Ghostwriter Dr. Nemet im Interview mit Container

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Ghostwriter Dr. Nemet im Interview mit Container
http://www.journalistik-eichstaett.de - April Zweitausendacht - Ein Euro
Container
Schmutziger Job:
Wie Salzburgs einziger Rossknödelsammler mit Pferdekot seinen
Lebensunterhalt verdient...........3
Schmutzige Szenen:
Was eine Pornodarstellerin über
Blümchensex, Drogen und Männer der alten Schule denkt.........6
Schmutzige Kunst:
Wie der Künstler Wilhelm Mundt
mit seinen Trashstone-Plastiken
Müll beseitigt.............................10
Vogelfrei in Venedig
Sie verschmutzen die Plätze und Paläste – und doch gehören Tauben einfach zum Stadtbild. Ab Mai ist das Taubenfüttern
auf dem Markusplatz verboten. Die Futterhändler ziehen nun vor Gericht, um ihre Existenz zu retten.
Frau und zehn weitere Verkäufer gegen das Taubenfütter-Verbot vor Gericht ziehen.
Von Katharina Steuckart
Venedig (Italien) – Als die Glocke
der Markuskirche zwei Uhr schlägt, ist
es vorbei mit der schönen Aussicht:
Plötzlich sehen die Touristen auf dem
Markusplatz statt des Dogenpalastes
nur noch flatternde Flügel. Scharen
von Tauben, die eben noch auf dem
Platz saßen, kreisen im Himmel. Glitzernde Staubkörner wirbeln über den
Köpfen der Touristen und der Gäste
in den umliegenden Cafés, die sich unterhalten, lesen, lachen, warten. Eine
junge Frau mit blonden lockigen Haaren rutscht nervös auf ihrem Stuhl, der
Mann neben ihr, sorgfältig gekleidet,
blättert geduldig in seiner Zeitschrift.
Die Tauben drehen ihre Runden über
dem Platz und gleiten anmutig zu Boden. Sie umzingeln die Touristen und
belagern die Kinder, die ihre maisgefüllten Papiertüten fest in den kleinen
Händen halten.
In der Mitte des Platzes, umringt
von fotografierenden Touristen steht
hinter einem kleinen Wagen Gianni,
ein braungebrannter, älterer Mann in
dicker Winterjacke. Unter der schmutzigen Kappe glitzern seine braunen
Augen. Flink verpackt er kleine Tüten
mit Mais und legt sie auf die Glasvitrine. Ein Mädchen mit zerzausten
Locken steht mit großen Augen vor
seinen Eltern und erschleicht sich einen Euro. Freudestrahlend geht es auf
Gianni zu und drückt ihm das Geld
für das Taubenfutter in die Hand.
Seit vier Jahren steht Gianni Tag für
„Venedig ohne Tauben ist wie eine
schöne Frau mit krummen Beinen.“
Sollen den Abflug machen: Tauben auf dem Markusplatz.
Tag vier bis fünf Stunden hier auf dem
Markusplatz und verkauft Taubenfutter, die Tüte für einen Euro. Doch
seine Tage sind gezählt: Ab dem ersten Mai 2008 ist das Taubenfüttern in
ganz Venedig verboten. Die insgesamt
18 Taubenfutterhändler von Venedig
müssen sich dann nach einer anderen
Existenzgrundlage umsehen.
Wenn Gianni an die Zukunft denkt,
ändert sich seine Miene im Sekundentakt: Trauer, Angst, Wut. „Die
Kinder aus aller Welt füttern hier die
Tauben. Und dann kommt so ein Typ
und denkt, er könnte in ein paar Tagen alles umwerfen.“ Der „Typ“, von
dem er spricht, ist der Bürgermeister
von Venedig. Er will die Tauben aus
der Stadt vertreiben, weil er meint,
dass sie Krankheiten übertragen, mit
ihrem Kot die aufwendig restaurierten
Gebäude und Plätze zerstören und
für ihre Eierproduktion Kalk von
historischen Fassaden picken. Etwa
100 000 Tauben bevölkern die Stadt
und produzieren täglich bis zu vier
Tonnen Kot.
Gianni hat Gesellschaft bekommen:
Luciano, ein alter Mann mit dicker
Knollennase und verfaulten Zähnen
steht neben ihm. Er ist 82 Jahre alt
und kennt Gianni schon lange, denn
Foto: Katharina Steuckart
Lucianos Frau verkauft seit über 70
Jahren Taubenfutter auf dem Markusplatz. Ihr Vater, ein Kriegsversehrter, hatte die Lizenz nach dem ersten
Weltkrieg bekommen und war kurz
darauf gestorben. „Und dann hat
meine Schwiegermama das Geschäft
übernommen, obwohl sie fünf Kinder
hatte. So ist das Ganze an meine Frau
gelangt“, erzählt Luciano lachend. Es
gibt Familien auf dem Platz, die haben ihre Lizenz, die inzwischen nur
noch vererbt werden darf, seit über
100 Jahren. Weil nun die wenigen Lizenzen die es noch gibt, bald wertlos
sein könnten, wollen Gianni, Lucianos
Mit einem Rauschen wie in einem
Sturm fliegen plötzlich die Tauben
auf. Touristen zucken zusammen und
starren in ihnen nach. Luciano und
Gianni haben sich schon längst daran
gewöhnt. Sie können sich ein Leben
ohne die Tauben auf dem Markusplatz kaum noch vorstellen. „Venedig
ohne Tauben ist wie eine schöne Frau
mit krummen Beinen“, sagt Luciano.
Gianni nickt zustimmend. Er liebt seine Arbeit, bei der er Menschen aus der
ganzen Welt kennen lernt. Dennoch,
so erzählt er mit einem verschmitzten
Grinsen, sei er jeden Tag froh, wenn
er aus diesem Irrenhaus rauskommt.
„Lesben, Schwule, Schauspieler: Alle
wollen hierher und ich will einfach nur
nach Hause.“
Die Abenddämmerung legt sich
über Venedig. Rote Lichtstreifen zieren
den Himmel. Noch immer schlendern
Scharen von Touristen über den Markusplatz. Doch etwas fehlt: Kein Staub
mehr, der durch die Luft fliegt. Kein
tosendes Flügelschlagen – die Tauben
sind verschwunden. Sie haben sich in die
Winkel der vielen alten Häuser zurückgezogen. Mit ihnen sind auch die Taubenfutterhändler wie von Zauberhand
verschwunden. Vorläufig nur für heute.
Aber bald vielleicht schon für immer.
Glosse
D
ie Freiheit des Studentenlebens endet vor dem Wäschekorb: Dort türmt sich die Schmutzwäsche, während im Kleiderschrank gähnende Leere herrscht.
Vielleicht ließe sich dieser Pullover nach langwierigem Lüften
an der frischen Luft ja doch noch einmal tragen? Den einen
oder anderen Trick, die Tragedauer von Klamotten zu verlängern, scheint es schon zu geben: In der Mensa sitzt mir eine
Studentin gegenüber, die einem Klecks auf ihrem Pulli mal eben
schnell mit einem Fleck-Weg-Stift an die Wäsche geht. Ein anderer Student verplant jede einzelne seiner Boxershorts penibel
auf einzelne Wochentage und „leiht“ sich in einer Art Deutschlandtour von seinen Freunden Socken. Sind die Mitbewohner
„leer gesockt“, staubt er bei jedem Besuch in einer anderen Stadt
ein neues Pärchen ab. „Socken-Hoppen“ nennt er das, als
sei es ein neuer Volkssport.
Wenn die Flecken jedoch Überhand nehmen,
die Freunde schon komplett sockenlos durchs
Leben wanken und die Kommilitonen einen
großen Bogen um mich machen, steht fest:
Ich komme ums Waschen einfach nicht mehr
herum. Dabei überfordert mich doch schon
die Wahl des richtigen Waschmittels: „Weißer Riese“ wirbt mit Riesenwaschkraft für
die ganze Familie. Im Werbespot spannen
die immer eine kilometerlange Wäscheleine –
aber soviel Wäsche habe ich nun auch wieder
nicht. Das Waschmittel von „Frosch“ versieht Kleidungsstücke
de den Begriff der Schaumparty völlig revolutionieren. Beim
mit einem Lichtschutzfaktor. Und wofür ist der jetzt? Für die
Eintritt gäbe es keinen lästigen Stempel, sondern eine HandKleidung, damit sie im Urlaub nicht so braun wird, oder für
voll Persil. Und frühestens nach der dritten Trommel ginge es
die Haut, damit man durch seine Allwetterjacke keinen Sonnenim Schleudergang nach Hause. Doch mein Tagtraum zerplatzt
brand bekommt?
wie eine Seifenblase. Von einer Maschine eingeschüchtert, die
Seien wir mal ehrlich: Die Werbung verbreitet ohnehin Hoffmir komplizierter erscheint als jede Statistikvorlesung, bleibt mir
nungen, die nie erfüllt werden. Der sparsame Spee-Fuchs wird
schließlich doch nur eines: die reuige Rückkehr zu dem einzigen
mir nie beim Waschen helfen und „Febreze“ hat noch keinen
Menschen, der Hemden porentief rein und Hoffnungen wirklich
Textilerfrischer erfunden, der verhindert, dass jedes T-Shirt irwahr werden lässt: Mama.
gendwann einmal in die Maschine muss. Die einMit 30 Kilogramm schmutziger Wäsche steige ich am Freitag
zigen, die immer für mich da sind, sind die
in den Zug und komme glücklich, ausgelassen, ja fast euphorisch,
Fleckenzwerge – und gegen die muss ich nun
mit 30 Kilogramm sauberer Wäsche am Sonntag zurück. Wir
vorgehen.
können nichts dafür, wir wurden so erzogen. Waschen ist das
Jetzt stehe ich alleine in einem muffigen
unsichtbare Band, das die flügge gewordenen Söhne und TöchWaschkeller und muss mich mit Begriffen wie
ter dieser Welt an daheim bindet. Es ist eiskaltes Kalkül unserer
„Kochwäsche“ und „bügelfeucht“ herumMütter, sich auch nach dem Auszug unverzichtbar zu machen.
schlagen, die mir im Hotel Mama noch wie ein
„Mama, ich brauch dich!“ – so wollte sie es doch, oder?! Zuferner Fluch erschienen. Niemand ist
hause hat mir meine Mutter ein Poster an die Zimmerda, der mir dieses Technikwundertür gehängt: „Bei 87,9 Prozent aller Studenten
werk vor mir erklären könnte.
hört die Waschmaschine auf den Namen
Dabei würde gemeinsames
‚Mama‘.“ Irgendetwas will sie mir daWaschen viel mehr Spaß mamit wohl sagen – nur weiß ich bis
chen, denke ich mir. Warum
heute nicht was. Vielleicht
keine Waschparty organisieren?
möchte sie, dass ich meine
Schmutzige Wäsche als Grund
Waschmaschine nach ihr
Illustration: Julia Haug
zum Feiern – grandios. Das würbenenne. Oder so.
Von LauraBeck
zwei
v
Editorial
18 Wochen Schmutz. Das sind
126 Tage oder 3  024 Stunden
oder 181  440 Minuten Dreck,
Ruß und jede Menge Arbeit.
Redaktionssitzungen bis die
Köpfe qualmen, eine verschlafene
Chefredakteurin und wahlweise
Pizza, Döner oder Asia-Nudeln
für die hungrigen Mägen. Unsere
Reporter sind indes in ganz
Deutschland, ach was, in halb
Europa unterwegs.
Eine reist bis nach Italien, um
gemeinsam mit einem scheckigen
Hund nach stinkenden Edelpilzen
zu suchen. Eine andere begnügt
sich mit den Innereien örtlicher
Müllcontainer.
Ob voll Entsetzen im Getümmel
einer Porno-Live-Show oder auf
Gehörprobe bei den unflätigen
Machenschaften
bekennender
Dirty-Talker – schmutzig wurde
es auch ohne handfesten Dreck.
Während unseres Fotoshootings
für die Impressumbilder allseitige
Übereinstimmung: Wir wollen so
schmutzig sein wie nur möglich.
Und dazwischen stellen wir
fest: Wir sind tatsächlich VollblutPrint-Journalisten. Bilder würden
wir am liebsten ganz abschaffen.
Es lebe das geschriebene
Wort! Nächstes Mal sind die
Fotoredakteure arbeitslos.
Auf zwölf Seiten könnt ihr
nun sehen, was bei 10  886  400
Sekunden Arbeit herausgekommen
ist. Ein moralisch gefestigter Kommilitone stellte noch während des
Arbeitsprozesses fest: „Meiner
Oma kann ich das nicht zeigen.“
Aber überzeugt euch selbst:
aufgepasst und Augen auf für jede
Menge Schmutz – aber garantiert
keinen Schund...
Hannah Lau & Andreas Nefzger
Impressum (siehe auch S. 12):
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Diplom-Studiengang Journalistik
Ostenstraße 26, 85072 Eichstätt
08421/93 16 98
world wide waste
Einmal Diplom, bitte!
Von erkauften Arbeiten und dubiosen Internetfirmen:
Akademische Ghostwriter setzen auf schlechte Betreuung an deutschen Hochschulen
Von Steffen Armbruster
Eichstätt – Nervös klackern Lisas
Fingernägel auf dem Holztisch, ihr Stift
ist bereits flach gekaut, sie kratzt sich am
Kopf und rauft sich die Haare. In einer
Woche muss die Seminararbeit fertig
sein. Aber wie soll sie das schaffen? Sie
muss Referate vorbereiten, Vokabeln
lernen und nebenher in der kleinen
Kneipe am Eck jobben. In Momenten
wie diesen spielt Lisa mit dem Gedanken, das zu tun, was viele gestresste Studenten tun: Sie greifen zu ungewöhnlichen Mitteln und lassen schreiben.
„Suche dringend einen Ghostwriter für
meine anstehende Diplomarbeit, Fachbereich Soziale Arbeit. Würde sehr gut
bezahlen“, ist da beispielsweise in einem
Internetforum zu lesen.
Im Netz können sich Studenten auf
zahllosen Seiten Hausarbeiten, DiplomArbeiten und sogar Dissertationen
kaufen. Zwischen 300 und mehreren
tausend Euro blättern sie dafür hin
– je nach Seitenzahl und Anbieter. Eine
vollständige Doktorarbeit kostet rund
20  000 Euro. Viel Geld für ein hohes
Risiko, denn wenn die Käufer die fremden Texte als ihre eigenen ausgeben,
kann das drastische Konsequenzen haben und eine Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren wegen Betrugs nach sich ziehen.
Nur die Ghostwriter sind bei diesem
Geschäft auf der sicheren Seite.
Thomas Nemet (37) hat Philosophie studiert und früher selbst wissenschaftliche Texte gegen Geld verfasst.
„Momentan komme ich nicht mehr
dazu“, sagt er, denn inzwischen ist er
Geschäftsführer der Firma „Acadwrite
Deutschland“. Mit „rund 250 freien
Mitarbeitern, die mindestens einen
akademischen Abschluss vorzuweisen
haben“ – darunter auch Doktoren und
aktiv lehrende Professoren – feiert sich
„Acadwrite“ als Marktführer der Branche. Über die Webseite von „Acadwrite
Deutschland“ bestellen Kunden von
einer 15-seitigen bis hin zu einer 200seitigen Arbeit praktisch alle Arten akademischer Schriften in allen Fächern.
Besonders gefragt sind Texte aus dem
„Bereich BWL, Sozialwissenschaften,
Literaturwissenschaften, Philosophie
und manchmal auch Rechtswissenschaften“, erklärt Nemet. Wie viele
akademische Arbeiten tatsächlich unter
falschem Namen eingereicht werden,
weiß niemand. Nemet verrät nur, dass
„Acadwrite“ im Jahr 2005 einen Umsatz von rund 800  000 Euro mit dem
Verkauf von wissenschaftlichen Texten gemacht hat. Für das Geschäftsjahr
2006 schätzt er den Umsatz auf über
eine Million Euro, Tendenz steigend.
„Viele können nicht nachfragen,
wie eine Hausarbeit aussehen soll.“
Der Markt der Ghostwriter boomt,
denn die Zahl potentieller Kunden
wächst ständig: Im Wintersemester
2006/2007 waren laut statistischem
Bundesamt fast zwei Millionen Studenten an deutschen Universitäten
eingeschrieben, rund 150  000 mehr als
noch vor zehn Jahren. Viele Unis sind
mittlerweile hoffnungslos überfüllt, immer mehr Studenten müssen sich eine
Lehrkraft teilen. In München zum Beispiel kommen 64 Studenten auf einen
Professor, in Mannheim schon 92 und
in Köln sind es sogar 96 Studenten pro
Lehrkraft. „Da setzen wir an“, erklärt
Dirk Bocklage (29), geschäftsführender
Gesellschafter der Ghostwriter-Firma
„EPSnet“. Eine Seite Text kostet bei
seiner Firma zwischen 29 und 57 Euro
– je nach dem, wie schnell geliefert
werden soll. „Viele Studenten haben
Porsche fahren, Sexgott
werden, Lehrgeld zahlen
Ahnungslose Internetsurfer fallen reihenweise auf zweifelhafte Angebote herein
– wer nicht zahlt, wird unter Druck gesetzt
Von Sebastian Wieschowski
Zug (Schweiz) – Die Briefe, die sich
auf den Schreibtischen deutscher Verbraucherschützer stapeln, beginnen immer wieder mit der gleichen Geschichte – abgeschickt von ahnungslosen
Internetsurfern, die „einfach nur mal
was ausprobieren wollten“. Sie wollten
sich in eine Porsche-Testfahrerkartei
eintragen lassen. Oder ihren Sex-Typ
herausfinden. Oder ein paar kostenlose
SMS verschicken. Dagny Tolksdorf
wollte schon immer mehr über die
Herkunft ihres Namens herausfinden.
Da kam eine Infomail gerade recht, die
ihr empfahl, auf der Adresse „genlogie.
net“ mehr über Name, Herkunft und
ihr weiteres Leben zu erfahren. Die 27jährige Studentin aus Potsdam meldete
sich an, gab zur Analyse ihres Namens
alle nötigen Daten ein – wenig später
erfuhr sie, dass sie am gleichen Tag wie
Stalin Geburtstag hat. Dass ihr Vorname aus dem Schwedischen kommt
und soviel wie „organisiere dich selbst“
heißt. Im Horoskop wird ihr Pech in
der Liebe, aber ein finanzielles Glück
versprochen. Das Horoskop sollte nicht
Recht behalten. Denn die Bescherung
kam wenig später per Post – in Form
einer Rechnung über 60 Euro. Die Internetsurferin hatte bei der Anmeldung
das Kleingedruckte überlesen. Da war
zu lesen, dass der Service fünf Euro im
Monat kostet und die Datenbank direkt
für zwölf Monate abonniert wurde.
„Das Problem gewinnt enorm an
Bedeutung.“
Dagny Tolksdorf ist kein Einzelfall
– immer mehr Deutsche fallen auf
dubiose Bezahl-Angebote im Internet
herein. Allein in der Zeit von Mitte Februar bis Mitte März 2007 gingen bundesweit mehr als 22  000 Beschwerden
bei den Verbraucherzentralen ein, wie
die Verbraucherzentrale NRW mitteilt.
„Das Problem gewinnt enorm an Bedeutung“, sagte Vorstand Klaus Müller
in einem Interview.
Im Angebot haben die Anbieter so
ziemlich alles, was das Surfer-Herz begehrt: kostenlose Produktproben, Intelligenztests oder Lebenserwartungsprognosen. Die „Abzocke“ dahinter
verläuft immer wieder nach dem gleichen Muster: Der Benutzer nimmt an
den Online-Aktionen teil und gibt seine Postanschrift an. Oft gehen die ah-
nungslosen Nutzer dabei Verträge mit
zwei Jahren Laufzeit ein. Eine Bankverbindung wird nicht gefordert, denn
die Rechnung kommt per Brief.
