Heft #5 Deine moralische Anstalt
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Heft #5 Deine moralische Anstalt
Heft #5 00 01.01 03 Editorial 04 Friedrich Schiller: Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet 06 Kulturpreis für »Moschee DE« 08 Lars-Ole Walburg im Gespräch mit Oskar Negt 12 Rückblick auf das Projekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« 16 Interview mit der Technikphilosophin Jutta Weber 18 »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« – Versuch einer Annäherung 20 Szenenfoto: »Kampf des Negers und der Hunde« 22 Interview mit dem Regisseur Mirko Borscht 26 Albrecht Hirche: Notizen zu »Chronik eines angekündigten Todes« 28 Ballhof backstage: Fotos aus »Neverland« 30 Gastbeitrag: Sigurd Hermes über das Kommunale Kino 32 Was kommt: Die Höhepunkte von Dezember bis März 2011 schauspiel hannover e n i e D e h c s i l a r mo talt ans »Was mich an Schillers Rede berührt, ist seine Theatertrunkenheit und Euphorie, die mir heute so oft im Theater fehlt. Was wir aus seinen Worten in die Jetztzeit übernehmen sollten, ist die Rausch haftigkeit und Begeisterung für das Medium.« Mirko Borscht, Regisseur 02.03 02 Liebe Zuschauer, wenn Spaßmacher und Spitzbuben die Bühnenbretter verlassen und ihr Glück in der weiten Welt suchen, wird es schwer für uns Theaterleute: Welcher erfundene Marinelli oder Mephisto, muss man sich zum Beispiel fragen, nimmt es mit der realen Lobby auf, die ihren verantwortungslosen Umgang mit hochgiftigen und radioaktiven Abfällen im Endlager Asse gerade so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat und uns nun mit Engelsmiene von der Unbedenklichkeit deutscher Kernenergie zu überzeugen versucht? Welcher Schwank, welche Posse, muss man sich fragen, kann mit der parlamentarischen Anfrage (Verschwendung von Steuergeldern!) konkurrieren, die im niedersächsischen Landtag unser erfolgreiches Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« in Misskredit zu bringen versucht? Um unserem Unterhaltungsanspruch gerecht zu werden, bleibt uns in solchem Umfeld geradezu nichts anderes übrig, als die schwersten Geschütze bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses in Stellung zu bringen: Friedrich Schiller! Unser Theater, Deine moralische Anstalt! Schillers alter und eigentlich auch altbekannter Text »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« hat uns in seinem Idealismus und seiner Emphase so begeistert, dass wir ihm gleich unser ganzes Heft #5 gewidmet haben und ihn – leicht gekürzt – hier präsentieren (Seiten 4 und 5). Intendant Lars-Ole Walburg und der Sozialphilosoph Oskar Negt, Gastgeber unserer Gesprächsreihe »Weltausstellung Prinzenstraße«, unterhalten sich über das Verhältnis von Moral und Ethik, Politik und Theater und versuchen die Bedeutung des schillerschen Textes für ein heutiges Theaterverständnis auszuloten (Seiten 8 bis 11). Mirko Borscht, Regisseur von »komA«, bescheinigt dem Theater eine eher rauschhafte denn moralisch bildende Wirkung und zeigt sich doch im Interview zu seinem neuen Projekt »Kristus – Monster of Münster« über den Führer der Münsteraner Wiedertäuferbewegung Jan von Leyden als geradezu eingefleischter Moralist... In seiner Laudatio zum Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche bescheinigt Jurysprecher und Super intendent i. R. Hans Werner Dannowski unserer Produktion »Moschee DE«, bei dem schwierigen Thema der Integration des Islam in Deutschland »Denkanstöße zu vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten zu versuchen« (Seiten 6 und 7). Viel mehr hätte wohl auch Schiller nicht gewollt ... Christian Tschirner Dramaturg und Regisseur ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Moralische Anstalt – was fällt Ihnen dazu ein? Wir haben Hannoveraner im Theater und auf der Straße gefragt, was sie sich spontan unter einer »Moralischen Anstalt« vorstellen. Die Antworten fielen naturgemäß unterschiedlich aus – mal erheiternd, mal fantasievoll, mal verständnislos. Sie ziehen sich als Fußleiste durch das gesamte Heft und werden Sie bei der Lektüre begleiten. Die Redaktion Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784 ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Von Friedrich Schiller ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürger liche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. Wenn die Gerechtigkeit für Gold erblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze. --------------------------------------------------------------------------------------------Aber hier unterstützt sie die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden, wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit und die Religion. Aus dieser reinen Quelle schöpft sie ihre Lehren und Muster und kleidet die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand. Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie unsere Seele, welche göttlichen Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus! – Wenn der gütige August dem Verräter Cinna, der schon den tödtlichen Spruch auf seinen Lippen zu lesen meint, groß wie seine Götter, die Hand reicht: »Laß uns Freunde sein, Cinna!« – wer unter der Menge wird in dem Augenblick nicht gern seinem Todfeind die Hand drücken wollen, dem göttlichen Römer zu gleichen? – Wenn Franz von Sickingen, auf dem Wege, einen Fürsten zu züchtigen und für fremde Rechte zu kämpfen, unversehens hinter sich schaut und den Rauch aufsteigen sieht von seiner Feste, wo Weib und Kind hilflos zurückblieben, und er weiter zieht, Wort zu halten – wie groß wird mir da der Mensch, wie klein und verächtlich das gefürchtete unüberwindliche Schicksal! Eben so häßlich, als liebenswürdig die Tugend, malen sich die Laster in ihrem furchtbaren Spiegel ab. Wenn der hilflos kindische Lear in Nacht und Ungewitter vergebens an das Haus seiner Töchter pocht, wenn sein wütender Schmerz zuletzt in den schrecklichen Worten von ihm strömt: »Ich gab euch alles!« – wie abscheulich zeigt sich uns da der Undank? Wie feierlich geloben wir Ehrfurcht und kindliche Liebe! - ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Aber der Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter aus. Auch da, wo Religion und Gesetze es unter ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ist sie für unsere Bildung noch geschäftig. Das Glück der Gesellschaft wird eben so sehr durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört. Eine Erfahrung lehrt es, die so alt ist als die Welt, daß im Gewebe menschlicher Dinge oft die größten Gewichte an den kleinsten und zartesten Fäden hangen und, wenn wir Handlungen zu ihrer Quelle zurück begleiten, wir zehnmal lächeln müssen, ehe wir uns einmal entsetzen. Mein Verzeichnis von Bösewichtern wird mit jedem Tag, den ich älter werde, kürzer und mein Register von Thoren vollzähliger und länger. Wenn die ganze moralische Verschuldung des einen Geschlechtes aus einer und eben der Quelle hervorspringt, wenn alle die ungeheuren Extreme von Lastern, die es jemals gebrandmarkt haben, nur veränderte Formen, nur höhere Grade einer Eigenschaft sind, die wir zuletzt alle einstimmig belächeln und lieben, warum sollte die Natur bei dem andern Geschlecht nicht die nämlichen Wege gegangen sein? Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren, und dieses ist – sein Herz gegen Schwächen zu schützen. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Einen großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten. Sie ist es, die der großen Klasse von Thoren den Spiegel vorhält und die tausendfachen Formen derselben mit heilsamem Spott beschämt. Was sie oben durch Rührung und Schrecken wirkt, leistet sie hier (schneller vielleicht und unfehlbarer) durch Scherz und Satire. Wenn wir es unternehmen wollten, Lustspiel und Trauerspiel nach dem Maß der erreichten Wirkung zu schätzen, so würde vielleicht die Erfahrung dem ersten den Vorrang geben. Spott und Verachtung verwunden den Stolz der Menschen empfindlicher, als Verabscheuung sein Gewissen foltert. Vor dem Schrecklichen verkriecht sich unsere Feigheit, aber eben diese Feigheit überliefert uns dem Stachel der Satire. Gesetz und Gewissen schützen uns oft vor Verbrechen und Lastern – Lächerlichkeiten verlangen einen eigenen, feinern Sinn, den wir nirgends mehr als vor dem Schauplatz üben. Vielleicht, daß wir einen Freund bevollmächtigen, unsre Sitten und unser Herz anzugreifen, aber es kostet uns Mühe, ihm ein einziges Lachen zu vergeben. Unsere Vergehungen ertragen einen Aufseher und Richter, unsre Unarten kaum einen Zeugen. – Die Schaubühne allein kann unsre Schwächen belachen, weil sie unsrer Empfindlichkeit schont und den schuldigen Thoren nicht wissen will. Ohne rot zu werden, sehen wir unsre Larve aus ihrem Spiegel fallen und danken insgeheim für die sanfte Ermahnung. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Aber ihr großer Wirkungskreis ist noch lange nicht geendigt. Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. Ich gebe zu, daß Eigenliebe und Ab------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 04.05 04 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------härtung des Gewissens nicht selten ihre beste Wirkung vernichten, daß sich noch tausend Laster mit frecher Stirne vor ihrem Spiegel behaupten, tausend gute Gefühle vom kalten Herzen des Zuschauers fruchtlos zurückfallen – ich selbst bin der Meinung, daß vielleicht Molières Harpagon noch keinen Wucherer besserte, daß Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen wird – aber wenn wir auch diese große Wirkung der Schaubühne einschränken, wenn wir so ungerecht sein wollen, sie gar aufzuheben – wie unendlich viel bleibt noch von ihrem Einfluß zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? – Mit diesen Lasterhaften, diesen Thoren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labyrinthen hervor und zeigte ihr schreckliches Angesicht dem Tag. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen. Im Gewebe unsers Lebens spielen Zufall und Plan eine gleich große Rolle; den letztern lenken wir, dem ersten müssen wir uns blind unterwerfen. Gewinn genug, wenn unausbleibliche Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden, wenn unser Muth, unsre Klugheit sich einst schon in ähnlichen übten und unser Herz zu dem Schlag sich gehärtet hat. Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Tränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und Erfahrung. Mir ihr folgen wir der verlassenen Ariadne durch das wiederhallende Naxos, betreten mit ihr das entsetzliche Blutgerüst und behorchen mit ihr die feierliche Stunde des Todes. Hier hören wir, was unsre Seele in leisen Ahnungen fühlte, die überraschte Natur laut und unwidersprechlich bekräftigen. Im Gewölbe des Towers verläßt den betrogenen Liebling die Gunst seiner Königin. – Jetzt, da er sterben soll, entfliegt dem geängstigten Moor seine treulose sophistische Weisheit. Die Ewigkeit entläßt einen Toten, Geheimnisse zu offenbaren, die kein Lebendiger wissen kann, und der sichere Bösewicht verliert seinen letzten gräßlichen Hinterhalt, weil auch Gräber noch ausplaudern. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Aber nicht genug, daß uns die Bühne mit Schicksalen der Menschheit bekannt macht, sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über ihn richten. Dann nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir das Urteil über ihn aussprechen... Selbstmord wird allgemein als Frevel verabscheut; ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- wenn aber, bestürmt von den Drohungen des wütenden Vaters, bestürmt von Liebe, von der Vorstellung schrecklicher Klostermauern Mariane Gift trinkt, wer von uns will der Erste sein, der über dem Schlachtopfer einer verruchten Maxime den Stab bricht? – Menschlichkeit und Duldung fangen an, der herrschende Geist unsrer Zeit zu werden. Wie viel Anteil an diesem göttlichen Werk gehört unsern Bühnen? Sind sie es nicht, die den Menschen mit dem Menschen bekannt machten und das geheime Räderwerk aufdeckten, nach welchem er handelt? ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen und ewig auf der Folter der Geschäfte zu liegen, die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung. Der Mensch, überladen von tierischem Genuß, der langen Anstrengung müde, vom ewigen Triebe nach Tätigkeit gequält, dürstet nach bessern auserleseneren Vergnügungen, oder stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß. Der Mann von Geschäften ist in Gefahr, ein Leben, das er dem Staat so großmütig hinopferte, mit dem unseligen Spleen abzubüßen – der Gelehrte zum dumpfen Pedanten herabzusinken – der Pöbel zum Tier.---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. Wenn Gram an dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsere einsamen Stunden vergiftet, wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen.-------------------------------------------------------------------------------------Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eignen aus – der Glückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. Und dann endlich – welch ein Triumph für dich, Natur! – wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ »Sensibilität, Intelligenz und Offenheit für elementare religiöse Fragen« Am 2. November wurden Robert Thalheim und Kolja Mensing für ihr Stück »Moschee DE«, das den realen Streit beim Bau einer Moschee szenisch rekonstruiert, mit dem Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Laudatio. Von Hans Werner Dannowski, Stadtsuperintendent i. R. und Sprecher der Kulturpreis-Jury »Keine der Positionen, so wird es am Ende des Stückes vermutlich allen Zuschauern klar, bietet eine tragfähige und zukunftsweisende Lösung der angesprochenen Probleme. Die wirkliche Begegnung der Kulturen und Reli gionen wird sich auf einer tieferen Ebene er eignen müssen.« Am Ende der Aufführung sind viele der Zuschauer erkennbar konsterniert. Denn das Stück »Moschee DE« über die Auseinandersetzungen beim Bau einer Moschee in Deutschland verweigert sich mit Konsequenz den einfachen Lösungen des Pro oder Contra wie auch den verschiedenen Vermittlungsstrategien, die dazwischen liegen könnten. Robert Thalheim und Kolja Mensing haben authentisches Interviewmaterial, das sie bei der Planung und dem Bau einer muslimischem Ahmadiyya-Moschee in Berlin-Heinersdorf in den Jahren 2006 bis 2008 sammelten, zu einer szenischen Collage zusammengefügt. Das Stück macht einerseits das hohe Konfliktpotenzial begreifbar, das sich in der deutschen Integrationsdebatte schon seit Jahren verbirgt. Die »szenische Rekonstruktion« wird aber zugleich überzeugend dem Anspruch des Theaters gerecht, weitergehende Denkanstöße zu vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten zu versuchen. Da ist in der Collage von Thalheim und Mensing der Vorsitzende einer Bürgerinitiative gegen den Bau der Moschee, der durchaus zwischen dem Totalanspruch des Islam auf den Menschen und der Lebenswirklichkeit des einzelnen Muslim zu unterscheiden weiß. Dessen »Feldzug gegen den Islamismus« aber erkennbar gebrochen wird durch die unverhoffte Möglichkeit, in seine schwierige Biografie noch einmal eine große Rolle einzufügen. Da ist der Imam der Gemeinde, dessen Offenheit und Überzeugungskraft die innere Selbstgewissheit nicht versteckt, dass dem Islam – schon allein infolge der numerischen Entwicklung – die Zukunft auch in Deutschland gehören wird. Da ist der Konvertit, dessen Hinwendung zum Islam sich wie eine analoge pietistische Bekehrungsgeschichte liest. Und da sind die Vermittlungsbemühungen der »Zugezogenen« und des Pfarrers, die beide – aus unterschiedlichen Gründen – Ausdruck der eigenen Schwäche sind. Keine der Positionen, so wird es am Ende des Stückes vermutlich allen Zuschauern klar, bietet eine tragfähige und zukunftsweisende Lösung der angesprochenen Probleme. Die wirkliche Begegnung der Kulturen und Religionen wird sich auf einer tieferen Ebene ereignen müssen. Positionsklarheit wird sich mit Selbstbegrenzung, Selbstbewusstsein mit Hör- und Dialogfähigkeit verbinden müssen. Nur so kann, im Zuspiel von allen Seiten, das Gegeneinander zu einem Miteinander werden. Indem die Jury der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers der szenischen Collage »Moschee DE« den Kulturpreis der Landeskirche 2010 verleiht, würdigt sie mit hoher Anerkennung die Sensibilität und Intelligenz, mit der die Autoren das schwierige Thema der Integration des Islam in Deutschland bearbeitet haben. Sie dankt damit zugleich dem Schauspiel Hannover für die Offenheit, mit der dort häufig elementare religiöse Fragen (Beispiel: »Adams Äpfel« von Anders Thomas Jensen) in Aufführungen zur Geltung kommen. ------------------------------------------------------»Moschee DE«: 22.12.*, 30.01.11, jeweils 20 Uhr, Cumberland sche Bühne; 28.01.11 Gastspiel in der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin ------------------------------------------------------* 2:1 einmal zahlen und zu zweit ins Schauspiel gehen! ------------------------------------------------------------------------------------------------- »Eine moralische Anstalt? Sagt mir gar nix.« Mirko (34), Aktuar Foto: Katrin Ribbe 06.07 06 Szene aus »Moschee DE« mit Aljoscha Stadelmann als Konvertit und Sandro Tajouri als Imam (rechte Seite) »Theater ist ein Rastplatz der Reflexion« Schauspielintendant Lars-Ole Walburg im Gespräch mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt »Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und Verteidiger und Richter in unserem Inneren.« Lars-Ole Walburg Sie haben Schillers Text »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« erst jüngst wieder zur Hand genommen. Wie empfinden Sie diesen über 200 Jahre alten Text, wenn Sie ihn heute lesen? ------------------------------------------------------Oskar Negt Er ist sehr lehrreich und modern, weil er die kulturell-gesellschaftliche Funktion des Theaters reflektiert: Was kann auf der Bühne gemacht werden? Und natürlich ist diese Aussage über die moralische Anstalt bezogen auf die Emanzipationsmöglichkeiten des Menschen. Die Bühne hat aufgrund der Unbegrenztheit von Fantasie die Funktion, den Vorgriff zu riskieren, einen Zustand zu kennzeichnen und dramatisch zu entwickeln, den es in der Realität so nicht gibt. Da drin steckt eben die utopische Funktion: das Freisetzen von Fantasie und menschlichen Eigenschaften, bis hin zum abgründig Bösen und Hässlichen. Es ist ja ein sehr kurzer Text, den man eigentlich auch im Zusammenhang mit den »Ästhetischen Briefen« lesen muss, weil sehr viel Kant darin aufgenommen ist: das Weltbürgertum und die Weltbegriffe, die eigentlich das betreffen, was alle angeht. Ja, ich finde den Text nach wie vor lesenswert.-------------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Schiller hat ihn ja vor der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft als Vortrag gehalten. Man hat ein bisschen das Gefühl, der Autor möchte sich hier seiner eigenen Bedeutung rückversichern. Und gleichzeitig blitzt da auch ein Anspruch von Fürstenerziehung auf, also ein Appell an die Mächtigen im Umgang mit der Bühnenkunst.-----------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, ich bin absolut sicher, dass dieser Appell an seinen Fürsten, an den Herzog, gerichtet ist. Ich meine, Schiller ist nicht besonders gut behandelt worden, wenn Goethe nicht dauernd gemahnt hätte, die Gelder etwas zu erhöhen, wäre er vom Hof gar nicht wahrgenommen worden. Aber der Appell ist 1784 erschienen, es ist ein vorrevolutionärer Text. Und Schillers vorrevolutionäre Texte haben alle die Tendenz von Ermahnungen: Wenn ihr euch nicht ändert, dann wird es eine Revolution geben. Jedenfalls habe ich den Schiller dieser Zeit immer so gelesen. Es ist schon der Appell an die bestehenden Herrschaftsstrukturen, sich zu reformieren, und die Bühne hat eine große Bedeutung für diesen menschlichen Emanzipationsprozess.------------------------------------------------------------------------ Walburg Schiller schreibt: »Wenn wir unsere Laster auch vielleicht nicht bessern können, so werden wir zumindest darüber aufgeklärt.« Man ist beim Lesen nicht ganz sicher: Ist er tatsächlich überzeugt, dass das Theater in der Lage ist, den Menschen moralisch zu erheben, also wirklich besser zu machen? Aber er schreibt hier zumindest, dass unsere Fehler und Makel eben über das Theater emotional erfahrbar werden. Was denken Sie über das Theater als moralische Anstalt?--------------------------------------------------------Negt Naja, das Brecht‘sche Theater will ja auf der einen Seite immer die Verhältnisse richtigstellen, also die Verkehrtheit der Welt zurechtrücken, auf der anderen Seite ist es natürlich auch in einem sehr penetranten Sinn Lehrtheater. Wie aber kann eine moralische Anstalt heute aussehen? Sie kann nicht mehr belehrend wirken im Sinne der Moralisierung der Menschen. Das Theater muss die Differenziertheit dieser Welt, auch in moralischer Hinsicht, sichtbar machen. Wie es bei Kant heißt: Die Menschen werden nicht besser, die Moralisierung ist nicht unter den Begriff des Fortschritts zu bringen. Aber die objektive Vorkehrung, dass die Menschen weniger Zwistigkeiten haben, dass sie rechtlicher denken, also in den äußeren Handlungen besser werden – davon geht Kant aus, und davon geht auch Schiller aus. Es ist den Menschen möglich, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern, bis hin zu dem, was er einen ästhetischen Staat nennt, in dem Lebensnot und Spiel in einem versöhnenden Maßverhältnis zueinander stehen; aber die Möglichkeit, aus einem charakterlich niederträchtigen Menschen einen guten zu machen, das hat, glaube ich, auch Schiller skeptisch betrachtet.----------------------------------------------------------Walburg Er beschreibt ja auch die Negativbeispiele, aus denen wir viel eher bereit sind zu lernen als aus den positiven, der Unterhaltungswert eines Verbrechens ist natürlich höher, als der einer guten Tat. Das bringt mich auf Ihr neues Buch, in dem Sie eine emotionale Bereitschaft beschreiben, überhaupt wieder politisch denken zu wollen. Das Emotionale in diesem Bereich muss überhaupt erst wieder ausgeprägt werden. Damit hat die Bildung des Herzens und des Geistes bei Schiller ja auch zu tun.------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, das ist ganz richtig. Und deshalb ist es mir auch nie in den Sinn gekommen, in einem Buch mit dem Titel: »Der politische Mensch« einfach Prädikate des Menschen aufzuzählen, dem das Etikett »politisch« angeheftet wird. Das ist ja nicht so einfach. Wie entsteht er, wie entwickelt er sich, welche Elemente von Urteilskraft müssen mitbeteiligt sein, damit die Menschen aufmerken, was mit ihnen geschieht, in welcher Welt sie leben? Ich versuche eben, diesen Strang der Aufklärung weiterzuverfolgen. Es geht darum, die emotionalen Seiten, das Pathos, das Ethos und die Bestandteile der alten Rhetorik wiederzugewinnen, und das wäre natürlich auch etwas für das Theater. Nirgendwo sonst dürfen sich Emotionen so unverstellt ausdrücken. ------------------------------------------------------Walburg Sie beschreiben so etwas wie eine kulturelle Öffentlichkeit, die innerhalb der Gesellschaft notwendig ist, um einen Dialog überhaupt in Gang zu setzen. Mir fällt dabei auf, dass Sie zwar sehr viel über Bildung schreiben, Theater aber gar nicht vorkommt. Welche Rolle spielt denn Theater in diesem Kontext für Sie?--------------------------------------------------------Negt Naja, das Theater gehört eigentlich auch in dieses Kapitel Fünf: »Öffentliche Erfahrungsräume, kollektive Erlebniszeiten – unverkäufliche Güter der Demokratie«. Das Buch wurde ja gekürzt von über 1.100 Seiten im Ursprungsmanuskript auf 600 Seiten, da ist das Theaterkapitel weggefallen. Unter dem Titel »Was wir vom Theater lernen können« habe ich für das Schauspielhaus vor einigen Jahren einen Text verfasst, den ich Ihnen in erweiterter Fassung zuschicken werde. Die ästhetische Fantasie hat in meiner Sicht der Dinge eine prägende Bedeutung für das Lebensgefühl der Menschen und für Ihre emotionalen Bindungen. Vaclav Havel, der spätere tschechische Präsident, hat 1962 auf dem Schriftstellerkongress gesagt: »Wenn ich die Fassaden Prags sehe, dann bin ich sicher, dass diese Lebensform des Sozialismus nicht haltbar ist.« Also, wer die Umwelt ästhetisch ruiniert, die Dingwahrnehmung so verkommen lässt, dass die Menschen sich darin nicht wiedererkennen, dessen Ordnung muss zusammenbrechen. Und natürlich gehört die Freiheit des Theaters in der Fantasieproduktion, in der Grenzüberschreitung auch zu diesen Zusammenhängen, in denen die Menschen die Möglichkeit haben müssen, sich in dem, was dargestellt ist oder wahrgenommen wird, wiederzuerkennen. Ein Element des Nichtentfremdeten gerade im Bestätigen der Wahrnehmung des Fremden, des Entfremdeten.--------------------------------------------------------------------------------------------------- --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Eine Institution, die sich um Werte wie Moral kümmert? Ich finde, die braucht es nicht, weil jeder selbst eine solche Institution ist.« Klaus (59), Betriebswirt Foto: Katrin Ribbe 08.09 08 Walburg Sie gehen ja häufig ins Theater und in die Oper. Stoßen Sie oft auf diese Momente?--------------------------------------------------------------------Negt Oper ist eine alte Liebe von Alexander Kluge und mir, wir haben ja viel mit der Oper zu tun gehabt. Wissenschaft ist eine trockene Welt, empirische Wissenschaft sowieso. So ist meine Proklamation der Entwicklung soziologischer Fantasie zu verstehen – das bedeutet, wir müssen uns erlauben, die Dinge so zu wenden und zu drehen, dass die verdeckten und unterschlagenen Potenziale besser sichtbar werden. Adornos Satz: Wer nicht weiß, was über die Dinge hinausgeht, weiß auch nicht, was sie sind – dieser Satz hat meine erkenntnistheoretische Sichtweise von der Welt maßgeblich geprägt. So geht es mir auch mit dem Begriff der Utopie, als der Negation eines als unerträglich betrachteten Zustands mit dem Willen, mit der Entschlossenheit, diesen Zustand zu ändern. Theater ist im Grunde für mich ein Rastplatz der Reflektion, der konstitutiv notwendig ist für eine freie Gesellschaftsordnung. Für freie Subjekte ist Theater einfach eine Lebensnotwendigkeit.-----------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Da fällt mir ein Satz von Ihnen ein, den ich ganz toll finde: »Nur wenn wir uns der Vergangenheit versichern, sind wir in der Lage, den Blick nach vorne zu richten, eine Utopie des Alltagsgebrauchs zu entwickeln.