2015 - Neue Zürcher Zeitung

Transcription

2015 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 9 | 27. September 2015
NZZ am Sonntag
Liebe in Israel
Zeruya Shalev
überTerrorund
Leidenschaft
7
Buchpreis
Fünf Anwärter
auf die
Auszeichnung
11–14
Jakob Tanner
Linker Blick auf
Schweizer
Geschichte
16
Feldenkrais
Der Mann
hinter der
Methode
23
Bücher
am Sonntag
Politische Bücher im Wahljahr.
Fulvio Pelli, Béatrice Acklin Zimmermann, Yann Grandjean (Hrsg.)
Was heisst denn heute liberal?
Que veut dire être libéral aujourd’hui?
Liberale Antworten auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts u. a. von Martine
Brunschwig-Graf oder Andrea Caroni.
2015. 168 Seiten, 20 Porträtzeichnungen.
Fr.
28.– / € 28.–
Gerhard Schwarz et al. (Hrsg.)
Religion, Liberalität und Rechtsstaat.
Ein offenes Spannungsverhältnis.
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«Von der ersten bis zur letzten Seite fundiert, lehrreich und anregend. Hier wurden die
Besten für dieses Thema aufgeboten.» Tages-Anzeiger
2015. 248 Seiten, 4 Abbildungen.
Fr.
44.– / € 44.–
Markus Freitag, Adrian Vatter (Hrsg.)
Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz.
Band 3 der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz».
Wer wählt in der Schweiz wen und warum? Wer geht nicht zur Wahl? Welche Effekte
haben Wahlkampagnen? Welchen Einfluss hat Geld tatsächlich?
2015. 480 Seiten, 129 Grafiken u. Tabellen.
Fr.
38.– / € 38.–
nzz-libro.ch
Inhalt
Kurze Rede
zum
langen Abschied
Belletristik
Kurzkritiken Sachbuch
4
15 Hyeonseo Lee mit David John: Schwarze
Magnolie
Von Urs Rauber
Arnd Bünker, Hanspeter Schmitt:
Familienvielfalt in der katholischen Kirche
Von Claudia Mäder
Hans-Peter Nolting: Psychologie der
Aggression
Von Kathrin Meier­Rust
Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean:
Was heisst denn heute liberal?
Von Urs Rauber
Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas
Jurek
Von Wiebke Porombka
6 Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall für
Jakob Franck
Von Jürg Scheuzger
7 Zeruya Shalev: Schmerz
Von Klara Obermüller
8 Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten
Von Angela Gutzeit
9 Leila S. Chudori: Pulang. (Heimkehr nach
Jakarta)
Von Janika Gelinek
10 Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe
Von Sandra Leis
Nicole Fritz: Ich bin eine Pflanze: Naturprozesse
in der Kunst
Von Gerhard Mack
Kurzkritik Schweizer Buchpreis
11 Meral Kureyshi: Elefanten im Garten
Von Manfred Papst
Monique Schwitter: Eins im Andern
Von Regula Freuler
Ruth Schweikert: Wie wir älter werden
Von Regula Freuler
Martin R. Dean: Verbeugung vor Spiegeln
Von Manfred Papst
Porträt
12 Ich bin keine Exilantin
Regula Freuler hat die für den Schweizer
Buchpreis nominierte Autorin und Wahl­
zürcherin Dana Grigorcea getroffen
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Friedrich Schiller
Sachbuch
16 Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im
20. Jahrhundert
Von Paul Widmer
18 David G. Haskell: Das verborgene Leben des
Waldes
Von Anja Hirsch
19 IanBostridge:SchubertsWinterreise
Von Corinne Holtz
Science Busters: Das Universum ist eine
Scheissgegend
Von Thomas Köster
20 Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew
Irina Scherbakowa, Karl Schlögel: Der RusslandReflex
Von Reinhard Meier
Gabriele Oettingen: Die Psychologie des
Gelingens
Von Michael Holmes
21 Markus Freitag, Adrian Vatter: Wahlen und
Wählerschaft in der Schweiz
Von Urs Rauber
22 Markus Gasser: Eine Weltgeschichte in
33 Romanen
Von Manfred Koch
Alexander Hosch: Architekturführer Schweiz
Von Gerhard Mack
GORAN BASIC / NZZ
Zeruya Shalev
(Seite 7).
Illustration von
André Carrilho
Seit dem 7. Oktober 2007, der ersten Ausgabe von «Bücher am Sonntag»,
hat Urs Rauber an dieser Stelle die Leserinnen und Leser begrüsst. Wenn
nun hier plötzlich jemand anders einige Zeilen verfasst, so aus einem
einzigen Grund: Urs Rauber hat zum letzten Mal eine Ausgabe unserer
Bücherbeilage betreut. Nun geht er in den Ruhestand.
Als Urs Rauber die Lancierung von «Bücher am Sonntag» übernahm, fand
er eine Aufgabe, die ihm zutiefst entsprach und die er mit grösster
Begeisterung und profunder Sachkenntnis erfüllte. Aus diesem Grund
blieb er auch über das reguläre Pensionierungsalter Mitglied der Redaktion.
Dieser gehörte er seit der Gründung der Zeitung im Jahr 2002 an, in
wechselnden Funktionen, die er stets mit der ihm eigenen Kompetenz,
dem Pflichtbewusstsein und einem schon fast legendären Ausmass an
Organisiertheit erfüllte. Letztere drückt sich etwa in der Anweisung aus,
ich möchte doch ein Editorial von 1400 Anschlägen mit zwei oder drei
Abschnitten verfassen. Nun brauchte es aber noch mehr Abschnitte, um
Urs Rauber den ihm gebührenden Dank auszurichten, hat er doch «Bücher
am Sonntag» zu dem gemacht, was sie heute ist: einer im deutschen
Sprachraum einmaligen Plattform der Kulturvermittlung.
Seine Nachfolge übernimmt Claudia Mäder, assistiert von Simone Karpf.
Sie werden den hohen Standard von «Bücher am Sonntag» erhalten, wenn
auch vielleicht mit einem Abschnitt mehr oder weniger. Felix E. Müller
Der Historiker Jakob Tanner untersucht die Schweizer
Geschichte des 20. Jahrhunderts (S. 16).
23 ChristianBuckard:MoshéFeldenkrais
Von Kathrin Meier­Rust
24 Neil MacGregor: Deutschland
Von Victor Maurer
25 Robert Beachy: Das andere Berlin
Von Alexis Schwarzenbach
Diccon Bewes: Mit 80 Karten durch die Schweiz
Von Kathrin Meier­Rust
26 Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt
erklären
Von Simone Karpf
Das amerikanische Buch
Ta-Nehisi Coates: Between the World an Me
Von Andreas Mink
Agenda
27 Ludwig Emil Grimm: Lebenserinnerungen des
Malerbruders
Von Manfred Papst
Bestseller September 2015
Belletristik und Sachbuch
Agenda Oktober 2015
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Simone Karpf (ska.), Claudia Mäder (cmd.), Kathrin Meier­Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Matthias Nawrats Buch «Die vielen Tode unseres Opas Jurek»
erzählt auf hochkomische Weise von den Abgründen der polnischen
Geschichte
HerrDirektor
liebt
Delikatessen
Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres
Opas Jurek. Rowohlt, Reinbek 2015.
416 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 22.–.
Von Wiebke Porombka
Ob dem Menschen je ein Dasein in paradiesischen Gefilden vergönnt sein mag
oder gar die Rückkehr zu jenem seit der
Romantik allenthalben versprochenen
paradiesischen Urzustand, ist schwer zu
prognostizieren. Umso sinnvoller scheint
es mithin, im Diesseits zumindest versuchsweise für Ersatz zu sorgen: In Matthias Nawrats Roman «Die vielen Tode
unseres Opas Jurek» erhält das neu eröffnete Kaufhaus des kleinen polnischen
Städtchens Opole den Namen «Paradies». Direktor des Kaufhauses ist kein
anderer als der titelgebende Jurek selbst
– bedauerlicherweise indes nur für eine
recht überschaubare Zeit. Die irdischen
Paradiese haben ihre Tücken, nicht nur,
wenn sie sich den ökonomischen Engpässen und den sich rasch wandelnden
politischen Interessen des Ostblocks
beugen müssen.
Wie Jurek, der ehemalige KZ-Häftling
und Betreiber des ersten Lebensmittelladens von Opole, auf den Direktorenposten gelangte und warum er ihn wieder abzugeben gezwungen war, hat er
seinen Enkeln hinlänglich berichtet.
Ebenso wie den Rest seines Lebens. Und
jene Enkel, die mit ihren Eltern nach
Deutschland emigriert sind und hin und
wieder auf Besuch nach Opole kommen,
tragen es in der eher ungewöhnlichen
Wir-Erzählperspektive dem Leser zu.
Es würde dem dritten Roman des 1979
geborenen Matthias Nawrat nicht gerecht werden, verstünde man ihn lediglich als polnische Familiengeschichte vor
dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
oder als burleske Erzählung über einen
Mann, der zeitlebens mehr schlecht als
recht durch die wechselnden politischen
Unwägbarkeiten seiner Zeit stolpert.
Vielmehr führt Nawrat in seinem
Roman auf mindestens doppelbödige
Weise vor Augen, mit welcher Macht
Sprache unsere Vorstellung der Wirklichkeit formt – und damit natürlich immer
auch verfälscht. Ein Mechanismus, der
umso mehr zum Tragen kommt, je luftdichter sich ein politisches System gegen
etwaige Zweifler und Kritiker abzuschotten bestrebt ist. Dass die offiziellen Organe darauf aus sind, Gängeleien der Bevölkerung durch Euphemismen und bürokratische Floskeln zu verschleiern,
wird kaum verwundern. Dass all dieses
«Sogenannte» von Jurek nahezu ungebrochen übernommen wird, mag da
schon mehr erstaunen. Aber natürlich
scheinen gerade deshalb die Widersprüchlichkeiten nur umso markanter
auf. Immer wieder offenbart Nawrat die
Kluft, die zwischen dem Gesagten und
der Realität klafft, und vollzieht so auf
der Textebene das Prinzip einer entfremdeten Sprache nach. Das allerdings in
sehr lustvoller Weise.
Täglicher Festschmaus
Schier unerschöpflich scheint das Reservoir an Anekdoten, die illustrieren, wie
die Entfremdung auf das alltägliche Denken und Handeln übergreift. Da wird
etwa eine vollkommen sinnlose Verrichtung wie das permanente Herumrücken
von Regalen, das in dem kleinen Lebensmittelladen genauso wie später im «Paradies» zur Tagesordnung gehört, als seriöse und unbedingt notwendige Tätigkeit
ausgegeben, obwohl ganz offensichtlich
ist, dass es sich nur um eine vorgeschützte Geschäftigkeit handelt, die über die
ausbleibenden Waren hinwegtäuschen
soll. Diese stets mit ornamentaler Umständlichkeit vorgetragenen Unverhältnismässigkeiten entfalten einerseits eine
ungemein komische Wirkung. Umso
mehr, als diese nie direkt benannt werden, sondern sich die Erzähler – genauso
wie ihr Grossvater – in permanenten rhetorischen Relativierungs- und Abwiegelungsschleifen um Kopf und Kragen
reden, um am Ende doch unfreiwillig –
oder gerade gewollt? – bei der Wahrheit
zu landen.
Andererseits und nachgerade im selben Atemzug aber weckt Nawrat auch
die Sinne für die lebensrettende Funktion der Sprache, die ihr gerade dort zu
eigen wird, wo sie das Eigentliche ausblendet: Nur so kann Jurek – wie selbstredend wir alle mit ihm – sich aus der
Misere des Daseins gleichsam am eigenen Sprachschlafittchen herausziehen.
Insofern handelt es sich bei den zahlreichen mehr oder weniger glaubwürdigen Geschichten und Geschichtchen aus
seinem Leben, die er nicht nur anderen,
sondern vor allem auch sich selbst zu erzählen scheint, nicht allein um eine
nachträgliche Heroisierung seiner selbst.
Mindestens so wesentlich scheint der
wärmende Trost zu sein, den das Sprachgewand zu spenden in der Lage ist.
Nicht von ungefähr lautet die liebste
Vokabel Jureks «Delikatessen». Halb
sehnsuchtsvoll, halb beschwörend erhebt dieser Mann – der in Auschwitz, das
bei ihm nur «die weltberühmte Ortschaft
Oświęcim» heisst, beinahe verhungert
Versehrtheiten, die das System ihnen
antut, schützen können. Bezeichnender­
weise gibt es auch in diesem Vorgänger­
roman ein «Paradies»: den Schrottplatz,
auf dem die Kinder das Strandgut der
westlichen Zivilisation abliefern, ohne
dieses als Blendwerk und eigentliches
Unheil zu erkennen.
MARIUSZ FORECKI / EST & OST PHOTOGRAPHY
Grossmeister des Absurden
wäre – selbst die frugalste Mahlzeit zum
Festschmaus. Und glaubt man Jurek,
dann ist er nicht nur im Kaufhaus «Para­
dies», sondern zeitlebens Direktor gewe­
sen. Dass seine Frau Zofia sich hin und
wieder die Bemerkung erlaubt, dass es
sich etwa bei seiner letzten Tätigkeit um
die eines Hausmeisters gehandelt habe,
überhört er geflissentlich. Er ist eben ein
«sogenannter» Direktor.
Üppigkeit wird da behauptet, wo die
Kargheit allzu offensichtlich ist. Einver­
ständnis wird zaghaft reklamiert, wo
Zwang niederdrückt. Der gut erzählte
Witz hallt, mit etwas Glück, lauter nach
als das erfahrene Leid. Das alles ändert
nichts an den Verhältnissen, wohl aber
belässt es dem Menschen immerhin
einen Hauch jener Würde, die ihm die
Umstände abspenstig machen wollten.
«Die vielen Tode unseres Opas Jurek»
liesse sich als Gegenstück zu Nawrats im
Vorjahr erschienenen Roman «Unterneh­
mer» lesen, in dem ein im Schwarzwald
situiertes düsteres Zukunftsszenario der
westlichen Welt entworfen wird. Bereits
die Kinder haben dort den Wirtschafts­
jargon soweit internalisiert, dass sie
weder aus dem kapitalistischen Sprach­
korsett entfliehen, noch sich vor den
In Nawrats Roman
kämpft ein ehemaliger KZ-Häftling
als Ladenbesitzer
mit ökonomischen
Engpässen. Hier:
Lebensmittelgeschäft in Polen, 1987.
Matthias Nawrat steht beiden Systemen,
dem westlichen wie dem östlichen, und
ihren sprachlichen Machtstrukturen mit
Skepsis gegenüber. Der Ton seines jüngs­
ten Romans macht den Unterschied. Sein
Spott ist nie ein bitterer. Vielmehr domi­
niert das Versöhnliche, auch dort, wo
von Drangsalen die Rede ist. Nur vermu­
ten lässt sich, wie gross der autobiografi­
sche Anteil an dem Erzählten ist: Nawrat
selbst hat als Zehnjähriger mit seinen El­
tern seine Geburtsstadt Opole verlassen,
um nach Deutschland zu gehen. Mit «Die
vielen Tode unseres Opas Jurek», der von
einer so herrlichen Komik ist, die sich
bisweilen zu veritabler Albernheit stei­
gert, bisweilen von einer sanft tänzeln­
den Ironie strahlt, und der nur so Funken
schlägt vor Fabulierlust, hat Matthias
Nawrat nicht zuletzt eine Liebeserklä­
rung an seine Heimat mit all ihren Ab­
sonderlichkeiten und dunklen Seiten ge­
schrieben.
Womöglich hätte es gar nicht Not
getan, dass im Verlaufe des Romans
schliesslich auch der Familienname des
Grossvaters Erwähnung findet: Mrożek
lautet dieser. Längst hat der Text selbst
den Beweis geführt, dass Sławomir Mro­
żek, polnischer Grossmeister des Absur­
den und der komischen Entlarvung der
gesellschaftlichen Verhältnisse, als eine
Art Pate über Nawrats Roman schwebt.
Lässt sich diese Reminiszenz als Verbeu­
gung vor dem im Jahr 2013 verstorbenen
Schriftsteller lesen, so bleibt zugleich
voller Freude zu konstatieren, dass die­
ser in Matthias Nawrat einen fabelhaften
Nachfolger gefunden hat. l
Schwester Benediktas Lebensgeschichte
ist eine Inspiration für Suchende,
der eigenen inneren Stimme zu folgen.
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Überall erhältlich, wo es Bücher gibt.
ISBN 978-3-280-05589-2
CHF 26.90 UVP
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Kriminalroman Ermittler Jakob Franck deckt die Lügen einer Mittelstandsfamilie auf
EinfühlsamerSherlockHolmes
Friedrich Ani: Der namenlose Tag. Ein Fall
für Jakob Franck. Suhrkamp, Berlin 2015.
302 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Von Jürg Scheuzger
zu leben. Die Gestalt dieses grauen Mannes gehört zu den überzeugenden Leistungen des Autors, der beim Porträtieren
anderer Gestalten oft einen skurrilen
Humor aufblitzen lässt. Im Zentrum des
Romans steht aber Jakob Franck, der
pensionierte Ermittler. Auch er erscheint
grau, und auch er ist ausweglos allein,
aber er ist, im Unterschied zu vielen Ermittler-Gestalten der gegenwärtigen Kriminalliteratur, nicht depressiv, und er
wird auch nicht, wie so oft, zum Sprachrohr von platter Zeit- und Gesellschaftskritik. Er löst seine Fälle dank seiner
«Gedankenfühligkeit», einem bewusst
herbeigeführten Zustand, der ihm ermöglicht, «das Schreckliche, Unbegreifliche, Unzusammenhängende, das Chaos
und das Labyrinth des Verbrechens als
etwas Natürliches» wahrzunehmen.
Dieses Hineinfühlen und Hineindenken in ein Verbrechen kontrastiert total
mit dem Verfahren, das Sherlock Holmes
und Hercule Poirot die Krimileser gelehrt
haben, und es ist deshalb einsichtig, dass
Anis Roman vom Verlag nicht als Kriminalroman bezeichnet wird. Wer sich auf
Jakob Francks totale Empathie einlässt,
kann viel über die Menschen in ihrer Verlorenheit erfahren. Es wäre schön, Jakob
Franck in den nächsten Jahren besser
kennenzulernen. ●
Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag
Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag
Foto: Klaus Einwanger / © Diogenes Verlag
* unverb. Preisempfehlung
Eine Schülerin begeht Suizid, sie erhängt
sich in einem Münchner Park; ihre Mutter folgt ihr ein Jahr später in den Tod.
Der Vater, aus dem Leben geworfen, geht
20 Jahre später zu dem frisch pensionierten Kriminalhauptkommissar Jakob
Franck. Dieser solle den Fall endlich aufklären – es handle sich um Mord.