Besonders viel Arbeit bereitet dem
deutschen Verbraucherzentrale-Bundesverband die „Internet Service AG“
mit Sitz im schweizerischen Rotkreuz.
Das Unternehmen hat so ziemlich alles
für den unterhaltungslustigen Webnutzer im Angebot – sie trägt ihn in Porsche-Testfahrerkarteien ein, berechnet
seine Lebenserwartung, findet seinen
Sex-Typ heraus – und veranlasst gefährlich klingende Mahnschreiben über
eine „Deutsche Inkassostelle“, falls die
zukünftigen Testfahrer, Hundertjährigen oder Sexbomben nicht zahlen.
Kunden, die sich vor Ort über die Abzocke beschweren wollen, bekommen
einen Verantwortlichen der „Internet
Service AG“ allerdings nicht zu Gesicht. Das Handelsregister Zug weist
als aktuelle Verwaltungsratsvorsitzende
eine gewisse Yvonne Elisabeth Muther
aus, wohnhaft in Hüttikon. An der Tür
öffnet niemand. Wer in der Nachbarschaft klingelt und sich als vermeintlicher Geschäftspartner ausgibt, lernt
Schweizer Diskretion kennen – reden
überhaupt keine Möglichkeit, nachzufragen, wie eine Hausarbeit aussehen
soll“, sagt Bocklage. Also erstellen die
fleißigen Schreiber seiner Firma fertige
Arbeiten mit Inhaltsverzeichnis und Literaturliste. Auf der Internetseite wirbt
seine Firma ausdrücklich damit, dass
„die Texte exklusiv“ nach Kundenwünschen „verfasst werden“ und verspricht
sogar eine „Unikat-Garantie“.
„Natürlich wissen wir auch, dass es
schwarze Schafe gibt.“
Dennoch betont er, dass die Arbeiten vom Käufer lediglich „als Vorlage
genutzt werden“ sollen. Alle Ghostwriter-Firmen weisen ihre Kunden
ausdrücklich darauf hin, dass die Texte
urheberrechtlich geschützt sind. „Natürlich wissen wir auch, dass es schwarze Schafe gibt, die diesen Service ausnutzen und dann das Werk eins zu eins
abgeben. Aber ich denke mal, das wird
der kleinere Teil sein“, sagt Dirk Bocklage. Trotzdem würde er es „nicht als
kriminell bezeichnen“, wenn jemand
eine Arbeit unter anderem Namen abgibt. Thomas Nemet sieht das ähnlich:
„Sie können auch nicht den Hersteller
des Küchenmessers, mit dem Sie Ihre
Schwiegermutter um die Ecke gebracht
haben, dafür haftbar machen, dass er
das Messer produziert hat.“ Mit dieser
Aussage gelingt der Firma der Sprung
in eine gesetzliche Lücke, in eine Grauzone, in der sie sich als Anbieter der
Verantwortung entzieht. In der Tat ist
der Verkauf von wissenschaftlichen
Texten nicht illegal. Die Kunden aber,
die eine gekaufte Arbeit unter eigenem
Namen abgeben, machen sich wegen Betrugs und Urkundenfälschung
strafbar. „Prüfungsrechtlich ist das ein
Täuschungsversuch und damit ist die
Prüfung gecancelt“, sagt Rechtsanwältin Karin Triebold, die auf Schul- und
Hochschulrecht spezialisiert ist. An
den Universitäten selbst geht die Ahndung „bei einem Verweis los und endet
bei Aberkennung von Titeln“, erklärt
Professor Gerhard Thiele, Vertrauensmann für wissenschaftliches Fehlverhalten an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Soweit er sich erinnern
kann, habe es solche Fälle an der Freiburger Uni allerdings noch nicht gegeben, erklärt Thiele. Vor allem ein sehr
enger Kontakt zwischen Lehrenden
und Studenten „kann dem Plagiatswesen Einhalt gebieten“, erklärt Thiele
weiter. „Eine gute Betreuung kann
dementsprechend vorbeugen.“
Ghostwriter treten das Ansehen wissenschaftlicher Arbeiten mit Füßen.
Foto: Steffen Armbruster
möchte fast niemand. Die einzige Auskunft eines Anwohners: Es hätten hier
schon einige erboste Deutsche umsonst gewartet.
Auch im „Servicecenter“ der „Internet Service AG“ in Rotkreuz, etwa
60 km von Hüttikon entfernt, wird
Kundennähe nicht unbedingt groß
geschrieben. Im ersten Stock eines Bürokomplexes hat das Unternehmen ein
Büro angemietet. Eine schwarzhaarige
Frau verschwindet im Nebenzimmer.
Ob sie das Klopfen und Klingeln nicht
hört? Oder gar keinen Service anbietet? Das ist gut möglich, denn wer die
Telefonnummer des schweizerischen
„Servicecenters“ wählt, landet im benachbarten Liechtenstein. Also doch
kein Service bei der „Internet Service
AG“ in der Schweiz?
„Die Drohungen sind Masche und
werden tausendfach verschickt.“
In den Niederungen der virtuellen
Mail-Müllkippe will der deutsche „Verbraucherzentrale-Bundesverband“
weiterhin für ahnungslose Abo-Opfer
kämpfen. Zu den wichtigsten Aufgaben der Verbraucherschützer gehört,
Internetsurfer rechtzeitig zu informieren, damit sie gar nicht erst in die
Falle tappen. Die Verbraucherzentrale
veröffentlicht deshalb schwarze Listen
mit gefährlichen Webadressen sowie
dubiosen Firmen. Verbraucherschützer
Ronny Jahn schreibt seine Erfahrungen
mit den Klick-Abzockern in einem
Blog nieder. Seine Kollegen sammeln
die Beschwerden geprellter Surfer und
prozessieren gegen andere auffällige
Unternehmen. Das Landgericht Stuttgart gab im Verfahren des Verbraucherzentrale-Bundesverbandes gegen die
„Internet Service AG“ am 8. Juni eine
deutliche Einschätzung ab: Die Gestaltung der gerügten Seiten sei darauf angelegt, Verbraucher zu täuschen. Doch
die Schweizer machen weiter – über
eine Änderung der Rechtsform, des Firmennamens oder die Gründung eines
Subunternehmens. Für Internetsurfer,
die bereits in die Falle getappt sind, hat
Jahn einen vergleichsweise einfachen
Rat: „Die Drohungen sind Masche und
werden tausendfach verschickt. Es ist
kein einziger Fall bekannt, in dem Unternehmen wie die Internet Service AG
wirklich geklagt hätten.“ Auch Dagny
Tolksdorf, die bei der Verbraucherzentrale um Rat fragte, reagierte daraufhin
nicht mehr auf die immer gefährlicher
klingenden Schreiben aus der Schweiz.
Nach ein paar weiteren Mahnungen
versiegte die Briefflut. Ronny Jahn von
der Verbraucherzentrale Berlin wundert das nicht: „Die Anbieter wissen
schon, warum sie am Ende doch nicht
vor Gericht gehen.“
L
zweilanderdreck
L
v
drei
Jeden Tag der gleiche Mist
Mit Salzburgs Rossknödelsammler unterwegs zwischen Altem Markt und Getreidegasse
Von Christian Wiesbacher
Salzburg (Österreich) – Der Atem
der Pferde dampft in der kalten Luft.
Jonel Timić verzieht keine Miene, als er
mit seiner Blechschaufel den frischen
Haufen Pferdeäpfel in eine Plastikwanne wirft. Seine dunkle Wollmütze
hat er tief ins Gesicht gezogen, im
Mundwinkel qualmt eine Zigarette. Er
hebt die Wanne auf und stellt sie in die
Sperrholzkiste, die vorne auf seinem
Fahrrad montiert ist. Darauf prangt
in dunkelroten Buchstaben „Roßknödelsammler“. Dann stößt sich Jonel
Timić ab, tritt in die Pedale und bahnt
sich scheppernd den Weg durch eine
Gruppe von koreanischen Touristen,
immer hinter der Pferdekutsche her,
die durch die engen Gassen der Salzburger Altstadt rollt.
Von früh bis spät, Tag für Tag bleibt
Jonel Timić den Salzburger Fiakern auf
den Fersen. Vorbei am Festspielhaus,
dann durch die Griesgasse und über
den Mozartplatz zurück zum Alten
Markt. Jonel Timić schafft die Route
in fünfzehn Minuten. Neun oder zehn
Mal pro Tag klingelt er sich so seinen
Weg durch die Altstadt, in der sich die
Touristen drängen. Der 38-jährige Serbe ist der „Wegmoacha“. Er kümmert
sich um die Hinterlassenschaften der
Rösser und ist dafür zuständig, dass die
vielen Japaner, Amerikaner, Italiener
und Deutschen vor dem Festspielhaus
oder dem Dom nicht in einen dampfenden Haufen Pferdemist treten.
Früher hat Jonel Timić Zeitungen
verkauft, aber der Verdienst reichte
nicht für ihn, seine Frau und die drei
Kinder. Also stieg er vor drei Jahren
um aufs Rossknödelsammeln. „Des is’
ein sicherer Job, die Kutschen fahren
ja immer.“
Sein Weg auf dem Sammelrad führt
ihn durch enge Gassen, vorbei an bunten Barockfassaden mit blütenweißen
Stuckbändern. Über allem thront majestätisch die Festung Hohensalzburg.
Trotz eisiger Kälte steht ein als Mo-
Von Julia Lösch
New Orleans (USA)/Eichstätt –
Verfallene Häuser. Mehr als nur leer.
Tot. Haufenweise Schrott und Müll,
durch den Hunde und Ratten streichen. Kein Mensch ist zu sehen, nicht
hinter den Fenstern, nicht auf den
Straßen. Vor einem Kiosk flattern vereinzelt alte Tageszeitungen im Wind
– an dieser Stelle stockt Bruce Voelker.
Seine Stimme klingt belegt. Die Erinnerung an den 29. August 2005 fällt ihm
schwer. An diesem Tag wurde New
Orleans durch den Hurrikan Katrina
zur Geisterstadt. Die einst so flirrende
Metropole wurde zum Elendstal.
„Wir mussten Abschied nehmen.“
Obwohl die fünfköpfige Familie
Voelker aus New Orleans von Katrina weitgehend verschont blieb, wusste sie schon damals, dass nichts mehr
so sein wird, wie es vorher war. Der
Schaden am eigenen Haus war noch
hinzunehmen. Der einer ganzen Stadt
nicht. „Wir mussten Abschied nehmen“, erzählt Bruce, der Familienvater. „Abschied von einer Welt, die
einst aus Jazz, bunten Lichtern und
viel Kitsch bestand.“
In der Zwischenzeit sind viele Straßen repariert, Häuser wieder aufgebaut. Langsam füllen sich die Vororte
der Stadt mit Menschen. Allmählich
Rauf auf die Schaufel: Salzburgs „Wegmoacha“ Jonel Timić kehrt Pferdemist von den Straßen.
Foto: Christian Wiesbacher
zart verkleideter Pantomime auf dem
Alten Markt direkt vor den Fiakern.
Die vielen Menschen auf dem Platz
beachten ihn kaum, sie interessieren
sich mehr für die Pferde mit den bunten Decken, die vor die Holzkutschen
gespannt sind.
200 Kilo Pferdemist pro Tag
Jonel Timić zieht weiter, den Blick
auf das Pflaster gerichtet, immer auf
der Suche nach den Hinterlassenschaften der Pferde. Um die 200 Kilo
der braunen Rossknödel kehrt und
kratzt Jonel Timić Tag für Tag von den
Straßen und aus den Fugen des Kopfsteinpflasters. Der Geruch stört ihn
nicht: „Die Knödel stinken nur, wenn
sie ganz frisch sind“, erklärt er und
biegt mit seinem Rad auf den Platz
hinter dem Dom ein, wo ein verschlossener Container auf ihn wartet. „Zwei
Wochen dauert es, bis der voll ist“,
sagt er, während er die gefüllte Plastikwanne hochhebt und die Klappe des
Containers zurückschiebt. Ein bestialischer Gestank schlägt ihm entgegen.
Die feuchtwarmen, nach Verwesung
riechenden Gase verbreiten sich sofort
in der Luft. Jonel Timić verzieht keine Miene, als er die Wanne in den fast
vollen Container kippt. Bald wird der
Bauer anrücken, der den Container alle
zwei Wochen leert und die Pferdeäpfel
als Biodünger nutzt.
Jonel Timić radelt zurück in die
Kopfsteinpflastergassen der Altstadt
und scheucht mit der Klingel zwei junge Japanerinnen von der Straße. Als
das Sammelrad an ihnen vorbeirattert,
rümpfen die beiden die Nasen. „Am
Anfang hat’s mi scho’ troffen, wenn
die Leut’ mit’m Finger auf mich gezeigt hobn. Jetz is’ mia das Wurscht“,
grinst Jonel Timić zahnlückig.
Gewagte Tour durch das Gewühl
Anfang und Endpunkt jeder Runde
ist der Alte Markt. Hier ruht sich Jonel
Timić kurz aus, raucht eine Zigarette
und nutzt die Ruhe für ein Pläuschchen mit den Fiakerfahrern. Einer von
Big Easy aus dem Takt
Seit über zwei Jahren sehnen sich die Bürger von New Orleans nach Normalität.
Doch die Stadt schwingt anders als früher.
kehrt Normalität zurück. „Scheinbare
Normalität“, betont Bruce. Denn obwohl „Big Easy“ wieder beginnt zu
„swingen“, schwingt es nun in einem
komplett anderen Rhythmus.
Noch heute – mehr als zwei Jahre
nach dem Unglück – befinden sich
New Orleans und ein Großteil der
Golfküstenregion in einem elenden
Zustand. Durch den Wirbelsturm
starben über 1 800 Menschen. „Wie
viele Leichen noch unter den eingefallenen Häusern verwesen, weiß niemand. Noch immer werden weitere
entdeckt. Hinter tausenden zerstörten
Häusern verbergen sich tausende zerstörte Schicksale“, erzählt Bruce.
Er spürt die Verunsicherung täglich. Auch die Resignation. „Wenn ich
durch die Stadt gehe, ist nichts mehr
so wie früher.“ Die Geschäfte wirken
eher gekünstelt als traditionell, weil
die Inhaber das Alte imitieren. „Ein
zwanghafter Versuch, wieder so zu
werden, wie es einmal war. Das ist einfach nicht möglich.“ Statt JazzsängerMotiven und kulinarischen Andenken
gibt es nun Katrina-Sticker und AntiBush-Postkarten. „Auch wenn es niemand zugeben würde – resigniert ha-
ben wir insgeheim schon alle“, meint
Bruce. Er lebt seit über 60 Jahren in
New Orleans. Niemals hat er sich in
der Stadt so fremd gefühlt wie heute.
„Das Haus meiner Eltern wurde abgerissen, auch der Spielplatz ist nun
weg“, erzählt er und muss schlucken.
Ein Stück Erinnerung an seine Kindheit ist verschwunden.
Sein Elternhaus stand in der heute
noch immer verwüsteten Wohngegend im Osten der Stadt, der „Lower 9th Ward“, einem Arbeiterviertel.
„Nur noch ein Drittel der Bewohner
lebt dort. Nirgendwo war die Zerstörung so verheerend wie hier.“
„Es gibt Gebiete, in denen bis heute
weder Wasser noch Strom fließen.“
Doch die Stadt liegt nicht überall im
Dreck. „Natürlich wurde der French
Quarter als erstes wieder aufgebaut,
davon lebt die Stadt doch.“ Bruce
meint das Touristenviertel in der Altstadt, dessen Aushängeschild – die bekannte Bourbon Street – jährlich tausende Touristen in die Wiege des Jazz
lockt. „Auch die großen Hotels auf der
Canal Street heißen täglich Gäste aus
aller Welt willkommen“, erzählt Bruce.
Scheinbare Normalität. Sichtbare.
Mit Ausnahme der Touristenviertel
und der reicheren Stadtteile überlassen
die Regierung ebenso wie die Stadtverwaltung New Orleans dem Verfall.
„Keine zwei Meilen vom Quarter
entfernt gibt es Gebiete, in denen bis
heute weder Wasser noch Strom fließen. Das kann ich einfach nicht nachvollziehen.“
Rund 80 Prozent der schwarzen und
knapp 60 Prozent der weißen Bevölkerung haben die Stadt verlassen. Fast
jedes zweite Haus steht leer. Die Stadt,
die einst eine moderne Metropole mit
1,3 Millionen Menschen war, wirkt
heute mit ihren nur noch 300 000 Einwohnern orientierungslos. Verdreckt.
Gezeichnet von Katrina.
„Während die Reichen immer reicher werden, lebt die Mehrheit der
arbeitenden Bevölkerung am Rande
der Existenz“, sagt Bruce. Er klingt
wütend: „Viele ehemalige Bewohner
der Armenviertel schlagen sich nun in
Houston, Baton Rogue oder Atlanta
durch. Die Menschen können es sich
nicht leisten, zurückzukehren.“ Versicherungsprämien und Mieten ha-
ihnen ist Siegfried Steiner. Den Roßknödelsammler schätzt er: „Des is’ ein
netter Kerl, und der putzt immer sauber.“ Manchmal, wenn er beobachtet,
wie sich Jonel Timić mit seinem Rad
durch das Straßengewühl schlängelt,
macht er sich Sorgen: „Des konn ganz
schön g’fährlich sein.“ Vor allem auch
deshalb, weil der Rossknödelsammler
die Verkehrsregeln sehr gewöhnungsbedürftig auslegt: Gerade fährt er
trotz Dunkelheit ohne Licht am linken
Fahrbahnrand entlang und wechselt
urplötzlich die Spur, den Blick starr
auf einen platt gefahrenen Haufen
gerichtet. Mitten auf der Griesgasse,
der vielbefahrenen Hauptstraße durch
die Altstadt, stellt er sein Gefährt ab
und lässt sich von seiner Arbeit nicht
abbringen, auch nicht vom wütenden
Hupen eines Sportwagens mit Münchener Kennzeichen. „Die Bus- und
Taxifahrer kennen mich scho’ und
die Autofahrer merken’s dann auch“,
zuckt er mit den Schultern.
Auf dem Alten Markt lehnen die
Fiakerfahrer dick eingepackt in lange
graue Lodenmäntel am Zaun. Das Geschäft läuft heute nur schleppend, es
ist einfach zu kalt. Eine Familie begutachtet die Kutschen. Der kleine Junge
mit blauer Mütze will unbedingt mitfahren. Der Fiakerfahrer lächelt, freut
sich auf die 33 Euro für die knappe
halbe Stunde Fahrt. Aber der Vater
zieht seinen Sohn weg: „Na, jetz ned.
Wir miassn zur Oma.“
Gegen 18 Uhr ist es stockdunkel und
die nasse Kälte dringt bis auf die Haut.
Aus dem Café Tomaselli am Alten
Markt dringt noch warmes Licht nach
draußen, der Platz davor ist fast menschenleer. Die letzte Kutsche macht
sich auf den Heimweg, der Fahrer ruft
Timić ein „Servus“ zu. „Eine kleine
Runde noch, dann bring ich mein Radl
weg“, meint er. Er grüßt, schwingt sich
auf sein unbeleuchtetes Gefährt und
verschwindet im Dunkel der Gasse.
Zurück bleibt ein Hauch von Pferd in
der kalten Luft.
ben sich annähernd verdoppelt. Die
Grundsteuer wurde erhöht. Handwerker sind knapp und teuer. „Wenn ich
durch die Altstadt schlendere, reißen
alte Wunden immer wieder auf. An
fast jeder Ecke werden wir an den
Hurrikan erinnert.“ Bruce‘ Lieblingsitaliener im French Quarter hat seit
knapp zwei Jahren geschlossen, da die
Besitzer Louisiana verlassen haben.
Auch die Fitnessgruppe seiner Ehefrau hat sich aufgelöst, nachdem nur
noch fünf Frauen zum Training kamen. „Wie ist denn da an Normalität
zu denken?“, fragt er sich.