« -----------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, und damit meine ich das Theater. Sie haben mit »Parzival« und »Simplicissimus«, deren Aufführungen ich mit höchster Zustimmung wahrgenommen habe, gewissermaßen die deutsche Geschichte auf einer Ebene eingeholt, die offiziell eigentlich gar nicht existiert. Für mich sind Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit wesentliche Freisetzungspotenziale von Zukunftsentwürfen. Ich glaube, dass der Energieverzehr der Menschen so groß ist, weil er mit Verdrängungen verknüpft ist, so dass ihre Entwurfsfantasie verloren geht. Ich will es an meinen Gewerkschaftsdiskussionen erläutern: »Soziologische Fantasie und exemplarisches Lernen« war mein erstes Buch, in dem ich versuchte, diese Fantasiepotenziale im Zusammenhang der Arbeiterbildung zu entwickeln. Die Lust, ein anderes Leben zu fantasieren, aber auch eine andere Gesellschaft zu entwerfen, ist verknüpft mit der Freisetzung von Triebenergie. Der schlimmste Verzehr von Energien besteht ----------------------------------------------- Oskar Negt »die neue Spielzeit in Hannover?« Julian (24), Student darin, es in diesem Zustand auszuhalten. Bei diesen Gewerkschaftsdiskussionen stoße ich immer wieder darauf. Jedesmal meldet sich einer und sagt, du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, nichts mehr über die Mandatserweiterungen der Gewerkschaften hören zu müssen, wenn ich abends nach Hause komme. Wir kommen gerade so über den Tag mit unseren Energien. Dann sage ich, das ist ja mein Argument, ihr kommt über den Tag und verbraucht alle Fantasie, um etwas auszuhalten. Aber dass Fantasien für die Veränderung der Verhältnisse verfügbar sein könnten, wenn sie nicht von dieser Verdrängungsarbeit abgezogen würden, das seht ihr nicht. Das betrifft nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Jammerei der Lehrer in Schulen. Sie haben das Gefühl, man müsste was machen, sie tun es aber nicht. Dadurch igeln sie sich in einem Zustand ein, in dem die Klage über die schlechten Verhältnisse ihre ganze Fantasie besetzt und verbraucht. Mehr haben sie nicht. Und gegen das Niederlassen und Einrichten in unerträgliche (jedenfalls sub jektiv so empfundene) Verhältnisse rebelliere ich.-----------------------------------------------------------Walburg Um nochmal auf die moralische Anstalt zurückzukommen: Warum hat Moral heutzutage eine fast negative Konnotation, Ethik aber nicht? Es gibt immer Ethikkommissionen, wenn irgendetwas anbrennt innerhalb der Gesellschaft, aber Moral hat schon fast einen negativen Beigeschmack.- -----------------------------------------------------------------------------Negt Es gibt moralphilosophische Vorlesungen von Adorno, in denen er freier mit dem Gedanken umgegangen ist. Das gilt auch für Kant zum Beispiel, und das gilt auch für mich, dass man in den sprechenden Veranstaltungen frei ist. Ethos ist ja aus griechischem Ursprung verknüpft mit etablierten Haltungen und Einstellungen der Menschen, Ethik ist doch eher konventionell, und Adorno plädiert eben für den Begriff der Moral, weil er die Unbedingtheit des Willens enthält. Es sind andere Ansprüche an den Menschen, Selbstverpflichtungen, die wenig Kompromisse zulassen.--------------------------------------------------------------------------Walburg Welche Ansprüche meinen Sie?-------------------------------------------------------------------Negt Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit allgemeines Gesetz werden kann. Das ist das Grundprinzip der Moralphilosophie. Eine konkretere Form des Kategorischen Imperativs lautet: Handle so, dass du den anderen Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck nimmst. Wenn man den moralischen Rigorismus Kants in den Alltag übersetzt, sind es ganz andere Anforderungen, als zu sagen: Ethos besteht in einer ausgeglichenen integrierten Situation meines Lebens in der Gemeinschaft. Das heißt, die Kompromissfähigkeit der Ethik ist viel größer als die Kompromissfähigkeit der Moral.--------------------------------------------------------------Walburg Das beantwortet meine Frage aber noch nicht. Warum ist denn Moral – wenn Sie es so beschreiben, klingt es ja eher positiv – so in Verruf gekommen?----------------------------------------------------------Negt Die Moralisierung des Politischen, also die Aufteilung der Welt in Gut und Böse (die berüchtigte »Achse des Bösen«) könnte dazu beigetragen haben, die Moral zu diskreditieren. Dann überwuchern Gesinnungsfragen natürlich alles andere. Ein Politiker, sagt Max Weber, muss kein guter Mensch sein. Er muss Verantwortung übernehmen für sein Handeln und sein Nichthandeln. Innerhalb der Gesinnungsethik gilt etwas anderes. Da muss die Qualität der Handlungsmotive in Ordnung sein. Das muss durchaus nicht für einen Politiker so sein. Wenn ich eine Antwort auf Ihre Frage geben sollte, dann enthält die Moral Anforderungen an den Menschen, die eben mehr bedeuten, als bloße Verantwortung für Handlungen zu übernehmen – nämlich die Motive. Schiller, der sich hartnäckig an Kant abgearbeitet hat, hat sich im übrigen ja über diesen moralischen Rigorismus lustig gemacht. Es gibt den Vers, ich glaube in den Xenien: »Gern hülf ich den Freunden, doch tu ich es leider aus Neigung und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft sei.« Das ist ein schöner Satz. Sobald Neigung im Spiel ist, ist für Kant die moralische Qualität des guten Willens in Frage gestellt. Aber das ist wahrscheinlich immer noch nicht die richtige Antwort auf Ihre Frage.--------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Naja, es klingt durch, dass die Ethik einen doch stärker in Ruhe lässt, als es eine Forderung, die aus einer moralischen Verhaltensweise kommt, vermag. ------------------------------------------------------Negt So kann man es sagen. Warum herrschen zum Beispiel in Afrika südlich der Sahara die schlimmsten Zustände der Weltgeschichte? Der ganze Kontinent südlich der Sahara ist abgekoppelt vom Weltmarkt, und trotzdem wird viel Geld reingesteckt. Die Friedensmissi- onen dort fassen sieben bis acht Milliarden im Jahr. Wenn es nur um das Geld ginge, das da reingesteckt wird in Spenden und europäisch-amerikanischen Hilfsleistungen der Staaten, dann müsste das ein blühender Kontinent sein. Ist es aber nicht, weil Investitionen im Grunde nur um die Rohstoffquellen stattfinden, und zwar in allen diesen Ländern, die sehr rohstoffreich sind. Das heißt, die Motive sind so, da zu investieren, dass das den Menschen überhaupt nicht zugute kommt. Der gute Wille reicht nicht aus; die Hilfsleistungen sind nicht vom Prinzip der Verantwortung angeleitet.------------------------------------------------------------Walburg Auf jeden Fall nicht nachhaltig. Ich möchte noch einmal kurz auf das Moralische kommen. Sie zitieren in Ihrem Buch auch eine Maxime von Goethe: »Der Handelnde ist immer gewissenlos.« Man hört raus, dass Sie dem misstrauen, dass Sie nicht der gleichen Meinung sind wie Goethe. Warum nicht?-----------------------------------------------------------------------Negt Weil diese Aussage »Der Handelnde ist immer gewissenlos« ein Problem zuspitzt, aber die Komplexität der Handelnden nicht in den Handlungszusammenhang einbezieht. Die Gewissenlosigkeit kann man in Zusammenhängen, die mit Handlungen verknüpft sind, nicht als ein zureichendes Motiv für Handlungen annehmen. Sondern man muss es wirklich so sehen, wie es Kant gesehen hat: »Betrachten wir das Gewissen einmal als inneren Gerichtshof.« Das ist nicht einfach eine Naturqualität des einzelnen Menschen, sondern Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und Verteidiger und Richter in unserem Inneren.--------------------------------------------------------Walburg Das ist ein schönes Bild. Diese Ingredenzien in uns sind ja vielleicht dann die Voraussetzung für das moralische Verhalten des Einzelnen?-----------------------------------------------------------------------Negt So sehe ich das. Nehmen Sie das Gewissen: Im Altgriechischen heißt Gewissen Syneidesis. Das bedeutet, da ist immer jemand, der zusieht, zusammen sehen. Jedenfalls ein Blick von oben. Und im Lateinischen heißt es conscientia, wir haben immer Mitwisser. Was immer wir entscheiden, es wird mit dem Gewissen verknüpft werden. Aber diese Vorstellung von Gewissen, dass eigentlich immer einer oder mehrere dabei sind bei diesen Entscheidungen, bedeutet, dass Gewissensentscheidungen nie völlig isolierte subjektive Entscheidungen sind; das Innere des Menschen ist dabei im Spiel, ge- --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Moral ist klar, aber Anstalt? Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass es sich vielleicht um ein Theaterstück handelt.« Peter (51), Angestellter im öffentlichen Dienst 10.11 10 wiss. Aber in letzter Instanz wissen wir nicht, wann und wie der Richter im Innern sagt, das mache ich oder das mache ich nicht. Freud würde sagen, da funktioniert das Über-Ich. Aber das Über-Ich ist ja für Freud, so würde Kant sagen, praktisch eine empirische Instanz. Also, dein Vater hat schon so entschieden und übrigens, der erwartet das von dir, demzufolge entscheide ich das. Sehr vereinfacht ausgedrückt. Das wäre für Kant eine empirische Zufälligkeit, während für ihn die Moralität gleichsam eine erfahrungsunabhängige, das heißt: transzendentale Gegebenheit ist.---------------------------------------------------------------------------Walburg Glauben Sie daran, dass diese Gewissensbildung, aber auch vielleicht die Bildung von Moral tatsächlich vom Theater ausgehen kann? Es heißt ja zum Beispiel, im Theater wird keine Revolution gemacht. Welche Bedeutung können dann Theaterabende überhaupt für diese Vorgänge haben?---------------------------------------------------------------------------Negt Das stimmt ja auch gar nicht. Vom Theater gehen häufig Impulse aus, gerade vom guten Theater, die kollektive Einstellungen verändern. Ich glaube, das Theater ist ein entscheidender Rastplatz der Reflexion und der Ausdrucksmöglichkeiten der Gefühle der Menschen; vielleicht nicht unbedingt eine Einrichtung der Besserung, der Zivilisierung, aber die Menschen werden mit den eigenen Gefühlen konfrontiert, sie werden sichtbar gemacht in einer kollektiveren Form, als das anderswo passieren könnte. Natürlich werden starke Gefühle angeregt, wenn eine Bergwerkskatastrophe wie die in Chile stattfindet, auch Gefühle der Hilfe, der Fürsorge, der Schuldzuweisungen. Aber die Komplexität der Gefühle, also Angst, Zorn, Neid, wurde wirklich in den griechischen Tragödien so gesehen, dass demokratische Gesellschaftsstrukturen nur existieren können, wenn die Gefühle ihren öffentlichen Ausdruck haben. Wenn sie privat verkapselt bleiben, sind sie gefährlich, jedenfalls für eine Gesellschaft freier Bürger. Dann ist derjenige, der kollektive Gefühle privatisiert, für das Gemeinwesen ein potenzieller Rebell. Und deshalb ist es notwendig, die Waffen für einen Tag oder zwei ruhen zu lassen, damit die Reflexionsruhe des dramatischen Geschehens nicht gestört wird, damit wirklich Ödipus oder Antigone ihre Gefühle komplett ausdrücken können, bis zum Selbstopfer. Ein bisschen hatte ich im übrigen bei dem Stück von Koltès...-------------------------------------------------------------------------------------- Walburg ...»Kampf des Negers und der Hunde«...------------------------------------------------------------Negt ...ja, dieses Antigone-Motiv im Kopf. Ich meine, es geht einfach darum, dass der Ermordete nach den Ritualen der Schwarzen angemessen beerdigt wird. Und die Verweigerung der Leiche bedeutet eine Verneinung oder Achtungslosigkeit gegenüber ihren Gepflogenheiten und Sitten.- -----------------------------------------------------------------------------------------Walburg Es ist genauso wie bei »Antigone« das althergebrachte Recht, und so beschreibt Koltès auch, wie die Mutter die Nacht durchschreit, solange ihr Sohn nicht unter der Erde ist. Hier bestimmt noch das Matriarchat, und dagegen tritt dann das Patriarchalische als neue Kraft auf, das ist dann Kreon als der Staat oder das Geld in Form einer französischen Baustelle bei Koltès.------------------------------------------------------------Negt Ah ja, sehen Sie das auch so. -------------------------------------------------------------------------Walburg Ja, es ist das gleiche Recht, das gefordert wird.-------------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Das Recht des Grabes und der Beerdigung, das Naturrecht also gegenüber dem, was die Herrschaftskriege anrichten auf allen Ebenen, auf der Baustellenebene genauso wie anderswo.------------------------------------------------------------------------------Walburg Ich habe Ihnen im Zusammenhang mit der moralisch-gesellschaftlichen Verantwortung des Theaters davon erzählt, dass einzelne CDU-Landtagsabgeordnete gerade unser Projekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« attackieren. Ich kriege natürlich auch Briefe von Abonnenten, die fragen, warum wir so viel politisches Zeug machen und nicht einfach nur Theater spielen. Was würden Sie darauf antworten?