es mit der wiedergefundenen alten Liebe? Und wie mit dem Schicksal der Tochter, die in die Fänge einer Psychosekte gerät und der Geschichte letztlich ihre entscheidende Wende gibt? Ungeheure Spannung Wir wissen es nicht, und es ist auch nicht wichtig. Was zählt, ist die hohe Kunst der Autorin, sich in ihre Figuren hineinzuversetzen und ihre geheimsten Regungen zu erkunden, ohne je so zu tun, als besässe sie Kenntnisse, die diesen verborgen sind. Daraus erwächst die Unmittelbarkeit, aber auch die ungeheure Spannung, die ihre Erzählweise – nicht zuletzt übrigens auch dank der ausgezeichneten Übersetzung von Mirjam Pressler – auszeichnet. Zeruya Shalev schafft es, uns bis fast zuletzt über den möglichen Ausgang der Geschichte im Unklaren zu lassen. Wie, so fragt man sich, wird Iris sich entscheiden? Wie wird sie je aus diesem so perfid inszenierten Dilemma zwischen Ehealltag und amourösem Ausnahmezustand wieder herausfinden? Die Lösung, die uns Zeruya Shalev präsentiert, mag gefühlsmässig nachvollziehbar sein, in der Durchführung wirkt sie aber leider doch etwas gar plakativ – ein Einwand, der das Lesevergnügen am Ende ein wenig trübt, der Qualität dieses so hochkomplexen und einfühlsam geschriebenen Romans aufs Ganze gesehen jedoch keinen Abbruch tut. l 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg legt einen Roman über die medizinischen Gräueltaten vor, die während des Zweiten Weltkriegs in einer Erziehungsstätte bei Wien verübt wurden KinderheimalsTötungsanstalt Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 525 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 30.90. Zwischen Fakt und Fiktion Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg aber lässt in seinem neuen Roman «Die Erwählten» kaum ein Detail aus und führt seine Leser tief hinein in diese Hölle des nationalsozialistischen Wahns von Rassereinheit und Volksgesundheit. Die Institution Spiegelgrund ist kein unbeschriebenes Blatt. Was hier bis Kriegsende geschah, ist in Tausenden von Akten und durch die Erinnerungen Überlebender ausführlich dokumentiert. Sem-Sandberg hat davon in seinem Roman spürbar und manchmal auch übermässig Gebrauch gemacht. Als Klammer der Spiegelgrund-Geschichte dienen die Lebenswege von zwei Figuren, die jeweils authentische Die Jugendanstalt Spiegelgrund war auch schon Gegenstand von Filmen. Hier: «Mein Mörder» (2005). Vorbilder haben. Da ist Adrian Ziegler, der als Jugendlicher 1941 in die Anstalt zwangseingewiesen wird. Und da ist Anna Katschenka, eine junge Frau, die im selben Jahr im Spiegelgrund eine Anstellung als Krankenschwester findet. Adrian kommt aus einer kinderreichen und mittellosen Wiener Familie mit einer überforderten Mutter und einem gewalttätigen Vater. Er wird von der Fürsorge aus der Familie genommen, und damit beginnt seine Odyssee durch Pflegefamilie, Heime, die Tötungsanstalt Spiegelgrund, die er knapp überlebt, und später durch mehrere Haftanstalten. Ein kaputtes Leben, das noch getoppt wird durch den zynischen Aberwitz, dass derselbe Doktor Heinrich Gross, der im Spiegelgrund für die meisten Morde verantwortlich war, Adrian in der Nachkriegszeit als längst wieder etablierter Psychiater zugewiesen wird. Anna Katschenka, die hier bei ihrem tatsächlichen Namen genannt wird – genauso wie die leitenden Ärzte Heinrich Gross, Erwin Jekelius, Ernst Illing und Margarethe Hübsch –, repräsentiert im Roman den Tätertypus der pflichtgetreuen Erfüllungsgehilfin. Steve Sem-Sandberg balanciert mit seinem Stoff nicht zum ersten Mal auf der Schwelle zwischen Historie und literarischer Erfindung. In seinem hochgelobten Roman «Die Elenden von Lodz» über das Leben und Sterben der Juden im polnischen Ghetto verschmolz der Autor dokumentarisches Material aus der Ghetto-Chronik mit der teilweise fiktionalisierten Biografie des umstrittenen Judenältesten Chaim Rumkowski, der den Nazis bei den Deportationen zu Diensten stand, um nach eigener Aussage Leben zu retten. Sem-Sandberg entwarf in diesem Buch ein beeindruckendes Psychogramm eines Mannes, der als Opfer zum Täter wurde. Aber man konnte auch unangenehm berührt sein von Sem-Sandbergs Einfall, dem Judenältesten eine Kindheit als gehänselter Aussenseiter anzudichten und ANDREI MIHAILESCU Über das Leben, die Liebe und die kleinen Fluchten in einer gnadenlosen Diktatur: »Andrei Mihailescu versteht es, klug und virtuos die Tonlage zu modulieren, bald glaubt man einen politischen Thriller zu lesen, bald einen hinreissenden Liebesroman.« -Book. www.nagel-kimche.ch Die Bezeichnung «Jugendfürsorgeanstalt» sprach dem wahren Zweck der Einrichtung Am Spiegelgrund Hohn. Es war kaschiert als Erziehungsheim und Nervenheilanstalt. In Wahrheit wurden hier vor den Toren Wiens in den Jahren zwischen 1940 und 1945 mindestens 800 junge Menschen ermordet. Opfer waren Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, Behinderte, psychisch Kranke, zu «Spezimen» und Experimentiermaterial herabgewürdigt. Eilfertige Ärzte und Schwestern verabreichten entsprechend den Anweisungen aus Berlin ihren jungen «Patienten» sogenannte «Schwefelkuren». Sie spritzten ihnen hohe Dosen Alkaloide, die die Darmschleimhaut auflösten, und nahmen Lumbalpunktionen vor, um Nervenflüssigkeit aus der Wirbelsäule abzuzapfen. Unvorstellbare Grausamkeiten spielten sich im Spiegelgrund ab. Qualvolle Prozeduren, die man eigentlich nicht näher erläutert haben möchte. DDP Von Angela Gutzeit Foto: © Giorgia Müller 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung 352 Seiten. Gebunden. Auch als <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDY1MwIAxxI7fA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ4DMQxE0RM5mrFrW25gFRYtWC0PWRX3_qhKWcEHX3pzdm_49RrHNc7u5UVJmofuaZrRWdrSo6OYCvqTAadF_XEBKwy2NhGUMBdD8BCzZdD2ud9fvbuxjnEAAAA=</wm> Roman Leila S. Chudori arbeitet ein dunkles Kapitel Indonesiens auf Leila S. Chudori: Pulang. (Heimkehr nach Jakarta). Aus dem Indonesischen von Sabine Müller. Weidle, Bonn 2015. 430 Seiten, Fr. 38.90. Von Janika Gelinek Wenn sich beckmesserisch addieren liesse, woraus ein gutes Buch besteht, wäre der vorliegende Roman rund um den indonesischen Journalisten und Koch Dimas Suryo, der seit 1965 im Pariser Exil lebt, eher nicht darunter: Zu viele unbeholfene Dialoge, zu viele Redundanzen, zu viele Füllwörter und Synonyme. Doch mit den Grundrechenarten lässt sich die Qualität eines Romans bekanntlich schwer beschreiben, und so lohnt sich trotz der stilistischen Schwächen ein genauerer Blick auf dieses nicht zuletzt sehr schön gestaltete Buch. An einem Abend im April 1968 wird Dimas’ Vorgesetzter und Freund, Hananto Prawiro, nach dreijährigem Versteckspiel von Schergen des indonesischen Geheimdienstes in einem Fotostudio in Jakarta aufgespürt und verschwindet für immer. Was der Beginn eines spannenden Thrillers sein könnte, ist jedoch nur eine von vielen Episoden, mit denen Leila S. Chudori das Thema ihres Romans einkreist: das Massaker an Mitgliedern und vermeintlichen Sympathisanten der Kommunistischen Partei PKI in Indonesien im Oktober 1965 unter General Suharto. Bis heute ist über die genauen Hintergründe dieses Massenmordes, dem mindestens eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel, wenig bekannt, ebenso wenig über die zahllosen Emigranten, denen jahrzehntelang die Rückkehr nach Indonesien verwehrt war. Zu ihnen gehört auch Dimas, und allein die Struktur des Romans vermittelt ein Gefühl für die Beklemmungen des Exils, in dem Überlebender als Vorbild Sehr viel eindrücklicher dagegen ist die Zeichnung von Adrian Zieglers Lebensund Leidensweg. Er gewinnt Gestalt in einem teilweise nahtlosen Ineinandergreifen von Erzählerperspektive und kursiv gesetzter erlebter Rede, in der Adrian sich an den «beständigsten Ort» seiner Kindheit erinnert, an die vier Jahre im Spiegelgrund, an die Demütigungen dort, die drakonischen Strafen, die Überlebenstechniken, die gegenseitigen Quälereien der Opfer, an die Einsamkeit und an das Sterben. Das Vorbild für Adrian ist der 1929 in Wien geborene Friedrich Zawrel. Dass er dem Autor seine Lebensgeschichte erzählt hat, geht aus Sem-Sandbergs Nachwort hervor. Nicht zuletzt diesen Gesprächen und dieser Stimme ist es wohl zu verdanken, dass man nach der Lektüre des Romans die Geschichte der Jugendfürsorgeanstalt Spiegelgrund als Ort nationalsozialistischer und medizinischer Barbarei nicht so schnell wieder vergessen wird. Friedrich Zawrel ist im Februar dieses Jahres gestorben. l Die Autorin Leila S. Chudori schreibt vom Gefühl der Beklemmung im Exil. er und drei seiner Freunde auszuharren gezwungen sind. Denn die Erzählweise folgt keiner hollywoodesken Suspense, sondern springt scheinbar willkürlich vor und zurück und umkreist aus verschiedenen Perspektiven immer wieder dieselben Ereignisse. Die chaotische Flucht, die vorsichtige Annäherung an Paris, die Gründung des Restaurants Tanah Air, Begegnungen mit dem Geheimdienst und die quälende Sehnsucht nach Jakarta werden von vielen Stimmen erzählt: von Dimas selbst, seiner Frau Vivienne, seiner Tochter Lintang, oder auch von Alam, dem Sohn seiner ersten grossen Liebe, der 1998 mit Lintang in Jakarta den Sturz Suhartos verfolgt, mit dem der Roman schliesslich endet. Immer wieder wird in dem Buch die Erinnerung auf den Plan gerufen und die Frage gestellt, wie man, ohne auch nur das Geringste verbrochen zu haben, so unwiederbringlich von seiner Heimat getrennt werden kann. Auch wenn Dimas Suryo und seine Freunde vermeintlich längst angekommen sind, zeigt Chudoris Roman die Fassungslosigkeit über das, was ihnen allen angetan wurde und bis heute noch immer weitestgehend im Dunkeln liegt. l MUHAMMAD BINTANG ADAMAS damit in gewissem Sinn Rumkowskis späterem Handeln eine biografische Erklärung unterzuschieben. Diese Psychologisierung, dieses Hineinschlüpfen in das Innere der Figuren ist eine sehr wirksame Methode zur Intensivierung des Erzählstoffs, aber gerade bei dieser «Reanimierung» historischen Materials eben auch manchmal eine heikle Angelegenheit. Im Spiegelgrund-Roman setzt der Autor seine Figuren nun ganz ähnlich in Bewegung. Wieder begegnen wir einem Mix aus Dokumentarischem und Erfundenem, der auch in diesem Roman nicht immer überzeugend gewichtet ist. So sind etwa die im Buch dokumentierten Aussagen der Krankenschwester Katschenka vor Gericht in ihrem späteren Prozess sehr viel aussagekräftiger in ihrer Mischung aus Naivität und leugnender Penetranz als das, was der Erzähler über Katschenkas Erinnerungen, Skrupel und Gefühle zu sagen weiss. Sehnsuchtnachder verlorenenHeimat DIE NOMINIERTEN 2 015 VERBEUGUNG VOR SPIEGELN. ÜBER DAS EIGENE UND DAS FREMDE Martin R. Dean JUNG UND JUNG VERLAG DAS PRIMÄRE GEFÜHL DER SCHULDLOSIGKEIT Dana Grigorcea DÖRLEMANN VERLAG <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDWysAAADp9JIg8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAyE4Sfq0nZcuzJJ5giC4GcImvdXMBzikv-Sb10rEn9b2na0vSIQQi7QUsZJ6lYlNDmscogrC2YBMg_588QSljn3YYiDxPsbUJqsl1zSfV4PVbwawnIAAAA=</wm> ELEFANTEN IM GARTEN Meral Kureyshi 2 015 LIMMAT VERLAG WIE WIR ÄLTER WERDEN Ruth Schweikert EINS IM ANDERN Monique Schwitter S. FISCHER VERLAG LITERATURVERLAG DROSCHL 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Die Deutsch-Russin Alina Bronsky schreibt über eine alte Frau, die sich für ein Leben in strahlenverseuchtem Gebiet entscheidet EndstationTschernobyl Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 160 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 15.–. Von Sandra Leis Sie ist klein, rund und «keine 82 mehr», und sie will sich im Alter von niemandem mehr vorschreiben lassen, wie sie zu leben hat: Baba Dunja. Deshalb hat sich die resolute Alte nach ihrer Pensionierung als Krankenschwester entschieden, in ihr Heimatdorf Tschernowo zurückzukehren. «Ich bin alt, mich kann nichts mehr verstrahlen, und wenn doch, dann ist es kein Weltuntergang», erklärt sie ihrer Tochter, die in Deutschland als Ärztin arbeitet. Auf der Landkarte existiert Tschernowo nicht; die alten Frauen von Tschernobyl aber, die an den Ort der nuklearen Katastrophe zurückgekehrt sind, die gibt es tatsächlich. Verschiedene Medien berichteten über die Unerschrockenen, und auf Facebook liess die amerikanische Bestsellerautorin Elizabeth Gilbert («Eat, Pray, Love») ihrer Bewunderung für diese Frauen freien Lauf. Sie schwärmte von der weiblichen Selbstbestimmung und steckte damit auch die junge Schriftstellerkollegin Alina Bronsky an. Sie, die PRO LITTERIS Natur in der Kunst Anschauung und Empfindung Wenn sie nicht so horizontal im Bildraum verteilt wären, könnten wir uns unter den Linien und Flecken Nervenbahnen mit ihren Knoten vorstellen. Je nachdem, wie sehr sie beansprucht sind, leuchten sie in intensiveren Farben. Bernd Koberling hat seine grossformatige Malerei 2001 als «Sonnengestein II» bezeichnet. Die Energie unseres Zentralgestirns liefert die Referenz für die Kraft der Farbpunkte und bleibt doch entfernt genug, dass wir Raum haben, unsere eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Der 1938 geborene Berliner Maler wird gerne zum Umfeld der Neuen Wilden gezählt. Seit er 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 durch Dieter Roth in den siebziger Jahren aber Island entdeckte, sucht er der Naturerfahrung auf vielfältige Weise Ausdruck zu geben. Koberlings Bilder gehören zu den Entdeckungen, die ein Band zur Auseinandersetzung mit der Natur in der Kunst bereithält. Er schlägt anlässlich einer Ausstellung (Kunstmuseum Ravensburg, bis 8.11.) einen Bogen von Skizzen aus dem 14. Jahrhundert bis heute. Gerhard Mack Ich bin eine Pflanze: Naturprozesse in der Kunst. Hrsg. v. Nicole Fritz. Kerber, Bielefeld 2015. 152 Seiten, 91 Abbildungen, Fr. 46.90. 1978 im russischen Jekaterinburg zur Welt kam und seit 1991 in Deutschland lebt, hat einer solchen Heimkehrerin jetzt ein literarisches Denkmal gesetzt. Indes erzählt Bronsky weder vom Leben ihrer Grossmutter oder Grosstante, noch hat sie vor Ort recherchiert («Dafür bin ich nicht mutig genug, tut mir leid»), wie sie in einem Interview erklärte. Die titelgebende letzte Liebe ist ein autarkes Leben. Baba Dunja ist Selbstversorgerin und meistert ihre Tage in einem geruhsamen Trott. Auf fliessendes Wasser muss sie verzichten, und auch eine Telefonleitung gibt es nicht. Eine Dorfgemeinschaft existiert ebenfalls nicht – im Grunde genommen ist jeder froh, wenn er in Ruhe gelassen wird. Die wenigen Alten sind eigenbrötlerisch und geben ein ziemlich skurriles Figurenkabinett ab. Trotzdem will Baba Dunja nirgendwo sonst leben. Es sei «die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine. (…) Von uns erwartet niemand etwas». In Alina Bronskys rasantem Erstling «Scherbenpark» (2008) kotzt sich eine blitzgescheite 17-Jährige die Seele aus dem Leib und befreit sich aus dem Russenghetto. Im Roman «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» (2010) räumt die Autorin auf mit dem Bild von der duldsamen Babuschka und erzählt statt dessen von einer selbstherrlichen und cleveren Grossmutter. Und nun schreibt Bronsky einen Roman über eine Tschernobyl-Heimkehrerin, die schlagfertig und mit viel Mutterwitz ihr Leben in die Hand nimmt. Der «BronskySound» ist unverkennbar, doch die IchPerspektive ist auf Dauer störend: Da lebt eine in der Todeszone von Tschernobyl und quatscht uns buchstäblich die Ohren voll. Sie steht immer mitten drin in ihrem Alltag; über Tschernobyl und die Folgen denkt sie kaum je nach. Distanz und Analyse sind ihre Sache nicht. 2016 Jahr jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 30. Mal. Dieser kleine Roman wird dann keine Rolle spielen, weil er zu sehr an der Oberfläche bleibt und seine Ich-Erzählerin die Ereignisse zum eigenen Schutz verharmlost. Trotzdem bleibt einem das Buch in Erinnerung, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Alina Bronsky beschreibt anrührend, was es heisst, wenn Familien auseinandergerissen werden. Der Sohn hat sich in die USA abgesetzt; die Tochter schickt zwar regelmässig Pakete und Briefe, doch etwas Substanzielles steht kaum je drin, denn sie schont die Mutter (und umgekehrt) und verheimlicht lange, dass die Ehe in die Brüche gegangen und die Enkelin abgehauen ist. Grossmutter und Enkelin haben einander noch nie gesehen – der Wunsch danach aber ist unglaublich gross. Es sind diese Sehnsucht und das Nicht-darüberreden-Können, die dem Buch Dringlichkeit geben. Wie sagt die Alte einmal? «Wenn Dinge besonders wichtig sind, dann redet man nicht über sie.» ● Kurzkritiken Schweizer Buchpreis Meral Kureyshi: Elefanten im Garten. Limmat, Zürich 2015. 140 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.90. Monique Schwitter: Eins im Andern. Droschl, Graz 2015. 232 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 17.90. EINE GROSSE, BEWEGENDE GESCHICHTE über verlorene Erinnerungen, Liebe, Rache und Krieg Ruth Schweikert: Wie wir älter werden. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2015. 271 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–. Martin R. Dean: Verbeugung vor Spiegeln. Essays. Jung & Jung, Salzburg 2015. 104 Seiten, Fr. 22.90. Das lange erwartete neue Buch von Ruth Schweikert (*1965) ist erst das vierte seit ihrem Prosadebüt «Erdnüsse. Totschlagen» von 1994 und erst der dritte Roman nach «Augen zu» von 1998. Dennoch ist es charakteristisch für das Werk der ehemals gefeierten Nachwuchshoffnung. Die Erkundung familiärer Beziehungen ist Schweikerts ureigenes Thema. In «Wie wir älter werden» zeichnet sie die Geschichte eines Mannes mit Doppelleben nach. Jacques hat sowohl mit seiner Ehefrau Friederike wie mit seiner einstigen Studienliebe Helena Kinder. Dem Nachwuchs wird die Wahrheit verschwiegen, solange es geht, und so kommt es, wie es kommen muss: Die Menschen leiden an ihrem Leben. Sie nehmen Lücken wahr, ohne sie orten oder füllen zu können. Und am Ende, wenn die Erwachsenen endlich mit der Wahrheit herausrücken, ist es zu spät. Regula Freuler Der 1955 im aargauischen Menziken geborene Schriftsteller Martin R. Dean war als Sohn einer Schweizerin und eines aus Trinidad stammenden Arztes indischer Herkunft schon immer ein Mensch mit grosser Sensibilität für Zwischenwelten, Grenzen, für das Fremde im vermeintlich Vertrauten. Davon sprechen seine Romane ebenso wie die Texte in diesem schmalen, aber gehaltvollen, auf einen wunderbar ruhigen Ton gestimmten Essayband. Er vereint autobiografische Betrachtungen mit Reflexionen zum eigenen Schreiben des Romanciers sowie mit Würdigungen von Autoren wie Thomas Mann und Elias Canetti. Dean erweist sich in diesen Texten als wacher, neugieriger Melancholiker. Der paradoxe Titel «Verbeugung vor Spiegeln» bringt auf den Punkt, worum es ihm geht. Demut, Skepsis und Selbstbewusstsein finden hier aufs Schönste zusammen. Manfred Papst <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NLI0MQMAXSrG-A8AAAA=</wm> (*empf. VK-Preis) Monique Schwitter (*1972) erntete beim diesjährigen Bachmann-Preis viel Lob, ging dann aber doch leer aus. Die Schriftstellerin, die erstmals 2005 mit dem Erzählungen-Band «Wenn’s schneit beim Krokodil» auf sich aufmerksam gemacht hat, las Anfang Juli in Klagenfurt aus ihrem damals noch unveröffentlichten zweiten Roman «Eins im Andern». Es ist ein Reigen verflossener Lieben der IchErzählerin, die mit der Autorin viel gemeinsam hat. «Ein autobiografisches Experiment», nennt die seit zehn Jahren in Hamburg lebende Zürcherin es. Angefangen hat es mit einer Google-Recherche, bei der die Erzählerin mit Schrecken vom Selbstmord ihrer ersten grossen Liebe erfährt. Und so entspinnt sich eine vielschichtige, eindringlich formulierte Reise in die Vergangenheit, die sehr viel mit der Gegenwart zu tun hat. «Eins im Andern» steht auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Regula Freuler <w m> 10CFXKrQ6AMAxF4Sfq0ru1G5dKgiMIgp8haN5f8eMQJ_nEWZbwpF_TvO7zFk4npCHTasA9UWu0wRPYQgnLCh_hD1rmbxcFa9HS30WUAusPUCTXDrN0HecNFf3pZHEAAAA=</wm> 416 Seiten I Leinen I CHF 30,90* I Auch als E-Book Der gewaltige, intensive und spannende neue Roman des britischen Bestsellerautors nimmt uns mit auf eine tiefgründige und faszinierende Reise durch das Britannien des 5. Jahrhunderts. Kazuo Ishiguros unprätentiöser und zugleich betörender Realismus macht ihn zu einem feinsinnigen Meister des Erzählens. © iStock Die junge Schweizer Autorin Meral Kureyshi wurde 1983 im ehemaligen Jugoslawien geboren; 1992 kam sie mit ihrer Familie nach Bern. Sie hat am Literaturinstitut in Biel studiert und das Lyrikatelier in Bern gegründet; «Elefanten im Garten» ist ihr erster Roman. Der anrührende, intensive Text ist biografisch grundiert und erzählt von einem Mädchen aus Prizren, das hin und her gerissen ist zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat. Auf der einen Seite steht das farbige Chaos auf dem Balkan, auf der anderen die trostlose Siedlung Bethlehem bei Bern. Der Vater ist unvermittelt gestorben, die Mutter findet sich in der Schweiz nicht zurecht. Doch Meral Kureyshi verfällt nicht in den Fehler simpler Romantisierung. Mit wachen Sinnen und einer bemerkenswert poetischen Sprache, die sie sich ja erst erobern musste, beschreibt sie ein Leben, das von Migration und Entfremdung geprägt ist. Manfred Papst Leseprobe auf blessing-verlag.de 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Die 36-jährige Wahlzürcherin Dana Grigorcea wurde in Klagenfurt ausgezeichnet und ist jetzt für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ein Gespräch über ihre Heimatstadt Bukarest, die Lust des Flanierens und Michael Jackson. Von Regula Freuler «Ichbinkeine Exilantin.Ichbinja nichtgeflohen» Auf dem Parkplatz stehen zwei Männer vor einem geöffneten Kofferraum, auf der Hutab lage liegen – was? Edelsteine? Einer der Männer prüft die Ware mit einer Lupe. Drinnen im Café ein ähnliches Bild: Vier Feiste an einem Tisch chen. Uhren zirkulieren. So kennt man das doch aus Fernsehkrimis, gerne mit Hehlern osteuro päischer Herkunft bestückt. Aber wir sind hier nicht etwa in ein Filmset getrampelt, sondern treffen die aus Rumänien stammende Dana Gri gorcea an einem unschuldigen Samstagmorgen in einem poshen Café in Zürichs poshem Kreis 1. So viel zu Stereotypen. Stühlchen in der Oper Mit ihnen hat Grigorceas Roman so wenig ge mein wie die Autorin selbst. Sie eilt an den Ge schäftsherren vorbei und bittet atemlos um Ver zeihung für die Verspätung: «Die Kinder wollten mich einfach nicht gehen lassen.» Drei und fünf Jahre alt sind sie und werden heute Vormittag vom Vater versorgt, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, sowie von den aus Bukarest ange reisten Grosseltern. Dana Grigorcea ist zu Fuss Dana Grigorcea 1979 in Bukarest geboren, besuchte Grigorcea die deutschsprachige Schule. Ab 1998 studierte sie Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest sowie Film- und Theaterregie in Brüssel, anschliessend Journalismus an der DonauUniversität Krems. Sie arbeitete für Zeitungen, Radio und Fernsehen sowohl in ihrer Heimat wie auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz; sie war Dozentin an der HTW Chur und an der ZHdK. Seit 2007 lebt sie in Zürich. Sie ist verheiratet mit dem aus Glarus gebürtigen Schriftsteller Perikles Monioudis, die beiden haben zwei Kinder. 2011 erschien Grigorceas Debütroman «Baba Rada». Mit einer Passage aus ihrem Zweitling «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» (Dörlemann, Zürich 2015. 220 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 20.90) gewann sie beim Bachmann-Lesen in Klagenfurt den 3Sat-Preis. gekommen. Sie ist eine leidenschaftliche Spa ziergängerin. Das weiss man seit dem Präsen tationsvideo zum BachmannWettbewerb, auf dem die 36Jährige in einem flatternden roten Sommerkleid und strahlend weissen Turnschu hen durch Zürich hüpft, schlendert, schreitet. Eine zierliche Flaneurin. Anfang Juli wurde sie für ihren zweiten, damals – wie es das Regle ment vorsieht – noch unveröffentlichten Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» mit dem 3SatPreis ausgezeichnet. Inzwischen ist das Buch erschienen, es hat viel Lob geerntet und ist jetzt für den Schweizer Buchpreis nomi niert, der am 8. November vergeben wird. Seit Klagenfurt ist vieles anders. Einladungen zu Lesungen und Dichtertreffen füllen Grigor ceas Posteingang, Agenten wollen sie vertreten, Journalisten bitten um Termine. «Es ist viel zu schön, um wahr zu sein», sagt sie und strahlt. Ihr Lachen ist laut und ansteckend, und es erklingt oft an diesem Morgen. Sie schwärmt von ihrer Verlegerin Sabine Dörlemann, die ihr in Klagen furt «beigestanden» hat. «Es war so heiss, ich fürchtete zu zerfliessen», erinnert Grigorcea sich lebhaft. Darum setzte sie sich vor der Lesung in den gekühlten Presseraum und hörte Musik. «Wie ein Fussballer vor dem Spiel.» Keine auf peitschenden Rhythmen, sondern «I Capuleti e i Montecchi» von Bellini. Die Schriftstellerin ist in ihrer Freizeit Statistin am Opernhaus Zürich. Die Liebe zur klassischen Musik währt seit Kindheitstagen: Aufgewachsen ist Grigorcea gegenüber der Bukarester Oper. Als Dreijährige begann sie mit Ballett, später sang sie im Chor. «An der Oper fanden mich alle süss. Sie haben mir ein Stühlchen hingestellt, damit ich zu schauen konnte. Es blieb dort, bis ich aus Buka rest weggezogen bin.» Das tat sie, um nach einem Abschluss in Deutscher und Niederländi scher Philologie im Ausland zuerst Regie und danach Journalismus zu studieren. Es folgten Aufträge in verschiedenen Ländern für verschie dene Medien, bis sie in Berlin ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte. Er lud sie in die Schweiz ein, und dort blieben sie. Seit acht Jahren wohnt das Paar in Zürich, inzwischen sind sie zu viert. Angesprochen auf ihre Wanderjahre erzählt die Autorin von einer Veranstaltung, bei der sie als Vertreterin der Exilliteratur vorgestellt wurde. «Ich bin aber keine Exilantin. Ich bin ja nicht geflohen», sagt sie. Sie habe das grosse Glück, flanierend durch die Welt gehen zu dür fen. «Das klingt unfassbar angesichts der Flücht lingskrise», sagt sie und betont: «Ich habe nie weg müssen, sondern es zog mich einfach stets woanders hin.» Rassismus oder auch nur Be fremden habe sie nie zu spüren bekommen. Der Erste und Einzige, der sie in Zürich auf ihre Her kunft angesprochen habe, sei der ehemalige Stadtpräsident Elmar Ledergerber gewesen. «Nach einem Anlass im Literaturhaus sagte er zu mir: ‹Lassen Sie mich raten: Sie kommen aus dem Tessin.›» Sie muss erneut lachen. TV mit Farbfolie Die Wohnung ihrer Eltern liegt in der Bukarester Innenstadt. «Ich habe diese fast nie verlassen, denn alles war dort: Schwimmbad, Eisbahn, Tennisarenen, Schulen, Universität, die Oper, die Kinos.» In einem dieser Kinos hat sie als Simultanübersetzerin gearbeitet – wie die be rühmte Irina Nistor, mit deren Stimme das ganze Land vertraut war: In Rumänien sprach man ein fach über die fremdländische Tonspur. Grigorceas Mutter war Arabistin und hat 25 Jahre in Bagdad und Tripolis als Dolmetsche rin gearbeitet. «Alle Kulturgüter, die uns wäh rend Ceausescu erreichten, kamen über die ‹ara bische Filiale›», erzählt die Autorin. Etwa Abba Musikkassetten mit arabischer Beschriftung. Vieles beschlagnahmten die Grenzbeamten, doch den Videorecorder liessen sie durch, ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 Die Eltern tauschten im Sozialismus edle Möbel und Gemälde gegen Esswaren. Die Bücher in Leder mit Goldschnitt hingegen besitzen sie heute noch. DAN CERMARK Wie Freundschaften die Wende überstanden haben, beschäftig Dana Grigorcea im Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit». (Zürich, 5.9.2015) 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt WERNER OTTO / VARIO IMAGES ▲ ebenso den Fernseher. «Wir hatten ein Farbgerät – ein richtiges!», ergänzt sie und spielt damit auf ihren Roman an: Ein Freund der Familie der Protagonistin hatte bunte Folie auf sein Schwarz-Weiss-Gerät geklebt. Grigorceas Vater war Bauingenieur und studierte nach der Wende Jura. Er vertrat die Familie in zahlreichen Restitutionsprozessen, um die durch die Kommunisten enteigneten Güter zurückzubekommen. Für kommunistische Verhältnisse erlebte die Autorin eine «bourgeoise» Kindheit. Sie besuchte eine deutsche Schule. Dazu musste man eine deutsche Herkunft belegen. Also durchforschten die Eltern den Stammbaum, den der Urgrossvater, ehemaliger Bukarester Bürgermeister und Rektor der Rechtsuniversität, aufgestellt hatte und der bis ins Jahr 1200 zurückreicht. Ein päpstlicher Nuntius findet sich da, auch ein Aussenminister sowie Ordensträger. Und ein gewisser Zotta. «‹Das klingt doch deutsch!›, sagten meine Eltern zum Schuldirektor, und so wurde ich aufgenommen.» Naive Wendekinder Ihr Roman ist ein sinnliches, facettenreiches Porträt von Bukarest und ebenso ein politisches Buch. Das zeigt sich in den Begegnungen, die virtuos verflochten sind. Im sozialistischen Rumänien der 80er Jahre erlebte Dana Grigorcea eine «bourgeoise» Kindheit. (Bukarest 1980). aus Erzählungen kennt, die ihnen jetzt als Kulisse für Touristenfotos dienen. Der Roman ist ein facettenreiches, sinnliches Porträt von Bukarest, erzählt durch die Augen von Victoria, einer jungen Bankangestellten, die nach einem seltsamen Überfall auf ihre Filiale beurlaubt wird und nun herumstreift. Ihre Begegnungen werden virtuos ineinandergeschichtet, solche mit ihren Eltern, mit vergangenen Liebschaften sowie mit Codrin, dem Freund aus Kindheitstagen, der nun politisch aktiv ist. Und natürlich mit Mémé, der Grossmutter, einer zentralen Figur in Victorias Leben. Es ist ein autobiografisch grundierter Roman: Auch Grigorcea ist hauptsächlich von ihren Grosseltern aufgezogen worden. «Sie haben die Zeit der Kommunisten quasi übersprungen. Wie eine Unpässlichkeit. Meine Grossmutter hat nie die neuen Namen der Strassen verwendet.» Die Enkelin übernahm das. «Darum hört sich mein Rumänisch antiquiert an.» In ihrem ersten Roman, «Baba Rada», erzählt eine alte Frau. Trotzdem bezeichnet Grigorcea das Buch als autobiografisch: «Ich habe die Welt ja lange durch die Augen einer solchen betrachtet.» Auch andere Passagen im neuen Roman flossen aus dem Leben der Schriftstellerin ein, etwa der Auftritt von Michael Jackson 1992 in Bukarest. Drei Jahre waren seit der Exekution Ceausescus vergangen. 70000 Jugendliche jubelten dem King of Pop zu. Und was sagte der Amerikaner? «Hello, Budapest!» Heute lacht die Autorin, damals war es ein Schock. Sie verehrte den Sän- Onlineshop für secondhand Lektüre mit über 50 000 Büchern <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysjQwNQAA185kLA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKrQ6AMAxF4Sfqcm9Lt5VJgiMIgp8haN5f8eMQx5x8y9I84Wua133eGoHBRTXgzw9PWnJjWCIbglTQRxYYVb3-uICRDdZfIwghO4tARa3XgnQd5w3jQQmCcQAAAA==</wm> Kontakt: info@buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 http://facebook.com/buchplanet.ch http://www.twitter.com/buchplanet ger, besass vom selben Album eine zweite Kassette und obendrauf eine CD – als Notvorrat. Viele solche Episoden machen das Buch zu einem politischen. «Es ärgert mich, dass jetzt eine Generation die Zügel in die Hand bekommt, ohne sich für die Vergangenheit zu interessieren. Dabei muss man sie doch kennen, um die Gegenwart zu begreifen.» Sie meint damit den unfassbaren Umstand, dass mit Victor Ponta ein Ministerpräsident im Amt sein kann, obwohl er der Korruption und anderer Vergehen wie Plagiat, Geldwäscherei, Steuerhinterziehung angeklagt ist. Die Antikorruptionsbehörde scheint unfähig. Noch im November, als all das schon bekannt war, wurde Ponta mit über 40 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Wie kann das sein? Im Echokeller «Rumänien hat eine grosse Manipulationsmasse. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Bevölkerung auf dem Land ist uninformiert.» Grigorcea hatte an einen Sieg der ehemaligen Justizministerin Monica Macowei geglaubt. «Aber das ist das Trügerische an sozialen Medien und Freundeskreisen: Man bewegt sich in einem Echokeller. Wir lachen über Ponta, aber die Welt drumherum wählt ihn dann.» Doch Grigorcea wäre keine positive Denkerin, wenn sie nicht weiterkämpfte, mit Wahlzetteln und Prosa. Und jetzt, an diesem Samstagmorgen im September, steht sie auf und macht sich mit federndem Schritt auf zur Demonstration «Refugees welcome». l Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch Die kleine Dana war stets umgeben von edlen Möbeln und Gemälden aus der Zwischenkriegszeit. «Meine Eltern haben vieles davon für Esswaren eingetauscht. Aber die Bücher in Leder mit Goldschnitt haben sie immer noch», sagt die Autorin. «Meine Mutter war auch entsetzt, als sie sah, dass wir hier in Zürich kein Zimmer eigens für die Bibliothek haben.» An materielle Not kann sie sich nicht erinnern. «Was nicht heisst, dass meine Eltern nicht welche empfunden hätten», sinniert sie. «Aber als Kind fallen einem eben andere Dinge auf.» Zum Beispiel das Misstrauen. «Oft fragten sie mich: ‹Was hast du erzählt? Was haben die anderen erzählt?› Das hat mich geprägt.» Wie konnte man erkennen, wer ein wahrer Freund ist? «Es ist schon seltsam, wie sich manche Verbindungen erhalten haben nach der Wende.» Dies ist denn auch das grosse Thema in Grigorceas Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit». Sein Titel spielt auf die Naivität der Wendekinder an, also jener Generation, die nach dem Öffnen des Eisernen Vorhangs aufgewachsen ist und die Diktatur Ceausescus nur Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Der Abschied von einer langen und wichtigen Arbeit ist immer mehr traurig als erfreulich. Kurzkritiken Sachbuch Hyeonseo Lee mit David John: Schwarze Magnolie. Heyne, München 2015. 416 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.90. Arnd Bünker, Hanspeter Schmitt (Hrsg.): Familienvielfalt in der katholischen Kirche. TVZ, Zürich 2015. 148 Seiten, Fr. 28.90. Als Kind glaubte die heute 35-jährige Hyeonseo Lee aus Nordkorea, im «besten Land der Welt» zu leben. Ihr Vater war hoher Staatsbeamter. Das Mädchen musste sich aber auch öffentliche Hinrichtungen ansehen und erleben, wie Unangepasste vom Geheimdienst abgeholt wurden. Eines Tages unternahm sie als Teenager heimlich eine Reise über den Grenzfluss ins verlockende China. Dort fürchtete sie sich wegen drohender Sanktionen aber vor der Rückkehr, schlug sich 10 Jahre als Illegale durch, bis ihr schliesslich die Ausreise nach Südkorea gelang. Mit den Angehörigen in Nordkorea hielt sie auf verschlungenen Wegen Kontakt. Die Familiengeschichte berührt und hinterlässt zugleich einen beklemmenden Eindruck. Zeigt sie doch die ambivalenten Gefühle von Menschen, die ihr Leben in einer Diktatur verbringen, die ihnen – weil sie ja auch Heimat ist – irgendwie ans Herz wächst. Rom ist per Flugzeug in einer Stunde zu erreichen – obwohl man zuweilen das Gefühl hat, es liege hinter dem Mond. Wenn es um Fragen des Liebeslebens geht, macht die katholische Kirche immer wieder mit vorgestrigen Moralvorstellungen von sich reden. Mit ihrem Buch, das die «Familienvielfalt» der Katholiken in den Blick nimmt, setzen zwei Theologen ein Zeichen gegen solchen Dogmatismus. In fünf Porträts von lesbischen Pfarrhausbewohnerinnen oder empfängnisverhütenden Paaren wird deutlich, wie wenig die kirchlichen Satzungen den Alltag der Gläubigen beeinflussen. Und sechs Gespräche zeigen, dass auch Seelsorger die Dogmen allenthalben umgehen – und die Kluft zwischen Leben und Lehre mit Sorge beobachten. Ansätze zu ihrer Überwindung bietet das eurozentrische Buch zwar kaum. Doch ist die katholische Selbstbefragung durchaus wohltuend zu lesen. Hans-Peter Nolting: Psychologie der Aggression. Rowohlt, Hamburg 2015. 333 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean: Was heisst denn heute liberal? NZZ Libro, Zürich 2015. 168 Seiten, Fr. 31.90. Man hätte es vielleicht gern klipp und klar: Männer sind aggressiver als Frauen, Jugendgewalt nimmt beständig zu, aggressive Menschen haben Minderwertigkeitsgefühle usw. Den Gefallen tut uns Hans-Peter Nolting, Psychologe an der Uni Göttingen, aber gerade nicht. Sein Buch über Aggression und Gewalt macht deutlich, dass im breiten Spektrum des aggressiven Verhaltens jede seiner Erscheinungsformen – von der Kindsmisshandlung über Mobbing und Amoklauf bis zu Serienmord und Krieg – von vielen Faktoren beeinflusst wird. Mit derselben Sorgfalt informiert der Autor im zweiten Teil auch über die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Prävention von Gewalt und behandelt dabei Ärgermanagement und Konfliktlösungsstrategien ebenso wie Bootcamps für Jugendliche und die Resozialisierung von Straffälligen. Ein ausserordentlich differenziertes Buch! In acht Gesprächen mit je zwei liberalen Verantwortungsträgern suchen der frühere FDP-Präsident Fulvio Pelli, die Fribourger Theologin Béatrice Acklin und der Jurist Yann Grandjean nach liberalen Wegen in aktuellen Themenfeldern: Sozialpolitik, Migration, Privatsphäre, Gesundheit, Familie, Religion, Rechtsstaat und Umwelt. Das ist angesichts eines weitverbreiteten «milden Sozialdemokratismus» (Eric Gujer), der den fürsorglich-bevormundenden Sozialstaat immer weiter aufbläht, verdienstvoll. Manche Positionen wirken sehr eigenständig und kraftvoll, etwa jene von Jean-Daniel Gerber oder Konrad Hummler. Anderes kommt gravitätisch, lehrbuchhaft daher. Eigentlich schade, denn eine liberale Haltung kann auch frech, aufmüpfig und radikal vertreten werden, wie etwa der 31-jährige Walliser Philippe Nantermod zeigt. LUKAS MAEDER Friedrich Schiller Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letzter Roman «Kastelau» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Der Tag, an dem Urs Rauber die «Bücher am Sonntag» verliess, war ein trauriger Tag. In allen Bibliotheken des Landes wurden die Kataloge auf Halbmast geflaggt, in den Buchhandlungen trugen die Verkäufer Trauerflor, und der Literaturclub wurde zum Zeichen des Leides in Schwarzweiss gesendet. Sogar in der Kantine der NZZ wurde zum Essen nur Schwarzbrot serviert. Die Schweizer Autoren schritten allesamt gemessenen Schrittes in die nächste Beiz und bestellten dort einen Schierlingsbecher. Als das Rösi und das Mädi nicht wussten, was das war, begnügten sie sich mit einem Bier, bestanden aber in Anbetracht des tragischen Anlasses auf einem dunklen. Und bevor sie den ersten Schluck nahmen, liessen sie bittere Zähren in das Gebräu fallen. (Eigentlich hätten Tränen auch gereicht, aber wozu hat man ein Synonymlexikon?) Sogar die Sendung «Glanz und Gloria» befasste sich an diesem schweren Tag mit Büchern, allerdings erst, nachdem man den Präsentatorinnen erklärt hatte, was ein Buch ist. Sie erklärten es dann ihrerseits den Zuschauern. «Urs Rauber», sagten sie, «das war der Mann, der sich mit Kindles aus Papier beschäftigte.» Als dann die düstere Stunde kam, und er schweren Schrittes und mit gebeugtem Haupt die Redaktionsräume verliess, kniete links und rechts ein Spalier von unbezahlten und deshalb zum Trauern besonders geeigneten Volontären, und der Chor der Literaturpreisverleiher stimmte ein dissonantes Lied an. (Sie hatten sich, wie so oft, auf keinen Titel einigen können.) Felix E. Müller trug ein selbstverfasstes Gedicht vor, das er sich von einem Assistenten hatte schreiben lassen, und dessen tiefsinnige Worte noch jahrelang in den heiligen Hallen der NZZ nachklingen werden: «In des Hauses tiefsten Gründen ist kein Rauber mehr zu finden.» Dann segnete Papst Manfred persönlich den Abtretenden, und zu seinen Ehren wurde ein zwei Meter hoher Stapel seiner Manuskripte in Brand gesetzt. Ach, es war ein schwerer Tag, und es liesse sich noch seitenlang von all den tragischen Szenen der Verzweiflung berichten, die sich in der eidgenössischen Literaturwelt, bei Schreibenden und Lesenden, abspielten. Aber wie hatte es doch Urs Rauber in seiner unvergesslich präzisen Diktion einmal so richtig formuliert? «Bitte halte dich an die 2350 Zeichen, sonst passt dein Text nicht ins Raster.» In seinem Angedenken wollen wir uns stets daran halten. Von Urs Rauber Von Kathrin Meier-Rust Von Claudia Mäder Von Urs Rauber 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Geschichte Der Historiker Jakob Tanner zeichnet den Weg nach, den die Schweiz im vergangenen Jahrhundert zurückgelegt hat – und legt mit seinem pointierten Blick auch nahe, wo die Reise in Zukunft hingehen soll SchweizerGeschic Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. C. H. Beck, München 2015. 679 Seiten, Fr. 52.–. Von Paul Widmer Ein solches Buch schreibt nicht jeder. Jakob Tanner, emeritierter Professor an der Universität Zürich, hat eine umfassende Interpretation der Schweizer Geschichte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vorgelegt. Lange hiess es, heute könnten nur noch Kollektive Gesamtdarstellungen bewältigen. Tanner beweist das Gegenteil. Seine Geschichte ist aus einem Guss, das Ergebnis von hoher Intelligenz, enormem Fleiss, jahrelanger Forschung und vorbehaltlosem Engagement. Abgesehen von vielen überflüssigen Fremdwörtern und gelegentlichen theoretischen Einsprengseln liest sich das Buch recht gut. Die enorme wissenschaftliche Leistung sei also unbestritten, Tanners Geschichtsinterpretation ist es nicht. Sie erfolgt aus einer ganz bestimmten Blickrichtung, die man kennen muss, bevor man über das Buch spricht. Nach Tanner hat die nationale Eigenstaatlichkeit nur noch eine beschränkte Existenzberechtigung. Sie ist ein Fossil. Früher oder später werden die Nationalstaaten in internationalen Gebilden aufgehoben, im Falle der Schweiz natürlich in der EU. Nun, das mag sein. Aber warum, fragt man sich, schreibt denn einer die Geschichte eines Nationalstaats, wenn er dessen Zukunftsfähigkeit bezweifelt? Um das Leichentuch darüberzuziehen? Der Autor dieser Zeilen teilt Tanners Auffassung nicht. Ein Blick auf die Staatenwelt zeigt, dass die internationale Zusammenarbeit gewiss ständig zunimmt, aber ebenso die Anzahl an Nationalstaaten. Heute gibt es viermal mehr davon als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Zusammenarbeit zwischen Staaten kann viele Formen annehmen, ohne dass Länder deswegen ihre Staatlichkeit aufzugeben haben. Auch die internationalen Institutionen müssen letztlich durch die Nationalstaaten legitimiert sein. Auch Tanners Auffassung vom Staat muss man klarstellen. Ihm schwebt der 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 gerechte Wohlfahrtsstaat vor, der Verteilerstaat, der von oben herab für grösstmögliche Gleichheit sorgt. Diese Auffassung wird heute in der Schweiz vielleicht von einer Mehrheit geteilt, und viele diesbezügliche Postulate sind verwirklicht. Doch bis Mitte der 1970er Jahre herrschte ein anderes Modell vor. Es setzte auf Freiheit für den Bürger und geringe Kompetenzen für den Staat. Die Bürger sollten so viel als möglich in Eigenverantwortung erledigen. Es war ein von unten aufgebauter Staat mit einem starken Milizwesen und einer schwachen Zentralregierung. Die Schweiz war damit sehr erfolgreich. Sie wurde zu einem Modell. Aber ein föderalistischer Aufbau erschwert natürlich die zentralistische Umverteilung und damit die Verwirklichung eines auf ausgleichende Gerechtigkeit fokussierten Sozialstaates. Deshalb kann Tanner mit diesem Modell wenig anfangen. Wörter wie «Eigenverantwortung» oder «Bürgerfreiheit» kommen in seinem Buch nicht vor. Und von der, wie er sagt, «bürgerlichen Erfolgsgeschichte» distanziert er sich mehrfach. Ist Blocher an allem schuld? Schauen wir nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen, wie die Geschichte in den einzelnen Phasen aussieht. Die erste Phase, die bis um 1970 dauert, beschreibt Tanner als eine klassische Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, wobei er die Verdienste überwiegend der Linken zurechnet. Gewiss realisierte die Schweiz viele Sozialrechte nur unter dem Druck der Linken. Aber den Wohlstand verdankt sie wohl ebenso sehr der Tatsache, dass die Bürgerlichen etlichen Forderungen nicht nachgaben und, unterstützt von den Stimmbürgern, den Ausbau des umverteilenden Sozialstaates nur moderat vorantrieben. Oft vermisst man auch etwas mehr Verständnis für die schwierigen Zeitumstände. Zwei Beispiele. Die Angst des Bürgertums um 1920 vor dem Bolschewismus nennt Tanner einen «Popanz». Ein Popanz, nach der Revolution in Russland, der Räterepublik in Ungarn, Umsturzversuchen in Berlin und der Installation einer Agitpropzentrale in der so- Nationale Selbstrechtfertigung oder grosszügige Hilfsaktio on? Zürcher Kinder sammeln 1945 für die «Schweizer Spende». PHOTOPRESS ARCHIV / KEYSTONE htevonlinks wjetischen Vertretung in Bern? Oder die «Schweizer Spende», eine grosszügige Hilfsaktion nach dem Zweiten Weltkrieg von Bund und Volk für die kriegsgeschädigte Bevölkerung in den Nachbarstaaten, würdigt er zum billigen Versuch zur nationalen Selbstrechtfertigung herab. Neuere Publikationen aus Deutschland zeigen, dass man zumindest dort die «Schweizer Spende» positiver sieht. Tanner nimmt diese Studien nicht zur Kenntnis. Auch andere und insbesondere Autoren aus dem rechten Spektrum, angefangen bei Walther Hofer, fehlen in der Literaturliste. Doch nicht nur die Bürgerlichen, auch die gemässigten Linken bekommen ihr Fett ab. Das Friedensabkommen von 1937, dem die Schweiz eine einzigartige Sozialpartnerschaft verdankt, kommentiert er sehr verhalten: Der bedingungslose Streikverzicht sei ein prekäres Zugeständnis der Arbeiterschaft gewesen; die AHV würdigt er als ein grosses Sozialwerk, das jedoch die soziale Ungleichheit verstetigt habe; an den Sozialdemokraten missfällt ihm, dass sie in den 1960er Jahren immer mehr Gefallen am Erfolgsmodell Schweiz fanden, was er einer geschickten bürgerlichen Manipulation zuschreibt. Die zweite Phase behandelt den gesellschaftlichen Umbruch im Gefolge der 68er-Bewegung und dauert bis Anfang der 1990er Jahre. Tanner stellt diese Vorgänge meisterhaft dar. Die Schweiz wandelt sich zu einem Staat, mit dem er sich immer mehr aussöhnen kann. Sie führt 1971 endlich das Frauenstimmrecht ein, geht in Richtung von Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter, baut die Grund- und Sozialrechte aus und öffnet sich international, so mit der Teilnahme an der KSZE oder der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Tanner fühlt sich in seiner Auffassung bestätigt – und schiesst auch mal übers Ziel hinaus. Niemand wird bestreiten, dass die Schweiz beschämend spät das Frauenstimmrecht einführte. Zwanzigmal wiederholen müsste man das nicht. Die dritte Phase schliesslich setzt mit der EWR-Abstimmung von 1992 ein und erstreckt sich bis in die unmittelbare Ge- genwart. Das Volks-Nein vom 6. Dezember zum EWR-Beitritt schockierte. Niemand aus den tonangebenden Kreisen hatte es erwartet. Es störte massiv die Weiterentwicklung der Schweiz in die Richtung, die Tanner erhoffte: jene, die zu einer vollen Integration in die EG bzw. EU führt. Deshalb sucht er nach Gründen für das unvorstellbare Ergebnis. Er findet sie, wie jedermann, in der Person von Christoph Blocher. Seitenlang setzt er sich mit ihm und der SVP auseinander. Doch reicht das als Begründung? Über das ungeschickte Verhalten des Bundesrates verliert er kein Wort. Dieser hatte mit seinem EG-Beitrittsgesuch vom Mai 1992, also kurz vor der EWR-Abstimmung, wohl einen fatalen Fehler begangen. Polemik überlagert Analyse In dieser letzten Phase lässt die analytische Kraft von Tanner nach. Nicht selten überlagert Polemik die wissenschaftliche Begründung. Und wortreich beklagt er eine Mythologisierung der Politik. Zudem verliert er zuweilen den Sinn für Proportionen. So verschwendet er mehr als eine Seite, um sich mit dem Hirngespinst einer grossen, einer um die Lombardei, Baden-Württemberg und Vorarlberg erweiterten Schweiz auseinanderzusetzen – und das sozusagen als Schlusspunkt seines Fazits. Dennoch, trotz aller Kritik: Jakob Tanner hat ein Werk verfasst, das ihm so rasch kein Zweiter nachmachen wird. Um sein Buch kommt man künftig nicht herum – aber man sollte auch nicht bei ihm steckenbleiben. l Paul Widmer ist Autor von «Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie» (Neuauflage 2014) und «Diplomatie. Ein Handbuch» (2014). «Mein langer Weg» von Heidi Vogel «Die kurze Unachtsamkeit meiner Mutter, aus der die Erlaubnis, auf dem Schnee hinunterzurutschen, hervorging, veränderte mein Leben für immer. Aber das Leben ist trotz vieler Einschränkungen auch als Behinderte lebenswert.» Telefonische Bestellung: +43 2610 431 11. E-Mail: office@novumverlag.com www.novumverlag.com <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDU1MgcAkHxWTQ8AAAA=</wm> <wm>10CB3KOw6DQAxF0RV55A_PHsdlRIcoomwANEPN_qugFPdUd9sKjf-91_27fgqJFAoBNOqxJXv1Z7AsTgllwUvcXNAVFX7yHDnoSA9arIPyzElYDhvmyqaz3eP6ATSrNXFpAAAA</wm> 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 ERHARD NERGER / IMAGEBROKER / KEYSTONE Sachbuch Naturgeschichte Zwischen Kettensäge und Kojote: David G. Haskell beobachtet das Leben im Wald ErkundungdesgrünenPlaneten David G. Haskell: Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung. Aus dem Englischen von Christine Ammann. Antje Kunstmann Verlag, München 2015. 325 Seiten, Fr. 31.90. Von Anja Hirsch Im Kleinen das Universelle entdecken – das hat sich der Biologe David Haskell vorgenommen: Für sein neues Buch über «Das verborgene Leben des Waldes» braucht er nicht mehr als eine Lupe, einen Notizblock und einen Quadratmeter Waldboden. So winzig ist das Objekt seiner Naturbeobachtungen. Ein Jahr lang besuchte er das kreisförmige Stück Wald in Tennesse, wo er zu Hause ist und an der Universität lehrt. Es gleicht einem «Mandala», wie es Mönche gerne aus feinem, buntem Sand rieseln, um ihren Geist zu vertiefen. Auf Sanskrit heisst Mandala «Gemeinschaft», und tatsächlich ist der Betrachter nie allein. Ein Salamander läuft vorbei, ein «Gestaltenwandler», der lungenlos über die Haut atmen kann und das Feuchte liebt: «eine wahre Wolke». Was die Farne so treiben David Haskell vertieft sich in Flechten, die durch die Kunst des Loslassens überleben wie langjährige Ehepaare. Oder er studiert auf seinem Stein sitzend mit grosser Demut das Moos: «In den Winkeln zwischen Stämmchen und Blättchen haben sich silbern schimmernde Seen verfangen, deren Wölbung von der Oberflächenspannung zusammengezwungen wird: Die Wassertropfen fliessen nicht, sie kleben und klettern. Scheinbar kann das Moos die Schwerkraft überwinden und flüssige Schlangen beschwören.» Arten will er nicht benennen – er müsste dazu Proben ins Labor tragen. Zu viel der Eingriffe in den wunderbaren Kosmos Wald. Es gibt für diese anschaulich-poetische Art von Naturprosa mindestens 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 Auf seinen Streifzügen durch die Wälder begegnet der Biologe David G. Haskell auch den ganz kleinen Geschöpfen der Natur, etwa dem Braunen Schnellkäfer. einen grossen Vorläufer: Jean-Henri Fabre (1823–1915), den Insektenforscher, dessen Erinnerungen Matthes & Seitz in einer zehnbändigen Werkausgabe stemmt und der Buchfunk Verlag zu wunderbaren Hörspielen verarbeitet. Wie der Mistkäfer eine Kugel rollt, wird bei Fabre zum Drama. Ähnlich spannend liest sich auch das Buch von David Haskell, der diese Tradition des Erzählens fortsetzt. Er hat zunächst detektivische Pflichten: «sich ruhig verhalten, Störungen vermeiden, keine Lebewesen töten oder wegnehmen, nicht graben und nicht über das Mandala kriechen. Eine behutsame Berührung ab und an muss reichen.» Wie ein Spurensucher am Tatort. Um vollständige Systematik geht es ihm nicht. Aus dieser Vorschrift entfalten die Kapitel über Leberblümchen, Schnecken, Frühblüher ihren Reiz. Nur manchmal dreht der Fabulierer ein paar poetische Schleifen zu viel. Dann wirkt sein von Christine Ammann sehr liebevoll übersetztes Buch wie eine Kinderfibel, etwa wenn es heisst: «Die Frühblüher entzünden auch das Lebensfeuer über der Erde. Dunkle Bienlein fliegen von Blüte zu Blüte und lehnen dabei alles ausser Tellerkraut ab. Dort neigen sie das Köpfchen, stillen ihren Durst nach starkem Zuckerwasser, das bei uns Nektar heisst, und schwirren dann mit dürren Beinchen durch die rosafarbenen, pollentragenden Staubbeutel der Blüte.» Ei ei. Da tanzt der Dichter mit dem Biologen ringelrein, und man fühlt sich ganz klein. Aber warum sollte aus diesem Buch nicht tatsächlich Kindern vorgelesen werden? David Haskell berührt eben viele Facetten seiner Welt und weiss, dass der Wald das Gemüt beeinflusst. Er kennt sogar ein Wort, das die Japaner dafür haben: shinrin-yoku, in Waldluft baden. Haskell hat nicht nur gebadet, sondern vom Wald sicherlich getrunken, was ihn immer mal wieder eins werden lässt mit der Molekulargemeinschaft. Ist sie doch auch Teil der Medizin. Sein weit verzweigtes Wissen und viele Gespräche mit Kollegen verhelfen dem Autor zum Glück oft genug über die reine Beschreibungspoesie hinaus. Und so ist «Das verborgene Leben des Waldes» zu einem reichhaltigen Naturkompendium angewachsen, das sich wie eine gut bebilderte und mit vielen Informationen unterfütterte Reportage liest. Vom Geschlechtsleben der Farne erfährt man Rätselhaftes; vieles auch über das gefährdete Ökosystem oder das Wüten von Kettensägen. Und wer schon immer wissen wollte, wie Geier ihre Kadaver finden – all zu starker Verwesungsgeruch schreckt sie eher ab –, der wird mit David Haskell seinen Blick himmelwärts richten, geradewegs durch die Baumkronen, deren angeknabberte Blätter im Zentrum des vorigen Kapitels standen. Von Raupen und Vögeln erzählt er ebenso leicht wie vom «frischen Hauch des Todes», den die Geier erstaunlich gut vom stinkenden Schwall verfaulender Gerippe zu unterscheiden wissen. Nackt in eisiger Kälte Und das ist schliesslich auch das Einzigartige dieses Naturbeobachters und seines Lobs auf das Leben im Wald: Er lässt uns an nichts weniger teilhaben als an einer Kontemplationserfahrung. Dazu setzt er sich auch mal nackt bei zwanzig Grad unter Null der Kälte aus. Er will nachempfinden, wie das so ist für Tiere im Wald. Die haben freilich andere Beheizungsmöglichkeiten, weshalb er das Experiment auch schnell wieder abbricht. Umso mehr hat er Hochachtung vor den Meisen, die sich durch Zittern gegen die Kälte verteidigen. Und so gleicht seine Miniaturführung über Stock und Steinchen immer mehr einem modernen «Hohelied» auf die Schönheit des Waldes. Mindestens die Hälfte seines Buchhonorars will der Autor übrigens für Projekte zum Schutz dieser empfindlichen Zone spenden. Man wird durch die Lektüre reich beschenkt. ● Musik Ian Bostridge spürt den Klängen von Schuberts «Winterreise» nach DerSänger,dersichvordem Gutenachtliedfürchtet Von Corinne Holtz Noch ein Werk über Schuberts «Winterreise» – braucht es das? Musikwissenschafter, Psychoanalytiker, Romanautoren und auch ein hochkarätig besetzter Kinofilm mit Josef Bierbichler und Hanna Schygulla haben sich Schuberts rätselhaftesten Liederzyklus schon angenommen. Jetzt tritt ein Sänger an, der promovierter Historiker ist, an der Universität Oxford eine Professur für Musik innehat und für renommierte Blätter wie «The Times Literary Supplement» und «The Guardian» schreibt: der Tenor Ian Bostridge. Er ist einer der bedeutendsten Liedsänger der Gegenwart, nicht allein wegen seiner Ausnahmestimme und der unerreichten Sprachmächtigkeit auch des Deutschen. Vielmehr unterläuft er erfolgreich die Normen einer bis heute bewunderten Gesangs-Ästhetik. Zwar ist Bostridge durch die Autorität ebendieser Richtung zu Schubert gekommen. Sein Erweckungserlebnis verdankt er dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und einer seiner Aufnahmen von Schuberts «Erlkönig», «abgespielt in der ersten Deutschstunde». Dieskau war gefürchtet für seine Sprachbesessenheit und stand dafür ein, der Sprache Klang zuzuführen, anstatt Sprache in Klang zu giessen – ein Vorgehen, das sich in denkbar grösster Distanz zur Tonbildung italienischer Prägung befand. Bostridge hingegen gelingt es, die Textbezogenheit mit den Belcanto-Qualitäten des historisch informierten Sängers zu vereinen. Nun legt der Tenor ein Buch vor, in dem er jedem der 24 Lieder ein eigenes Kapitel widmet und dies ausdrücklich aus der Perspektive des Sängers tut, der «Musik nie an einer Universität oder Musikhochschule studiert» hat. Er rückt dem Liederzyklus phänomenologisch zu Leibe und geht «eher den subjektiven und kulturell aufgeladenen Entwicklungslinien von Zuhörern und Künstlern» nach, als «Modulationen, Kadenzen und Oktaven zu katalogisieren». In diesem Bekenntnis steckt auch ein gerüttelt Mass an Kritik an der überwiegend HIROYUKI ITO / GETTY Ian Bostridge: Schuberts Winterreise. C.H. Beck, München 2015. 403 Seiten, Fr. 39.90. Einer der bedeutendsten Liedsänger der Gegenwart: Der britische Tenor Ian Bostridge an einem Konzert in New York (2006). selbstreferentiellen Rhetorik der Musikwissenschaft. Bostridges Zugang ist ein Glück für die interessierte Leserschaft. Er kann erklären, was er tut und worauf die jeweiligen musikalischen Entscheidungen beruhen. Er spricht von sich ohne Eitelkeit und stellt der mythologisierenden Schubert-Rezeption seine Erfahrungen aus 30 Jahren entgegen. Nichts fürchtete er mehr als die Eröffnung mit dem Lied «Gute Nacht» und war stets erleichtert, wenn ein Ende der schleppenden Achtelnoten absehbar und mit dem Wechsel von Moll zu Dur im letzten Vers der entfremdetste Moment erreicht war. Die Tempobezeichnung «mässig, in gehender Bewegung» versteht er als Signal für das ganze Werk: Hier geht es auf eine Reise ohne Fortkommen. Das Wegbewegen bleibt ein frommer Wunsch, den Schubert 24-fach ausleuchtet, um am Ende die «Musik eines andern durch die schneidend kalte Luft schwirren» zu lassen. «Der Leiermann» errege in seiner Dürftigkeit Mitleid und Widerwillen gleichermassen. «Kein Fleisch, nur blanke Knochen» kennzeichnen das Lied und seinen Protagonisten. Bostridge zieht eine nachvollziehbare Parallele zu Bob Dylans «Mr. Tambourine Man» und lässt sich in seiner Interpretation vom kulturellen Eklektizismus der 60er Jahre leiten. «Krächzend und kehlig nach Massstäben des Belcanto», aber «kein albernes Einsprengsel des Pop-Gesangs» in der Klassik, wie er betont. Ein Buch klar wie Quellwasser, mit eben jener Präzision und Liebe verfasst, von der auch die Interpretationen des Sängers zeugen. l Universum Ein Autorentrio bietet eine Führung durchs All und lässt uns das irdische Leben schätzen Reisewarnung für Weltraumbummler Science Busters (Heinz Oberhummer, Martin Puntingam, Werner Gruber): Das Universum ist eine Scheissgegend. Hanser, München 2015. 328 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.90. Von Thomas Köster Wenn alles gut geht, ist in acht Millionen Jahren Weltuntergang. Dann bläht sich die Sonne zu einem roten Riesen auf und unser Globus ist Geschichte. Den Termin sollte man sich also vormerken. Bleibt nur noch eine Frage: Wird die Sonne eigentlich auch schwerer, wenn sie grösser wird? «Das Universum ist eine Scheissgegend» gibt eine simple Antwort: «Warum sollte sie?» Was bei gleicher Masse grösser wird, verliert ja nur an Dichte. Wie das Echsenmonster Gormuu, das der Superwissenschafter Richard Reeds von den «Fantastic Four» 1984 im Comic mit Energiestrahlen beschoss. Dabei schwoll der schuppige Zweitonner zwar bis auf Erdengrösse an, hielt aber sein Gewicht – bis er sich in alle Himmelsrichtungen des Kosmos atomisierte. «Ganz so schlimm», beruhigt das Buch, «kommt es für unsere Sonne nicht.» Im Grunde machen es die Science Busters so wie Reeds mit Gormuu, bloss ohne finales Platzen: Sie verringern wissenschaftliche Dichte durch die unbändige Energie ihrer voluminösen Fabulierkunst. So entsteht eine Art historischer Roman über unseren Kosmos: viele wahre Kerne, ummantelt von noch mehr Erzählung. Der wahrste Kern steckt bei diesem Buch schon im Titel. Bis in den letzten Winkel des Alls reisen die drei Autoren. Und stossen überall auf gähnende Leere, lähmende Kälte und übermenschliche Gefahr. Kaum ein Ort, wo es sich lohnen würde, ein Hotelzimmer zu buchen, um mal auszuspannen – obwohl allein in der Milchstrasse mindestens zehn Milliarden bewohnbare Planeten locken und die 4,3 Lichtjahre dauernde Butterfahrt zu Alpha Centauri wegen den möglichen drei Sonnenuntergängen vielleicht doch noch ganz romantisch wäre. Reisen durchs All macht laut dem Autorentrio, das aus zwei Physikern und einem Kabarettisten besteht, keinen Spass. Dieses Buch dafür umso mehr. Wenn also schon mit der Sonne untergehen, dann wenigstens mit einem Lächeln auf den Lippen, wie es diese Lektüre hinterlässt. l 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Ukraine Karl Schlögel setzt sich mit Putins Aggression gegen die Ukraine auseinander – und deutet das Ringen mit Kiew als Krise Moskaus DieBestürzungdesRussland-Experten Von Reinhard Meier Karl Schlögel zählt zu den profundesten Russland-Experten im deutschen Sprachraum. Seit seiner Jugend befasst er sich mit dem vielschichtigen Land und er hat dazu über die verschiedensten Themenbereiche viel beachtete Bücher publiziert − so die monumentale Studie «Terror und Traum» über Moskau im Jahr 1937, dem Höhepunkt des StalinTerrors. Schlögel hat seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im vergangenen Jahr nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn dieser Rückfall des postsowjetischen Russlands in nationalistische Expansionsmuster völlig überrascht und bestürzt hat. In seinem neuen Buch «Entscheidung in Kiew» setzt er sich leidenschaftlich und kenntnisreich mit den Gründen und Folgen von Putins Husarenritt auf die Krim und seiner militärischen Einmischung in der Ostukraine auseinander. Sein Fazit: Die sogenannte UkraineKrise ist im Grunde eine fundamentale Krise Russlands. Die von Putin ursprünglich angestrebte Modernisierung Russlands mit einer innovativen, wettbewerbsstarken Wirtschaft ist gescheitert und deshalb hat er «die Flucht nach vorne» ergriffen. Damit hat der Kremlherr zwar im Inneren einen propagandis- Die russischen Aggressionen stärken das ukrainische Nationalbewusstsein. Hier: Lenin-Statue in Ukraine-Farben (Ukraine, 2015). VADIM GHIRDA / AP tisch angeheizten Begeisterungssturm entfacht, doch gleichzeitig, davon ist Schlögel überzeugt, Russland in eine Sackgasse manövriert. Als ein Zeichen dafür, dass Putin zu Beginn seiner schon fünfzehnjährigen Amtszeit eine engere Kooperation mit dem Westen vorschwebte, wertet der Autor dessen 2001 auf Deutsch gehaltene Rede vor dem Bundestag in Berlin. Entschieden weist er aber die auch hierzulande öfter gehörte Behauptung zurück, man habe im Westen Putins «Liebeswerben» durch eine zu wenig kooperative Politik verspielt. Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Carl Hanser, München 2015. 302 Seiten, Fr. 35.90. Irina Scherbakowa, Karl Schlögel: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise. Edition KörberStiftung, Hamburg 2015. 142 S., Fr. 26.90. Putin hingegen hat mit seiner Aggression zwar die Ukraine überrumpelt und in schwere Nöte gebracht, aber damit gleichzeitig das bisher eher schwach entwickelte ukrainische Nationalbewusstsein wesentlich gestärkt. Man wisse zwar nicht, argumentiert Schlögel, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen werde, doch eines sei gewiss: «Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.» Neben dem analytischen Teil zeichnet Schlögels Buch höchst informative Portraits der wichtigsten ukrainischen Städte − von Kiew, der «Mutter aller russischen Städte», über Lwiw (Lemberg), Czernowitz, Odessa, das jetzt von Separatisten beherrschte Donezk bis nach Charkiw unweit der russischen Grenze. Sie bieten einen anregenden Einblick in die kulturelle und sprachliche Vielfalt des weitläufigen Landes, das für viele Europäer noch immer eine «terra incognita» darstellt. In einem zweiten Buch zum russischukrainischen Themenkomplex führt Karl Schlögel ein langes Gespräch mit der russischen Germanistin, Übersetzerin und Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa. Es dreht sich um eigene Erfahrungen mit Russland und trägt den Untertitel «Einsichten in eine Beziehungskrise». Es ist kein Streitgespräch, denn beide sind sich einig in ihrer tiefen Enttäuschung darüber, dass die nach der Auflösung der Sowjetunion eingeleitete Demokratisierung Russlands und die Hinwendung zu einer aufklärerischen Grundhaltung gegenüber der Geschichte seit der Usurpation der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine völlig abgebrochen ist – vielleicht für lange Zeit. ● Psychologie Positives Denken funktioniert besser, wenn auch das Scheitern eingeplant wird Wie ich mich selbst motiviere Gabriele Oettingen: Die Psychologie des Gelingens. Pattloch, München 2015. 272 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 20.-. Von Michael Holmes Skepsis ist angebracht, wenn uns Psychologen wieder einmal eine einfache Psychotechnik versprechen, die es uns in allen Lebenslagen erleichtern soll, unsere sehnlichsten Herzenswünsche zu erfüllen. Aber Psychologieprofessorin Gabriele Oettingen, an den Universitäten Hamburg und New York, präsentiert in ihrem bahnbrechenden Pionierwerk eine imposante Fülle und Vielfalt an Belegen für die erstaunlichen Wirkungen einer Methode zur Selbstmotivation, die sie mit Kollegen in zwanzig Jahren Forschungsarbeit entwickelt hat. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 In Dutzenden Experimenten in Deutschland und den USA baten die Wissenschafter alle Probanden, einen persönlichen Wunsch zu notieren und dessen Realisierbarkeit einzuschätzen. Dann wurden sie per Zufall verschiedenen Versuchsgruppen zugeordnet. Eine Gruppe träumte von der Wunscherfüllung. Eine andere führte sich die zentrale innere Einstellung vor Augen, die den Erfolg verhindern könnte. Die dritte Gruppe malte sich zuerst das Erreichen des Ziels aus und dann das Haupthindernis auf dem Weg dorthin. Deren Mitglieder kamen nach der kurzen Übung der Verwirklichung von Träumen, die sie für realistisch hielten, deutlich näher als die Vergleichsgruppen. Von unerreichbaren Zielen trennten sie sich leichter. Mentales Kontrastieren nennen die Forscher das Verfahren. Als noch effektiver erwies sich diese «metakognitive Strategie» in Verbindung mit konkreten Handlungsplänen für entscheidende Situationen: «Wenn Problem X, dann Handlung Y». Assoziationstests belegen, dass das Programm zur unbewussten Verknüpfung zwischen Zukunft, Hindernis und zielführendem Verhalten führt. In Studien motivierte es Teilnehmer dazu, doppelt so viel Sport zu treiben. Arbeiter waren engagierter, aber weniger gestresst. High-SchoolSchüler beantworteten 60 Prozent mehr Prüfungsfragen als Kontrollgruppen und Studenten konnten Beziehungsängste doppelt so häufig loslassen. Etwa ein Sechstel der Menschen setzt die Technik intuitiv ein. Wir anderen können von diesem fesselnden Buch lernen, selbst gewählte Lebensziele mit ganzer Kraft zu verfolgen. ● Schweiz Wer diesen Text akribisch liest, ist vermutlich ein SVP-Wähler. Oder etwa nicht? WennPolitologendiePsyche derWählererforschen herte sich dieses nach den Wahlen 1987 und 1991 dem Durchschnitt an, um ab 1995 deutlich darüber zu liegen. Mehr oder weniger stabil blieb diese Determinante bei andern Parteien: Das Bildungsniveau der FDP- und der GP-Wähler lag im ganzen Zeitraum über, jenes der CVPund SVP-Wähler stets unter jenem der Gesamtwählerschaft. Weitere Forschungsbeiträge befassen sich mit der Frage, welche Schweizer warum die SVP wählen; wie sich die Wählerschaft der GLP zusammensetzt; wes- Markus Freitag, Adrian Vatter (Hrsg.): Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz. NZZ Libro, Zürich 2015. 478 S., Fr. 39.90. Von Urs Rauber Ihr Befund in der «NZZ am Sonntag» vor einigen Wochen hatte Staub aufgewirbelt: Kämpferische Menschen wählen FDP, verletzliche SP, gewissenhafte SVP, kooperative CVP. Das war auf den Punkt gebracht die Botschaft, die Markus Freitag, Professor für Soziologie und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern, der Zeitung überbracht hatte. Es ist das Fazit einer Studie, die im neuen Sammelband «Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz» soeben erschienen ist. Verschiedene Parteiexponenten fühlten sich aufgrund der pointierten Zuordnung falsch beschrieben oder gar diskreditiert. SP-Elektorat wird klüger Neues Standardwerk CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE Die von Kathrin Ackermann und Markus Freitag verfasste Untersuchung über «Persönlichkeit und Parteibindung» ist bloss eine, wenn auch die ungewöhnlichste unter einem guten Duzend, die der vorliegende Reader enthält. Sie stützt sich auf das sozialpsychologische Fünf-Faktoren-Modell der MichiganSchule, genannt «Big Five». Die fünf Persönlichkeitseigenschaften – Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Extraversion und Verträglichkeit – wurden in Beziehung gesetzt zu verschiedenen Facetten der Parteibindung und mit einer quantitativ-empirischen Analyse am Datensatz «Politik und Gesellschaft in der Schweiz» aus dem Jahre 2012 überprüft. Die Messung und Methode werden im Beitrag beschrieben, die Tabellen publiziert, die Ergebnisse interpretiert. Was auf den ersten Blick überrascht oder unverständlich klingt, wird beim Lesen nachvollziehbar. An dem von Markus Freitag und Adrian Vatter herausgegebenen umfangreichen Sammelband haben über 20 bisherige und ehemalige Mitarbeiter des Berner Instituts mitgewirkt. Das Opus enthält auch andere interessante Beiträge, so zum Beispiel von Marc Brühlmann und Marlène Gerber, die den Wandel der SP von der Unterschichtspartei zur Partei des gehobenen Mittelstands unter die Lupe nehmen. Der Bildungshintergrund der SP-Wählerschaft hat sich innert 20 Jahren so entscheidend verändert wie bei keiner anderen Partei: Lag das Bildungsniveau eines durchschnittlichen SP-Wählers 1979 noch signifikant unter jenem der gesamten Wählerschaft, nä- halb eine Fusion von BDP und CVP aus Sicht der Wählerschaft ein hohes Risiko darstellt; oder welchen Einfluss grosse Wahlkampfbudgets auf das Wahlergebnis haben. Im Kapitel über die Polarisierung als Strategie im Parteienwettbewerb findet sich eine Feststellung, die im gegenwärtigen Flüchtlingsdiskurs von hoher Aktualität ist: nämlich dass die Schweiz im europäischen Vergleich zu den fremdenfreundlichsten und offensten Nationen gehört. Sie liegt nach den skandinavischen Staaten an vierter Stelle von insgesamt 16 Ländern. Auch klar vor Deutschland, das in den letzten Wochen geradezu als Musterknabe der FlüchtlingsaufnahmeStaaten gefeiert wurde. Hervorzuheben ist schliesslich der Beitrag von Matthias Fatke und Markus Freitag über die Zusammensetzung und die Motive der Nichtwählerschaft. Die Autoren schlüsseln die Nichtwähler der Nationalratswahl 2011 aufgrund einer Nachwahlbefragung in sechs Typen auf: 1) zufrieden desinteressiert (25 %), 2) politisch verdrossen (16 %), 3) abstimmend, aber nicht wählend (13 %), 4) andersartig partizipierend (9%), 5) sozial isoliert (18 %) und 6) inkompetent (20 %). Vor diesem Hintergrund – so die Forscher – überrasche die Einhelligkeit, mit der bei Wahlen jeweils (vor)schnell über eine allgemeine Politikverdrossenheit, Misstrauen und Desinteresse an der Demokratie orakelt werde. Fatke und Freitag kehren deshalb die Schlussfolgerung um: «Ist die Wahlbeteiligung hoch, handelt es sich tendenziell um ein weniger demokratisches Land.» Man könne eine tiefe Wahlbeteiligung nämlich auch als Zufriedenheit mit dem politischen System deuten. Je höher die Wahlbeteiligung, desto demokratischer das Land? Falsch, sagen die Autoren des Sammelbandes. Der mit zahlreichen Tabellen und Fachliteratur angereicherte wissenschaftliche Wälzer scheint gut in die Forschungsdiskussion eingebettet und stellt zweifellos ein neues Standardwerk dar. Schwerfällig mutet einzig der über weite Strecken dominierende Wissenschaftsduktus an sowie – in einzelnen Kapiteln – der hohe Abstraktionsgrad, unter dem die Verständlichkeit leidet. Schade, denn jetzt vor den Herbstwahlen könnte eine solche Publikation für ein breiteres Publikum von Interesse sein. Ein Teil der Forschergemeinde sollte sich ein Vorbild an den unverdrossenen Fernsehauftritten des Meinungsforschers mit der Fliege nehmen (auch er gehört zu den Autoren). Erkenntnisse aus dem Labor glänzen nämlich erst, wenn sie auch von Laien verstanden werden. l 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Weltgeschichte Schriftsteller machen die Vergangenheit zum Erlebnis Zeitreise durch die Literatur Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in 33 Romanen. Hanser, München 2015. 301 Seiten, Fr. 31.90. Was kostet ein Lächeln? Von Manfred Koch Schriftsteller sind zaubermächtige Historiker; sie bringen das Chaos der Weltgeschichte in eine Form, die uns fernste Vergangenheiten so erleben lässt, als wären wir hautnah dabei gewesen. Was verschlägt es, wenn sie zu diesem Behuf ein wenig lügen? Die Fiktionen haften tiefer im Gedächtnis als die Fakten, und oft verstehen wir die grossen geschichtlichen Augenblicke besser in den phantastisch aufbereiteten Darstellungen der Literatur als in den korrekten der Historiographie. «Der Julius Caesar von William Shakespeare wird der Julius Caesar schlechthin bleiben und Marc Anton – ‹Freunde, Römer, Mitbürger, hört mich an!› – auf ewig seine Rede vor Caesars Leichnam gehalten haben, weil Shakespeare sie für ihn geschrieben hat.» Von dieser Einsicht lässt sich Markus Gasser leiten, wenn er den Leser mitnimmt auf 33 exemplarische Zeitreisen der Literatur. Mit Thomas Manns «Joseph»-Romanen kehren wir zurück in das Ägypten des Pharaos Echnaton, mit Henryk Sienkiewyczs «Quo vadis» ins <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NDEzsgAAPbgTZw8AAAA=</wm> antike Rom, Umberto Eco entführt uns ins Jerusalem des 12. Jahrhunderts, Leo Tolstoj lässt uns teilhaben an Napoleons ‹Eroberung› der menschenverlassenen Stadt Moskau, Christopher Isherwood versetzt uns in das Berlin des Jahres 1933 mit seiner spannungsreichen Atmosphäre zwischen sexueller Freizügigkeit und Naziterror. Gassers Portraits von 33 zum Teil wenig bekannten Romanen haben selbst literarische Qualität, und sie zeigen, worin das Faszinierende der von Poeten erzählten Weltgeschichte besteht: Es ist die Sinnlichkeit, mit der hier geliebt und gehasst, gegessen und getrunken, gezeugt und gemordet, gelacht und geweint werden darf! Nur Romanciers können die geschichtlichen Helden «das asthmatische Zucken einer Küchenschabe an der Wand» beobachten lassen oder sie an den Tisch setzen zu einem Mahl, das aus «gefüllten Sauzitzen, vor Fett triefenden Murmeltieren, feigengemästeten Gänsen und Pfauenzungenragout» besteht (es wird viel und meist ziemlich exzentrisch gegessen in Gassers kleinem Romanführer!). So hineingreifen ins volle Menschenleben können professionelle Historiker nicht; sie müssen sich an das halten, was die Quellen hergeben. Man sollte sie aber deshalb nicht geringschätzen. Seien wir froh, dass es beide Arten von Geschichte(n)erzählern gibt! ● <wm>10CFXKKw7DQBAE0RPNato7n20PjMwsA8t8SRSc-6MkZgElFXj7Xt707rEd13aW0wlJWCyj4N6oUTm8gVlK2KLwFY5EZNifFwWja58_I0qBze8gxPrkYHs_Xx_4pX7VcgAAAA==</wm> Architektur Ein Führer für Ausflüge in helvetische Gebäudelandschaften 336 Seiten I Gebunden mit Schutzumschlag CHF 29,90 (empf. VK-Preis) I Auch als E-Book Ulrich Schnabel kartografiert die Gefühlslandschaft, durch die wir täglich navigieren, und beleuchtet die emotionalen Fallen der Konsumgesellschaft. Er beschreibt das Geheimnis dauerhafter Beziehungen und zeigt Wege auf, die emotionale Erschöpfung im Beruf zu vermeiden. Leseprobe auf blessing-verlag.de 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 Lebendige Baukultur Alexander Hosch: Architekturführer Schweiz. Die besten Bauwerke des 21.Jahrhunderts. Callwey, München 2015. 280 Seiten, zahlr. Abb., Fr. 42.90. Von Gerhard Mack Die Schweizer Architektur boomt. Sie ist neben der bildenden Kunst der kulturelle Exportartikel des Landes: Architekturbegeisterte kommen in Scharen ins Land, um Bauwerke zu sehen, die hier entstanden sind. Damit sie sich dabei nicht hilflos durchfragen müssen, hat der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein mit dem Autor Alexander Hosch einen neuen Architekturführer vorgelegt. Etwas vollmundig verspricht er bereits im Jahr 2015 die besten Bauwerke des 21. Jahrhunderts und muss sich doch auf eine Auswahl aus dem beschränken, das bisher entstanden – oder in einigen Fällen sogar erst in Planung ist. Immerhin: 201 Bauten werden in vier Kapiteln, nach Regionen geordnet, in Bild und Wort vorgestellt. Die Texte sind auch für Laien sehr lesbar, wenn auch manches Adjektiv geschmäcklerisch wirkt. Kerndaten nennen Auftraggeber, Baujahr und Architekt, GPS-Daten erleichtern die Suche. Der Band ist vom Format her ohnehin eher für Autofahrer als Fussgänger gemacht. In die Jacketttasche passt er nicht. Ausgewählt wurde sowohl die XenixBar in Zürich wie der Schiffländepavillon Alpenquai in Zug oder das Toilettenhäuschen in Uster. Und viele Brücken. Das ist unsere Spezialität. Auswahlkriterium war dabei nicht die Bausumme oder das Renommee des Auftrags, sondern die Originalität der Lösung. Natürlich erhalten aber auch prominente Bauten wie das Rolex Learning Center des japanischen Büros Sanaa bei der EPFL in Lausanne oder die neue Messehalle in Basel von Herzog & de Meuron ihren Platz. Und selbstverständlich begreift man nicht jede Entscheidung. Wieso ist etwa das Kunstzeughaus in Rapperswil nicht mit dabei? Und Wohnbauten hätte man gerne mehr gesehen. Aber das ist nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass der Führer einen lebendigen Eindruck der Baukultur hierzulande vermittelt und zu Architekturreisen animiert. Eine Diskussionsrunde zum Stand des Bauens in der Schweiz bietet eine muntere Einführung. ● Biografie Hinter der weltweit bekannten Feldenkrais-Methode verbirgt sich das vielseitige Leben eines charismatischen Mannes IngenieurundJudomeister Christian Buckard: Moshé Feldenkrais. Der Mensch hinter der Methode. Berlin Verlag, Berlin 2015. 368 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.-. Was für ein Leben! Und wie gut hat dieser Moshé Feldenkrais es bisher hinter seiner weltweit bekannten Methode der körperlichen Übung und Entspannung verborgen! Diesem weissen Flecken verleiht nun eine erste Biografie die gebührende Farbigkeit. Der Judaist und Journalist Christian Buckard stützt sich dafür stark auf das Feldenkrais-Familienarchiv in Israel und auf eine unpublizierte Autobiografie des Meisters. Moshé Feldenkrais wird 1904 als ältester Sohn einer gebildeten jüdischen Familie im ukrainischen Slawuto im Zarenreich geboren. Seine Muttersprache ist Jiddisch, früh lernt er Hebräisch, im Gymnasium später Russisch. Im weissrussischen Städtchen Baranovicze erlebt die Familie im Ersten Weltkrieg zwar ständig wechselnde, aber immer judenfeindliche Besetzungen. Kein Wunder ist der junge Moshé glühender Zionist und erbettelt von seiner Mutter die Erlaubnis zur Auswanderung ins Heilige Land. Noch keine 15 Jahre alt, reist er ohne Geld ab und durch halb Europa, um schliesslich im Dezember 1919 zusammen mit hunderten von gleichgesinnten jüdischen Jugendlichen in Jaffa an Land zu gehen. Beim Aufbau von Tel Aviv arbeitet der kräftige Jugendliche jahrelang als Bauarbeiter, holt dann die Schule nach und wird Landvermesser. Natürlich ist er Mitglied der illegalen Haganah, wo er zur Selbstverteidigung Jiu-Jitsu lernt. Diese Erfahrung sowie eine massive Knieverletzung wecken sein Interesse für Bewegung als Selbstschutz – er entwickelt sein eigenes Jiu-Jitsu und schreibt ein Buch darüber. Flucht in letzter Minute Mit 26 Jahren entschliesst sich Feldenkrais, in Paris Ingenieurswissenschaften zu studieren. Wie er, der kein Wort Französisch spricht, mit Auszeichnung studiert, dann für das weltberühmte Ehepaar Joliot-Curie am Radium-Institut arbeitet, seine Familie aus Baranovicze nach Israel holt, selbst 1940 in letzter Minute vor den Nazis nach England entkommt, um dort für die britische AntiU-Boot-Forschung zu arbeiten – das allein ist atemberaubend. Dazu kommt das «Hobby»: Moshé verdient seinen Lebensunterhalt mit Jiu-Jitsu-Unterricht, lernt in Paris Jigoro Kano, den japanischen Begründer des Judos, kennen, wird Beauftragter für Judo in Europa, erhält als erster Europäer den schwarzen Gürtel des Meisters, begeistert wissenschaftliche Kollegen von Paris bis Schottland für Judo und liest unermüdlich zum Thema MICAEL WOLGENSINGER / IFF Von Kathrin Meier-Rust Moshé Feldenkrais weist seine «Schüler» beim Entspannen an, hier 1981 in Massachusetts. Entwicklung und Lernen durch Bewegung. Hinter dieser autodidaktischen Beschäftigung steht sein eigenes Knie. Nach einem Kreuzbandriss kaum gehfähig, sucht Feldenkrais im Selbstexperiment nach neuen Bewegungsmöglichkeiten. Er will «umlernen»: Wie ein kleines Kind Bewegungen ausprobiert und lernt, will er, ohne Sprache, «das Lernen neu lernen». Dies bringt ihn zunehmend zu einer ganzheitlichen Sicht der Einheit von Körper und Geist. Nach Kriegsende promoviert Feldenkrais an der Sorbonne zum «Docteur ingenieur» und unterrichtet gleichzeitig im Judo-Zentrum in London. Er experimentiert nun auch mit Gruppen. Und immer wieder gelingt es ihm, einzelne Menschen von schweren Schmerzen und neurotischen Beschwerden zu befreien. 1950 nach Israel zurückgekehrt, verfolgt er ebenso obstinat wie erfolglos das Ziel eines eigenen staatlichen Instituts, welches in seiner grandiosen Vision den Feldenkrais-Unterricht in alle Schulen und Universitäten Israels sowie in die Armee einführen soll, um das jüdische Volk von jederlei geistigen, psychischen und körperlichen Problemen zu befreien. Doch prominente «Schüler» – Feldenkrais bezeichnet seine Behandlung immer als Unterricht – lassen seinen Ruf wachsen. So befreit er etwa den 70jährigen Staatsgründer und Ministerpräsidenten David Ben Gurion in täglichen Unterrichtsstunden von einem quälenden Ischias und lässt ihn den Kopfstand lernen: Das Bild des am Strand von Herzlia auf dem Kopf stehenden Ben Gurion geht um die Welt. Lebenslanger Wissensdurst Moshé Feldenkrais muss ein charismatischer Mensch gewesen sein. Nicht gross, aber muskulös, später ausgesprochen korpulent, lebenslanger Kettenraucher und erfolgreicher Frauenbetörer (der nach einigen Jahren Ehe dann lieber Single blieb), war Feldenkrais von einem grandios-naiven Selbstvertrauen ebenso durchdrungen wie von unermüdlichem Lern- und Wissensdurst. Er glaubte fest daran, dass der Mensch fast alles lernen kann, wenn er nur will, und lernte zum Beweis mit 64 Jahren selbst noch schwimmen und singen! Seine Methode dagegen bleibt etwas rätselhaft, gerade weil Moshé Feldenkrais selbst sie nicht wirklich mit Worten zu erklären vermochte, da er stark nonverbal, über Berührung, arbeitete. Viele seiner Erkenntnisse (etwa zur Psychosomatik) scheinen aus heutiger Sicht schon fast Allgemeinwissen. Auch wäre ein Vergleich mit anderen, im selben Zeitraum entstandenen und nach ihren Erfindern benannten Bewegungsmethoden interessant – wie zum Beispiel Rolfing (nach Ida Rolf), Alexander-Technik (nach Frederick Matthias Alexander) oder Pilates (nach Joseph Hubert Pilates). Doch sollen solche Wünsche kein Vorwurf sein an eine Biografie, die sich zu Recht auf Leben und Person dieses Pioniers konzentriert. l 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Erinnerungsgeschichte Der Direktor des British Museum nähert sich Deutschland über seine Denkmäler im In- und Ausland VonPragviaBuchenwald zumBrandenburgerTor Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation. C.H. Beck, München 2015. 640 Seiten, 330 Farbabb., Fr.52.–. Erinnerungen sind gefilterte Erfahrungen. Erst durch das Bedürfnis nach Sinnstiftung wird Vergangenes zu Erinnerung. Doch damit allein ist es nicht getan. Denn Erinnerungen sind auch das Ergebnis eines immerwährenden Prozesses von Konstruktion und Dekonstruktion, Ausdruck von Herkunft, Selbstverständnis und Selbstvergewisserung. So gesehen ist alle Erinnerung Gegenwart. Wo es um Erinnerungen geht, gibt es also kein Ende. Die Frage nach der Einstellung von Nationen und Völkern zur Vergangenheit, nach Orten als Verkörperung des nationalen Gedächtnisses, beschäftigt die Wissenschaft seit jeher. Mit «Deutsche Erinnerungsorte» haben Etienne François und Hagen Schulze vor Jahren erste Schneisen durch das Dickicht deutscher Erinnerungslandschaften geschlagen. Insoweit bewegt Neil MacGregors Kulturgeschichte sich auf vertrautem Terrain. Und doch ist die Herangehensweise eine ganz andere. Der langjährige Direktor des British Museum nähert sich, wie könnte es anders sein, Deutschlands Identität anhand von Objekten und Bauwerken, von Menschen und Orten; und das mit einer Virtuosität, die ihresgleichen sucht. Gewiss, allein schon der Zeitraum von rund 600 Jahren verlangt nach Auswahl. Der methodische Ansatz erfordert darüber hinaus Mut zur Lücke. Nicht jeder Gegenstand eignet sich, Geschichte zu erzählen. Auch deshalb werden Literatur, Philosophie und Musik nur kurz behandelt. Allerdings wäre es verfehlt, diese Einschränkung als Nachteil zu deuten. MacGregor geht es nicht um eine Gesamtdarstellung, vielmehr um Schlaglichter, in denen prägende Züge und historische Vielfalt, Brüche und Widersprüche gespiegelt werden können. Deutsche Stadt Prag Entstanden ist ein Deutschlandbild, das sich von der insularen Betrachtung abhebt und gerade deshalb mit der gleichnamigen Ausstellung im British Museum und der Serie von BBC Radio 4 zum 25Jahr-Jubiläum des Mauerfalls, die diesem Buch zugrunde liegen, auf so grosse Neugier gestossen ist: weder Selbstbild, das beruhigt, noch Fremdbild, das sich auf zwei Weltkriege reduzieren lässt. Dass Deutschland ein «schwieriges Vaterland» (Gustav Heinemann) bleibt, bedarf dabei keiner Erwähnung. Wer errichtet schon als Memento an die Nachkommenden in 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 EASTBLOCK WORLD Von Victor Mauer Geschichte in Bronze gegossen: Ernst Barlachs Schwebender Engel. Hier ein Nachguss im Güstrower Dom. der Mitte seiner Hauptstadt ein Mahnmal der nationalen Schande? Sechs Teile mit je fünf Kapiteln bilden den Rahmen. Der Zugang erfolgt thematisch, nicht chronologisch. «Wo liegt Deutschland?» ruft uns zunächst in Erinnerung, dass Grenzen in der Mitte Europas über Jahrhunderte veränderlich waren. Das fragmentierte Heilige Römische Reich Deutscher Nation begegnet uns in Gestalt des Münzrechts. Wir besuchen Prag, einst geistige Hauptstadt der deutschen Welt, und Kafka; Königsberg, Ursprung und Sitz der preussischen Monarchie, und Kant; das Strassburg Goethes, der deutsch-französischen Feindschaft, des Europäischen Parlaments; das Brandenburger Tor – einst Monument des Friedens, dann als geschlossenes Tor Symbol der offenen deutschen Frage – und das geteilte Deutschland. Ob Objekte, Bauwerke, Denkmäler, Orte oder Personen – MacGregor bringt sie, prächtig illustriert, zum Sprechen. Und nicht nur das. Immer wieder lässt er Experten aus Wissenschaft, Kultur und Politik zu Wort kommen. Man muss nicht jede Interpretation teilen, um einen Sinn für Komplexität und Kontingenz, für Prägendes und Paradoxien zu gewinnen. Das gilt für Geistesgeschichte, Sprache und Brauchtum, die im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen, ebenso wie für fortlebende Vergangenheiten und Erfindungen, die die Welt veränderten, im dritten und vierten Teil. Wenn der Gründungsintendant des Humboldt-Forums den Abstieg Deutschlands im fünften Teil mit Bismarck beginnen lässt, dann zeigt das freilich auch, dass Erinnerungen sich nicht zwangsläu- fig mit historischer Forschung decken müssen. Gerade deshalb wäre es sinnvoll gewesen, die Literaturhinweise am Ende des Buches ausgewogener zu gewichten – so wie das geradezu meisterhaft im abschliessenden Teil, «Mit Geschichte leben», gelingt. Auftrag und Anstrengung Das vielleicht eindrücklichste Kapitel ist dabei Ernst Barlachs «Schwebendem Engel» gewidmet. Wie kein anderes Kunstwerk verkörpert er die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts: als Antwort auf das Kriegsfieber von 1914, dem Barlach zunächst selbst erlag; als Ausdruck des kurzlebigen, weil verachteten Pazifismus der zwanziger Jahre, wie er sich sonst nur bei Käthe Kollwitz findet, deren Züge Barlachs Engel trägt; als Beispiel für die Zerstörung missliebiger Kunst unter den Nationalsozialisten; als Sinnbild für das Überleben trotz Zerstörung in der Stunde Null; als verbindendes Element über ideologische Gräben und trennende Mauern hinweg zur Zeit der Teilung; und schliesslich als Symbol für Frieden und Gewaltverzicht, denen sich die «verspätete Nation» heute verpflichtet weiss. Wer Neil MacGregors Angebot zur Mitreise in die deutsche Vergangenheit als Einladung zur historischen Reflexion versteht, wird bereichert zurückkehren. Denn Geographie ist mehr als Schicksal und Geschichte mehr als Bürde. Erinnerung indes ist Auftrag und Anstrengung zugleich, eine Art «verborgene Freude des Sisyphos» (Albert Camus). Und den, so lehrt uns der französische Existentialist, dürfen wir uns «als glücklichen Menschen vorstellen». ● Homosexualität Um die Jahrhundertwende entwickelte sich in Berlin eine lebhafte Schwulenkultur MekkafürMännerbälle Robert Beachy: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933. Siedler, München 2015. 464 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 24.90 Von Alexis Schwarzenbach Der Begriff «schwul» stammt aus dem Dialekt der deutschen Hauptstadt. Das ist kein Zufall, wie der amerikanische Historiker Robert Beachy in seinem sorgfältig recherchierten Buch «Das andere Berlin» zeigt. Um 1900 legten sich dort zum ersten Mal Männer, die Männer liebten, eine selbstbewusste Identität zu. Mitverantwortlich dafür war erstaunlicherweise Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der männliche Homosexualität kriminalisierte und erst 1988 endgültig abgeschafft wurde. Im Bestreben, den Paragrafen umzusetzen, gelangte die Berliner Polizei schon Ende des 19. Jahrhunderts zur Einsicht, dass sich die homosexuelle Subkultur besser kontrollieren liess, wenn man schwule Bars, Restaurants und Tanzveranstaltungen tolerierte statt zu unterdrücken. Der Politikwechsel fand unter Polizeidirektor Leopold von Meerscheidt-Hüllessem statt, der ab 1885 das Homosexuellen-Dezernat leitete. Er stellte fest, dass Razzien kaum strafrechtlich relevante Tatbestände ans Licht brachten, da weder Biertrinken in Männerrunden noch das Tragen von Frauenkleidern verboten waren. Ausserdem schossen für jede geschlossene Schwulenbar in Windeseile fünf neue aus dem Boden. Die Toleranz der Berliner Polizei hielt bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 an und bescherte der Stadt das breiteste Angebot an schwulen Lokalen weltweit. Masken- und Transvestitenbälle mit professioneller Orchestermusik lockten 500 und mehr Gäste aus dem In- und Ausland nach Berlin. Das Aufblühen der Schwulenkultur an der Spree war indes nicht allein die Folge polizeilicher Toleranz. Verdienstvollerweise gibt sich Robert Beachy nicht mit monokausalen Erklärungen zufrieden, sondern berücksichtigt auch sozioökonomische und kulturelle Faktoren. So führt er das Polizeiverhalten auch darauf zurück, dass der öffentliche Raum der rasant wachsenden deutschen Hauptstadt, in der Heerscharen junger Proletarier sich mit Gelegenheitsprostitution ein Zubrot verdienten, gar nicht kontrolliert werden konnte. Ausführlich untersucht Beachy auch das komplexe Zusammenspiel weiterer Akteure in dieser spezifisch deutschen Geschichte, allen voran Bildungsbürger und Sexualwissenschafter. Eindrücklich porträtiert wird unter anderem der Hannoveraner Anwalt Karl Heinrich Ulrichs, der schon 1867 versuchte, die Homosexualität zu entkriminalisieren und sich privat wie öffentlich zu seiner Neigung bekannte. Und natürlich spielt Magnus Hirschfeld die ihm ge- bührende Hauptrolle. Der Berliner Arzt hatte 1897 die erste Organisation für Homosexuellenrechte gegründet, erlangte noch vor dem Ersten Weltkrieg den Status eines anerkannten Schwulenexperten und rief 1919 das Institut für Sexualwissenschaft ins Leben, die erste Forschungseinrichtung ihrer Art, die rasch internationale Bekanntheit erlangte. Robert Beachy korrigiert die weit verbreitete Vorstellung des Fin-de-Siècle als einer für Homosexuelle intoleranten Epoche. Er führt das Missverständnis auf die sexualtheoretischen Überlegungen Michel Foucaults zurück, dem die Berliner Facetten der Schwulengeschichte unbekannt waren. Sicherlich haben aber auch die von Repression geprägten Viten von Oscar Wilde oder die Mitglieder des Bloomsbury Circle ihren Teil dazu beigetragen. Wer nun moniert, Beachy lasse die Lesben aus, wird gleich zu Beginn des Buches auf eine weitere Neuerscheinung verwiesen. Und wer das Thema vertiefen möchte, kann noch bis Anfang Dezember im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden die sehenswerte Ausstellung «Homosexualität_en» besuchen. l Landesgeschichte Die Schweiz in Karten Was für ein Züri-Leu: Der Greifensee ist sein Nasenloch, Zürich sein Gaumenzäpfchen und Winterthur sein Augenlid! Die 1698 von Johann Heinrich Streulin gezeichnete Karte des Kantons Zürich (Achtung: der Osten ist hier oben, damit der Zürichsee als Maul des Löwen fungieren kann) ist eine von 80 Landkarten aus sieben Jahrhunderten, die der englische Reisejournalist Diccon Bewes in einem ebenso informativen wie prächtigen Band versammelt hat. Von der ersten Darstellung der Eidgenossenschaft von 1480 bis zur Schweiz aus dem Weltall aufgenommen – mit Postrouten-, Eisenbahntunnel-, Sprach- und Politikkarten – ist dieses Buch schlicht ein Must für alle Kartenliebhaber im Kartenland Schweiz. Kathrin Meier-Rust Diccon Bewes: Mit 80 Karten durch die Schweiz. Hier und Jetzt, Baden 2015. 224 S., 115 Abb., Fr.74.-. 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Essays Die Amerikanerin Rebecca Solnit beleuchtet das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern Den Frauen Gehör verschaffen Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 176 Seiten, Fr. 26.90. Von Simone Karpf Auf einer Party in einem amerikanischen Nobelskiort trifft eine 40jährige Frau auf einen älteren, gutsituierten Mann. Er stellt ihr eine Frage – jedoch nur, um ihr sogleich ins Wort zu fallen und ihr in einem unaufhaltbaren Redeschwall von einem Buch zu erzählen, das sie unbedingt lesen müsse. Was er nicht weiss: Die Frau, der er gegenübersteht, ist die Autorin ebendieses Buches. Sie heisst Rebecca Solnit und ist eine wichtige Stimme in amerikanischen Geschlechterdebatten. In der gönnerhaften Art, die der Mann auf der Party zeigte, sieht Solnit ein Grundmuster in der Kommunikation zwischen Männern und Frauen, die allzu häufig nicht auf Augen- höhe stattfindet, sondern von Männern dazu benutzt wird, Frauen die Welt zu erklären. Diese Beobachtung veranlasste die Autorin 2008 dazu, einen Essay über dieses Phänomen zu schreiben. Er stiess in den USA auf grosses Echo und prägte gar ein neues Wort, «mansplaining» («man» und «explaining»), das beschreibt, wie Männer in Gesprächen das Rederecht an sich reissen und ständig irgendetwas erklärend auf das Gegenüber einreden. Solnits Anliegen ist es, auf die ungleiche Machtverteilung in der Gesellschaft hinzuweisen, und so befasst sie sich in den sechs weiteren Essays des aktuellen Bandes mit den Rechten, der Gleichoder eben Ungleichstellung der Frau. Um das vorherrschende Machtgefälle sichtbar zu machen, schlägt sie dabei mitunter auch eine sehr viel ernstere Tonart an als im heiteren ersten Essay. Eindringlich plädiert sie etwa dafür, Vergewaltigungen nicht bloss als individuelle Verbre- chen zu betrachten, sondern als kulturell begründetes Muster, das bewusst gemacht werden muss, um verändert werden zu können. Sie schreibt über die Gruppenvergewaltigungen in Indien, sexuelle Belästigungen an Demonstrantinnen in Ägypten und knüpft an die in den USA kontrovers geführte Debatte über die Vergewaltigungen von Studentinnen an amerikanischen Universitäten an. Für die Feministin Rebecca Solnit werden Frauen nach wie vor zu sehr als Objekte wahrgenommen und folglich auch als solche behandelt: Ihnen werde von der männerdominierten Gesellschaft Raum nur in geringem Umfang zugestanden oder gar regelrecht verwehrt. Auch wenn Solnits Essays teilweise stark polemisch sind, erweist sich die Autorin doch als feine Beobachterin gesellschaftlicher Strukturen und liefert wertvolle Denkanstösse, um gängige Strukturen, etwa die Rollenmuster von Frau und Mann, zu hinterfragen. ● Das amerikanische Buch Kluft zwischen Schwarz und Weiss Im August 2014 erschoss ein weisser Polizist den schwarzen Teenager Michael Brown in Ferguson, Missouri. Die Nachricht im Fernsehen trieb Samori Coates auf sein Zimmer. Dort warf sich der 14-Jährige weinend auf das Bett. Ta-Nehisi Coates überliess seinen Sohn damals der Trauer. World and Me» denn auch als Auseinandersetzung mit ebendem Begriff des «struggle», den schwarze Intellektuelle und Aktivisten für den Kampf um Bürgerrechte gebrauchen. Coates hat den Text als Brief an Samori angelegt. Als roter Faden dient dem Kolumnisten des renommierten Magazins «The Atlantic» die eigene Vita. Auch er hat als Student an der afroamerikanischen Howard University in Washington vor 15 Jahren ein «Ferguson» erlebt, als ein strebsamer und tief religiöser Kommilitone ohne legalen Anlass und Konsequenz für den Täter von einem Polizisten erschossen wurde. Obwohl er selbst aus einem Slum in Baltimore entkommen konnte, sagt Coates seinem Sohn eine hoffnungslose Zukunft voraus: Von einem unabänderlichen Rassenhass getrieben, werde die «Mehrheit weisser Banditen» Afroamerikaner weiterhin mit brutaler Gewalt knechten und ausbeuten. Weisse nennt Coates «Träumer», die in einer imaginierten Welt der eigenen Überlegenheit leben und die eigenen Schandtaten verdrängen. Samori bleibe so nur «struggle», ein Ringen um das Verständnis der amerikanischen Geschichte und seiner eigenen Verortung darin. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015 SID HASTINGS / EPA Er habe keine tröstenden Worte gefunden, schreibt der afroamerikanische Autor nun in seinem Bestseller Between the World and Me (Spiegel & Grau, 152 Seiten). Schmal, aber gehaltvoll und von der Kritik als essenzieller Beitrag über die Lage der Schwarzen in den USA aufgenommen, enthält auch das Buch keinen Trost. Protest in Ferguson (2015): Afroamerikanern bleibt oft nur die Option des «struggle», meint Autor Ta-Nehisi Coates (unten). Kann diese Botschaft einen 15-Jährigen nur niederschmettern, so stösst deren kompromisslose Radikalität selbst eine prominente Kritikerin des weissen Amerika wie Michelle Alexander ab. Die afroamerikanische Jus-Professorin bezeichnet «Between the World and Me» in der «New York Times» als frustrierend. Sie erwartet jedoch, dass Coates konkrete Aussagen über Form und Ziele des schwarzen «Ringens» mit Amerika nachliefert. Dazu sollte der 40-Jährige zumindest aufgrund seiner Kenntnis der afroamerikanischen Geschichte und Kultur fähig sein. Schliesslich hat er sein Buchkonzept dem Klassiker «The Fire next Time» des schwarzen Autors James Baldwin aus dem Jahr 1963 entlehnt. Bei näherer Lektüre erscheint «Between the Grob vereinfacht sind hier seit der Sklavenbefreiung am Ende des Bürgerkrieges 1865 zwei Lager entstanden. Für diese stehen die beiden Namen Martin Luther King Jr. und Malcolm X: Hier das Streiten für Gleichberechtigung auch in Dialog und Allianz mit Weissen. Dort ein schwarzer Nationalismus, der zunächst das Erringen eigener Würde und Identität anstrebt. Bereits sein eigener und der Name seines Sohnes signalisieren die Position von Coates. Sein Vater war Mitglied der radikalen Black Panther Party und verlieh ihm das «nubische» Ta-Nehisi, was «Land der Schwarzen» bedeuten soll. Samori steht für den muslimischen Militärführer Samori Touré (1830–1900), der in Westafrika die Franzosen bekriegt hat. Dieser Hintergrund macht den Begriff «Träumer» verständlicher. Indem er «die Weissen» als monolithische und von Grund auf rassistische Gruppe von «Träumern» bezeichnet, greift Coates auf den frühen Malcolm X als Mitglied der «Nation of Islam» zurück. Diese schwarze Sekte betrachtete die Mehrheit der Amerikaner prinzipiell als «weisse Teufel». Ganz so weit geht Coates nicht. Aber indem er Positionen aufnimmt, die selbst Malcolm X am Ende seines kurzen Lebens 1965 aufgegeben hat, markiert er die Ernsthaftigkeit der Kluft zwischen Schwarz und Weiss im heutigen Amerika. Dafür steht «Ferguson». ● Von Andreas Mink Agenda Ludwig Emil Grimm Der geniale kleine Bruder Agenda Oktober 15 Basel Donnerstag, 22. Oktober, 19 Uhr Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Moderation: Christine Lötscher, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info: Tel. 061 261 29 50. KEYSTONE Dienstag, 20. Oktober, 19.30 Uhr Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten. Gespräch, Fr. 25.–. Volkshaus, Rebgasse 12-14. Reservation: www.ticketino.com. Bern Montag, 12. Oktober, 20 Uhr Thomas Schulz: Was Google wirklich will. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Spitalgasse 47/21. Reservation: Tel. 031 320 20 40. Dienstag, 20. Oktober, 20 Uhr Zeruya Shalev: Schmerz. Lesung und Gespräch, Fr. 20.-. Buchhandlung Stauffacher, Neuengasse 25/37. Info: Tel. 031 313 63 63. Zeichnungen in kalligrafischer Manier. Ludwig Emil Grimm hat die Goethe-Zeit in zahllosen Collagen, Karikaturen und Textbildern festgehalten. Der Band ist deshalb eine Fundgrube, auch wenn die unruhige Gestaltung mit den vielen angeschnittenen und schräg übereinandergelegten Bildern nicht jedermanns Sache ist. Unsere Illustration (1856) trägt die Bildunterschrift «Den Katzen zum Andenken». Manfred Papst Ludwig Emil Grimm: Lebenserinnerungen des Malerbruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. Grossband, 576 Seiten, über 500 Abbildungen, Fr. 102.-. Bestseller September 2015 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 David Lagercrantz: Verschwörung. Heyne. 608 Seiten, Fr. 26.90. Hansjörg Schneider: Hunkelers Geheimnis. Diogenes. 208 Seiten, Fr. 31.90. Paula Hawkins: Girl on the Train. Blanvalet. 448 Seiten, Fr. 18.90. Eveline Hasler: Stürmische Jahre. Nagel & Kimche. 384 Seiten, Fr. 25.90. Jean-Luc Bannalec: Bretonischer Stolz. Kiepenheuer & Witsch. 384 Seiten, Fr. 21.90. Lori Nelson Spielman: Nur einen Horizont entfernt. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90. Guillaume Musso: Nacht im Central Park. Pendo. 384 Seiten, Fr. 21.90. Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90. Arno Camenisch: Die Kur. Engeler. 96 Seiten, Fr. 27.90. Steve Watson: Tu es. Tu es nicht. Fischer Scherz. 384 Seiten, Fr. 21.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.90. Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90. Duden: Die neue Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.90. C. Gertsch, B. Steffen: Ariella Kaeslin: Leiden im Licht. NZZ Libro. 144 Seiten, Fr. 31.90. Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90. Schwester Benedikta: Licht auf meinem Pfad. Orell Füssli. 224 Seiten, Fr. 26.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 24.90. Millie Marotta: Fantastische Tierwelt. Christophorus. 96 Seiten, Fr. 15.90. A. Berset, C. De Maigret, A. Diwan: How to be Parisian. BTB. 272 Seiten, Fr. 22.90. Jürgen Todenhöfer: Inside IS. C. Bertelsmann. 288 Seiten, Fr. 26.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 15.9.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Zürich Montag, 5. Oktober, 20 Uhr Lukas Bärfuss, Melinda Nadj Abonji: Zürich Littéraire. Gespräch, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 18. Reservation: www.kaufleuten.ch. Dienstag, 6. Oktober, 19.30 Uhr Xiaolu Guo: Writer in Residence. Gespräch, Fr.18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: Tel. 044 254 00 00. Donnerstag, 8. Oktober, 19.30 Uhr Tomáš Sedláček: Lilith und die Dämonen des Kapitals. Lesung und Gespräch. Moderation: Daniel Binswanger, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Montag, 12. Oktober, 20 Uhr Franz Hohler: Buchvernissage. Lesung, Fr. 80.– (Karte inklusive 3-Gang-Menu), Fr. 25.– (nur Karte). Kaufleuten (s. oben). Freitag, 23. Oktober, 20 Uhr Lesung der Nominierten: Schweizer Buchpreis 2015. Lesung und Gespräch, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Samstag, 24. Oktober, 20 Uhr Adolf Muschg: Die japanische Tasche. Buchpremiere. Lesung und Gespräch. Moderation: Stefan Zweifel, Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben). Mittwoch, 28. Oktober, 19.30 Uhr Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Lesung und Gespräch. Moderation: Klara Obermüller, Fr. 18.– Literaturhaus (siehe oben). Bücher am Sonntag Nr. 9 erscheint am 25.10.2015 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 KEYSTONE Jeder kennt die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm: als Märchensammler wie als Verfasser des wichtigsten deutschen Wörterbuchs. Weit weniger berühmt ist ihr jüngerer Bruder Ludwig Emil Grimm (1790–1863), der sich als Maler, Zeichner und Radierer sowie als Verfasser von Reisetagebüchern und Lebenserinnerungen hervortat. Letztere liegen nun in einem grossformatigen, mit über 500 Abbildungen illustrierten Band vor. Heiner Boehncke und Hans Sarkowiczs haben den Text erstmals nach dem Manuskript vollständig ediert, der Künstler Albert Schindehütte begleitet die Edition mit Weil hier in Worte gefasst wird, wofür zuweilen die Worte fehlen. Gesa Schneider, Leiterin Literaturhaus Zürich, liest aus Überzeugung die «Neue Zürcher Zeitung». <wm>10CAsNsja1NLU01DU3NLUwNwQAs76a0Q8AAAA=</wm> <wm>10CFXKoQ6AMAxF0S_q8l63riuTBEcQBD9D0Py_IuAQV9zkrGu3hK952Y5l7xYWFKc15ztJvfammlC8I-gK2kRkUov6zwsYNSOP1whC6IOQDEEbFSXd5_UAlVcE9nIAAAA=</wm> Die neue NZZ 4 Wochen für 30 Fr. SMS mit Keyword: NZZNEU29, Namen und Adresse an Nr. 5555 (20 Rp./SMS), nzz.ch/neu29