Die Voelkers fühlen sich „allein
in einer so scheinbar patriotischen
Welt.“ Bruce‘ Stimme bebt: „Nichts
wurde eingehalten von den ,together
we stand’-Versprechungen.“ Sowohl
die Regierung als auch der Rest der
Nation haben sich für New Orleans
zu keinem Zeitpunkt interessiert.
Zumindest das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb von New Orleans – der „pride“ – wurde durch den
Wirbelsturm verstärkt. „Wir gehen
alle vorsichtiger miteinander um. Nun
endlich wissen wir Südstaatler ja, was
richtige Probleme sind“, witzelt Bruce
mit Galgenhumor. Er will nicht aufgeben: „New Orleans hat noch immer
eine Seele. Wir müssen sie nur gemeinsam wieder beleben.“ Daran arbeitet er gemeinsam mit seiner Familie
täglich. Seit mehr als zwei Jahren.
vier
v
schmutzputz
Schmutz tut gut
Neue Studie des Robert-Koch-Instituts belegt, dass zuviel Hygiene Kinder krank macht
Von Ulrike Müller
Ingolstadt – Sie wischen mit Desinfektionsreinigern, wechseln nach jedem Kleckern sofort das Outfit ihrer
Kleinen und jeder Fleck wird sorgfältig unter die Lupe genommen. Peinlich genau achten viele deutsche Eltern auf Sauberkeit und Hygiene. Sie
wollen sich selbst und vor allem ihre
Kinder schützen – und erreichen damit genau das Gegenteil. Denn zuviel
Hygiene, so warnen Wissenschaftler,
macht Kinder krank.
Früher Kontakt mit Schmutz und
Krankheitserregern ist ein wichtiger
A n s t o ß p u n k t für die Ausbildung
des Immunsystems. Kinder, die viele
Geschwister oder Haustiere haben,
frühzeitig in die Krippe gehen und
viel draußen herumstrolchen, erkranken seltener an Allergien. Zu diesem
Ergebnis kommt der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des RobertKoch-Instituts. Von 2003 bis 2006 haben Mitarbeiter des Institutes in ihren
mobilen Untersuchungszentren knapp
18  000 Kinder und Jugendliche befragt, dazu noch Blutproben genommen und Elternfragebögen beurteilt.
Die Auswertung liefert Ergebnisse, die
erstmals für ganz Deutschland repräsentativ sind.
Verschiedene Studien belegen, dass
seit den Neunzigerjahren die Allergieempfindlichkeit von Kindern rasant
angestiegen ist und sich ab 2002 auf
einem erschreckend hohen Niveau eingepegelt hat: Inzwischen leidet fast ein
Viertel der Kinder und Jugendlichen
unter Heuschnupfen, Asthma oder
Neurodermitis. Mehr als 40 Prozent
der Mädchen und Jungen reagieren
auf kritische Substanzen, so genannte
Allergene, wie beispielsweise Hausstaubmilben, Schimmelpilz und Milcheiweiß. „Was Allergien betrifft, liegt
Deutschland im Vergleich mit anderen
europäischen Ländern im bunten Mittelfeld“, sagt Dr. Martin Schlaud, ärztlicher Leiter am Robert-Koch-Institut.
Schlaud verweist darauf, dass in NichtIndustrieländern die Allergieempfindlichkeit in der Bevölkerung wesentlich
geringer ist, obwohl die Infektionsrate
weit über dem Niveau der westlichen
Länder liegt.
„Ein bisschen Dreck scheuert den
Magen“, sagt ein altes Sprichwort. Da
scheint was Wahres dran zu sein. Als
Erklärung für die hohe Allergieanfälligkeit greifen Wissenschaftler und
Ärzte gern auf die Hygienehypothese
zurück. Danach sinkt das Risiko, an
einer Allergie zu erkranken, erheblich, wenn Kinder schon frühzeitig
mit Viren, Bakterien und Allergenen
in Berührung kommen. Zum Beispiel
im Kindergarten: „Kinder haben ihre
Finger in Mund und Nase, stecken sie
dann auch anderen Kindern in den
Mund. So kommen sie mit Keimen
in Kontakt, auch harmlosen Keimen“, sagt Dr. Martin Schlaud. Das
Immunsystem wird auf diese Weise
angeregt und kann körperfremde
Stoffe besser abwehren.
Dr. Angela Olze hat eine Kinderarztpraxis in der Schweiz. Von ihren
eigenen vier Kindern hat keines Probleme mit Allergien. Und das, obwohl
– oder eben weil – zwei Hunde, drei
Katzen und alle möglichen Kleintiere
in der Familie leben. „Leider gibt es
kein Patentrezept, vieles ist genetisch
vorprogrammiert. Ich rate zu gesunder, rauchfreier Lebensweise, viel Natur und normaler Hygiene“, sagt Olze,
die früher als Assistenzärztin an einer
Fachklinik für Allergologie und Stoffwechselkrankheiten in München gearbeitet hat. Normale Hygiene heißt für
sie zweimal wöchentlich Hausputz,
aber ohne auf Desinfektionsreiniger
oder ähnliche „scharfe Sachen“ zurückzugreifen.
Bei genetisch vorbelasteten Kindern
ist trotz der Hygienehypothese Vorsicht geboten. Deshalb rät auch der
Deutsche Allergie- und Asthmabund
betroffenen Eltern, die Umgebung
ihrer Kinder sauber zu halten und zumindest auf Katzen zu verzichten. Für
Juliane Ta Van ist das selbstverständlich. Seit ihrer Kindheit leidet die 21jährige Studentin an Neurodermitis
und reagiert außerdem – genau wie ihr
Partner – auf Katzen und Pferde allergisch. Weil beide dieselbe Krankheit
haben, liegt das Risiko, dass auch ihre
einjährige Tochter Mirjam Allergien
bekommt, bei 80 Prozent. „Wir haben
extra Laminierboden
verlegt, weil der
leicht sauber
endotoxinhaltige Tropfen bekommen.
Endotoxin besteht aus Zerfallsprodukten von Bakterien, die sich in Kuhoder Schweinemist finden. Dass der
Stoff stimulierend auf Darm und Immunsystem wirkt, ist schon lange bekannt. Jetzt wollen die Wissenschaftler
herausfinden, ob Endotoxin auch zur
Allergievorbeugung nützlich ist. Erste
Ergebnisse der Studie werden für Mai
2008 erwartet.
Auf die Spur der verheißungsvollen
Substanz kamen die Forscher, als sie das
Umfeld von Kindern untersuchten, die
auffallend selten an Allergien erkranken: Besonders viel Endotoxin fanden
sie in den Betten von Kindern, die auf
bayerischen Bauernhöfen leben.
zu
halten
ist und
ich passe sehr auf, was Mirjam isst, weil das ja direkt im Darm landet.“
Der Darm ist Drehund Angelpunkt für
die Ausbildung des
Immunsystems
in
den ersten Jahren.
Die Forschung auf
dem Gebiet der Allergieprävention entwickelt sich
ständig weiter. Am Universitätskrankenhaus Charité in
Berlin läuft zurzeit eine Studie,
bei der allergiegefährdete Kinder in den ersten Lebensmonaten
„Meine Welt besteht aus Kot und Urin“
Fünf Therapien, zwei Jahre Krankenhaus – aber immer noch diktiert der Waschzwang den Alltag
Von Anita Hirschbeck
Ingolstadt – Das Knäuel in ihrer
Hand fühlt sich warm an und ein bisschen feucht. Angewidert wirft es Ellie Hauser von sich weg. Die Frau ihr
gegenüber fängt den Ballen auf und
wirft ihn Ellie wieder zu. So fliegt der
unschuldig weiße Lappen eine Zeit
lang durch die Luft: hin und her, hin
und her. Immer wieder fängt Ellie.
Sie muss fangen, auch wenn es sie vor
Ekel fast schüttelt. Denn das Knäuel in
ihrer Hand ist kein normaler Stoffball.
Es ist die Windel ihres drei Jahre alten
Sohnes, die er vor wenigen Minuten
vollgemacht hat. Dieses sonderbare
Ballspiel ist Teil von Ellies Therapie.
Sie leidet unter einem Waschzwang.
Auch heute noch, 22 Jahre nach
diesem ersten Klinikaufenthalt, kann
Ellie, die eigentlich anders heißt, ihre
Abscheu nicht verbergen, wenn sie das
Fangen und Werfen schildert. Auch
heute noch beherrscht der Zwang das
Leben der 57-Jährigen. Die Angst vor
Schmutz, vor Dreck, vor Bakterien, die
Angst davor, sich schmutzig zu fühlen.
Die Angst vor öffentlichen Toiletten,
die Angst vor ihrer eigenen Toilette zu
Hause: „Ich komme mit Schmutz in
Berührung und fühle mich richtig verseucht. Wenn ich dann zum Beispiel
den Tisch anfasse, ist der auch verseucht und so weiter. Das kann ich gar
nicht mehr kontrollieren.“ Die größte Angst hat sie vor Ausscheidungen:
„Meine ganze Welt besteht aus Kot
und Urin.“ Dabei weiß sie genau, dass
ihre Umgebung nicht verseucht ist,
dass sie selbst nicht schmutzig ist, dass
ihr nichts passieren kann, wenn sie ein
WC benutzt. Dennoch fühlt sich Ellie
schmutzig: „Da geht es mir so elend,
dass ich oft gar nicht mehr leben will.“
Einziges Heilmittel: waschen, waschen, waschen. Oft mehrere Stunden
pro Tag.
„Morgen lasse ich es sein.“
Dass sie unter einem Waschzwang
leidet, bemerkte Ellie zum ersten Mal
vor 25 Jahren, als ihr Sohn noch ein
Baby war. „Beim Wickeln habe ich ihn
ganz ausgezogen und genau untersucht, ob sich nicht noch irgendwo ein
Urinfleck versteckt hat“, erinnert sie
sich und schüttelt den Kopf, als könne sie sich heute selbst gar nicht mehr
verstehen. „Danach habe ich mich waschen müssen. Eine ganze Seife habe
ich pro Händewaschen gebraucht. Das
hat meine Haut schon ganz weiß gemacht, wie eine Wasserleiche.“
Zu dieser Zeit duscht die damals 32Jährige bereits viereinhalb Stunden am
Stück. Dennoch plagen sie Zweifel, ob
sie auch wirklich sauber genug ist. Ob
die Möbel, die Teppiche, die Vorhänge und alles, womit sie in Berührung
kommt, auch wirklich porentief rein
sind. Oft putzt sie bis spät in die Nacht
das Haus. „Mein Mann wollte mir dabei immer helfen. Aber ich habe ihn
nicht gelassen.“
Bald leidet auch ihre Arbeit als Chefsekretärin unter dem Zwang. Immer
häufiger kommt sie abgehetzt und
mit noch nassen Haaren ins Büro, wo
große weiße Flecken auf den lami-
nierten Möbeln leuchten: Spuren des
Sagrotan-Sprays, mit dem Ellie ihr Arbeitszimmer schrubbt. Ihr Chef und
ihre Kollegen sprechen sie nie darauf
an. Dennoch spürt Ellie bereits zu dieser Zeit, dass ihr Verhalten krankhaft
ist. Anfangs versucht sie, sich selbst
zur Vernunft zu bringen. „Ich habe
mir gedacht: ‚Heute putze ich nochmal alles und morgen lasse ich‘s dann
sein.‘“ Doch Ellie wäscht weiter. 1985
geht sie schließlich in die psychosomatische Klinik nach Windach.
„Nach 14 Tagen durfte ich unter
Aufsicht duschen.“
In Windach behandeln Ellie die
Ärzte mit einer speziellen Therapie,
dem sogenannten „Flutting“: Der Patient muss das tun, wovor er am meisten
Angst hat. Im Fall der damals 35-Jährigen bedeutet das nicht nur, mit der
schmutzigen Windel ihres Sohnes Ball
zu spielen: „Ich habe mich 14 Tage
lang nicht waschen dürfen, auch nicht
die Haare! Für die Zähne habe ich nur
ein Mundwasser zum Spülen bekommen. 14 Tage lang habe ich dieselbe
Kleidung getragen, dieselbe Unterhose. Das war schon hart.“ So hart, dass
Ellie sogar an Selbstmord denkt. Doch
sie hält die Therapie durch. Zur Belohnung darf sie sich nach acht Tagen
die Haare waschen lassen – von einem
Friseur, damit sie ihre Hände nicht unter das Wasser halten kann. „Nach 14
Tagen durfte ich schließlich duschen,
aber nur unter Aufsicht. Die haben
einen nach einer Viertelstunde raus-
gezogen, auch wenn man noch voller
Schaum war.“
„Ohne die Therapien
wäre ich jetzt schon tot.“
Trotz all der Strapazen geht es Ellie
nach dem Flutting besser. Sie kann ihren Zwang kontrollieren und hat nicht
mehr so viel Angst davor, schmutzig
zu werden. Nach fünf Monaten verlässt sie Windach und geht nach Hause. Doch nach kurzer Zeit steht Ellie
wieder viereinhalb Stunden am Stück
unter der Dusche.
Vier Jahre später, im Winter 1989,
entscheidet sie sich erneut für eine
Therapie, diesmal in der Klinik Roseneck in Prien. „Die verfolgen ein
anderes Konzept als in Windach. Die
Ärzte in Prien haben mir beigebracht,
dass ich nicht nur aus meiner Krankheit bestehe.“ Anstatt den Zwang ständig zu bekämpfen, soll sie versuchen,
mit dem Zwang zu leben. „Die Klinik
Roseneck hat mich so richtig aufgebaut. Aber eigentlich haben mir alle
meine Klinikaufenthalte gut getan. Ich
denke, wenn ich die nicht gehabt hätte,
dann wäre ich jetzt schon tot.“
Doch Ellie lebt. Es ist ein Leben,
in dem sie waschen und putzen und
Angst haben muss. Es ist ein Leben,
in dem sie als junge Mutter ihren Sohn
nur selten auf den Spielplatz oder ins
Freibad begleitet, weil es ihr dort zu
schmutzig ist.
Im Sommer 1990 setzt Ellie die
Therapie in Prien fort, 1992 versucht
sie es noch einmal in Windach, 2000
ist sie wieder in der Klinik Roseneck.
Jeweils fünf Monate dauern ihre Aufenthalte. Fünf Monate, in denen sie
lernen soll, von Wasserhahn, Seife und
Desinfektionsmittel wegzukommen.
Arbeiten kann sie schon lange nicht
mehr: Bereits mit 35 Jahren reicht sie
die Frührente ein.
Als Ellie mit 40 Jahren an Brustkrebs erkrankt, hat sie mehr Angst vor
den Bakterien im Krankenhaus als um
ihr Leben. „In einem Krankenhaus
ist alles verseucht. Also bin ich von
Pontius zu Pilatus gefahren, zu allen
Spezialisten und Heilpraktikern. Ich
hätte alles gemacht, damit ich nicht ins
Krankenhaus muss.“ Erst nach zwei
Jahren lässt Ellie den Brustkrebs in
einer Klinik operieren, in der sie Therapeuten während ihres Aufenthalts
begleiten und unterstützen.
Heute ist Ellie 57 Jahre alt. Wenn die
Frau mit den kinnlangen blonden Haaren und dem säuberlich aufgetragenen
roten Lippenstift einkaufen geht,
bringt sie kaum mehr als eine Packung
Brot mit nach Hause – eingewickelt
in steril glänzendes Cellophan-Papier.
Kartoffeln kann sie nicht anfassen,
weil die aus dem Boden wachsen. Vor
Eiern hat sie Angst, weil sie Salmonellen übertragen könnten. Das Kochen
übernimmt Ellies Mann – wie fast alles
andere auch. „Mein Mann ist der Einzige, der mich voll und ganz versteht“,
sagt sie und fügt hinzu: „Den Waschzwang können ja nicht mal die Ärzte
verstehen.“ Ob sie glaubt, dass sie den
Zwang jemals los wird? „Nein“, antwortet Ellie prompt. „Dazu bräuchte
es schon ein Wunder.“
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klarbedarf
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Öl-Schmuggler
auf Tour
Wie gründlich Unterfrankens Deponien
kontrollieren – ein Erfahrungsbericht
Von Christina Back und Diana Pfister
So klar wie hier kommt das Eichstätter Wasser nicht immer aus den Rohren.
Foto: Ali Atabi
Hahn auf, Brühe raus
Schadet das Eichstätter Trinkwasser der Gesundheit?
Von Ali Atabi
Eichstätt – Es gurgelt. Dann spritzt
braunes Wasser aus der Wasserleitung.
„In Eichstätt sollte das Leitungswasser nur durch die Toilette in die Kanalisation rauschen“, kommentiert die
Studentin Mariella Settele. Nicht nur
Mariella beschwert sich: Von circa
60 befragten Eichstätter Studenten
haben mehr als die Hälfte das gleiche
Problem – und das beschränkt sich
nicht nur auf Studentenwohnheime.
Auch Eichstätter Bürger stellen fest,
dass das Wasser verschmutzt ist: „So
sauber wie es einmal war, ist es leider
nicht mehr“, sagt der 73-jährige Rentner Bernhard Huber.
Doch während sich die Leute beschweren, beteuern Stadtwerke und
Gesundheitsamt, dass das Eichstätter
Trinkwasser in Ordnung sei.
Seit 2001 gewinnt die Stadt Eichstätt
ihr Leitungswasser aus neun Brunnen in drei Wasserschutzgebieten im
Altmühltal: Pfünz, Landershofen und
Wasserzell. Die Eichstätter Kunden
verwenden dieses Wasser so, wie es aus
dem Boden kommt, ohne Aufbereitung
und ohne Desinfektionszusätze.
Auch Ingolstadt bezieht sein Wasser
wie Eichstätt aus der Tiefe – es kommt
sogar aus dem Altmühltal – doch dort
fließe es nicht braun aus der Leitung,
erzählen befragte Studenten.
„Das Wasser entspricht bis zum
Wasserzähler immer der
Trinkwasserverordnung.“
Die Mitarbeiter der Stadtwerke Eichstätt nehmen alle 14 Tage Wasserproben. Von den Brunnen bis zum Hausanschluss wird das Trinkwasser mit
Hilfe eines aufwendigen Verfahrens
untersucht. Diese Untersuchungen
werden vom Staat zur Sicherung der
Qualität verlangt und sind genau vorgegeben. Die Werte der aktuellen Proben vom 10. September 2007 bis zum
15. November 2007 entsprechen den
Vorschriften.
Auch die Geographiedoktoranden
der Katholischen Universität haben
für ihre Forschungszwecke das Eich-
stätter Wasser untersucht. Allerdings
haben sie ihre Proben nicht den Brunnen, sondern den Grundwasserquellen
entnommen. Die untersuchten Proben
weisen kritische Mengen von Atrazin
und Nitrat auf. Wie hoch diese Mengen
genau sind, darf aber vor Abschluss
der Forschungsarbeit nicht bekannt gegeben werden.
Atrazin ist ein Pflanzenschutzmittel,
das früher beim Maisanbau verwendet
wurde. Mittlerweile ist es in Deutschland verboten, aber seine Rückstände
sickern nach und nach ins Grundwasser – und kleine Teile durch die Erde
schlussendlich auch in die Brunnen,
aus denen das Eichstätter Trinkwasser
gewonnen wird.
Helmut Zecherle, Betriebsleiter für
Wasser- und Gasversorgung bei den
Stadtwerken, kennt die zwei Stoffe als
Hauptprobleme des Wassers im Altmühltal. Doch er gibt Entwarnung:
„Der Grenzwert für Atrazin ist mit 10
Mikrogramm pro Liter relativ eng gehalten, aber diese 10 Mikrogramm pro
Liter unterschreiten wir in den Brunnen auch immer.“
Der andere problematische Stoff,
Nitrat, wurde in der Landwirtschaft
zur Düngung verwendet. Im Wasser ist
der Nitratwert auf ein Maximum von
50 Milligramm pro Liter festgesetzt.
Im Eichstätter Wasser sei weniger als
die Hälfte davon, sagt Zecherle. „Die
beiden Stoffe wären gesundheitlich bedenklich, wenn die Grenzwerte überschritten werden würden – werden sie
aber nicht. Das Wasser entspricht bis
zum Wasserzähler immer der Trinkwasserverordnung.“
Für Zecherle liegt der Grund für
das braune Wasser ganz woanders: „In
vielen Gebäuden sind alte Leitungen
eingebaut, die einen relativ großen
Durchmesser haben, durch die aber
wenig Wasser durchfließt. Dadurch
kann in der Leitung Rost entstehen.