--------------------------------------------------------Negt Dass Politik nicht mehr so einfach als isolierte Materie betrachtet werden kann. Es ist nachweisbar, dass wir alltäglich in politische Zusammenhänge einbezogen sind, ob wir wollen oder nicht. Die Ghettoisierung des Politischen, die Vorstellung von Politik als Sonderforschungsbereich, mit dem sich nur Politiker beschäfti gen – das geht nicht mehr. Das sieht man an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft, das sieht man an Stuttgart 21 und an Gorleben oder der Asse. Wer dann sagt, das ist was Unpolitisches, das ist ein Sachbereich, der Sachbereich Gorleben, der überhebt sich in seinem Politikverständnis und versucht die Bevölkerung aus entscheidenden Fragen herauszuhalten. Das sind Fragen mit politischen Folgen, mit Gemeinwesen-Folgen, die unsere gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen zentral berühren. Und wer da als Privatmann sagt, das gehört nicht zu meinen Überlegungen, das gehört nicht zu meinem Gemeinwesen, der wird am Ende selbst Opfer eben dieses Gemeinwesens, wenn es verrottet und kaputt gerissen ist. Ich habe in anderen Zusammenhängen in Bezug auf Bildung gesagt: »Alle Bildung ist politische Bildung«, aber nicht im Sinne parteipolitischer Verengung. Wenn man den Begriff des Politischen so eng fasst, dass man sagt, da gibt es Politik, da gibt es eine Ingenieurswissenschaft, und dann gibt es einen Sachbereich Radioaktivität, dann bezeichnet es ja im Grunde, dass man überhaupt gar keine Vorstellung von der gegenwärtigen Welt hat. Und das zu bekämpfen, ist, glaube ich, sehr legitim. Und auch Wesensbestandteil des modernen Theaters.------------------------------------------------------------------------------------Walburg Haben Sie vielen Dank. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Parzival«: 15. (Wiederaufnahme) und 22.01.11, jeweils 19:30 Uhr, Schauspielhaus ------------------------------------------------------»Kampf des Negers und der Hunde«: 23.12. und 09.01.11, jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne ------------------------------------------------------Oskar Negt: Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform, Steidl Verlag, Göttingen 2010, 29 €. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Ich möchte meinen, dass es eine Art Anstalt ist, wie man sich eine Psychiatrie vorstellt – nur für Leute, die von der staatlich vorgeschriebenen Moral abweichen.« Henrik (22), Gamedesigner Dreams reloaded Ein rückblick auf das Projekt »Republik freies wendland – reaktiviert« Von aljoscha begrich, fotos: katrin ribbe, Aljoscha Begrich »Rats-CDU: Hüttendorf muss weg!« Hannoversche Allgemeine »Noch geht es ziemlich unauffällig zu im mit öffentlichen Mitteln geförderten Ausbildungslager für zivilen Ungehorsam.« nachtkritik.de »Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines Theaters.« Presseerklärung von Dirk Toepffer, CDU Niedersachsen schulklassen besuchten die ver anstaltungen der republik eben so wie politisch aktive jugendli che, bürgerliche intellektuelle, kinder, nachbarn und politiker. Das Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« wurde vom 17. bis 26. September auf dem Ballhofplatz durchgeführt. 50 junge und 25 nicht mehr ganz so junge Menschen lebten hier mitten im Herzen Hannovers neun Tage lang eine utopische Republik. Anfangs versammelten sich nur wenige auf dem leeren Platz und begannen damit, ein paar Holzlatten zusammenzubauen, doch mit jeder Minute nahm die »Republik« mehr Gestalt an, und täglich stießen neue Leute zu. Tagsüber kamen Nachbarn und Schulklassen vorbei, um sich den neuen Freistaat anzugucken, und an den Abenden nahmen über 2.000 Besucher an den Veranstaltungen teil – vom Ton Steine Scherben-Eröffnungskonzert bis zur Abschlußdiskussion mit Oskar Negt. ------------------------------------------------------------------------------------Die Dorfbewohner bauten hier zusammen Puppen für das Straßentheater von Bread & Puppet, kletterten auf Bäume oder begrünten angrenzende Baumscheiben, hörten Vorträge, führten Theaterstücke und Konzerte auf, diskutierten, aßen und schliefen – kurzum lebten dort. Doch gleichzeitig agierten sie die ganze Zeit auf einer Bühne: Sie wurden von Besuchern und Journalisten bei ihrem Tun beobachtet. Innerhalb dieser grundlegenden theatralen Situation konnte das Theater seine Kraft entfalten, denn nur in dieser künstlich errichteten »Republik« war es möglich, dass ganz gewöhnliche Elftklässler, streng dogmatische Jungaktivisten, liberale Althippies und Theaterfreaks eine Woche lang solidarisch zusammenleben konnten. Und nur dieses Theaterdorf ermöglichte es, die Fragen zur Atomkraft und nach unseren gesellschaftlichen Lebensentwürfen über Partei- und Gruppengrenzen hinweg in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und ein heterogenes Publikum zu erreichen. Schulklassen besuchten die Veranstaltungen in der Republik ebenso wie politisch aktive Jugendliche, bürgerliche Intellektuelle, Kinder, Nachbarn und Politiker. ------------------------------------------------------------------------------------Die reaktivierte »Republik Freies Wendland« war eine gelebte Utopie, bei der jeder sehen konnte, welche Möglichkeiten die Demokratie bietet und was gesellschaftspoliti sches Engagement bedeuten kann. Es gab Kritik und Aufregung um die Aktion, aber auch Hannoveraner, die Essen, alte Bilder und Plakate vorbeibrachten, Anwohner und Polizeibeamte, die ihre Solidarität bekundeten. ----------------------------------------Das Dorf wuchs über sich hinaus. Auch wer nur kurz in der »Republik Freies Wendland« war, wird sie wohl nie wieder vergessen, denn auch wenn auf dem Ballhofplatz längst wieder der Weihnachtsmarkt die Szene bestimmt, lebt der Freistaat in den Köpfen und Herzen vieler für immer fort: »Turm und Dorf könnt ihr zerstören, nicht aber die Kraft, die es schuf!« -------- --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Theater! Jedenfalls hat es den Anspruch und möchte ab und zu Moralische Anstalt sein.« Hans-Peter (67), Rentner 12.13 12 »Wenn das Theater ein Hüttendorf bauen will, dann muss es sich die Freiheit dafür nicht nehmen. Die hat es schon.« Ronald Meyer-Arlt, Hannoversche Allgemeine »Ja, ja. Die Jugend.« taz »Da werden Jugendliche verführt, sich in die falsche Richtung zu engagieren.« Nils Tilsen, FDP Hannover »So ist das mit der moralischen Anstalt: Man spürt, wann sie wehtut.« Evelyn Beyer, Neue Presse »Anti-Atom-Dorf spaltet die Stadt« Bild-Zeitung »Die Kunst kam in Hannover bei so viel Erinnerung nicht zu kurz.« Deutschlandradio Kultur --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Klingt ja furchtbar. Früher waren das Erziehungsheime für Töchter.« Angelika (57), Lehrerin Foto: Katrin Ribbe »Republik Freies Wendland – Reaktiviert«, Ballhofplatz Hannover (September 2010) 14.15 14 »Der Roboter wird zum Gefährten« Die technikphilosophin jutta weber über tendenzen der sozialen robotik und die normierung unseres miteinanders interview: judith gerstenberg »muss es bei der lösung gesellschaftlicher probleme immer ein a priori der technischen lösung geben?« Freude Ekel Angst wut ekel angst Der Großmeister des britischen Humors, Alan Ayckbourn, entwarf 1987 in seiner Science-Fiction-Komödie »Ab jetzt« eine imaginäre Zukunft, in der sich ein Dienstleistungsroboter als Spiegel unserer Verfasstheit erweist. Seit 20. November läuft das Stück auf der Cumberlandschen Bühne. Ein Gespräch mit der Philosophin und Technikforscherin Jutta Weber über Geschichte, Wunsch und Wirklichkeit gegenwärtiger Roboterträume. ------------------------------------------------------Frau Weber, Sie sind Technikphilosophin und -forscherin mit besonderem Schwerpunkt »Robotertechnik«. Womit genau beschäftigen Sie sich?___ Jutta Weber Ich führe Gespräche mit Robotikern, gehe ins Labor, um zu prüfen, wie der Stand der Forschung tatsächlich ist. Der ist meist weit unter dem, was in die Öffentlichkeit getragen wird, sei es durch Clips auf Webseiten oder Fernsehberichte. Das, was dort in einem Zwei-Minuten-Ausschnitt präsentiert wird, erfordert monatelange Arbeit. Noch gibt es massive, einfachste Fehlerquellen, die die Nutzungsmöglichkeiten von Robotern im Alltag sehr in Frage stellen. Auf Kongressen der traditionellen Technikphilosopie wird zu häufig die Frage erörtert: Was passiert, wenn die Maschine intelligent wird? Ich kann nur sagen: Wir müssen uns darum keine Sorgen machen. Auch seriöse Robotiker geben dies zu, wenn sie nicht gerade vor einer Fernsehkamera stehen. Außerdem betrachte ich die Geschichte der Technik, schaue, wo es Wendepunkte gab, an welcher Stelle die Forschung nicht weiterkam, wann und wohin sie ihr Interesse verlagerte. Früher, beispielsweise, haben sich Techniker nur für Maschinen mit rational-kognitiven Fähigkeiten interessiert. Seit einiger Zeit findet aber eine verstärkte Entwicklung hin zu so genannten sozialen, vermenschlichten und teilweise vergeschlechtlichten Artefakten statt. Die so genannte »Soziale Robotik« konzipiert die Maschine als Gefährten des Menschen in verschiedenen Rollen: als Altenpfleger, Therapeut, Kinderbetreuer, Haushaltshilfe, Kuschelersatz bis hin zum Liebesobjekt.---------------- Ein solcher Dienstleistungsroboter, genannt GOU 300F, spielt auch in der Science-Fiction-Komödie »Ab jetzt« von Alan Ayckbourn eine Rolle. Die Situationskomik entsteht durch eine fehlerhafte Software und den Versuch der Hauptfigur, die als Kindermädchen programmierte Maschine in seine Lebenspartnerin zu verwandeln. Das Stück entstand 1987. Viele der dort entworfenen Zukunftsvisionen wie Vollverkabelung, Überwachungstechnik, Bildtelefon etc. haben wir längst eingeholt. Die Idee von GOU 300F aber nicht. Dennoch wirkt sie auf mich wie ein längst überholter Traum der ScienceFiction-Literatur. Welches Menschenbild steht hinter der Idee der Sozialen Robotik? Das einer sich selbst steuernden Mechanik ist doch eines des 18. Jahrhunderts.___Weber Das mechanistische Bild ist in den Techno-Wissenschaften durchaus noch dominierend. Der Großteil der Robotik wird von Informatikern und Ingenieuren bestückt (ich wähle hier bewusst die männliche Form). Ihr Denken ist auf eine bestimmte Weise trainiert, und sie haben nun mal die Aufgabenstellung, bestimmte Konzepte auf Maschinen zu übertragen. Dafür müssen sie diese Konzepte in Algorithmen umsetzen. Ganz schnell wird klar, was umsetzbar ist und was nicht. Die ganze Geschichte der Künstlichen Intelligenz und Robotik lässt sich letztlich als einen permanent weiterentwickelten Versuch beschreiben, herauszufinden, was sich in Algorithmen umsetzen lässt. Von der Mitte des 20. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre hinein hatte man ein emphatisches Konzept von Intelligenz als Repräsentation von Welt. Welt wurde als logisch geordnet begriffen. Aus diesem Ansatz hat sich der Schachcomputer entwickelt, der einen ganz rationalen, kognitiven Zugang zur Welt widerspiegelt. Man hat in einigen Bereichen damit sehr gute Erfahrungen gemacht, nämlich dort, wo genau diese Fähigkeiten gefragt sind: beim Rechnen – der Computer rechnet schneller als der Mensch –, aber andere, simpelste Tätigkeiten wie Treppensteigen, Trompete spielen, mit den Hüften wackeln konnten diese Maschinen noch nicht. In den 80er Jahren gab es da tatsächlich eine Wende: »Interaktion« wurde die Leitmetapher – insofern passt die Entstehungszeit des Stückes genau.----------------------------------------------------------Die Soziale Robotik bemüht sich um eine Vermenschlichung der Maschine, um emotionale Reaktionen, Spontaneität, Unvorhersehbarkeit. Das heißt doch, sie versucht eigentlich genau, die möglichen Fehlerquellen des Menschen auf den Roboter zu übertragen. Ist das lediglich eine sportive Herausforderung, weil das bislang noch nicht gelang, oder gibt es noch andere Gründe?___Weber Ingenieure sind sehr findig im Hinblick auf die so genannten hot spots der Gesellschaft – es geht schließlich auch um Forschungsgelder. Ich möchte gar nicht bezweifeln, dass sich auch Imaginationen und Wünsche ändern, aber wichtig scheint mir: Mit dem alten Ansatz konnte man bestimmte Tätigkeiten rationalisieren – Stichwort »Automobilfabrik«, wo man aber bald an Grenzen gestoßen ist, weil es doch noch weite Bereiche gab, die sich nicht automatisieren ließen. Das hat man lange auf sich beruhen lassen, aber neulich präsentierte VW ein Konzept von Co-botics, die den nun zunehmend älter werdenden Arbeitnehmern bei der Ausführung ihrer Arbeit helfen sollen. Ob das die wahre Motivation ist? Wahrscheinlicher scheint mir, dass wir uns der nächsten großen Welle der Rationalisierung gegenübersehen. Nur, darüber spricht man nicht gerne – und schon gar nicht auf Arbeitgeberseite. Das in meinen Augen etwas zu hoch gekochte Thema der Überalterung ist ein solcher hot spot. Daher die Forschung an den Pflegerobotern, die den Altenpflegern angeblich die monotonen Tätigkeiten abnehmen sollen, damit diese sich wieder mehr dem Zwischenmenschlichen widmen können. Ich denke, viele Ingenieure nutzen diese gesellschaftlichen Problemfelder, um Lösungsvorschläge durch Automatisierung zu suggerieren; der Markt dafür wächst an. Ob sich die Ingenieure tatsächlich so sehr um die Pflege --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Das ist ein Begriff, den es heute nicht mehr gibt.