Friedrich Ani (*1959) ist ein sehr produktiver Autor, vor allem von Kriminalromanen. Tabor Süden, Polonius Fischer
und Jonas Vogel sind seine bisherigen
Ermittler. Der Roman «Der namenlose
Tag» mit Jakob Franck steht nun offenbar am Beginn einer neuen Reihe, diesmal bei Suhrkamp. Ein Kriminalroman
also, aber erst diesmal, so suggeriert der
Verlagsname, mit literarischem Anspruch. Damit täte man Ani unrecht,
seine Romane waren nie Dutzendware.
Die Toten seiner schwierigsten Fälle
lassen Jakob Franck nicht los, sie sitzen
nachts in seiner Wohnung. Er war im
Amt lebenslang der Todesbote, er meldete den Hinterbliebenen, dass ihr Liebs-
ter, ihre Liebste zu Tode gekommen war.
So sagte er auch der Mutter der 17-jährigen Ester Winther, diese habe sich erhängt. Die Frau schaute ihn an, umfasste
ihn mit ihren Armen und blieb, wimmernd, sieben Stunden lang, in dieser
Umarmung stehen.
Der Vater der Toten sagt über seine
Tochter: «Sie hatte ein heiteres Gemüt
und ein glückliches Zuhause.» Daran ist
kein Wort wahr, und je mehr Jakob
Franck mit seinen Ermittlungen vorankommt, desto klarer wird ihm, wie
Schweigen und Lügen und eine rigorose
Sparsamkeit für Esther lebensverhindernd gewesen sind und wie verzweifelt
und brutal sie sich dagegen gewehrt hat.
Friedrich Ani zeichnet das Bild einer
familiären Hölle im Münchner Mittelstand. Ärmlichkeit, emotionale Kleinlichkeit und Brutalität führen zu Katastrophen, deren Überlebende fürs Leben
versehrt sind. Die Auflösung des Falls ist
banal und absolut entsetzlich und führt
zu der Einsicht, dass schreckliche Eltern
noch schrecklichere Kinder haben.
Friedrich Ani zeichnet seine Gestalten
einfühlsam in wechselnder Erzählperspektive, er verurteilt nicht und zeigt vor
allem anhand des überlebenden Vaters,
was es bedeutet, zwanzig Jahre lang zu
existieren, ohne im eigentlichen Sinne
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Martin Walker
Germany 2064
Ein Zukunftsthriller
Roman · Diogenes
432 Seiten, Leinen,
sFr 32.–*
Kommissar Aguilar
ermittelt 2064. Sein
engster Mitarbeiter:
ein Roboter. Doch
kann er diesem
nach dem letzten
Update noch trauen?
Ein visionärer und
realistischer Thriller
über die Welt von
morgen.
Alle Titel auch als E-Book erhältlich
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
Dennis
Lehane
Am Ende
einer Welt
Roman · Diogenes
400 Seiten, Leinen,
sFr 32.–*
Joe Coughlin hat seine
kriminelle Vergangenheit hinter sich gelassen.
Bis eines Tages aus
heiterem Himmel ein
Kopfgeld auf ihn
ausgesetzt wird und
auf dem Spiel steht,
was ihm am wichtigsten ist: sein Sohn – und
der einzige Freund,
den er hat.
Ein Kommissär im
Unruhestand:
Hunkelers neuer Fall.
Hansjörg
Schneider
Hunkelers
Geheimnis
Der neunte Fall
Roman · Diogenes
208 Seiten, Leinen,
sFr 30.–*
Ein Krimi über
Schweizer Banker,
die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten
Weltkrieg und den Weg
der Achtundsechziger
in der Gesellschaft.
Roman Zeruya Shalev erzählt von einer so packenden wie problematischen Beziehung
zwischen Terror und Leidenschaft
Liebesgeschichteimewig
zerrissenenIsrael
Zeruya Shalev: Schmerz. Aus dem
Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin
Verlag, Berlin 2015. 380 Seiten, Fr. 32.50,
E-Book 20.–.
Es gibt sie also doch, die eine, die grosse,
die unbedingte Liebe. Iris hat sie mit
Eitan erlebt, als sie siebzehn war. Doch
dann verliess er sie, und alles, was danach kam – die Ehe, die Kinder, der Beruf
– fühlte sich an wie zweite Wahl. Dreissig
Jahre später begegnen sich die beiden
durch Zufall wieder. Er ist mittlerweile
Arzt und sie seine Patientin. Und als ob
keine Zeit vergangen wäre, erleben sie
sie noch einmal, die grosse, die unbedingte Liebe, die alles in den Schatten
stellt, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat.
Läse man diesen Plot bei Rosamunde
Pilcher, man wüsste unverzüglich, wie
die Geschichte ausgeht. Nicht so bei
Zeruya Shalev, dieser Spezialistin für
schwierige Beziehungen und komplizierte Liebesangelegenheiten. Zeruya
Shalevs Romane kommen nicht aus der
Retorte. Sie wurzeln tief in der Realität
der israelischen Gesellschaft mit all ihren
Konflikten und Phobien. Auch wenn Politik im eigentlichen Sinn darin kaum
eine Rolle spielt, so ist sie doch als eine
Art bedrohliches Hintergrundrauschen
stets präsent. Dies gilt in besonderem
Masse für Shalevs jüngstes Buch
«Schmerz», in dessen Zentrum ein Ereignis steht, das jeden Israeli ins Mark trifft:
ein Terroranschlag. Die Autorin selbst
wurde 2004 bei einem Selbstmordattentat in Jerusalem schwer verletzt. Der
Schmerz, der jetzt ihrem jüngsten Roman
den Titel gegeben hat, ist seither auch ihr
ständiger Begleiter.
Doppelt traumatisiert
Zehn Jahre später hat das Trauma nun
Eingang in ihr literarisches Werk gefunden. Zehn Jahre ist es auch für ihre Protagonistin Iris her, dass neben ihrem Auto
ein Bus explodierte und sie schwer verletzt zu Boden geschleudert wurde – inmitten von Blut, Geschrei und zerfetzten
Gliedmassen. Wie ein Fanal steht am Beginn des Romans der Satz: «Und plötzlich war der Schmerz wieder da, und sie
erinnerte sich.»
Schmerz und Erinnerung sind in dieser Geschichte eins. Denn hinter dem
physischen lauert noch ein ganz anderer
Schmerz: jener, den Eitan ihr zugefügt
hatte, als er sie nach dem Tod seiner Mutter von einem Tag auf den andern verliess. In Iris’ Erinnerung ist das eine
Trauma vom andern nur schwer zu unterscheiden. Beide halten sie gefangen,
binden sie an die Vergangenheit und hin-
ODED BALILTY / AP
Von Klara Obermüller
2004 selbst
Opfer eines
Terroranschlages
geworden, setzt
Zeruya Shalev
das Thema nun
literarisch um. Hier:
Jerusalem nach einem
Selbstmordattentat,
22.9.2004.
dern sie am Leben im Hier und Jetzt.
Zunächst aber sieht es so aus, als könnte
aus Vergangenheit Gegenwart werden
und aus der alten Liebe eine neue hervorgehen.
Hals über Kopf stürzen sich Iris und
Eitan in ihre alt-neue Beziehung und
holen nach, was sie all die Jahre verpasst
haben. Doch nun sind sie beide keine
Kinder an der Schwelle zum Erwachsensein mehr. Nun ist ihre Beziehung eine
Affäre und Iris eine ehebrecherische
Frau. Das hässliche Wort fällt, als sie einmal von ihrer Haushalthilfe bei einem
Stelldichein überrascht werden, und es
macht Iris schlagartig bewusst, wie prekär und illusorisch ihr Traum von der
wiedererwachten Liebe ist: prekär und
illusorisch wie alles in diesem ewig bedrohten und zerrissenen Land, denkt sie
und erinnert sich einmal mehr daran,
dass ihr Vater im Yom-Kippur-Krieg gefallen ist, dass sie selbst beinahe einem
Terroranschlag zum Opfer gefallen wäre
und dass auch schon die nächste Generation, ihr Sohn, demnächst beim Militär
sein Leben aufs Spiel setzen wird.
Rein äusserlich ereignet sich in diesem doch recht umfangreichen Roman
nicht viel. Zeruya Shalevs Blick geht
nach innen und hinter die Fassade alltäglicher Betriebsamkeit. Ihre Stärke liegt
dort, wo es darum geht, subtilste Empfindungen in Worte zu fassen. Zeruya
Shalev hat zwar Psychologie studiert,
aber als Schriftstellerin analysiert sie
nicht, sondern begnügt sich damit zu
schildern, was ihre Figuren im Innersten
bewegt. Wie viel an autobiografischen
Bezügen in der Romanhandlung enthalten ist, bleibt offen. Das Attentat, ja, das
hat es gegeben. Aber wie steht es mit der
wiedergefundenen alten Liebe? Und wie
mit dem Schicksal der Tochter, die in die
Fänge einer Psychosekte gerät und der
Geschichte letztlich ihre entscheidende
Wende gibt?
Ungeheure Spannung
Wir wissen es nicht, und es ist auch nicht
wichtig. Was zählt, ist die hohe Kunst der
Autorin, sich in ihre Figuren hineinzuversetzen und ihre geheimsten Regungen zu erkunden, ohne je so zu tun, als
besässe sie Kenntnisse, die diesen verborgen sind. Daraus erwächst die Unmittelbarkeit, aber auch die ungeheure
Spannung, die ihre Erzählweise – nicht
zuletzt übrigens auch dank der ausgezeichneten Übersetzung von Mirjam
Pressler – auszeichnet. Zeruya Shalev
schafft es, uns bis fast zuletzt über den
möglichen Ausgang der Geschichte im
Unklaren zu lassen.
Wie, so fragt man sich, wird Iris sich
entscheiden? Wie wird sie je aus diesem
so perfid inszenierten Dilemma zwischen Ehealltag und amourösem Ausnahmezustand wieder herausfinden?
Die Lösung, die uns Zeruya Shalev präsentiert, mag gefühlsmässig nachvollziehbar sein, in der Durchführung wirkt
sie aber leider doch etwas gar plakativ –
ein Einwand, der das Lesevergnügen am
Ende ein wenig trübt, der Qualität dieses
so hochkomplexen und einfühlsam geschriebenen Romans aufs Ganze gesehen
jedoch keinen Abbruch tut. l
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg legt einen Roman über die medizinischen Gräueltaten vor, die während des Zweiten Weltkriegs in einer Erziehungsstätte bei Wien verübt wurden
KinderheimalsTötungsanstalt
Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten.
Aus dem Schwedischen von Gisela
Kosubek. Klett-Cotta, Stuttgart 2015.
525 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 30.90.
Zwischen Fakt und Fiktion
Der schwedische Schriftsteller Steve
Sem-Sandberg aber lässt in seinem
neuen Roman «Die Erwählten» kaum ein
Detail aus und führt seine Leser tief hinein in diese Hölle des nationalsozialistischen Wahns von Rassereinheit und
Volksgesundheit. Die Institution Spiegelgrund ist kein unbeschriebenes Blatt.
Was hier bis Kriegsende geschah, ist in
Tausenden von Akten und durch die
Erinnerungen Überlebender ausführlich
dokumentiert. Sem-Sandberg hat davon
in seinem Roman spürbar und manchmal auch übermässig Gebrauch gemacht.
Als Klammer der Spiegelgrund-Geschichte dienen die Lebenswege von
zwei Figuren, die jeweils authentische
Die Jugendanstalt
Spiegelgrund
war auch schon
Gegenstand von
Filmen. Hier: «Mein
Mörder» (2005).
Vorbilder haben. Da ist Adrian Ziegler,
der als Jugendlicher 1941 in die Anstalt
zwangseingewiesen wird. Und da ist
Anna Katschenka, eine junge Frau, die
im selben Jahr im Spiegelgrund eine Anstellung als Krankenschwester findet.
Adrian kommt aus einer kinderreichen und mittellosen Wiener Familie mit
einer überforderten Mutter und einem
gewalttätigen Vater. Er wird von der Fürsorge aus der Familie genommen, und
damit beginnt seine Odyssee durch Pflegefamilie, Heime, die Tötungsanstalt
Spiegelgrund, die er knapp überlebt, und
später durch mehrere Haftanstalten. Ein
kaputtes Leben, das noch getoppt wird
durch den zynischen Aberwitz, dass derselbe Doktor Heinrich Gross, der im
Spiegelgrund für die meisten Morde verantwortlich war, Adrian in der Nachkriegszeit als längst wieder etablierter
Psychiater zugewiesen wird.
Anna Katschenka, die hier bei ihrem
tatsächlichen Namen genannt wird – genauso wie die leitenden Ärzte Heinrich
Gross, Erwin Jekelius, Ernst Illing und
Margarethe Hübsch –, repräsentiert im
Roman den Tätertypus der pflichtgetreuen Erfüllungsgehilfin. Steve Sem-Sandberg balanciert mit seinem Stoff nicht
zum ersten Mal auf der Schwelle zwischen Historie und literarischer Erfindung. In seinem hochgelobten Roman
«Die Elenden von Lodz» über das Leben
und Sterben der Juden im polnischen
Ghetto verschmolz der Autor dokumentarisches Material aus der Ghetto-Chronik mit der teilweise fiktionalisierten
Biografie des umstrittenen Judenältesten
Chaim Rumkowski, der den Nazis bei
den Deportationen zu Diensten stand,
um nach eigener Aussage Leben zu retten. Sem-Sandberg entwarf in diesem
Buch ein beeindruckendes Psychogramm eines Mannes, der als Opfer zum
Täter wurde.
Aber man konnte auch unangenehm
berührt sein von Sem-Sandbergs Einfall,
dem Judenältesten eine Kindheit als gehänselter Aussenseiter anzudichten und
ANDREI
MIHAILESCU
Über das Leben, die Liebe und die kleinen Fluchten in einer
gnadenlosen Diktatur: »Andrei Mihailescu versteht es, klug und
virtuos die Tonlage zu modulieren, bald glaubt man einen politischen Thriller zu lesen, bald einen hinreissenden Liebesroman.«
-Book. www.nagel-kimche.ch
Die Bezeichnung «Jugendfürsorgeanstalt» sprach dem wahren Zweck der Einrichtung Am Spiegelgrund Hohn. Es war
kaschiert als Erziehungsheim und Nervenheilanstalt. In Wahrheit wurden hier
vor den Toren Wiens in den Jahren zwischen 1940 und 1945 mindestens 800
junge Menschen ermordet. Opfer waren
Kinder und Jugendliche aus schwierigen
Verhältnissen, Behinderte, psychisch
Kranke, zu «Spezimen» und Experimentiermaterial herabgewürdigt.
Eilfertige Ärzte und Schwestern verabreichten entsprechend den Anweisungen aus Berlin ihren jungen «Patienten»
sogenannte «Schwefelkuren». Sie spritzten ihnen hohe Dosen Alkaloide, die die
Darmschleimhaut auflösten, und nahmen Lumbalpunktionen vor, um Nervenflüssigkeit aus der Wirbelsäule abzuzapfen. Unvorstellbare Grausamkeiten
spielten sich im Spiegelgrund ab. Qualvolle Prozeduren, die man eigentlich
nicht näher erläutert haben möchte.
DDP
Von Angela Gutzeit
Foto: © Giorgia Müller
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung
352 Seiten. Gebunden. Auch als
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<wm>10CFXKIQ4DMQxE0RM5mrFrW25gFRYtWC0PWRX3_qhKWcEHX3pzdm_49RrHNc7u5UVJmofuaZrRWdrSo6OYCvqTAadF_XEBKwy2NhGUMBdD8BCzZdD2ud9fvbuxjnEAAAA=</wm>
Roman Leila S. Chudori arbeitet ein dunkles Kapitel Indonesiens auf
Leila S. Chudori: Pulang. (Heimkehr
nach Jakarta). Aus dem Indonesischen
von Sabine Müller. Weidle, Bonn 2015.
430 Seiten, Fr. 38.90.
Von Janika Gelinek
Wenn sich beckmesserisch addieren liesse, woraus ein gutes Buch besteht, wäre
der vorliegende Roman rund um den
indonesischen Journalisten und Koch
Dimas Suryo, der seit 1965 im Pariser Exil
lebt, eher nicht darunter: Zu viele unbeholfene Dialoge, zu viele Redundanzen,
zu viele Füllwörter und Synonyme. Doch
mit den Grundrechenarten lässt sich die
Qualität eines Romans bekanntlich
schwer beschreiben, und so lohnt sich
trotz der stilistischen Schwächen ein genauerer Blick auf dieses nicht zuletzt
sehr schön gestaltete Buch.
An einem Abend im April 1968 wird
Dimas’ Vorgesetzter und Freund,
Hananto Prawiro, nach dreijährigem Versteckspiel von Schergen des indonesischen Geheimdienstes in einem Fotostudio in Jakarta aufgespürt und verschwindet für immer. Was der Beginn eines
spannenden Thrillers sein könnte, ist jedoch nur eine von vielen Episoden, mit
denen Leila S. Chudori das Thema ihres
Romans einkreist: das Massaker an Mitgliedern und vermeintlichen Sympathisanten der Kommunistischen Partei PKI
in Indonesien im Oktober 1965 unter General Suharto.
Bis heute ist über die genauen Hintergründe dieses Massenmordes, dem mindestens eine halbe Million Menschen
zum Opfer fiel, wenig bekannt, ebenso
wenig über die zahllosen Emigranten,
denen jahrzehntelang die Rückkehr
nach Indonesien verwehrt war. Zu
ihnen gehört auch Dimas, und allein die Struktur des Romans vermittelt ein Gefühl für die Beklemmungen des Exils, in dem
Überlebender als Vorbild
Sehr viel eindrücklicher dagegen ist die
Zeichnung von Adrian Zieglers Lebensund Leidensweg. Er gewinnt Gestalt in
einem teilweise nahtlosen Ineinandergreifen von Erzählerperspektive und
kursiv gesetzter erlebter Rede, in der
Adrian sich an den «beständigsten Ort»
seiner Kindheit erinnert, an die vier
Jahre im Spiegelgrund, an die Demütigungen dort, die drakonischen Strafen,
die Überlebenstechniken, die gegenseitigen Quälereien der Opfer, an die Einsamkeit und an das Sterben. Das Vorbild für
Adrian ist der 1929 in Wien geborene
Friedrich Zawrel. Dass er dem Autor
seine Lebensgeschichte erzählt hat, geht
aus Sem-Sandbergs Nachwort hervor.
Nicht zuletzt diesen Gesprächen und
dieser Stimme ist es wohl zu verdanken,
dass man nach der Lektüre des Romans
die Geschichte der Jugendfürsorgeanstalt Spiegelgrund als Ort nationalsozialistischer und medizinischer Barbarei
nicht so schnell wieder vergessen wird.
Friedrich Zawrel ist im Februar dieses
Jahres gestorben. l
Die Autorin Leila S.
Chudori schreibt
vom Gefühl der
Beklemmung im Exil.
er und drei seiner Freunde auszuharren
gezwungen sind. Denn die Erzählweise
folgt keiner hollywoodesken Suspense,
sondern springt scheinbar willkürlich
vor und zurück und umkreist aus verschiedenen Perspektiven immer wieder
dieselben Ereignisse. Die chaotische
Flucht, die vorsichtige Annäherung an
Paris, die Gründung des Restaurants
Tanah Air, Begegnungen mit dem Geheimdienst und die quälende Sehnsucht
nach Jakarta werden von vielen Stimmen erzählt: von Dimas selbst, seiner
Frau Vivienne, seiner Tochter Lintang,
oder auch von Alam, dem Sohn seiner
ersten grossen Liebe, der 1998 mit
Lintang in Jakarta den Sturz Suhartos
verfolgt, mit dem der Roman schliesslich
endet.
Immer wieder wird in dem Buch die
Erinnerung auf den Plan gerufen und die
Frage gestellt, wie man, ohne auch nur
das Geringste verbrochen zu haben, so
unwiederbringlich von seiner Heimat getrennt werden kann. Auch wenn Dimas
Suryo und seine Freunde vermeintlich
längst angekommen sind, zeigt Chudoris
Roman die Fassungslosigkeit
über das, was
ihnen allen
angetan
wurde und
bis
heute
noch immer
weitestgehend im
Dunkeln
liegt. l
MUHAMMAD BINTANG ADAMAS
damit in gewissem Sinn Rumkowskis
späterem Handeln eine biografische Erklärung unterzuschieben. Diese Psychologisierung, dieses Hineinschlüpfen in
das Innere der Figuren ist eine sehr wirksame Methode zur Intensivierung des Erzählstoffs, aber gerade bei dieser «Reanimierung» historischen Materials eben
auch manchmal eine heikle Angelegenheit. Im Spiegelgrund-Roman setzt der
Autor seine Figuren nun ganz ähnlich in
Bewegung. Wieder begegnen wir einem
Mix aus Dokumentarischem und Erfundenem, der auch in diesem Roman nicht
immer überzeugend gewichtet ist.
So sind etwa die im Buch dokumentierten Aussagen der Krankenschwester
Katschenka vor Gericht in ihrem späteren Prozess sehr viel aussagekräftiger in
ihrer Mischung aus Naivität und leugnender Penetranz als das, was der Erzähler über Katschenkas Erinnerungen,
Skrupel und Gefühle zu sagen weiss.
Sehnsuchtnachder
verlorenenHeimat
DIE NOMINIERTEN 2 015
VERBEUGUNG VOR SPIEGELN. ÜBER DAS EIGENE UND DAS FREMDE
Martin R. Dean
JUNG UND JUNG VERLAG
DAS PRIMÄRE GEFÜHL DER SCHULDLOSIGKEIT
Dana Grigorcea
DÖRLEMANN VERLAG
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ELEFANTEN IM GARTEN Meral Kureyshi
2 015
LIMMAT VERLAG
WIE WIR ÄLTER WERDEN Ruth Schweikert
EINS IM ANDERN Monique Schwitter
S. FISCHER VERLAG
LITERATURVERLAG DROSCHL
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Die Deutsch-Russin Alina Bronsky schreibt über eine alte Frau, die sich für ein Leben in
strahlenverseuchtem Gebiet entscheidet
EndstationTschernobyl
Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
160 Seiten, Fr. 22.90, E-Book 15.–.
Von Sandra Leis
Sie ist klein, rund und «keine 82 mehr»,
und sie will sich im Alter von niemandem mehr vorschreiben lassen, wie sie
zu leben hat: Baba Dunja. Deshalb hat
sich die resolute Alte nach ihrer Pensionierung als Krankenschwester entschieden, in ihr Heimatdorf Tschernowo zurückzukehren. «Ich bin alt, mich kann
nichts mehr verstrahlen, und wenn
doch, dann ist es kein Weltuntergang»,
erklärt sie ihrer Tochter, die in Deutschland als Ärztin arbeitet.
Auf der Landkarte existiert Tschernowo nicht; die alten Frauen von Tschernobyl aber, die an den Ort der nuklearen
Katastrophe zurückgekehrt sind, die gibt
es tatsächlich. Verschiedene Medien berichteten über die Unerschrockenen, und
auf Facebook liess die amerikanische
Bestsellerautorin Elizabeth Gilbert («Eat,
Pray, Love») ihrer Bewunderung für
diese Frauen freien Lauf. Sie schwärmte
von der weiblichen Selbstbestimmung
und steckte damit auch die junge Schriftstellerkollegin Alina Bronsky an. Sie, die
PRO LITTERIS
Natur in der Kunst Anschauung und Empfindung
Wenn sie nicht so horizontal im Bildraum verteilt wären,
könnten wir uns unter den Linien und Flecken Nervenbahnen mit ihren Knoten vorstellen. Je nachdem, wie
sehr sie beansprucht sind, leuchten sie in intensiveren
Farben. Bernd Koberling hat seine grossformatige Malerei 2001 als «Sonnengestein II» bezeichnet. Die Energie
unseres Zentralgestirns liefert die Referenz für die
Kraft der Farbpunkte und bleibt doch entfernt genug,
dass wir Raum haben, unsere eigenen Vorstellungen zu
entwickeln. Der 1938 geborene Berliner Maler wird
gerne zum Umfeld der Neuen Wilden gezählt. Seit er
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
durch Dieter Roth in den siebziger Jahren aber Island
entdeckte, sucht er der Naturerfahrung auf vielfältige
Weise Ausdruck zu geben. Koberlings Bilder gehören
zu den Entdeckungen, die ein Band zur Auseinandersetzung mit der Natur in der Kunst bereithält. Er schlägt
anlässlich einer Ausstellung (Kunstmuseum Ravensburg, bis 8.11.) einen Bogen von Skizzen aus dem
14. Jahrhundert bis heute. Gerhard Mack
Ich bin eine Pflanze: Naturprozesse in der Kunst. Hrsg. v.
Nicole Fritz. Kerber, Bielefeld 2015. 152 Seiten, 91 Abbildungen, Fr. 46.90.
1978 im russischen Jekaterinburg zur
Welt kam und seit 1991 in Deutschland
lebt, hat einer solchen Heimkehrerin
jetzt ein literarisches Denkmal gesetzt.
Indes erzählt Bronsky weder vom Leben
ihrer Grossmutter oder Grosstante, noch
hat sie vor Ort recherchiert («Dafür bin
ich nicht mutig genug, tut mir leid»), wie
sie in einem Interview erklärte.
Die titelgebende letzte Liebe ist ein
autarkes Leben. Baba Dunja ist
Selbstversorgerin und meistert ihre Tage
in einem geruhsamen Trott. Auf fliessendes Wasser muss sie verzichten, und
auch eine Telefonleitung gibt es nicht.
Eine Dorfgemeinschaft existiert ebenfalls nicht – im Grunde genommen ist
jeder froh, wenn er in Ruhe gelassen
wird. Die wenigen Alten sind eigenbrötlerisch und geben ein ziemlich skurriles
Figurenkabinett ab. Trotzdem will Baba
Dunja nirgendwo sonst leben. Es sei «die
Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine
Zeit. Es gibt keine Fristen und keine Termine. (…) Von uns erwartet niemand
etwas».
In Alina Bronskys rasantem Erstling
«Scherbenpark» (2008) kotzt sich eine
blitzgescheite 17-Jährige die Seele aus
dem Leib und befreit sich aus dem
Russenghetto. Im Roman «Die schärfsten
Gerichte der tatarischen Küche» (2010)
räumt die Autorin auf mit dem Bild von
der duldsamen Babuschka und erzählt
statt dessen von einer selbstherrlichen
und cleveren Grossmutter. Und nun
schreibt Bronsky einen Roman über eine
Tschernobyl-Heimkehrerin, die schlagfertig und mit viel Mutterwitz ihr Leben
in die Hand nimmt. Der «BronskySound» ist unverkennbar, doch die IchPerspektive ist auf Dauer störend: Da lebt
eine in der Todeszone von Tschernobyl
und quatscht uns buchstäblich die Ohren
voll. Sie steht immer mitten drin in ihrem
Alltag; über Tschernobyl und die Folgen
denkt sie kaum je nach. Distanz und Analyse sind ihre Sache nicht.
2016 Jahr jährt sich die Katastrophe
von Tschernobyl zum 30. Mal. Dieser
kleine Roman wird dann keine Rolle
spielen, weil er zu sehr an der Oberfläche
bleibt und seine Ich-Erzählerin die Ereignisse zum eigenen Schutz verharmlost.
Trotzdem bleibt einem das Buch in Erinnerung, allerdings aus einem ganz anderen Grund: Alina Bronsky beschreibt anrührend, was es heisst, wenn Familien
auseinandergerissen werden. Der Sohn
hat sich in die USA abgesetzt; die Tochter
schickt zwar regelmässig Pakete und
Briefe, doch etwas Substanzielles steht
kaum je drin, denn sie schont die Mutter
(und umgekehrt) und verheimlicht
lange, dass die Ehe in die Brüche gegangen und die Enkelin abgehauen ist.
Grossmutter und Enkelin haben einander noch nie gesehen – der Wunsch danach aber ist unglaublich gross. Es sind
diese Sehnsucht und das Nicht-darüberreden-Können, die dem Buch Dringlichkeit geben. Wie sagt die Alte einmal?
«Wenn Dinge besonders wichtig sind,
dann redet man nicht über sie.» ●
Kurzkritiken Schweizer Buchpreis
Meral Kureyshi: Elefanten im Garten.
Limmat, Zürich 2015. 140 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 21.90.
Monique Schwitter: Eins im Andern.
Droschl, Graz 2015. 232 Seiten, Fr. 27.90,
E-Book 17.90.
EINE GROSSE,
BEWEGENDE
GESCHICHTE
über verlorene
Erinnerungen, Liebe,
Rache und Krieg
Ruth Schweikert: Wie wir älter werden.
S. Fischer, Frankfurt am Main, 2015.
271 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–.
Martin R. Dean: Verbeugung vor Spiegeln.
Essays. Jung & Jung, Salzburg 2015.
104 Seiten, Fr. 22.90.
Das lange erwartete neue Buch von Ruth
Schweikert (*1965) ist erst das vierte seit
ihrem Prosadebüt «Erdnüsse. Totschlagen» von 1994 und erst der dritte Roman
nach «Augen zu» von 1998. Dennoch ist
es charakteristisch für das Werk der ehemals gefeierten Nachwuchshoffnung.
Die Erkundung familiärer Beziehungen
ist Schweikerts ureigenes Thema. In
«Wie wir älter werden» zeichnet sie die
Geschichte eines Mannes mit Doppelleben nach. Jacques hat sowohl mit seiner Ehefrau Friederike wie mit seiner
einstigen Studienliebe Helena Kinder.
Dem Nachwuchs wird die Wahrheit verschwiegen, solange es geht, und so
kommt es, wie es kommen muss: Die
Menschen leiden an ihrem Leben. Sie
nehmen Lücken wahr, ohne sie orten
oder füllen zu können. Und am Ende,
wenn die Erwachsenen endlich mit der
Wahrheit herausrücken, ist es zu spät.
Regula Freuler
Der 1955 im aargauischen Menziken geborene Schriftsteller Martin R. Dean war
als Sohn einer Schweizerin und eines aus
Trinidad stammenden Arztes indischer
Herkunft schon immer ein Mensch mit
grosser Sensibilität für Zwischenwelten,
Grenzen, für das Fremde im vermeintlich Vertrauten. Davon sprechen seine
Romane ebenso wie die Texte in diesem
schmalen, aber gehaltvollen, auf einen
wunderbar ruhigen Ton gestimmten Essayband. Er vereint autobiografische Betrachtungen mit Reflexionen zum eigenen Schreiben des Romanciers sowie mit
Würdigungen von Autoren wie Thomas
Mann und Elias Canetti. Dean erweist
sich in diesen Texten als wacher, neugieriger Melancholiker. Der paradoxe Titel
«Verbeugung vor Spiegeln» bringt auf
den Punkt, worum es ihm geht. Demut,
Skepsis und Selbstbewusstsein finden
hier aufs Schönste zusammen.
Manfred Papst
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(*empf. VK-Preis)
Monique Schwitter (*1972) erntete beim
diesjährigen Bachmann-Preis viel Lob,
ging dann aber doch leer aus. Die Schriftstellerin, die erstmals 2005 mit dem Erzählungen-Band «Wenn’s schneit beim
Krokodil» auf sich aufmerksam gemacht
hat, las Anfang Juli in Klagenfurt aus
ihrem damals noch unveröffentlichten
zweiten Roman «Eins im Andern». Es ist
ein Reigen verflossener Lieben der IchErzählerin, die mit der Autorin viel gemeinsam hat. «Ein autobiografisches Experiment», nennt die seit zehn Jahren in
Hamburg lebende Zürcherin es. Angefangen hat es mit einer Google-Recherche, bei der die Erzählerin mit Schrecken
vom Selbstmord ihrer ersten grossen
Liebe erfährt. Und so entspinnt sich eine
vielschichtige, eindringlich formulierte
Reise in die Vergangenheit, die sehr viel
mit der Gegenwart zu tun hat. «Eins im
Andern» steht auch auf der Shortlist des
Deutschen Buchpreises.
Regula Freuler
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416 Seiten I Leinen I CHF 30,90* I Auch als E-Book
Der gewaltige, intensive und spannende neue Roman des britischen
Bestsellerautors nimmt uns mit
auf eine tiefgründige und faszinierende Reise durch das Britannien
des 5. Jahrhunderts.
Kazuo Ishiguros unprätentiöser
und zugleich betörender Realismus
macht ihn zu einem feinsinnigen
Meister des Erzählens.
© iStock
Die junge Schweizer Autorin Meral
Kureyshi wurde 1983 im ehemaligen Jugoslawien geboren; 1992 kam sie mit
ihrer Familie nach Bern. Sie hat am Literaturinstitut in Biel studiert und das
Lyrikatelier in Bern gegründet; «Elefanten im Garten» ist ihr erster Roman. Der
anrührende, intensive Text ist biografisch grundiert und erzählt von einem
Mädchen aus Prizren, das hin und her
gerissen ist zwischen seiner alten und
seiner neuen Heimat. Auf der einen Seite
steht das farbige Chaos auf dem Balkan,
auf der anderen die trostlose Siedlung
Bethlehem bei Bern. Der Vater ist unvermittelt gestorben, die Mutter findet sich
in der Schweiz nicht zurecht. Doch Meral
Kureyshi verfällt nicht in den Fehler simpler Romantisierung. Mit wachen Sinnen
und einer bemerkenswert poetischen
Sprache, die sie sich ja erst erobern musste, beschreibt sie ein Leben, das von Migration und Entfremdung geprägt ist.
Manfred Papst
Leseprobe auf blessing-verlag.de
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Porträt
Die 36-jährige Wahlzürcherin Dana Grigorcea wurde in Klagenfurt ausgezeichnet und ist jetzt
für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ein Gespräch über ihre Heimatstadt Bukarest, die Lust des
Flanierens und Michael Jackson. Von Regula Freuler
«Ichbinkeine
Exilantin.Ichbinja
nichtgeflohen»
Auf dem Parkplatz stehen zwei Männer vor
einem geöffneten Kofferraum, auf der Hutab­
lage liegen – was? Edelsteine? Einer der Männer
prüft die Ware mit einer Lupe. Drinnen im Café
ein ähnliches Bild: Vier Feiste an einem Tisch­
chen. Uhren zirkulieren. So kennt man das doch
aus Fernsehkrimis, gerne mit Hehlern osteuro­
päischer Herkunft bestückt. Aber wir sind hier
nicht etwa in ein Filmset getrampelt, sondern
treffen die aus Rumänien stammende Dana Gri­
gorcea an einem unschuldigen Samstagmorgen
in einem poshen Café in Zürichs poshem Kreis 1.
So viel zu Stereotypen.
Stühlchen in der Oper
Mit ihnen hat Grigorceas Roman so wenig ge­
mein wie die Autorin selbst. Sie eilt an den Ge­
schäftsherren vorbei und bittet atemlos um Ver­
zeihung für die Verspätung: «Die Kinder wollten
mich einfach nicht gehen lassen.» Drei und fünf
Jahre alt sind sie und werden heute Vormittag
vom Vater versorgt, dem Schriftsteller Perikles
Monioudis, sowie von den aus Bukarest ange­
reisten Grosseltern. Dana Grigorcea ist zu Fuss
Dana Grigorcea
1979 in Bukarest geboren, besuchte Grigorcea
die deutschsprachige Schule. Ab 1998 studierte
sie Deutsche und Niederländische Philologie in
Bukarest sowie Film- und Theaterregie in Brüssel, anschliessend Journalismus an der DonauUniversität Krems. Sie arbeitete für Zeitungen,
Radio und Fernsehen sowohl in ihrer Heimat wie
auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und
der Schweiz; sie war Dozentin an der HTW Chur
und an der ZHdK. Seit 2007 lebt sie in Zürich. Sie
ist verheiratet mit dem aus Glarus gebürtigen
Schriftsteller Perikles Monioudis, die beiden
haben zwei Kinder. 2011 erschien Grigorceas Debütroman «Baba Rada». Mit einer Passage aus
ihrem Zweitling «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» (Dörlemann, Zürich 2015. 220 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 20.90) gewann sie beim Bachmann-Lesen in Klagenfurt den 3Sat-Preis.
gekommen. Sie ist eine leidenschaftliche Spa­
ziergängerin. Das weiss man seit dem Präsen­
tationsvideo zum Bachmann­Wettbewerb, auf
dem die 36­Jährige in einem flatternden roten
Sommerkleid und strahlend weissen Turnschu­
hen durch Zürich hüpft, schlendert, schreitet.
Eine zierliche Flaneurin. Anfang Juli wurde sie
für ihren zweiten, damals – wie es das Regle­
ment vorsieht – noch unveröffentlichten Roman
«Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» mit
dem 3Sat­Preis ausgezeichnet. Inzwischen ist
das Buch erschienen, es hat viel Lob geerntet
und ist jetzt für den Schweizer Buchpreis nomi­
niert, der am 8. November vergeben wird.
Seit Klagenfurt ist vieles anders. Einladungen
zu Lesungen und Dichtertreffen füllen Grigor­
ceas Posteingang, Agenten wollen sie vertreten,
Journalisten bitten um Termine. «Es ist viel zu
schön, um wahr zu sein», sagt sie und strahlt. Ihr
Lachen ist laut und ansteckend, und es erklingt
oft an diesem Morgen. Sie schwärmt von ihrer
Verlegerin Sabine Dörlemann, die ihr in Klagen­
furt «beigestanden» hat. «Es war so heiss, ich
fürchtete zu zerfliessen», erinnert Grigorcea sich
lebhaft. Darum setzte sie sich vor der Lesung in
den gekühlten Presseraum und hörte Musik.
«Wie ein Fussballer vor dem Spiel.» Keine auf­
peitschenden Rhythmen, sondern «I Capuleti e i
Montecchi» von Bellini. Die Schriftstellerin ist in
ihrer Freizeit Statistin am Opernhaus Zürich.
Die Liebe zur klassischen Musik währt seit
Kindheitstagen: Aufgewachsen ist Grigorcea
gegenüber der Bukarester Oper. Als Dreijährige
begann sie mit Ballett, später sang sie im Chor.
«An der Oper fanden mich alle süss. Sie haben
mir ein Stühlchen hingestellt, damit ich zu­
schauen konnte. Es blieb dort, bis ich aus Buka­
rest weggezogen bin.» Das tat sie, um nach
einem Abschluss in Deutscher und Niederländi­
scher Philologie im Ausland zuerst Regie und
danach Journalismus zu studieren. Es folgten
Aufträge in verschiedenen Ländern für verschie­
dene Medien, bis sie in Berlin ihren zukünftigen
Ehemann kennenlernte. Er lud sie in die Schweiz
ein, und dort blieben sie. Seit acht Jahren wohnt
das Paar in Zürich, inzwischen sind sie zu viert.
Angesprochen auf ihre Wanderjahre erzählt
die Autorin von einer Veranstaltung, bei der
sie als Vertreterin der Exilliteratur vorgestellt
wurde. «Ich bin aber keine Exilantin. Ich bin ja
nicht geflohen», sagt sie. Sie habe das grosse
Glück, flanierend durch die Welt gehen zu dür­
fen. «Das klingt unfassbar angesichts der Flücht­
lingskrise», sagt sie und betont: «Ich habe nie
weg müssen, sondern es zog mich einfach stets
woanders hin.» Rassismus oder auch nur Be­
fremden habe sie nie zu spüren bekommen. Der
Erste und Einzige, der sie in Zürich auf ihre Her­
kunft angesprochen habe, sei der ehemalige
Stadtpräsident Elmar Ledergerber gewesen.
«Nach einem Anlass im Literaturhaus sagte er zu
mir: ‹Lassen Sie mich raten: Sie kommen aus
dem Tessin.›» Sie muss erneut lachen.
TV mit Farbfolie
Die Wohnung ihrer Eltern liegt in der Bukarester
Innenstadt. «Ich habe diese fast nie verlassen,
denn alles war dort: Schwimmbad, Eisbahn,
Tennisarenen, Schulen, Universität, die Oper,
die Kinos.» In einem dieser Kinos hat sie als
Simultanübersetzerin gearbeitet – wie die be­
rühmte Irina Nistor, mit deren Stimme das ganze
Land vertraut war: In Rumänien sprach man ein­
fach über die fremdländische Tonspur.
Grigorceas Mutter war Arabistin und hat
25 Jahre in Bagdad und Tripolis als Dolmetsche­
rin gearbeitet. «Alle Kulturgüter, die uns wäh­
rend Ceausescu erreichten, kamen über die ‹ara­
bische Filiale›», erzählt die Autorin. Etwa Abba­
Musikkassetten mit arabischer Beschriftung.
Vieles beschlagnahmten die Grenzbeamten,
doch den Videorecorder liessen sie durch,
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
Die Eltern tauschten im
Sozialismus edle Möbel und
Gemälde gegen Esswaren. Die
Bücher in Leder mit Goldschnitt hingegen besitzen sie
heute noch.
DAN CERMARK
Wie Freundschaften die Wende überstanden haben, beschäftig Dana Grigorcea im Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit». (Zürich, 5.9.2015)
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Porträt
WERNER OTTO / VARIO IMAGES
▲
ebenso den Fernseher. «Wir hatten ein
Farbgerät – ein richtiges!», ergänzt sie und spielt
damit auf ihren Roman an: Ein Freund der Familie der Protagonistin hatte bunte Folie auf sein
Schwarz-Weiss-Gerät geklebt. Grigorceas Vater
war Bauingenieur und studierte nach der Wende
Jura. Er vertrat die Familie in zahlreichen Restitutionsprozessen, um die durch die Kommunisten enteigneten Güter zurückzubekommen.
Für kommunistische Verhältnisse erlebte die
Autorin eine «bourgeoise» Kindheit. Sie besuchte eine deutsche Schule. Dazu musste man eine
deutsche Herkunft belegen. Also durchforschten die Eltern den Stammbaum, den der Urgrossvater, ehemaliger Bukarester Bürgermeister und Rektor der Rechtsuniversität, aufgestellt
hatte und der bis ins Jahr 1200 zurückreicht. Ein
päpstlicher Nuntius findet sich da, auch ein Aussenminister sowie Ordensträger. Und ein gewisser Zotta. «‹Das klingt doch deutsch!›, sagten
meine Eltern zum Schuldirektor, und so wurde
ich aufgenommen.»
Naive Wendekinder
Ihr Roman ist ein sinnliches,
facettenreiches Porträt
von Bukarest und ebenso ein
politisches Buch. Das zeigt
sich in den Begegnungen, die
virtuos verflochten sind.
Im sozialistischen Rumänien der 80er Jahre erlebte Dana Grigorcea eine «bourgeoise» Kindheit. (Bukarest 1980).
aus Erzählungen kennt, die ihnen jetzt als Kulisse für Touristenfotos dienen. Der Roman ist ein
facettenreiches, sinnliches Porträt von Bukarest, erzählt durch die Augen von Victoria, einer
jungen Bankangestellten, die nach einem seltsamen Überfall auf ihre Filiale beurlaubt wird und
nun herumstreift. Ihre Begegnungen werden
virtuos ineinandergeschichtet, solche mit ihren
Eltern, mit vergangenen Liebschaften sowie mit
Codrin, dem Freund aus Kindheitstagen, der
nun politisch aktiv ist. Und natürlich mit Mémé,
der Grossmutter, einer zentralen Figur in Victorias Leben.
Es ist ein autobiografisch grundierter Roman:
Auch Grigorcea ist hauptsächlich von ihren
Grosseltern aufgezogen worden. «Sie haben die
Zeit der Kommunisten quasi übersprungen. Wie
eine Unpässlichkeit. Meine Grossmutter hat nie
die neuen Namen der Strassen verwendet.» Die
Enkelin übernahm das. «Darum hört sich mein
Rumänisch antiquiert an.» In ihrem ersten
Roman, «Baba Rada», erzählt eine alte Frau.
Trotzdem bezeichnet Grigorcea das Buch als
autobiografisch: «Ich habe die Welt ja lange
durch die Augen einer solchen betrachtet.»
Auch andere Passagen im neuen Roman flossen aus dem Leben der Schriftstellerin ein, etwa
der Auftritt von Michael Jackson 1992 in Bukarest. Drei Jahre waren seit der Exekution Ceausescus vergangen. 70000 Jugendliche jubelten
dem King of Pop zu. Und was sagte der Amerikaner? «Hello, Budapest!» Heute lacht die Autorin,
damals war es ein Schock. Sie verehrte den Sän-
Onlineshop für secondhand
Lektüre mit über 50 000
Büchern
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<wm>10CFXKrQ6AMAxF4Sfqcm9Lt5VJgiMIgp8haN5f8eMQx5x8y9I84Wua133eGoHBRTXgzw9PWnJjWCIbglTQRxYYVb3-uICRDdZfIwghO4tARa3XgnQd5w3jQQmCcQAAAA==</wm>
Kontakt: info@buchplanet.ch
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14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
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ger, besass vom selben Album eine zweite Kassette und obendrauf eine CD – als Notvorrat.
Viele solche Episoden machen das Buch zu
einem politischen. «Es ärgert mich, dass jetzt
eine Generation die Zügel in die Hand bekommt,
ohne sich für die Vergangenheit zu interessieren. Dabei muss man sie doch kennen, um die
Gegenwart zu begreifen.» Sie meint damit den
unfassbaren Umstand, dass mit Victor Ponta ein
Ministerpräsident im Amt sein kann, obwohl er
der Korruption und anderer Vergehen wie Plagiat, Geldwäscherei, Steuerhinterziehung angeklagt ist. Die Antikorruptionsbehörde scheint
unfähig. Noch im November, als all das schon
bekannt war, wurde Ponta mit über 40 Prozent
der Stimmen wiedergewählt. Wie kann das sein?
Im Echokeller
«Rumänien hat eine grosse Manipulationsmasse. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Bevölkerung auf dem Land ist uninformiert.» Grigorcea hatte an einen Sieg der ehemaligen Justizministerin Monica Macowei geglaubt. «Aber
das ist das Trügerische an sozialen Medien und
Freundeskreisen: Man bewegt sich in einem
Echokeller. Wir lachen über Ponta, aber die Welt
drumherum wählt ihn dann.»
Doch Grigorcea wäre keine positive Denkerin,
wenn sie nicht weiterkämpfte, mit Wahlzetteln
und Prosa. Und jetzt, an diesem Samstagmorgen
im September, steht sie auf und macht sich mit
federndem Schritt auf zur Demonstration «Refugees welcome». l
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch
Die kleine Dana war stets umgeben von edlen
Möbeln und Gemälden aus der Zwischenkriegszeit. «Meine Eltern haben vieles davon für Esswaren eingetauscht. Aber die Bücher in Leder
mit Goldschnitt haben sie immer noch», sagt die
Autorin. «Meine Mutter war auch entsetzt, als
sie sah, dass wir hier in Zürich kein Zimmer eigens für die Bibliothek haben.» An materielle
Not kann sie sich nicht erinnern. «Was nicht
heisst, dass meine Eltern nicht welche empfunden hätten», sinniert sie. «Aber als Kind fallen
einem eben andere Dinge auf.» Zum Beispiel das
Misstrauen. «Oft fragten sie mich: ‹Was hast du
erzählt? Was haben die anderen erzählt?› Das
hat mich geprägt.» Wie konnte man erkennen,
wer ein wahrer Freund ist? «Es ist schon seltsam, wie sich manche Verbindungen erhalten
haben nach der Wende.»
Dies ist denn auch das grosse Thema in Grigorceas Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit». Sein Titel spielt auf die Naivität der
Wendekinder an, also jener Generation, die
nach dem Öffnen des Eisernen Vorhangs aufgewachsen ist und die Diktatur Ceausescus nur
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
Der Abschied von einer
langen und wichtigen
Arbeit ist immer mehr
traurig als erfreulich.
Kurzkritiken Sachbuch
Hyeonseo Lee mit David John: Schwarze
Magnolie. Heyne, München 2015.
416 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.90.
Arnd Bünker, Hanspeter Schmitt (Hrsg.):
Familienvielfalt in der katholischen Kirche.
TVZ, Zürich 2015. 148 Seiten, Fr. 28.90.
Als Kind glaubte die heute 35-jährige
Hyeonseo Lee aus Nordkorea, im «besten
Land der Welt» zu leben. Ihr Vater war
hoher Staatsbeamter. Das Mädchen
musste sich aber auch öffentliche Hinrichtungen ansehen und erleben, wie
Unangepasste vom Geheimdienst abgeholt wurden. Eines Tages unternahm sie
als Teenager heimlich eine Reise über
den Grenzfluss ins verlockende China.
Dort fürchtete sie sich wegen drohender
Sanktionen aber vor der Rückkehr,
schlug sich 10 Jahre als Illegale durch, bis
ihr schliesslich die Ausreise nach Südkorea gelang. Mit den Angehörigen in Nordkorea hielt sie auf verschlungenen Wegen
Kontakt. Die Familiengeschichte berührt
und hinterlässt zugleich einen beklemmenden Eindruck. Zeigt sie doch die ambivalenten Gefühle von Menschen, die
ihr Leben in einer Diktatur verbringen,
die ihnen – weil sie ja auch Heimat ist –
irgendwie ans Herz wächst.
Rom ist per Flugzeug in einer Stunde zu
erreichen – obwohl man zuweilen das
Gefühl hat, es liege hinter dem Mond.
Wenn es um Fragen des Liebeslebens
geht, macht die katholische Kirche
immer wieder mit vorgestrigen Moralvorstellungen von sich reden. Mit ihrem
Buch, das die «Familienvielfalt» der Katholiken in den Blick nimmt, setzen zwei
Theologen ein Zeichen gegen solchen
Dogmatismus. In fünf Porträts von lesbischen Pfarrhausbewohnerinnen oder
empfängnisverhütenden Paaren wird
deutlich, wie wenig die kirchlichen Satzungen den Alltag der Gläubigen beeinflussen. Und sechs Gespräche zeigen,
dass auch Seelsorger die Dogmen allenthalben umgehen – und die Kluft zwischen Leben und Lehre mit Sorge beobachten. Ansätze zu ihrer Überwindung
bietet das eurozentrische Buch zwar
kaum. Doch ist die katholische Selbstbefragung durchaus wohltuend zu lesen.
Hans-Peter Nolting: Psychologie der
Aggression. Rowohlt, Hamburg 2015.
333 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–.
Fulvio Pelli, Béatrice Acklin, Yann Grandjean:
Was heisst denn heute liberal? NZZ Libro,
Zürich 2015. 168 Seiten, Fr. 31.90.
Man hätte es vielleicht gern klipp und
klar: Männer sind aggressiver als Frauen,
Jugendgewalt nimmt beständig zu, aggressive Menschen haben Minderwertigkeitsgefühle usw. Den Gefallen tut uns
Hans-Peter Nolting, Psychologe an der
Uni Göttingen, aber gerade nicht. Sein
Buch über Aggression und Gewalt macht
deutlich, dass im breiten Spektrum des
aggressiven Verhaltens jede seiner Erscheinungsformen – von der Kindsmisshandlung über Mobbing und Amoklauf
bis zu Serienmord und Krieg – von vielen
Faktoren beeinflusst wird. Mit derselben
Sorgfalt informiert der Autor im zweiten
Teil auch über die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Prävention von Gewalt
und behandelt dabei Ärgermanagement
und Konfliktlösungsstrategien ebenso
wie Bootcamps für Jugendliche und die
Resozialisierung von Straffälligen. Ein
ausserordentlich differenziertes Buch!
In acht Gesprächen mit je zwei liberalen
Verantwortungsträgern suchen der frühere FDP-Präsident Fulvio Pelli, die
Fribourger Theologin Béatrice Acklin
und der Jurist Yann Grandjean nach liberalen Wegen in aktuellen Themenfeldern: Sozialpolitik, Migration, Privatsphäre, Gesundheit, Familie, Religion,
Rechtsstaat und Umwelt. Das ist angesichts eines weitverbreiteten «milden
Sozialdemokratismus» (Eric Gujer), der
den fürsorglich-bevormundenden Sozialstaat immer weiter aufbläht, verdienstvoll. Manche Positionen wirken
sehr eigenständig und kraftvoll, etwa
jene von Jean-Daniel Gerber oder Konrad
Hummler. Anderes kommt gravitätisch,
lehrbuchhaft daher. Eigentlich schade,
denn eine liberale Haltung kann auch
frech, aufmüpfig und radikal vertreten
werden, wie etwa der 31-jährige Walliser
Philippe Nantermod zeigt.
LUKAS MAEDER
Friedrich Schiller
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letzter
Roman «Kastelau»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Der Tag, an dem Urs Rauber die «Bücher
am Sonntag» verliess, war ein trauriger
Tag. In allen Bibliotheken des Landes
wurden die Kataloge auf Halbmast geflaggt, in den Buchhandlungen trugen
die Verkäufer Trauerflor, und der Literaturclub wurde zum Zeichen des Leides
in Schwarzweiss gesendet. Sogar in der
Kantine der NZZ wurde zum Essen nur
Schwarzbrot serviert.
Die Schweizer Autoren schritten allesamt gemessenen Schrittes in die nächste Beiz und bestellten dort einen Schierlingsbecher. Als das Rösi und das Mädi
nicht wussten, was das war, begnügten
sie sich mit einem Bier, bestanden aber
in Anbetracht des tragischen Anlasses
auf einem dunklen. Und bevor sie den
ersten Schluck nahmen, liessen sie bittere Zähren in das Gebräu fallen. (Eigentlich hätten Tränen auch gereicht,
aber wozu hat man ein Synonymlexikon?)
Sogar die Sendung «Glanz und Gloria»
befasste sich an diesem schweren Tag
mit Büchern, allerdings erst, nachdem
man den Präsentatorinnen erklärt hatte,
was ein Buch ist. Sie erklärten es dann
ihrerseits den Zuschauern. «Urs Rauber», sagten sie, «das war der Mann, der
sich mit Kindles aus Papier beschäftigte.»
Als dann die düstere Stunde kam,
und er schweren Schrittes und mit gebeugtem Haupt die Redaktionsräume
verliess, kniete links und rechts ein Spalier von unbezahlten und deshalb zum
Trauern besonders geeigneten Volontären, und der Chor der Literaturpreisverleiher stimmte ein dissonantes Lied
an. (Sie hatten sich, wie so oft, auf keinen Titel einigen können.)
Felix E. Müller trug ein selbstverfasstes Gedicht vor, das er sich von einem
Assistenten hatte schreiben lassen,
und dessen tiefsinnige Worte noch jahrelang in den heiligen Hallen der NZZ
nachklingen werden: «In des Hauses
tiefsten Gründen ist kein Rauber mehr
zu finden.» Dann segnete Papst Manfred
persönlich den Abtretenden, und zu seinen Ehren wurde ein zwei Meter hoher
Stapel seiner Manuskripte in Brand gesetzt.
Ach, es war ein schwerer Tag, und es
liesse sich noch seitenlang von all den
tragischen Szenen der Verzweiflung berichten, die sich in der eidgenössischen
Literaturwelt, bei Schreibenden und Lesenden, abspielten. Aber wie hatte es
doch Urs Rauber in seiner unvergesslich
präzisen Diktion einmal so richtig formuliert? «Bitte halte dich an die 2350
Zeichen, sonst passt dein
Text nicht ins Raster.»
In seinem Angedenken
wollen wir uns stets
daran halten.
Von Urs Rauber
Von Kathrin Meier-Rust
Von Claudia Mäder
Von Urs Rauber
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Geschichte Der Historiker Jakob Tanner zeichnet den Weg nach, den die Schweiz im vergangenen
Jahrhundert zurückgelegt hat – und legt mit seinem pointierten Blick auch nahe, wo die Reise
in Zukunft hingehen soll
SchweizerGeschic
Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz
im 20. Jahrhundert. C. H. Beck,
München 2015. 679 Seiten, Fr. 52.–.
Von Paul Widmer
Ein solches Buch schreibt nicht jeder.
Jakob Tanner, emeritierter Professor an
der Universität Zürich, hat eine umfassende Interpretation der Schweizer
Geschichte vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vorgelegt.
Lange hiess es, heute könnten nur noch
Kollektive Gesamtdarstellungen bewältigen. Tanner beweist das Gegenteil. Seine
Geschichte ist aus einem Guss, das Ergebnis von hoher Intelligenz, enormem
Fleiss, jahrelanger Forschung und vorbehaltlosem Engagement. Abgesehen von
vielen überflüssigen Fremdwörtern und
gelegentlichen theoretischen Einsprengseln liest sich das Buch recht gut.
Die enorme wissenschaftliche Leistung sei also unbestritten, Tanners Geschichtsinterpretation ist es nicht. Sie
erfolgt aus einer ganz bestimmten Blickrichtung, die man kennen muss, bevor
man über das Buch spricht. Nach Tanner
hat die nationale Eigenstaatlichkeit nur
noch eine beschränkte Existenzberechtigung. Sie ist ein Fossil. Früher oder später werden die Nationalstaaten in internationalen Gebilden aufgehoben, im
Falle der Schweiz natürlich in der EU.
Nun, das mag sein. Aber warum, fragt
man sich, schreibt denn einer die Geschichte eines Nationalstaats, wenn er
dessen Zukunftsfähigkeit bezweifelt?
Um das Leichentuch darüberzuziehen?
Der Autor dieser Zeilen teilt Tanners
Auffassung nicht. Ein Blick auf die Staatenwelt zeigt, dass die internationale Zusammenarbeit gewiss ständig zunimmt,
aber ebenso die Anzahl an Nationalstaaten. Heute gibt es viermal mehr davon
als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die
Zusammenarbeit zwischen Staaten kann
viele Formen annehmen, ohne dass Länder deswegen ihre Staatlichkeit aufzugeben haben. Auch die internationalen Institutionen müssen letztlich durch die
Nationalstaaten legitimiert sein.
Auch Tanners Auffassung vom Staat
muss man klarstellen. Ihm schwebt der
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
gerechte Wohlfahrtsstaat vor, der
Verteilerstaat, der von oben herab für
grösstmögliche Gleichheit sorgt. Diese
Auffassung wird heute in der Schweiz
vielleicht von einer Mehrheit geteilt, und
viele diesbezügliche Postulate sind verwirklicht. Doch bis Mitte der 1970er Jahre
herrschte ein anderes Modell vor. Es
setzte auf Freiheit für den Bürger und geringe Kompetenzen für den Staat. Die
Bürger sollten so viel als möglich in Eigenverantwortung erledigen. Es war ein
von unten aufgebauter Staat mit einem
starken Milizwesen und einer schwachen Zentralregierung. Die Schweiz war
damit sehr erfolgreich. Sie wurde zu
einem Modell. Aber ein föderalistischer
Aufbau erschwert natürlich die zentralistische Umverteilung und damit die Verwirklichung eines auf ausgleichende Gerechtigkeit fokussierten Sozialstaates.
Deshalb kann Tanner mit diesem Modell
wenig anfangen. Wörter wie «Eigenverantwortung» oder «Bürgerfreiheit» kommen in seinem Buch nicht vor. Und von
der, wie er sagt, «bürgerlichen Erfolgsgeschichte» distanziert er sich mehrfach.
Ist Blocher an allem schuld?
Schauen wir nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen, wie die Geschichte
in den einzelnen Phasen aussieht. Die
erste Phase, die bis um 1970 dauert,
beschreibt Tanner als eine klassische
Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, wobei er die Verdienste überwiegend der Linken zurechnet. Gewiss realisierte die Schweiz viele
Sozialrechte nur unter dem Druck der
Linken. Aber den Wohlstand verdankt
sie wohl ebenso sehr der Tatsache, dass
die Bürgerlichen etlichen Forderungen
nicht nachgaben und, unterstützt von
den Stimmbürgern, den Ausbau des umverteilenden Sozialstaates nur moderat
vorantrieben.
Oft vermisst man auch etwas mehr
Verständnis für die schwierigen Zeitumstände. Zwei Beispiele. Die Angst des
Bürgertums um 1920 vor dem Bolschewismus nennt Tanner einen «Popanz».
Ein Popanz, nach der Revolution in Russland, der Räterepublik in Ungarn, Umsturzversuchen in Berlin und der Installation einer Agitpropzentrale in der so-
Nationale Selbstrechtfertigung oder grosszügige Hilfsaktio
on? Zürcher Kinder sammeln 1945 für die «Schweizer Spende».
PHOTOPRESS ARCHIV / KEYSTONE
htevonlinks
wjetischen Vertretung in Bern? Oder die
«Schweizer Spende», eine grosszügige
Hilfsaktion nach dem Zweiten Weltkrieg
von Bund und Volk für die kriegsgeschädigte Bevölkerung in den Nachbarstaaten, würdigt er zum billigen Versuch zur
nationalen Selbstrechtfertigung herab.
Neuere Publikationen aus Deutschland
zeigen, dass man zumindest dort die
«Schweizer Spende» positiver sieht. Tanner nimmt diese Studien nicht zur Kenntnis. Auch andere und insbesondere Autoren aus dem rechten Spektrum, angefangen bei Walther Hofer, fehlen in der
Literaturliste.
Doch nicht nur die Bürgerlichen, auch
die gemässigten Linken bekommen ihr
Fett ab. Das Friedensabkommen von
1937, dem die Schweiz eine einzigartige
Sozialpartnerschaft verdankt, kommentiert er sehr verhalten: Der bedingungslose Streikverzicht sei ein prekäres Zugeständnis der Arbeiterschaft gewesen; die
AHV würdigt er als ein grosses Sozialwerk, das jedoch die soziale Ungleichheit
verstetigt habe; an den Sozialdemokraten missfällt ihm, dass sie in den 1960er
Jahren immer mehr Gefallen am Erfolgsmodell Schweiz fanden, was er einer geschickten bürgerlichen Manipulation zuschreibt.
Die zweite Phase behandelt den gesellschaftlichen Umbruch im Gefolge der
68er-Bewegung und dauert bis Anfang
der 1990er Jahre. Tanner stellt diese Vorgänge meisterhaft dar. Die Schweiz wandelt sich zu einem Staat, mit dem er sich
immer mehr aussöhnen kann. Sie führt
1971 endlich das Frauenstimmrecht ein,
geht in Richtung von Gleichberechtigung
und Gleichstellung der Geschlechter,
baut die Grund- und Sozialrechte aus
und öffnet sich international, so mit der
Teilnahme an der KSZE oder der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Tanner fühlt sich in
seiner Auffassung bestätigt – und schiesst
auch mal übers Ziel hinaus. Niemand
wird bestreiten, dass die Schweiz beschämend spät das Frauenstimmrecht
einführte. Zwanzigmal wiederholen
müsste man das nicht.
Die dritte Phase schliesslich setzt mit
der EWR-Abstimmung von 1992 ein und
erstreckt sich bis in die unmittelbare Ge-
genwart. Das Volks-Nein vom 6. Dezember zum EWR-Beitritt schockierte. Niemand aus den tonangebenden Kreisen
hatte es erwartet. Es störte massiv die
Weiterentwicklung der Schweiz in die
Richtung, die Tanner erhoffte: jene, die
zu einer vollen Integration in die EG bzw.
EU führt. Deshalb sucht er nach Gründen
für das unvorstellbare Ergebnis. Er findet
sie, wie jedermann, in der Person von
Christoph Blocher. Seitenlang setzt er
sich mit ihm und der SVP auseinander.
Doch reicht das als Begründung? Über
das ungeschickte Verhalten des Bundesrates verliert er kein Wort. Dieser hatte
mit seinem EG-Beitrittsgesuch vom Mai
1992, also kurz vor der EWR-Abstimmung, wohl einen fatalen Fehler begangen.
Polemik überlagert Analyse
In dieser letzten Phase lässt die analytische Kraft von Tanner nach. Nicht selten
überlagert Polemik die wissenschaftliche Begründung. Und wortreich beklagt
er eine Mythologisierung der Politik.
Zudem verliert er zuweilen den Sinn für
Proportionen. So verschwendet er mehr
als eine Seite, um sich mit dem Hirngespinst einer grossen, einer um die Lombardei, Baden-Württemberg und Vorarlberg erweiterten Schweiz auseinanderzusetzen – und das sozusagen als
Schlusspunkt seines Fazits.
Dennoch, trotz aller Kritik: Jakob Tanner hat ein Werk verfasst, das ihm so
rasch kein Zweiter nachmachen wird.
Um sein Buch kommt man künftig nicht
herum – aber man sollte auch nicht bei
ihm steckenbleiben. l
Paul Widmer ist Autor von «Schweizer
Aussenpolitik und Diplomatie» (Neuauflage 2014) und «Diplomatie. Ein
Handbuch» (2014).
«Mein langer Weg»
von Heidi Vogel
«Die kurze Unachtsamkeit meiner Mutter, aus der
die Erlaubnis, auf dem Schnee hinunterzurutschen, hervorging, veränderte mein Leben für
immer. Aber das Leben ist trotz vieler
Einschränkungen auch als Behinderte lebenswert.» Telefonische Bestellung: +43 2610 431 11.
E-Mail: office@novumverlag.com
www.novumverlag.com
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27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
ERHARD NERGER / IMAGEBROKER / KEYSTONE
Sachbuch
Naturgeschichte Zwischen Kettensäge und Kojote: David G. Haskell beobachtet das Leben im Wald
ErkundungdesgrünenPlaneten
David G. Haskell: Das verborgene Leben
des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung.
Aus dem Englischen von Christine
Ammann. Antje Kunstmann Verlag,
München 2015. 325 Seiten, Fr. 31.90.
Von Anja Hirsch
Im Kleinen das Universelle entdecken –
das hat sich der Biologe David Haskell
vorgenommen: Für sein neues Buch über
«Das verborgene Leben des Waldes»
braucht er nicht mehr als eine Lupe,
einen Notizblock und einen Quadratmeter Waldboden. So winzig ist das Objekt
seiner Naturbeobachtungen. Ein Jahr
lang besuchte er das kreisförmige Stück
Wald in Tennesse, wo er zu Hause ist und
an der Universität lehrt. Es gleicht einem
«Mandala», wie es Mönche gerne aus feinem, buntem Sand rieseln, um ihren
Geist zu vertiefen. Auf Sanskrit heisst
Mandala «Gemeinschaft», und tatsächlich ist der Betrachter nie allein. Ein Salamander läuft vorbei, ein «Gestaltenwandler», der lungenlos über die Haut
atmen kann und das Feuchte liebt: «eine
wahre Wolke».
Was die Farne so treiben
David Haskell vertieft sich in Flechten,
die durch die Kunst des Loslassens überleben wie langjährige Ehepaare. Oder er
studiert auf seinem Stein sitzend mit
grosser Demut das Moos: «In den Winkeln zwischen Stämmchen und Blättchen haben sich silbern schimmernde
Seen verfangen, deren Wölbung von
der Oberflächenspannung zusammengezwungen wird: Die Wassertropfen fliessen nicht, sie kleben und klettern.
Scheinbar kann das Moos die Schwerkraft überwinden und flüssige Schlangen
beschwören.» Arten will er nicht benennen – er müsste dazu Proben ins Labor
tragen. Zu viel der Eingriffe in den wunderbaren Kosmos Wald.
Es gibt für diese anschaulich-poetische Art von Naturprosa mindestens
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
Auf seinen Streifzügen durch die
Wälder begegnet
der Biologe David G.
Haskell auch den ganz
kleinen Geschöpfen
der Natur, etwa dem
Braunen Schnellkäfer.
einen grossen Vorläufer: Jean-Henri
Fabre (1823–1915), den Insektenforscher,
dessen Erinnerungen Matthes & Seitz
in einer zehnbändigen Werkausgabe
stemmt und der Buchfunk Verlag zu
wunderbaren Hörspielen verarbeitet.
Wie der Mistkäfer eine Kugel rollt, wird
bei Fabre zum Drama. Ähnlich spannend
liest sich auch das Buch von David
Haskell, der diese Tradition des Erzählens fortsetzt. Er hat zunächst detektivische Pflichten: «sich ruhig verhalten,
Störungen vermeiden, keine Lebewesen
töten oder wegnehmen, nicht graben
und nicht über das Mandala kriechen.
Eine behutsame Berührung ab und an
muss reichen.» Wie ein Spurensucher am
Tatort.
Um vollständige Systematik geht es
ihm nicht. Aus dieser Vorschrift entfalten
die Kapitel über Leberblümchen, Schnecken, Frühblüher ihren Reiz. Nur manchmal dreht der Fabulierer ein paar poetische Schleifen zu viel. Dann wirkt sein
von Christine Ammann sehr liebevoll
übersetztes Buch wie eine Kinderfibel,
etwa wenn es heisst: «Die Frühblüher
entzünden auch das Lebensfeuer über
der Erde. Dunkle Bienlein fliegen von
Blüte zu Blüte und lehnen dabei alles
ausser Tellerkraut ab. Dort neigen sie das
Köpfchen, stillen ihren Durst nach starkem Zuckerwasser, das bei uns Nektar
heisst, und schwirren dann mit dürren
Beinchen durch die rosafarbenen,
pollentragenden Staubbeutel der Blüte.»
Ei ei. Da tanzt der Dichter mit dem Biologen ringelrein, und man fühlt sich ganz
klein. Aber warum sollte aus diesem
Buch nicht tatsächlich Kindern vorgelesen werden?
David Haskell berührt eben viele Facetten seiner Welt und weiss, dass der
Wald das Gemüt beeinflusst. Er kennt
sogar ein Wort, das die Japaner dafür
haben: shinrin-yoku, in Waldluft baden.
Haskell hat nicht nur gebadet, sondern
vom Wald sicherlich getrunken, was ihn
immer mal wieder eins werden lässt mit
der Molekulargemeinschaft. Ist sie doch
auch Teil der Medizin. Sein weit verzweigtes Wissen und viele Gespräche
mit Kollegen verhelfen dem Autor zum
Glück oft genug über die reine
Beschreibungspoesie hinaus. Und so ist
«Das verborgene Leben des Waldes» zu
einem reichhaltigen Naturkompendium
angewachsen, das sich wie eine gut bebilderte und mit vielen Informationen
unterfütterte Reportage liest.
Vom Geschlechtsleben der Farne erfährt man Rätselhaftes; vieles auch über
das gefährdete Ökosystem oder das
Wüten von Kettensägen. Und wer schon
immer wissen wollte, wie Geier ihre Kadaver finden – all zu starker Verwesungsgeruch schreckt sie eher ab –, der wird
mit David Haskell seinen Blick himmelwärts richten, geradewegs durch die
Baumkronen, deren angeknabberte Blätter im Zentrum des vorigen Kapitels
standen. Von Raupen und Vögeln erzählt
er ebenso leicht wie vom «frischen Hauch
des Todes», den die Geier erstaunlich gut
vom stinkenden Schwall verfaulender
Gerippe zu unterscheiden wissen.
Nackt in eisiger Kälte
Und das ist schliesslich auch das Einzigartige dieses Naturbeobachters und seines Lobs auf das Leben im Wald: Er lässt
uns an nichts weniger teilhaben als an
einer Kontemplationserfahrung. Dazu
setzt er sich auch mal nackt bei zwanzig
Grad unter Null der Kälte aus. Er will
nachempfinden, wie das so ist für Tiere
im Wald. Die haben freilich andere
Beheizungsmöglichkeiten, weshalb er
das Experiment auch schnell wieder abbricht. Umso mehr hat er Hochachtung
vor den Meisen, die sich durch Zittern
gegen die Kälte verteidigen. Und so
gleicht seine Miniaturführung über Stock
und Steinchen immer mehr einem modernen «Hohelied» auf die Schönheit des
Waldes. Mindestens die Hälfte seines
Buchhonorars will der Autor übrigens für
Projekte zum Schutz dieser empfindlichen Zone spenden. Man wird durch die
Lektüre reich beschenkt. ●
Musik Ian Bostridge spürt den Klängen von Schuberts «Winterreise» nach
DerSänger,dersichvordem
Gutenachtliedfürchtet
Von Corinne Holtz
Noch ein Werk über Schuberts «Winterreise» – braucht es das? Musikwissenschafter, Psychoanalytiker, Romanautoren und auch ein hochkarätig besetzter
Kinofilm mit Josef Bierbichler und Hanna
Schygulla haben sich Schuberts rätselhaftesten Liederzyklus schon angenommen. Jetzt tritt ein Sänger an, der promovierter Historiker ist, an der Universität
Oxford eine Professur für Musik innehat
und für renommierte Blätter wie «The
Times Literary Supplement» und «The
Guardian» schreibt: der Tenor Ian Bostridge.
Er ist einer der bedeutendsten Liedsänger der Gegenwart, nicht allein wegen
seiner Ausnahmestimme und der unerreichten Sprachmächtigkeit auch des
Deutschen. Vielmehr unterläuft er erfolgreich die Normen einer bis heute
bewunderten Gesangs-Ästhetik. Zwar ist
Bostridge durch die Autorität ebendieser
Richtung zu Schubert gekommen. Sein
Erweckungserlebnis verdankt er dem
Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und
einer seiner Aufnahmen von Schuberts
«Erlkönig», «abgespielt in der ersten
Deutschstunde». Dieskau war gefürchtet
für seine Sprachbesessenheit und stand
dafür ein, der Sprache Klang zuzuführen,
anstatt Sprache in Klang zu giessen – ein
Vorgehen, das sich in denkbar grösster
Distanz zur Tonbildung italienischer Prägung befand. Bostridge hingegen gelingt
es, die Textbezogenheit mit den Belcanto-Qualitäten des historisch informierten Sängers zu vereinen.
Nun legt der Tenor ein Buch vor, in
dem er jedem der 24 Lieder ein eigenes
Kapitel widmet und dies ausdrücklich
aus der Perspektive des Sängers tut, der
«Musik nie an einer Universität oder
Musikhochschule studiert» hat. Er rückt
dem Liederzyklus phänomenologisch zu
Leibe und geht «eher den subjektiven
und kulturell aufgeladenen Entwicklungslinien von Zuhörern und Künstlern» nach, als «Modulationen, Kadenzen und Oktaven zu katalogisieren». In
diesem Bekenntnis steckt auch ein gerüttelt Mass an Kritik an der überwiegend
HIROYUKI ITO / GETTY
Ian Bostridge: Schuberts Winterreise.
C.H. Beck, München 2015. 403 Seiten,
Fr. 39.90.
Einer der bedeutendsten Liedsänger der Gegenwart: Der britische Tenor
Ian Bostridge an einem Konzert in New York (2006).
selbstreferentiellen Rhetorik der Musikwissenschaft. Bostridges Zugang ist ein
Glück für die interessierte Leserschaft.
Er kann erklären, was er tut und worauf die jeweiligen musikalischen Entscheidungen beruhen. Er spricht von
sich ohne Eitelkeit und stellt der mythologisierenden Schubert-Rezeption seine
Erfahrungen aus 30 Jahren entgegen.
Nichts fürchtete er mehr als die Eröffnung mit dem Lied «Gute Nacht» und
war stets erleichtert, wenn ein Ende der
schleppenden Achtelnoten absehbar
und mit dem Wechsel von Moll zu Dur im
letzten Vers der entfremdetste Moment
erreicht war. Die Tempobezeichnung
«mässig, in gehender Bewegung» versteht er als Signal für das ganze Werk:
Hier geht es auf eine Reise ohne Fortkommen.
Das Wegbewegen bleibt ein frommer
Wunsch, den Schubert 24-fach ausleuchtet, um am Ende die «Musik eines andern
durch die schneidend kalte Luft schwirren» zu lassen. «Der Leiermann» errege
in seiner Dürftigkeit Mitleid und Widerwillen gleichermassen. «Kein Fleisch,
nur blanke Knochen» kennzeichnen das
Lied und seinen Protagonisten. Bostridge zieht eine nachvollziehbare Parallele zu Bob Dylans «Mr. Tambourine
Man» und lässt sich in seiner Interpretation vom kulturellen Eklektizismus der
60er Jahre leiten. «Krächzend und kehlig
nach Massstäben des Belcanto», aber
«kein albernes Einsprengsel des Pop-Gesangs» in der Klassik, wie er betont.
Ein Buch klar wie Quellwasser, mit
eben jener Präzision und Liebe verfasst,
von der auch die Interpretationen des
Sängers zeugen. l
Universum Ein Autorentrio bietet eine Führung durchs All und lässt uns das irdische Leben schätzen
Reisewarnung für Weltraumbummler
Science Busters (Heinz Oberhummer,
Martin Puntingam, Werner Gruber):
Das Universum ist eine Scheissgegend.
Hanser, München 2015. 328 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 22.90.
Von Thomas Köster
Wenn alles gut geht, ist in acht Millionen
Jahren Weltuntergang. Dann bläht sich
die Sonne zu einem roten Riesen auf und
unser Globus ist Geschichte. Den Termin
sollte man sich also vormerken. Bleibt
nur noch eine Frage: Wird die Sonne eigentlich auch schwerer, wenn sie grösser
wird?
«Das Universum ist eine Scheissgegend» gibt eine simple Antwort:
«Warum sollte sie?» Was bei gleicher
Masse grösser wird, verliert ja nur an
Dichte. Wie das Echsenmonster Gormuu,
das der Superwissenschafter Richard
Reeds von den «Fantastic Four» 1984 im
Comic mit Energiestrahlen beschoss.
Dabei schwoll der schuppige Zweitonner
zwar bis auf Erdengrösse an, hielt aber
sein Gewicht – bis er sich in alle Himmelsrichtungen des Kosmos atomisierte.
«Ganz so schlimm», beruhigt das Buch,
«kommt es für unsere Sonne nicht.»
Im Grunde machen es die Science Busters so wie Reeds mit Gormuu, bloss
ohne finales Platzen: Sie verringern wissenschaftliche Dichte durch die unbändige Energie ihrer voluminösen Fabulierkunst. So entsteht eine Art historischer
Roman über unseren Kosmos: viele
wahre Kerne, ummantelt von noch mehr
Erzählung.
Der wahrste Kern steckt bei diesem
Buch schon im Titel. Bis in den letzten
Winkel des Alls reisen die drei Autoren.
Und stossen überall auf gähnende Leere,
lähmende Kälte und übermenschliche
Gefahr. Kaum ein Ort, wo es sich lohnen
würde, ein Hotelzimmer zu buchen,
um mal auszuspannen – obwohl allein
in der Milchstrasse mindestens zehn
Milliarden bewohnbare Planeten locken
und die 4,3 Lichtjahre dauernde Butterfahrt zu Alpha Centauri wegen den
möglichen drei Sonnenuntergängen
vielleicht doch noch ganz romantisch
wäre.
Reisen durchs All macht laut dem
Autorentrio, das aus zwei Physikern und
einem Kabarettisten besteht, keinen
Spass. Dieses Buch dafür umso mehr.
Wenn also schon mit der Sonne untergehen, dann wenigstens mit einem Lächeln
auf den Lippen, wie es diese Lektüre hinterlässt. l
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Ukraine Karl Schlögel setzt sich mit Putins Aggression gegen die Ukraine auseinander – und deutet das
Ringen mit Kiew als Krise Moskaus
DieBestürzungdesRussland-Experten
Von Reinhard Meier
Karl Schlögel zählt zu den profundesten
Russland-Experten
im
deutschen
Sprachraum. Seit seiner Jugend befasst
er sich mit dem vielschichtigen Land und
er hat dazu über die verschiedensten
Themenbereiche viel beachtete Bücher
publiziert − so die monumentale Studie
«Terror und Traum» über Moskau im
Jahr 1937, dem Höhepunkt des StalinTerrors.
Schlögel hat seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im
vergangenen Jahr nie einen Hehl daraus
gemacht, dass ihn dieser Rückfall des
postsowjetischen Russlands in nationalistische Expansionsmuster völlig überrascht und bestürzt hat. In seinem neuen
Buch «Entscheidung in Kiew» setzt er
sich leidenschaftlich und kenntnisreich
mit den Gründen und Folgen von Putins
Husarenritt auf die Krim und seiner militärischen Einmischung in der Ostukraine
auseinander.
Sein Fazit: Die sogenannte UkraineKrise ist im Grunde eine fundamentale
Krise Russlands. Die von Putin ursprünglich angestrebte Modernisierung Russlands mit einer innovativen, wettbewerbsstarken Wirtschaft ist gescheitert
und deshalb hat er «die Flucht nach
vorne» ergriffen. Damit hat der Kremlherr zwar im Inneren einen propagandis-
Die russischen
Aggressionen stärken
das ukrainische
Nationalbewusstsein.
Hier: Lenin-Statue
in Ukraine-Farben
(Ukraine, 2015).
VADIM GHIRDA / AP
tisch angeheizten Begeisterungssturm
entfacht, doch gleichzeitig, davon ist
Schlögel überzeugt, Russland in eine
Sackgasse manövriert.
Als ein Zeichen dafür, dass Putin zu
Beginn seiner schon fünfzehnjährigen
Amtszeit eine engere Kooperation mit
dem Westen vorschwebte, wertet der
Autor dessen 2001 auf Deutsch gehaltene
Rede vor dem Bundestag in Berlin. Entschieden weist er aber die auch hierzulande öfter gehörte Behauptung zurück,
man habe im Westen Putins «Liebeswerben» durch eine zu wenig kooperative
Politik verspielt.
Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew.
Ukrainische Lektionen. Carl Hanser,
München 2015. 302 Seiten, Fr. 35.90.
Irina Scherbakowa, Karl Schlögel:
Der Russland-Reflex. Einsichten in eine
Beziehungskrise. Edition KörberStiftung, Hamburg 2015. 142 S., Fr. 26.90.
Putin hingegen hat mit seiner Aggression zwar die Ukraine überrumpelt und
in schwere Nöte gebracht, aber damit
gleichzeitig das bisher eher schwach entwickelte ukrainische Nationalbewusstsein wesentlich gestärkt. Man wisse zwar
nicht, argumentiert Schlögel, wie der
Kampf um die Ukraine ausgehen werde,
doch eines sei gewiss: «Die Ukraine wird
nie mehr von der Landkarte in unseren
Köpfen verschwinden.»
Neben dem analytischen Teil zeichnet
Schlögels Buch höchst informative
Portraits der wichtigsten ukrainischen
Städte − von Kiew, der «Mutter aller russischen Städte», über Lwiw (Lemberg),
Czernowitz, Odessa, das jetzt von Separatisten beherrschte Donezk bis nach
Charkiw unweit der russischen Grenze.
Sie bieten einen anregenden Einblick in
die kulturelle und sprachliche Vielfalt
des weitläufigen Landes, das für viele
Europäer noch immer eine «terra incognita» darstellt.
In einem zweiten Buch zum russischukrainischen Themenkomplex führt Karl
Schlögel ein langes Gespräch mit der russischen Germanistin, Übersetzerin und
Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa.
Es dreht sich um eigene Erfahrungen mit
Russland und trägt den Untertitel «Einsichten in eine Beziehungskrise». Es ist
kein Streitgespräch, denn beide sind sich
einig in ihrer tiefen Enttäuschung darüber, dass die nach der Auflösung der
Sowjetunion eingeleitete Demokratisierung Russlands und die Hinwendung zu
einer aufklärerischen Grundhaltung gegenüber der Geschichte seit der Usurpation der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine völlig abgebrochen ist – vielleicht für lange Zeit. ●
Psychologie Positives Denken funktioniert besser, wenn auch das Scheitern eingeplant wird
Wie ich mich selbst motiviere
Gabriele Oettingen: Die Psychologie des
Gelingens. Pattloch, München 2015.
272 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 20.-.
Von Michael Holmes
Skepsis ist angebracht, wenn uns Psychologen wieder einmal eine einfache
Psychotechnik versprechen, die es uns in
allen Lebenslagen erleichtern soll, unsere sehnlichsten Herzenswünsche zu
erfüllen. Aber Psychologieprofessorin
Gabriele Oettingen, an den Universitäten
Hamburg und New York, präsentiert in
ihrem bahnbrechenden Pionierwerk
eine imposante Fülle und Vielfalt an Belegen für die erstaunlichen Wirkungen
einer Methode zur Selbstmotivation, die
sie mit Kollegen in zwanzig Jahren Forschungsarbeit entwickelt hat.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
In Dutzenden Experimenten in
Deutschland und den USA baten die
Wissenschafter alle Probanden, einen
persönlichen Wunsch zu notieren und
dessen Realisierbarkeit einzuschätzen.
Dann wurden sie per Zufall verschiedenen Versuchsgruppen zugeordnet. Eine
Gruppe träumte von der Wunscherfüllung. Eine andere führte sich die zentrale
innere Einstellung vor Augen, die den Erfolg verhindern könnte. Die dritte Gruppe malte sich zuerst das Erreichen des
Ziels aus und dann das Haupthindernis
auf dem Weg dorthin. Deren Mitglieder
kamen nach der kurzen Übung der Verwirklichung von Träumen, die sie für
realistisch hielten, deutlich näher als die
Vergleichsgruppen. Von unerreichbaren
Zielen trennten sie sich leichter. Mentales Kontrastieren nennen die Forscher
das Verfahren.
Als noch effektiver erwies sich diese
«metakognitive Strategie» in Verbindung
mit konkreten Handlungsplänen für entscheidende Situationen: «Wenn Problem
X, dann Handlung Y». Assoziationstests
belegen, dass das Programm zur unbewussten Verknüpfung zwischen Zukunft, Hindernis und zielführendem
Verhalten führt. In Studien motivierte es
Teilnehmer dazu, doppelt so viel Sport
zu treiben. Arbeiter waren engagierter,
aber weniger gestresst. High-SchoolSchüler beantworteten 60 Prozent mehr
Prüfungsfragen als Kontrollgruppen und
Studenten konnten Beziehungsängste
doppelt so häufig loslassen.
Etwa ein Sechstel der Menschen setzt
die Technik intuitiv ein. Wir anderen
können von diesem fesselnden Buch lernen, selbst gewählte Lebensziele mit
ganzer Kraft zu verfolgen. ●
Schweiz Wer diesen Text akribisch liest, ist vermutlich ein SVP-Wähler. Oder etwa nicht?
WennPolitologendiePsyche
derWählererforschen
herte sich dieses nach den Wahlen 1987
und 1991 dem Durchschnitt an, um ab
1995 deutlich darüber zu liegen. Mehr
oder weniger stabil blieb diese Determinante bei andern Parteien: Das Bildungsniveau der FDP- und der GP-Wähler lag
im ganzen Zeitraum über, jenes der CVPund SVP-Wähler stets unter jenem der
Gesamtwählerschaft.
Weitere Forschungsbeiträge befassen
sich mit der Frage, welche
Schweizer warum die
SVP wählen; wie sich
die
Wählerschaft
der GLP zusammensetzt; wes-
Markus Freitag, Adrian Vatter (Hrsg.):
Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz.
NZZ Libro, Zürich 2015. 478 S., Fr. 39.90.
Von Urs Rauber
Ihr Befund in der «NZZ am Sonntag» vor
einigen Wochen hatte Staub aufgewirbelt: Kämpferische Menschen wählen
FDP, verletzliche SP, gewissenhafte SVP,
kooperative CVP. Das war auf den Punkt
gebracht die Botschaft, die Markus Freitag, Professor für Soziologie und Direktor am Institut für Politikwissenschaft
der Uni Bern, der Zeitung überbracht
hatte. Es ist das Fazit einer Studie, die im
neuen Sammelband «Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz» soeben erschienen ist. Verschiedene Parteiexponenten
fühlten sich aufgrund der pointierten
Zuordnung falsch beschrieben oder gar
diskreditiert.
SP-Elektorat wird klüger
Neues Standardwerk
CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE
Die von Kathrin Ackermann und Markus
Freitag verfasste Untersuchung über
«Persönlichkeit und Parteibindung» ist
bloss eine, wenn auch die ungewöhnlichste unter einem guten Duzend, die
der vorliegende Reader enthält. Sie
stützt sich auf das sozialpsychologische
Fünf-Faktoren-Modell der MichiganSchule, genannt «Big Five». Die fünf
Persönlichkeitseigenschaften – Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Extraversion und Verträglichkeit – wurden in
Beziehung gesetzt zu verschiedenen Facetten der Parteibindung
und mit einer quantitativ-empirischen Analyse am Datensatz
«Politik und Gesellschaft in der
Schweiz» aus dem Jahre 2012
überprüft. Die Messung und Methode werden im Beitrag beschrieben, die Tabellen publiziert, die
Ergebnisse interpretiert. Was auf
den ersten Blick überrascht oder
unverständlich klingt, wird beim Lesen
nachvollziehbar.
An dem von Markus Freitag und
Adrian Vatter herausgegebenen umfangreichen Sammelband haben über 20 bisherige und ehemalige Mitarbeiter des
Berner Instituts mitgewirkt. Das Opus
enthält auch andere interessante Beiträge, so zum Beispiel von Marc Brühlmann
und Marlène Gerber, die den Wandel der
SP von der Unterschichtspartei zur Partei
des gehobenen Mittelstands unter die
Lupe nehmen. Der Bildungshintergrund
der SP-Wählerschaft hat sich innert
20 Jahren so entscheidend verändert wie
bei keiner anderen Partei: Lag das Bildungsniveau eines durchschnittlichen
SP-Wählers 1979 noch signifikant unter
jenem der gesamten Wählerschaft, nä-
halb eine Fusion von BDP und CVP aus
Sicht der Wählerschaft ein hohes Risiko
darstellt; oder welchen Einfluss grosse
Wahlkampfbudgets auf das Wahlergebnis haben. Im Kapitel über die Polarisierung als Strategie im Parteienwettbewerb
findet sich eine Feststellung, die im
gegenwärtigen Flüchtlingsdiskurs von
hoher Aktualität ist: nämlich dass die
Schweiz im europäischen Vergleich zu
den fremdenfreundlichsten und offensten Nationen gehört. Sie liegt nach
den skandinavischen Staaten an
vierter Stelle von insgesamt 16
Ländern. Auch klar vor Deutschland, das in den letzten Wochen geradezu als Musterknabe der FlüchtlingsaufnahmeStaaten gefeiert wurde.
Hervorzuheben ist schliesslich der Beitrag von Matthias
Fatke und Markus Freitag
über die Zusammensetzung
und die Motive der Nichtwählerschaft. Die Autoren
schlüsseln die Nichtwähler der
Nationalratswahl 2011 aufgrund
einer Nachwahlbefragung in sechs
Typen auf: 1) zufrieden desinteressiert
(25 %), 2) politisch verdrossen (16 %), 3)
abstimmend, aber nicht wählend (13 %),
4) andersartig partizipierend (9%), 5) sozial isoliert (18 %) und 6) inkompetent
(20 %). Vor diesem Hintergrund – so die
Forscher – überrasche die Einhelligkeit,
mit der bei Wahlen jeweils (vor)schnell
über eine allgemeine Politikverdrossenheit, Misstrauen und Desinteresse an der
Demokratie orakelt werde. Fatke und
Freitag kehren deshalb die Schlussfolgerung um: «Ist die Wahlbeteiligung hoch,
handelt es sich tendenziell um ein weniger demokratisches Land.» Man könne
eine tiefe Wahlbeteiligung nämlich auch
als Zufriedenheit mit dem politischen
System deuten.
Je höher die
Wahlbeteiligung,
desto demokratischer
das Land? Falsch,
sagen die Autoren des
Sammelbandes.
Der mit zahlreichen Tabellen und Fachliteratur angereicherte wissenschaftliche Wälzer scheint gut in die Forschungsdiskussion eingebettet und stellt zweifellos ein neues Standardwerk dar.
Schwerfällig mutet einzig der über weite
Strecken dominierende Wissenschaftsduktus an sowie – in einzelnen Kapiteln
– der hohe Abstraktionsgrad, unter dem
die Verständlichkeit leidet. Schade, denn
jetzt vor den Herbstwahlen könnte eine
solche Publikation für ein breiteres Publikum von Interesse sein. Ein Teil der
Forschergemeinde sollte sich ein Vorbild
an den unverdrossenen Fernsehauftritten des Meinungsforschers mit der Fliege
nehmen (auch er gehört zu den Autoren). Erkenntnisse aus dem Labor glänzen nämlich erst, wenn sie auch von
Laien verstanden werden. l
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Weltgeschichte Schriftsteller machen die Vergangenheit zum Erlebnis
Zeitreise durch die Literatur
Markus Gasser: Eine Weltgeschichte
in 33 Romanen. Hanser, München 2015.
301 Seiten, Fr. 31.90.
Was kostet
ein Lächeln?
Von Manfred Koch
Schriftsteller sind zaubermächtige Historiker; sie bringen das Chaos der Weltgeschichte in eine Form, die uns fernste
Vergangenheiten so erleben lässt, als
wären wir hautnah dabei gewesen. Was
verschlägt es, wenn sie zu diesem Behuf
ein wenig lügen?
Die Fiktionen haften tiefer im Gedächtnis als die Fakten, und oft verstehen wir die grossen geschichtlichen Augenblicke besser in den phantastisch aufbereiteten Darstellungen der Literatur
als in den korrekten der Historiographie.
«Der Julius Caesar von William Shakespeare wird der Julius Caesar schlechthin
bleiben und Marc Anton – ‹Freunde,
Römer, Mitbürger, hört mich an!› – auf
ewig seine Rede vor Caesars Leichnam
gehalten haben, weil Shakespeare sie für
ihn geschrieben hat.»
Von dieser Einsicht lässt sich Markus
Gasser leiten, wenn er den Leser mitnimmt auf 33 exemplarische Zeitreisen
der Literatur. Mit Thomas Manns «Joseph»-Romanen kehren wir zurück in
das Ägypten des Pharaos Echnaton, mit
Henryk Sienkiewyczs «Quo vadis» ins
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antike Rom, Umberto Eco entführt uns
ins Jerusalem des 12. Jahrhunderts, Leo
Tolstoj lässt uns teilhaben an Napoleons
‹Eroberung› der menschenverlassenen
Stadt Moskau, Christopher Isherwood
versetzt uns in das Berlin des Jahres 1933
mit seiner spannungsreichen Atmosphäre zwischen sexueller Freizügigkeit und
Naziterror. Gassers Portraits von 33 zum
Teil wenig bekannten Romanen haben
selbst literarische Qualität, und sie zeigen, worin das Faszinierende der von
Poeten erzählten Weltgeschichte besteht: Es ist die Sinnlichkeit, mit der hier
geliebt und gehasst, gegessen und getrunken, gezeugt und gemordet, gelacht
und geweint werden darf!
Nur Romanciers können die geschichtlichen Helden «das asthmatische Zucken
einer Küchenschabe an der Wand» beobachten lassen oder sie an den Tisch setzen zu einem Mahl, das aus «gefüllten
Sauzitzen, vor Fett triefenden Murmeltieren, feigengemästeten Gänsen und
Pfauenzungenragout» besteht (es wird
viel und meist ziemlich exzentrisch gegessen in Gassers kleinem Romanführer!). So hineingreifen ins volle Menschenleben können professionelle Historiker nicht; sie müssen sich an das halten, was die Quellen hergeben. Man sollte sie aber deshalb nicht geringschätzen.
Seien wir froh, dass es beide Arten von
Geschichte(n)erzählern gibt! ●
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Architektur Ein Führer für Ausflüge in helvetische Gebäudelandschaften
336 Seiten I Gebunden mit Schutzumschlag
CHF 29,90 (empf. VK-Preis) I Auch als E-Book
Ulrich Schnabel kartografiert
die Gefühlslandschaft, durch
die wir täglich navigieren, und
beleuchtet die emotionalen
Fallen der Konsumgesellschaft.
Er beschreibt das Geheimnis
dauerhafter Beziehungen und
zeigt Wege auf, die emotionale
Erschöpfung im Beruf zu
vermeiden.
Leseprobe auf blessing-verlag.de
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
Lebendige Baukultur
Alexander Hosch: Architekturführer
Schweiz. Die besten Bauwerke des
21.Jahrhunderts. Callwey, München 2015.
280 Seiten, zahlr. Abb., Fr. 42.90.
Von Gerhard Mack
Die Schweizer Architektur boomt. Sie ist
neben der bildenden Kunst der kulturelle Exportartikel des Landes: Architekturbegeisterte kommen in Scharen ins Land,
um Bauwerke zu sehen, die hier entstanden sind. Damit sie sich dabei nicht hilflos durchfragen müssen, hat der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein mit dem Autor Alexander Hosch
einen neuen Architekturführer vorgelegt. Etwas vollmundig verspricht er bereits im Jahr 2015 die besten Bauwerke
des 21. Jahrhunderts und muss sich doch
auf eine Auswahl aus dem beschränken,
das bisher entstanden – oder in einigen
Fällen sogar erst in Planung ist.
Immerhin: 201 Bauten werden in vier
Kapiteln, nach Regionen geordnet, in
Bild und Wort vorgestellt. Die Texte sind
auch für Laien sehr lesbar, wenn auch
manches Adjektiv geschmäcklerisch
wirkt. Kerndaten nennen Auftraggeber,
Baujahr und Architekt, GPS-Daten erleichtern die Suche. Der Band ist vom
Format her ohnehin eher für Autofahrer
als Fussgänger gemacht. In die Jacketttasche passt er nicht.
Ausgewählt wurde sowohl die XenixBar in Zürich wie der Schiffländepavillon
Alpenquai in Zug oder das Toilettenhäuschen in Uster. Und viele Brücken.
Das ist unsere Spezialität. Auswahlkriterium war dabei nicht die Bausumme oder
das Renommee des Auftrags, sondern
die Originalität der Lösung. Natürlich erhalten aber auch prominente Bauten wie
das Rolex Learning Center des japanischen Büros Sanaa bei der EPFL in Lausanne oder die neue Messehalle in Basel
von Herzog & de Meuron ihren Platz. Und
selbstverständlich begreift man nicht
jede Entscheidung. Wieso ist etwa das
Kunstzeughaus in Rapperswil nicht mit
dabei? Und Wohnbauten hätte man
gerne mehr gesehen.
Aber das ist nicht entscheidend. Viel
wichtiger ist, dass der Führer einen lebendigen Eindruck der Baukultur hierzulande vermittelt und zu Architekturreisen animiert. Eine Diskussionsrunde
zum Stand des Bauens in der Schweiz
bietet eine muntere Einführung. ●
Biografie Hinter der weltweit bekannten Feldenkrais-Methode verbirgt sich das vielseitige Leben eines
charismatischen Mannes
IngenieurundJudomeister
Christian Buckard: Moshé Feldenkrais.
Der Mensch hinter der Methode.
Berlin Verlag, Berlin 2015. 368 Seiten,
Fr. 35.90, E-Book 22.-.
Was für ein Leben! Und wie gut hat dieser
Moshé Feldenkrais es bisher hinter seiner weltweit bekannten Methode der
körperlichen Übung und Entspannung
verborgen! Diesem weissen Flecken verleiht nun eine erste Biografie die gebührende Farbigkeit. Der Judaist und Journalist Christian Buckard stützt sich dafür
stark auf das Feldenkrais-Familienarchiv
in Israel und auf eine unpublizierte Autobiografie des Meisters.
Moshé Feldenkrais wird 1904 als ältester Sohn einer gebildeten jüdischen Familie im ukrainischen Slawuto im Zarenreich geboren. Seine Muttersprache ist
Jiddisch, früh lernt er Hebräisch, im
Gymnasium später Russisch. Im weissrussischen Städtchen Baranovicze erlebt
die Familie im Ersten Weltkrieg zwar
ständig wechselnde, aber immer judenfeindliche Besetzungen. Kein Wunder ist
der junge Moshé glühender Zionist und
erbettelt von seiner Mutter die Erlaubnis
zur Auswanderung ins Heilige Land.
Noch keine 15 Jahre alt, reist er ohne
Geld ab und durch halb Europa, um
schliesslich im Dezember 1919 zusammen mit hunderten von gleichgesinnten
jüdischen Jugendlichen in Jaffa an Land
zu gehen. Beim Aufbau von Tel Aviv arbeitet der kräftige Jugendliche jahrelang
als Bauarbeiter, holt dann die Schule
nach und wird Landvermesser. Natürlich
ist er Mitglied der illegalen Haganah, wo
er zur Selbstverteidigung Jiu-Jitsu lernt.
Diese Erfahrung sowie eine massive
Knieverletzung wecken sein Interesse
für Bewegung als Selbstschutz – er entwickelt sein eigenes Jiu-Jitsu und
schreibt ein Buch darüber.
Flucht in letzter Minute
Mit 26 Jahren entschliesst sich Feldenkrais, in Paris Ingenieurswissenschaften
zu studieren. Wie er, der kein Wort Französisch spricht, mit Auszeichnung studiert, dann für das weltberühmte Ehepaar Joliot-Curie am Radium-Institut
arbeitet, seine Familie aus Baranovicze
nach Israel holt, selbst 1940 in letzter Minute vor den Nazis nach England entkommt, um dort für die britische AntiU-Boot-Forschung zu arbeiten – das allein ist atemberaubend. Dazu kommt das
«Hobby»: Moshé verdient seinen Lebensunterhalt mit Jiu-Jitsu-Unterricht, lernt
in Paris Jigoro Kano, den japanischen Begründer des Judos, kennen, wird Beauftragter für Judo in Europa, erhält als erster Europäer den schwarzen Gürtel des
Meisters, begeistert wissenschaftliche
Kollegen von Paris bis Schottland für
Judo und liest unermüdlich zum Thema
MICAEL WOLGENSINGER / IFF
Von Kathrin Meier-Rust
Moshé Feldenkrais
weist seine «Schüler»
beim Entspannen
an, hier 1981 in
Massachusetts.
Entwicklung und Lernen durch Bewegung.
Hinter dieser autodidaktischen Beschäftigung steht sein eigenes Knie.
Nach einem Kreuzbandriss kaum gehfähig, sucht Feldenkrais im Selbstexperiment nach neuen Bewegungsmöglichkeiten. Er will «umlernen»: Wie ein kleines Kind Bewegungen ausprobiert und
lernt, will er, ohne Sprache, «das Lernen
neu lernen». Dies bringt ihn zunehmend
zu einer ganzheitlichen Sicht der Einheit
von Körper und Geist.
Nach Kriegsende promoviert Feldenkrais an der Sorbonne zum «Docteur
ingenieur» und unterrichtet gleichzeitig
im Judo-Zentrum in London. Er experimentiert nun auch mit Gruppen. Und
immer wieder gelingt es ihm, einzelne
Menschen von schweren Schmerzen und
neurotischen Beschwerden zu befreien.
1950 nach Israel zurückgekehrt, verfolgt er ebenso obstinat wie erfolglos das
Ziel eines eigenen staatlichen Instituts,
welches in seiner grandiosen Vision den
Feldenkrais-Unterricht in alle Schulen
und Universitäten Israels sowie in die
Armee einführen soll, um das jüdische
Volk von jederlei geistigen, psychischen
und körperlichen Problemen zu befreien. Doch prominente «Schüler» – Feldenkrais bezeichnet seine Behandlung
immer als Unterricht – lassen seinen Ruf
wachsen. So befreit er etwa den 70jährigen Staatsgründer und Ministerpräsidenten David Ben Gurion in täglichen
Unterrichtsstunden von einem quälenden Ischias und lässt ihn den Kopfstand
lernen: Das Bild des am Strand von
Herzlia auf dem Kopf stehenden Ben Gurion geht um die Welt.
Lebenslanger Wissensdurst
Moshé Feldenkrais muss ein charismatischer Mensch gewesen sein. Nicht gross,
aber muskulös, später ausgesprochen
korpulent, lebenslanger Kettenraucher
und erfolgreicher Frauenbetörer (der
nach einigen Jahren Ehe dann lieber Single blieb), war Feldenkrais von einem
grandios-naiven Selbstvertrauen ebenso
durchdrungen wie von unermüdlichem
Lern- und Wissensdurst. Er glaubte fest
daran, dass der Mensch fast alles lernen
kann, wenn er nur will, und lernte zum
Beweis mit 64 Jahren selbst noch
schwimmen und singen!
Seine Methode dagegen bleibt etwas
rätselhaft, gerade weil Moshé Feldenkrais selbst sie nicht wirklich mit Worten
zu erklären vermochte, da er stark nonverbal, über Berührung, arbeitete. Viele
seiner Erkenntnisse (etwa zur Psychosomatik) scheinen aus heutiger Sicht schon
fast Allgemeinwissen. Auch wäre ein
Vergleich mit anderen, im selben Zeitraum entstandenen und nach ihren Erfindern benannten Bewegungsmethoden
interessant – wie zum Beispiel Rolfing
(nach Ida Rolf), Alexander-Technik (nach
Frederick Matthias Alexander) oder Pilates (nach Joseph Hubert Pilates). Doch
sollen solche Wünsche kein Vorwurf sein
an eine Biografie, die sich zu Recht auf
Leben und Person dieses Pioniers konzentriert. l
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Erinnerungsgeschichte Der Direktor des British Museum nähert sich Deutschland über seine
Denkmäler im In- und Ausland
VonPragviaBuchenwald
zumBrandenburgerTor
Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation. C.H. Beck, München
2015. 640 Seiten, 330 Farbabb., Fr.52.–.
Erinnerungen sind gefilterte Erfahrungen. Erst durch das Bedürfnis nach Sinnstiftung wird Vergangenes zu Erinnerung. Doch damit allein ist es nicht getan.
Denn Erinnerungen sind auch das Ergebnis eines immerwährenden Prozesses
von Konstruktion und Dekonstruktion,
Ausdruck von Herkunft, Selbstverständnis und Selbstvergewisserung. So gesehen ist alle Erinnerung Gegenwart. Wo es
um Erinnerungen geht, gibt es also kein
Ende.
Die Frage nach der Einstellung von
Nationen und Völkern zur Vergangenheit, nach Orten als Verkörperung des
nationalen Gedächtnisses, beschäftigt
die Wissenschaft seit jeher. Mit «Deutsche Erinnerungsorte» haben Etienne
François und Hagen Schulze vor Jahren
erste Schneisen durch das Dickicht deutscher Erinnerungslandschaften geschlagen. Insoweit bewegt Neil MacGregors
Kulturgeschichte sich auf vertrautem
Terrain. Und doch ist die Herangehensweise eine ganz andere. Der langjährige
Direktor des British Museum nähert sich,
wie könnte es anders sein, Deutschlands
Identität anhand von Objekten und Bauwerken, von Menschen und Orten; und
das mit einer Virtuosität, die ihresgleichen sucht.
Gewiss, allein schon der Zeitraum von
rund 600 Jahren verlangt nach Auswahl.
Der methodische Ansatz erfordert darüber hinaus Mut zur Lücke. Nicht jeder
Gegenstand eignet sich, Geschichte zu
erzählen. Auch deshalb werden Literatur, Philosophie und Musik nur kurz
behandelt. Allerdings wäre es verfehlt,
diese Einschränkung als Nachteil zu deuten. MacGregor geht es nicht um eine
Gesamtdarstellung, vielmehr um Schlaglichter, in denen prägende Züge und historische Vielfalt, Brüche und Widersprüche gespiegelt werden können.
Deutsche Stadt Prag
Entstanden ist ein Deutschlandbild, das
sich von der insularen Betrachtung abhebt und gerade deshalb mit der gleichnamigen Ausstellung im British Museum
und der Serie von BBC Radio 4 zum 25Jahr-Jubiläum des Mauerfalls, die diesem
Buch zugrunde liegen, auf so grosse Neugier gestossen ist: weder Selbstbild, das
beruhigt, noch Fremdbild, das sich auf
zwei Weltkriege reduzieren lässt. Dass
Deutschland ein «schwieriges Vaterland»
(Gustav Heinemann) bleibt, bedarf dabei
keiner Erwähnung. Wer errichtet schon
als Memento an die Nachkommenden in
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
EASTBLOCK WORLD
Von Victor Mauer
Geschichte in
Bronze gegossen:
Ernst Barlachs
Schwebender Engel.
Hier ein Nachguss im
Güstrower Dom.
der Mitte seiner Hauptstadt ein Mahnmal der nationalen Schande?
Sechs Teile mit je fünf Kapiteln bilden
den Rahmen. Der Zugang erfolgt thematisch, nicht chronologisch. «Wo liegt
Deutschland?» ruft uns zunächst in Erinnerung, dass Grenzen in der Mitte Europas über Jahrhunderte veränderlich
waren. Das fragmentierte Heilige Römische Reich Deutscher Nation begegnet
uns in Gestalt des Münzrechts. Wir besuchen Prag, einst geistige Hauptstadt der
deutschen Welt, und Kafka; Königsberg,
Ursprung und Sitz der preussischen
Monarchie, und Kant; das Strassburg
Goethes, der deutsch-französischen
Feindschaft, des Europäischen Parlaments; das Brandenburger Tor – einst
Monument des Friedens, dann als geschlossenes Tor Symbol der offenen
deutschen Frage – und das geteilte
Deutschland.
Ob Objekte, Bauwerke, Denkmäler,
Orte oder Personen – MacGregor bringt
sie, prächtig illustriert, zum Sprechen.
Und nicht nur das. Immer wieder lässt er
Experten aus Wissenschaft, Kultur und
Politik zu Wort kommen. Man muss nicht
jede Interpretation teilen, um einen Sinn
für Komplexität und Kontingenz, für Prägendes und Paradoxien zu gewinnen.
Das gilt für Geistesgeschichte, Sprache
und Brauchtum, die im Mittelpunkt des
zweiten Teils stehen, ebenso wie für
fortlebende Vergangenheiten und Erfindungen, die die Welt veränderten, im
dritten und vierten Teil.
Wenn der Gründungsintendant des
Humboldt-Forums den Abstieg Deutschlands im fünften Teil mit Bismarck beginnen lässt, dann zeigt das freilich auch,
dass Erinnerungen sich nicht zwangsläu-
fig mit historischer Forschung decken
müssen. Gerade deshalb wäre es sinnvoll
gewesen, die Literaturhinweise am Ende
des Buches ausgewogener zu gewichten
– so wie das geradezu meisterhaft im
abschliessenden Teil, «Mit Geschichte
leben», gelingt.
Auftrag und Anstrengung
Das vielleicht eindrücklichste Kapitel ist
dabei Ernst Barlachs «Schwebendem
Engel» gewidmet. Wie kein anderes
Kunstwerk verkörpert er die deutsche
Geschichte des 20. Jahrhunderts: als
Antwort auf das Kriegsfieber von 1914,
dem Barlach zunächst selbst erlag; als
Ausdruck des kurzlebigen, weil verachteten Pazifismus der zwanziger Jahre,
wie er sich sonst nur bei Käthe Kollwitz
findet, deren Züge Barlachs Engel trägt;
als Beispiel für die Zerstörung missliebiger Kunst unter den Nationalsozialisten;
als Sinnbild für das Überleben trotz Zerstörung in der Stunde Null; als verbindendes Element über ideologische Gräben und trennende Mauern hinweg zur
Zeit der Teilung; und schliesslich als
Symbol für Frieden und Gewaltverzicht,
denen sich die «verspätete Nation» heute
verpflichtet weiss.
Wer Neil MacGregors Angebot zur
Mitreise in die deutsche Vergangenheit
als Einladung zur historischen Reflexion
versteht, wird bereichert zurückkehren.
Denn Geographie ist mehr als Schicksal
und Geschichte mehr als Bürde. Erinnerung indes ist Auftrag und Anstrengung
zugleich, eine Art «verborgene Freude
des Sisyphos» (Albert Camus). Und
den, so lehrt uns der französische
Existentialist, dürfen wir uns «als glücklichen Menschen vorstellen». ●
Homosexualität Um die Jahrhundertwende entwickelte sich in Berlin eine lebhafte Schwulenkultur
MekkafürMännerbälle
Robert Beachy: Das andere Berlin. Die
Erfindung der Homosexualität: Eine
deutsche Geschichte 1867 – 1933. Siedler,
München 2015. 464 Seiten, Fr. 36.90,
E-Book 24.90
Von Alexis Schwarzenbach
Der Begriff «schwul» stammt aus dem
Dialekt der deutschen Hauptstadt. Das
ist kein Zufall, wie der amerikanische
Historiker Robert Beachy in seinem sorgfältig recherchierten Buch «Das andere
Berlin» zeigt. Um 1900 legten sich dort
zum ersten Mal Männer, die Männer
liebten, eine selbstbewusste Identität zu.
Mitverantwortlich dafür war erstaunlicherweise Paragraph 175 des deutschen
Strafgesetzbuches, der männliche Homosexualität kriminalisierte und erst
1988 endgültig abgeschafft wurde.
Im Bestreben, den Paragrafen umzusetzen, gelangte die Berliner Polizei
schon Ende des 19. Jahrhunderts zur Einsicht, dass sich die homosexuelle Subkultur besser kontrollieren liess, wenn
man schwule Bars, Restaurants und
Tanzveranstaltungen tolerierte statt zu
unterdrücken. Der Politikwechsel fand
unter Polizeidirektor Leopold von
Meerscheidt-Hüllessem statt, der ab
1885 das Homosexuellen-Dezernat leitete. Er stellte fest, dass Razzien kaum
strafrechtlich relevante Tatbestände ans
Licht brachten, da weder Biertrinken in
Männerrunden noch das Tragen von
Frauenkleidern verboten waren. Ausserdem schossen für jede geschlossene
Schwulenbar in Windeseile fünf neue
aus dem Boden.
Die Toleranz der Berliner Polizei hielt
bis zur Machtübernahme der Nazis 1933
an und bescherte der Stadt das breiteste
Angebot an schwulen Lokalen weltweit.
Masken- und Transvestitenbälle mit professioneller Orchestermusik lockten 500
und mehr Gäste aus dem In- und Ausland
nach Berlin.
Das Aufblühen der Schwulenkultur an
der Spree war indes nicht allein die Folge
polizeilicher Toleranz. Verdienstvollerweise gibt sich Robert Beachy nicht mit
monokausalen Erklärungen zufrieden,
sondern berücksichtigt auch sozioökonomische und kulturelle Faktoren. So
führt er das Polizeiverhalten auch darauf
zurück, dass der öffentliche Raum der
rasant wachsenden deutschen Hauptstadt, in der Heerscharen junger Proletarier sich mit Gelegenheitsprostitution
ein Zubrot verdienten, gar nicht kontrolliert werden konnte. Ausführlich untersucht Beachy auch das komplexe
Zusammenspiel weiterer Akteure in
dieser spezifisch deutschen Geschichte,
allen voran Bildungsbürger und Sexualwissenschafter.
Eindrücklich porträtiert wird unter
anderem der Hannoveraner Anwalt Karl
Heinrich Ulrichs, der schon 1867 versuchte, die Homosexualität zu entkriminalisieren und sich privat wie öffentlich
zu seiner Neigung bekannte. Und natürlich spielt Magnus Hirschfeld die ihm ge-
bührende Hauptrolle. Der Berliner Arzt
hatte 1897 die erste Organisation für
Homosexuellenrechte gegründet, erlangte noch vor dem Ersten Weltkrieg
den Status eines anerkannten Schwulenexperten und rief 1919 das Institut
für Sexualwissenschaft ins Leben, die
erste Forschungseinrichtung ihrer Art,
die rasch internationale Bekanntheit
erlangte.
Robert Beachy korrigiert die weit verbreitete Vorstellung des Fin-de-Siècle als
einer für Homosexuelle intoleranten
Epoche. Er führt das Missverständnis auf
die sexualtheoretischen Überlegungen
Michel Foucaults zurück, dem die Berliner Facetten der Schwulengeschichte
unbekannt waren. Sicherlich haben aber
auch die von Repression geprägten Viten
von Oscar Wilde oder die Mitglieder des
Bloomsbury Circle ihren Teil dazu beigetragen. Wer nun moniert, Beachy lasse
die Lesben aus, wird gleich zu Beginn
des Buches auf eine weitere Neuerscheinung verwiesen. Und wer das Thema
vertiefen möchte, kann noch bis Anfang
Dezember im Deutschen Historischen
Museum Unter den Linden die sehenswerte Ausstellung «Homosexualität_en»
besuchen. l
Landesgeschichte Die Schweiz in Karten
Was für ein Züri-Leu: Der Greifensee ist sein Nasenloch,
Zürich sein Gaumenzäpfchen und Winterthur sein Augenlid! Die 1698 von Johann Heinrich Streulin gezeichnete Karte des Kantons Zürich (Achtung: der Osten ist
hier oben, damit der Zürichsee als Maul des Löwen
fungieren kann) ist eine von 80 Landkarten aus sieben
Jahrhunderten, die der englische Reisejournalist Diccon
Bewes in einem ebenso informativen wie prächtigen
Band versammelt hat. Von der ersten Darstellung der
Eidgenossenschaft von 1480 bis zur Schweiz aus dem
Weltall aufgenommen – mit Postrouten-, Eisenbahntunnel-, Sprach- und Politikkarten – ist dieses Buch schlicht
ein Must für alle Kartenliebhaber im Kartenland
Schweiz. Kathrin Meier-Rust
Diccon Bewes: Mit 80 Karten durch die Schweiz. Hier
und Jetzt, Baden 2015. 224 S., 115 Abb., Fr.74.-.
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Essays Die Amerikanerin Rebecca Solnit beleuchtet das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern
Den Frauen Gehör verschaffen
Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt
erklären. Hoffmann und Campe,
Hamburg 2015. 176 Seiten, Fr. 26.90.
Von Simone Karpf
Auf einer Party in einem amerikanischen
Nobelskiort trifft eine 40jährige Frau auf
einen älteren, gutsituierten Mann. Er
stellt ihr eine Frage – jedoch nur, um ihr
sogleich ins Wort zu fallen und ihr in
einem unaufhaltbaren Redeschwall von
einem Buch zu erzählen, das sie unbedingt lesen müsse. Was er nicht weiss:
Die Frau, der er gegenübersteht, ist die
Autorin ebendieses Buches.
Sie heisst Rebecca Solnit und ist eine
wichtige Stimme in amerikanischen Geschlechterdebatten. In der gönnerhaften
Art, die der Mann auf der Party zeigte,
sieht Solnit ein Grundmuster in der Kommunikation zwischen Männern und
Frauen, die allzu häufig nicht auf Augen-
höhe stattfindet, sondern von Männern
dazu benutzt wird, Frauen die Welt zu
erklären. Diese Beobachtung veranlasste
die Autorin 2008 dazu, einen Essay über
dieses Phänomen zu schreiben. Er stiess
in den USA auf grosses Echo und prägte
gar ein neues Wort, «mansplaining»
(«man» und «explaining»), das beschreibt, wie Männer in Gesprächen das
Rederecht an sich reissen und ständig
irgendetwas erklärend auf das Gegenüber einreden.
Solnits Anliegen ist es, auf die ungleiche Machtverteilung in der Gesellschaft
hinzuweisen, und so befasst sie sich in
den sechs weiteren Essays des aktuellen
Bandes mit den Rechten, der Gleichoder eben Ungleichstellung der Frau. Um
das vorherrschende Machtgefälle sichtbar zu machen, schlägt sie dabei mitunter auch eine sehr viel ernstere Tonart an
als im heiteren ersten Essay. Eindringlich
plädiert sie etwa dafür, Vergewaltigungen nicht bloss als individuelle Verbre-
chen zu betrachten, sondern als kulturell
begründetes Muster, das bewusst gemacht werden muss, um verändert werden zu können. Sie schreibt über die
Gruppenvergewaltigungen in Indien, sexuelle Belästigungen an Demonstrantinnen in Ägypten und knüpft an die in den
USA kontrovers geführte Debatte über
die Vergewaltigungen von Studentinnen
an amerikanischen Universitäten an.
Für die Feministin Rebecca Solnit
werden Frauen nach wie vor zu sehr als
Objekte wahrgenommen und folglich
auch als solche behandelt: Ihnen werde
von der männerdominierten Gesellschaft Raum nur in geringem Umfang zugestanden oder gar regelrecht verwehrt.
Auch wenn Solnits Essays teilweise stark
polemisch sind, erweist sich die Autorin
doch als feine Beobachterin gesellschaftlicher Strukturen und liefert wertvolle
Denkanstösse, um gängige Strukturen,
etwa die Rollenmuster von Frau und
Mann, zu hinterfragen. ●
Das amerikanische Buch Kluft zwischen Schwarz und Weiss
Im August 2014 erschoss ein weisser Polizist den schwarzen Teenager Michael
Brown in Ferguson, Missouri. Die Nachricht im Fernsehen trieb Samori Coates
auf sein Zimmer. Dort warf sich der
14-Jährige weinend auf das Bett.
Ta-Nehisi Coates überliess seinen Sohn
damals der Trauer.
World and Me» denn auch als Auseinandersetzung mit ebendem Begriff des
«struggle», den schwarze Intellektuelle
und Aktivisten für den Kampf um Bürgerrechte gebrauchen.
Coates hat den Text als Brief an Samori
angelegt. Als roter Faden dient dem Kolumnisten des renommierten Magazins
«The Atlantic» die eigene Vita. Auch er
hat als Student an der afroamerikanischen Howard University in Washington
vor 15 Jahren ein «Ferguson» erlebt, als
ein strebsamer und tief religiöser Kommilitone ohne legalen Anlass und Konsequenz für den Täter von einem Polizisten
erschossen wurde. Obwohl er selbst aus
einem Slum in Baltimore entkommen
konnte, sagt Coates seinem Sohn eine
hoffnungslose Zukunft voraus: Von
einem unabänderlichen Rassenhass getrieben, werde die «Mehrheit weisser
Banditen» Afroamerikaner weiterhin mit
brutaler Gewalt knechten und ausbeuten. Weisse nennt Coates «Träumer», die
in einer imaginierten Welt der eigenen
Überlegenheit leben und die eigenen
Schandtaten verdrängen. Samori bleibe
so nur «struggle», ein Ringen um das Verständnis der amerikanischen Geschichte
und seiner eigenen Verortung darin.
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. September 2015
SID HASTINGS / EPA
Er habe keine tröstenden Worte gefunden, schreibt der afroamerikanische
Autor nun in seinem Bestseller Between
the World and Me (Spiegel & Grau,
152 Seiten). Schmal, aber gehaltvoll und
von der Kritik als essenzieller Beitrag
über die Lage der Schwarzen in den USA
aufgenommen, enthält auch das Buch
keinen Trost.
Protest in
Ferguson (2015):
Afroamerikanern
bleibt oft nur die
Option des «struggle»,
meint Autor Ta-Nehisi
Coates (unten).
Kann diese Botschaft einen 15-Jährigen
nur niederschmettern, so stösst deren
kompromisslose Radikalität selbst eine
prominente Kritikerin des weissen Amerika wie Michelle Alexander ab. Die afroamerikanische Jus-Professorin bezeichnet «Between the World and Me» in der
«New York Times» als frustrierend. Sie
erwartet jedoch, dass Coates konkrete
Aussagen über Form und Ziele des
schwarzen «Ringens» mit Amerika nachliefert. Dazu sollte der 40-Jährige zumindest aufgrund seiner Kenntnis der afroamerikanischen Geschichte und Kultur
fähig sein. Schliesslich hat er sein Buchkonzept dem Klassiker «The Fire next
Time» des schwarzen Autors James Baldwin aus dem Jahr 1963 entlehnt. Bei näherer Lektüre erscheint «Between the
Grob vereinfacht sind hier seit der Sklavenbefreiung am Ende des Bürgerkrieges 1865 zwei Lager entstanden. Für
diese stehen die beiden Namen Martin
Luther King Jr. und Malcolm X: Hier das
Streiten für Gleichberechtigung auch in
Dialog und Allianz mit Weissen. Dort
ein schwarzer Nationalismus, der zunächst das Erringen eigener Würde und
Identität anstrebt. Bereits sein eigener
und der Name seines Sohnes signalisieren die Position von Coates. Sein Vater
war Mitglied der radikalen Black Panther Party und verlieh ihm das «nubische» Ta-Nehisi, was «Land der Schwarzen» bedeuten soll. Samori steht für den
muslimischen Militärführer Samori
Touré (1830–1900), der in Westafrika die
Franzosen bekriegt hat.
Dieser Hintergrund macht den Begriff
«Träumer» verständlicher. Indem er
«die Weissen» als monolithische und
von Grund auf rassistische Gruppe von
«Träumern» bezeichnet, greift Coates
auf den frühen Malcolm X als Mitglied
der «Nation of Islam» zurück. Diese
schwarze Sekte betrachtete die Mehrheit der Amerikaner prinzipiell als
«weisse Teufel». Ganz so weit geht
Coates nicht. Aber indem er Positionen
aufnimmt, die selbst Malcolm X am
Ende seines kurzen Lebens 1965 aufgegeben hat, markiert er die Ernsthaftigkeit der Kluft zwischen Schwarz und
Weiss im heutigen Amerika. Dafür steht
«Ferguson». ●
Von Andreas Mink
Agenda
Ludwig Emil Grimm Der geniale kleine Bruder
Agenda Oktober 15
Basel
Donnerstag, 22. Oktober, 19 Uhr
Ilija Trojanow: Macht und
Widerstand. Moderation:
Christine Lötscher, Fr. 17.–.
Literaturhaus,
Barfüssergasse 3.
Info: Tel. 061 261 29 50.
KEYSTONE
Dienstag, 20. Oktober, 19.30 Uhr
Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang
aller Geschichten. Gespräch, Fr. 25.–.
Volkshaus, Rebgasse 12-14.
Reservation: www.ticketino.com.
Bern
Montag, 12. Oktober, 20 Uhr
Thomas Schulz: Was Google wirklich
will. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Spitalgasse
47/21. Reservation: Tel. 031 320 20 40.
Dienstag, 20. Oktober, 20 Uhr
Zeruya Shalev: Schmerz. Lesung und
Gespräch, Fr. 20.-. Buchhandlung Stauffacher, Neuengasse 25/37.
Info: Tel. 031 313 63 63.
Zeichnungen in kalligrafischer Manier. Ludwig Emil
Grimm hat die Goethe-Zeit in zahllosen Collagen,
Karikaturen und Textbildern festgehalten. Der Band ist
deshalb eine Fundgrube, auch wenn die unruhige Gestaltung mit den vielen angeschnittenen und schräg
übereinandergelegten Bildern nicht jedermanns Sache
ist. Unsere Illustration (1856) trägt die Bildunterschrift
«Den Katzen zum Andenken». Manfred Papst
Ludwig Emil Grimm: Lebenserinnerungen des Malerbruders. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. Grossband,
576 Seiten, über 500 Abbildungen, Fr. 102.-.
Bestseller September 2015
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
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3
4
5
6
7
8
9
10
David Lagercrantz: Verschwörung.
Heyne. 608 Seiten, Fr. 26.90.
Hansjörg Schneider: Hunkelers Geheimnis.
Diogenes. 208 Seiten, Fr. 31.90.
Paula Hawkins: Girl on the Train.
Blanvalet. 448 Seiten, Fr. 18.90.
Eveline Hasler: Stürmische Jahre.
Nagel & Kimche. 384 Seiten, Fr. 25.90.
Jean-Luc Bannalec: Bretonischer Stolz.
Kiepenheuer & Witsch. 384 Seiten, Fr. 21.90.
Lori Nelson Spielman: Nur einen Horizont entfernt. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90.
Guillaume Musso: Nacht im Central Park.
Pendo. 384 Seiten, Fr. 21.90.
Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer
Himmel. Fischer Krüger. 368 Seiten, Fr. 21.90.
Arno Camenisch: Die Kur.
Engeler. 96 Seiten, Fr. 27.90.
Steve Watson: Tu es. Tu es nicht.
Fischer Scherz. 384 Seiten, Fr. 21.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 23.90.
Per Andersson: Vom Inder, der nach Schweden
fuhr. Kiepenheuer & Witsch. 336 S., Fr. 21.90.
Duden: Die neue Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 32.90.
C. Gertsch, B. Steffen: Ariella Kaeslin: Leiden im
Licht. NZZ Libro. 144 Seiten, Fr. 31.90.
Wilhelm Schmid: Gelassenheit.
Insel. 118 Seiten, Fr. 12.90.
Schwester Benedikta: Licht auf meinem Pfad.
Orell Füssli. 224 Seiten, Fr. 26.90.
Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass.
Lotos. 240 Seiten, Fr. 24.90.
Millie Marotta: Fantastische Tierwelt.
Christophorus. 96 Seiten, Fr. 15.90.
A. Berset, C. De Maigret, A. Diwan: How to be
Parisian. BTB. 272 Seiten, Fr. 22.90.
Jürgen Todenhöfer: Inside IS.
C. Bertelsmann. 288 Seiten, Fr. 26.90.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 15.9.2015. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Zürich
Montag, 5. Oktober, 20 Uhr
Lukas Bärfuss, Melinda Nadj Abonji:
Zürich Littéraire. Gespräch, Fr. 25.–.
Kaufleuten, Pelikanplatz 18.
Reservation: www.kaufleuten.ch.
Dienstag, 6. Oktober, 19.30 Uhr
Xiaolu Guo: Writer in Residence. Gespräch, Fr.18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62. Reservation: Tel. 044 254 00 00.
Donnerstag, 8. Oktober, 19.30 Uhr
Tomáš Sedláček: Lilith und die Dämonen des Kapitals. Lesung und Gespräch.
Moderation: Daniel Binswanger, Fr. 18.–.
Literaturhaus (siehe oben).
Montag, 12. Oktober, 20 Uhr
Franz Hohler: Buchvernissage. Lesung,
Fr. 80.– (Karte inklusive 3-Gang-Menu),
Fr. 25.– (nur Karte). Kaufleuten (s. oben).
Freitag, 23. Oktober, 20 Uhr
Lesung der Nominierten: Schweizer
Buchpreis 2015. Lesung und Gespräch,
Fr. 18.–. Literaturhaus (siehe oben).
Samstag, 24. Oktober, 20 Uhr
Adolf Muschg: Die japanische
Tasche. Buchpremiere.
Lesung und Gespräch.
Moderation: Stefan
Zweifel, Fr. 18.–.
Literaturhaus (siehe oben).
Mittwoch, 28. Oktober, 19.30 Uhr
Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Lesung und Gespräch.
Moderation: Klara Obermüller, Fr. 18.–
Literaturhaus (siehe oben).
Bücher am Sonntag Nr. 9
erscheint am 25.10.2015
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
27. September 2015 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
KEYSTONE
Jeder kennt die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm: als
Märchensammler wie als Verfasser des wichtigsten
deutschen Wörterbuchs. Weit weniger berühmt ist ihr
jüngerer Bruder Ludwig Emil Grimm (1790–1863), der
sich als Maler, Zeichner und Radierer sowie als Verfasser
von Reisetagebüchern und Lebenserinnerungen hervortat. Letztere liegen nun in einem grossformatigen,
mit über 500 Abbildungen illustrierten Band vor. Heiner
Boehncke und Hans Sarkowiczs haben den Text erstmals nach dem Manuskript vollständig ediert, der
Künstler Albert Schindehütte begleitet die Edition mit
Weil hier in Worte gefasst wird,
wofür zuweilen die Worte fehlen.
Gesa Schneider, Leiterin Literaturhaus Zürich,
liest aus Überzeugung die «Neue Zürcher Zeitung».
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