Wenn dieser Rost – in Verbindung mit
einem gewissen Anteil Kalk – durch
die Leitung gespült wird, gibt das dann
die braune Färbung.“
Grundsätzlich sei diese Färbung
nicht gefährlich, weil das Wasser auch
damit immer noch der Trinkwasser-
verordnung entspreche. Es sei aber
nicht zu empfehlen, das Wasser so
zu trinken. „Es sieht weder gut aus,
noch wird es so gut schmecken, wie
man es gewohnt ist“, sagt Zecherle. Er
empfiehlt, das Wasser einfach ein paar
Minuten laufen zu lassen, bis es wieder
klar aus der Leitung kommt. Dann sei
es wieder trinkbar.
„Die meisten Wasserrohre in Eichstätt sind um die 23 Jahre alt. Die
ältesten allerdings schon 50 Jahre.“
Mariella, die Studentin, war trotzdem skeptisch. Sie hat beim Gesundheitsamt in Eichstätt angerufen und
gefragt, ob das Wasser schon einmal
so untersucht wurde, wie es aus der
Leitung kommt. Der Mitarbeiter des
Gesundheitsamts gab ihr eine überraschende Antwort: „Er meinte, es sei
ihm nicht bekannt, dass je Probleme
aufgetreten wären. Er könne mir
höchstens jemanden vorbei schicken,
der sich das Wasser mal ansieht.“
Von diesem Angebot wird sie auch
Gebrauch machen. Zu einer Aussage darüber, wie gut die Qualität des
Eichstätter Trinkwassers ist, war das
Gesundheitsamt nicht bereit.
Die meisten Wasserrohre im rund
hundert Kilometer langen Netz der
Eichstätter Stadtwerke sind um die
23 Jahre alt. Die ältesten wurden allerdings vor etwa 50 Jahren installiert
– regulär müssen Wasserrohre nach
diesem Zeitraum erneuert werden.
Die Leitungen würden mit den Jahren
nach und nach streckenweise ausgetauscht, sagt Zecherle. Die Instandhaltung des Netzes hinter den etwa
3 000 Hausanschlüssen ist aber Sache
der jeweiligen Eigentümer.
„Das Wasser in Eichstätt entspricht
bis zum Wasserzähler immer der
Trinkwasserverordnung“,
beteuert
Stadtwerke-Mitarbeiter Zecherle. Die
Eichstätter Bürger beruhigt das nicht:
„Es fließt schmutziges Wasser aus der
Leitung“, sagen sie. Bis das Gesundheitsamt Auskunft über die Folgen
des braunen Wassers gibt, bleiben die
Zweifel der Bürger, ob das Leitungswasser in dieser Stadt trinkbar ist.
Schweinfurt – Das Echo kommt
gleich dreifach zurück. Hier würden
150 000 Zuschauer Platz finden. Es
fehlen nur noch die Löwen, die zähnefletschend über die Gladiatoren herfallen. Stattdessen krebsen drei Bagger,
winzig wie Spielzeugautos, in dem
atemberaubenden Abgrund herum.
Der ehemalige Steinbruch, der heute als Ablagerungsstätte für nicht wieder verwertbaren Abfall dient, ist das
Erste, das auffällt, wenn man sich der
Deponie Wirmsthal im Landkreis Bad
Kissingen nähert. Das Zweite ist das
große, weiße Schild mit der Aufschrift
„HALT KONTROLLE.“ Wir fühlen
uns wie Gesetzesbrecher: Schaffen wir
es, die Bestimmungen zu umgehen und
den Deponieangestellten unsere drei
Ölfässer im Kofferraum anzudrehen?
Wir wollen herausfinden, wie ernst
es Unterfrankens Deponien mit ihren
Vorschriften nehmen: Ein Test soll
zeigen, ob es möglich ist, geschlossene
Fässer mit unbekanntem Inhalt ohne
Kontrolle in die Deponien zu schmuggeln. Daher fahren wir mit zwei leeren und einem mit fünf Litern Altöl
gefüllten Fass zu drei Deponien. Alle
drei dürfen zwar unsere Fässer, jedoch
nicht das Altöl annehmen. Denn generell kann Altöl, das beispielsweise während des Ölwechsels beim Auto anfällt,
kostenlos an den Hersteller zurückgegeben werden.
Wir reißen die Türen des kleinen
Opel Corsa auf, um dem beißenden
Geruch der Altölfässer zu entkommen.
Doch genauso unangenehm ist der
modrige, faulige Gestank der Deponie
Wirmsthal, der uns beim Aussteigen
entgegenschlägt. Selbst die Kiefern am
Eingang scheinen darunter zu leiden
und lassen traurig ihre Äste hängen.
Ein hagerer alter Mann mit Brille, der
an der Pforte sitzt, begrüßt uns unfreundlich und schiebt muffig seine
Zeitung zur Seite. „Was für Fässer habt
ihr denn?“, knurrt er. „Metallfässer?“
Nein, die nimmt er nicht.
Er winkt sofort ab und verweist uns
an den nahe liegenden Wertstoffhof.
Fässer, ganz gleich welchen Materials
und Inhalts, gehören nicht in seinen
Zuständigkeitsbereich. Ohne ein Wort
des Abschieds zieht er sich in sein Büro
zurück. Doch unseren Test hat er einwandfrei bestanden. Na gut, dann auf
zur nächsten Deponie!
Ein prüfender Blick in
den Kofferraum
Mittlerweile ist es Mittag, die Sonne
schafft es zwischendurch auch einmal,
durch die grauen Wolken zu brechen.
Die Kreismülldeponie Rothmühle bei
Schweinfurt wirkt unscheinbar. Container oder Müllgruben sind eingangs
nicht zu sehen. „Wir hätten drei Fässer zum Abgeben.“ „Fahren Sie mal
bitte auf die Waage, ich schaue sie mir
mal an“, entgegnet uns der Deponieangestellte. Er wirft einen prüfenden
Blick in den Kofferraum, ruckelt an
den einzelnen Fässern und nimmt
eine Geruchsprobe. Das eindeutige
Schwappen in einem der Fässer verrät
uns: „Nein, so kann ich die auf keinen
Fall annehmen.“
Selbst als wir auf die Tränendrüse
drücken und vorgeben, nicht zu wissen, wo wir die Fässer sonst entsorgen
können, lässt sich Wiegemeister Lorenz
Reichert nicht erweichen: „Es geht einfach nicht, da könnte ich großen Ärger
bekommen.“ Wir merken, dass er seine
Arbeit nicht erst seit gestern macht und
klären die Sache auf. Fast scheu tritt er
einen Schritt zurück und mustert uns
mit ganz neuen Augen: „Da wär’ ich ja
nie drauf gekommen.“ Bei den Stichwörtern „Journalistinnen“ und „Zeitung“ erwacht plötzlich die Neugierde
der Putzfrau, die ein paar Meter entfernt steht und nun – um auch wirklich alles mitzubekommen – das schon
glänzende Fenster des Pförtnerhauses
ein zweites Mal putzt.
Kein Einzelfall
Im Gespräch mit Wiegemeister Reichert stellt sich heraus, dass wir nicht die
Ersten sind, die versuchen, Substanzen
wie Lacke, Pestizide oder Säuren in der
Deponie abzugeben: „Es gibt immer
welche, die es probieren. Und wenn sie
bei uns auf Granit beißen, landet das
Zeug oft in der Umgebung“, erzählt
der 41-Jährige, der schon seit 1986 an
der Rothmühle arbeitet. „Auch für unsere Deponie gibt es keine Garantie,
aber falls doch etwas übersehen wird,
gibt es den Doppel-Check: An den
einzelnen Containern stehen nochmals
Kontrolleure.“
Ein Dutzend Autos wartet mittlerweile hinter uns. Bevor die ersten Ungeduldigen zu hupen beginnen, verlassen wir eilig das Gelände und machen
uns auf den Weg in Richtung Karlstadt,
zur dritten Testdeponie.
Hier stehen gleich hinter der Eingangspforte an die zwanzig orange
Container. Und auch hier winkt uns
der Pförtner zunächst einmal auf die
Waage. In aller Seelenruhe umrundet
er unser Auto, öffnet den Kofferraum,
ruckelt und riecht an den Fässern. Sein
Lehrling, Ebenbild des Tokio-HotelSängers Bill, schaut ihm dabei interessiert über die Schulter. Wieder verrät
uns das schwappende Geräusch des
Altöls: „Dieses Fass kann ich nicht annehmen, das muss an den Hersteller
zurück“, erklärt uns der Deponiewart.
Ob da denn gar nichts zu machen sei?
Doch der Deponiewart bleibt stur:
„Es gibt gewisse Spielregeln, an die ich
mich halten muss“, schmettert er einen
zweiten Überredungsversuch ab.
Wir lösen den Test auf: „Herrschaftszeiten!“, flucht der Deponiewart überrascht. Er weicht zwar unseren Fragen
aus, verrät uns aber dennoch, dass es
auch an dieser Deponie in regelmäßigen Abständen vorkommt, dass die
Leute versuchen, zu betrügen. Bei ihm
funktioniert das nicht, aber er kann
sich, so sagt er, „durchaus vorstellen,
dass es an anderen Deponien mit Bestechung klappt, gewisse Substanzen
loszuwerden.“
Eine Lektion für
den weiteren Berufsweg
Wir sind zufrieden: Zumindest die
Mitarbeiter unserer drei Testdeponien
haben sich an die Bestimmungen gehalten und unser Altölfass abgelehnt.
Gut gelaunt verabschieden wir uns
von Wolfgang Endres und seinem
Lehrling. Der hat heute wohl eine
Lektion für seinen weiteren Berufsweg gelernt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Vor allem bei zwei
scheinbar unschuldigen Mädchen mit
Fässern im Kofferraum.
sechs
v
porno
Fetisch 2.0
Das Internet als Plattform für eigenwillige sexuelle Vorlieben:
ein Streifzug durch die Höschenszene
Von Andreas Nefzger
Eichstätt – Schon
seit Stunden schweifen
Thomas‘ Gedanken immer
wieder ab. Seine Vorfreude steigt noch
einmal, als die Hupe dröhnt und ihn in
den Feierabend entlässt. Zu Hause angekommen, liegt das ersehnte Kuvert
bereits im Briefkasten. Darin ein roter
Damenstring, bedruckt mit einem geflügelten Herz und mit Strasssteinen
besetzt. Thomas hält sich den Schlüpfer unter die Nase und atmet tief ein.
Thomas saugt den Duft des Damenslips tief in sich ein, immer wieder. Er malt sich aus, was passierte, als
der Slip noch im Schritt seiner ehemaligen Besitzerin saß. Dann leckt er an
dem Wäschestück. Wenig später onaniert er.
Riechen, kosten, träumen,
onanieren: Das sind die
vier Komponenten, die
Thomas sexuelle Vorliebe umreißen. „Wenn ich
mir die feuchte Spur unter die
Nase halte und den Duft direkt
einatme, dann löst das Glücksgefühle und erotische Gedanken bei
mir aus“, erklärt der 30-Jährige. Seit
etwa sieben Jahren kauft sich der
ledige Schichtarbeiter im Schnitt
alle zwei Wochen ein neues Exemplar – online, ohne großen Aufwand
vom heimischen Rechner aus.
Es gibt fast keine Vorliebe, die so
exklusiv ist, dass man im OnlineDschungel keinen Club dazu findet.
Die Höschenfreunde machen hier keine Ausnahme. Wo früher Kleinanzeigen den Kontakt herstellten, ist man
heute mit wenigen Mausklicks am Ziel.
Die Szene bleibt allerdings schwer zu
überblicken. Die Zahl der privaten Anbieterinnen verliert sich in den Untiefen des World Wide Web. Die übrigen
Wäschemäuse, wie sie in der Szene
heißen, sind in einer Handvoll größerer Online-Portalen organisiert, die
auf den ersten Blick wie gewöhnliche
Internet-Versandhäuser wirken: Jedes
Mädchen hat seinen eigenen Shop,
in dem es seine Waren feilbietet. Die
Kunden können die Händlerinnen bewerten, etwa nach Versandabwicklung
oder Kontaktfreude – oder eben nach
Geschmack.
In der Grundausstattung kostet ein
getragenes Höschen etwa zehn Euro.
Im Feintuning kann der Käufer auf einer Art Checkliste Extrawünsche äußern: zusätzliche Tragetage, Menstruationsspuren, Orgasmus. Als beliebte
Beilagen gelten auch Urin- oder Fäkalspuren. Oder wie es im Fetischjargon
heißt: Natursekt und Kaviar.
Jenny liegt bäuchlings auf dem Bett,
die Beine angewinkelt in
die Luft gestreckt. Die
Absätze ihrer hochhackigen schwarzen
Stiefel ragen wie
zwei Stacheln bedrohlich hervor. Das
knappe schwarze Lackkleid bedeckt gerade so ihr Hinterteil. Ihre bestiefelten
Beine spannen in Reihe vier Tangas
übereinander: weiß, rosa, weiß, babyblau – die Ware.
Jenny ist eine Wäschemaus. Bis vor
kurzem gehörte der rote String, den
nun Thomas sein Eigen nennt, noch
ihr. Erotische Fotos gibt es zahlreiche
auf ihrer privaten Website, wo sie getragene Unterwäsche und noch allerhand mehr Fetischbedarf umschlägt.
Ihr Gesicht ist auf keiner Aufnahme
zu sehen. In diesem Leben hat Jenny
kein Gesicht.
Dafür steht zu viel auf dem Spiel.
An christlich-abendländischen Maßstäben gemessen, führt Jenny jenseits
ihres Onlinegeschäfts ein anständiges
Leben: 30 Jahre alt, verheiratet, zwei
Kinder, zwei Hunde, solider Beruf.
Selbst der Name Jenny ist lediglich ein
Pseudonym, hinter dem sich die junge Frau im Internet versteckt. Auch
wenn sie die 300 bis 400 Euro, die ihr
der Onlinedienst monatlich einbringt,
gerne annimmt: Nötig hat sie das Geld
nicht. Ihr geht es um Erregung. Um
Selbstbestätigung. Um Spaß.
Unter
Fetischismus
versteht
man im
weitesten
Sinne eine sexuelle Fixierung auf Objekte. Der
Bandbreite sexueller Vorlieben sind dabei keine Grenzen
gesetzt: Die Palette reicht von
Lederwäsche über Windeln bis hin zu
Körperflüssigkeiten. Eigentlich könne
alles für irgendjemanden zum Fetisch
werden, erklärt Erwin Häberle, Leiter
des Magnus-Hirschfeld-Archivs für
Sexualwissenschaft an der HumboldtUniversität Berlin, in seinem Kritischen
Wörterbuch zur Sexualwissenschaft.
Lange Zeit galt Fetischismus als
krankhafte Störung. Noch heute wird
Fetischismus
im Internationalen
Krankheitscode
als
„Stör ung
der Sexualpräferenz“ beschrieben.
Von dieser
Sichtweise haben sich moderne Sexualwissenschaftler wie
Erwin Häberle längst verabschiedet. Sie begreifen Fetischismus als
Spielart der menschlichen Sexualität. Erst wenn die jeweilige Person unter ihrer Neigung leidet oder
wenn sie aufgrund ihres Fetischismus
keine sexuelle Beziehung zu anderen
Menschen aufbauen kann, gilt die
Vorliebe als behandlungsbedürftig.
Als Thomas auf einer Party ist – damals noch ein Teenager und keine
Ahnung vom Höschenfetischismus
– sieht er einen Slip auf dem Toilettenboden liegen. Er räumt ihn weg.
Einfach so. Damit er aufgeräumt
ist. Wenig später riecht er zufällig an seiner Hand. Und ihm
gefällt, was er riecht. Jahre danach kauft er sich seinen ersten
Computer, stößt auf einschlägige
Internetseiten, erinnert sich an die
Party und kauft den ersten Slip.
Thomas ist zufrieden mit sich. Er ist
Single, aber es mangelt ihm nicht an
Kontakt mit Frauen. Sein Sexualleben
erfüllt ihn. Wenn er mit einer Frau
zusammen ist, spielt der Fetisch keine
Rolle. Aber er weiß, dass viele Leute
Menschen wie ihn für
pervers halten. Thomas sieht
sich selbst nicht als unnormal oder
krank. „Ich bin nur anders“, sagt er.
Oliver Petereit ist ein bekannter
Mann in der Höschenszene: Ihm sichern die getragenen Unterhosen
den Lebensunterhalt. Petereit betreibt
eine Internetseite, die mit rund 3 000
Besuchern täglich als die größte Seite
ihrer Art gilt. Wer Wäschemäuse für
Schwalben auf den Bordsteinen des
Internets hält, könnte Petereit einen
Zuhälter nennen. Knapp 60 Mädchen,
zum Großteil Schülerinnen, Studentinnen und Hausfrauen, die sich etwas
dazu verdienen wollen, bietet er derzeit
eine Plattform für ihre Schlüpfer-Geschäfte. Und kassiert dafür 35 Prozent
Provision. „Ich hab keinen Ferrari
vor der Tür stehen“, sagt er. „Aber
es ist ein Konzept, das funktioniert.“
Der Markt entwickelt sich schnell.
Ursprünglich träumte Petereit von
einem globalen Höschen-Imperium: Ein brasilianischer Kunde sollte
Schlüpfer bei einer japanischen Anbieterin kaufen können. Inzwischen
hat er sich von diesem Traum entfernt
– die Höschen würden auf dem Weg
über den Pazifik an Frische verlieren.
Den europäischen Raum hat Petereit
bereits weitestgehend abgedeckt.
Jenny würde nie für Oliver Petereit
arbeiten, für sie ist er der personifizierte
Kommerz. Dennoch versteht sie die
Mädels, die sich in seine schützenden
Hände geben: Nicht selten drohten
unvorsichtig en Wäschemäusen
nämlich Ärger
mit
den
Sittenwächter n
oder dem
Finanzamt. Die ganze Szene bewegt
sich laut Jenny auf
wackligem Grund: „Jede
Wäschemaus verstößt
gegen das Seuchenschutzgesetz.“
Diese Sorge plagt auch
Oliver Petereit. Er befürchtet, dass ihm ein
spitzfindiger Staatsanwalt
das Geschäft verderben könnte.
Beim Robert-Koch-Institut in Berlin,
der zentralen Einrichtung des Bundes
für Seuchenschutz und Gesundheit,
schlägt man solche Befürchtungen in
den Wind. Pressesprecherin Susanne
Glasmacher hält die Thematik nicht
für ein relevantes Problem des Seuchenschutzes. Urin sei ohnehin steril,
und über Stuhlgang könne höchstens
Brechdurchfall übertragen werden.
Zwar sei die Auslegung der Gesetze
im Einzelfall Ländersache, generell
gelte aber: „Jeder kann mit seinem
Stuhl machen, was er will.“
Oliver Petereit geht auf Nummer sicher: Er weist seine Kunden darauf
hin, dass die Ware nicht zum Verzehr
geeignet ist.
* Name von der Redaktion geändert
Bilder: privat
Nur für den Fotografen: Jana Bach ausnahmsweise mal von hinten.
Ohne Orgasmus kom
Pornostar Jana Bach über Blümchense
Von Tanja Limmer und Nico Brugger
München – Die Container-Redakteure Tanja Limmer
und Nico Brugger treffen Jana Bach bei einer Autogrammstunde in München. Der Pornostar ist 28 Jahre
alt, 1,58 Meter klein, dafür aber groß im Geschäft. In
Deutschland zählt Jana Bach zu den bekanntesten Darstellerinnen und moderiert regelmäßig bei Premiere
das Erotikmagazin Beathe-Uhse-TV. Fans der „Bloodhound Gang“ dürfte sie vor allem durch ihre Live-SexShow auf deren Musik-Bühne ein Begriff sein. Zu sehen war sie in zeitlosen Klassikern wie „Ooooops…ich
bin ein Pornogirl“, „Popp oder Hopp – das Live-SexSpiel“ oder „Hard Sex Café“.
Container: Einen Bäcker würde ich fragen, wann er die letzten Brötchen
gebacken hat. Wann hattest du das letzte Mal Sex?
Jana (lacht): Oh je, das glaubt ihr mir jetzt bestimmt nicht. Es
war, hm, vor zwei Monaten bei meinem letzten Dreh. Irgendwie habe ich da gar keine Zeit mehr dazu. Und ich bin sehr
wählerisch. Erzählt das ja nicht meinen Fans da draußen, aber
ich glaube, fast jeder hat mehr Sex als ich.
Kann man sagen, dass du dich hochgeschlafen hast?
Nein, auf keinen Fall. Ich hatte niemals Sex mit Produzenten,
nur um bessere Gehälter zu bekommen, sonst würde ich vielleicht heute auch mehr verdienen. Aber vor der Kamera habe
ich natürlich immer alles gegeben…
Wie läuft ein typischer Drehtag ab?
Meistens bin ich so von zehn bis zwölf Uhr in der Maske.
Danach wird der Ablauf durchgesprochen. Zuerst drehen
wir den Dialog, und dann geht’s los. Wir machen aber nie
mehr als eine Szene pro Tag. Und da beträgt die reine Sexzeit
circa eine Stunde. So lange muss der Mann auch mindestens
durchhalten.
Was fühlst du während des Drehs?
Es herrscht eine heiße, prickelnde Atmosphäre, das ist schon
erregend. Allerdings gibt es immer wieder Cuts zwischendrin,
das ist natürlich hinderlich, wenn man gerade richtig in Stimmung ist. Natürlich ist da auch immer viel Show dabei, weil
man auf seinen Gesichtsausdruck aufpassen muss, auf das
Licht und wie man sich am Besten der Kamera präsentiert.
Aber mit Liebe hat das alles nichts zu tun.
Bist du wirklich erregt dabei?
Schon, es ist halt nicht so explodierend, wegen der Cuts, aber
ich sage immer: Ohne Orgasmus kommt keiner vom Set!
Gibt es Praktiken, die du nicht m
würdest?
Ich mache kein Anal, eigent
Maso habe ich ausprobiert, ab
da mit total rot geschlagenem
nicht wehtun, weil er mir so Le
Hast du dich je schmutzig gefühlt?
Gar nicht, weil ich mir die D
immer selber aussuche und nic
Danach fühle ich mich aber im
Mit welchen Augen siehst du die M
Filme ansehen?
Ich mach mir da keine Gedan
allerdings, wenn Ex-Freunde
ansehen würden.
Ekeln dich die Leute bei Live-Show
anfassen?
Nein, nicht alle. Ich teile sch
angefasst werde, obwohl ich e
einen Security dabei, aber ich
dagegen zu machen, wenn m
kommt. Ansonsten kenne ich
Fans, die mir hinterherreisen
machen.
Was muss man denn als männlicher
Na, auf jeden Fall lange durch
Wie viele Männer hattest du schon?
Ich habe eine Liste, die ich ab
30 Drehpartner sind es ungef
Fall mehr.
Hast du Angst vor Geschlechtskran
Ich persönlich drehe nur mit
also getestet sind auf HIV, H
und Chlamydien. Ansonsten
zwar nicht gern gesehen, abe
bestehen.
Werden in der Branche auch Droge
Ich glaube, ich bin die einz
auskommt. Ich trinke nicht, r
sonst nichts. Aber da bin ich
koksen, kiffen oder brauchen
hen zu können.
orama
v
Sieben
Wenn der Stier
dem Stück was stöhnt
Wer dirty talkt, liebt Bettgeflüster mit deftigen Ausdrücken
Von Thomas von Eichhorn
Foto: Inflagranti
mmt keiner vom Set
x, Drogen und Männer der alten Schule
machst, beziehungsweise nie machen
tlich nur Blümchensex. Sadober ich konnte dem Typen, der
m Rücken vor mir lag, einfach
eid tat.
Darsteller und Darstellerinnen
chts mache, was ich nicht will.
mmer ziemlich müde…
Männer und Frauen, die sich deine
nken drüber. Schräg fände ich
von mir sich meine Pornos
ws an? Gerade, wenn die dich einfach
hon mal Fäuste aus, wenn ich
es nicht will. Ich hab zwar oft
h traue mich auch selber was
mir jemand ungefragt zu nahe
h die Leute fast alle. Das sind
n. Sonst würde ich das nicht
r Pornodarsteller alles können?
hhalten.
?
ber leider nicht dabei habe. So
fähr. Privat sind es auf jeden
nkheiten?
Partnern, die Volltests haben,
Hepatitis C, Syphilis, Tripper
n nur mit Gummi. Das wird
er man sollte einfach darauf
en konsumiert?
zige weltweit, die ganz ohne
rauche nicht und nehme auch
h wirklich eine Rarität. Viele
n zwei Flaschen Sekt, um dre-
Du warst vor deiner Karriere Justizbeamtin und ärztliche Schreibkraft
im Sekretariat eines Krankenhauses. Jetzt bist du Pornostar und verdienst bestimmt Geld ohne Ende…?
Tut mir leid, über Geld wird nicht gesprochen. Aber ich
verdiene heute mindestens das Fünffache im Vergleich zu
früher. Ich habe einen Exklusiv-Vertrag bei meiner Produktionsfirma und bekomme zusätzlich für alle Auftritte und
Shows noch Gagen.
Einmal Sex mit einem Pornostar… – Ich wäre der König unter den
Männern. Wie kann ich es denn schaffen, dich rumzukriegen?
Du musst ein Mann der alten Schule sein…
Das heißt, ich öffne dir die Türe und du die Beine?
(lacht) Nein, ganz so einfach ist es natürlich auch nicht.
Du darfst nicht zu direkt sein, musst dich aber im richtigen
Moment was trauen. Und das Allerwichtigste natürlich, ich
muss deinen Geruch mögen. Bei mir geht nämlich ganz viel
über die Nase.
Was war dein außergewöhnlichster Sex-Ort?
Oh, ich denke mal in einer Wichs-Kabine eines Sexshops.
Das war nach einer After-Show-Party und wir konnten beide
nicht mehr warten bis wir zuhause sind.
Wie viel Sex brauchst du?
Da bin ich ganz normal. Weder frigide noch Fräulein Nimmersatt.
Wie reagieren deine Eltern und Verwandten auf deinen Job?
Die dachten erst, ich mache einen großen Witz. Ich habe es
meinen Eltern erzählt, bevor ich mich beworben habe. Später
habe ich meine Mutter mal mit in die Firma genommen – es
gibt ja auch bei uns ganz normale Büros, wie Marketing und
so. Meine Eltern haben gelernt, damit umzugehen.
Wie sehen deine Zukunftspläne aus?
Also Oma-Pornos würde ich nie drehen, das finde ich nicht
ästhetisch. Immer zu drehen würde auch langweilig werden.
Möchtest du später eine Familie gründen?
Familie ist mir superwichtig und ich will auch einmal eine
haben.
Wann wird dein nächster Sex sein?
Beruflich denke ich spätestens im Januar. Privat kann das
jederzeit passieren. Ich bin Single und kann machen was ich
will. Und wenn ich Lust habe und sich was Nettes ergibt, sag
ich bestimmt nicht nein.
Korbach/Würzburg – Ein Mann
und eine Frau. Ein Schlafzimmer. Unter das Röhren und Grunzen mischen
sich deftige Ausdrücke wie „Öffne deine
feuchte Fickritze, Schlampe!“, „Lass mich
deinen Fotzhobel verschlingen!“, „Alice, komm’ ins geile Wunderland!“, oder
rammsteinesk anmutende Anweisungen
wie „Waffe hoch!“ oder „Bück dich!“. So
schaukeln sich die Sexualpartner gemeinsam hoch – bis zum Höhepunkt.
Der neudeutsche Name für dieses
Phänomen: „Dirty Talking“, zu
deutsch „schmutziges Sprechen“. Ob
spitz, streng, keuchend oder hauchend
– Hauptsache, die dabei ausgespuckten Töne klingen stimulierend. Und
schmutzig.
Laut Klaus Heer, Schweizer Psychologe, Paartherapeut und Autor des
Buches „WonneWorte“, hat der Mensch
nicht immer während des Sexualaktes
unanständige Worte gegrunzt: „Evolutionär betrachtet sind wir im Bett eine
stumme Spezies.“ Heutzutage aber sei
Sprachlosigkeit sowohl im Bett als auch
in Beziehungen eher Ausdruck einer
Unsicherheit.
Von vollkommener verbaler Zügellosigkeit hält Heer aber nichts. Es sei
ein Widerspruch, sich zu lieben und
sich zugleich dreckige Wörter an den
Kopf zu werfen. „Sexualität ist ein Organismus, der Pflege und Zuwendung
braucht; eigentlich ist die Sexualität wie
ein Baum, den man ständig schneiden
muss, sonst macht er, was er will, und
degeneriert. Sie ist ein Garten, der gepflegt werden muss, weil er sonst im
Unkraut untergeht.“
„Entweder Dirty Talking nutzt sich ab,
oder man muss die Dosis steigern.“
Heer unterstreicht, dass Dirty Talking vor allem eine männliche Domäne
ist. Es sei durch Pornofilme salonfähig geworden, sei sozusagen die „domestizierte Form pornographischer
Tonspur“. Unredlich wird es, wenn der
Mann – streng gemäß der Porno-Logik – versucht, mit Hilfe von Worten
eine Übermacht zu erreichen, um sich
die Frau gefügig zu machen: „Diese
bellenden Sprachfetzen unterstreichen
das Machtgefälle.“ Dirty Talking sei
„schmutzig im Sinn von abwertend
gegenüber der Frau“ und „schränkt
die ganze Breite erotischer Phantasie
auf deren dreckige Rückseite ein“. So
etwas habe ein kurzes Haltbarkeitsdatum: „Entweder es nutzt sich ab, oder
man muss die Dosis steigern.“
Dass Dirty Talking nicht unbedingt
auf Kosten der Frauen geht, zeigt
eine repräsentative Studie aus dem
vergangenen Jahr, die die Männerzeitschrift „Men’s Health“ in Auftrag
gegeben hat: Laut der Studie erwägen
immerhin 94 Prozent der Frauen zwischen 18 und 39 Jahren Dirty Talking,
um ihr Sexleben wieder anzukurbeln.
Wer mit Frauen ins Gespräch kommen will, die Gefallen an Dirty Talking
finden, braucht sich nur in Foren wie
„womenweb.de“ umzusehen. Dort diskutieren die Nutzer eifrig über Sexualität und Dirty Talking.
„Es macht mir Spaß, ihn den ganzen
Tag zappeln zu sehen."
Auch die 16-jährige Verena aus Korbach, Fachabiturientin im Bereich Sozialwesen, nutzt das Forum. Sie stieß
Freund gefällt, habe ich selbst Gefallen daran gefunden.“ Allerdings achtet
sie darauf, dass ein gewisses Maß eingehalten wird: „Ich mag Dirty Talking
nicht so sehr hart, ich finde das sonst
ein wenig übertrieben – aber wer drauf
steht…!“. Ihr Fazit: „Dirty Talking
senkt die Hemmungen in einer Beziehung, und es macht Spaß.“
Miriam aus Würzburg ist 22 Jahre
alt, studiert Lehramt und hat seit drei
Jahren einen Freund, mit dem sie Dirty Talking betreibt – allerdings fast nur
per Telefon oder SMS. „Das erhöht
le Sau!
G
durch Zeitschriften auf Dirty Talking
und verführte ihren Freund nach etwa
einem halben Jahr Beziehung erstmals
bewusst mit Worten. Fortan hauchte
sie ihm an Orten, „an denen wir es eh
nicht treiben können, vielleicht in der
Bahn oder auf Familienfeiern“, Sätze
ins Ohr wie: „Ich würd’ dich am liebsten vernaschen, deinen Penis mit der
Fck
mich!
Zunge verwöhnen“, „du geile Sau“,
„Mein Tiger, hau’ deine Krallen in meinen Rücken“, „Nimm mich, so hart du
willst“, „Du bist mein Hengst, ich will
deine Stute sein“ oder „Ich stell’ mir
grad deinen geilen harten Penis vor,
wie er in mich dringt“ So setzt sie ihn
noch heute unter Druck: „Es macht
mir Spaß, ihn den ganzen Tag zappeln
zu sehen und ihn immer weiter zu reizen. Bis zum Abend...“
Anfangs musste Verena für diese
Praktik noch Hemmungen überwinden: „Da bin ich mir etwas lächerlich
vorgekommen. Aber nachdem ich
gemerkt habe, wie sehr es meinem
Lass uns

machen!
die Vorfreude und hält die Spannung
aufrecht. Und wenn wir uns dann sehen, erfüllen wir uns gegenseitig die
Wünsche, über die wir vorher geredet haben.“ Dirty Talking müsse aber
nicht immer zu Sex führen. „Es fängt
ja schon manchmal beim Flirten mit
zweideutigen Bemerkungen an.“ Der
Spaß höre allerdings bei Beleidigungen
auf. „Schimpfwörter, die verletzen, sind
nicht mal beim Dirty Talking erlaubt.“
Deshalb müsse man auf jeden Fall über
solcherlei Grenzen reden. „Vielleicht
probiert man dann auch mal Dinge aus,
die man sonst nicht gemacht hätte, die
aber trotzdem Spaß machen. Das erweitert dann den sexuellen Horizont.“
Miriam bedauert, dass die meisten
Deutschen viel zu verklemmt seien,
um offen mit ihrer Sexualität umzugehen; das spiegele sich auch bei Dirty
Talking wider. Der Psychologe Klaus
Heer weiß, woran das liegt: „Das, was
den Menschen hauptsächlich vom
Schimpansen unterscheidet, ist erstens
die Sprache und zweitens die Scham;
Schimpansen haben keine Scham, wir
haben jede Menge davon.“
„Muschi, ist das eine Katze?"
Miriams 45-jährige Mutter Bella ist
Bankkauffrau und auch im Forum aktiv.
Sie findet Dirty Talking gut, „es darf halt
niemanden verletzen“. Das, was gemeinhin als „Dirty Talking“ bezeichnet wird,
sei jedoch kein Dirty Talking, sondern
Normalität. „Für jeden ist es wahrscheinlich anders.“ In prüden Gesellschaften
würden sprachliche Ergüsse beim Sex
vermutlich eher als Dirty Talking bezeichnet werden. Ergo: Dirty Talking ist
nicht gleich Dirty Talking. Es kann vor
Schmutz triefen, aber auch Liebe und Sex
in unschmutziger Weise beflügeln.
Für Bella heißt das beispielsweise, die
Dinge beim Namen zu nennen, anstatt
ihnen Kosenamen zu geben: „Muschi,
ist das eine Katze? Was ist dabei, Möse
oder Schwanz zu sagen?“ Sie plädiert
für Ehrlichkeit im Bett und vertritt
die These, dass Vergewaltigungen verhindert werden könnten, „wenn man
Phantasien hat, die man mit dem Partner einfach verbal und ohne Aufwand
ausleben kann“.
L
acht
v
L
saubermanner
Den Mäusen
auf der Spur
Gel statt Speck:
Wie sich der Beruf des Schädlingsbekämpfers wandelt
Von Nina Kerker
Marktheidenfeld – Mit großen
Schritten läuft der Mann durch die
Fabrikhalle, vorbei an ratternden
Maschinen, auf ein Schild mit rotem
Punkt zu, das an der Wand befestigt
ist. Vor dem Schild bleibt er stehen,
hebt eine weiße, handgroße Box vom
Boden, öffnet sie, begutachtet die türkise Paste, die in den Ecken der Box
klebt und schüttelt den Kopf: Nein,
hier sind keine Spuren zu erkennen.
Samir Asyo ist auf der Suche nach
Mäusen, Schaben und sonstigem
Getier, denn er arbeitet als geprüfter
Schädlingsbekämpfer. Die Firma,
bei der er seit 15 Jahren beschäftigt
ist, schließt Service-Verträge mit
Unternehmen aus allen Branchen, von
Gaststätten über Lebkuchen-Hersteller
bis hin zu Kindergärten. Im Vertrag ist
jeweils geregelt, wie oft ein Mitarbeiter
vorbeikommt und die Räume auf
Schädlingsbefalle kontrolliert.
Kontrollgang durch die Fabrikhalle
Auch das Unternehmen in Marktheidenfeld, das Haushaltsartikel produziert, besucht Samir Asyo regelmäßig. Heute ist er dort unterwegs, um
Mäuseboxen und Schaben-Detektoren
zu checken. Ausgerüstet mit Spezialschlüssel und einer unterarmgroßen
Spritzpistole, die mit der türkisen GiftPaste gefüllt ist, läuft er durch das Erdgeschoss der zweistöckigen Firma und
überprüft jeden der 45 Kontrollpunkte,
die an der Wand entlang an strategisch
günstigen Stellen angebracht sind. Am
Kontrollpunkt 31 wird er fündig: In
der Paste in den Mäuse-Boxen
sind eindeutig
Spuren
von
Mäusezähnen
zu erkennen. „Die tote Maus liegt
jetzt wahrscheinlich draußen im
Gebüsch“, vermutet der 47-Jährige
und füllt mit seiner Spritzpistole die
fehlende Paste nach. „Die Stelle ist typisch für Mäusebefall“, erklärt er und
weist auf das große Tor direkt neben
der Mäusebox.
Das Tor ist nur mit einer Plastikplane
verdeckt, die nicht ganz bis zum Boden
reicht – da verirrt sich schnell mal eine
Maus auf der Suche nach Nahrung
in die Firmenhalle. Doch Samir Asyo
macht sich keine Sorgen: „Man muss
wissen, dass Mäuse von Natur aus eher
naschen als fressen. Wenn das Gift in
fünf Boxen angeknabbert ist, kann das
auch von einer Maus sein, die überall
ein bisschen genascht hat.“ Er wird die
Beobachtung in seinem Bericht vermerken. Solange die Mäuse nicht weiter in die Firmenhalle eindringen, ist
es nicht nötig, weitere Fallen aufzustellen und den Außenbereich nach ihren
Nestern abzusuchen.
2007 war das Jahr der Nagetiere
Trotzdem weiß er, dass man Mäuse
nicht unterschätzen darf: In ihrem
Kot und Urin tragen sie Bakterien, die
für den Menschen gefährlich werden
können. Und es gibt in letzter Zeit
immer mehr Mäuse: Im vergangenen
Jahr war es ein richtiger Boom, den
auch Rainer Gsell, Bundesvorsitzender
des Deutschen SchädlingsbekämpferVerbandes
beobachten
konnte.
Die Zunahme im Mäuse- wie im
Rattenbefall führt er zum einen auf
die wärmeren Temperaturen zurück,
zum anderen auf die Menschen, die im
Vergleich zu früher viel mehr und eine
ganz andere Art von Müll produzieren:
„Vor 20 Jahren gab es viel weniger
Fast-Food-Geschäfte. Und vor jedem
liegt eine Unmenge Abfall.“ Außerdem
beobachtet Rainer Gsell, dass die
Leute auch in der Fußgängerzone
immer mehr Essensreste liegen
lassen: „Deswegen haben Ratten ein
übermäßiges Nahrungsangebot.“
Deutschlandweit gibt es nicht nur
mehr Ratten und Mäuse, es treten auch
wieder vermehrt Bettwanzen auf, obwohl sie fast schon ausgestorben waren. „Der Schädlingsbefall ist ständig
im Wandel. Das sind Zyklen, die kann
man nicht so einfach feststellen,“ erklärt Rainer Gsell. „Oft kann man nur
im Nachhinein sagen, das war so, aber
nicht warum.“
Mit den hygienischen Bedingungen
hat das nicht zwingend was zu tun. „Es
ist ein Vorurteil zu sagen: Wo Schmutz
ist, da sind auch Schädlinge. Das ist
Quatsch“, sagt Gsell. Oft wird das
Ungeziefer, wie zum Beispiel Schaben,
von irgendwoher eingeschleppt und ernährt sich dann von Fettrückständen,
die hinter jeder Einbauküche zu finden
sind. Zum Glück hat sich das Verhalten der Menschen geändert, wie Samir
Asyo
betont: „Die Leute
sind sensibler
geworden.
Viele
sind
sich bewusst:
Ist Ungeziefer im Haus, dann ist das
bestimmt kein Einzelfall.“ Die meisten
kontaktieren dann sofort einen Fachmann.
Schädlingsbekämpfung fast ohne
Chemie
Der klassische Kammerjäger, der
dem Ungeziefer mit der Chemiekeule
zu Leibe rückt, ist dabei nicht mehr
erwünscht, wie Rainer Gsell erläutert:
„Gefragt ist nicht mehr der Typ, der
im Overall durch die Gegend hüpft
und Ratten jagt, sondern ein absolut
kompetenter Experte. Heute findet
man eher einen Typ mit Laptop.“
Und der verwendet zur Schädlingsbekämpfung statt Chemikalien eher
technische Mittel wie zum Beispiel die
Flohlichtfalle: Flöhe werden durch das
Licht angelockt und bleiben dann an
dem Klebstoff in der Falle hängen.
Den neuen Bekämpfungsmethoden hat sich auch die Ausbildung
angepasst: Seit 2004 ist Schädlingsbekämpfer ein anerkannter Ausbildungsberuf.
Konkurrenzkampf
am Kamin
Das Schornsteinmonopol wird abgeschafft - hält der Gesetzentwurf, was er verspricht?
Von Julia Haug
Eichstätt – „Wer sich nicht wehrt,
der lebt verkehrt.“ So lautet Joachim
Datkos Leitspruch. Seit dem Jahr 2000
engagiert er sich zusammen mit anderen
verärgerten Mietern, Haus- und Wohnungseigentümern in der „Interessengemeinschaft gegen das Schornsteinfegermonopol“ und fordert die Entmachtung
der Schornsteinfeger.
Obwohl die Bundesregierung einen
neuen Gesetzentwurf vorgestellt hat, der
das bisherige Monopol der Schornsteinfeger einschränkt, kämpft die Interessengemeinschaft weiter, denn die im Entwurf verankerten Neuerungen gehen ihr
nicht weit genug. Auch in Zukunft bleibt
die Einteilung in Bezirke bestehen. Der
bisherige Bezirksschornsteinfegermeister wird umbenannt in Bezirksbevollmächtigter und kontrolliert, statt selbst
auszuführen. Und: Heizungsinstallateure und andere Berufssparten sollen
die Arbeiten von Schornsteinfegern nur
durchführen dürfen, sofern sie auch eine
Schornsteinfeger-Gesellenprüfung abgelegt oder eine vergleichbare EU-Qualifikation haben.
Unterstützung in ihrem Kampf gegen
das Schornsteinfegermonopol erhält
die Interessengemeinschaft auch durch
die EU-Kommission, die am bislang
geltenden deutschen Schornsteinfegergesetz einiges auszusetzen hat: Es
verstößt gegen die europäische Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Das deutsche Kaminkehrerwesen ist weltweit das einzige
seiner Art, das sich nicht markt-
wirtschaftlich reguliert. Zu spüren bekommt das der Kunde: In festgelegten
Abständen muss er von einem festgelegten Bezirksschornsteinfegermeister
zu festgelegten Preisen seinen Kamin
kehren und die Abgase seiner Heizung
messen lassen – obwohl diese Messung
bei modernen Gasheizungen gar nicht
mehr nötig ist, weil sie ohne gefährliche
Überreste arbeitet.
Während des Dritten Reiches, als
das deutsche Kehrmonopol in seinen
Grundzügen eingeführt wurde, sah
das noch anders aus. Damals bildeten
Verpuffungen und Brände durch Rußansammlungen in Brennern und Kaminen noch eine Gefahr. Obwohl diese
Gefahr längst gebannt ist, gibt es heute
immer noch 8 000 Kehrbezirke, denen
jeweils ein Bezirksschornsteinfegermeister zugeteilt ist. Im Namen des Staates
darf dieser sich sogar gegen den Willen
des Eigentümers Zutritt zur Wohnung
verschaffen.
„Die Schornsteinfeger werden
weiter abkassieren.“
Jetzt hat die Bundesregierung auf
den erhobenen Zeigefinger aus Brüssel
reagiert und einen Gesetzentwurf erarbeitet, der zum 1. Juli 2008 umgesetzt
werden soll. Neuerungen darin: Der
Eigentümer soll die freie Wahl haben,
wer kehrt und misst. De facto sind aber
nur Gesellen des Schornsteinfegerhandwerks zugelassen. Alle drei Jahre soll der
Bezirksbevollmächtigte, wie der Bezirksschornsteinfeger in Zukunft heißen wird,
die Arbeit der anderen vor Ort kontrol-
lieren. Für die Kunden bedeutet das zusätzliche Bürokratie und Gebühren.
Joachim Datko von der „Interessengemeinschaft gegen das Schornsteinfegermonopol“ winkt schon jetzt ab: „Im
Grunde wird sich nichts ändern. Die
Schornsteinfeger werden weiter abkassieren.“ Er und seine Mitstreiter fordern
einen freien Dienstleistungsmarkt, an
dem alle Handwerker und Schornsteinfeger teilnehmen dürfen, die ein Zertifikat vom Hersteller des Heizsystems
erhalten haben. Lediglich ein einseitiges
Formblatt soll die Arbeit bestätigen.
„Wir haben nichts gegen
Veränderung.“
Achim Heckel vom Bundesverband
des Schornsteinfegerhandwerks hingegen sieht im Gesetzentwurf eine Verbesserung: „Von einer Monopolstellung
kann man dann nicht mehr sprechen.“
Außer der Kontrolle gehöre dann nur
noch die Absegnung neuer Heizungen
und Kamine zu den Aufgaben des Bezirksbevollmächtigten. Für die restlichen
85 Prozent der Arbeiten, also zum Beispiel das Kaminkehren oder die Abgasmessung, sollen sogar Schornsteinfeger
aus der ganzen EU in den Wettbewerb
eintreten dürfen. Schornsteinfeger - andere Berufsstände erwähnt er nicht.
Heckel und seine Kollegen schauen
frohgemut in die Zukunft. „Wir haben
nichts gegen Veränderung.“ In Anbetracht des ebenfalls neuen Gesetzentwurfs zur Feinstaubkontrolle von
Holz- und Kachelöfen kann man das
verstehen.
geschmackssache
v
neun
Kalte Schnauze auf goldener Fährte
Nachts findet Spürhündin Kira wertvolle Trüffel. Tagsüber spielt sie Schatzsuche mit Touristen.
Von Stefanie Heiß
Alba (Italien) – Die Leine ist straff
gespannt. Raschelnd, die spitze Schnauze tief im Boden, durchwühlt Kira das
Laub. Schnüffeln, suchen, scharren mit
den Pfoten. Ständig darauf gefasst, einen Hauch aus Knoblauch, Heu und
Honig zu erschnuppern. Ihr weißes Fell
leuchtet im Schein der Taschenlampe.
„Dai, Kira, dai!“, ermuntert Stefano
die Hündin zu suchen und deutet mit
dem spitzen Ende seines Wanderstocks
zwischen die Wurzeln einer Eiche. Kira
schnüffelt, niest, dreht sich weg. Fehlanzeige. Kein Trüffel. Aufgeregt zerrt
sie an der Leine und drängt mitten
durch dichte Brombeersträucher tiefer
in den Wald.
Mehrmals pro Woche macht sich
Stefano nachts auf Trüffelsuche
Fünf Stunden vorher dagegen wirkt
Kira eher orientierungslos und verwirrt: Unentschlossen streunt sie im
Zickzack über den Waldweg, schnuppert kurz im Laub, wendet wieder.
Es ist später Nachmittag, die Sonne
strahlt durch das Geäst. Ein halbes
Dutzend deutscher Touristen folgt
Stefano und Kira mit gespannter Miene in den Wald.
Stefano Aprile ist mit 22 Jahren bereits ein erfahrener Trifolau, ein Trüffelsucher. Schon als kleiner Junge hat
sein Großvater ihn zur Trüffelsuche
mitgenommen. Von September bis Januar macht sich Stefano mehrmals pro
Woche nachts mit seinem Hund in den
Wäldern von Alba auf die Suche nach
den edlen Pilzen, die er in seinem Feinkostladen verkauft.
Die weltberühmten weißen Trüffel
locken jährlich tausende Feinschmecker in die kleine Stadt im italienischen
Piemont. Als besondere Attraktion
bietet Stefano deshalb nebenbei nachmittags geführte Trüffelsuchen für
Touristen an.
„Dai, Kira, dai“, versucht er die
Aufmerksamkeit der Hündin auf die
Nach Trüffeln schnüffeln: Kira wühlt sich durchs Unterholz.
Das Müll-Buffet
Junge Leute containern Lebensmittel,
die Supermärkte wegwerfen
Von Julia Kuhbandner
Germering – 23:45 Uhr an einem
Mittwochabend im Münchner Vorort
Germering. Vier dick eingemummelte
Gestalten stehen hinter einem Supermarkt im Licht einer Neonröhre vor
den Mülltonnen. Ein junger Mann mit
Dreadlocks, dicker Jacke und einem
großen Rucksack beugt sich über einen
riesigen Gemüsecontainer und bedient
sich wie an einem Buffet: Radieschen,
Kartoffeln, Lauch, Esskastanien, abgepackter Salat und Zucchini. Sam
nimmt eine Bananenstaude, schmeißt
sie zusammen mit ein paar Tomaten in
eine große Kiste auf einem Handkarren. Auch Andi und Uli beugen sich
tief über die Tonnen und schaufeln
Lebensmittel zutage: verpackte Hamburger und Tortellini, Weichkäse und
Milchdrinks, Joghurts und Aufbackbrötchen.
Was andere Menschen im Supermarkt kaufen, holen sich Webdesigner
Andi, Lagerarbeiter Uli, Gelegenheitsjobber Sam und Tiermedizinstudent
Leo aus den Mülltonnen der Supermärkte. Es sind Lebensmittel, deren
Verfallsdatum noch nicht oder erst vor
kurzem abgelaufen ist.
„Containern ist wie Einkaufen.“
Vor allem junge Leute und Studenten
in Großstädten nutzen zunehmend die
Mülltonnen der Supermärkte als Nahrungsquelle. Das Ganze heißt dann
neudeutsch „containern“.
Andi, Sam, Leo und Uli gehen einbis zweimal die Woche auf Tour. Auch
an diesem Abend sind die vier jungen
Männer wieder spät aufgebrochen. Und
wie immer ist Leos Mischlingsrüde
Namrut dabei, als sie eine Stunde vor
Mitternacht zielstrebig durch die verschneiten Straßen eines Wohngebietes
laufen. Sam hat einen neuen Container
entdeckt, in dem es viel zu holen gibt.
Sam war es auch, der das Containern
Suche zu lenken. Immer wieder deutet
er mit seinem Stock auf die Wurzeln
von Eichen und Haselnusssträuchern.
Aber Kira ist nicht bei der Sache. Die
vielen Menschen machen sie nervös, erklärt Stefano entschuldigend. Skeptische
Blicke in der Gruppe. „Ich glaube nicht,
dass der Hund heute einen Trüffel findet“, murrt einer der Touristen. Nur gut,
dass Stefano zuvor für die Touristensuche einige Trüffel versteckt hat. Nach
kleinen Umwegen lotst er Kira und die
Touristen auf gewundenen Trampelpfaden zum Versteck.
Manche Trüffelsucher versuchen, die
Hunde der Konkurrenten zu vergiften
Als er sich ein paar Stunden später in der Dunkelheit alleine auf die
Suche macht, braucht Kira keine
Aufforderung. Sofort senkt sie ihre
Schnauze tief auf den laubbedeckten
Boden, schnüffelt sich zielstrebig voran, wühlt in der Erde. Stefano hat
Mühe, der eifrigen Hündin zu folgen.
Foto: Stefanie Heiß
vor etwa zwei Jahren in die WG gebracht hat. Er selber ist während seiner
Zeit in Gießen auf das Containern aufmerksam geworden: „Am Anfang fand’
ich das echt ‘ne ätzende Vorstellung.“
Aber als ihn dann irgendwann doch die
Neugier packte, erlebte er eine Überraschung: Bei einem Zwischenhändler
für Südfrüchte stieß er auf zehn Container mit frischem Obst. „Ich bin fast
zusammengebrochen, weil ich das Ausmaß dieser Wegwerfgesellschaft nicht
gepackt habe.“ Ähnlich ging es seiner
Freundin Anja: „Als Sam von seinem
ersten Beutezug in München heimkam,
hab’ ich gedacht, ich seh’ nicht richtig“,
sagt sie heute noch kopfschüttelnd,
wenn sie an die Küche voller Bananen
denkt. Heute ist das Containern in der
WG längst eine häusliche Tätigkeit,
„wie Einkaufen eben“, sagt Leo.
Kurz nach 23 Uhr. Sam, Leo, Uli und
Andi sind an Sams Geheimtipp angekommen, dem neuen Container. Weiße
Flocken schweben vom Himmel und
aus den Fenstern der Wohnhäuser um
sie herum fällt warmes Licht. Die Container stehen in einer schmalen, dunklen Nische, in die sich Uli, Andi und
Sam hineindrängen. Als sie die Deckel
der grünen Tonnen aufmachen, macht
sich ein leicht fauliger Geruch breit.
Im schwachen Schein von Andis
Der weiche Waldboden schluckt seine
Schritte. Nur manchmal knistert und
knackt ein morscher Ast in der gespenstischen Stille des Waldes.
Angespannt achtet er auf jede noch
so kleine Reaktion von Kira. Als es im
Unterholz raschelt, zuckt er erschrocken zusammen. Ist da jemand? Nein,
scheint ein Tier gewesen zu sein. Noch
einmal Glück gehabt, denn einem
anderen Trifolau zu begegnen, wäre
schlimm. Trüffelsucher versuchen mit
allen Mitteln, die Reviere, in denen sie
auf Trüffelsuche gehen, geheim zu
halten. Manche Trifolau legen sogar
Köder aus, um die Hunde der Konkurrenten zu vergiften. Ein herber Verlust,
denn es dauert Jahre bis ein Trüffelhund richtig ausgebildet ist.
Sechs bis zehn Stunden ist Stefano
oft mit seinem Hund in der Nacht unterwegs. In der absoluten Stille können
sich die Hunde besser konzentrieren
und gleichzeitig die Trüffel auch besser
riechen, weil der Duft intensiver ist.
Am Nachmittag hilft Stefano dagegen
ein wenig nach. Die Touristen erreichen
mit ihm eine kleine Waldlichtung. Ist
hier das Versteck? Gräser, Efeu, Löwenzahn und Glockenblumen bedecken den
Boden. Herb und leicht modrig hängt
der Geruch von Moos und Erde in der
klaren Luft. In der Ferne brummen
die Autos auf der Landstraße. Stefano
richtet seinen Stock auf eine Eiche am
Rand der Lichtung. „Dai!“ Kira zögert,
tappt langsam zu der angezeigten Stelle
und beginnt dann hektisch zu wühlen.
Stefano schiebt sie zur Seite und bringt
lächelnd einen kleinen weißen Trüffel
zum Vorschein. Die Touristen drängen
sich begeistert zusammen, um den ersehnten Fund besser sehen und fotografieren zu können.
Die kleine Knolle aus der Erde ist
für Feinschmecker fast so wertvoll
wie Gold. Auf der internationalen
Trüffelmesse, die von September
bis November jedes Wochenende in
Alba stattfindet, kostet zum Beispiel
ein besonders großer Trüffel mit
einem Gewicht von 260 Gramm über
1 600 Euro. Doch so ein Fund muss
Stefano erst einmal gelingen. Er findet
im Schnitt in einer Nacht ungefähr 40
Gramm Trüffel, die sich aus mehreren
kleinen Pilzen zusammensetzen. Der
größte Trüffel, den er bisher gefunden
hat, wog 50 Gramm. Aber vielleicht
hat er ja heute Nacht Glück und entdeckt ein Prachtexemplar.
Kopflampe tauchen Gurken, Tomaten,
Äpfel, Karotten und Kopfsalat auf. So
schnell, dass die Augen nicht hinterherkommen, schaufeln die jungen Männer ihre Beute in die Kisten auf dem
Handkarren: Rosenkohl, Zwiebeln,
Käse. Als Andi mit seiner Tonne fertig
ist, ist sie fast leer und erstaunlich sauber. Kein Schimmel oder dergleichen
an den Wänden.
„Die Container, in denen Lebens-
Dreck zu machen“, erzählt Leo.
1 Uhr nachts. Die Vier sind mit
zwei randvollen Obstkisten und drei
Trekkingrucksäcken wieder in die WG
zurückgekehrt und waschen nun von
den Tomaten bis zu den verpackten
Tortellini alle Lebensmittel in der Badewanne.
Als endlich alles verräumt ist, machen sie es sich auf den durchgesessenen Sofas im Wohnzimmer bequem.
Jeder darf sich als Belohnung sein
Lieblingsessen nehmen. Leo schiebt
die Hamburger in den Ofen, während
Andi schon genüsslich in sein Knoblauchbaguette beißt. Leo steht im Türrahmen und isst einen Joghurt.
„Beim Containern entwickelt man
schon fast eine dekadente Art, weil es
zu viel zu essen gibt. Ich kann vier
Joghurts essen, einfach weil es mir
schmeckt. Müsste ich sie mir kaufen,
würde ich das nicht tun“, erklärt Leo.
Als er ein Rascheln hört, dreht er sich
um. Namrut steht in der Küche und
zieht eine Karotte aus dem Mülleimer, den jemand offen gelassen hat.
„Namrut! Aus!“ pfeift Leo ihn streng
zurück. Aber dann muss er plötzlich lächeln. „Wie soll ich denn dem
Hund erklären, dass er nicht im Müll
wühlen darf, wenn sein Herrchen das
selber macht?“
„Die Polizisten hielten uns Waffen
unter die Nase.“
mittel landen, werden bei den meisten
Supermärkten regelmäßig ausgewaschen“, erzählt Leo. Fleisch oder Fisch
nehmen sie aber trotzdem nicht, weil
ihnen das zu riskant ist.
Vom Nervenkitzel erzählt Anja: „Wir
waren gerade an einem Container, und
plötzlich waren überall Polizisten, die
uns Waffen unter die Nasen hielten.“
Als sie die Beamten fragten, was sie
jetzt mit ihnen vorhätten, zuckten die
nur mit den Schultern und ließen sie
mit den Lebensmitteln gehen.
Viele Supermarkt-Geschäftsführer
tolerieren die nächtlichen Besucher:
„Die lassen uns die Tür zu den Containern offen, weil die oft umzäunt sind,
im Gegenzug versprechen wir, keinen
Nachts muss Kira zeigen, was sie
kann - Stefano kann sie jetzt nicht
mehr führen
Die Brombeersträucher zerren an
der Kleidung. Immer tiefer geht es in
den Wald. Nur schemenhaft dringt
das matte Mondlicht noch durch die
Baumkronen. Die verstreuten Blätter
der Silberpappeln leuchten strahlend
weiß unter dem dunklen Laub der
Haselnusssträucher und Eichen. „Dai,
Kira!“, spornt Stefano die Hündin weiter an. Diesmal weiß er nicht, wo Trüffel zu finden sind.
Jetzt muss Kira zeigen, was sie kann.
Die Nase tief im Laub versenkt, wittert
sie in alle Richtungen. Links, rechts –
nichts. Weiter. An einer großen Eiche
hält sie inne. Sie schnaubt, wühlt ihre
Schnauze tiefer in das Laub und beginnt aufgeregt zu graben. Blitzschnell
greift Stefano nach Kiras Halsband,
zerrt sie weg und wühlt selbst mit den
Händen im Boden. Nach wenigen Augenblicken strahlt er und bringt stolz
einen weißen Trüffel zum Vorschein.
Vorsichtig wischt er die Erde von der
kleinen Knolle ab. Ein Prachtexemplar
ist es zwar nicht, aber Stefano ist trotzdem zufrieden.
Wahrscheinlich landet der Trüffel am
Abend in hauchdünne Scheiben gehobelt auf Stefanos Pasta, denn er gönnt
sich mindestens dreimal pro Woche einen der teuren Pilze. Kira dagegen muss
sich mit ihrem Hundefutter begnügen.
Obwohl sie in ihren drei Lebensjahren
schon über fünf Kilo Trüffel gefunden
hat, bekommt sie selbst nicht mal einen
Hauch von dem teuren Pilz in ihrem
Fressnapf serviert.
schmutzspuren
v
elf
Alles auf Anfang
Zwei Sträflinge versuchen, im Alltag wieder Fuß zu fassen
Von Hannah Lau
Ingolstadt – Streu-Kies knirscht unter Aljoschas* Füßen. Sein Blick haftet
an seinen knallweißen Sneakern. Die
Hände gräbt er tief in seine Hosentaschen. Es nieselt leicht. Aljoscha zieht
sich seine Wollmütze tiefer ins Gesicht.
„Beschissenes Wetter…“, murmelt der
20-jährige Russe und steuert ein Café
gegenüber dem Ingolstädter Amtsgericht an. Ganz stolz erzählt er, dass
er seit gestern bei Audi arbeitet. Dann
verzieht er das Gesicht. „Vor zwei Jahren bin ich aus dem Knast gekommen.
Seitdem bewerbe ich mich bei Audi.
Hat ziemlich lang gedauert.“
17 Monate saß Aljoscha M. wegen
Autoschieberei im Gefängnis. „Ich
hab mit meiner Clique was getrunken,
und danach haben die anderen Autos
geknackt. Ich hab nur zugesehen.“ Die
Polizei erwischte einen seiner Freunde,
der verpfiff Aljoscha und die restliche
Clique. Es kam zum Prozess und Aljoscha wurde verurteilt.
Im März 2006 kam Aljoscha aus
dem Gefängnis. Ohne Arbeit, ohne
Wohnung. Ein Bewährungshelfer unterstützte ihn bei der Arbeitssuche.
Er begann bei BMW und arbeitete
am Fließband, war aber mit der Bezahlung unzufrieden. „Ich hab mich dann
bei Audi beworben und beworben und
beworben und gestern habe ich endlich
meinen Arbeitsvertrag unterschrieben“,
sagt er. Jetzt arbeitet er wieder am Band
und ist zufrieden. Sein neuer Arbeitgeber weiß, dass er im Gefängnis war.
„Den Grund für meine Inhaftierung
kennt er aber nicht.“ Aljoscha grient
und zündet sich eine Zigarette an. „Das
steht ja nirgends. Zum Glück.“
Thomas S.* war ebenfalls im Gefängnis. „Und dann kam ich wieder
raus und hatte nichts mehr“, sagt der
28-Jährige. Seine Gesichtszüge verfinstern sich. „Als der Haftbescheid
kam, musste ich ja innerhalb von neun
Tagen alles kündigen: Wohnung und
Arbeit. Das war hart.“
Jetzt sitzt Thomas S. neben seiner
Freundin auf der bordeauxroten Couch
in seinem Wohnzimmer. Die schlanke
Frau mit dem mädchenhaften Gesicht
spielt mit ihren Haaren. Im Fernsehen
läuft eine RTL-Unterhaltungsshow.
Ratten nagen in zwei großen Käfigen
an Holz und rascheln leise in der Streu.
Das Wohnzimmer ist schmal und eng
und vollgestopft mit Möbeln.
„Meine Verurteilung damals war abzusehen“, gesteht Thomas mit einem
verlegenen Lächeln. Er hatte mit
kleineren Mengen Marihuana gehandelt und wurde wegen Verstoßes gegen
das Betäubungsmittelgesetz 2003 zu
sieben Monaten Gefängnis verurteilt.
Wieder in Freiheit suchte er Hilfe
beim Diakonischen Werk in Rosenheim. „Ich hatte ja nichts. Und auf der
Straße wollte ich nicht schlafen.“ Thomas lacht und schweigt dann einige
Augenblicke.
„Eigentlich hab ich kein Problem mit
der Vergangenheit.“
Beim Diakonischen Werk bekam
er einen Platz im betreuten Wohnen.
Doch er wurde rückfällig und dealte
wieder. „Dort im betreuten Wohnen
waren lauter Exknackis. Die meisten
von denen hatten was mit Drogen
zu tun. Quasi die besten Kontakte.“
Thomas grinst und schüttelt dann
den Kopf. Nach einer Weile meint er:
„Na und jetzt bin ich auf Bewährung
draußen.“ Seine Auflagen sind, neben
einer Geldbuße, Drogenberatungsgespräche und das Bemühen, immer
arbeitstätig zu sein.
Er hat jetzt einen Job als Produktionshelfer bei einer Zeitarbeitsfirma
und hofft, demnächst übernommen zu
werden. Er will sich Mühe geben. „Irgendwann gab’s bei mir einen Knackpunkt. Da hab ich mir gesagt: Jetzt ist
genug!“ Thomas‘ Freundin zündet sich
eine Zigarette an. Er schaut ihr eine
Weile beim Rauchen zu.
„Ein Neuanfang ist schwer“, sagt
er, „Drogenberatungsgespräche haben
mir nichts gebracht – die sind eher was
für Süchtige.“ Und das sei er nicht. Er
beschreibt sich als eher „harmlosen
Kiffer“. „Meine Probleme bewegten
sich in anderen Dimensionen: Ich hab
in den neun Jahren, in denen ich mit
der Polizei Kontakt hatte, insgesamt
rund 10  000 Euro Strafe zahlen müssen, habe meinen Führerschein verloren und noch vieles mehr.“ Thomas
rutscht unruhig auf der Couch hin
und her, lehnt sich vor und dann wieder zurück. Immer wieder fährt er sich
durch die Haare. Seine Freundin hält
ihm die Hand.
„Auch die Bewährungshilfe hat mir
nicht viel gebracht“, gibt Thomas
nach kurzem Nachdenken zu. „Viel
wichtiger als jemand, der dir sagt, was
du machen sollst, ist die innere Einstellung. Du musst die Veränderung
selbst wollen. Meine Freundin war mir
dabei die größte Stütze.“ Er drückt
sanft ihre Hand. Sie lächelt und legt
den Kopf schief. Ihre blonden Locken rutschen ihr über die Schultern
ins Gesicht. So sitzt sie eine Zeit lang
da und hört ihm zu.
Thomas‘ Familie hat nicht viel dazu
gesagt, als er ins Gefängnis kam. Bei
ihm zuhause hat man nie viel über Familiendinge gesprochen. „Und ich bin
ohnehin das schwarze Schaf.“
Er presst die Lippen aufeinander
und hängt seinen Blick an die lautlosen
Bilder im Fernsehen. Aus dem Käfig neben ihm guckt eine Ratte durch
die Gitter. Auf dem Boden des Stalls
scharrt es leise.
Anders als Thomas hat Aljoscha
noch immer einen guten Kontakt zu
seiner Familie. Aber auch seine Mutter verlor nicht viele Worte, als er ins
Gefängnis musste. „Sie hat gesagt, dass
das scheiße ist“, sagt er, lacht und fügt
schulterzuckend hinzu: „Was sollte sie
denn auch sonst sagen?“
Der 20-Jährige denkt kaum noch an
die Zeit im Gefängnis zurück. „Ich red
nicht gern drüber“, gesteht er, „Andere schauen einen manchmal komisch
an… Vorurteile und so.“ Dann lacht er.
Die meisten seiner Freunde, so erzählt
er, haben eine ähnliche Vergangenheit
wie er. „Bei denen spielt das keine Rolle. Und überhaupt: Eigentlich hab ich
kein Problem mit meiner Vergangenheit“, sagt er mit einer Festigkeit, als
müsse er sich selbst überzeugen.
Ähnlich geht es auch Thomas. Mit
seiner Freundin hat er über die Zeit
hinter Gittern gesprochen. „Am Anfang war sie etwas schockiert“, gibt
er zu, und seine Freundin neben ihm
nickt. Mit anderen redet er nur über
seine Zeit im Gefängnis, wenn man
ihn darauf anspricht. „Das ist jetzt abgehakt. Vergangenheit.“ Thomas und
seine Freundin sitzen ganz nah beieinander und halten sich fest. Sie haben
gemeinsame Pläne. „Meine Schulden
sind so gut wie abgezahlt. Jetzt wollen
wir heiraten und eine richtige Familie gründen.“ Als Thomas S. das sagt,
strahlt er vor Freude. Seine Freundin
lächelt leise. Die Show im Fernsehen
ist einer lautlosen Werbeunterbrechung
gewichen. In den Rattenkäfigen ist es
plötzlich ganz still.
* Name von der Redaktion geändert
Weg mit den Handschellen: Ein Wärter entlässt einen jungen Mann in die Freiheit.
Foto: Hannah Lau
Schmerzhafter Blick zurück: Anna Daum.
Foto: privat
Die Schöne nach
dem Biest
Vom Vergewaltigungsopfer zum selbstbewussten Model
Von Michael Mann
Eichstätt – Wenn sie die Fotos ansieht, dann lächelt sie. Sie gefällt sich
in der Pose einer Vampirdame oder als
schlagkräftiges Straßenmädel, das vor
einem mit Graffiti besprühten Hintergrund posiert. „Doch am allermeisten
mag ich meine Augen auf den Fotos,
die strahlen immer so toll, wie kleine
Sterne“, sagt sie und spannt mit ihren
Händen einen Himmel in die Luft.
Anna Daum ist 18. Sie ist schlank, hat
lange braune Haare und grüne Augen.
Anna ist vergewaltigt worden.
In ihrer kleinen Wohnung im Haus
der Großeltern bei München hat sie ihr
eigenes, kleines Reich aufgebaut. Neben Seidentüchern, die von der Decke
herabhängen, stehen auf einer Vitrine
Auszeichnungen von Reitwettkämpfen. Heute ist Anna Fotomodel.
Als Anna sechs Jahre alt ist, wird sie
von einem 60-jährigen Mann sexuell
belästigt. Mit 16 von ihrem Freund
vergewaltigt.
„Ich kann mich daran erinnern,
dass meine Freundin gemeint hat:
Komm doch heute mal vorbei, mein
lustiger Onkel ist da.“ Sie verzieht
das Gesicht zu einer zynischen Miene
und erzählt von dem lauen Sommerabend, an dem sie mit dem lustigen
Onkel auf der Gartenbank sitzen,
Kuchen essen und Witze machen. Als
der Rentner sein Geschlechtsteil auspackt, stöhnt er die zwei Mädchen an
und sagt: „Der Piepmatz muss raus,
fasst ihn doch mal an.“
An das Folgende kann sich Anna
nur schemenhaft erinnern. „Ich bin
nach Hause gelaufen und habe geweint. Meine Mutter hat mich, als sie nach
Hause kam, zusammengekauert hinter
der Kloschüssel gefunden.“ Das Lächeln ist aus Annas Gesicht gewichen.
Mit zitternder Hand nimmt sie das
Glas Wasser, das vor ihr auf dem Tisch
steht, trinkt es hastig aus und blickt dabei ins Leere.
Als sie sich wieder gesammelt hat,
verschränkt sie die Arme vor der Brust
und sagt: „Ich wollte von niemandem
gesehen werden, nicht gefunden werden. Ich habe mich hinter dem Einzigen versteckt, das noch schmutziger
war als ich.“
Annas Mutter bringt den Vorfall nie
zur Anzeige, denn sie findet heraus,
dass der Täter sowohl geistes- als
auch todkrank ist.
In den folgenden Jahren entwickelt
Anna einen ausgeprägten Männerhass,
und es fällt ihr schwer, körperliche Nähe,
egal, ob zur Familie oder zu Freunden,
zuzulassen. Sie lernt David kennen
und verliebt sich in ihn. Aber David ist
nicht an Annas Gefühlen, sondern nur
an Sex interessiert. Als Anna ihn abweist, verabreicht er ihr auf einer Feier
bei sich unbemerkt Drogen. „Ich hatte
nichts Alkoholisches getrunken, doch
auf einmal fühlte ich mich schwach
und bin fast umgekippt“, erinnert sie
sich. „Das Letzte, was ich von diesem
Abend weiß, ist, dass ich in seinem
Bett lag und mich gegen ihn wehren
wollte. Doch er lachte mich nur aus
und meinte, dass es ohne Sex auch keine Beziehung gibt und er sich nimmt,
was ihm gehört.“ Annas Stimme wird
leiser, sie kauert sich auf ihrem Sessel
zusammen, als wollte sie sich so klein
wie möglich machen. Anna starrt auf
den Boden und schweigt. Dann weint
sie hinter ihrem Schutzwall aus Armen
und Beinen.
„Dieses Gefühl, wenn du nicht mehr
kannst; wenn du dich mal wieder wie
ein billiges Stück Dreck fühlst. Ekelhaft, widerlich.“ Anna zeigt den damals drogenabhängigen Täter nicht an.
„Auch wenn ich ihn verachtet, gehasst
habe. Ich konnte ihn nicht anzeigen.
Das Leben dieses Schweins war schon
arm genug. Ich hoffe, er bringt sich mit
seinem Dreck bald selbst um.“
Karin Hagen, Diplom-Sozialpädagogin und Sozialtherapeutin behandelt
Vergewaltigungsopfer. Das Gefühl des
„sich schmutzig Fühlens“ kennt sie
von ihren Patienten. „Dieses Gefühl
kommt jedoch nicht vom tatsächlichen
beschmutzt sein, sondern von der Verbindung zwischen Sex und Schmutz in
unserer Gesellschaft.“ Hagen meint,
dass dieses Gefühl wegfallen könnte.
„Ein vergewaltigtes Kleinkind oder
Baby fühlt sich nicht schmutzig. Es
empfindet Leid, Schmerzen und Verwirrung wegen der Gewalt, die ihm
angetan wurde.“
Erst nach 18 Monaten fasst Anna
den Mut und entscheidet sich für
eine Therapie. „Als ich mich nicht
mehr konzentrieren konnte, die Schule abbrechen musste, panisch wurde,
sobald man mich angefasst hat, am
liebsten tot sein wollte, musste ich mir
helfen lassen.“
In einer Gruppe mit fünf anderen
Patienten lernt sie, ihre Vergangenheit
zu verarbeiten. Ihre Gruppe besteht
aus gleichaltrigen Jugendlichen, die
eine ähnliche Leidensgeschichte erlebt
haben. „Das Tolle war, dass man immer jemanden hatte, vor dem man sich
nicht schämen musste. Die waren ja
alle so kaputt wie ich.“
Sie lernt, offen über ihre Vergangenheit zu sprechen und neues Selbstbewusstsein zu erlangen. Nach der Therapie beginnt sie zu Modeln und zieht
zu ihren Großeltern. Eigentlich will sie
Psychotherapeutin werden und besucht
deshalb wieder die Schule.
Anna lächelt. Sie kramt wieder in
der Fotokiste und findet ein Bild von
ihrer Therapiegruppe. Sie erzählt die
Geschichten der fünf anderen Vergewaltigungsopfer. „Wir haben es zusammen geschafft. Alle, die uns was
angetan haben, können uns mal. Ich
habe mich damals entschlossen, anderen zu helfen, denen es genauso geht.“
Sie strahlt.
zehn
v
drexpression ismus
Taggen und bomben für den Ruhm
Münchner Graffitisprayer toben sich im „Offenen Atelier“ aus
Von Julia Riggenmann
München – Die Straßen sind menschenleer, viele Wohnungen heruntergekommen und verlassen. Ein eisiger
Wind weht durch das karge Münchner
Wohnviertel an der Isar mit seinen
grau-grässlichen Betonbauten und der
alten Färberei. Wer durch das verwitterte Tor das Atelier im Hinterhof der
Färberei betritt, lässt all das Grau hinter sich und taucht ein in eine kunterbunte Welt voller Farben, Formen und
Figuren. In dem weiten Raum wuchert
Graffiti: „Tags“, „bombings“ oder
„pieces“ überziehen Wände, Stühle,
Tische und selbst die Armlehnen der
Ledersessel. Jeden Dienstag treffen
sich in der Färberei die jungen Wilden
der Graffitiszene mit den alten Hasen,
um zu quatschen und sich beim „Offenen Atelier“ des Kreisjugendrings
München künstlerisch auszutoben.
„Manchmal muss man einfach rumspritzen, einen dicken Schlenker Farbe
über Wände, Decke und Boden drüberlassen – hier kann man das machen“,
erklärt Graffiti-Altmeister Wolfgang
alias Z-Rok das Konzept des „Offenen
Ateliers“. Wolfgang ist Anfang 40 und
steht dem Graffiti-Nachwuchs in der
Färberei mit Rat und Tat zur Seite. Er
selbst sprayt und pinselt bereits seit
rund 24 Jahren. Damit gehört er zur
ersten Graffiti-Generation in Deutschland, die zu Beginn der Achtzigerjahre
auf den neuartigen Wandschmuck aus
der New Yorker Hip-Hop-Szene aufmerksam wurde.
Der 15-jährige Adrian und der 21
Jahre alte Daniel haben es sich auf den
Ledersesseln bequem gemacht und
blättern gemeinsam in einer Zeitschrift.
Sie sind zwei der rund zehn Stammgäste im Atelier. „Wenn ich zum Wolfgang komm, dann reden wir nur über
die legalen Sachen, über Graffitikurse,
über Skizzen“, erzählt Adrian.
Das Illegale lernt er auf der Straße.
Beide Jungs ziehen hier und da nachts
allein oder mit ihrer „Crew“ los und
drücken Wänden und öffentlichen
Verkehrsmitteln mit der Spraydose
ihren ganz individuellen Stempel auf.
Und beide haben schon die Konsequenzen dafür zu spüren bekommen:
Geldstrafen, Sozialstunden, Nächte in
der Zelle oder – auf der Flucht vor
der Polizei – zusammengekauert in irgendwelchen Gebüschen. „Da fragst
du dich dann schon mal: Warum mach
ich das eigentlich?“, sagt Daniel. Dass
es der Reiz des Verbotenen ist, der, wie
viele glauben, die Sprayer antreibt, hält
er für Schwachsinn. „Graffiti ist halt
eine Form von Kunst, die nicht vor
der Ateliertür aufhört.“ Adrian nennt
es ein Gefühl von Freiheit: „Es ist echt
geil!“ Künstler wollen die jungen Graffitisprayer allerdings nicht genannt werden. Sie nennen sich lieber „writer“.
Bei der Polizei dagegen heißen sie
„ermittelte Tatverdächtige“. Rund 2000
gibt es davon in München und die richten jährlich einen Schaden von rund 2
Millionen Euro an, sagt Roland Steitz.
Er ist Leiter des Teams der Landespolizei bei der „Koordinationsgruppe
Graffiti München“ und seit Anfang
der Neunzigerjahre hauptberuflich
mit dem Aufspüren von Graffiti-Straftätern beschäftigt. Zwischen 14 und
19 Jahren alt; mindestens 80 Prozent
männlich und deutsch; aus allen gesellschaftlichen Schichten – so charakterisiert er den harten Kern der Sprayer.
Für Steitz und seine Kollegen spielt es
keine Rolle, ob ein Graffiti nun Kunst
ist oder nicht. Hier zählt nur die Frage der Legalität. Es wird „geschmiert,
gekratzt, gesprayt“ und das führt laut
Steitz jeden Tag zu rund 26 Anzeigen.
Moderne Wandmalerei: Graffitikünstler Loomit sprüht nur so vor Ideen.
Im Jahr 2002 erreichte der durch
Graffiti entstandene Sachschaden mit
einer Schadenssumme von mehr als
3,4 Millionen Euro seinen vorläufigen
Höhepunkt. Seitdem sind die Zahlen
rückläufig. Als Ursache dafür nennt
Steitz zunehmende Aufklärungsarbeit
an Schulen zusammen mit Jugendeinrichtungen wie dem Kreisjugendring.
Aber auch die Tatsache, dass seit dem
Jahr 2000 die S-Bahnen im Raum
München – bis dahin das beliebteste
Angriffsziel der Sprayer – schrittweise durch neue ausgetauscht wurden,
spielt laut den Jungs vom „Offenen
Atelier“ eine entscheidende Rolle.
Denn diese neuen Bahnen, so erzählen sie, werden wesentlich besser bewacht als die alten.
Die Sprayer liefern sich ein ständiges
Räuber-und-Gendarme-Spiel
mit der Polizei. Das Wichtigste dabei:
Innen Müll, außen Glanz
Von Katharina Scholz
Rommerskirchen – Er dreht am
Rad der roten Gasflasche, bis sie gefährlich zischt. Die Ventilatorblätter
des Heizstrahlers beginnen sich zu
drehen, wirbeln Staub durch den alten
Schafstall, der Wilhelm Mundts Atelier
ist. Plötzlich ein dumpfes Dröhnen,
Beats setzen ein, dazu hohe, metallische Töne und immer wieder ein
hohles Gluckern wie aus einem Abflussrohr. Die Wände vibrieren.
Wilhelm Mundt beginnt im getriebenen Takt der Musik, ein neues Objekt zu packen. Scheinbar fahrig und
wahllos greift er zu allem, was ihm in
die Hände fällt: Farbreste in Plastikbe-
Wenn aus Müll Kunst wird, hat Wilhelm Mundt seine Finger im Spiel.
Foto: Katharina Scholz
chern, Teile aus gehärtetem Bauschaum,
unbestimmbare Flüssigkeiten, benutzte
Gummihandschuhe. Er stopft den Abfall seiner früheren Arbeiten in schwarze Plastiksäcke, wirft ein fleckiges, olivgrünes Sweatshirt dazu und bröckelt
gepressten Schleifstaub darüber. „Die
Objekte sind voll von dem, was ich bin“,
sagt er und stößt leise Flüche aus. Sein
Atem kondensiert dabei in der Luft,
die so kalt ist, dass jeder Versuch, den
Müllhaufen mit Klebeband zu fixieren,
scheitert: Die Streifen reißen schon
nach wenigen Zentimetern. Also legt
er dutzende Rollen Klebeband vor den
Heizstrahler und wartet.
Wilhelm Mundt beschäftigt sich
schon lange mit Problemen industrieller
Produktion. Für ihn, der seinen Lebensmittelpunkt nie aus dem Ruhrgebiet
hinaus verlegt hat, ist dieses Thema sehr
präsent. Er ist 1959 in Grevenbroich geboren, hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und später dort auch
doziert. Vor über 20 Jahren verwandelte
er sein Atelier in eine Fabrik, simulierte
Fließband- und Akkordarbeit. Er produzierte Teile aus Bauschaum, die sich
wie Legosteine zu riesigen Objekten zusammenstecken ließen. Bei diesem Projekt stieß Wilhelm Mundt auf ein Problem, mit dem er nicht gerechnet hatte:
Abfall. „Und plötzlich musste ich nichts
mehr nachstellen. Dieses Problem war
real, und ich musste die Verantwortung
dafür übernehmen.“
„getting fame“, wie es in der Szenesprache heißt. Gemeint ist damit die
möglichst auffällige Verbreitung des
„tags“, also des Pseudonyms, das sich
der „writer“ zulegt.
„Keiner sieht sich als Straftäter,
kein Einziger“, meint Kriminalhauptkommissar Steitz. Von Reue also keine
Spur. Die ist aber nötig, um ins „Projekt Graffiti München“ (ProGraM)
zu kommen. Dort erhalten seit 2001
Ersttäter eine letzte Chance, mit
einem außergerichtlichen Vergleich
davonzukommen.
Bei ProGraM stehen die künstlerischen Ambitionen der Sprayer erst mal
im Hintergrund. „Wenn ich eine Wand
besitze und die gerne weiß habe, dann
ist es auch eine Sachbeschädigung,
wenn Picasso draufmalt“, meint Sozialpädagoge Robert Lehmann. Er spricht
mit den Jugendlichen über das Wie und
Foto: Julia Riggenmann
Warum ihrer Taten und handelt für sie
Vergleiche mit den Geschädigten aus.
Das führt nicht selten dazu, dass sich
der Ersttäter mit Pinsel und weißer
Wandfarbe auf den Weg macht, um
seine „Kunstwerke“ wieder säuberlich
zu entfernen.
Einer, der es aus der Illegalität der
Münchner Straßenzüge an die Wände
dieser Welt geschafft hat, ist Loomit.
Der 39-jährige Familienvater hat sich
im Laufe der letzten 24 Jahre zum etablierten und hauptberuflichen Graffitikünstler gesprayt.
Von Sao Paulo bis Moskau: Mittlerweile hat er in über 30 Ländern seine
Spuren hinterlassen und kann mit dem,
was er verdient, seine Familie ernähren.
Für ihn ist Graffiti weder Kunst noch
Zerstörung, sondern einfach ein „Medium, sich selbst im öffentlichen Raum
sichtbar zu machen“.
Der Künstler Wilhelm Mundt formt Abfall zu Trashstones
Mittlerweile sind die Klebebandrollen
warm genug. Mit den Zähnen reißt er
lange Streifen ab, umwickelt hektisch,
wie wild geworden, sein Gebilde. Das
Objekt wächst wie aus eigener Kraft:
„Es soll eine objektive Form annehmen,
die sich aus dem Inhalt ergibt.“
Indem Wilhelm Mundt den Müll
zur Kunst erhebt, gibt er ihm einen
Wert und setzt ihn hinein in die Öffentlichkeit. Damit übernimmt er nicht
nur Verantwortung für seinen Müll, er
akzeptiert ihn als Teil des Lebens. Ein
Kreislauf aus Verbrauchen und Recyceln, aus Erfahren und Erinnern. „Ich
will nichts davon verstecken.“
In den nächsten Stunden und Tagen
wird er sein Werk mit vielen Schichten
aus glasfaserverstärktem Kunststoff
umwickeln, bis den Müll eine dicke
Haut umgibt. Jede dieser Hautschichten
bestreicht er mit Härter und Gelpolyester und färbt sie ein. Anschließend
schleift er das Objekt und bringt so die
Farben der unterschiedlichen Schichten
an manchen Stellen wieder zu Tage. So,
als wäre die Schleifmaschine sein Pinsel.
Am Ende poliert er das Gebilde mit
Wachs. Wilhelm Mundts Kunstwerke
sind amorphe, wie von Wasser und Sand
glatt geschliffene Edelsteine. Er nennt
sie „Trashstones“.
In mutig grellen Farben, hin und
wieder mit flüssigem Metall überzogen, manchmal auch langweilig grau,
liegen sie auf vielen Böden von Ga-
lerien und Ausstellungsräumen in
Appenzell, Köln und Miami. Manche
sind so groß wie Medizinbälle, andere
könnte man mit den Armen nicht umfassen. Über 300 „Trashstones“ hat er
seit 1989 produziert. Einer kostet um
die tausend Euro.
Wilhelm Mundts staubiger und zugiger Arbeitsplatz erzählt von seinem
tiefen Bedürfnis, zu verschmutzen und
zu sammeln. Im Stall stapeln sich in den
Regalen bis unter die meterhohe Decke
Fässer, Kisten, aufgewickelte Schläuche
und Sperrmüll. Man traut diesem Ort
nicht zu, dass er so reine, glänzende Objekte hervorbringt, glaubt kaum, dass
Müll ästhetisch werden kann. So ästhetisch, dass er auch fein genug ist, um im
Salon eines Kreuzfahrtschiffs durch die
Karibik zu schippern.
Wilhelm Mundt will das Problem
Abfall zur Vordertür hinaus schaffen,
aber am Ende versteckt er es doch. Die
saubere Fassade der Trashstones lenkt
ab vom schmutzigen Inhalt, verfremdet
ihn nicht, sondern beschönigt, bagatellisiert ihn. Ein Problem, verschwunden
in einer gefälligen Hülle. Doch vielleicht
steckt gerade in diesen Widersprüchen
die Kraft, die den Müll zurück an die
Oberfläche treibt.
Manchmal wünscht sich das auch
Wilhelm Mundt: „Seit ein paar Tagen
fehlen meine Schlüssel.“ Wahrscheinlich sind auch sie im Innern eines Trashstones verschwunden.
..
zwolf
v
der letzte dreck
Angeschwärzt
Tausche Brötchen gegen Semmel – aber was mache ich am Rußigen Freitag?
Hannah Lau
Chefredaktion
Von Patrick Lerch
Eichstätt – Was haben Torsten
Frings, Miroslav Klose und Patrick
Lerch gemeinsam? Na?! – Dass sie
alle in die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gehören, ist nur teilSebastian Wieschowski weise richtig. Korrekt ist, dass sie alle
Cheflayout
von Bremen nach Bayern gewechselt
sind. Mit dem Auslands-Krankenschein in der Tasche wagten die Stars
und ich den Schritt vom hoch zivilisierten Norden in den … ähm …
hoch zivilisierten Süden. Dorthin,
wo Mann sich eine Watschn einfängt,
statt Kurze Stamperl trinkt und der
Spaß zur Gaudi wird.
Laura Beck
Die Sprachbarriere ist derweil gar
Cheflayout
nicht so hoch wie befürchtet. Doch
einmal erwischen mich meine süddeutschen Kommilitonen eiskalt:
Der „Rußige Freitag“ steht unmittelbar bevor. Der bitte was?! Das klingt
noch nicht einmal bayerisch. Ich steh
da wie der Pudel im Regen…
Mit dem Einfühlungsvermögen
Ali Atabi
eines Einarmigen Banditen kündiBildredaktion
gen sie mir an, dass ich noch früh genug erfahren werde, was es mit dem
„Rußigen Freitag“ auf sich hat. Das
Ganze ist mir reichlich unangenehm.
Nicht, dass dann im Mondschein ein
maskierter Mann in Leggins und
Umhang auf dem Dach des Rathauses steht und alle Bürger, die es
Julia Lösch
wagen sollten, ihr Haus zu verlassen,
Bildredaktion
mit einer Rußkanone abschießt. Ich
will es wissen, bevor es zu spät ist.
Doch auch meine kulturelle Bezugsperson, der Basti aus SchleswigHolstein, kann mir nicht weiterhelfen: „Dat weet ick ni. Hebbt wi bi
uns to Huus ni. Wat shall ick domit?“
Das wüsste ich auch gerne. Also: Ab
Steffen Armbruster
Seitenlayout
Nico Brugger
Textredaktion
Julia Kuhbandner
Textredaktion
Michael Mann
Schlussredaktion
Rebecca Myga
Seitenlayout
anderen Schülern damit einen Strich
ins Gesicht gezogen.“ Na, dann nichts
wie ab in die Schule.
Doch schon
der erste Bub
hebt überfordert die
Schultern. Ein
anderer
kennt
sich aus:
„Man zündet einen
Korken an
und malt
anderen
Striche
ins Gesicht.“
N u r
sagt er
nichts
vom
G e fäß voll
Asche
und sie rußen auch eher
in ihrer Freizeit
– nicht in der
Schule. „Das
ist bei uns jetzt
eigentlich verboten“, jammert
ein Madl. Obwohl sie sich nur
gegenseitig die
Nase schwärzen und andere
nicht ärgern
wollen. Also
tun
sie es, „wenn die
Lehrer
es nicht sehen“.
Und wie verstecken sie dann die Unreinheiten im Gesicht? Sie toben sich
jedenfalls sowohl in der Schule als
auch auf der Straße aus. Und was
es mit dem Anschwärzen auf sich
hat, wissen sie auch nicht. Ich bin
verwirrt.
Also bleibt nur noch der Weg an
die Eichstätter Uni – zum Lehrstuhl
für Volkskunde. Der Brauch habe
sich heutzutage tatsächlich fast ausschließlich auf die Schulen verlagert,
weiß Professorin Angela Treiber.
Der Korken dient dabei nur der „geordneten Wildheit“, damit am Ende
des Tages nicht das ganze Gebäude schwarz ist. „Bräuche, deren ursprüngliche Bedeutung mit der Zeit
immer mehr verschleiert wurde, gehen in Kinderhände über“, sagt sie.
Es mache ja Spaß und die Kinder
knüpften so auch Kontakte. „Unterschwellig hat das schon was mit Erotik zu tun, mit ersten sexuellen Anbandlungen.“ In der Schule?! Aber
es ist tatsächlich historisch bedingt:
„Aus barocken Volkspredigten wissen wir, dass der Ruß als Bild der sexuellen Befleckung geläufig war und
in Zusammenhang mit sexueller Unzucht gebracht wurde. Es ging also
um den rußenden, beschmutzenden
Narren, der sich der Fleischeslust
hingab.“ Die christliche Interpretation eines lasterhaften Lebens.
Ja, do legst di nieda! Interessant,
was hinter solch einem Brauch stecken kann. Ich bin jetzt jedenfalls
gewappnet: Bevor ich am „Rußigen
Freitag“ das Haus verlasse, werde ich
die Oberfläche eines Lotusblattes abschaben und mir das Gesicht damit
eincremen. So bleibt der Schmutz
nicht im Gesicht haften. Bei mir
steht eben hinterm großen Pa immer
noch ein kleiner trick…
Den Kehraus gemacht
Wenn die Disko-Nacht vorbei ist, wird die Bardame zur Putzfrau
Von Rebecca Myga
Stefanie Heiß
Seitenlayout
auf die Straße. Der gemeine Bayer
muss es doch wissen.
Die erste Frau, die ich anspreche,
klärt mich auf, dass der„Rußige Freitag“ derjenige nach dem Unsinnigen
Donnerstag – auch Weiberfasching
genannt – und vor dem Rosenmontag ist. Aber warum heißt
er denn „Rußiger Freitag“?
„Das weiß ich nicht. Bin aber
auch eigentlich aus Berlin.“
Dit find ick jut – hilft mir
aber leider nicht weiter. Die
nächste Passantin weiß
mehr: „Man nimmt da
Ruß und beschmiert
andere. Oder mit
Schuhcreme oder
irgendetwas
Schwarzem.“
Doch
was ich nun
von einem
Herren
erfahre, lässt
mich stutzig
werden: „Man
sollte als Mann
am Rußigen lieber
zuhause bleiben oder
auf alles gefasst sein!“
Heißt das, der Tag ist
quasi die Verlängerung für
Frauen, die sich am Unsinnigen
Donnerstag mit dem Krawattenabschneiden noch nicht genug
ausgetobt haben?
Die plausibelste Lösung kommt
von einer Frau, die ohne Weiteres die
Gutemiene bei Asterix verkörpern
könnte: „In der Früh standen dann
immer die Schüler mit einem Gefäß
voll Asche und einem Korken am
Eingang der Schule und haben den
Bad Laasphe – Vor einer Stunde
hat Diskochefin Marita Schneider die
letzten Partygäste aus dem großen Saal
geschoben. Jetzt, um fünf Uhr morgens, beginnt das Aufräumen nach
der großen Sause. Während draußen
im Foyer der Bad Laaspher Diskothek
„Connection“ noch immer etwa 30
betrunkene Jugendliche ausgelassen
grölen, kratzen drinnen im Hauptsaal
Katrin, Milena und ein Dutzend weitere Studentinnen, die hier als Thekenbedienungen arbeiten, mühsam
mit Schaufeln zerknüllte Zigarettenschachteln, Dosen, zerbrochene Gläser und Unmengen von Zigarettenstummeln vom klebrigen Boden.
Marita Schneider und Michael Kunze, der sich als „linke Hand“ der Chefin vorstellt, achten streng darauf, dass
die jungen Frauen den Müll trennen,
denn das spart Geld.
Diana Pfister
Textredaktion
„Früher haben die Bedienungen
alles von der Theke runter auf den
Boden gepfeffert. Da mussten sich
dann die Putzfrauen drum kümmern“, erzählt Michael. „Dann haben
wir eingeführt, dass die Arbeitskräfte
ihren Bereich besenrein übergeben.“
Dafür, so denkt Michael, seien die
studentischen Aushilfskräfte auch
dankbar. „Zum einen können sie so
mehr Stunden abrechnen und andererseits können sie in aller Ruhe den
Tag noch mal Revue passieren lassen.“ Katrin, die Thekenbedienung,
sieht das anders: „Also, einerseits
ist es natürlich unfair, dass die Putzfrauen alles alleine machen, aber wofür sind sie denn da? Wir sind nach
acht Stunden Stress echt fertig und
wollen nur noch ins Bett. Auf die
paar Euro mehr kann ich eigentlich
auch verzichten.“
Weiter geht es zu den Toiletten,
vorbei an ein paar jungen Männern,
Lounelle Pfister
Redaktionsassistenz
die im Gang stehen und sich schwankend und mit müdem Blick an ihr
letztes Bier klammern.
Kurti (51), der Klomann, der seit
einem Jahr in der Diskothek arbeitet,
hat seine Arbeit für diesen Tag erledigt und sich wieder einmal gewundert: „Also, was die Frauen mit dem
vielen Papier machen, hab ich bis
heut noch nicht verstanden.“ Kurti ist Kummer gewohnt: „Ich muss
auch zwischendurch immer mal wieder ran, wenn es jemand nicht bis
zum Klo geschafft hat und alles vollbricht“, erzählt er.
Das Putzen stört ihn nicht – „zuhause putze ich ja auch selbst“ –
trotzdem hätte er schon lieber einen
besseren Job: „Aber was den Beruf
angeht, darf man heutzutage nicht
wählerisch sein, vor allem in meinem
Alter. Und wenn ich dann morgens
richtig saubermache und ein Handy
im Klo finde oder, wie neulich, Da-
Julia Riggenmann
Seitenlayout
Katharina Scholz
Textredaktion
menstrümpfe über der Klotür, dann
muss ich doch lachen.“
Inzwischen ist es fast sechs Uhr.
Die Mädchen fegen und schrubben,
was das Zeug hält. 1 500 Quadratmeter Boden, auf dem knapp tausend
Besucher ihre Spuren hinterlassen
haben – das bedeutet eine Menge zusätzliche Arbeit für die Studentinnen,
denn im Moment ist das Putzehepaar
im Urlaub und die Mädchen müssen
jetzt auch noch den Boden wischen.
„Das nervt schon. Gott sei Dank
ist es bald vorbei“, sagt Katrin mit
einem Seufzen in ihrer Stimme.
Kurz nach sechs Uhr. Die jungen
Frauen schleichen mit müden Gesichtern durch die Säle und schieben
die feuchten Mopps über den Boden.
Draußen im Foyer stehen noch immer zehn Jungs und grölen. Michael,
die linke Hand der Chefin, hört es
nur gedämpft: Er sitzt im Kassenhäuschen und zählt das Geld.
Katharina Steuckart
Seitenlayout
Andreas Nefzger
Chefredaktion
Anita Hirschbeck
Cheflayout
Julia Haug
Cheflayout
Tanja Limmer
Bildredaktion
Katrin Krauß
Koordination
Christina Back
Seitenlayout
Thomas v. Eichhorn
Schlussredaktion
Nina Kerker
Seitenlayout
Patrick Lerch
Schlussredaktion
Ulrike Müller
Schlussredaktion
Christian Wiesbacher
Textredaktion