« Anonym 16.17 16 Wut Traurigkeit Überraschung Freude Traurigkeit Überraschung hilfloser Menschen sorgen oder darin einen guten Anlass sehen, unter anderer Überschrift weiter an der Verfeinerung von Sensoren, Aktoren etc. zu arbeiten, stelle ich dahin. In dieser Diskussion wird jedenfalls versäumt zurückzufragen, ob es bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme immer ein a priori der technischen Lösung geben muss. Sicher haben manche Robotiker wirklich den Traum vom Gegenüber. So hat Hiroshi Ishiguro erstaunliche »Kopien« von konkreten Menschen gebaut. Sein erstes Modell war seine fünfjährige Tochter. Zuletzt baute er sich selbst nach. Und tatsächlich: Während die Konstruktion einer menschenähnlichen Wahrnehmung noch Zukunftsmusik ist, sind die äußere Gestaltung und die Mikrobewegungen der von einem externen Rechner gesteuerten Androiden schon so gut, dass sie teilweise die Illusion von einem echten Menschen erzeugen. Zumindest fiel vielen vor allem älteren Probanden die Unterscheidung zwischen dem Original und der Kopie auf den ersten Augenschein schwer.---------------------------------------------------------------------------Der kopierte Mensch war schon immer eine Angstgestalt in der Literatur oder im Film. Warum aber versucht man gerade das zu kreieren, was die Maschine schwächt? Ihr Vorteil gegenüber dem Menschen besteht doch gerade in ihrer Berechenbarkeit, Emotionslosigkeit, ihrer Unabhängigkeit von Stimmungen. Ist das tatsächlich der alte Traum, Schöpfer zu sein?___Weber Es wurden seit den 1980er Jahren neue Ansätze des Programmierens wie etwa genetische Algorithmen entwickelt, mit denen man hoffte, autonomes Verhalten zu erzeugen. Der Roboter soll zum Teil wieder das unbekannte, aber auch kreative Wesen werden. Es gibt sogar bereits Diskussionen unter Robotikern und Philosophen, ob es nicht bald eine Ethik für den Umgang mit Maschinen bräuchte, da diese dann ja auch Vergleichbares wie Gefühle und eine Psyche entwickelten. Hier geht es dann nicht um die Krankenpflege- oder Therapieroboter, sondern eher um den Compagnion, den Robotergefährten. Beim Ge- fährten schwingt ja das Versprechen mit, man könne ihn erziehen. Aber begrenzte Konditionierung ist keine Erziehung, und ein Roboter kann seine ursprüngliche Programmierung nicht überschreiten. ----------------------------------------------------------------------Reagiert die Entwicklung der Sozialen Robotik auf die Vereinsamung der Gesellschaft?___Weber: In Japan wurde PARO entwickelt, ein Kuschelroboter, der in Altenpflegeheimen eingesetzt wird, auch bereits in einem hier im Norden Hannovers. Er sieht aus wie ein Seehundbaby, ist schon für 1.000 Euro zu erwerben und ist pflegeleichter als ein echtes Tier. Er besitzt Lichtsensoren, taktile Sensoren und kann Geräusche lokalisieren sowie rudimentär Sprache erkennen. Er reagiert auf Berührungen und gibt zugleich Heultöne von sich. Sein Einsatz hat laut seinem Entwickler therapeutischen Erfolg gezeigt: Die alten Leute hätten ein Gesprächsthema gehabt und seien beschäftigt gewesen. Allerdings wurde diese Studie von dem Entwickler des Roboters selbst angestellt – in einem Heim, dessen Stimmung er als sehr gedrückt beschrieb, in dem keine Kommunikation mehr stattfand und ein burn out des Pflegepersonals vorlag. Da lassen sich solche Erfolge natürlich relativ leicht erzielen.-----------------------------------------------------------------------------In den 60er Jahren entwickelte Joseph Weizenbaum ein Computerprogramm mit dem Namen ELIZA, das psychotherapeutische Gespräche führte und zwar durch den einfachen Trick, bestimmte Schlüsselworte zu erkennen und als Frage zurückzuspielen. Zum Erschrecken des Erfinders, der daraufhin ein vehementer Gesellschafts- und Technikkritiker wurde, hatte das Programm großen Erfolg.___Weber Das Phänomen ELIZA stellt uns die Frage, wie unsere menschlichen Beziehungen verfasst sind, dass so ein Programm überhaupt greifen kann. Sie müssen schon auf eine Art normiert sein, damit wir solch ein Programm überhaupt interessant finden. Das gleiche kann man bezüglich der Pflegerobotik sagen. Man konnte es ja überall in den Zeitungen lesen: Die Krankenkassen zahlen einen bestimmten Satz, der genau festlegt, wie viel Zeit dem Pflegepersonal fürs Bettenmachen, Rückenwaschen, Haare kämmen, das Gespräch bleibt. Jede emotionale Zuwendung ist eine Dienstleistung und kann abgerechnet werden. Da findet bereits die Standardisierung und Automatisierung statt. Die Maschine kann erst da greifen, wo dieses Denken bereits bestimmend ist. Umgekehrt: Wenn der Roboter da ist, zum Beispiel in der Kinderbetreuung bzw. -bespaßung, hat das auch rückwirkend Folgen: vom Verhalten Mensch-Maschine auf das Verhalten Mensch-Mensch. Um dem Roboter Lebendigkeit zu verleihen, implementiert man ihm sechs Basisemotionen – Ärger, Ekel, Furcht, Freude, Trauer und Überraschung. Das ist zwar ein vereinfachtes Schema, aber bei der Modellierung von sozialem Verhalten werden statische Modelle bevorzugt, da stereotype Kommunikationsmuster leichter in Roboter zu implementieren sind. Die Kommunikation ist mühsam, da der Roboter nur eindeutige Gesichtsausdrücke lesen kann, d. h. das Kind wird stereotyp immer wieder die gleichen Grimassen schneiden, um mit dem Computer zu kommunizieren. Das ist vergleichbar mit den frühen Übersetzungsprogrammen, wo man die Sekretärinnen anwies, nur ganz einfache, nicht doppeldeutige Formulierungen zu wählen, damit das Programm die Sätze klar erkennen kann. Wir stellen unser Verhalten auf die Maschinen ab, damit eine Kommunikation möglich wird, aber entscheidender ist die Erkenntnis, dass es bereits eine Gleichförmigkeit und Normierung unseres Miteinanders gibt, die durch den Roboter sichtbar wird. +++++++++++++++++++++++++++++++++++ Jutta Weber ist Philosophin, Technikforscherin und Medientheoretikerin. Aktuell lehrt sie als Gastprofessorin am Zentrum für Gender Studies der TU Braunschweig. --------------------------------------------------------------------------»Ab jetzt«: 10., 31.12. und 07.01., jeweils 20 Uhr, Cumber landsche Bühne --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Oh Gott, moralische Anstalt!? Dafür ist es zu spät.« Franziska (29), Juristin Foto: Katrin Ribbe Brot, Blut und Torfboden – die Affäre von Tiszaeszlár Im Dezember läuft der zweite Vorstellungsblock von Kornél Mundruczós Inszenierung »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár«. Es ist die Geschichte einer verstörenden Anklage, basierend auf einem historischen Fall des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Bericht eines Zuschauers Von David Kolosska Der Geist der Aufklärung hat in Tiszaeszlár, dem ungarischen Dorf an der Theiß, keinen Fuß fassen können. Knöcheltief stecken die Dorfbewohner fest im Morast moralischen Versagens. Nachdem ein christliches Bauernmädchen spurlos verschwunden ist, bestimmen Verzweiflung, Feindseligkeit, Machthunger und rohe Gewalt die Gemeinschaft von Ungarn und Juden. Der anschließende Ritualmordprozess gegen die verdächtigten Juden bereitete den Boden für antisemitische Ausschreitungen, die Ende des 19. Jahrhunderts ganz Ungarn erfassten. ------------------------------------Mein Besuch der Uraufführung des Theaterstücks »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« liegt nun schon einige Wochen zurück, die dargestellten Ereignisse rund um die verschwundene Dienstmagd beschäftigen mich seitdem. Die Frage nach der Relevanz des Themas ließe sich mit der Deutung der Ereignisse als Aufflammen eines bereits schwelenden Antisemitismus beantworten. Die hyperrealistische Inszenierung von Kornel Mundruczó könnte somit als Darstellung menschlicher Immoralität verstanden werden, als eine regendurchnässte »Matzeparabel«, ein kulturpessimistischer Gegenentwurf zur Toleranzidee Lessings. Wer den aktuellen Integrationsdiskurs verfolgt, wird wahrscheinlich einen Bezug zur historischen Affäre von Tiszaeszlár herstellen können. Engstirnigkeit, Ressentiments und kulturelle Hegemonie haben wieder Saison. Zweifelhafte Leitkulturdebatten, offener Rechtspopulismus und nationale Egoismen sind in vielen europäischen Gesellschaften mittlerweile Ausdruck eines Konflikts um das angemessene Miteinander bzw. Nebeneinander verschiedener Kulturen und Gemeinschaften. ------------Irritation. Mundruczós Werk hat mich irritiert, ließ mich während der Aufführung abschweifen, um über Alltägliches, Menschliches nachzudenken. Dieser Erfahrungsbericht kann also ausschließlich den Versuch darstellen, vom sprichwörtlichen Elfenbeinturm hinabzusteigen, den wissenschaftlich-analytischen Blick auf Wirklichkeit aufzugeben, um die eigenen Empfindungen und Erkenntnisse beim Betrachten von »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« nochmals zu reflektieren. ----------------Rekonstruktion. Die Recherche verläuft unproduktiv. Gewohnheitsmäßig zapfe ich das digitale Weltwissen an. Über Nebensächliches strauchele ich, benommen vom Krach – das Internet ist voll ungefragter Meinungen. Soviel Partizipation verlangt nach einem Filter, wohltuend soufflierte Information statt reißerischem Geschwätz. Aber wer soll dann entscheiden über das Gute, Schöne, Wahre? Die Entscheidungskompetenz verteilt sich hier auf mehrere Kanäle. Und mir scheint, es wird aus allen Rohren geschossen! Schließlich finde ich dann doch Vertrauenswürdiges, um meine bisherigen Gedanken an bereits Ausformuliertem zu überprüfen. Ob dahinter die Befürchtung steht, Irrelevantes oder gar Nonsens zu produzieren? Ich wüsste gern, seit wann ich meinem eigenen Geschmacksurteil nicht mehr hinreichend trauen mag. Ein paar quer gelesene Rezensionen später stelle ich fest, dass ich es faszinierend finde, wie über die legitimen Formen von Kunst gestritten wird. Manche Links zum bildungsbürgerlichen Wissensrepertoire bleiben mir allerdings verwehrt, dafür ist mein Geschmack eindeutig zu populär, zu wenig kanonisiert. Aber auch so komme ich nicht weiter, entmutigt kehre ich zurück in die analoge Welt. Dort finde ich das Programmheft, sehe die Probenfotos. Mir ist, als kann ich den Schlamm riechen... ---------------------------Schlamassel. Es regnet. Die Kälte kriecht einem von der Bühne in die Socken. Du wirst ins Geschehen hineingezogen, ob du willst oder nicht. Die Bühne bleibt nicht länger Spielort, sie ist »das Dorf«. Unmöglich, sich dem Geschehen gleichgültig zu entziehen, keine kontemplative Betrachtung absehbarer Handlungsstränge. You are watching the Historical Research Channel. Eine Dokumentation in Sepia-Color©. (Als Kind war ich davon überzeugt, mit Großvaters ausrangiertem Volksempfänger könne man auch nur veraltete Musik empfangen.) Ob sich die Ereignisse weiter dramatisch zuspitzen werden, ob die zu Unrecht Beschuldigten sich erheben, es bleibt ungewiss. Das hier ist keine perfekt geschmierte theatralische Inszenierung, die Handlungen geschehen einfach, sie schreiten asynchron voran. Regen und Schlamm verschlucken gesprochenes Wort, heiser gebrüllte Befehle und der alberne Gesang der Verliebten gesellen sich zu bäuerlicher Dumpfheit und beißender Ironie. Und überall dieser Schlamm. Kaum verwunderlich, dass der Sohn zum Verräter wird, indem er seinen Vater des Mordes beschuldigt, Misstrauen allerseits. Als assimilierter Ungar glaubt der Junge frei von religiösen Bevormundungen leben zu können. Anerkennung und Brot statt Dogmen und Hunger. Doch die Hoffnungslosigkeit ist auch den Ungarn nicht fremd. Eigentlich will niemand an diesem unsäglichen Ort bleiben. Der Ritualmordprozess allerdings verspricht neue Perspektiven für die Ungarn, sei es die politische Karriere oder den ------------------------------------------------------------------------------------------------- »Bundestag?« Doris (70), Rentnerin 18.19 18 sozialen Aufstieg durch promiskes Anbiedern an den schneidigen Herrn aus der Stadt. Die Situation gerät außer Kontrolle, und es schwinden die Chancen, dem Schlamm zu entfliehen, als der Hauptbelastungszeuge nicht auffindbar ist. In diesem Moment wird sogar die Selbstbezichtigung des Mordes zum Akt der Vernunft. Kein Lichtblick, nur dunkle Agonie?-------------------Erkenntnisverwertung. Theaterbesuche sollten wohl überlegt sein, schließlich gilt es die »Relation zwischen materiellen Kosten und veranschlagtem kulturellen Gewinn« zu vermessen. Theater wird im trockenen Soziologenjargon als Ort kultureller Bildung und sozialer Praxis beschrieben. Manchmal verdichtet die Theaterkunst mein diffuses Interesse an einem Thema, meine Neugier an einem Gegenstand, oder die Suche nach neuen Eindrücken wird zu einer intensiven Empfindung, zur elementaren Erkenntnis. Dieser »Gewinn« lässt sich schwer verbalisieren und nicht valide messen. Denn Theater berührt mich, unmittelbar oder in nachträglicher Betrachtung. Theater bildet, und mit diesem Anspruch nervt es mich auch manchmal. Lange war das Theater in meinen persönlichen Erfahrungshorizont ein weißer Fleck. Mein individuelles Menschwerden vollzog sich auch ohne »moralische Anstalt«. Mittlerweile stelle ich allerdings an mir ein Bedürfnis nach Orientierung fest, trotz aufrichtigen Strebens nach persönlicher Emanzipation. Die Selbstbestimmung ist mir ein hohes Gut. Gelegentlich fühle ich mich allerdings überfordert, auf mich selbst zurückgeworfen vom beständigen Auftrag der selbst initiierten Meinungs- und Geschmacksbildung. Unregelmäßig suche ich dann das Theater auf, ohne konkrete Erwartungen, nur wenn das Thema mir zusagt. Manchmal werde ich auch einfach nur mitgeschleppt. Und dann kann es passieren, dass ich wirklich verstehe. Mundrudzós Werk hat mich irritiert, das »schöne« Bühnenbild und die historischen Kostüme ließen mich ein anderes Theater erwarten. Ob ich alles »verstanden« habe, wage ich zu bezweifeln. Aber ich fühle mich in meiner Skepsis gegenüber selbst ernannten »Leitkulturen« bestätigt und der Vernunft des Widerstands dagegen verpflichtet.--------------------------------------------------------------------------------»Eszter Solymosi von Tiszaeslár«: 15., 16., 17. und 18.12., jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne --------------------------------------------------------------------------David Kolosska studiert Politologie und Niederlandistik an der Universität Oldenburg. ----------------------------------------------- »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« mit Martin Vischer, Hanna Scheibe und Aljoscha Stadelmann, v. l. n. r. »Das Parlament jedenfalls nicht!« Gert (73), Rentner Foto: Katrin Ribbe Szene aus »Kampf des Negers und der Hunde« mit Andreas Schlager als Baustellenleiter Horn 20.21 20 »Das Monster ist der Mensch selbst« Nach dem stationentheater »komA« in der tellkampfschule bringt der Regisseur Mirko Borscht im Januar 2011 »Kristus – Monster of Münster« nach einem roman von Robert Schneider über die wiedertäuferbewegung in münster auf die Bühne des Ballhof Eins. Erinnerungen und Gedanken über Gewalt und Moral, Religion und Revolution Interview: Volker Bürger »Das Scheitern an nicht erreichbaren Moralansprüchen bestimmt wesentlich meine heutige Arbeit.« Seit 1536 hängen oben an der Lambertikirche zu Münster die Käfige der exekutierten Wiedertäufer. Der Turm wurde längst erneuert, die Käfige blieben. Sie stehen bis heute am Pranger. Was brachte Jan van Leyden, den Anführer der Wiedertäufer, und seine Anhänger dorthin? __ Mirko Borscht Infolge der Abspaltung der Protestanten von der katholischen Kirche entstand um 1524 die Wiedertäuferbewegung. Ihnen ging Luthers Reformation nicht weit genug, sie forderten die Erwachsenentaufe und ein christliches Miteinander, wie es in der Urkirche der Apostel gelebt wurde. Gleichzeitig interpretierten sie die Wirren der Zeit als endzeitliche Symbole, wie sie in der Johannesoffenbarung beschrieben wurden. Sie bereiteten sich auf das Ende der Welt vor. In Münster bekamen die Täufer, aufgrund unklarer Machtverhältnisse, plötzlich die Oberhand im Stadtrat. Sie riegelten die Stadt ab und zwangen alle, die sich ihnen nicht anschließen wollten, Münster zu verlassen. Die Gütergemeinschaft wurde eingeführt, es gab kein Arm und Reich mehr, alles gehörte allen. Das kann man das Himmelreich auf Erden nennen oder auch gelebte kommunistische Utopie. Interessant war auch die Einführung der Polygynie (Vielweiberei), die sich an den alttestamentarischen Patriarchen orientierte und vermutlich eine Reaktion auf den massiven Frauenüberschuss in Münster war. Dieses radikale Vorgehen konnten die weltlich-christlichen Machthaber natürlich nicht durchgehen lassen. Die Stadt wurde eineinhalb Jahre belagert, bis sie im Sommer 1535 durch Verrat eingenommen werden konnte. Denn auch innerhalb der Mauern hatte sich das Himmelreich in eine Hölle verwandelt. Jan van Leyden hatte sich inzwischen zum wiedergekehrten Christus erklärt, zum König der Könige, der versuchte, durch immer härtere Gesetze der Hungersnot und Verzweiflung der Bevölkerung Herr zu werden. Jedes Zuwiderhandeln gegen die neuen Gesetze wurde mit dem Tode bestraft. Gott hatte die »Auserwählten« nicht erlöst, sondern in ihrer eigenen Selbstüberschätzung verrotten lassen. Jan van Leyden und zwei seiner Getreuen wurden öffentlich zu Tode gequält und in Käfigen an die Lambertikirche gehängt. Zur Abschreckung und Mahnung für die einen und als Zeichen einer Sehnsucht nach Gleichheit und Gerechtigkeit für die anderen. Und diese Sehnsucht ist bis heute nicht gestillt. Und daher weiterhin gefährlich. Gott sei dank. ++++++++++++++++++++++++ Du nennst deine Fassung, die den Roman von Robert Schneider adaptiert, »Kristus – Monster of Münster«. Wer oder was ist das Monster? __ Borscht Das Monster ist der Mensch selbst. Er hat es bis heute nicht geschafft, eine gerechte Welt zu errichten. Noch immer leben wenige Fette auf Kosten einer unterdrückten, ausgemergelten Mehrheit. Global gesehen, verhält sich eine Demokratie da nicht anders als eine Diktatur. Eine Demokratie kann nur eine Demokratie sein, weil irgendwo anders die Sklaven dafür schuften. So haben wir guten Christenmenschen die Idee ja von den alten Griechen übernommen. Und in diesem Zusammenhang erscheint das Münsteraner Experiment der Errichtung eines Gottesstaates als moralisch ernstzunehmender, ehrlicher Versuch, eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu schaffen. Gescheitert sind sie aber nicht nur, weil sie von außen bedroht und angegriffen wurden, sondern weil sie es nicht geschafft haben, ihr eigenes Ideal zu leben. Die ewige Unzulänglichkeit des Menschen, die bisher alle Versuche einer gelebten Utopie hat scheitern lassen. Und obwohl wir wissen, dass bisher jede Revolution ihre Kinder fraß und Macht korrumpiert, als wäre es ein Naturgesetz, ist der Traum einer gerechten Welt allgegenwärtig. Wer ist im Falle von »Kristus« das größere Monster? Der äußere oder der innere Feind? Oder ist es egal, weil der Mensch gar nicht in der Lage ist, wahrhaftig und gut zu sein? Weil er sonst Gott selbst wäre? Das sind die Fragen, denen wir uns in der Arbeit stellen müssen. Die Meinungen werden auseinander gehen. Also lasst uns streiten. ++++++++++++++++++++++++ Du bist in Cottbus aufgewachsen. Dort warst du Messdiener und gleichzeitig Punk – scheinbar unvereinbare Dinge. Irgendwie ist Jan van Leyden so etwas wie ein fundamentalchristlicher Punk, oder? __ Borscht (lacht): Das kommt darauf an, wie heilig man Punk empfindet. Aus meiner damaligen pubertären Perspektive würde ich das ganz klar mit ja beantworten. Das hat aber auch damit zu tun, dass die logische Konsequenz meiner katholische Erziehung – oder vielmehr des damit verbundenen moralischen Menschenbildes – mich eigentlich erst zum Punk gemacht hat. Ich wollte an etwas glauben und war bereit, fast jede Konsequenz zu ziehen, mich auszuliefern, einer größeren Sache zu opfern. Das ging so weit, dass ich als etwa Zehnjähriger nach einem Fernsehfilm über den heiligen Franz von Assisi, der die Wundmale Christi bekam, plötzlich auch starke Schmerzen hatte und mir sofort der Blinddarm rausgenommen werden musste. Wäre ich in Jan van Leydens Zeit aufgewachsen, wäre das todsicher ein Zeichen Gottes gewesen. So blieb es bei einem Zufall. Dennoch konnte ich als Jugendlicher die Doppelmoral der erwachsenen Gemeindemitglieder schlichtweg nicht ertragen. Ich habe sie zutiefst verachtet, ihr Leben als Verrat am Glauben empfunden, mich mehr und mehr distanziert. Unsere Kirche war damals in Form einer riesigen stilisierten Dornenkrone angelegt, und während der Messe habe ich mich bald nur noch außerhalb der Krone bewegt, weil ich nicht mit diesen katholischen Heuchlern in einem Raum sein wollte. Kurze Zeit später trug ich in einer so genannten Jugendmesse als Ministrant die Hostien nach vorn. Der Bischhof, der zufällig an diesem Tag die Messe hielt, nahm sie mir mit entsetztem Gesicht ab. Ich hatte einen roten Iro, und das hat dem Herrn wohl gar nicht gefallen. Das Ergebnis: ein Ministrierverbot in der gesamten Diozöse. Meine prompte Reaktion war die Verweigerung der Firmerneuerung, was wiederum meinen Eltern gar nicht gefiel. Aber da ich wegen »Gewissenskonflikten« die Jugendweihe und den Eintritt in die FDJ verweigert hatte, mussten sie den gleichen Grund nun auch ihrem Glauben gegenüber akzeptieren. Ich stand plötzlich zwischen allen Stühlen, die Pickel sprossen, und auf meiner Lederjacke stand neben dem Anarchiezeichen bald auch »We‘re already dead«. Na, wenn das kein Endzeitszenario ist. Aber leider ist aus mir kein Jan geworden. Schade eigentlich... ++++++++++++++++++++++++ Jan van Leyden will Christus werden. Er schreibt seinem Lehrer den Berufswunsch auf einen Zettel: »Kristus«, mit K. Damals blasphemisch, eine Todsünde. Jan lässt trotzdem nicht ab, er stellt sich gegen die Welt mit seinem sündhaften Wunsch. Später schreien die Wiedertäufer »Buße, Buße, Buße!« durch die Gassen Münsters. Kannst du etwas mit den zentralen christlichen Kategorien des (ur)sündhaften Menschen und der Reinigung durch Buße anfangen? __ Borscht Und ob. Wenn man sich als Zwölfjähriger stundenlang nicht in den Beichtstuhl traut, weil man dem Priester gestehen muss, dass man unter der Bettdecke onaniert hat und neulich da was raus kam, und dass man jetzt Angst hat, krank zu sein und natürlich bei der Beichte kein Wort über die Lippen bringt, weiß man plötzlich, was Verzweiflung ist und --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Schule und Lehre.« Fabienne (28), Opernsängerin 22.23 22 Leiden. Wir haben euch was mitgebracht: Angst! Angst! Angst! Es gibt nur zwei Möglichkeiten, da rauszukommen: Heuchler werden oder sich radikalisieren. Diese lustigen Kindheitsprobleme haben mein ganzes weitere Leben bestimmt. Das Scheitern an nicht erreichbaren Moralansprüchen bestimmt wesentlich meine heutige Arbeit. Und diese Nichterreichbarkeit führt jeden Gottesfürchtigen immer wieder in seinen Glauben zurück. Ein perfektes System. Wie dankbar muss ich Bischof Huhn für sein engstirniges Verhalten sein, er hat mich sozusagen frei gelassen, sonst wäre ich vermutlich immer noch in der Katholikenmühle gefangen. Die Zweifel und das regelmäßige Scheitern an meinen eigenen moralischen Grundsätzen allerdings werden mir wohl erhalten bleiben, ein Leben lang. Amen. ++++++++++++++++++++++++ Gott übt Gewalt aus – zumindest der Gott in den Köpfen der apokalyptisch denkenden Wiedertäufer, die der Meinung waren, dass der Jüngste Tag unmittelbar bevorsteht. Auch die Wiedertäufer selbst geraten irgendwann in den Sog von Gewalt. Um die Regeln der Gemeinschaft oder die Macht zu erhalten, wird ein erster Mensch hingerichtet – in deiner Fassung der Schmied, ein abtrünniger Mitstreiter der ersten Stunde. Ist Gewaltanwendung für dich mit moralischem Handeln vereinbar? __ Borscht Auf jeden Fall. Ich bin kein Pazifist. Und natürlich wäre es richtig gewesen, Hitler oder Stalin zu eliminieren, um zumindest vorübergehend das Sterben zu stoppen. Leider wird immer jemand nachwachsen, der das Grauen weiterführt. Man muss nur ein bisschen warten. Ich glaube nicht daran, dass man Gewalt überwinden kann, aber man kann sie verteilen, im besten Fall vorübergehend aussetzen. Meist mit Gegengewalt. Die aktuellen Beispiele zum Thema Atomkraft oder Stuttgart 21 sprechen da eine deutliche Sprache, auch wenn das in unserem Zusammenhang vielleicht zynisch klingt. Gewalt ist die instiktivste und einfachste Antwort der Konfliktbewältigung. Zivilisierte Menschen üben sie in der Regel psychisch aus. Aber wir lösen die meisten unsere Konflikte dennoch mit Gewalt. Im Falle der Münsteraner Täufer war die erste Hinrichtung auch der erste sichtbare Beweis ihres Scheiterns. Alle haben es gesehen. Alle haben es gewusst. Ihr Moralbegriff muss nun abgewandelt, gedehnt werden. Das Ideal muss der Realität angepasst werden. Der Betrug beginnt. Und an die Stelle des utopischen Gedankens rückt die Angst. Der An- fang vom Ende. Um mit den Worten Gerrit Tom Kloisters, einem »Mentor« Jan van Leydens im Stück, zu sprechen: »Aus dem nichtlebbaren Ideal aber« wächst »alles Missverständnis und Leid, unter dem Menschen je gelitten haben, denn das Ideal bleibt fern der Wirklichkeit, fern des Chaos, fern von Gott«. ++++++++++++++++++++++++ Viele deiner Arbeiten kreisen um Gewaltfragen – »komA« etwa, dein letztjähriges Projekt in Hannover mit Schülern in der Tellkampfschule, um das Thema Amoklauf. Auch deine Filme. Was fasziniert dich an Gewalt? __ Borscht Mich interessieren Grauzonen, Orte, die im Schatten liegen, das Zwielicht, schwarze Löcher, weil sie zwar täuschen können, aber nicht lügen oder betrügen. Ich vertraue dem Intellekt nicht, weil er von Distanz lebt und Emotionen ausblendet. Er ist vielleicht objektiver, aber er ist nicht ehrlicher. Ich vertraue der Sprache nicht, ich bin misstrauisch gegenüber der Diplomatie von Worten, deshalb suche ich nach der Wahrhaftigkeit und Authentizität in Zuständen und Grenzsituationen, in Momenten, wo der Mensch sich selbst nicht kontrollieren und zensieren kann. Und dabei ist Gewalt oft ein wesentlicher Bestandteil, gegen andere oder gegen sich selbst. Ein anderer wesentlicher Punkt ist Gewalt als mediales Kommunikationsmittel, als Ausdrucksform im künstlerischen Sinne. Gewalt, auf die ich in Kino oder Fernsehen reagiere, gibt mir die Möglichkeit, die Situation extrem subjektiv wahrzunehmen, weil ich mich fürchte, mich ekle oder auch angezogen werde. Ich verliere die analytische, distanzierte Betrachtungsweise und werde plötzlich Teil des Geschehens. Ich glaube auch an die Authentizität und Unmittelbarkeit des Spiels, wie sie nur im Theater erfahren werden kann. Ich glaube an echte Gefühle in einem künstlichen Raum. Und Gewalt ist dabei ein sehr geeignetes Mittel der Stimulanz, wenn man sie als Mittel ernst nimmt. ++++++++++++++++++++++++ Moral ließe sich beschreiben als Handlungsprinzip einer bestimmten Gesellschaft. Wenn nun eine neue Gesellschaft gegründet wird, wie bei den Wiedertäufern in Münster, muss man auch Moral und Handlungsprinzipien neu erfinden. Wie sollen die entstehen, wie kann Moral neu erfunden werden? __ Borscht Wohl nur, indem man sich selbst neu erfindet. Wenn man es schaffen könnte, seine eigenen Prägungen und anerzogenen Wertesysteme nach ihrer --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Irrenhaus!« Emil (28), Sozialarbeiter kaschieren, die es gar nicht nötig hat. Wo ist der Mut zu großen Gefühlen geblieben, vor dem Schillers Worte nur so strotzen? Kaum ein anderes Medium hat die Chance, so nah an sein Publikum heranzukommen. Nirgends sonst ist der Grad an Identifikation mit dem Spieler so groß. Nirgends sonst kann man auf sein Publikum direkt und unmittelbar reagieren. Was mich heute an Schillers Rede berührt, ist seine Theatertrunkenheit und Euphorie, die mir heute so oft im Theater fehlt. Was wir aus seinen Worten in die Jetztzeit übernehmen sollten, ist die Rauschhaftigkeit und Begeisterung für das Medium. Die Schaubühne als Narkomanische Anstalt – das würde mir gefallen. Und die moralische Aufgabe besteht dann genau darin, das eigene Selbstbewusstsein anhand der Qualität dieser Droge zu optimieren. Und bei der Qualität, die uns da von Seiten des deutschen Kinos und Fernsehens entgegenkommt, hat das Theater wahrlich gute Karten. --------------------------------------------------------------------------»Kristus – Monster of Münster«: 07. (Uraufführung), 13. und 23.01., jeweils 19:30 Uhr, Ballhof Eins, ab 16 ++++++++++++++++++++++++ Mirko Borscht , 1971 in Cottbus geboren, inszenierte nach zwei Co-Regiearbeiten am Theater ab 1992 die Kurzfilme »Mäuseboxen« und »Bastard!«, Seine Arbeit wurde entscheidend durch die Zusammenarbeit mit jugendlichen Laien bestimmt. So entstand 2005 sein erster Spielfilm »Kombat Sechzehn« und 2007 das Theaterstück »Opferpopp«, das er für das Thalia Theater Halle mit so genannten »Problemkids« entwickelte. 2008 erhielt er dafür den Hans-GötzelmannPreis für Streitkultur und 2009 den BKM-Preis für kulturelle Bildung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Am Centraltheater Leipzig sind derzeit seine inszenierungen »Sweet Dreams« und »deutschland tanzt« zu sehen. Am Jungen Schauspiel Hannover inszenierte er 2010 »komA« nach Volker Schmidt / Georg Staudacher (mit Schülern, Lehrern und Schauspielern). ++++++++++++++++++++++++ yaroslaw schwarzstein , 1975 in tula (Russland) geboren, ist grafiker, illustrator und musiker. Seine zeichnungen sind zentraler bestandteil des Bühnenbildes von »kristus – monster of münster«. Zeichnungen: Yaroslaw Schwarzstein Tauglichkeit zu prüfen und allen Ballast über Bord zu werfen. Vor allem aber müsste man diese »neue« Moral den Notwendigkeiten der neuen Gesellschaft unterordnen. Und da ist der Schritt zum Faschismus nicht mehr weit. Ich glaube, das Hauptproblem besteht darin, dass jeder Utopist die Utopie noch erleben will und an seiner eigenen Ungeduld scheitert. Neue Regeln müssen nicht nur neu erlernt, sondern zu Instinkten werden. Eine neue Sprache beherrsche ich auch erst dann, wenn ich in ihr denke, manche sagen auch: träume. Und da wir noch nicht so weit sind, unsere utopischen Träume isoliert auf dem Mond entwickeln zu können, müssen wir wohl lernen, nicht in Menschenzeitaltern zu denken, sondern in Erdzeitaltern – wenn es die Menschheit dann noch gibt. ++++++++++++++++++++++++ Das Titelthema dieses Heftes, »Deine moralische Anstalt«, ist einer Rede Schillers aus dem Jahr 1784 entlehnt. Euphorisch sprach Schiller damals von der Potenz des Theaters, moralische Anstalt sein zu können, weil der Zuschauer im Theater den Menschen erkennen kann, weil er dort sogar selbst den »kühnen Verbrecher« kennenlernt, dessen Leben und Untaten »heilsame Schauer« auslösen. Dass die Schaubühne also »den Menschen mit dem Menschen bekannt macht und das geheime Räderwerk aufdeckt, nach welchem er handelt«. Funktioniert Theater so für dich? __ Borscht Nein. Leider nicht. Den erzieherischen, moralischen Mehrwert kann das Theater genauso wenig liefern wie die öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten. Das anzunehmen, wäre vermessen und naiv. In unserer Zeit führt das Theater ein Nischendasein und versucht leider allzuoft, mit den großen Medien der Gegenwart – Kino, Games, Multimedia – mitzuhalten, anstatt sich auf seine ureigene Kraft zu berufen. Ich glaube, Schillers Wünsche sind leider inzwischen an andere Medien abgewandert, was uns nicht traurig machen muss, weil es ungeahnte Freiräume schafft. Denn die Unmittelbarkeit und »künstliche Echtheit« kann dem Theater niemand nehmen. Und ganz besonders nicht seine Autonomie. Kaum ein Medium genießt formal und inhaltlich so viel Freiheit. Kaum ein anderes Medium ist heutzutage so wenig Regeln und wirtschaftlichen Abhängigkeiten unterworfen, auch wenn man derzeit latent versucht, diese Unabhängigkeit zu beschneiden. Dennoch läuft das Theater Gefahr, sich mit einer kleinbürgerlichen intellektuellen Elite zu --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Anstalt für Moral: Theater!« Anke (54), Dozentin für Deutsch als Fremdsprache 24.25 24 Anzeige Grosse Schauspielmomente 2011 Erstmals gibt die Gesellschaft der Freunde des hannoverschen Schauspielhauses (GFS) den Fotokalender Große Schauspielmomente 2011 heraus. Er enthält 13 großformatige Farbaufnahmen von aktuellen Inszenierungen des Schauspiel Hannover, die von der Theaterfotografin Katrin Ribbe stammen. Der Kalender kostet 20 Euro und ist im Schauspielhaus erhältlich. Der Erlös kommt dem Jungen Schauspiel Hannover zugute. Der Kalender kann an der Kasse im Schauspielhaus und am Bücherkiosk im Pausenfoyer käuflich erworben werden. Es besteht auch die Möglichkeit, ihn direkt bei der GFS zu bestellen: Kontakt Schauspielfreunde: c/o Angelika Nauck, Vorsitzende Wallmodenstr. 72, 30625 Hannover Tel. 0511 554 7375, Fax (0511) 554 7376 schauspielfreunde.hannover@gmx.de www.schauspielfreunde.de Weihnachten 2010 schauspiel verschenken! 4 Vorstellungen + beste Plätze: Schenken Sie sich selbst oder Ihren Lieben vier aufregende Abende: 1 2 3 4 Donnerstag, 20. Januar 2011 Don Juan von Molière Regie: Sebastian Schug Freitag, 04. Februar 2011 Der goldene Drache von Roland Schimmelpfennig Regie: Lars-Ole Walburg Dienstag, 22. März 2011 Romeo und Julia von William Shakespeare Regie: Heike M. Götze Freitag, 08. April 2011 Der Silbersee von Georg Kaiser mit Musik von Kurt Weill Regie: Lars-Ole Walburg 77 für Euro -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Weihnachtsgeschenke – vier Karten in den besten Preisgruppen – erhalten Sie an den Vorverkaufskassen im Schauspielhaus und Opernhaus, Mo bis Fr 10–18:30 Uhr, Sa 10–14 Uhr (im Opernhaus bis 18 Uhr) sowie telefonisch unter (0511) 9999 1111, Mo bis Fr 10–18 Uhr, Sa 10–14 Uhr. Der Morgen vor dem Chaos Am 15. Januar hat Gabriel García Márquez’ »Chronik eines angekündigten Todes« Premiere auf der Cumberlandschen Bühne. Vorab gewährt uns der Regisseur dieses Theaterabends einen Einblick in seine szenische Fantasie. Von Albrecht Hirche Nach einer rauschenden Hochzeit bringt der wütende Bräutigam seine Jungvermählte zurück zu ihren Eltern – sie ist keine Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande verantwortlich? Unter den Schlägen ihrer Mutter nennt das Mädchen einen Namen. Ihre Brüder schwören Rache und machen sich mit Schlachtermessern auf die Suche nach dem Beschuldigten. Jedem, dem sie begegnen, offenbaren sie ihren Plan. Und doch wird der Mord nicht verhindert.-------------------------------Gabriel Garcia Marquez’ »Chronik eines angekündigten Todes« könnte ein düster-betroffenes Drama um überkommene Traditionen und kollektive Schuld sein. Doch Regisseur Albrecht Hirche legt einen anderen Schwerpunkt: Wenn das Ereignis die Menschen verändert, wie verändert seine Erzählung das Ereignis? Seine Spieler sind Chronisten. Irgendwo zwischen Hollywood-Schreiblabor und südamerikanischem Schachcafé ordnen, beschreiben und erkunden sie in detektivischer Akribie und individuellem Gestaltungswillen das Erzählte und die Erzählung selbst. Einen Vorgeschmack auf seine erste Inszenierung am Schauspiel Hannover, die am 15. Januar 2010 Premiere auf der Cumberlandschen Bühne hat, geben Hirches Notizen, in die er uns hier einen Blick gewährt. -------------------------------------------------------------------»chronik eines angekündigten todes«: 15. (premiere), 16. und 29.01., jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 26.27 26 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 238 Tage Neverland making of »Neverland« – bilder einer Popmärchenrecherche zu Michael Jackson und Peter Pan mit Jugendlichen aus Hannover im und um den ballhof fotos: Roxana Rios »Neverland« – vom Casting zur Premiere: 8. April 2010 Kick-off zum Projekt »Neverland« mit Regisseur Robert Lehniger und Team + 26. April bis 2. Mai Auswahlworkshops, in denen die 21 Jugendlichen gefunden wurden, die am Projekt teilnehmen + 10. Mai bis 4. Juni 1. Block: Abendproben nach der Schule + 12. Juli bis 4. August 2. Block: Ganztagsproben im Ballhof Zwei während der Sommerferien + August bis September 3. Block: Wochenendproben + 27. September bis 23. Oktober Endproben im Ballhof Eins + 24. Oktober Uraufführung im Ballhof Eins -------------------------------------------------------------------------------------------------------Roxana Rios (15), steht zusammen mit anderen Jugendlichen aus hannover in »Neverland« auf der Bühne. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Kooperationspartner: enercity-------------------------------------------------------- 27. Juli 6. Oktober 6. Oktober 11. Oktober 11. Oktober --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Das habe ich auf einem Plakat gelesen.« Carsten (45), Technischer Angestellter 28.29 28 3. August 30. September 7. Oktober 15. Oktober 12. Oktober 16. Oktober --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Öffentlich-rechtliches Fernsehen.« Hendrik (52), Online-Spezialist »Ohne die Kommunalen Kinos hätte es Fassbinder und Schlingensief nicht gegeben« Sigurd Hermes, Leiter des kommunalen Kinos im Künstlerhaus, über ein Leben für den Film, die Geschichte des KoKi in Hannover und die Eigenheiten der Filmsprache gastbeitrag »Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater.« An meinem sechsten Geburtstag durfte ich das erste Mal allein ins Kino gehen. Meine Großmutter hat mir drei Groschen geschenkt, und dann bin ich zum Haus der Jugend gegangen, wo es für zwei Groschen einen Film für Kinder gab: »Das Wunder von Mailand« von de Sica. Ein Märchen eigentlich, aber ich war so berührt – erst einmal vom Inhalt, und dann habe ich natürlich mit meinem kindlichen Bewusstsein reflektiert, dass ich so etwas zum ersten Mal gesehen habe. Fernsehen gabs nicht bei uns in der Familie. Ich fand das faszinierend und wollte immer mehr davon haben. ----------------Damals haben Kinder- und Jugendzentren Kinovorführungen für Kinder organisiert, aber auch in den gewerblichen Kinos gab es Veranstaltungen nur für Kinder. Ich habe alles gesehen, was ich mir mit meinen paar Groschen leisten konnte: »Zorro«, »Fuzzy«, Karl May. Aber ich fing damals schon an zu differenzieren. Ich konnte darüber streiten und sagen: »Diesen Film finde ich miserabel, und zwar deshalb...«, oder: »Diesen Film finde ich gut, und zwar deshalb...« -------------------------Ich habe von 1967 bis 1974 in Kassel Grafikdesign und Kunst studiert, mit den Hauptfächern Film, Fotografie und Malerei. Kassel ist meine Geburtsstadt, und noch als Student habe ich dort an der Hochschule für bildende Künste einen Filmclub gegründet, das »Andere Kino«. Hier war es das erste Mal möglich, zunächst einmal für die Kommilitonen, aber auch für die Leute in der Stadt, europäische Filmkunst der klassischen Moderne kennenzulernen, einen Fellini zu sehen, einen Pasolini, einen Godard, einen Truffaut, darüber hinaus natürlich auch Beispiele der internationalen Filmgeschichte: Eisenstein, Bergmann.----------------------------------Kassel ist ja die Documenta-Stadt. Und ich bin noch als Student zu Harald Szeemann gegangen und habe ihm gesagt, dass er ja jetzt die V. Documenta ausrichtet und diese ja eigentlich die wichtigste Kunstausstellung der Welt sei, die sich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Ich würde jetzt aber schon vier Documenten lang die wichtigste Kunst des Jahrhunderts – wie Lenin sie übrigens schon nannte – vermissen. Harald Szeemann hat sich zurückgelehnt und so in der Art, wie es die Berner tun, lange überlegt, und dann hat er gesagt: »Sie haben Recht, machen Sie. Sie kriegen einen Arbeitsvertrag. Machen Sie eine Sektion Film!« Eine Kunstausstellung ist auch Kino, und gutes Kino ist auch immer eine Kunstausstellung. In diesem Fall haben wir entsprechend der konzeptionellen Fragestel- lung unter anderem die Avantgarde des New American Cinema sowie die opulenten Opernfilme aus China zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Deutsche Filmkünstler waren mit Werner Nekes, Dore O. und Werner Schröter vertreten. 1968, während der Documenta IV, bin ich erstmals Joseph Beuys begegnet. Ich war als Hilfskraft bei Christo beschäftigt und hatte die Aufgabe, nachts sein riesiges, penisartiges Objekt zu bewachen. Eines Tages in der Morgendämmerung versuchte ein etwas merkwürdig wirkender Mann mit Hut und Anglerweste, die Absperrungen zu überklettern. Unter Androhung von Gewalt hielt ich ihn davon ab. Erst später wurde ich aufgeklärt, dass ich mich mit dem wohl bedeutendsten deutschen Künstler angelegt hatte. Er hat es mir aber verziehen.--------------------------------------------1974 bewarb ich mich aufgrund einer Zeitungsausschreibung in Hannover, das Kommunale Kino zu leiten. Und bin genommen worden. Damals habe ich damit begonnen, was ich jetzt seit 36 Jahren mit großer Leidenschaft und Liebe tue. Das Kommunale Kino, das in Hannover gegründet wurde, hatte als einziges der deutschen Kollegenkinos kein eigenes Haus. Wir tingelten zwar nicht von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wie in den Anfängen des Kinos, aber wir zogen von einem Freizeitheim dieser Stadt zum anderen, bis wir 1979 in den Raschplatzkinos als Untermieter eine Bleibe fanden. Dort machten wir erstmals ein volles Wochenprogramm.------------Diese Kinos waren die erste und einzige Möglichkeit für viele Filmschaffende, ihr erstes Publikum zu finden, die erste Auseinandersetzung mit dem Publikum. Später waren sie etabliert, also in dem Sinne, dass ihre Arbeit auch gewerblich umsetzbar war. Aber die ersten Schritte all dieser Künstler fanden in den Kommunalen Kinos statt, und das kann man auch auf den Dokumentarfilm beziehen. Es hätte nie einen Fassbinder gegeben oder einen Wim Wenders oder einen Werner Herzog oder auch einen Christoph Schlingensief, wenn nicht diese Kinos gewesen wären.-------------------------------Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater. Darüber hinaus ist es natürlich sehr wichtig, die Augen offen zu halten: Was passiert Neues in diesem Medium? Wo sind neue formale Ansätze, wie werden neue Inhalte umgesetzt? Werden neue Formen für neue Inhalte gefunden? Da ist dieses Kino immer Avantgarde gewesen, und zwar von Anfang an. Ein Auge für die Avantgarde zu haben, heißt natürlich auch, über die Landesgrenzen hinauszugucken: Was passiert in Europa, was passiert ansonsten in der Welt, vor allem auf den Kontinenten, die filmarchäologisch schwer zugänglich waren? Afrika oder Lateinamerika sind ja noch relativ unbekannte Filmländer. Darüber hinaus ist es natürlich auch wichtig, sich den Genres zu widmen, die im kommerziellen Kino gar keine Chance haben: dem Dokumentarfilm, dem Kurzfilm, dem ganzen Bereich des Experimentalfilms bis hin zu den Anfängen der Videokunst. Das sind Bereiche, um die sich die kommerziellen Kinos nicht kümmern können, einfach, weil das merkantile Risiko für sie zu groß ist. Das Kino im Künstlerhaus in Hannover hat wahrscheinlich deutschlandweit den höchsten Anteil an Dokumentarfilmen. Deshalb ist es eine Einrichtung, die subventioniert werden muss, so wie andere Kultureinrichtungen auch. Film ist Kultur, Kultur ist ein Lebensmittel, und Lebensmittel müssen zur Verfügung stehen, und zwar so, dass jeder sie sich leisten kann. Indem es Filmgeschichte erfahrbar macht, wird so ein Kino auch zur Bildungseinrichtung, und zwar für alle Generationsstufen, angefangen bei der Kinderfilmarbeit, bis zu den Gruppen der silver surfer, also der Senioren, die zu uns kommen. ---------------------------------------------Stichwort Bildung: Der Film hat seine eigenständige Sprache. Sie besteht eben nicht aus linguistischen Zeichen, sondern es ist die Filmsprache. Sie hat ihre eigene Grammatik, und die muss man lernen. Und man kann sie nur in Einrichtungen wie unserer lernen. Das ist die Voraussetzung, um mit Film umgehen und letztlich unterscheiden zu können, was hohe Qualität hat oder irgendein Mist ist.--------------------------------------Für die Zukunft wünsche ich mir auch weiterhin so ein großartiges Publikum, das dieses einmalige Programmangebot wertzuschätzen weiß. Das die »Schule des Sehens« als Werkstatt der Träume nutzt und immer wieder neu erfindet. -----------------------------------------Ich wünsche mir weiterhin die Unterstützung von Kulturverwaltung und Politik, dass diese wertvolle und einzigartige Einrichtung, die nicht mehr aus dem kulturellen Leben der Stadt wegzudenken ist, weitergeführt wird. Die Pflege des globalen filmkulturellen Erbes und dessen Vermittlung ist auch in Zukunft der tragende kulturpolitische Auftrag – ein Bildungsauftrag. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------Protokoll: Friederike Trudzinski------------------------ --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Kirche.« Stefan (47), Angestellter Foto: Jaika Harms 30.31 Sigurd Hermes FilmTheater – Theatermacher zu Gast im Künstlerhaus Regisseure, Schauspieler, Autoren und Bühnenbildner, die am Schauspiel Hannover arbeiten, stellen in der gleichnamigen Veranstaltungsreihe ihre Lieblingsfilme, Juwelen des unkommerziellen Kinos, aber auch eigene Werke vor – und damit sich selbst. Sie geben Einblick in ihre Sicht der Dinge, ihre Leidenschaft, ihr Interesse, ihre gegenwärtige Arbeit. Denn viele Theatermacher sind offenkundige oder versteckte Cineasten. Ihre Kinoerlebnisse prägen nicht selten ihre Bühnenästhetik, und immer mehr von ihnen pendeln ohnehin zwischen diesen beiden Welten. So waren in der letzten Spielzeit unter anderem der Film- und Theaterregisseur Mirko Borscht mit seinem Film »Kombat Sechzehn«, der Bühnenbildner Mihal Galinski mit Robert Thal- heims preisgekröntem Film »Am Ende kommen Touristen«, der Autor Kolja Mensing mit dem interaktiven Videoprojekt »13ter Shop«, die Schauspielerin Sandra Hüller mit Helene Hegemanns Debüt »Torpedo« und der Performer Jürgen Kuttner mit einer Perle des japanischen Independentfilms zu Gast. Nach Kornél Mundruczó (»Delta«), Florian Fiedler (»Palindrome von Todd Solondz«) und Albrecht Hirche (»Blow up« von Michelangelo Antonioni) stellt sich als Nächster am 30. Januar um 17:30 Uhr der Dokumentartheaterspezialist Hans-Werner Kroesinger mit »The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz« und »Opening Night« vor. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Jeden letzten Sonntag im Monat um 17:30 Uhr im Kino Künstlerhaus --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Dass man uns vielleicht doch etwas über die Moral beibringen will.« Georg (53), Bankkaufmann Die Programm-Höhepunkte Dezember 2010 bis März 2011 05.12.10 Schauspielhaus 07.01.11 Ballhof Eins 08.01.11 Schauspielhaus DIE BAKCHEN ODER DER EINDRINGLING KRISTUS – MONSTER OF MÜNSTER DON JUAN GRAFFITIMUSEUM von Molière von Euripides nach dem Roman von Robert Schneider, bearbeitet von Mirko Borscht Skripte unbekannter Autoren (V) Wir sammeln weiter. Graffiti ist unser Material. Es steht schon da, es drängt sich auf. Jetzt widmen wir uns Graffiti auf Güterzügen. Hier schlägt der Zufall den Takt. Eine sehnsuchtsvolle, fast schon kitschige Grundmelodie pfeift die Gleise entlang, wenn die blinden Passagiere uns ihre Geschichte erzählen. Am 9. Januar wird das Skript eingelesen (Treffpunkt: 14 Uhr, Schauspielhaus). Am 15. Januar kommt es auf die Bühne des Ballhof Zwei (20 Uhr). PREMIERE Unter den Frauen der Stadt Theben breitet sich Wahnsinn aus. Ein schöner Fremder, heißt es, raube ihnen mit seinen Reizen den Verstand. König Pentheus droht die Kontrolle zu verlieren. Theiresias, der blinde Seher, warnt ihn vor der Macht eines neuen Gottes: Bakchios oder Dionysos sei es, der in Menschengestalt in der Stadt Einzug gehalten habe. Mit Gewalt versucht Pentheus, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten und setzt so die Tragödie in Gang. URAUFFÜHRUNG Jan hat einen Berufswunsch: Kristus. Was als Missverständnis auf einer Prozession beginnt, entwickelt sich zur Bestimmung seines Lebens. Der feinsinnige und gerechtigkeitsliebende Junge findet bei den Wiedertäufern in Münster Gleichgesinnte, die auf das Ende der dunklen Zeit hoffen. Gemeinsam gründen sie ein Reich – mit Jan an der Spitze. Doch die schöne Utopie scheitert. Zweite Arbeit von Regisseur Mirko Borscht (»komA«) am Schauspiel Hannover. PREMIERE Hemmungslos hedonistisch verschwendet sich Don Juan an die Frauen, die Lust und das Leben – dies macht ihn gleichermaßen anziehend wie abstoßend. Der Mythos des großen Verführers lebt auch von unserer Lust an der Unmoral. Molière zeigt ihn uns als zynischen Freigeist, dessen Kraft aus seiner völligen Ungebundenheit rührt. Frei von jedem Glauben, hat Don Juan nichts zu fürchten und nichts zu verlieren. Nach »Yerma« zweite Regiearbeit von Sebastian Schug am Schauspiel Hannover. 09. / 15.01.11 Schauspielhaus / Ballhof Zwei 15.01.11 Schauspielhaus 15.01.11 Cumberlandsche Bühne 30.01.11 11 Uhr Foyer Schauspielhaus 30.01.11 17:30 Uhr Kino im Künstlerhaus PARZIVAL CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN TODES WELTAUSSTELLUNG PRINZENSTRASSE (XII): DAS DRAMA DER EVOLUTION LANGE FILMNACHT MIT HANS-WERNER KROESINGER von Lukas Bärfuss nach Wolfram von Eschenbach von Gabriel García Márquez WIEDERAUFNAHME PREMIERE Die Parzival-Dichtung Wolfram von Eschenbachs gehört zu den bedeutendsten literarischen Texten des deutschen Mittelalters. Lukas Bärfuss, derzeit einer der profiliertesten Autoren im deutschen Sprachraum, hat für das Schauspiel Hannover eine neue, eigene Bearbeitung erstellt. Zur Wiederaufnahme kommt es zu einer Umbesetzung der Titelfigur: Für Sandra Hüller spielt Sebastian Kaufmane den Parzival. Nach einer rauschenden Hochzeit bringt der wütende Bräutigam seine Jungvermählte zurück zu ihren Eltern: Sie ist keine Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande verantwortlich? Ihre Brüder schwören blutige Rache... Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez entwirft in »Chronik eines angekündigten Todes« ein vielstimmiges Dorfpanorama. Erste Regie von Albrecht Hirche am Schauspiel Hannover. Oskar Negt im Gespräch mit dem Paläontologen Björn Kröger Wie unser Lebensstil das Gesicht der Erde möglicherweise irreversibel verändert und welche langfristigen Folgen unseres Handelns möglich sind – dazu befragt Oskar Negt den deutschen Paläontologen Björn Kröger in Folge XII der Gesprächsreihe »Weltausstellung Prinzenstraße«. Es geht um die erdgeschichtliche Tiefenzeit und die Akteure der Evolution. Mit freundlicher Unterstützung der TUI Stiftung FilmTheater – Theatermacher zu Gast im Künstlerhaus Der Dokumentartheaterspezialist HansWerner Kroesinger, der am 26. Februar im Ballhof Zwei sein Projekt »Unternehmen Hunger« auf die Bühne bringt, zeigt in der Reihe »FilmTheater« zwei seiner Lieblingsfilme: den Spätwestern »The Wild Bunch« von Sam Peckinpah, der 1914 während der Revolution in Mexiko spielt, und »Opening Night«, die Geschichte einer alkoholkranken Schauspielerin. Beide Filme können auch einzeln besucht werden! 11.02.11 Ballhof Eins 12.02.11 Schauspielhaus 26.02.11 Ballhof Zwei 19.03.11 Schauspielhaus CLAVIGO BAUERN, BONZEN, BOMBEN UNTERNEHMEN HUNGER DER SILBERSEE von Johann Wolfgang von Goethe nach einem Roman von Hans Fallada von Hans-Werner Kroesinger von Georg Kaiser mit Musik von Kurt Weill PREMIERE PREMIERE PREMIERE PREMIERE Der 25-jährige Johann Wolfgang von Goethe schrieb »Clavigo« in einer einzigen Woche nieder. Mit dem Konflikt zwischen der Sehnsucht nach Familie und den Verheißungen von Karriere und Ruhm schrieb er sich sein eigenes Dilemma von der Seele. »Clavigo« diente ihm als »poetische Beichte«, nachdem er Friederike Brion, Pfarrerstochter aus einfachem Hause, für seine Juristenkarriere in Strasbourg verlassen hatte. Hans Fallada gehörte zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Roman »Bauern, Bomben und Bonzen« knüpft an die Ereignisse des Landvolk-Prozesses im holsteinischen Neumünster an und entwirft das Panorama einer Gesellschaft, die zum Spielfeld politischer und wirtschaftlicher Einzelinteressen geworden ist. Politikverdrossenheit, Denunziation und politische Intrigen sind die Folge. Wieso haben die meisten Menschen nicht genug zu essen? Wieso können wir zum Mond fliegen, sind aber unfähig, Lebensmittel gerecht zu verteilen? Warum haben 50 Jahre Entwicklungshilfe die Lage nur noch verschlimmert? Entstehen Hungersnöte aus Mangel an Lebensmitteln oder durch ihre planvoll gesteuerte Fehlverteilung? Wie entstand eigentlich die Dritte Welt und die Erste, ihr Elend und unser Wohlstand? »Unternehmen Hunger« – ein Projekt mit Zukunft! In seiner am 18. Februar 1933 uraufgeführten Schauspieloper »Der Silbersee« nutzt Kurt Weill, der Komponist der »Dreigroschenoper«, wie in anderen seiner Werke auch, eine Vielzahl musikalischer Formen. Und obwohl es sich um ein Theaterstück handelt – der weitaus größte Teil des Textes wird gesprochen –, ist die musikalische Ausarbeitung ausgesprochen anspruchsvoll. Intendant Lars-Ole Walburg begibt sich in dieses genresprengende Wagnis. IMPRESSUM Heft #5 HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Schauspiel Hannover, Spielzeit 2010/11 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION Björn Achenbach, Aljoscha Begrich, Vivica Bocks, Volker Bürger, Judith Gerstenberg, Friederike Trudzinski, Christian Tschirner GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim