Carroll Dunham

Transcription

Carroll Dunham
05
006003
190171
4
6 EURO
DAS FOTOARCHIV
DES DANIEL BLAU
GENERATION
BASELITZ
SOTHEBY'S, DER MARKT,
DIE KRISE UND ICH
HERZOG WÜRTTEMBERG
DIE GNADE DER
FRÜHEN GEBURT
HAROLD ANCART
SOMMER 2016
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 12
Carroll
Dunham
AUFTAKT
TO BREAK THE RULES,
YOU MUST FIRST MASTER
THEM.
DAS VALLÉE DE JOUX: SEIT JAHRTAUSENDEN WURDE
DIESES TAL IM SCHWEIZER JURAGEBIRGE VON
SEINEM RAUEN UND UNERBITTLICHEN KLIMA
G E P R Ä G T. S E I T 1 8 7 5 I S T E S D I E H E I M AT V O N
AUDEMARS PIGUET, IM DORF LE BRASSUS. DIE
ERSTEN UHRMACHER LEBTEN HIER IM EINKLANG MIT
D E M R H Y T H M U S D E R N AT U R U N D S T R E B T E N
DANACH, DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS
DURCH IHRE KOMPLEXEN MECHANISCHEN
MEISTER WERKE ZU ENTSCHLÜSSELN. DIESER
PIONIERGEIST INSPIRIERT UNS AUCH HEUTE NOCH,
DIE REGELN DER FEINEN UHRMACHERKUNST STETS
ZU HINTERFRAGEN.
ROYAL OAK
CHRONOGRAPH
„So wie man von
der Kunst immer
wieder gefordert
wird, auch Abseitiges,
sogar Abstoßendes
auszuhalten, so muss
auch das Gegenteil
möglich sein:
aushalten, dass etwas
auf den ersten
Blick schön ist“
Noch keine Titelgeschichte war innerhalb der Redaktion so umstritten wie
die der aktuellen Ausgabe. Als ich das
erste Mal in die Runde warf, man müsse dringend ein Porträt über Carroll
Dunham bringen, einen Maler, der
mir immer wieder von anderen Malern
empfohlen worden war und dessen
Werk sich mir bislang nicht erschlossen
hatte, war die Reaktion mehr als
verhalten. Eigentlich ist es eines der
schönsten Privilegien eines Chefredakteurs, sich Themen, die man nicht
versteht, erklären zu lassen. Doch
als eine schnelle Google-Bildersuche
auf dem Handy eines Kollegen ergab,
dass unter den ersten fünf Hits
immerhin drei großzügigst gespreizte
Genitalien zu sehen waren, wurde
die Stimmung nicht besser.
Und dann das potenzielle Cover:
eine Rückenansicht vor Meerespanorama, die mich an den klassizistischen
Picasso erinnerte, der sich gerade
vom Kubismus verabschiedete und in
zartesten Schraffuren einen neuen
Frauentyp erfand. Aber leider auch
daran, dass ich noch immer keinen
Sommerurlaub gebucht hatte.
So plastisch malte mir eine Kollegin aus, wie sie das Cover diesen
Sommer über nur umgedreht auf
ihrem Couchtisch liegen haben
würde, dass ich begann, die Aufregung auf den Fakt zu schieben,
dass Dunhams Amazonen ausnahmslos Achselhaare hatten.
Über 30 Jahre nachdem mit Nena
der größte Popstar des Landes die
selbigen im Wind des Zeitgeists hatte
wehen lassen, schien es, so meine
Arbeitshypothese, kaum etwas Verstörenderes zu geben. Eine Hypothese,
die sogleich zusammenbrach, als die
nächste Kollegin verkündete, die
Achselhaare seien noch das Beste an
dem Bild. Selbst der Fakt, dass Carroll
Dunham der Vater der vielleicht
einflussreichsten feministischen Fernsehmacherin unserer Tage ist, schien
die Ablehnung nur zu verstärken.
Doch eines hatten wir von unserem
Art Director gelernt. Als wir die
ersten Ausgaben von BLAU produ-
AUS EDELSTAHL
5
zierten, hatte er immer wieder davon
gesprochen, dass man – Redaktion
wie Leser – lernen müsse, Dinge
auszuhalten. Es konnte also nicht schaden, das potenzielle Cover fertig zu
gestalten und an die Wand zu hängen,
an der jeder auf dem Weg in
die Redaktionsküche vorbei musste.
Als erst der Text von Oliver
Koerner von Gustorf eintraf, der
Dunham in Connecticut besucht hatte,
und dann die High-Res-Bilder ins
Layout eingesetzt wurden, begann sich
die Stimmung zu drehen. So primär
die Geschlechtsorgane auf Dunhams
Bildern, so originär schien manchem
plötzlich die Malerei. Und auch wenn
der Dienstälteste unter uns nach
wiederholter Lektüre des Porträts
bekräftigte, er glaube Dunham letztlich
immer noch kein Wort, begannen
die Ersten, das Cover und vor allem
die Gemälde im Heft auszuhalten,
ja, sogar gut zu finden. Mein Unverständnis kippte in Begeisterung.
Vor allem eines wurde uns bei der
Arbeit an diesem Heft bewusst: So
wie man in der Kunst immer wieder
gefordert wird, Abseitiges oder auf
den ersten Blick Abstoßendes auszuhalten, so muss auch das Gegenteil
möglich sein. Aushalten, dass etwas auf
den ersten Blick schön ist, ja sogar
hübsch. Jahrelang war ich immer wieder auf die Arbeiten des jungen
Belgiers Harold Ancart gestoßen, und
immer hatte sich dieser leichte
Widerstand bei mir geregt. Zu hübsch
fand ich sie, zu dekorativ. Als ich
Ancart dann in seinem New Yorker
Atelier besuchte und ihm von meinen
anfänglichen Problemen mit seinem
Werk erzählte, lachte er. „Yes, they
are pretty“, so Ancart. „But I think they
are pretty great.“ Hässliches könne
großartig sein, offensichtlich Hübsches
jedoch auch. Man müsse, so Ancart,
nur intensiv genug schauen. „Man
muss lernen, es auszuhalten“, sagte
ich. Ancart nickte energisch. Und
wir schauten schweigend in den von
ihm gemalten Sternenhimmel.
CORNELIUS TITTEL
APÉRO
EIN KUNSTMAGAZIN
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
13
ESSAY
Vom Genie
16
NEUES, ALTES, BLAUES
24
BLITZSCHLAG
Marion Ackermann
Nr. 12 / Sommer 2016
CARROLL DUNHAM
Untitled (8/5/14, 8/6/14, 8/8/14),
2014, Wasserfarbenkreide und
Bleistift auf Papier, 76 × 57 cm
30 DICHTER DRAN
Björn Kuhligk
„Ich fühle da gar
keine Verbindung
zwischen Pornografie
und meinem
Nachdenken über
Malerei. Sie hat
nichts damit zu tun,
was ich über die
nackte Menschheit
denke“
31
BEWEGTBILD
Stan Douglas
31
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
Der Honda NSX
32
UM DIE ECKE
Paris
36
HINTERGRUND
Ars Viva
CARROLL DUNHAM
IM ECHTEN LEBEN IST ER VON STARKEN FRAUEN
UMGEBEN. IN SEINER KUNST VON AMAZONEN
MIT SCHLAUCHBOOTGENITALIEN. EIN PORTRÄT
— CARROLL DUNHAM
s. 40
BELLE DE
JOUR
GROSSE LIEBE, JA. ABER AUCH GROSSE KUNST?
VOR 100 JAHREN BEGANN DIE WELTKARRIERE
DER GEORGIA O’KEEFFE
s. 26
KOOL-AID MAN
MAL KÜNSTLER-PHILOSOPH, MAL WILDERER IM
DIGITALEN DSCHUNGEL: AN JON RAFMAN FÜHRT
IN DIESEM SOMMER KEIN WEG VORBEI
S. 20
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: CARROLL DUNHAM Untitled, Feb. 4, 2016 #1, 2016, Monotypie, Wasserfarbe und Bleistift auf Lanaquarellpapier, 111 × 87 cm.
Selbstporträt JON RAFMAN. GEORGIA O’KEEFFE, fotografiert von ALFRED STIEGLITZ, ca. 1920, Silbergelatineprint, 12 × 9 cm
10
„Die wenigen superreichen
Sammler überlegen
sich, ob sie jetzt wirklich
30 oder 40 Millionen
für einen Cy Twombly
ausgeben wollen. Sie
schauen auf ihr Portfolio,
sehen die Ölkrise, ein
schlechtes Investment in
Asien, das nicht um
40 Prozent gewachsen
ist, sondern nur um
14 Prozent“
ENCORE
83 ENCORE
Herzog von Württemberg
88 WERTSACHEN
Was uns gefällt
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 12 / Sommer 2016
92 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
94 BLAU KALENDER
Unsere Termine im Sommer
98 DER AUGENBLICK
Satoru Watanabe
— PHILIPP HERZOG VON
WÜRTTEMBERG
HELDENBILDER
KEIN FOTOGRAF KAM GEORG BASELITZ UND SEINEN
KÜNSTLERFREUNDEN NÄHER ALS DANIEL BLAU.
EIN PORTFOLIO AUS HEROISCHEN ZEITEN
s. 52
Die Papiere, bitte
IN DIESEN LEDERBÄNDEN SCHLUMMERT EINE DER
WICHTIGSTEN SAMMLUNGEN DER WELT.
ZU BESUCH IN DER PARISER FONDATION CUSTODIA
S. 60
DER TRIP
HAROLD ANCART WUSSTE FRÜH, DASS IHN
DAS ZEICHNEN WEIT BRINGEN WÜRDE
s. 66
INHALT
8
Von oben im Uhrzeigersinn: GEORG BASELITZ hinter Scheibenkopf im Atelier Derneburg, 1986, fotografiert von DANIEL BLAU.
Fondation Custodia, Paris. HAROLD ANCART, fotografiert 2016 in New York von GEORDIE WOOD
97 BILDNACHWEISE
Das neue
Vitra Schaudepot.
20.000 Objekte
400 Highlights
200 Designer
200 Jahre
Willkommen
in der Geschichte
des Möbeldesigns!
CONTRIBUTORS
Fabrice HERGOTT
Seit 2006 leitet der Lothringer das
Pariser Musée d’Art Moderne, das
er mit Ausstellungen zur europäischen und amerikanischen Gegenwartskunst zu einem Haus mit
internationaler Strahlkraft gemacht
hat. Hergott ist intimer Kenner der
deutschen Kunst und präsentierte mit Albert Oehlen, den
Skulpturen von Baselitz oder der Schenkung von Michael Werner
zuletzt Schauen, die sich mancher auch hierzulande gewünscht
hätte. Für uns erzählt er zu den Fotos von Daniel Blau die
Geschichte der Künstlergruppe, die sich in den 80er-Jahren um
Georg Baselitz geschart hat. (Seite 52)
LOTTERMANN and
FUENTES
Der Beginn dieser wunderbaren Freundschaft liegt da,
wo immer alles anfängt,
nämlich in der Kindheit.
Später arbeitete Nada Lottermann als Model, Vanessa Fuentes wurde Fotografin. Dann
tauschten sie die Rollen, von da an ging es hin und her. Und
natürlich landen längst auch andere vor ihren Kameras. Dass
auch ein Nichtmodel das Zeug zum Profi hat – vielleicht weil er
als Europa-Chef des Auktionshauses Sotheby’s gewohnt ist, dass
sich die Augen auf ihn richten – zeigte beim BLAU-Shooting
Philipp Herzog von Württemberg. (Seite 83)
Andreas ROSENFELDER
Charles-Eames-Str. 2
Weil am Rhein / Basel
design-museum.de/schaudepot
#schaudepot
#vitradesignmuseum
Vitra
Design
Museum
Ob er ein Plädoyer für die Abschaffung der Ironie schreibt, einen Abgesang auf Ai Weiwei oder eine philosophische Betrachtung der Foltermethoden im neuesten James
Bond, Andreas Rosenfelder schafft
es immer wieder, rasante Gegenwartsdiagnostik vor dem Hintergrund eines hardcoreklassischen Bildungskanons zu betreiben, ohne dabei eine Sekunde
lehrmeisterlich zu wirken. Für seinen Essay über den Geniediskurs in postheroischen Zeiten ließ sich der Feuilletonchef
der Welt von Stefan Zweigs Vorwort zu seinem 1921 verfassten
Buch über Paul Verlaine inspirieren. Und schafft doch locker
den Bogen zur kommenden, vom New Yorker DIS-Kollektiv
kuratierten Berlin Biennale. (Seite 13)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
ARNULF RAINER
EARLY WORKS
1950 – 60
SALZBURG
AUGUST 2016
ROPAC.NET
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), David Dörrast,
Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Karola Handwerker, Claudia Kühne,
Max G. Okupski, Ralph Schüngel
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
Hanno Hauenstein, Björn Kuhligk,
Oliver Koerner von Gustorf,
Fabrice Hergott, Ulf Poschardt,
Andreas Rosenfelder, Marcus Woeller,
Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Lottermann and Fuentes,
Gregory Halpern,
Claudia van Koolwijk, Martina Maffini,
Christian Werner, Geordie Wood
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 12, Sommer (Juni–August) 2016
Verkaufspreis: 6,00 Euro
inkl. 7 % MwSt.
Abonnement und Heftbestellung
Jahresabonnement: 48,00 Euro
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ANZEIGENLEITUNG KUNSTMARKT
Julie Willard
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HERSTELLUNG
Olaf Hopf
DIGITALE VORSTUFE
Image- und AdMediapool
DRUCK
Firmengruppe APPL, appl druck GmbH
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2
vom 01.01.2016. Copyright 2016,
Axel Springer Mediahouse GmbH
PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG
ESSAY
HAUSER & WIRTH
SCHWITTERS MIRÓ ARP
KURATIERT VON DIETER BUCHHART
12. JUNI – 18. SEPTEMBER 2016
LIMMATSTRASSE 270
8005 ZÜRICH
WWW.HAUSERWIRTH.COM
MEHR
NEUROSE
WAGEN
ARTHUR RIMBAUD, Ausschnitt aus dem Gemälde
Un coin de table von Henri Fantin-Latour, 1872
Schon tausendmal ist das
Genie als Klischee
entlarvt worden – oder gleich
als Machttechnik. Jetzt, so
heißt es, regieren nur noch
die Netzwerke. Doch
ein Phantomschmerz bleibt.
Von Andreas Rosenfelder
HANS ARP PAPIER DÉCHIRÉ (DETAIL), 1947 ZERRISSENES PAPIER AUF PAPIER 39 × 35.5 CM STIFTUNG ARP E.V., BERLIN/ROLANDSWERTH © 2016, PROLITTERIS, ZÜRICH
F
alls Sie nach einem Grund suchen, sich
zu erschießen, lesen Sie das Vorwort,
das Stefan Zweig 1921 für sein Buch
über Paul Verlaine schrieb. Es ist eine
Zerstörung. Sie gilt zwar nur Verlaine, der
immerhin zu den größten Dichtern des
19. Jahrhunderts gehört, aber sie überträgt
sich sofort auf jeden, der irgendwann
einmal den Verdacht hatte, auch nur einen
Funken von Genialität in sich zu tragen.
Gleich im ersten Satz räumt Zweig die
heute noch geläufige Annahme aus dem
Weg, Verlaine sei „der erste Bohémien“
gewesen, „ein zynischer Verächter der
Bürgerliteratur, Kraftgenie und Empörer“.
Es folgt auf 16 Seiten ein Zeugnis, das
die gesamte Existenz des französischen
Symbolisten vernichtet, von der frühen
Kindheit, „verzärtelt und verzogen“, bis
zum bitteren Ende mit Gefängnis und
Syphilis, dem vollen Programm. Verlaine
war ein ängstlicher Loser, ein provinzieller
Durchschnittstyp und melancholischer
Langweiler, von kleinbürgerlichen Harmoniebedürfnissen gesteuert und nur aus
Zufall und Schwäche auf die schiefe Bahn
eines Künstlers geraten – im maximalen
Gegensatz zu seinem Freund und Anstifter
Arthur Rimbaud. Der ist für Zweig das
wahre Genie: ein „urkräftiger und dämonischer Mensch“, dessen kompromissloses
Leben ein einziger „Amoklauf gegen das
Schicksal“ war.
Nun ist die wilde Biografie von Arthur
Rimbaud, der schon mit 19 Jahren mit
der Literatur fertig war und als heimatloser
Abenteurer in die Tropen verschwand,
ziemlich schwer nachzuahmen, vor allem
wenn man schon doppelt so alt ist. Wer
nicht größenwahnsinnig ist, wird sich als
Leser dieses existenziellen Vorworts eher
mit Verlaine identifizieren – ohne freilich
bereits ein Werk geschaffen zu haben, das
sich etwa mit den Poèmes saturniens vergleichen ließe. Kurzum: Es ist ein echter
Downer, sich mit dem radikalen Geniebegriff von Stefan Zweig zu konfrontieren –
zumal wenn man weiß, dass der österreichische Schriftsteller, der selbst zur
Depression neigte, sich 1942 in Brasilien
das Leben nahm.
Warum schaut man ihm hier dann
trotzdem so gebannt, ja fast gierig dabei zu,
wie er auf den regungslos am Boden
APÉRO
13
liegenden Paul Verlaine eintritt? Das liegt
daran, dass Zweig zugleich auf einem
Zentralnerv der modernen Subjektivität
herumtrampelt, einem Nerv, der entscheidende Impulse für die kulturelle Produktion
der letzten zweieinhalbtausend Jahre gab
und darüber hinaus in einer dunklen und
unklaren Weise auch heute noch in jeder
Biografie zuckt, die irgendwie zur schöpferischen Tätigkeit drängt – also dazu, in
dieser Welt nicht bloß eine Funktion zu
erfüllen, sondern auch Dinge zu verändern, vielleicht alles zu ändern, vor allem
aber die eigene Existenz und ihre rätselhaften Potenziale auszuschöpfen, anstatt
sich mit dem Anteil am Weltgeschehen zu
begnügen, der einem statistisch zusteht.
Dieser Nerv heißt Genie, und es ist
eigentlich seltsam, dass er immer noch
wehtut, wenn er gereizt wird. Denn eigentlich sollte er schon längst abgetötet sein,
und das nicht nur deshalb, weil man nicht
mehr 17 ist und Dostojewskis Idiot oder
Rainald Goetz’ Irre mit sich herumträgt. Wir
leben in einer postheroischen Zeit, wir
sind ans Internet als ständig verfügbare
Inspirationsquelle angeschlossen und nicht
mehr an jenes unterirdische Myzel, das
sich von Sokrates und seinem berühmten
„Dämon“ aufwärts durch die Geistesgeschichte zog, um die Leben der „Ausnahmemenschen“ und jener, die es werden
wollten, miteinander zu verflechten. Die
„großen Männer“, so hieß das bei den
Alten, und diese Beschreibung bündelt schon
alles, was uns heute lächerlich, unsympathisch und fremd daran erscheint.
Man muss die Argumente nicht mehr
vorbringen, sie sind sattsam bekannt
und durchgesetzt. Schon tausendmal ist das
Genie als Klischee, als soziohistorisches
Konstrukt, als bloßes Narrativ und diskursive Machttechnik entlarvt worden. Doch
auch wenn all das stimmt, bleibt ein innerer
Phantomschmerz zurück, eine Erinnerung
an eine tatsächlich erlebbare Form
der Begeisterung, die sich nicht analytisch
auflösen lässt und die an jenen privaten
„Genius“ erinnert, der jeden römischen
Bürger lebenslang begleitete und vor allem
für die sexuelle Potenz zuständig war.
Es ist dieser klebrige Komplex von
Sexualität, Männlichkeit und Exzess, der
jetzt noch am Geniebegriff haftet, an all den
Anekdoten, die man sich in der Kunstgeschichte von Caravaggio, Picasso und de
Kooning (mit abnehmender Bewunderung)
erzählt. Der Kult um den genialen Künstler, der im Regelfall ein toter, weißer Mann
ist, wirkt wie peinliche, leicht ranzige Folklore. Niemand kommt mehr auf die Idee,
sich zu Zwecken der Profilbildung ein
Ohr abzuschneiden oder im Vollrausch mit
einer eigentlich zu Selbstmordzwecken
erworbenen Pistole um sich zu schießen, so
wie Verlaine es 1873 in Brüssel tat. Nicht
einmal die Heroinüberdosis, die sich der
amerikanische Künstler Dash Snow 2009
in einem New Yorker Hotel in die Venen
schoss, reichte aus, um ihn postum in den
Geniestand zu versetzen. Wer heute noch die
Rolle des von einem unerklärlichen Schaffenstrieb besessenen Monomanen spielt wie
Jonathan Meese, wird bestenfalls belächelt.
Im Smalltalk gilt nach wie vor, was Flaubert
in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze zum
Stichwort „Genie“ notierte: „Immer betonen:
Genie ist eine Neurose.“
as aber ist an die Stelle dieser
geheimnisvollen subjektiven
Instanz getreten? Die Berlin
Biennale, seit ihrer Gründung durch Klaus
Biesenbach im Jahr 1998 eine Art Showroom für das gerade angesagte Paradigma
im Kunstsystem, wird in diesem Jahr
von einem Künstlerkollektiv geführt, das
DIS heißt und in Interviews damit spielt,
eigentlich eine Marketingagentur zu sein,
die keine Marketingagentur sein will. Es
ist der größtmögliche Gegenpol zum
Konzept des genialen Impulsgebers, das
selbst Hans Ulrich Obrist als exzentrischer Starkurator noch verkörperte – wie
überhaupt der Kurator eine Art postmoderne Schwundstufe des klassischen Originalgenies darstellte, nur dass er nicht
mehr aus dem Reichtum innerer Bilder
schöpfte, sondern aus dem auf dem Markt
verfügbaren Material.
Mit DIS, einer Combo junger New
Yorker, ist auch diese Stufe überwunden.
Die Gruppe umgibt sich mit einer aufgeräumten Aura aus Flipcharts, PR-Fotos
und Diagrammen. Es ist die sterile Erotik
des Firmenlofts, die hier den Kitsch der
schöpferischen Subjektivität ersetzt. Damit
fängt die Biennale perfekt den Spirit eines
Kunstsystems ein, das analog zur Internet-
W
industrie auf Netzwerke und Teamwork
setzt, sodass die Produkte scheinbar
urheberlos entstehen. Mit einer Formel,
die Thomas Schatz für das klassische
Studiosystem von Hollywood geprägt hat,
könnte man vom genius of the system sprechen – eigentlich ein Widerspruch, denn der
Schwarm der „Dutzendmenschen“ (Nietzsche), diese „Fabrikware der Natur“
(Schopenhauer) war in der Genieästhetik
immer nur dazu da, um vom Genie
verachtet zu werden und es im Gegenzug
mit Verehrung zu überschütten.
Im Vorwort zu seinen Sternstunden der
Menschheit, 1927 erschienen, schrieb Stefan
Zweig: „Immer sind Millionen Menschen
innerhalb eines Volkes nötig, damit ein
Genius entsteht, immer müssen Millionen
müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine
wahrhaft historische, eine Sternstunde der
Menschheit in Erscheinung tritt.“ Im
Rückblick wirkt dieses Pathos fast absurd,
denn die 20er-Jahre, die uns in ihrer
gesellschaftlichen Rasanz so vertraut vorkommen, erscheinen im Rückblick als
eine einzige kollektive Sternstunde, als
ein Netzwerk hochmoderner Ideen,
Ästhetiken, Kunstformen. Ihre soziologi„Es ist nahezu unmöglich, sche Kulisse war die von Siegfried
Kracauer beschriebene Angestelltenkultur,
ein Genie zu sein oder
die in der Start-up-Welt von heute fast
auch nur eines zu bestimmen. eine Eins-zu-eins-Entsprechung findet.
Ausgerechnet dieses neusachliche, arbeitsDaraus aber zu folgern,
teilige, vor Pluralität nur so wimmelnde
man könne auf die ganze Idee Jahrzehnt feierte die Genialität des Künstlers wie vielleicht kein anderes zuvor.
verzichten und sich ganz
Das ist kein Widerspruch. Der Geniebegriff
, so schrieb Jacob Cahan in
der Prosa der Produktionsseiner Dissertation im Jahr 1911, sei immer
verhältnisse überlassen,
Ausdruck eines „Unzulänglichkeitsbewusstseins“. Er steht für eine energetische
wäre falsch“
Unbekannte, die man niemals wirklich
hat, nach der man sich aber umso stärker
Jetzt gibt es also auch das kreative Subjekt
sehnt. Wer sich für ein Genie hält, der ist
im Dutzend billiger, und man müsste
garantiert keins, so lautet eine Erfahrungsden sympathischen Post-Internet-Künstlern regel. Wer wiederum ein Genie verehrt,
von DIS eigentlich dankbar sein für die
kann ebenfalls keins sein, denn Unterwerendgültige Austreibung des Geniegedankens fung ist ungenial, darauf hat Nietzsche
aus dem Kunstbetrieb, für einen zeitgemäbrutal hingewiesen. Zugleich aber kann, wie
ßen Kunstbegriff, der sich auf smarte Art
Lessing feststellte, „ein Genie nur von
zwischen Corporate Design und Kommueinem Genie entzündet werden“.
s bleibt also vertrackt: Das Genie ist
nikationstheorie durchlaviert und dabei
ein beispielloses Musterbeispiel,
perfekt in eine durchdigitalisierte Welt passt,
ein Vorbild, das man nicht nachahmen
wo der Zugang zu Ideen halt kein Privileg
weniger Auserwählter mehr ist wie in Platons kann. Daraus aber zu folgern, man könne
auf die ganze Idee verzichten und sich
Ideenlehre. Man müsste ihnen dankbar
dafür sein, dass sie mit ihrer ironischen Büro- einfach der Prosa der Produktionsverhältnisse überlassen, wäre ein Irrtum. Auch
philosophie zeigen, wie unnötig der
die postgeniale Ästhetik tut so, als spräche
zornige Aufstand gegen die Arbeitsdisziplin
durch sie etwas hindurch, eine Art höherer
und den Funktionalismus der Moderne
Zeitgeist, der sich seine Gefäße sucht, und
ist, der seit dem Sturm und Drang zu den
seien es vernetzte Arbeitsgruppen. Es mag
Pflichten jedes Kraftgenies gehörte. Man
müsste ihnen dankbar dafür sein, dass man unmöglich sein, ein Genie zu sein. Aber
noch unmöglicher ist es, kein Genie zu sein.
kein Genie mehr sein muss, kein Rimbaud,
kein Verlaine. Keine Syphilis, kein Selbstmord, höchstens ein bisschen ADHS. Man
müsste, aber es funktioniert nicht.
E
APÉRO
14
JUNE 12 TO JULY 23, 2016
JOE BRADLEY
MAAG AREAL
JUNE 12 TO JULY 23, 2016
MARK HANDFORTH
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JUNE 12 TO AUGUST 27, 2016
WALEAD BESHTY
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NEUES, ALTES,
BLAUES
Zeit des
Erwachens
D
üsseldorf bekommt ein neues
Museum. Oder vielmehr: der leicht
heruntergekommene Stadtteil
Flingern. Unweit vom Bahnhof, zwischen
Stickershops, Eckkneipen und arabischen
Friseursalons hat Gil Bronner schon
vor Jahren die alte Glasfabrik entdeckt –
noch bevor sich in der Gegend junge
Galerien und Projekträume ansiedelten.
Auf 1.700 Quadratmetern stellt er
nun Teile seiner Sammlung aus, von der
hauseigenen Kuratorin Katharina Klang
in Themenbereiche gegliedert. Rund
1.400 Werke – eine bunte Mischung mit
Werken von Tomás Saraceno, Alicja
S
FRAUENPOWER
o emphatisch sich seine berühmte
künstlerischen Willen. Anders als er zieht sie
große Welle auch auf dem Papier
sich aber nicht in ihr Holzhaus zurück,
aufbäumt, der japanische Maler
kehrt der Welt nicht den Rücken zu, um zu
Hokusai war eher ein granteliger Workaholic, malen. Sie hat Verpflichtungen, kümmert
der nur seine Bilder im Kopf hatte,
sich um die vom Vater verstoßene kleine
von denen Tausende entstanden sind. Die
blinde Schwester. Muss sich diverser
geniale Verfilmung von Keiichi Hara nach
Avancen erwehren – mal weniger, mal mehr.
Hinako Sugiuras Manga Sarusuberi, die
Doch all diese Handlungswege sind nebenam 16. Juni in die Kinos
sächlich. Miss Hokusai ist
kommt, erzählt die
ein mitreißender AnimaGeschichte seiner Tochter
tionsfilm, den man mit
O-Ei in kurzen Episodem Auge genießt. In den
den – und damit natürlich
schönsten Szenen folgen
auch seine eigene. Man
wir ihrem Federkiel
wird hineingesogen in eine
über das Blatt – oder den
dunkle, harte Alltagswelt
Händen der blinden
im Tokio (damals Edo)
Schwester, wie sie die
um 1814, einer Stadt der
Gesichtszüge des erstaunMythen um Drachen
ten Vaters erkunden.
und Geisterhände. Ein
Und irgendwann steht
Hokusai-Biopic ist der
auch Hokusais Große
Film allerdings nicht. Es
Welle vor Kanagawa auf
ist eine Hommage an
der Leinwand – bedrohdie mutige Miss Hokusai,
lich und doch wunderdie wie ihr Vater durchschön, wie der ganze
Filmplakat und Filmstill (oben) aus
drungen war vom
Film. SWKA
Miss Hokusai
Thyssen-Bornemisza
Art Contemporary—Augarten
17.06.—20.11.16
FRIEDRICH KUNATH I need to sleep, 2015
Kwade, David Shrigley und Johannes
Wohnseifer. Thomas Kiesewetter
baut eine Skulptur aufs Dach, Andreas
Schmitten gestaltet das Museumscafé.
Im Gegensatz zu anderen Sammlermuseen lässt Bronner viel Spielraum für
Sonderprojekte: Die Auftaktausstellung
(26. Juni bis 11. September) von Friedrich
Kunath stellt der Künstler selbst zusammen – und im Herbst zeigt der Kurator
Ory Dessau ein Trio mit Bruce Nauman,
Gregor Schneider und Absalon. Wo
ginge diese Mischung besser als in
Flingern? HO
‫ﻣﺎرﻳﻮ ﮔﺎرﺳﻴﺎ ﺗﻮرس‬
‫اﻏﺎز ﻳﻚ داﺳﺘﺎن‬
KUNSTSCHIFF
V
on diesem Sommer an und
für die kommenden drei Jahre
ist ein weißes Schiff auf
den Flüssen und Seen Berlins und
Brandenburgs unterwegs – mit ungewöhnlicher Fracht: die Lehrmittelsammlung des Berliner Bode Museums und Stücke aus der Wunderkammer des Berliner Privatsammlers
Thomas Olbricht. Die MS John Franklin ist
rund 30 Meter lang. An Bord können
Grundschüler erfahren, was es heißt, sich
dem Wunder des nur oberflächlich chaotischen, hierarchiefreien Sammelns hinzugeben. Sie lernen zu unterscheiden zwischen Naturalia (Affenschädel und Straußenei) und Artificalia (ein geschnitzter
Duftbehälter) oder Scientifica (das Modell
eines Menschenauges). Alles wirklich Wundersame wurde früher unter dem Begriff der
Mirabilia einsortiert. Eine der reichsten
Kunstkammern gehörte Petronella Oortmansde la Court vor mehr als 300 Jahren. Magdalena Sibylle von Preußens Wunderkammer ist legendär – und natürlich das Grüne
Gewölbe von August dem Starken in
Dresden. Auf der MS John Franklin trifft
man auf ein kleines Krokodil, Walfischknochen, Messgeräte, Edelsteine, Elfenbein. Das Programm auf dem Schiff thematisiert aber
auch die Schattenseiten der Sammlerleidenschaft der Europäer,
ihre Raubzüge, von denen sie unter anderem den Perlenthron von
Bamun mitbrachten, der heute im Ethnologischen Museum in Berlin
zu sehen ist. An den Vormittagen wird das Wunderkammerschiff
den Schulen offenstehen. An den Nachmittagen sind alle willkommen. Eine überraschend spielerische Form der Vermittlung, denkt man an die sterile Wunderkammer von
Thomas Olbricht im Me Collectors Room in
Berlin-Mitte. Dort zeigt der Chemiker, Arzt und
Endokrinologe seine Totenköpfe, Naturalien
und wissenschaftlichen Instrumente zusammen
mit Gegenwartskunst. SWKA
Mario García Torres
An Arrival Tale
‫ﻣﺎرﻳﻮﺟﺎرﺳﻴﺎﺗﻮرس‬
‫ﺣﻜﺎﻳﺔ وﺻﻮل ُه‬
TBA21—Augarten
Scherzergasse 1A
1020 Wien
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APÉRO
16
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17
Freier Eintritt
Mi–Do, 12–17 Uhr
Fr–So, 12–19 Uhr
Free admission
Wed–Thu, 12–5pm
Fri–Sun, 12–7pm
Photo: Nik Wheelr / Alamy
APÉRO
KNÜPFKUNST
Könnten Teppiche fl iegen, würde Petra Singh jetzt hoch über den Wolken schweben. Elf
Jahre lag ihre Firma Equator Production brach – nun ist sie zurück. Gegründet 1985
als Produktion für Künstlerteppiche, holte Singh Rosemarie Trockel, Albert Oehlen oder
Walter Dahn ins Boot. Dann erkrankte ihr Mann, mit dem sie den Laden führte. Wenn
sie im August neu startet, wird ein neuer Teppich von Trockel ihr Highlight sein, 18 Monate
lang geknüpft. Gut möglich, dass er fl iegen kann. www.equatorproduction.com GB
U IER
E
N H
Restauratoren sollen Gemälde erhalten,
aber manchmal gehen sie etwas zu weit.
Kandinskys Weißer Punkt aus dem Jahr
1923 war mit einem Firnis überzogen, der
nicht vom Künstler selbst aufgetragen
sein konnte. In Amerika aber war es eine
ORANIENBURGER STRASSE 18 10178 BERLIN
ALEXANDRE
SINGH
THE SCHOOL FOR OBJECTS CRITICIZED AE
APRIL – SEPTEMBER 2016
Damit ging es los: Made in Western Germany von ROSEMARIE TROCKEL, 1989
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KOT’ÁTKOVÁ
The History
of Day
Dreaming,
2015
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der Art
Basel
m Messetrubel
(16.–19.6.) vom
en will, tut das am
davonträumen
besten beim Art Parcours
m. Dessen neuer
im Stadtraum.
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Kurator Samuel
zeigt dort u. a
a.. mit Trisha Baga,
Jim Dine und Tabor Robak
ezug zum Körper.
Arbeiten mit B
Bezug
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Auf die Spitze
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Künstlerin
m alten MarionetKot’átková: Im
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gebaut wurden.
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unserem
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wenn wir träumen?
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Körper
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STELLA
JULI – SEPTEMBER 2016
TREFFEN IM
PARK
ie haben sich nie getroffen, nicht treffen
können: Paul Celan und Anne Frank.
Die eine im vergeblichen Versteck, der andere
auf verzweifelter Flucht. Jetzt sind sie sich doch
einmal nahe. Im Jardin Anne-Frank an der Impasse
Berthaud in Paris, wo am 31. Mai ein Denkmal
für Paul Celan eingeweiht wird. Geschaffen hat es
der Berliner Bildhauer Alexander Polzin. Ein
Figurenpaar,
heute
Figu
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ukrainischen Stadt Czernowitz, wo der Dichter
der Todesfuge und der Fadensonnen 1920 geboren
wurde. Eine forme féminine, stehend, über
drei Meter aufragend, gesichtslos, mit dem
Pfahl, an den sie gebunden scheint, fast
verwachsen. Und eine männliche Figur,
nach hinten gestürzt, mit den Fußspitzen und der Stirn den Boden berührend, den kantigen Körper gespannt,
wie ein erstarrtes Insekt. Bronzene
Klagezeichen, deren Pathos im
stillen Anne-Frank-Garten mächtig
hallt. MÜ
Skulpturenprojekt
zum Gedenken
an Paul Celan von
ALEXANDER
POLZIN
APÉRO
18
WASSILY KANDINSKY
Weißer Punkt (Komposition Nr. 248), 1923
(nach der Restaurierung)
Zeit lang üblich, Bilder aus konservatorischen Gründen mit Kunstharz zu behandeln. Der Schutz lag auf dem Bild wie ein
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als es vom New Yorker GuggenheimMuseum in eine Auktion
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Projekt „Kunst auf
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von Museums
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STERLING
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THE JUNGLE
SEPTEMBER – OKTOBER 2016
LOUISA CLEMENT, ANNA VOGEL,
MORITZ
WEGWERTH
KURATIERT VON ANDREAS GURSKY
SEPTEMBER – OKTOBER 2016
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CINDY SHERMAN, ROSEMARIE TROCKEL
JUNI – AUGUST 2016
HANNE
DARBOVEN
SEPTEMBER – OKTOBER 2016
WWW.SPRUETHMAGERS.COM
PORTRÄT
ES KOMMT HOCH
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s ist schön hier. Ich will gar nicht mehr
weg. Vögel zwitschern, das Lagerfeuer
knistert, ein paar Schritte die Böschung
hinab rauscht ein Bach. Doch als ich von
meinem Holzsessel aufstehen will, geht es
nicht. Ich sitze fest. Um mich das virtuelle
Paradies, aber die Technik versagt. Mein sexy
Avatar ist im Innern eine alte Frau, die
nicht mehr hochkommt. Kool-Aid Man sitzt
neben mir und lacht. „Das ist typisch
Second Life. Es suggeriert eine perfekte Welt,
aber dauernd passieren Fehler – die Plattform ist ja schon 13 Jahre alt. Kaum jemand
weiß, dass es sie noch gibt. In einer
hyperbeschleunigten Welt blicke ich auf
den digitalen Verfall.“
Wer hier spricht, ist der Künstler Jon
Rafman, mit dem ich auf der virtuellen
Plattform zum Interview verabredet bin.
Sein Avatar ist ein riesiger, knallroter,
mit Eiswürfeln bekrönter Comicsaftkrug,
den seit den 70er-Jahren jedes Kind in
Amerika kennt: Kool-Aid Man, das Maskottchen eines Pulvermixgetränks. In bewährter Warhol’scher Manier hat sich Rafman die
Werbeikone stibitzt und sie „Theodore
Hartono“ genannt. Hartono, Adorno: Ein
gewaltiger Kulturpessimismus zieht sich
AVATARE AM FEUER: DER KÜNSTLER UND
DIE AUTORIN IM SECOND LIFE
Jon Rafman watet für uns durch die Untiefen des Internets.
Ob auf der Berlin Biennale, der Manifesta oder im Stedelijk:
Nie war digitaler Morast gefragter als diesen Sommer
APÉRO
20
auch durch Rafmans Werk. Die maroden
Kulissen von Second Life oder Videospielen
wie Max Payne 3 sind für ihn Metaphern für
ein Leben, in dem der Bildschirm echte
Berührung und Nähe ersetzt – durch
kitschige oder postapokalyptische Wunschszenarien, die heute aussehen wie die
Zukunft von gestern.
Rafman spricht von sich als „Flaneur
des Internets“, durch das er in exzessiven,
von Energydrinks begleiteten Sitzungen
streift. Was er findet, setzt er zu Videos wie
Codes of Honor zusammen, in denen ein
trauriger Erzähler durch digitale Stadtlandschaften mäandert und, versetzt mit realen
Aufnahmen, über seine Vergangenheit als
Profigamer sinniert: Seine Spielhalle gibt es
nicht mehr, die Freunde auch nicht – Virtualität und Leben sind eins. Auch A Man
Digging kreist um Erinnerung, der Schauplatz
ist eine Art Second-Life-Friedhof. Es ist, als
hätte jemand die Psyche des Internets kurz
vor dem Abgrund eingefangen.
Second Life ist die Metapher
für ein Leben, in dem
der Bildschirm echte Nähe
ersetzt
„Das Gefühl von Kollaps und Melancholie
gepaart mit einem ironischen Unterton
ist paradigmatisch für unsere Zeit. Meine
Generation wurde in eine Welt ohne
reale Bezugspunkte geboren“, tönt Rafmans
Stimme aus dem Rechner. Alles sei
künstlich konstruiert. Aber niemand begehre
dagegen auf. „Virtuelle Welten spiegeln
diese Stimmung auf eine Weise, die grotesk
und faszinierend zugleich ist. Diese Dichotomie versuche ich wiederzugeben.“ Entfremdung und Sehnsucht des modernen
Menschen nach Verortung: Wenn Rafman,
pardon: Kool-Aid Man, spricht, hat das
den Klang vom Ende einer Ära, die auf
kurzlebige Wahrheiten und sentimentale
Ästhetik setzt. Ganz schön spätromantisch,
könnte man jetzt denken.
lötzlich komme ich vom Stuhl hoch.
Kool-Aid Man schickt mir einen Link,
der mich in die nächste Welt teleportieren soll. Es wuscht, der Bildschirm
wird schwarz, dann stehe ich in einer
offenen Halle am Meer mit wellenförmigem
Dach, Glasgeländern und Buchsbäumen
in Blumenkübeln. Und: Überall Leute! Ich
bin nicht allein! Allerdings sehen sie
ziemlich unsympathisch aus. Sie heißen
„Super Nigger“, „Zombie Killer“ oder
„Baby Carousel“. Irokesenschnitt, Tattoos
und dicke Muskeln sind angesagt, Frauen
mögen es bauchfrei, eine hat sich einen
Teddy an den Arm geschnallt. Sie stehen in
Gruppen, kreisen umeinander. „Hier
werden Vergewaltigungen simuliert“, höre
P
Jon Rafman sieht sich als Entdeckungsreisender.
Auf Online-Plattformen findet er Spiele und
Subkulturen, die schon morgen nicht mehr existieren
APÉRO
21
ich Rafmans Stimme. Doch wo ist KoolAid Man? „Sie haben mich aus dieser Zone
verbannt. In den Netzcommunitys gibt
es ungeschriebene Regeln – wer dagegen
verstößt, fliegt raus. Von mir haben schon
viele gedacht, dass ich mir einen Spaß aus
ihren Fetischen mache.“ Ich bin umzingelt. Super Nigger steht direkt hinter mir,
die Frau mit Teddy chattet mich an …
Zum Glück kann man im Second Life
einfach weglaufen.
etische, Netzcommunitys: Für Rafman
sind Subkulturen der eigentliche
Indikator für die Lethargie unserer Zeit.
Seine neueren Videos Still Life (Betamale)
und Mainsqueeze sind keine nostalgischen
Spaziergänge mehr, sondern wilde, verstörende Assemblagen, für die er in den
hintersten Schubladen des Internets gewühlt
und ein Arsenal libidinöser Skurrilitäten
zutage gefördert hat: Eine Frau streichelt
einem Hummer erst über den Panzer,
um ihn dann genüsslich zu zertreten. Ein
Bodybuilder bringt eine Wassermelone
mit den Innenschenkeln zum Platzen.
Furrys, Menschen in Plüschtierkostümen,
posieren vor der Kamera: Ein gefesselter
Frosch zappelt vergeblich, ein Teddybär
versinkt im Moor. Eine Waschmaschine
zerlegt sich im Schleudergang selbst. In den
Körperöffnungen komabesoffener, mit
Edding verzierter Teenager stecken Gurken
und Pommes Frites. Dazwischen masturbierende Animes. Und immer wieder: bis
zum Erbrechen zugemüllte Zimmer und
Computertastaturen – was alles sagt über
die Existenzen, die sich auf Plattformen
wie 4chan tummeln, wo Rafman solche Bilder
herhat. Unterlegt sind sie mit elektronischen Klängen aus Synthesizer, Handysummen und Arvo-Pärt-Sound. Eine Stimme
aus dem Off sagt Sätze wie: „Wenn du auf
den Bildschirm schaust, könntest du
glauben, in die Ewigkeit zu blicken.“ Hier
ist sie wieder, die Rafman’sche Romantik.
Das Unheimliche: Realität und Virtualität
verschwimmen. Die Dinge und Darsteller
gibt es wirklich, aber greifbar sind sie
nur online. „Im Netz trifft man auf endlose
Schichten von Subkulturen. Viele
sind schon verschwunden, wenn man sie
entdeckt hat.“ Wenn es stimmt, wie die angesagte
Philosophieströmung Spekulativer Realismus
behauptet, und die Dinge um uns herum
auch ohne unser Denken existieren,
dann erstarren wir bald gänzlich vor unseren
Laptops, während sich das Leben in
traurigen Avataren, tanzenden Teddys und
verdreckten Tastaturen abspielt. Jon
Rafman denkt dabei an das Endzeitgefühl
der Décadence, an Joris-Karl Huysmans’
Gegen den Strich, dessen Hauptfigur Des
Esseintes sein Haus in eine totale Kunstwelt verwandelt, um den Niedergang da
draußen nicht ertragen zu müssen. Walter
Benjamins Passagen-Werk ist eine weitere
Referenz: Auch er lasse seinen Blick über
die kommerzialisierte Welt und die
Menschen an deren Rändern streifen, sagt
Rafman. „Aber ich moralisiere nicht.
Ich versuche nur zu verstehen, was ihr Verhalten über unsere heutige Welt aussagt.
Wie hält uns die Technologie gefangen und
wie verändert sie unsere Realitätswahrnehmung?“ Rafman kritisiert die Massenkultur Internet, aber er zelebriert sie
auch – als Tanz auf dem Vulkan, der allerlei
Freiheiten bietet. „Wir sind an einem
Punkt, an dem wir unsere eigenen Albträume
feiern. Frühere Generationen hätten
gesagt: Fuck the system. Aber das geht nicht
mehr. Wir sind unsere eigenen Unterdrücker. Wir haben die Welt, in der wir festsitzen, selbst gebaut.“
och wie fest sitzt Rafman eigentlich
selbst darin? Ist er auch so ein
pickeliger Nerd, der in den Achtzigern
lieber mit dem Joystick hantierte als mit
dem Tennisschläger? Der rote Saftkrug lacht.
Wir sitzen wieder am Feuer, Vögel zwitschern, der Bach rauscht. Klar haben ihn
Computerspiele geprägt. Doch studiert
hat Rafman – geboren 1981 in Montreal, wo
er immer noch lebt – Literatur und Philosophie. Dann wechselte er zum Film, drehte
schon damals mit found footage. Doch er
war auf der Suche nach Austausch. Im Film
fand er ihn nicht – dafür bei Künstlern,
die man heute unter dem Begriff „Post-Internet“ kennt. „Sie waren alle auf der Plattform Delicious: Daniel Keller von Aids-3D,
Oliver Laric, Aleksandra Domanović.
F
D
Die Psyche des Internets ist unergründlich, Rafman
gibt ihr ein Gesicht. Filme wie Mainsqueeze (2014),
Sticky Drama (2015), Still Life (Betamale) (2013), A Man
Digging (2013) und Codes of Honor (2011) kreisen
um Erinnerung, Zeit und Datenverlust
APÉRO
22
Zusammen hatten wir ein Ziel – den gesellschaftlichen Wandel durch das Internet
mit Kunst auszudrücken.“ Das war 2008.
Damals begann Rafman auch sein Mammutprojekt, den Blog 9Eyes. Dort postet er
Google-Street-View-Fotos, die aussehen,
als kämen sie direkt aus der Datenbank des
NSA oder einem David-Lynch-Setting:
Vermummte Männer zerren eine Frau aus
dem Haus, ein Tiger überquert eine Landstraße, die Sonne bricht sich im Waldgeäst.
Die neun Kameras auf dem Google-Auto
fangen diese Momente ein, ohne dass ein
Mensch dahinter sitzt. Ganze Nächte
verbringt Rafman mit der Suche nach solchen
Trophäen. Er spricht von Street Photography – und klingt ein bisschen wie ein
digitalzeitlicher Bourgeois, der im Onlinedschungel auf Großwildjagd geht.
„Frühere Generationen
hätten gesagt: Fuck the
system. Aber wir haben die
Welt, in der wir festsitzen,
selbst gebaut“
Doch genau mit dieser übersteigerten
Mischung aus bildungsbürgerlichem Überbau
und Internet-Trash ist Rafmans Kunst
geradezu aberwitzig zeitgenössisch. In einer
Welt, die nichts mehr manifestiert, in der
Erinnerungen und Beziehungen schneller
gelöscht werden als Facebook-Profile,
spiegeln Kitsch und Romantik, Ekel und
Erhabenheit das Bedürfnis nach realen
Empfindungen. Wie sehr das Netz uns diese
vorgaukelt, zeigt Rafman in seinen Ausstellungen: Dort verschraubt er die Filme, die
man sonst einfach auf seiner Website
abrufen kann, mit engen Sperrholzcockpits,
flauschigen Hugsofas und Bällebädern.
Besucher hängen darin fest wie sonst nur
vor dem Bildschirm – oder auf einem
Holzsessel in Second Life.
TEXT: GESINE BORCHERDT
JON RAFMAN NIMMT AN DER 9. BERLIN
BIENNALE (4. 6. – 18. 9.), DER MANIFESTA (11. 6. – 18. 9.)
UND DER GRUPPENAUSSTELLUNG WELT AM
DRAHT IN DER JULIA STOSCHEK COLLECTION IN
BERLIN (2. 6. – 18. 9.) TEIL. DAS STEDELIJK MUSEUM
AMSTERDAM ZEIGT BIS ZUM 14. AUGUST EINE
EINZELAUSSTELLUNG
Der Blog 9Eyes ist Jon Rafmans erstes, seit 2008 fortlaufendes Projekt, das ihn über den
Kunstbetrieb hinaus berühmt machte. In endlosen, oft von Energydrinks begleiteten Sitzungen sucht
er Aufnahmen bei Google Maps heraus, die von den neun Kameras des Google-Autos automatisch
geschossen wurden: Bilder des Alltags, für jeden abrufbar. Man muss sie nur finden
APÉRO
23
BLITZSCHLAG
„MAN FINDET
KEINEN HALT“
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern. Marion
Ackermann über Goyas
Hund und die
eine Mutter hat die
Liebe zur Kunst
Kraft der
in mir geweckt. Sie
war 15, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Ihre Familie, Dunkelheit
M
eigentlich sehr wohlhabend,
wurde ausgebombt. Ihr blieb
nichts – nichts Materielles.
Meine Mutter hat mir erzählt,
wie sie nach diesem Verlust
die ersten Bilder gesehen hat –
sie hatten plötzlich eine existenzielle Dimension. Sie traten an
die leere Stelle. Diesen Augenblick, den sie immer und immer
wieder beschrieb, trage ich
als Impuls in mir. Mit Anfang
zwanzig bin ich dann allein
nach Spanien zum Prado gereist.
In der Erinnerung bin ich
durch einen Nebenflur gelaufen.
Es war definitiv kein zentraler
Raum. Und da sah ich Goyas
Hund. Der sofort erkennbare
realistische Kopf eines Hundes
sieht verloren in eine braune
Farbfläche. Ich bin drei Tage
geblieben statt wie geplant
drei Stunden – und zu dem Bild
zurückgekehrt. Ich weiß natürlich, wie berühmt und unbestritten großartig das Motiv ist.
Aber das Motiv hat mich ganz
persönlich erschüttert. Den
Hund hat Goya auf die Wände
MARION ACKERMANN, die neue Direktorin der Kunstsammlungen Dresden,
fotografiert von CLAUDIA VAN KOOLWIJK
seines Privathauses gemalt, in
dem er zurückgezogen lebte.
Damals schon nach einer Krankheit taub, haderte er mit der
politischen Situation, malte die
berühmten Pinturas negras, seine
Schwarzen Bilder. Als ich damals im
Prado war, galt der Hund noch
als „unvollendet“ – heute wissen
wir es besser. Das Bild war
genau so gemeint. Ich fühle noch
heute diesen Zustand: Ich
konnte es nicht fassen. Heute
verbinde ich die Erinnerung
an diesen Augenblick auch mit
Hugo von Hofmannsthal: „Was
ist der Mensch, dass er Pläne
macht?“ Es ist die Allegorie des
Menschen, zurückgeworfen
auf sich selbst. Das Bild ist viel
radikaler als Caspar David
Friedrichs Mönch am Meer. Es
sind gar keine Anhaltspunkte
mehr da – und das malt jemand
im Jahr 1820! Das Köpfchen
ist nur noch ein Scharnierstück
zwischen der Figuration und der
Fläche. Wie ein letzter Anker.
Von Goya kennen wir ja eigentlich, dass sich Verdichtungen im
Malerischen finden, Figuren
auftauchen. Auf diesem Bild
ist nichts zu erkennen – außer
dem Hundekopf. Es herrscht
eine grenzenlose Offenheit.
Man rutscht hinein, findet
keinen Halt. Das Tier hat mich
für mein Leben an die Malerei
gefesselt. Es endet nie. Dieses
Geheimnis, das nur das
Malerische transportiert, das
nur Malerei auslösen kann –
nichts anderes. Ich habe
später viel Paul Celan gelesen.
Der Germanist Albrecht
Schöne, mein Lehrer an
der Universität, sprach immer
vom „Mehrwert des Dunklen“. Diese existenzielle,
ja politische Dimension ist zu
meinem Lebensprinzip
geworden.
APÉRO
24
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London 28. & 29. Juni 2016
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Der Hund, 1820–23
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SOTHEBYS.COM/CONTEMPORARY
© THE ARTIST AND GALERIE JUDIN, BERLIN (FOTO: KATRIN HAMMER)
hat sie ihre erste Einzelausstellung bei ihm. Da sind sie längst
ein Paar.
Sie gerade 30, madonnenschön, lange Haare, offenes
Hemd, die Hände so gefaltet,
dass man sieht, wie sie mitspielen, den Körper nicht zu
schützen brauchen. Er über 50,
Zwicker auf der gebogenen
Nase, Schnauzer, wilder Haarschopf und ein Scheitel wie
ein Graben. Als sie beschließt,
nach New York zu ziehen,
schreibt er: „Was ich sagen sollte,
Liebste, du bedeutest mir
so viel, dass du nicht in meine
Nähe zu kommen brauchst.“
Georgia O’Keeffe kommt doch.
Und geht immer wieder. Alfred
Stieglitz trennt sich von seiner
ersten Frau. Sie heiraten. Sie
HINTERGRUND
DAS SPEKTAKEL VERLETZTER
INTIMITÄT
Zwischen Ikone und Kalenderblatt: Vor genau hundert Jahren
begann Georgia O’Keeffes Liebe – und ihre Karriere gleich mit.
Jetzt widmet die Londoner Tate ihr eine große Retrospektive
G
eorgia an Alfred. Alfred
an Georgia. Kaum ein
Tag, an dem sie sich nicht
schreiben. Dreißig Jahre von
1916 bis 1946. 25.000 Seiten
Briefroman. „Ich fang’ an,
dich so sehr zu lieben, dass es
mich manchmal erschreckt.“
Schreibt sie. Und er: „Alles, was
ich möchte, ist dieses Wunder
zu erhalten, das so rein zwischen
uns existiert.“ Rein, schreibt er,
und hat lauter unreine Gedanken
im Kopf. Wird aus ihrer Amour
fou ein erotisches Bilderbuch
machen, wie es kein zweites gibt.
Georgia O’Keeffe, Farmerstochter aus Wisconsin. Malerin,
Kunstlehrerin. Sucht noch ein
wenig. Lädt fast behutsam das
Gepäck ab, das ihr das akademische 19. Jahrhundert mit
seinem formelhaft gewordenen
Realismus aufgebürdet hat.
Stück um Stück, ganz ohne
Amazonenstrenge. Abonniert
Camera Work, die legendäre
Zeitschrift, die der Fotopionier
Alfred Stieglitz seit 1903 in
New York herausgibt. Die Hefte
APÉRO
26
sind zugleich Ausstellungskataloge seiner Galerie 291 in
der Fifth Avenue, wo er das
verwunderte amerikanische
Publikum mit Cézanne, Matisse
und Picasso bekannt macht.
Eine Studienkollegin, Anita
Pollitzer, macht Stieglitz auf
O’Keeffes Kohlezeichnungen
aufmerksam. Im April 1917
Ihr Nachruhm ist
unlösbar verbunden
mit den Fotografien,
die Alfred Stieglitz
von ihr machte
werden sich fremd. Sie schreiben
sich immer noch. Wer schreibt,
lebt, auch wenn die Liebe schon
beschädigt ist. Wir wissen es
von Tolstois Anna Karenina, von
Prousts Suche nach der verlorenen
Zeit. Schreiben ist Formerzwingung, wenn die Liebe immer
unförmiger wird, bis sie vergeht.
Nur die Kunst vergeht
nicht. Sie tritt auf, sie tritt nicht
ab, sie bläht sich zur Geschichte
ohne Anfang und ohne Ende.
Kunstgeschichte ist die
Geschichte der Kunst und mehr
noch die Geschichte der Künstler. Es gibt Namen, die überstrahlen alle Erinnerungen an
Bilder und Werke. Hätte einer
nie etwas von Picasso gesehen,
er wüsste doch alles über das
„Genie“ des 20. Jahrhunderts
und sein maskulines Schöpfer-
ALFRED STIEGLITZ: GEORGIA O’KEEFE, 1927, SILBERGELATINEPRINT, 12 × 9 CM
Auftaktseite: SKY ABOVE CLOUDS III, 1963, ÖL AUF LEINWAND, 122 × 213 CM
tum. Und gäbe es keinen Museumsshop mit all den Postkarten
aus dem Bilderreich der Frida
Kahlo, wir wären doch bestens
informiert über die glücklichen
und die unglücklichen Passionen
der Malerin.
Der Malerin Georgia
O’Keeffe erging es nicht anders.
Ihr Nachruhm ist unlösbar
verbunden mit dem Modell, das
sie einmal gewesen war, mit
den Hunderten von Fotoporträts,
die Alfred Stieglitz von seiner
Geliebten und Ehefrau angefertigt hat. Von dieser selbstbewussten Frau, attraktiv mit
leichthin gezeigtem Gefallen an
sich, wunderbar frei auch im
exhibitionistischen Klischee,
APÉRO
27
schön noch im hohen Alter und
ganz offensichtlich nie dazu
bereit, die Inszenierung vor der
Kamera dem Mann hinter
der Kamera zu überlassen. In
Georgia O’Keeffe, so scheinen
diese Fotos aus dem Leben einer
modernen Frau zu bedeuten,
hat sich ein Traum erfüllt. Der
Traum vom selbstbestimmten
von New Mexico. Wo er den
gezerrt wird. Dass
Menschen in pathetischer
die inzwischen
Vereinzelung zeigt, verzichtet
etwas routinierten
sie nicht weniger pathetisch
Fallbeschreibungen
auf seine Anwesenheit. Es gibt
mehr und mehr
die Trennschärfe für keine Figurenbilder von
dieser Malerin, deren Gesicht,
Eigenarten und
Qualitäten verlieren, deren Hände, deren Körper
so unvergessliche Bildgeschichte
gehört zur feministischen Wiedergutma- geworden sind. Sie hat nur das
gemalt: Kühe, Vögel, Geweihe,
chung, unter der
ein Werk wie das von Schädelknochen, Wegkreuze
mit und ohne Herz, blattlose
Georgia O’Keeffe
eher leidet. Natürlich Bäume, vertrocknetes Holz,
karg bewachsene Ebenen, kahle
darf man fragen,
Hügel. Wolken, Winter, Wege,
warum es einem
Wellen. Menschen nirgendwo.
Maler wie Edward
Dafür Blüten. Blüten,
Hopper gelungen
ist, die volkstümliche gesehen, gemalt mit jener
zudringlichen Neugier, die sich
Americanità so
nachhaltig und gleich- nicht mit der geschlossenen
Natursensation begnügt; die
sam im Alleingang
zu illustrieren. Aber noch mehr will; die sucht
und forscht und begehrt, was
noch aufschlussreicher ist der Blick auf innen, tief drinnen ist. Es ist
allemal indezentes Reinschauen,
Georgia O’Keeffes
was auf diesen Blütenbildern
Werk, in dem sich
stattfindet. Übergriffige Sehlust.
die durch und
Das Spektakel verletzter
durch amerikanisch
JIMSON WEED/WHITE FLOWER NO. I, 1932, ÖLFARBE AUF LEINWAND, 122 × 102 CM
Intimität. Wie Georgia O’Keeffe
sozialisierte BildBlüten gemalt hat, das ist
erfinderin als kaum
Subjekt, das aus Geist und Sinn- Beispiele jener anderen Kunstwie eine Paraphrase auf den
weniger fruchtbar erweist
lichkeit ein stolzes Beispiel
und Künstlerinnengeschichte,
männlichen Blick der Kunstals ihr Kollege.
gibt für den Lebensentwurf
die – Opfer männlicher Erzählgeschichte, auf 2.000 Jahre
Was bei Hopper die
weiblicher Unverfügbarkeit.
hoheit – lange verschwiegen
Aktmalerei.
neuenglische Suburb-,
nd ihre Bilder? Sie
und verdrängt worden ist, nun
Ein konziser BilderkosLeuchtturm- und Küstenlandscheinen anders als Brief
aber überall entdeckt und in
mos wird aus den vielen
schaft ist, das sind bei ihr
und Foto. Und doch
die kunstbetriebliche Kampfzone
Motiven nicht. Ein visuelles
die Canyons und Wüsten
verraten sie vielleicht noch mehr
von jener schönen Selbstbestimmtheit, von der der Mythos
Georgia O’Keeffe erzählt. In
den USA genießt das Werk
Kultstatus. Kaum eines der sich
amerikanisch definierenden
Museen, das nicht größere oder
kleinere Werkgruppen besäße
und sie wie kostbares Nationalgut präsentierte. In Europa
ist die Kunst der Künstlerin viel
weniger bekannt.
Und wenn hier einmal
Bilder zu sehen sind, dann gelten
BLACK HILLS WITH CEDAR, 1942, ÖL AUF LEINWAND, 41 × 76 CM
sie gleich als prominente
Klima schon, eine seltsam
angehaltene Stimmung – als sei
da Malerei noch einmal
angetreten, den Lauf der Dinge
und den Verschleiß der Zeit
und die Beschleunigungen des
Lebens mit ein paar verlässlichen Zauberworten zu bannen.
Immer herrscht große,
erhabene Stille. Und noch die
Wolkenkratzer in Manhattan,
die O’Keeffe in den 20er-Jahren aus der Unterperspektive
gemalt hat, muten an – nicht
wie Symbole einer Welt der
technischen Suprematie, eher
wie Wahrzeichen einer unbewohnten, menschenunbedürftigen Welt.
In solcher immer auch ein
wenig heroischen Leblosigkeit
gedeiht nichts, kann nichts gedeihen. Und tatsächlich hat
sich dieses Werk nie entwickelt,
entfaltet, überboten, korrigiert.
Das Bild von 1916 ist wie das
Bild von 1966, nicht reifer,
nicht weitergeschritten, nicht
eigentlich später. Und wen
solcher Gleichmut befremdet,
der muss sich seiner Irritation
nicht schämen. Es ist schon
auch ein Eindruck der Leere,
wenn die Augen über die Bilder
gleiten, haltlos, wie die Malerin
über ihre Welt zu gleiten
scheint. Über eine Welt, in der
der Blütenkelch neben der
Formfantasie wächst und es in
Wahrheit nur eine Gattung gibt.
alerei als große
Instillsetzung. Aber
eben nicht im
kämpferischen Sinne einer
Moderne, die alles noch einmal
zurück auf Null drehen wollte,
um neu beginnen zu können.
Was Georgia O’Keeffe malt und
wie sie malt, ist wie erstaunte
Anteilnahme an einer abständigen Welt. Es hat gelegentlich
Versuche gegeben, dieses
eigentümliche Werk einzuordnen in die Ikonografie des
M
20. Jahrhunderts, seinen
Sonderplatz zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion,
zwischen Stilisierung und
Figuration mit einem eigenen
Titel zu belegen. Überzeugt
Blüten malt sie mit
zudringlicher Neugier.
Es ist ein indezentes
Reinschauen,
übergriffige Sehlust
hat das nie. Es ist eine Malerei,
die nichts vom Problemfall
Bild im Zeitalter der Avantgarden wissen will, die noch einmal
ganz auf die unzerstörbare Aura
künstlerischen Handelns setzt.
Und sich ansonsten aufs
Schreiben verlässt. 25.000 Seiten.
Georgia an Alfred. Alfred an
Georgia. Und kein Wort je über
Bilder, keinen einzigen Satz
zur Kunst. Oder doch? Im Juli
1929, als schon alles vorbei war
und sie sich noch immer
lange Briefe schrieben, kriegt
Alfred wieder Post: „Es regnet
heute. Bitte lass dein Klagen,
deine Trauer, dein Elend. Wenn
ich mir alles so zu Herzen
nähme, wie du es tust, könnte
ich nicht zur Tür treten und
die Sonne hereinlassen, und ich
könnte nicht fühlen, wie
die Sterne mich im Innersten
berühren, so wie sie draußen
die Hügel bei Nacht berühren.
Ich wollte dir immer zugetan
sein. Aber ich kann es nicht,
wenn ich nicht ich selbst
sein kann. Und ich bin jemand,
der weit hinaus in die Welt
reicht – and kisses you – a very
warm – cool – loving – kiss …“
TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER
GEORGIA O’KEEFFE
TATE MODERN, LONDON
6. JULI BIS 30. OKTOBER
U
AUSSTELLUNG VOM 14. MAI BIS 9. JULI 2016
KANTSTRASSE 149 · 10623 BERLIN · TEL +49 30 310 07 73 · WWW.CAMERAWORK.DE
© NICK BRANDT
APÉRO
28
NICK BRANDT INHERIT THE DUST
DICHTER DRAN
WAS
DER BÄR
SAGT
BEWEGTBILD
NERDY DRIFTER
Sein Fell ist teilbar, seine Rede ist es nicht
der Bär sagt nicht: Ehre der Malerin
denn sie kann nichts dafür, der Bär
Björn
KUHLIGK
ist nicht der letzte zwischen Lager 4
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf
die Bildkunst triff t? Für BLAU
hören Lyriker auf den Klang
der Kunst. Björn Kuhligk, Jahrgang 1975, entzündet Schnee
er sagt, wenn er was sagen könnte:
und dem Gipfel, nicht der letzte seiner Art
Der Gipfel, den ich meine, da ist nie jemand
ich schlafe unter ihm, er geht hinauf
seine Tatzen auf der Klaviatur
der Baum, von Schnee entzündet
Inspiriert von
Tinka Bechert
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
im Grunde ist es nur ein Trick, ein Trick
was weiß denn ich, ich schlafe unter ihm
TINK A BECHERT
Ich möchte ein Eisbär sein, 2012, Acryl auf Leinwand,
70 × 75 cm
APÉRO
30
STAN DOUGLAS über seinen
Lieblingsfilm 2001: Odyssee im
Weltraum
„Eine Sache fasziniert mich besonders an Odyssee im Weltraum: Es wird kaum gesprochen.
Etwa 45 Minuten dauert es, bis
man überhaupt ein paar Worte
hört. Auch die zweite Hälfte des
Films ist fast stumm. Heute gibt
es eine Obsession in Filmen,
dass sich alles um Psychologie
und Gespräche drehen muss.
Das Drehbuch von Stanley Kubrick hat dagegen sicher nicht
mehr als zehn Seiten. Alles andere ist visuell. Heute ist der
Film ein Standardwerk des Science-Fiction-Kinos, er sieht immer noch total frisch aus. Man
könnte meinen, die Darstellung
der Raumfahrt-Technologie hatte Einfluss auf die Art, wie die
NASA seitdem ihre Maschinen
gebaut hat. Ich habe ihn zum
ersten Mal als Achtjähriger im
Kino gesehen. Sechs Mal überredete ich meine Mutter zurückzugehen. Wann immer der Film
auf einem neuen Medium erscheint, kaufe ich ihn – ich besitze ihn auf VHS, Laserdisc, DVD
und Blu-Ray!“
DER
SALZBURGER
KUNSTVEREIN
ZEIGT BIS ZUM
10. JULI DIE
AUSSTELLUNG
THE SECRET
AGENT VON
STAN DOUGLAS
Legende des bizarr Uncharismatischen: Der
Honda NSX ist bezaubernde Verirrung mit einem
Hauch Senna
in der
Abstimmung
Apokryph: Der HONDA NSX
D
er Honda NSX ist
schon deshalb eine Art
heiliges Gefährt, weil
die letzten Feinabstimmungen
von dem Überidol der Petrolheads vorgenommen wurden:
von Ayrton Senna. Das 1994
viel zu früh verstorbene Rennfahrgenie gab dem ein wenig
italienisch und ferrarilike
aussehenden Supersportwagen
aus Japan eine RennstreckenEignung, die dazu führte, dass
dieser Sportwagen (mit zunächst
nur 274 PS) nach seinem
Debüt 1990 eine euphorische
Gefolgschaft fand. Wenn
auch eine eher kleine. Dennoch
wurde der NSX mit wenigen
Aufgüssen bis 2005 weitergebaut, für den Motorsport
sogar noch in kleinen
Dosen bis ins Jahr
2009. 2016 steht ein
Nachfolger in den
Startlöchern. Die
Asiaten haben den
NSX nun zum
Comeback in eine
2001: Odyssee im Weltraum
Ein Film von Stanley Kubrick
Art Genmixer
gesteckt. Von vorn sieht er aus
wie eine Straßenkreuzung
zwischen R8 und i8, ein Oberbayern-Mix von Audi und
BMW, das Heck erinnert an
Aston Martins DB9 und
den kleinen McLaren. Dennoch
streitet sich die globale Elite
der Benzinköpfe schon, wer den
Bastard zuerst in seiner Garage
parken darf: Jay Leno und Jerry
Seinfeld behaupten beide,
den ersten bekommen zu haben.
Warum? Weil der NSX eine
Legende des bizarr Uncharismatischen geworden ist. Japanische
Sportler umgibt eine mythische
Aura, allen voran Rennsemmeln
wie der Nissan Skyline GT-R,
der Datsun 240 Z oder der
Toyota Supra, die bei Nerds und
Driftern in Asien und den
USA große Verehrung genießen.
Der NSX sollte Hondas
Triumphe bei den Grands Prix
dank Ayrton Senna in Verkaufserfolge ummünzen, und so
floss einiges Formel-1-Knowhow in den MittelmotorSechszylinder, der aber auf
APÉRO
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pedantische Art unneurotisch
war. Damit fehlte ihm eine
wichtige Voraussetzung, um von
den PS-Irren ernst genommen
und geliebt zu werden. Die
Proportionen waren exzentrisch
gestreckt, dafür aber hatte der
lange Radstand ein exzellentes
Fahrverhalten zur Folge.
Der alte NSX fuhr sich auf
Landstraßen bequem wie
eine Limousine. Trat man den
V6 aber jenseits der 6.000
Umdrehungen, gab es bis zum
Drehzahlbegrenzer bei
8.000 U/min einen Hauch
Senna-Giftigkeit. Wirklich
durchsetzen konnte sich der
NSX anders als der reizend
wahnsinnige GT-R von Nissan,
der noch heute Porsche-TurboBesitzer und stolze Ferraristi
vor Angst erzittern lässt, nicht.
Kunsthistorisch würde man
von einem apokryphen Werk
des Sportwagenbaus sprechen.
Von einer bezaubernden Verirrung mit einem Hauch Senna
in Fahrwerk und Abstimmung.
ULF POSCHARDT
UM DIE ECKE
LAISSEZ-FAIRE
LINKS: PARIS ERHOLT SICH
ALLMÄHLICH AN DER
SEINE, DIE KÜNSTLERIN
JENNIFER ABESSIRA
(RECHTS) IST AUS ISRAEL
HER- STATT WEGGEZOGEN.
AM CANAL SAINT-MARTIN
(RECHTS UNTEN) IST
DAS LEBEN ZURÜCK, UND
IM CHEZ JANOU (UNTEN
MITTE) WAR ES NIE FORT
PARIS, PLACE DE LA
REPUBLIQUE
Jede Stadt hat ihre
Mikrokosmen, wir stellen
sie vor. Wir schlendern
durch den Jardin Villemin,
entdecken im Hinterhof
den Aufgang zur Galerie
Joseph Tang und verweilen im
Bistro Chez Janou,
als wäre nichts gewesen
D
er Jardin Villemin ist voller verschiedener Gesichter. Die Pariser lieben es, in
der Sonne zu liegen, zumal an einem
Frühlingstag wie diesem, das ist eines der
Dinge, die hier wirklich alle verbindet. Die
Gartenanlage wirkt an diesem Tag wie ein
kleines Festival und ich bin wohl der Einzige,
der hier allein im Gras sitzt. Ich schließe die
Augen, höre auf die Gespräche, eine kakofonische Unruhe ohne Anfangs- und Endpunkt. Der Garten ist ein soziales Biotop,
eine Miniatur, die die Vielstimmigkeit dieser
Stadt zurückwirft wie Licht im Innern einer
gläsernen Kuppel. So wirkt das Paris dieser
Tage wie eine prächtige Glaskuppel, jedoch
beschädigt. Der Bruch ist fast unsichtbar,
zumindest ich erkenne ihn nicht, ich bin wie
geblendet von der Schönheit des Tages. Ich
laufe den Canal Saint-Martin nach unten,
grünlich schimmernd und mit seinen bewachsenen, überbrückten Staustufen wirkt dieser
Ort merkwürdig aus der Zeit gefallen. Sonnenpartikel glitzern im Wasser, Stimmen werden dumpfer. Ich steige eine der Brücken
hoch und laufe von da aus nochmals
kreisförmig wie gelenkt auf die
andere Seite. Überhaupt ist
der Kanal kein Ort, an
dem man läuft, sondern einer, wo man
an Seitenrändern sitzt, plaudert und flaniert.
Mein Weg führt
an Speakers’ Corner, einer
improvisierten Radiostation,
Flashmobs und Volksküchen vorbei, es ist die explodierende Geräuschkulisse
an der Place de la Republique, dieser Tage
Herzstück einer Revolte und von Polizisten
und der französischen Armee umstellt. Der
Protest richtet sich gegen die Apathie und die
politische Resignation nach den Tagen der
Angst und der Panik, Nuit debout („Nacht der
Aufrechten“) heißt die Bewegung und ist, wie
der Name schon sagt, nachtaktiv, heute aber
ausnahmsweise auch tagsüber präsent. Mein
Weg führt ins Marais, den Bezirk zwischen
APÉRO
32
dem 3. und 4. Arrondissement. Die Erzählungen des
Viertels begleiten opulente
Bilder, Bilder Haussmann’scher Boulevards,
pittoresker Fassaden, aristokratischer Parvenüs, Bilder vom historischen Zentrum des
jüdischen Paris, von den winzigen schwarzen
Schornsteinen über den Dächern, der Pariser
Schwulenszene, und letztlich auch davon,
dass dieses Viertel eben nur einen Steinwurf
vom Bataclan entfernt liegt, dem Ziel der
Attentate im vorigen Jahr. Es ist eine Bildfülle, vor der es fast unmöglich scheint, hier
eine authentische Erfahrung zu machen, eine,
die nicht gleich versucht, das eine
ein im
jeweils anderen zu erkennen.
Auf der Rue Charles-Fra
Charles-François
Dupuis, nur wenige Gehminuten von
der Place de la Republique, lieg
liegt die
Galerie Joseph Tang, erkennbar
erkennba nur
an ihrer unscheinbaren Helv
HelveticaBeschriftung am Klingelschild.
Klingelschild Ein
Geheimtipp, und entsprechen
entsprechend hat
auch der Aufgang etwas Mysteriöses,
Myster
er führt über einen kalten Hinterhof
Hin
und
eine alte Holztreppe, wo die Geruchsnoten
Ge
dieser ehemaligen Leder- und GürtelwerkG
statt förmlich konserviert sind, in den windigen ersten Stock des heutigen Wohnhauses.
W
Die Galerie selbst ist ein lic
lichtdurchfluteter Raum auf weniger als 20 Quadratmetern. Die Fenster geben den Blick frei auf
rosa leuchtende Akazien, die alte Markthalle
am Vorplatz der Dupuis, benachbarte
Wohnhäuser. Joseph Tang ist jemand, der
einem gleich volle Aufmerksamkeit schenkt.
Die bunten Sneaker und der klassische Mantel ergänzen die Aura der Professionalität,
die fast undurchlässig wirkt, ein Eindruck,
der nur durch gelegentliche Momente von
Selbstironie aufgelockert wird. So erzählt er
etwa die Geschichte des Orts als Geschichte
einer Fiktion. Der norwegische Künstler
Victor Boullet habe hier das Institute for
Social Hypocrisy installiert, eine fingierte
Galerie, ein trojanisches Pferd, dessen Ziel
es gewesen sei, die Heuchelei des Kunstmarkts zu entlarven. „Vor vier Jahren suchte
ich genau in dieser Lage nach einem Raum.
Für Boullet war ich wohl der perfekte Anlass,
die Fiktion weiterzuführen, die Erzählung
vom asiatischen Millionär, der das Institut
aufkauft. Tang lacht. „Ich vermische die
Rollen, wer hier Künstler ist, wer Galerist
und wer Kurator.“ Er hält inne, nimmt ein
Kunstmagazin vom Schreibtisch, blättert
und hält mir die aufgeschlagene Seite entgegen. Galerie Joseph Tang, wieder Helvetica.
APÉRO
33
Und dann ein Zitat: „Hätte er, indem er die
versprochenen vier Wochen ihrer Ausstellung in seiner Galerie auf zwei frühe Stunden an einem Sonntagmorgen verkürzte,
nicht gleichviel durchblicken lassen? Wie
zum Beweis war außer dem Botanik-Reporter keiner gekommen, und der verstand noch
nicht mal, dass die Werke Kunst sein sollten.“ Der Satz entstamme der Kritik einer
Künstlerin, die er hier ausstellte, erklärt
Tang, sichtlich erfreut über die Geschichte
der Anzeige, die in ihrer Sperrigkeit und
Intransparenz eher an die Intertext-Praktiken eines Georges Perec erinnert als an zeitgenössische Werbeformate.
Jede Ausstellung hier ist eine Solo-Show.
Die aktuelle habe gerade erst eröffnet, mit
Plastiken der lettischen Künstlerin Daiga
Grantina. Knapp hundert Leute seien zur
Eröffnung gekommen, eine Vorstellung, die
mir angesichts der Größe des Raums fantastisch erscheint. Grantinas Plastiken ragen wie
unberührte, aus der Decke gebrochene
L’ART POUR L’ART
OBEN RECHTS: OFR IST ANTIQUARIAT,
DENKEREI UND PORZELLANLADEN
IN EINEM. UNTEN: GALERIST JOSEPH TANG
PRÄSENTIERT KUNST AUF KLEINSTEM
RAUM. LINKS: AN DER PLACE DE LA
REPUBLIQUE IST PLATZ FÜR SKATER, WENN
NICHT GERADE AKTIVISTEN DER NUIT
DEBOUT DEN TAG ZUR NACHT MACHEN
Untersee-Wesen in den Raum, animalische
Rückstände einer bevorstehenden Katastrophe, in venösen Schläuchen, schuppigem
Metall, wucherndem Neon, phallischem Silikon. Figuren, die die Zwischenzone von
Post-Tod und Leben ausleuchten, ein
Themenraum, der nur wenige Monate nach
dem Massaker ums Eck doch eine ganz
andere Bedeutung erhält. Die Frage nach den
Attentaten beantwortet Tang, wie viele hier,
abgeklärt. Er habe besser damit umgehen
können, da er selbst 2001 in New York gewesen sei. Die Dinge hätten sich verlangsamt,
das merke man, die Pariser seien ruhiger
geworden, leiser.
Farbe kann bekanntlich zur Hoffnung
anstiften, und so sehne ich mich gerade doch
sehr nach dem bunten Paris, dem SinnlichExzentrischen der Stadt. Die nächsten Stunden verbringe ich im Ofr, einem eklektischen
Magazinladen unweit der Galerie Joseph
Tang und dem Bistro Chez Janou. Das Ofr
ist zugleich Antiquariat und Porzellangeschäft, Denkfabrik und Galerie. Neben
Hochglanzmagazinen stehen handgetöpferte
Schalen, Taschen und Collagen zum Verkauf.
Während ich so stöbere, singt vor dem Laden
ein kleingebauter Franzose Chansons, er hat
strohweißes Haar, tatsächlich bunte Farbtupfer auf einem weißen Kittel und schabt Klebfolie vom Schaufenster, wohl eine veraltete
Ankündigung. Die Besitzer sind offenbar
gerade Kaffee holen oder protestieren, wer
weiß das schon so genau, im Ofr ist alles im
Umbau begriffen, im Fluss. „Au fond du couloir“, steht an der Ladenwand über dem Eingang zur Galerie, „les belles y sont.“ Eine
perfekte Metapher für dieses kulturverliebte
In-Bewegung-Sein: „Am Ende des Gangs
sind sie, die Schönen.“
Ein paar Blocks weiter liegt das von
Efeu überwachsene und von Farben schier
überquellende Bistro Chez Janou, an das eine
mit silbernen Weintrauben und sattem Art
Nouveau verzierte Bar anschließt. An der Bar
werden Zigaretten gedreht, wird aus kolorierten Wasserflaschen das Farbspektrum der
APÉRO
34
probiert zu haben, dürfe ich
das Chez Janou nicht verlassen, so hat man mir vorher
eingebläut, und tatsächlich ist
die fast schwarze Paste, die
einem der Konfiteur des
Hauses hier persönlich aus
der großen Porzellanschüssel
auf den Teller klatscht, eine
geschmacklich so anmutige
Sache, dass für ein paar
Sekunden alles andere nebensächlich wird.
Es ist Abend geworden,
ich spaziere die Seine zur Cité
internationale des Arts, einer
Einrichtung am Wasser, wo
Künstler aus aller Welt residieren. Jennifer
Abessira hat ihr Studio im zweiten Stock des
Komplexes, der in seiner brutalistischen
Betonkargheit eher an ein sowjetisches Politbüro erinnert als an ein Atelierhaus. Die israelische Künstlerin gießt mir ungefragt ein
fülliges Glas Rotwein ein, im Hintergrund
läuft Marlene Dietrich aus einem tragbaren
Plattenspieler, sie habe sich sofort in diesen
RESET
Unmengen
Sorten Pastis
erweitert –
von Hellgelb
über grünliches Türkis
bis Blau. Da
sitzt die französische Bohème in ihren blutroten Schals
und weißen Spitzenhemden, trinkt und
raucht. Das Chez Janou ist verkachelt, alles
hier ist bunt. Das orangefarbene Licht erinnert eher an ein marokkanisches Nachtlokal,
die Wände gespickt von gerahmten Plakaten
französischer Filmklassiker des letzten Jahrhunderts, Fanny bis César. Hier hängt der
ganze, scheinbar unverwundete Stolz einer
Kultur. Dazu rustikale Küche, serviert in
schweren, gusseisernen Pfannen und Töpfen, immer mit Rosmarin, Baguette und frischen Oliven. Ohne die Mousse au Chocolat
RESET
Ort verliebt, in seine Geschichten. Serge
Gainsbourg habe hier gelebt, erzählt sie, Brigitte Bardot kam öfters zu Besuch, sie sei die
Einzige gewesen, die ihren Hund mit reinnehmen durfte. Jennifers Eltern immigrierten zur Zeit des algerischen Unabhängigkeitskriegs nach Frankreich, später dann
nach Israel, da war sie gerade mal sieben
Jahre alt. Jetzt ist sie wieder hier gelandet,
und das in einer Zeit, wo immer mehr französische Juden nach Israel auswandern. Die
mindestens zwei Seiten ihrer Geschichte
merkt man ihr an, in ihrer Stimme kristallisieren das distanzlos dahinbrausende Temperament der israelischen Misrachim genauso wie
der französische Einschlag ihres Hebräisch.
Und es spiegelt sich auch in ihrer Kunst: etwa
in den zu pastellfarbenem Chic entfremdeten
Fotografien, der knalligen Bauhaus-Geometrie oder den wiederaufbereiteten Polaroids,
Kindheitserinnerungen, Montmartre und
Sacré-Cœur.
Von oben ertönt ein lautes Rattern,
„Mudi“, schreit Jennifer Richtung Decke,
„keine Sorge, der arbeitet immer spät.“ Mudi,
der eigentlich Mahmood Hachim heißt, ist
bildender Künstler und politischer Flüchtling
aus Baghdad. Er lebt seit knapp anderthalb
Jahren in Paris und arbeitet, unüberhörbar,
ein Stockwerk über Jennifer. Bald setzt er
sich zu uns in Jennifers Studio. Er ist groß
und bärtig, mit Cordsakko, Palischal und
abstehenden Locken. Gerade habe er mit
dem Diamantbohrer einen Naturstein bearbeitet. Er nimmt einen tiefen Schluck Wein
und zeigt auf ein Bild in seinem Smartphone.
Den Stein hat er in Form eines Reisepasses
bearbeitet, das Gewicht der Identität. Die
Geschichte ihrer Freundschaft erzählen die
beiden je ein bisschen anders, er habe anfangs
täglich stundenlang am Vorhof auf sie
gewartet, so lautet Jennifers Variante, sie
lacht. „Wir lieben es, zusammen durchs
Marais zu wandern, Sachen zu erbeuten, die
übers Wochenende liegenbleiben. Wir trinken und lachen und hören African Jazz.“
Irgendwie scheint es das doch noch zu geben,
das unbeschwert glückliche Paris, das Paris
der Schönen, der Filme und Romane.
TEXT: HANNO HAUENSTEIN
FOTOS: MARTINA MAFFINI
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
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DIE SAMMLUNG
MODERNE KUNST
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PINAKOTHEK DER MODERNE
KUNSTAREAL MÜNCHEN
www.pinakothek.de
die es von 931 Bewerbungen und 51 Nominierten in die Endrunde für den ArsViva-Preis geschafft haben. Und wenn heute
Nachmittag die drei Gewinner gekürt
werden, kann es gut sein, dass schon wieder
ein zukünftiger Turner-Preis-Kandidat dabei
ist, so wie vor zwei Jahren James Richards.
HINTERGRUND
ARS VIVA LIEBT DICH
Jedes Jahr vergibt der Kulturkreis im
BDI einen Förderpreis für junge Künstler.
Fast alle starten danach eine
eindrucksvolle Karriere. Doch wie werden
die Preisträger ausgewählt? Ein
Blick hinter die Kulissen der Juryarbeit
D
ie Luft ist zum Schneiden. Dabei
stehen die Fenster offen,
und draußen gießt die Sonne ihre
verspäteten Frühlingsstrahlen in die Auguststraße. Dort wäre ich jetzt gern. Zumindest seit 20 Minuten, denn so lange schon
treiben die Wortwolken durch den angemieteten Konferenzraum. Es herrscht Hochspannung wie beim mündlichen Abitur.
Fragt sich nur, wer hier wen prüft. Die
13 Köpfe der Ars-Viva-Jury starren auf eine
außergewöhnlich attraktive Kandidatin,
die am Kopfende des langen Tisches einen
Vortrag abliest, um ihre Kunst zu erklären.
JAN PAUL EVERS, DER PFAU, 2008,
SILBERGELATINEABZUG, 39 × 42 CM
Tatsächlich lässt sie einen wabernden Strom
von Fremdwörtern auf ihr Publikum
los. Hinter ihr auf der Wandfläche wechseln
Projektionen, die aus ihrem Laptop
kommen. Bilder und Worte passen nur insofern zusammen, als sie unentschlüsselbar
sind. Das Foto einer Bergkuppe erscheint,
gefolgt vom New Yorker Guggenheim
Museum. Ihre Formen ähneln sich irgendwie. Aby Warburg, Mnemosyne, möchte ich
denken. Aber so weit kommt mein Gehirn
gar nicht. Mein Gehirn macht nämlich
bei dem Gedanken halt: Gleich knallt’s. Und
dann knallt’s auch wirklich: Die Fläche
wird schwarz, man hört eine
Explosion. Die Künstlerin
nennt den Titel des Werks, darin
kommen die Worte Bananenschale und Triangulation
vor. Ich will nach Hause.
Plötzlich werden Türen
und Fenster aufgerissen:
Raucherpause, raus auf die
Straße. Nicolaus Schafhausen,
externer Fachberater der
Jury, holt tief Luft und raucht
in der Sonne binnen weniger
Minuten eine halbe Packung
leer. Die Künstlerin zieht ihr
Rollköfferchen aus dem Haus,
sie muss schnell weiter zum
nächsten wichtigen Termin.
Wichtige Termine: Die haben
fast alle der zehn Kandidaten,
APÉRO
36
JAN PAUL
EVERS
W
enn Fotografie aussieht wie sanft hingesetzte Graphitzeichnungen, Palmen und Pagoden
zeigt, jeder Abzug analog
gefertigt wird und ein Unikat
ergibt, denkt man nicht unbedingt an das Jahr 2016, eher an
die Ära von Piktorialismus
oder Bauhaus. Doch der Kölner
Künstler Jan Paul Evers (geb.
1982) legt viel Wert auf die
Bildentstehung im Fotolabor. Er
experimentiert mit Unschärfen,
Graustufen und Belichtungszeiten. Seine Motive kombiniert
er aus Bildern, die von überall
her stammen können: Internet,
Bücher, Magazine, eigene Fotos.
Dann rückt er sie mit Schablonen zurecht und überträgt sie auf
Schwarz-Weiß-Film. Genau
das schreibt den Sehnsuchtsbildern eine zweite Ebene ein: Ein
Segelboot wirkt seltsam rigide,
ein Pfau erstarrt, eine Fassade
abstrahiert. Wie ein Schleier
liegt über allem die Geometrie.
Sie ist der Maßstab der
Moderne – und auch unserer
bildüberfluteten Zeit. Evers
entdeckt darin eine Langsamkeit, die uns längst entglitten ist.
Die meisten Gewinner starten danach wie
von Zauberhand eine famose Karriere.
llerdings war das nicht immer so.
Aus den Anfangsjahren sind fast alle
Preisträger wie vom Erdboden
verschluckt. Beuys, Piene, Richter oder Polke
sucht man dort vergebens. Erst 1968
platzte ein erster Knoten mit Georg Baselitz.
Doch es dauerte noch ein Jahrzehnt, bis
der Preis an Fahrt aufnahm – ausgerechnet
in einer Zeit, als keiner genau wusste,
ob Fotografie, Performance und Video nun
Kunst sind oder Kollateralschäden. Doch
den kunstaffinen Unternehmern war das
egal. Im Gegenteil: Die jungen Gewinner
hießen jetzt Axel Hütte und Katharina
Sieverding (1979), Marina Abramović und
Ulay (1982), Albert Oehlen (1983) und
Rosemarie Trockel (1985), Candida Höfer
und Thomas Ruff (1987). Ab Mitte der
90er-Jahre war fast jeder Preisträger bald ein
großer Name im Kunstbetrieb: 1995
lag der Schwerpunkt mit Thomas Demand,
Jochen Lempert und Wolfgang Tillmans
auf Fotografie, 1998 folgten Kai Althoff und
Manfred Pernice mit „Installation“. 2001
zeichnete man den Modeladen „Bless“
und die Buchhandlung „pro qm“ für ihr
„Design“ aus. Und weil solche Bezeichnungen bald nicht nur austauschbar waren,
sondern außerdem zu kurz griffen, verlagerte
man sich auf philosophische Begrifflichkeiten, die sich heute wie Codewörter der
Gegenwartskunst lesen: Unter „Zeit“
gewannen 2004 Katja Strunz und Peter Piller,
unter „Systeme“ 2012 Simon Denny
JUMANA MANNA, BLUE ELBOW, 2015,
MIXED MEDIA, 100 × 42 × 27 CM
und Melvin Moti. Vor zwei Jahren wurde
schließlich jegliche Einordnung über
Ars Viva kommt anderen Auszeichnungen
Bord geworfen – ausgerechnet als das neue
nämlich gern mal zuvor. Buchstäblich,
Wort „Post-Internet“ für Aufsehen sorgte
denn er war einer der ersten Kunstpreise der und man mit Yngve Holen und Aleksandra
Nachkriegszeit. Seit 1953 vergibt ihn der
Domanović zwei Sieger hatte, die hervorKulturkreis der deutschen Wirtschaft im
ragend in diese Schublade passen.
BDI, der heute über 450 Mitglieder
Diese fröhliche Mischung an Punktzählt, jährlich an in Deutschland lebende
landungen hat möglicherweise damit zu tun,
Künstler bis 35 Jahre. Derzeit bekommen
dass die Fachjury im Gegensatz zu anderen
sie je 5.000 Euro, einen Katalog, zwei
Preisen nicht nur aus Kuratoren besteht,
Ausstellungen in angesehenen Institutionen die ihre eigenen Entdeckungen nach vorn
und neuerdings auch eine Künstlerresibringen wollen – sondern daneben sitzen
denz auf der Insel Fogo Island bei Neufund- fachkundige Laien aus Wirtschaftskreisen,
land, für die allein sich der Preis lohnt.
die sehr genaue Fragen stellen. Zudem ist
So normal das im förderungsverwöhnten
das Auswahlverfahren kein bloßer MappenDeutschland klingt: Ars Viva ist so etwas wie tausch. Die Jury trifft ihre Kandidaten
eine Wünschelrute unter den Kunstpreisen.
Auge in Auge in ihren Ateliers. Wer nicht in
JUMANA
MANNA
A
APÉRO
37
J
umana Manna (geb. 1987
in New Jersey) wuchs
in einer palästinensischen
Familie in Jerusalem auf. Das
ambivalente Gefühl, zugleich
Bewohnerin und „Gegnerin“
Israels zu sein, prägt auch ihre
Kunst, die man wohl „recherchebasiert“ nennen muss. Studiert
hat Manna in L. A., Oslo und
Jerusalem, später zog sie nach
Berlin. Dort lebte sie in der
Lachmannstraße und las, dass
der Jude Robert Lachmann
von 1936 bis 37 nach Jerusalem
ging und dort ein Radioprogramm für Musik der Region
initiierte. Wie so oft in ihrer
Arbeit begab sie sich auf die
Spuren dieser historischen
Figur und verwob sie filmisch
mit ihrer eigenen Familiengeschichte. So entstand A magical
substance flows into me, kombiniert mit abstrakten Skulpturen,
die an Ellbogen oder Knie
erinnern: Wo sonst, außer im
eigenen Körper, drücken sich
Erinnerungen und Wünsche,
Musik und Leben aus? Auf den
Podesten der Skulpturen
kann man sitzen und wird so
Teil der Arbeit.
Berlin lebt, wird per Skype zugeschaltet
oder kommt in den Konferenzsaal. So viel
Nähe entsteht bei keinem anderen Preis.
Doch wo die Juroren sich das ganze Jahr
darauf freuen, verfallen viele Künstler
vor Aufregung wahlweise in Arroganz oder
Schockstarre. So wie der nächste – und
letzte – Kandidat: ein junger Mann mit Dreitagebart, der nun vorn von einem Bein
aufs andere tritt.
Der nette Juryvorsitzende Ulrich
Sauerwein deutet ihm an, er könne jetzt
beginnen, doch der Künstler schweigt.
Seine Fotoarbeiten lehnen an der Wand –
es sind stille, nicht sofort erschließbare
Bilder. Ein radschlagender Pfau, zwei
abstrakte Kompositionen, ein Segelboot.
Alles in Schwarz-Weiß. Der Künstler sagt
noch immer nichts, schaut nur seine Bilder
an. Ein Kunstvereinsdirektor hilft, fragt,
ob wir nach vorn kommen sollen, um
gemeinsam zu schauen. Der Künstler nickt
dankbar. Die Gruppe erhebt sich, begutachtet die Fotografien, sie wirken wie aus
einer anderen Zeit. Antiquiert? Vielleicht,
aber doch faszinierend. Erste Fragen
fliegen durch den Raum. Wie verhält sich
sein Werk zur Moderne? Warum sind
das Unikate? Ist das politische Kunst? Die
Antworten sind nervös, aber präzise,
lösen weitere Fragen aus. Kataloge kreisen,
bald auch Kaffee. Dann ist es vorbei. Der
Künstler atmet auf, dabei sah er so aus, als
habe er sich am Schluss ganz wohl gefühlt.
nd jetzt: die Endrunde. Die Liste
mit den zehn Kandidaten liegt
vor uns, zwei werden unverzüglich
gestrichen. Die Wolkenfrau ist noch im
Rennen. Als ihr Name fällt, wird klar, dass
durchaus nicht jeder bei dem Vortrag im
Regen stand. Unabhängig von Sympathiepunkten hat die Künstlerin Respekt
geerntet. Wo die Fachleute aufstöhnen, haben
andere in der Pause auf Wikipedia nachgelesen und können jetzt bei Triangulation
mitreden. Aber ob das für einen Preis
reicht? Namen und Fragen zischen hin und
her. Finden wir das relevant oder nur
interessant? Warum bringen
sich Frauen eigentlich dauernd
selbst in ihre Kunst ein, ist das
nicht überholt? Muss man
wirklich ein Michelin-Männchen auf die Wand drucken,
um über das Selbstverständnis
Frankreichs zu debattieren?
Aber ja! Zwei Stunden lang
herrscht angespannte Uneinigkeit. Nur eine Kandidatin
steht sofort fest. Über Skype hat
sie gestern so klug und mitreißend von ihren Filmen erzählt,
dass jeder am liebsten sofort
mit ihr nach Jerusalem reisen
will, wo das Herz ihrer Geschichten schlägt. Schließlich einigt
man sich dann doch. Mir
schwirrt der Kopf. Demokratie
ist wirklich ein hartes Brot.
Durchgebissen haben sich
Jumana Manna, Leon Kahane
und Jan Paul Evers. Jawohl,
der Mann, der nichts sagte. Am
Ende zählt eben keine Wortwolke, sondern tatsächlich nur
die Kunst allein.
U
LEON KAHANE, REPORTS OF MY ASSIMILATION ARE GREATLY
EXAGGERATED, 2016, MIXED MEDIA, 300 × 80 × 80 CM
TEXT: GESINE BORCHERDT
LEON
K AHANE
L
eon Kahane (geb. 1985 in
Ost-Berlin) ging als Pressefotograf nach Israel. Doch
Dokumentation allein reichte ihm
nicht, um Geschichte, Grenzen
und ihre Widersprüche aufzuzeigen. Er studierte Kunst an der
UdK, wurde Assistent von Wolfgang
Tillmans und Hito Steyerl. Heute
bilden seine Installationen Metaphern für komplexe historische
Zusammenhänge. So setzte er
zwei Weinreben in Vitrinen, die in
Bethlehem aus der DNA einer
Traube aus Zeiten König Davids
gewonnen wurden. Unter islamischer Herrschaft verboten, wird
der Wein heute als israelisches
Produkt vermarktet – von Weinbauern aus Palästina. Oder
das Michelin-Männchen Bibendum mit Uncle-Sam-Geste auf
der Wand: Der Gourmet-Führer
steht für französisches Lebensgefühl. Doch wer weiß schon, dass
die Firma amerikanische Alliierte
mit Landkarten versorgte, aber
auch Profiteur der Kolonialzeit war?
Kahane schnappt sich ein
Thema, liest dessen Geschichte
in alle Richtungen – und
bringt Licht in den Tunnel unserer
Erinnerungskultur.
Öffnungszeiten
Donnerstag 13–19 Uhr, Freitag bis Sonntag 11–17 Uhr
www.schaulager.org
APÉRO
38
APÉRO
Alexej Koschkarow, Bellevue (Detail), 2014, Smearing, Graphit auf imprägniertem Stoff,
39 © 2016, ProLitteris, Zurich, Foto: Farzad Owrang
HERS/DIRT/TWO
2009, Mixed Media auf Leinwand, 168 × 130 cm
(HERS) NIGHT AND DAY #2
2009, Acryl auf Leinwand, 168 × 130 cm
Der
Garten Eden
des
Carroll D.
W
CARROLL DUNHAM IN SEINEM HAUS IN CONNECTICUT
REVUE
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HORSE AND RIDER (MY X)
2013–2015, Mixed Media auf Leinen, 294 × 203 cm
Seine ältere Tochter Lena
definierte mit ihrer Serie
Girls das Frauenbild in den
USA neu, die jüngere
Grace ist eine feministische
Aktivistin, Ehefrau Laurie
Simmons Mitbegründerin
der „Pictures Generation“.
Und Carroll Dunham?
Hat sich ein nur von Frauen
bevölkertes Universum
geschaffen. Mit Pornografie
hat das natürlich nichts
zu tun, wie er Oliver Koerner
von Gustorf erklärt.
Mit Malerei hingegen alles
enn man New York gen Norden verlässt und sich dabei
in der Bronx verfährt, sieht man es, dieses wirklich
arme Amerika: Scharen von Obdachlosen, von Alkohol
und Junkfood aufgedunsenen Teenagern, die sich endlose
Straßen mit Billigläden, Schildern von Subway oder Wendy’s und
dem Rekrutierungsbüro der U.S. Army entlangschleppen. Dann
in Yonkers kleine Eigenheime mit eingezäunten Grünstreifen, bis
an der Interstate 95 die riesigen Betonklötze von Co-op City
auftauchen, Hochspannungsleitungen, die sich durch Täler ziehen.
Mir fällt Walt Whitmans uramerikanische Ode an das arbeitende
Volk, an die Mütter und Väter der jungen Demokratie ein: I Sing the
Body Electric.
Wo die Stadt in Vororte übergeht, mehrt sich der Wohlstand.
Die Anwesen und Rasenflächen werden größer, die Ortschaften
lichter. Plötzlich hat man das Gefühl, auf dem Land zu sein. Meine
Freundin Liz, mit der ich aufgebrochen bin, um Carroll Dunham
in seinem Haus in Connecticut zu treffen, biegt ab, um nach einem
Diner zu suchen. Beiläufig erwähnt sie, dass die Clintons hier
irgendwo ihre Stiftung haben. Als das Navigationsgerät uns auf
immer schmaleren und kurvigen Landstraßen höher in die Berge
führt, wird die Landschaft sogar an diesem grau-verregneten
Frühlingstag irreal schön, wie in einem David-Lynch-Film. Truthähne
huschen zwischen Büschen hervor, Wasserfälle, Stauseen und
rot leuchtende Farmhäuser säumen den Weg. In Kent, der Kleinstadt
vor unserem Ziel, bietet jeder zweite Laden Antiquitäten oder
selbst gebaute Möbel an. Schaut man genauer hin, bemerkt man,
wie exklusiv diese heile Welt ist: In den Einfahrten stehen
SUVs, an alten, aufwendig restaurierten Holzhäusern sind Überwachungskameras montiert.
Carroll Dunham, oder „Tip“, wie ihn seine Freunde nennen,
wohnt Kilometer entfernt, in einer gottverlassenen Gegend. Von
der ehemaligen Privatschule aus dem späten 19. Jahrhundert hat
man einen Panoramablick auf die Berge. Das Backsteingebäude
gleicht einem monumentalen Puppenhaus. Der Künstler schaut aus
der Haustür und verkündet, dass er noch etwa eine Stunde Zeit
habe. Eine Stunde. Nicht viel, um nach Tausenden Kilometern
Anreise über seine Frauenbilder zu sprechen, an denen er seit fast
einem Jahrzehnt arbeitet – diese Gemälde, Zeichnungen und
Drucke von achselbehaarten, badenden, an Bäumen hangelnden,
reitenden Superweibern, die inmitten paradiesischer Flora und
Fauna dem Betrachter unbeschwert ihre pinken, schwarz umrandeten
Genitalien und gespreizten Pobacken entgegenstrecken, ganz
so als wären wir Hunde, die sich am Hinterteil erkennen. Bei Hunden
spricht der Fachmann vom „Analgesicht“. Bei Dunhams zumeist
gesichtslosen Frauen scheint es tatsächlich, als wäre das Antlitz in
die Körperöffnungen des Unterleibs verrutscht, in diese Löcher,
Schamlippen, Backen, die kurvig grinsen, schreien, sich wie Augenbrauen anheben oder Schmollmünder formen.
„Anal“, das ist auch ein Wort, das im Amerikanischen so viel
wie „übertrieben genau“ heißt. Dunhams primitivistische Sujets
stehen im Kontrast zum extrem aufgeräumten Innern des Heims
einer der berühmtesten Künstlerfamilien der USA. Kein Staubkorn, nirgends. Das Dunham-Haus sieht perfekt aus, als könnte hier
sofort ein Interior-Magazin fotografieren. Blanke Fußböden, weiße,
weiche Sessel, Vintage-Möbel, weiß gestrichener Kamin, leuchtende
Farben, Familienfotos auf dem Flügel, die Wände und Ecken
voller Kunst, nicht nur von Dunham und seiner Frau, der Foto- und
Filmkünstlerin Laurie Simmons, sondern auch von Zeitgenossen
und Wegbegleitern. Wie etwa Markus Lüpertz oder dem Bildhauer
Don Gummer, dessen Ehefrau Meryl Streep in Simmons’ Film
The Music of Regret (2006) die Künstlerin verkörperte und auch in der
Nähe wohnt. Alles hier wirkt hochklassig, eine urban-künstlerische
Version von Landhausstil, bei dem jedes Detail perfekt arrangiert ist.
Dunham hört sich an, als wäre er gar nicht
der Schöpfer seiner Werke, sondern ein
von einem Poltergeist heimgesuchter Junge.
Wenn er eine Form gefunden hat, bleibt
er obsessiv dabei
Dabei ist es gerade das Brüchige, Sexualisierte, Unorthodoxe und
Neurotische, das diese Familie berühmt gemacht hat. Bereits
Dunhams frühere Malerei der 80er- und 90er-Jahre sieht aus wie
ein semiabstraktes Konglomerat aus Gliedmaßen, Rüsseln und
Därmen, die pupsen, fressen, tropfen, sich begatten oder fressen.
Seine Frau gilt neben Cindy Sherman als eine der wichtigsten
Vertreterinnen der „Pictures Generation“ und hat mit ihren Filmen
und inszenierten Fotografien die Abgründe des amerikanischen
Bürgertums durchleuchtet. Für ihre Serie „The Love Doll“ (2009–
2011) inszenierte sie eine lebensechte japanische Sexpuppe
wie ein Upperclass-Girlie hier im Haus, auf der Couch, der Fensterbank, in der Badewanne – in der sonst ihre berühmten Töchter
Lena und Grace baden, wenn sie zu Besuch sind.
ie Comedy-Serie Girls, die Lena Dunham schreibt, produziert und in der sie die Hauptrolle spielt, brachte ihr
nicht nur mehrere Millionen und Golden Globes ein, sie
machte sie auch zur Ikone einer zutiefst verunsicherten Generation von Hipstern und Feministinnen, hinter deren coolen Fassaden
sich Sucht, Neurosen und Selbsthass verbergen. Davon handelt
ihr autobiografischer Ratgeber-Bestseller Not That Kind of Girl, in der
sie auch ihre Familie porträtiert. Ihre Schwester Grace tritt als
Aktivistin, Autorin und Performerin für die Rechte von Frauen,
Lesben und Transgendern ein und ist in den USA bereits ein
feministischer Star.
Offensichtlich lebt Dunham in einem weiblich dominierten
Kosmos. Und auch die Frauen auf seinen Bildern erscheinen
extrem stark. Zugleich berühren sie in ihrer offensiven Körperlichkeit auf ganz merkwürdige Weise. Im Zeitalter der Internetpornografie, der digital und chirurgisch optimierten Körper scheinen sie unpassend, wie Nudisten am Textilstrand. Tatsächlich
erinnern sie an die weiblichen Gestalten, die Walt Whitman in seinem
Gedicht über den elektrischen Körper besingt: „Von ihrem
Hauch werde ich angezogen, als wäre ich ein kraftloser Nebel, alles
versinkt außer meinem Ich und ihr; / Bücher, Kunst, Religion,
Zeit, die sichtbare und feste Erde, und was vom Himmel erwartet
und von der Hölle befürchtet wurde, ist jetzt vergangen; / Wilde
D
US
1994, Mixed Media auf Leinen, 182 × 257 cm
REVUE
44
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Fühlfäden, unbändige Blitze zucken hervor; die Erwiderung gleichfalls unbändig; / Haare, Busen, Hüfte, Krümmung der Beine,
lässig hinfallende Hände, ganz aufgelöst …“
Ich erzähle Dunham, welche Probleme ich zunächst mit seinen
Bildern hatte, auf denen die Frauen doch irgendwie verfügbar
erscheinen, dem männlichen Blick ausgesetzt, objektiviert. „Der
erotische Aspekt überdeckt vielleicht das Eigentliche, um das es
hier geht“, antwortet er. Hager und durchtrainiert sitzt der 66-Jährige
in seiner blauen Strickjacke auf der Couch. Jedes Wort wägt er
genau ab, völlig konzentriert auf seine Arbeit. „Ich fühle da gar keine
Verbindung zwischen Pornografie und meinem Nachdenken
über Malerei. Sie hat rein gar nichts damit zu tun, was ich über die
nackte Menschheit denke. Als ich noch jünger war und meine
Intention nicht ganz so deutlich, sprachen die Leute im Zusammenhang mit meinem Werk von Cartoons. Jetzt wollen sie darüber
in Begriffen von Pornografie reden. Immer wird da als Referenz
etwas bemüht, das sich außerhalb der Malerei befindet. Dabei
ist es wirklich nur Malerei.“
m seinen formalen Ansatz zu verstehen, muss man wissen,
dass Dunham in den Achtzigern begann, auf Holzfurnieren zu malen und aus den Verläufen der Maserung und
den Astlöchern abstrakte, organische Formen zu entwickeln. Er
ist der Schöpfer eines Universums, das sich aus sich selbst generiert.
Eine Form bringt quasi die nächste hervor, wobei das Werk dem
Künstler diktiert, wie es weitergeht. Aus den frühen Formen der
Achtziger, die anmuten wie eine archaische Ursuppe, kristallisieren
sich im Laufe von Jahren Organismen, Amöben, Rüsselwesen. Aus
den Rüsseln werden Penisse, die Dunham in den Neunzigern
wütenden Mackern ins Gesicht setzt, die Anzüge, Zylinder und
Pistolen tragen. Auch die comicartigen Planeten, die zur selben
Zeit entstehen, sind wütend: Auf ihnen schlachtet sich alles
Lebende ab, wie in einem Karussell des Leidens und der Zerstörung.
„Die früheren Werke, die entstanden, bevor die Frauen
auftauchten, waren noch ein zusammengepappter Haufen von Zeug.
Ich machte nicht den geringsten Versuch, so etwas wie plausible
Figuren zu kreieren. Den Schwanz, der aus einem Kopf ragte, habe
ich selbst nie ganz verstanden. Dabei blieb er für fast zehn
Jahre in meiner Arbeit.“ Dunham hört sich an, als ob er gar nicht
der Schöpfer seiner Werke ist, sondern ein Junge, der von einem
Poltergeist heimgesucht wird. Der radikale Ansatz ist klar: Es gibt
kein Sujet, keine persönliche oder kollektive Erfahrung, kein
unterbewusstes Bild, das unterdrückt wird. Und wenn Dunham eine
Form gefunden hat, an der er arbeiten kann, dann bleibt er
geradezu obsessiv dabei. „Ich versuche, immer das zu hören, was
mein Werk mir vorschlägt, mit ihm in Einklang zu sein.“
Die Bilder, die dabei hochgespült werden, verstören. Eines von
Dunhams bekanntesten Gemälden Square Mule (2006) zeigt einen
durchgeknallten, hermaphroditischen Gangsterdämon, der sich
eine Pistole in den Anus schiebt, um abzudrücken. Die kunstgeschichtlichen Vorläufer für diese Figur sah der amerikanische Kunstkritiker Jerry Saltz etwa bei Robert Mappelthorpe, der sich mit
einer in den Hintern eingeführten Ochsenpeitsche fotografierte, oder
in Picassos Bild seiner Geliebten Marie-Thérèse Walter, die sich
eine Blume aus dem Hintern zieht. Zugleich sah Saltz in diesem
U
FIRST PINE
1982, Mixed Media auf Pinienholz, 145 × 122 cm
REVUE
46
SQUARE MULE
2006, Mixed Media auf Leinen, 190 × 190 cm
Hybrid aus Selbstmordattentäter, autoerotischem Banker und verwundeter Bestie aber auch etwas anderes: den Zustand der USA.
Er beschrieb Dunhams Mule als einen „kollektiven Körper mitten
in einem psychischen Bürgerkrieg“.
Angesprochen auf die Nähe zur Malerei des großen Philip
Guston, der sich aus politischem Protest vom Abstrakten
Expressionismus verabschiedete und monströse Körperbilder
malte, distanziert sich Dunham: „Zweifellos hat er, gemeinsam
mit anderen Leuten, großen Einfluss darauf, wie ich über Malerei
denke. Aber Gustons Verhältnis zum Bildgegenstand ist völlig
anders, da er thematisch über seine Arbeiten nachdachte. Er hat
eine ganze Zeichnungsserie zu Richard Nixon gemacht. Das ist
Lichtjahre davon entfernt, wie in meiner Arbeit der Bildgegenstand
zustande kommt.“
Im Gegensatz zu Dunhams Macho-Albträumen der frühen
Zweitausender wirkt der in den letzten Jahren entstandene Bilderkosmos mit seinen Badenden, Bäumen, Hunden, Pferden, auffliegenden Krähen pantheistisch, geradezu versöhnlich. Warum er
gerade jetzt, in unserer von Wirtschaftskrisen, ökologischen Katastrophen, Kriegen und Flüchtlingsströmen geprägten Welt solch
paradiesische Bilder schafft, kann er nicht sagen. „Während ich an
den Bildern arbeite, erlebe ich sie als völlig selbstreferenziell.
Erst wenn ich Jahre später zurückblicke, kann ich sehen, wie die
Veränderungen in meinem Leben mit ihnen korrespondieren.“
Fast störrisch schütteln seine Badenden ihre Haare, liegen da
wie die Schwestern der halbnackten Frauen auf Manets Frühstück
im Grünen (1863) oder das Modell von Courbets Der Ursprung der
Welt (1866). Die männlich dominierte Malereigeschichte der
Moderne ist voll von nackten Musen. In Dunhams Kosmos sind
die Männer allerdings verschwunden. In den blühenden vorzeitlichen
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47
LATE TREES #4 (FALLEN)
2011–2012, Mixed Media auf Leinen, 196 × 151 cm
NEXT BATHERS, THREE (REEDS)
2012, Mixed Media auf Leinen, 199 × 156 cm
THE SUN
1999, Mixed Media auf Leinen, 254 × 204 cm
der Neunziger eine große Retrospektive. Heute vertritt ihn neben
Gladstone in New York, Blum & Poe in Los Angeles und
Gerhardsen Gerner (Oslo und Berlin) auch Eva Presenhuber in
Zürich, wo er gerade seine Monotypien zeigt. Dennoch hat er
in Europa noch keine große Retrospektive gehabt.
Als er Dunhams Bilder Mitte der Neunziger zum ersten Mal
gesehen habe, erzählt sein Berliner Galerist Atle Gerhardsen, habe
er nicht nur wegen des Namens Carroll gedacht, der Künstler sei eine
Frau. Tatsächlich ist Dunhams Werk heute in seiner gelassenen
und schrulligen Attitüde viel näher an US-Malerinnen, die derzeit
den Diskurs bestimmen, etwa Laura Owens oder Charline van
Heyl, als an vielen seiner männlichen Zeitgenossen. Vielleicht ist es
an der Zeit, es auch einmal in diesem Kontext zu zeigen.
it traditionellen Mitteln und großem Augenmerk auf das
Handwerk erschafft Dunham eine absolut zeitgemäße
Kunst. Spricht man mit jungen Künstlern, sind die
pinselschwingenden Gesten, die magische Berührung der Leinwand
und das klassische Malerimage völlig verpönt. Für sie geht es
viel eher darum, Distanz zur Leinwand und zum „authentischen“
Ausdruck zu schaffen. Zugleich aber sehnt sich die Kunstszene
nach Authentizität, gräbt immer wieder Outsider und übersehene
Positionen aus, um Leben in die formalen Debatten zu bringen.
Dunham malt konzeptionell und zugleich wie ein Outsider.
Nie setzt er große malerische Gesten ein, immer hält er Abstand
zum Pathos. Seine Bilder, die aus der Entfernung grafisch, fast wie
Poster wirken und aggressiv ins Auge springen, zersetzen sich bei
der Annäherung, zerfallen in abstrakte, gestische Formen, Bleistiftlinien, fragile Abdrücke von Holzmaserungen. Seine Obsession
hat System – alles wird in der Zeichnung oder als Monotypie über
Jahre hundertfach durchdekliniert. Zugleich entstehen aus dieser
formalen Herangehensweise psychologisch aufgeladene Bilder, die
unterdrückte und peinliche Erfahrungen hochspülen. Immer
wieder betont Dunham im Gespräch, wie wichtig ihm das Handwerk, die persönliche, physische Annäherung an die Malerei ist.
Er arbeitet ohne Assistenten. Die Begegnung mit seinen Werken
hat auch für den Betrachter eine sehr körperliche Dimension.
Es geht um Nähe, Distanz, Intimität. Man sieht Dunhams Frauen
und weiß, dass man auch selbst nackt ist. Wir blicken in seinem
gesamten Werk auf Körper, die das Ergebnis einer schamlosen
Befragung der Kunstgeschichte und des eigenen Selbst sind.
Sie tragen dabei unendlich viele Partikel sozialer Realität in sich.
Als wir abends über vollgestopfte achtspurige Highways
wieder nach New York reinfahren, fühlt es sich geradezu so an,
als würden wir in die Welt der wütenden Männer und Schwanznasen zurückkehren. Das Haus auf dem Hügel, die kleinen
Städtchen mit weißen Kirchen und Coffeeshops, all das Aufgeräumte und Wohlhabende erscheint merkwürdig fern. Dunhams
Landschaften mit ihren Badenden sind ebenso wenig paradiesisch
wie seine früheren Werke, schießt es mir durch den Kopf.
Sie sind voller beunruhigender Spannung, gespalten zwischen
utopischem Feminismus und latentem Sexismus, Paradies
und Postapokalypse, Schöpfung und Zerstörung. Haare fliegen
auf, Hände recken sich zur Sonne. Die Ruhe ist eine Ruhe
vor dem Sturm. Man spürt ihn bereits durch die Bäume fegen.
M
REVUE
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ALPHA
2000, Mixed Media auf Leinen, 254 × 188 cm
oder postapokalytischen Landschaften, in denen auch van Goghs
Sternenhimmel aufscheint, sind die Frauen ganz sich selbst überlassen. Geblieben ist nur der machtlose männliche Blick. Wo zuvor
geschlachtet und getötet wurde, herrscht jetzt Mütterlichkeit.
Doch wie zum Beweis des Gegenteils führt Dunham uns hoch in ein
Dachatelier, in dem er an einer neuen Zeichnungsserie arbeitet.
Aus den Frauen sind inzwischen langhaarige, bärtige Männer geworden, die über Steppen toben, ineinander verkeilt wie wilde Tiere.
„Sie ringen“, erklärt er. „Sie ficken“, sagt Liz ruhig. Alle lachen.
„Wir alle haben eine Mutter. Dieses Gefühl sollen die Bilder
der Badenden vielleicht vermitteln. Ich benutze den Begriff des
Archetyps für diese Figuren“, erzählt Dunham später. „Bestimmt
nicht, weil ich ein großer Anhänger von C. G. Jung bin. Ich finde
nur, diese Bezeichnung passt zu Dingen, die größer sind als individuelle Menschen oder die Kategorien menschlicher Erfahrung
beschreiben. Malerei ist ein Weg, diese Erfahrung festzuhalten und
ihr zugleich eine formale Qualität zu geben.“
Dunhams Malerei will keine Themen behandeln, sondern
Formen entwickeln. „Avatare“ nennt er die Tiere, Pflanzen und
Figuren, die immer wieder in neuen Varianten auftauchen. „Wenn
du sie dir ansiehst, hat ihre Qualität rein gar nichts mit Beobachtung zu tun, null“, sagt Dunham. Er könne zum Beispiel Liz und
mich auf der Couch gar nicht abzeichnen, das sei ihm auch viel
zu blöd. „Die Figuren sind wie ein Code für die Dinge, ein unendlich
anpassungsfähiges Vokabular.“
Seit den Achtzigern verkörpert Dunham einen sehr zeitgemäßen
Künstlertyp, der auch für Magazine wie Artforum schreibt oder
Ausstellungen kuratiert. Er gehört zur Aristokratie der New Yorker
Kunstszene neben Malergrößen wie Julian Schnabel, Eric Fischl
oder David Salle. Er hat in führenden Galerien wie Sonnabend
oder Metro Pictures ausgestellt. Das Whitney widmete ihm Ende
VON LINKS NACH RECHTS:
MARKUS LÜPERTZ, 1984.
BASELITZ’ SKULPTURENATELIER
IN DER ALTEN WASCHKÜCHE,
1988. GEORG BASELITZ
IM SOMMERATELIER, DEM
EHEMALIGEN RITTERSAAL, 1985
Heldenbilder
Derneburg
in den
80er-Jahren:
GEORG
BASELITZ
genießt frühen
Weltruhm,
arbeitet wie ein
Berserker
und empfängt
auf seinem
Schloss Künstlerfreunde und
Ausstellungsmacher, die
das Jahrzehnt
wie keine
andere Gruppe
prägen werden.
Immer mit
der Kamera
dabei: sein
Sohn DANIEL
BLAU. Für
uns öffnet er
erstmals
sein Archiv
TEXT: FABRICE HERGOTT
REVUE
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REVUE
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IM UHRZEIGERSINN
VON LINKS:
BASELITZ’ SKULPTURENATELIER, 1982.
GEORG BASELITZ,
JOHANNES GACHNANG
UND SIEGFRIED GOHR
IM SOMMERATELIER, 1983.
SKULPTURENATELIER, 1982.
GEORG BASELITZ
NEBEN RALF BLICKT IN
DIE LANDSCHAFT, 1985
Ein Schloss als geschlossenes Universum, in dem es in erster
Linie um Kunst geht, um Projekte und Strategien
N
ur wenige kennen sie, diese Aufnahmen. Zumindest sind sie bis auf ein
paar Ausnahmen nie öffentlich gezeigt
worden. Jahrzehnte hat sie der Sammler und
Baselitz-Freund Peter Held aufbewahrt, bis
sie vom Fotografen für die Veröffentlichung
auf diesen Seiten ergänzt wurden. Es ist ein
Fotoalbum, das eine Malergruppe in ihrem
künstlerischen Umfeld dokumentiert, die
gerade einen Schlüsselmoment in ihrer Karriere erlebt. Jahre haben die Künstler für ihre
Ziele kämpfen müssen. Jetzt feiern sie internationale Erfolge – und verstehen sich noch
immer gut. Entstanden sind die Bilder in den
80er-Jahren, der Fotograf war damals gerade
mal um die zwanzig. Es ist der erste
Sohn von Georg
Baselitz, der 1962
geborene Daniel,
bekannt unter dem
Galeristennamen
Daniel Blau.
Neben Georg
Baselitz gehörten
zur Gruppe Jörg
Immendorff, Per
Kirkeby, Markus
Lüpertz und A. R.
Penck. Daniel Blau
hat sie seit seiner
Kindheit zu Hause
ein und aus gehen
sehen, in die Atelierräume des riesigen und kalten
Schlosses Derneburg. Im engsten
Kreis hat er an den Gesprächen und Diskussionen mit
seinem Vater, seiner Mutter
Elke sowie seinem jüngeren
Bruder Anton teilgenommen.
Es war ein geschlossenes Universum, in dem es in erster
Linie um Kunst ging, um Projekte und Strategien. Noch hat
Daniel nicht wissen können,
dass er ein Goldenes Zeitalter
miterlebte, eine Blütezeit der
Freundschaft und der Kunst,
die nicht ewig dauern sollte.
Während der 60er- und 70erJahre hatten sich die Künstler
nach und nach Michael Werner angeschlossen, dem sie sich als Freund und engagierten
Galeristen verbunden fühlten. Gemeinsam
proklamierten sie eine neue Malerei, die an
französischen Vorbildern wie Jean Fautrier,
aber auch an den klassischen deutschen
Expressionisten Maß nehmen wollte.
Zu Beginn der 80er-Jahre sollte ihre
Vision Wirklichkeit werden. Spektakulär feierte die Malerei ihre Rückkehr auf die Bühne
des Kunstbetriebs. Das Publikum war die
etablierten Trends leid, gab nichts mehr auf
eine Kunstkritik, die weiter die minimalistischen Tendenzen verteidigte. Farbe, Stofflichkeit, Materialität, danach stand jetzt der
Sinn. Und die Malerei dieser Künstler, die
Sinnlichkeit ihrer figurativen Darstellungen
erschien wie eine Apologie des Lebens. Im
Rausch an den Bildern erkannten allerdings
nur wenige, auf wie viel Wissensschatz die
neoexpressionistische Malerei dieser Künstler gründete, wie sie an die Kunst der Vormoderne oder an Stammeskunst anknüpfte.
Die Maler blickten in die Zukunft und in die
Vergangenheit zugleich. Das war das
Geheimnis ihres Erfolgs.
An ihrer Seite – und das ist für die
Geschichte ihres Erfolgs von großer Bedeutung – fanden sich bald engagierte Kuratoren. Allen voran der Schweizer Künstler,
Verleger und Ausstellungsmacher Johannes
Gachnang, der 1976 in der Berner Kunsthalle die erste Baselitz-Ausstellung im Ausland zeigte. In Köln war es Siegfried Gohr,
der sich für die Gruppe engagierte, und
wenig später fanden die Maler in Rudi Fuchs
einen einflussreichen Fürsprecher, der von
Eindhoven aus den internationalen Durchbruch der expressiven Malerei dirigierte. Und
nicht zu vergessen Norman Rosenthal, der
mit seiner Ausstellung A New Spirit in Painting, die er 1981 für die Londoner Royal Academy organisierte, viel dazu beitrug, dass
gerade das englischsprachige Publikum mit
zunehmender Faszination auf diese Malerei
aus Deutschland blickte.
Alles vergangen, Geschichte, Legende.
Doch Daniel Blau kann sich noch haarklein
erinnern. Er war mittendrin, hat zugehört
und zugeschaut, wie Pläne geschmiedet und
umgesetzt wurden. Tatsächlich waren der
Zusammenhalt und der Austausch in der
Gruppe in den 80er-Jahren noch einigermaßen intakt, auch wenn man von starken
REVUE
55
Künstlerpersönlichkeiten nicht unbedingt
erwarten darf, dass sie sich solidarisch verhalten. Aber die gemeinsamen Ziele verbanden
noch eine ganze Weile. Daniel selbst stand im
Schatten seines übergroßen Vaters, an eine
Karriere als Maler war gar nicht zu denken.
Aber lebensklug entdeckte er bald seine eigenen Möglichkeiten. Und begann mit Hingabe
zu dokumentieren, was er sah und erlebte.
Da er zur Gruppe gehörte, verhielt man sich
ihm gegenüber wohlwollend.
Aus dem Hobby wurde bald Profession.
Immer leidenschaftlicher machte Daniel
Blau die Fotografie zu seiner Sache. Er richtete sich ein kostspieliges Fotolabor ein,
arbeitete mit aufwendigem Equipment.
Unter seinen verschiedenen Kameras war
auch eine Hasselblad, die sich beim Künstler-Shooting als ganz besonders dienlich
erwies. Dadurch dass bei dieser Kamera der
Blick in den Lichtschachtsucher von oben
erfolgt und sie etwa auf Bauchhöhe gehalten werden muss, wird das Gesicht des
Fotografen nicht verdeckt. Dies fördert
beim Porträtierten ein Gefühl des Vertrauens. Auf die Weise gelangen Blau sehr persönliche Momentaufnahmen, in denen sich
die Künstler ganz unverstellt und ohne Attitüde oder aufgesetzte Maske offenbaren.
Kein bisschen Misstrauen ist zu spüren,
eher ein Hauch von Nähe, Zugewandtheit,
Sympathie.
Der Junge des Hauses war noch nicht
im Alter, um als Künstler ernst genommen
zu werden. Aber er selbst verstand sich voll
und ganz als professioneller Fotograf. So
wurde er zum Zeugen, der in der ersten
Reihe saß. Erschöpft am Ende eines harten
Arbeitstags, stützt Baselitz seinen Kopf in
die Arme. Lüpertz schmiegt sich in die
Kapuze seines Pullovers, als wolle er Schutz
vor Regen suchen, den es gar nicht gibt.
Penck wiederum ist voll im Einsatz und
augenscheinlich kurz davor, auf seiner Axt
zwischen den Beinen davonzureiten. Das
alles muss umso mehr auffallen, als es ja auch
andere Fotodokumente aus dieser Zeit gibt,
die die Künstler bei Weitem nicht so entspannt zeigen. Da spielen sie ihre grandiose
Rolle, gefallen sich in überheblichen Posen
und inszenieren sich entsprechend repräsentativ. Auf Daniel Blaus Set aber ist man zu
Hause, unter sich. Hier legen die Kämpfer
ihre bewährten Schutzschilde ab.
Jahre haben die Künstler für ihre Ziele gekämpft.
Jetzt feiern sie internationale Erfolge – und verstehen
sich immer noch
IM UHRZEIGERSINN VON
GANZ LINKS:
A. R. PENCK VOR SEINEM
LONDONER ATELIER,
1984. A. R. PENCK IN
MÜNCHEN, 1987. MARKUS
LÜPERTZ, 1986.
MARKUS LÜPERTZ IN
DERNEBURG, 1984.
PER KIRKEBY IN DER
SCHLOSSKÜCHE, 1983
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Irritiert, fasziniert begleitet das Ausland den Triumph
der Baselitz-Gruppe. Zum ersten Mal spricht man wieder
von German painting als Qualitätslabel
IM UHRZEIGERSINN
VON LINKS OBEN:
JÖRG IMMENDORFF
ZU BESUCH BEI A. R.
PENCK IN LONDON,
1985. ANTHONY
D’OFFAY UND DAVID
SYLVESTER IN
DERNEBURG, 1990.
ELKE BASELITZ IM
KREUZGANG, 1984.
MARY BOONE UND
MICHAEL WERNER IM
WINTERATELIER
NEBEN DEM GEMÄLDE
BLAUER MANN, 1983.
NORMAN ROSENTHAL
IM SOMMERATELIER,
1989. BASELITZ’
PRIVATSEKRETÄR
DETLEV GRETENKORT,
1986
Es dauerte etwa zehn Jahre, dann hörte
Daniel Blau mit der Fotografie auf, jedenfalls
mit dem Fotografieren.
Obschon Benjamin Katz,
der damals berühmtere
Kollege, ihn bei der
Arbeit beobachtet hatte
und von seinem Talent,
seinem Blick und seinen
Fachkenntnissen durchaus beeindruckt war.
Aber Daniel spürte, dass
es schwer sein würde,
sich im Schatten seines
mächtigen Vaters zu entwickeln – selbst im
Medium der Fotografie,
die der Malerei ja doch
nahesteht. Als Galerist
freilich gelang es ihm in
wenigen Jahren, zu einem international
geachteten Fotospezialisten zu werden.
Unterdessen traf sich der Kreis um Baselitz weiter – bis in die 90er-Jahre hinein. Streitigkeiten blieben nicht aus, auch Krankheiten
führten dazu, dass die Abstände immer größer
wurden. Penck, der sich in Deutschland missverstanden fühlte, zog sich nach Irland zurück.
Lüpertz spürte von Ausstellung zu Ausstellung mehr und mehr Widerstand bei Kritik
und Publikum. Und selbst das Verhältnis zwischen Georg Baselitz und Michael Werner
bekam Sprünge. Daniel Blau machte nur noch
gelegentlich ein paar Schnappschüsse. Inzwischen hatte er seine Fotogalerie in München
eröffnet, die mit ihrem konsequenten Programm, zahlreichen Neuentdeckungen und
Auftritten auf den wichtigsten Kunstmessen
ganz entscheidend zum künstlerischen Rang
der Fotografie beigetragen hat.
Auf die Jugendjahre im Baselitz-Kreis
blickt der ehemalige Vollzeitfotograf noch
immer ein wenig nostalgisch zurück. Zumal
wenn er sein Album aufschlägt und die Erinnerungen an einen Gründungsakt der neueren Kunstgeschichte wach werden, wie er
sich so nicht wiederholen sollte. Es waren ja
nicht nur ein paar zufällige Freunde, die
damals im Derneburger Schloss zusammenkamen. Mehr noch war es das gemeinsame
Ziel, das den Kreis um Baselitz so bedeutsam
erscheinen lässt. Von Anfang an war ausgemacht, dass es um nichts weniger als um eine
Erneuerung der Malerei gehen würde, um
die heroische Wiedereinsetzung einer Gattung, der die abstrakten, aktionistischen und
minimalistischen Nachkriegsjahrzehnte nicht
mehr viel Zukunft geben wollten. Mit einem
pathetischen Selbstbewusstsein, das manche
Zeitgenossen verschreckte, traten die Maler
an, noch einmal eine Bildkunst zu schaffen,
in der Geist und Sinnlichkeit Vorrang haben
sollten vor Stil und Allüre. Irritiert, erstaunt,
fasziniert hat das Ausland den Triumph der
Baselitz-Gruppe begleitet. Zum ersten Mal
wieder ist von German painting wie von einem
Qualitätslabel gesprochen worden.
Wohl gab es auch später immer wieder
Gleichgesinnte, die sich zusammentaten.
Etwa die Gruppe um Oehlen, Kippenberger,
und Herold. Aber die Unterschiede sind
unverkennbar. Die ironische Distanz zum
Geniebegriff, die spöttische Abrüstung des
Erhabenen, die sich in den Werken der Nachfolgegeneration ausdrückt, und nicht zuletzt
der vitale Austausch mit der amerikanischen
Szene, das alles steht in schroffem Gegensatz
zum alteuropäischen Ernst, den Baselitz und
seine Freunde kultivierten. Es ist so gesehen
eine schöne Pointe, dass ausgerechnet die
Maler, die nie einen Hehl aus ihrer nationalen, gleichsam abendländischen Verwurzelung gemacht haben, in ihrem emphatischen
Auftritt der imperialen New York School am
nächsten kamen.
Längst ist die Künstlerfreundschaft zerfallen, jeder ist seinen eigenen Weg gegangen.
Was geblieben ist, sind die Bilder der Maler
und die Fotografien, die vom Entstehen dieser Bilder und Bünde erzählen.
DAS FRANKFURTER STÄDEL ZEIGT VOM 30. JUNI
BIS 23. OKTOBER DIE HELDEN, BASELITZ’
WICHTIGSTE WERKGRUPPE AUS DEN 60ERN
DER FOTOGRAF: DANIEL BLAU IN CASTIGLION
FIORENTINO, ITALIEN, 1983
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Rembrandt
auf die Hand
Der große Salon im Stil des 18. Jahrhunderts dient als Studierzimmer, in dem sich maximal vier Besucher pro
Tag die Skizzen von Leonardo oder Briefe von Rembrandt anschauen dürfen. Linke Seite: Treppenhaus mit Marmorbüste von Turgot,
an den Wänden europäische Pleinair-Skizzen aus dem 19. Jahrhundert
121, Rue de Lille. Wer ahnt schon, dass sich im barocken Pariser
Stadtpalais ein kleiner Louvre versteckt? Dort verwahrt und
vermehrt die Fondation Custodia die unglaubliche Zeichnungssammlung des Niederländers Frits Lugt. Ein seltener Einblick
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A
msterdam, Ende des 19. Jahrhunderts:
Frits Lugt blickt entschlossen in die
Kamera. Er ist noch ein Kind. Aber
man sieht ihm und dem Foto an, dass der
kleine Frits Großes vorhat. Wenig später wird
er sein erstes Museum eröffnen. Während
andere Cowboy und Indianer spielen, häuft
er in seinem Kinderzimmer Schätze an. An
der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift
„Museum Lugt – Geöffnet immer dann,
wenn der Direktor zu Hause ist“.
Zu Zeiten, da der Direktor nicht da ist,
drückt er die Schulbank. Mit neun sammelt
er Muscheln, Federn, Steine. Mit 15 kauft er
seinen ersten Rembrandt, einen Kupferstich,
und schreibt eine Rembrandt-Biografie.
Sehr viel später scheint selbst der Tod
seinem Plan zu gehorchen und die Dramaturgie seines Sammlerlebens zu vollenden:
Als der 86-jährige Lugt an einem Sommertag im Jahr 1970 nahe der Pariser Place de
l’Étoile zusammenbricht, ist er sofort tot.
Unter dem Arm hat er eine Mappe mit drei
Zeichnungen. Im Terminkalender steht
der Besuch bei einem Kunsthändler: Es ist
der 15. Juli. Lugt hatte sich zum Sterben
den Geburtstag von Rembrandt ausgesucht.
Zwischen beiden Daten lag ein
gutes halbes Jahrhundert des unermüdlichen
Suchens und Jagens, in dem Lugt eine so
beeindruckende Sammlung von Zeichnungen
alter Meister, von Drucken, Radierungen
und Künstlerbriefen zusammengestellt hat,
dass man sie für eine über Generationen
gewachsene königliche Kollektion halten
würde, kaum aber für das Werk eines
Privatmannes – es sei denn, das eines Genies.
Wer Lugts Lebenswerk besichtigen
will, muss sich nach Paris begeben, ins
7. Arrondissement, das Quartier der Botschaften und Ministerien, ganz ans Ende
der Rue de Lille, kurz bevor sie auf die
Nationalversammlung stößt. Hinter dem
Gebäude mit der Nummer 121, einem
klassischen Bau aus der Haussmann-Zeit,
in dem sich bis vor wenigen Jahren noch
das niederländische Kulturinstitut befand,
versteckt sich im Hof ein zweites Stadtpalais, das Hôtel Turgot, gebaut 1743. Beide
Gebäude sind Sitz der Fondation Custodia,
die Lugt nach dem Krieg gegründet hat.
Ein Geheimtipp selbst für Pariser, denn
die wenigsten wissen, dass sich hinter
diesen Mauern ein kleiner Louvre verbirgt,
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REMBRANDTS Interieur mit Saskia im Bett,
um 1640–42. Links: Der Studiertisch im Salon
ein Kabinett der Papierkunst: Barocci und
Bruegel, Rembrandt und Rubens, Leonardo
da Vinci und Watteau. Insgesamt 7.000
Zeichnungen werden hier gehütet, 15.000
Grafikblätter, 450 Gemälde, dazu 55.000
Handschriften und Briefe, Manuskripte von
Michelangelo, Tizian, Poussin, Ingres und
Manet. Auch zwei der sieben erhaltenen
Rembrandt-Briefe werden hier aufbewahrt.
Die Fondation Custodia ist eine wahre
Wunderkammer: Im Vestibül empfängt
einen die Büste von Turgot, Finanzminister unter Ludwig XVI., Koautor der
berühmten Enzyklopädie, daneben hängt
sein Porträt in Öl, derselbe Mensch,
andere Wirkung. Turgot hat das Palais 1779
kurz vor seinem Tod erworben. Ger
Luijten, seit 2010 Direktor der Stiftung
Custodia, hat Büste und Bildnis angekauft,
dazu ein Inventar des Hauses zum Zeitpunkt von Turgots Tod. Ins Vestibül hat er
die private Sammlung von Landschaftsskizzen einer seiner Vorgänger gehängt:
Pleinair-Malerei, Momentaufnahmen in Öl,
vor allem aus dem 19. Jahrhundert.
Zwei Jahrzehnte lang hat Luijten das
Zeichnungs- und Kupferstichkabinett am
Amsterdamer Rijksmuseum geleitet, bevor
er die Pariser Herausforderung annahm.
Welt und überlebt. Ein Jahr später stirbt die
Mutter, wahrscheinlich an Tuberkulose.
Über Interieur mit Saskia im Bett liegt die
Melancholie des Werdens und Vergehens.
Es ist die erste Rembrandt-Zeichnung,
die Lugt gekauft hat, für 25.200 Gulden.
Eine andere Zeichnung zeigt die
Getreidemühle De Bok am Hafendamm
Het Blauwhoofd. Rembrandt erzeugt
hier räumliche Tiefe durch weiß gelassene
Stellen. So suggeriert er die Weite der
Landschaft, man ahnt das Meer, aber hält
zugleich einzelne Details fest. „Sehen
Sie das Toilettenhaus dort?“, fragt Luijten
lachend.
Bei der melancholischen Frau am
Hinter einer gepanzerten Tür befinden sich Originalbriefe und Zeichnungen aus dem
Fenstersims frisst die Tinte das Papier auf,
15. bis 21. Jahrhundert. Rechte Seite: PIETER CODDES Künstler und Kunstliebhaber im Gespräch,
es wird immer schwärzer, als habe die
um 1630. Das Werk hängt im Studierzimmer und spielt auf Frits Lugts Mission an
Depression noch nach Jahrhunderten die
Macht, die Seele dieser Frau zu verschlingen. Die Zeichnung The Healing of the MotherWarum der Wechsel von einem Weltmudas war alles noch vor Corot. Ein Meister- in-Law of Saint Peter hatte Lugt während
des Zweiten Weltkriegs in New York gekauft,
seum in eine Privatstiftung? Der Direktor,
werk“, sagt Luijten. Wolkenstudien,
wohin er mit seiner Familie vor dem
das rosige Gesicht von grauen Locken
ein eindrucksvoller Carl Blechen, Blicke
Krieg geflohen war. Einige seiner Stücke
umrahmt, als würde er einem Gemälde von
aufs Kolosseum, Landschaften von
hatten die Nazis, die „Dienststelle MühlFrans Hals oder Jan Steen entsteigen,
Jean-Baptiste Camille Corot: In einigen
mann“ geraubt. Manche sind bis heute
will mit seiner Arbeit den Geist des Gründers
der Gemälde entdeckt man die Farbe
fortsetzen. Denn Lugt war Selfmademan
der Wand wieder. Zufall? Nein. Luijten ist nicht rückerstattet.
„Es war damals schon schwer, auf
und Philanthrop. Er wollte Kunst allen
Perfektionist. „Ich will als Wandfarbe
zugänglich machen. Nicht nur Wissenschaftgenau diesen Ton des Gemäldes.“ In diesem diesem Niveau einzukaufen“, sagt Luijten,
die Petrus-Zeichnung in der Hand. Erst
ler, Kuratoren, auch interessierte Laien,
Fall Muskatbraun der Firma Tollens.
Paris-Besucher, Studenten können deshalb
Auf das Vestibül folgt das Esszimmer, kürzlich ist sie für eine Rembrandt-Ausstellung in der Frick Collection nach New York
hier die Zeichnungen alter Meister studiedas Lugt wie ein holländisches gestaltet
ren, dürfen sogar Originale in den Händen
hat. Aus dem Salon fällt der Blick in den zurückgekehrt. Versicherungswert: 12 Millionen Euro. Man möchte nicht ausrechnen,
halten. Nach Anmeldung werden jeden
Garten: Skulpturen, Vasen, weiße
Vormittag bis zu vier Personen in den sicher
Tulpen kurz vor der Blüte, eine japanische welchen Wert die 21 Rembrandt-Zeichnungen dieses einzelnen Albums haben.
schönsten Studiersaal von Paris gelassen.
Wollmispel, die Natur wie ein Gemälde.
Solche Meisterwerke im Passepartout
Luijten hat den Ehrgeiz, nicht nur den
Wer Lugts ehemaliges Büro betritt, hat das
in der Hand halten, ihre Rückseite betrachten
Schatz der Zeichnungen, sondern auch
Gefühl, in ein Bild von Vermeer einzudie Gemäldesammlung zu bereichern. Dem
treten: schwarz-weißer Marmor auf dem zu dürfen, ist ein Erlebnis, das einem
normalen Ausstellungsbesucher nirgendwo
Münchner Händler Marcus Marschall
Boden, untypisch für Paris, aber charakhat er einen Louis-Gabriel-Eugène Isabey
teristisch für die holländischen Gemälde gewährt wird. Neulich erst, erzählt Luijten,
sei eine Studentin in Ohnmacht gefallen.
abgejagt: Dans le Souk d’Alger, l’echoppe
des Goldenen Zeitalters, roter BrokatDer Schock der Schönheit. Stendhal-Syndu teinturier, die Bude eines Färbers auf dem
stoff an den Wänden, dunkles Mobiliar.
drom nennt man es, wenn das Herz
Basar von Algier. Die Stoffe hängen in
Hinter einer Panzertür dann das
schneller schlägt, der Atem stockt, der
knallbunten Farben im Vordergrund, der
Heiligtum: Luijten zieht ein altes LederSchwindel einsetzt angesichts der Kunst.
Pinselstrich ist breit und wild, als würde
album aus dem Regal, dessen Teakholz
Es wird als Krankheit beschrieben. Hier ist
dieses Bild aus dem Jahr 1830 eine Ahnung
er durch Ebenholz hat ersetzen lassen.
es nicht Krankheit, sondern Privileg.
von der Moderne geben wollen.
Passt besser. In einem Passepartout eine
Modern ist auch der Blick des Schweizer
Zeichnung von Rembrandt. Sie zeigt
TEXT: MARTINA MEISTER
Malers Louis Léopold Robert auf Neapel
seine Frau Saskia im Wochenbett. Drei
und den Vesuv (Vue de Naples avec le Vésuve),
Kinder hatte sie schon geboren, alle drei
DIE FONDATION CUSTODIA ZEIGT VOM 1. JUNI
entstanden irgendwann zwischen 1821 und
waren kurz nach der Geburt gestorben.
BIS 14. AUGUST C. W. ECKERSBERG – ARTISTE
DANOIS À PARIS, ROME ET COPENHAGUE
1825. „Robert stand erhöht, blickte hinab,
1641 kommt endlich der Sohn Titus zur
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DRIVE
DRAW
DREAM
JEDE ZEICHNUNG,
SAGT HAROLD ANCART,
IST EIN VERSPRECHEN
AUF DIE ZUKUNFT.
FÜR SEINE JÜNGSTE
SERIE HAT SICH DER
BELGISCHE KÜNSTLER
EINEN JEEP GEKAUFT
UND DEN KOFFERRAUM ZU SEINEM
STUDIO UMGEBAUT. DIE
ROUTE: NEW YORK —
LOS ANGELES — MIAMI —
NEW YORK. DAS
ERGEBNIS: EINE
ODE AN SEINE NEUE
HEIMAT
itzt man mit einem belgischen
Künstler (sehr animiert) in seinem
New Yorker Atelier (sehr kalt)
und konsumiert kalifornischen Wein und
mexikanisches Gras (sehr süß und sehr
stark), kann es durchaus passieren, dass
man plötzlich bei Helmut Kohl landet.
Ob er, der junge belgische Künstler,
je von der Gnade der späten Geburt
S
so neu, dass diejenigen im Publikum, deren
Hirnwachstum noch weitestgehend
analog stimuliert wurde, ob all der digitalen
Edginess nur staunen können.
Und Ancart? Erzählt, dass er, zehn
Jahre später geboren, vielleicht nie in
dem Maße entdeckt hätte, welche Macht
ihm das Zeichnen verleiht, welches
Glück es ihm beschert und bescheren
spezielle Vorlieben seiner Kundschaft
eingegangen. „Worauf stehst du?“, fragte
er die Jungs. Und so sehr es eine Dienstleistung gewesen sei, so sehr habe er darauf
geachtet, jedem Bild seinen unverwechselbaren Stempel zu geben.
„Die Mädchen mögen nackt gewesen
sein, aber sie hatten immer eine Knarre
in der Hand. Gern auch Maschinengewehre.
die große, weite Kunstwelt sein Pausenhof
ist und der Tauschwert einer Arbeit,
wenn man denn eine bekäme, bei bis zu
70.000 Snickers liegt. Solch ein Gedränge
herrschte zuletzt auf den internationalen
Kunstmessen vor seinen Bildern, dass ihn
der englische Kolumnist Kenny Schachter
als „belgischen Mark Grotjahn“ bezeichnete
– ein vergiftetes Lob, wartet der Maler aus
„Yes, it is pretty“, sagt er und lacht.
„But I think it is pretty great.“ Großartig
ist nicht zuletzt, wie er seinem Medium
treu geblieben ist, wie er von der Pausenhof-Pornografie in Teeniejahren über
strengste Abstraktion zu Studienzeiten
hinein in eine kosmisch-psychedelische
Figuration gefunden hat, ohne je einen
Pinsel in die Hand genommen zu haben.
was er zeigt, erzählt davon, welchen Weg er
zurückgelegt hat. Für seinen in Houston
zu sehenden Werkkomplex, der auf diesen
Seiten seine Vorpremiere feiert, ist Ancart
quer durch die USA gereist, von New York
nach Los Angeles, über Texas nach
Miami, wieder zurück nach New York. Ein
Roadtrip, um sich die ihm weitgehend
unbekannte Wahlheimat USA zeichnend
Erst Jahre später bin ich auf dieses Zitat
von Godard gestoßen. Alles, was du für
einen Film brauchst, sagt er, ist ein heißes
Mädchen und eine Knarre.“
Und die Kunden, womit haben sie
bezahlt?„Mit Pausensnacks. Snickers oder
Mars. Und mit Protektion. Niemand hat
sich mehr getraut, mich zu verprügeln.
Seitdem hatte ich das Gefühl, dass mich das
Zeichnen noch weit bringen würde.“
25 Jahre nach Harold Ancarts ersten
kommerziellen Erfolgen hat sich sein
Gefühl bestätigt. Die Nachfrage nach seinen
Arbeiten ist ungebrochen, nur dass jetzt
Los Angeles doch trotz astronomischer
Preise schon lange
auf eine Einzelausstellung in einem großen
Museum; viel Snickers, wenig Protektion.
Harold Ancart kennt die Vorbehalte
gegen sein Werk. Zu beliebt bei Sammlern
sei es, vor allem aber: zu schön. „Manchmal
höre ich, wie schlecht die Leute über
mich reden, und ich könnte fast heulen.“
Er verstehe nicht, wie man seine Arbeiten
nicht mögen könne. „Sie sind einfach,
sie sind voller Freude, sie sind nicht das
kleinste bisschen zynisch. Sogar Kinder
mögen sie.“
Auch wenn zuletzt Großformate auf
Leinwand entstanden sind: Ancart ist und
bleibt Zeichner, Bleistift und Ölkreide
sein Arbeitsmaterial. Und so macht es nur
Sinn, dass es David Breslin ist, Chief
Curator des Menil Drawing Institute in
Houston, der Ancart nun in diesem
Herbst seine erste amerikanische Museumsausstellung ausrichtet.
Weit gebracht hat das Zeichnen Ancart
im doppelten Sinne. Nicht allein dass
seine Solo-Schau in Renzo Pianos vielleicht
schönstem Museumsbau parallel zur großen
Picasso-Ausstellung The Line eröffnet. Auch
zu erschließen – in einem Jeep, in dessen
Kofferraum sich Ancart ein mobiles, voll
funktionstüchtiges Studio eingerichtet hatte.
„Ein wenig war Weegee mein Vorbild,
der New Yorker Fotograf in den Vierzigern,
der von Unfällen oder Tatorten der Presse
immer die ersten Bilder lieferte, weil er
direkt in seinem Auto die Abzüge entwickeln
konnte. Ich wollte einfach losfahren und
immer anhalten, wenn ich etwas sehe, was
ich zeichnen will.“
28 Arbeiten sind auf der Reise entstanden. Wir sehen Sonnenuntergänge, Regenbögen, Felsformationen und immer wieder
AUFTAKT, DIESE UND FOLGENDE SEITEN: NEW YORK-NEW YORK, 2014,
ÖLKREIDE UND BLEISTIFT AUF PAPIER, 28 ELEMENTE, JEWEILS 43 × 53 CM
gehört habe? Harald Ancart muss ausnahmsweise passen, bei vielem kann er mitreden,
schnell, präzise und begeistert, nur deutsche
Schulddiskurse sind nicht sein Ding. Und
doch leuchtet ihm die gerade aufgestellte,
noch recht wacklige These sofort ein,
nach der für ihn das Gegenteil gelte: die
Gnade der frühen Geburt.
Harold Ancart, Jahrgang 1980, gehört
der letzten Künstlergeneration an, die
ihre Jugend weder mit noch im Internet
verbracht hat. Das meiste, was danach
kommt, so die aktuelle Kunstweltbinse, ist
Post-Internet Art, sprich: so anders und
könnte. „Als ich aufs Gymnasium kam,
war es noch sehr schwer, an Pornografie
zu kommen“, sagt er an diesem eisigen
Frühjahrstag in Queens, wo er sich das
Erdgeschoss eines kleinen Mietshauses
mit dem Künstler Korakrit Arunanondchai
teilt. „Es war die Zeit vor YouPorn und
wenn man sehr viel Glück hatte, bekam man
irgendwann ein Penthouse-Magazin in
die Hände. Also begann ich, für die älteren
Jungen auf dem Schulhof nackte Mädchen
zu zeichnen.“
Die Nachfrage, sagt er, sei riesig
gewesen, und immer öfter sei er auf
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den Horizont, wir sehen Robert Smithsons
Land-Art-Meisterwerk Spiral Jetty,
McDonald’s-Zeichen und Tankstellen. Und
wir sehen einem Künstler über die Schulter, für den sein Medium ein ähnlich großes
Versprechen ist wie das Land, in das er nach
seinem Studium in Brüssel ausgewandert ist.
„Mir ist es wichtig, dass meine Arbeiten Zeichnungen sind und eben keine
Gemälde. Malerei hat mehr mit der Suche
nach dem abgeschlossenen, fertigen
Meisterwerk zu tun, während eine Zeichnung immer ein Versprechen auf etwas
ist, das noch kommen wird. Zeichnungen
sind nie fertig oder unfertig. Und es spielt
auch keine Rolle, eben weil sie Versprechen
auf die Zukunft sind.“
Die Zeichnung als Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat sich ihm, so erzählt
er, erst in New York vollends erschlossen.
Als Student in Brüssel zeichnet er schwarze,
strenge Abstraktionen, sehr formalistisch,
Sol LeWitt oder Richard Serra sind seine
Vorbilder, und nachdem er nach New
York zieht, ist es Serras Studio, bei dem er
als Erstes klingelt, um nach einem Job zu
fragen. Da gerade einer von Serras Assistenten erkrankt ist, sogar mit Erfolg. „Ich
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war keine fünf Tage in New York und
arbeitete schon im Studio von Richard
Serra“, erinnert er sich. „Ich interessierte
mich damals eigentlich nur für formalistische Kunst, deren Prozess ich verstehen
konnte. Picasso oder sogar Gauguin
ließen mich völlig kalt. Heute liebe ich
beide, während mir die Radikalität,
diese machohafte Härte im Werk von
Serra immer fremder geworden ist.“
Ob es die bittere Kälte in seinem
ersten kleinen Studio in Brooklyn ist
oder die postindustrielle Umgebung, weiß
er heute nicht mehr zu benennen. Auf
jeden Fall beginnt Ancart, Palmen zu malen,
die sich wie Tagträume in die dunkle Nacht
seiner Abstraktionen schleichen. Auf die
Palmen folgen Papageien, auf Papageien
Planeten.
„Nicht dass ich das damals konzeptualisiert hätte,“ sagt er. „Aber letztlich
willst du als Künstler, dass ein Publikum
deine Sachen anschaut. Das vergessen
die Leute oft, dass Bilder in erster Linie
zum Anschauen da sind. Was also gibt
es Besseres zu malen als Blumen, Sonnenuntergänge oder Lagerfeuer, things you
can contemplate?“
Ganz zart habe er begonnen, diese
figurativen Element in seine abstrakten
Hintergründe einzuarbeiten, bis sie immer
stärker in den Vordergrund getreten
seien, nur um sie dann wieder mit abstrakten Spuren zu überziehen. „Es ging mir
nicht mehr um Abstraktion versus Figuration, sondern darum, beides zu haben.
Dinge zu zeichnen, die wie Dinge aussehen,
und Dinge zu zeichnen, die wie nichts
aussehen, ist inzwischen dasselbe für mich.“
David Breslin, sein Kurator an
der Menil Collection, formuliert es so:
„Harold Ancart folgt in seinem Werk
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nicht Traditionen, sondern bringt sie
zusammen, um etwas Neues entstehen zu
lassen.“ Für Breslin sind es die Traditionen
von Abstraktem Expressionismus und
Surrealismus, von Clyfford Still und Max
Ernst, beides Künstler, von denen
die Menil Collection mit die wichtigsten
Sammlungen weltweit besitzt. In diesem
Kontext werde dem Publikum klar
werden, dass Ancart simultan das Erbe
von beiden antrete.
„Wir machen kein Hehl daraus, wie
wichtig das Medium Zeichnung für uns ist“,
sagt Breslin, der gerade am Werkverzeichnis
der Zeichnungen von Jasper Johns arbeitet
und im nächsten Jahr einen neuen Museumsbau nur für die Zeichnungssammlung
der Menil Collection eröffnet. „Um zu
zeigen, dass das Medium nichts Verstaubtes
ist, sondern das Lebendigste und Unmittelbarste überhaupt, ist es nur konsequent,
Harold Ancart schon jetzt die große Bühne
zu geben.“
Welt kreieren, von der du selbst fast
ausgeschlossen bist, ein sich selbst versorgendes System, dem du nur noch zu
folgen brauchst.“
Es helfe dabei, ein bisschen zurückgeblieben zu sein, sagt Ancart zum
Abschied. „Die Maler, die ich am meisten
verehre, sind oft sehr beschränkt. Nur
so können sie zulassen, dass ihre Arbeit
Essen in Los Angeles angekommen sei, habe
er erst mal die David Kordansky Gallery
angesteuert, wo eine Ausstellungseröffnung
des Malers Jonas Wood im Gange gewesen
sei. Er sei mit Wood ins Gespräch gekommen und habe ihn zu einem Studiobesuch
eingeladen. „Genau jetzt, draußen, auf dem
Parkplatz.“ Wood sei mitgekommen und
so begeistert gewesen, dass er Kordansky
Scheitern, sagt der Künstler selbst, sei
dabei keine Option. Nicht allein weil die
Ausstellung stehe und nichts mehr schiefgehen könne. „Scheitern ist für mich nicht
einmal Teil der Gleichung. Wann immer
mir nichts Neues einfällt, zeichne ich
das letzte Motiv noch mal. Und noch mal.
Und noch mal. Es wird sowieso immer
anders werden. Ich glaube fest an die
Aktion. Daran, immer weiterzumachen.
Am besten gleich morgens in der Unterhose, schon vor dem Zähneputzen. Wenn
du täglich arbeitest und nicht zu viel
nachdenkst, wird deine Arbeit eine eigene
sich aus sich selbst heraus entwickelt.“
Zu verstehen gäbe es ohnehin nicht viel.
Für den Künstler: zu machen. Und
für den Rest: zu schauen.
Ob er sich nach seiner Reise durch die
USA nun endgültig als amerikanischer
Künstler fühle? „Ich fühle mich wie ein
New Yorker Emigrant“, sagt er. „Ein
Emigrant im Glück.“ Als er nach zwei
Wochen Fahrt durch die langweiligsten
Landschaften (Nevada) und aufregendsten
(Utah), einer Rast am größten truck stop
der Welt (Iowa), vielen erstaunlich guten
Strip-Clubs und erschütternd schlechtem
getextet habe, er müsse sofort rauskommen.
Und? „Er ist rausgekommen.“
Im September, vier Tage vor seiner
Schau in Texas, eröffnet seine erste
Einzelausstellung in Los Angeles. Diesmal,
sagt er, wird er die Strecke wieder fliegen.
TEXT: CORNELIUS TITTEL
DIE MENIL COLLECTION, HOUSTON, ZEIGT AB
DEM 14. SEPTEMBER EINE EINZELAUSSTELLUNG
HAROLD ANCARTS. VIER TAGE ZUVOR
ERÖFFNET DIE DAVID KORDANSKY GALLERY
IN LOS ANGELES MIT NEUEN ARBEITEN
HAROLD ANCART, FOTOGRAFIERT VON GEORDIE WOOD
„Die Maler, die ich am meisten verehre, sind oft
sehr beschränkt“
— HAROLD ANCART
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eit ich denken kann,
gehe ich in Graz
samstags auf den
kleinen Bauernmarkt gegenüber der Oper.
Das ist für mich der ideale
Treffpunkt, um gut gelaunt in
den Tag zu starten. Man kann
dort wunderbare regionale
Produkte kaufen. Ich trinke
meist einen Kaffee am Stand
von Eva Rossian, esse eine
Kleinigkeit, manchmal trinke
ich auch ein Bier. Jeder hat
seine speziellen Bauern, sie
kommen um fünf in der
Früh aus der Steiermark.
In Graz treffe ich andauernd
Bekannte, die Stadt ist überschaubar, und der Markt ist
ihr Herz.
Ein anderer wichtiger
Anziehungspunkt und im
Grunde auch ein Muss ist
das Kunsthaus Graz. Dort
wird ein sehr gutes internationales Programm gemacht.
Für mich war es immer ein
Ziel, dort auszustellen –
und nun hat es geklappt!
Das bedeutet mir sehr viel.
Es wurde 2003 eröffnet
und hat eine sehr spezielle,
futuristische Architektur
von Peter Cook und Colin
Fournier, die schon in der
visionären Zeit der 70er-Jahre
mit transluziden Hüllen
gearbeitet haben. Das
Kunsthaus wirkt von außen
ein bisschen wie ein Alien.
Seine Hülle ergibt auch innen
einen interessanten Raum,
in dem man vor allem gut
bildhauerisch arbeiten kann.
Von vielen Künstlern wird
er als schwierig empfunden,
aber ich finde, er hat ein
großes bildhauerisches Potenzial. Ich habe dort eine neue
Arbeit entwickelt:
einen begehbaren Klangkörper, in den drei Waldhorn-
Food. Sie arbeiten mit guten,
oft regionalen Produkten.
Ich esse dort am liebsten
Burger. Es ist ein schöner
Treffpunkt, auch abends,
denn es hat lange offen und ist
liebevoll geführt – früher war
es ein altes Wirtshaus, das die
beiden komplett neu gestaltet
und vintagemäßig eingerichtet
haben, sodass die Erinnerung
an die Geschichte noch da ist.
Einen herrlichen Blick
auf die Dachlandschaft der
Stadt – die übrigens von
der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurde, ebenso
wie die gesamte Altstadt –
hat man vom Schlossberg.
Ein Lift und eine alte Stiege
führen hinauf, oben kann
man dann in einem Kaffeehaus Rast machen oder über
die Terrassen und durch den
Rosengarten spazieren. Ganz
Graz ist von sanften Hügeln
2
G R A Z m i t C o n s t a n t i n L u s e r,
Kü n s t l e r
trichter hineinragten, die von
außen bespielbar waren.
Die Skulptur war also wie
ein Instrument. Das Haus
ist international ausgerichtet
und weltweit anerkannt;
ich habe schon fantastische
Ausstellungen von Sol LeWitt
und Katharina Grosse hier
gesehen.
Ganz in der Nähe vom
Kunsthaus gibt es ein Restaurant, das Freunde von
mir betreiben, es heißt
Blendend. Nina und Josef
sind junge Wirtsleute und
bieten dort eine Mischung
aus Slow Food und Street
1
4
1 Leben auf dem
Wochenmarkt
2 Graz’ Dachlandschaft steht unter
Denkmalschutz
3 Die Wirtsleute Nina
und Josef vor ihrem
Lokal Blendend
4 Vater und Bruder
des Künstlers ver liehen einem Altbau
ein Spiegelgesicht
3
und Bergen umgeben – der
Schlossberg steht in der Mitte
dieses Kessels. Es ist oft
sonnig hier oben, man kann
sich gut orientieren und
dieses erhebende Gefühl
genießen. Das gehört für
mich zu einem Graz-Besuch
einfach dazu.
Wenn man auf der
anderen Seite hinuntergeht,
kommt man am Freiheitsplatz heraus. Er führt in die
kleine Ballhausgasse, dort
steht ein uraltes Wohnhaus
mit einer verspiegelten
Fassade. Die gegenüberlie-
gende Fassade spiegelt sich
darin leicht verzerrt. Mein
Vater und mein Bruder haben
sie gebaut – sie sind beide
Architekten. Ich finde, das ist
eine gute Lösung, um Altes
mit Neuem zu verknüpfen:
zeitgemäß und trotzdem mit
Respekt für die Geschichte.
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Vergangenheit. Ich nehme
dort gern einen Kaffee und
blättere in den Zeitungen.
Einmal traf ich dort den
türkischen Schriftsteller
Orhan Pamuk, der gerade für
eine Residency in der Stadt
war. Er meinte, das Café sei
einer seiner Lieblingsplätze
geworden und er habe von
dort inspiriert an seinem
nächsten Buch geschrieben.
Ja, es ist ein guter Ort, auch
wenn man kein Deutsch
spricht oder nichts mit der
Theaterwelt zu tun hat.
Von der Terrasse aus
kann man das Museum der
Moderne am Mönchsberg
sehen. Es wurde lange
diskutiert, warum man ein
neues Museum braucht.
Ich habe mich sehr dafür
eingesetzt, auch für diesen
exponierten Ort. Das Haus
ist eine wunderbare Ergänzung zur Residenzgalerie
SALZBURG mit Thaddaeus
Ropac, G a l e r i s t
S
alzburg ist für mich
wie eine Bühne.
Seit hundert Jahren
lockt die Stadt
allsommerlich zu den Festspielen Sänger, Regisseure,
Schauspieler und Künstler
an. Sie ist ein großartiger
Gastgeber. Der Mix aus
barocker Architektur sowie
Opern- und Theatererlebnis
hat etwas Unwirkliches,
ist aber auch sehr lebensbejahend.
Das Café Bazar, das
ganz in der Nähe meiner
Galerie liegt, ist ein besonders schöner Treffpunkt.
Es hat diese Tradition, man
spürt das Gedächtnis der
mit den Sammlungen des
17. bis 19. Jahrhunderts und
zum Rupertinum, wo der
Fokus mit Kokoschka, Klimt
und Schiele auf der österreichischen Moderne liegt. Aber
es ist wichtig, auch ein Haus
mit einer internationalen
zeitgenössischen Sammlung
zu haben, mit Ausstellungen,
wie man sie auch in Paris
oder Berlin erwarten würde.
Die Direktorin Sabine
Breitwieser schafft das sehr
gut. Ihr Programm ist
bewusst nicht auf Salzburg
abgestimmt. Die Stadt
braucht so einen Ort, um
über sich hinauszuwachsen.
Es gibt natürlich auch den
Kunstverein mit Ausstellungen für ganz aktuelle
Kunst, den der aus Irland
stammende Direktor Séamus
Kealy hervorragend führt.
Auch der Designshop
CollectorsRoom ist eine
Insel für sich. Gegründet hat
ihn Alejandro Madero, ein
Mexikaner mit schwedischen
Wurzeln, den es nach Salzburg
verschlagen hat. Er interessiert
sich für skandinavisches
Design der 50er- und 60erJahre, schwedisches Glas
und dänische Möbel. Ich habe
dort schon Stühle von Hans
J. Wegner gefunden und aus
Helsinki stammende Teppiche.
Das Antiquariat
Weinek entdeckt nur, wer
sich ganz bewusst dorthinbegibt. Es liegt in der verwunschenen Steingasse.
Christian Weinek ist jemand,
der die unglaublichsten
Autografen und Originalschriften findet – etwa von
Ingeborg Bachmann, Max
Reinhardt, Thomas Bernhard
und Max Frisch. Sie haben
alle den Sommer hier verbracht. Weinek kennt wirklich
jedes Buch, und wenn er es
2
4
6
1
1 Das Café Bazar im alten Glamour
2 Im CollectorsRoom schlägt
ein Herz aus Glas 3 Die Musik
spielt bei Katholnigg 4 Frische
Luft: Die Hellbrunner Allee
5 Im Antiquariat Weinek kann
man stundenlang stöbern
6 Direktorin Sabine Breitwieser
holt die ganze Kunstwelt ins
Museum der Moderne
3
5
nicht hat, dann weiß er, wo
man es bekommt. Für mich
verkörpert er selbst die
Literatur des 20. Jahrhunderts,
eine Unterhaltung mit ihm ist
etwas ganz Wunderbares.
Auch das Musikhaus
Katholnigg ist ein Ort für
Originale. Hier entdeckt
man alte LPs von Herbert
von Karajan, Karl Böhm oder
Carlos Kleiber – also von
denen, die Salzburg geprägt
haben. Ich erinnere mich an
die 80er-Jahre: Die großen
Opernpremieren waren auf
die unmittelbare Herausgabe
der Schallplatten abgestimmt.
Nach der Premiere – auch
noch bis Mitternacht – konnte
man zu Katholnigg gehen
und die Aufnahme der soeben
gehörten Aufführung kaufen.
Die Leute standen Schlange.
Noch heute ist es hier das
bestsortierte Musikgeschäft.
Ein paar Schritte weiter
steht die Franziskanerkirche – ein skurriler Bau
mit Barockfassade und
hochgotischem Chor. Dort
haben sich die Erzbischöfe
ausgetobt! Sie haben die
einzelnen Seitenaltäre ihrer
Vorgänger herausgerissen
und neu gebaut – so ist eine
ganz eigenartige Mischung
mit verschiedenen Stilrich-
D
B R E G E N Z m i t T h o m a s Tr u m m e r,
Direktor des Kunsthauses Bregenz
ie Altstadt von
Bregenz erhebt
sich auf einem
imposanten
Hügel, der nach drei Seiten
jäh abfällt. Im 13. Jahrhundert
lag hier eine Burgansiedlung.
Vom Martinsturm aus, dem
Wahrzeichen von Bregenz, ist
der Ausblick überwältigend:
Der Bodensee glänzt silbrig,
die Bergspitzen funkeln, in
der Ferne erheben sich die
Insel Lindau und die Matten
des Appenzeller Lands.
In die Oberstadt gelangt
man über den Stadtsteig
und durchquert ein Tor
mit schwerem Eisengitter.
Kuriose Dinge sind im
Durchgang drapiert – ein
Hubertushirsch, Kruzifixe,
eine Sonnenuhr mit mahnenden Lebensformeln, Georgsdarstellungen. Und ein
mumifizierter Haifisch!
Er schwebt über den Köpfen,
fletscht seine Zähne. Sein
verdorrter, grauer Körper ist
verrenkt. Er hält dem Bösen
eine Maske hin. Tatsächlich
bleibt Unheil hier oben fern:
tungen entstanden. Von den
23 Kirchen ist es die mit der
eigenartigsten Architektur.
Überhaupt hat Salzburg,
eingebettet zwischen den
Bergen, etwas Beständiges,
in Stein Gemeißeltes.
Deshalb liebe ich die
Hellbrunner Allee, die
historische Verbindungsachse
der Stadt mit den Orten
im Umland. Gesäumt von
kleinen Schlösschen aus dem
17. und 18. Jahrhundert, ist
sie für mich eine der schönsten Alleen überhaupt. Ich reise
sehr viel, aber es ist für mich
immer etwas Besonderes,
nach Salzburg zurückzukehren.
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1
I
2
3
5
Es gibt keinen Kommerz,
nur Fachwerk und Bollwerk.
Ich gehe jeden Tag unter
dem Hai hindurch. Auch
das Kunsthaus hält eine
Besonderheit versteckt.
Über Peter Zumthors Bauwerk aus Beton ist eine
Schale aus Glasschindeln
gesetzt. Das Licht schimmert
mattgrün hindurch. Ganz
oben führt zwischen Kern
und Schale ein vergitterter
Fassadengang herum,
von wo aus es 20 Meter in die
Tiefe geht. Immer wenn ich
dort bin, greife ich mir sofort
an die Hosentaschen, damit
nichts verloren geht – das ist
nichts für Menschen mit
Höhenangst! Der Blick geht in
das Gebäude hinein, zugleich
hört man die Geräusche
von draußen und sieht die
Landschaft, denn die Schindeln sind nicht verfugt,
1 Im Altstadttor haust
ein Hai 2 Bregenz
zwischen Alpenrand
und Bodensee 3 Das
Vorarlberg Museum
mit Florian Pumhösls
schwarzem Raum
4 Von dort wirkt der
Bodensee wie ein
Filmset 5 Eine
Busfahrt führt in den
Bregenzerwald – Stararchitekten wie Sou
Fujimoto haben dort
die Haltestellen in
Kleinode verwandelt
sondern offen. Das ist ein
unglaubliches Erlebnis. Jeden
Sonntag gibt es Führungen
hindurch.
Das Vorarlberg
Museum ist unser Nachbar.
Es wurde vor zwei Jahren
eröffnet, mit einer fantastischen, monolithischen
Architektur. Der österreichische Künstler Florian
Pumhösl hat im obersten
Stock einen Raum gestaltet.
Er ist zum See hin gerichtet
und vollkommen schwarz:
schwarzer Teppichboden,
schwarze Filzwände, die
Wand zum See hin ist aus
dunkel getöntem Glas, wie
in einer Limousine. Von
dort blickt man auf See
und Hafen – alles in dieser
dunklen Tönung, was unglaublich faszinierend ist.
Schiffe legen an, Züge
passieren, Touristen flanieren.
4
So entsteht eine bewegte
Postkarte: Sie zeigt eine
Wirklichkeit, die von den
Schlieren der Erinnerung
verdunkelt ist. Für den
Künstler ist der Raum eine
Referenz an die Camera
Obscura, das Kino und die
Wahrnehmung.
Die kann man auch an
der schmalen Landzeile
zwischen See und Bahn
schärfen – der sogenannten
Pipeline. Die Sonnenuntergänge hier sind spektakulär.
Im Sommer wird gegrillt und
gebadet in der Ach, einem
reißenden Gebirgsbach, der
stellenweise stark anschwillt.
Sein Wasser ist unglaublich
klar. Ein guter Ort zum
Eintauchen befindet sich
neben der Eisenbahnbrücke.
Das Wasser staut sich dort,
und große, glattgeschliffene
Klippen ragen aus dem
Wasser: Das Ganze ist eine
freigelegte Sandwelle, die
vor 20 Millionen Jahren
versteinert ist.
Ein schöner kleiner
Ausflug ist eine Busfahrt
in den Bregenzerwald
mit der Linie 25, sie dauert
etwa eine halbe Stunde.
Die Architektur dieser
Gegend ist kitschfrei: keine
Tiroler Häuser mit gedrechselten Balkonen. Der kleine
Ort Krumbach kam auf
die Idee, sieben Haltestellen
von Stararchitekten entwerfen zu lassen: Sou Fujimoto
stellte einen Wald aus weißen
Stahlstangen auf, Rintala
Eggertsson baute einen
Tenniscourt, Wang Shu spielt
mit der Perspektive. Man
kann sie auch zu Fuß abwandern. Damit hat es
der Bregenzerwald in die
New York Times geschafft!
n Wien kann man
herrlich flanieren.
Zum Beispiel bei den
Galerierundgängen, die
ich einmal im Monat mache.
Zur Eschenbachgasse
mit den Galerien Krobath,
Meyer Kainer, Martin Janda,
Steinek und Crone gehe
ich von meinem Büro im
mumok nur fünf Minuten.
Bei Krobath ist gerade
Jenni Tischer zu sehen,
die 2014 im mumok eine
wunderbare Ausstellung
hatte. Bei ihren Wandobjekten und Skulpturen aus
alten Stricknadeln trifft
die Formensprache minimalistischer Skulptur auf textiles
Arbeiten. Wenn die Galerien
einmal im Monat ihre Eröffnungen bündeln, ist die
gesamte Wiener Kunstszene
unterwegs.
ragendes Fleisch von biologischen Bauernhöfen anbietet. Und wenn ich in dem
winzig kleinen, liebevoll
eingerichteten Feinkostladen
bei Herrn Urbanek einkaufe,
hat er gleich ein Glas Champagner für mich parat. Er ist
berühmt dafür, ganze Passagen
aus Schiller oder Thomas
1
WIEN mit Karola Kraus,
Direktorin des mumok
Immer wieder besuche
ich die Secession mit dem
berühmten Beethoven-Fries,
den Gustav Klimt für die XIV.
Ausstellung der Vereinigung
bildender Künstler Österreichs im Jahr 1902 in der
Secession gestaltete. In dieser
Ausstellung – als Hommage
an den Komponisten Ludwig
van Beethoven konzipiert –
erfuhr die Idee des secessionistischen Gesamtkunstwerks
ihre beste Ausprägung.
Der Naschmarkt ist für
mich jedes Wochenende ein
Erlebnis. Mein Lieblingsobststand ist der von Martina
Himmelsbach, der frischestes Obst und Gemüse und
seit Neuestem auch hervor-
3
1 Die Secession ist Leuchtturm
des Jugendstils und ein
wichtiger Ort von Künstlern
für Künstler 2 Jenni Tischers
filigraner Minimalismus in der
Galerie Krobath 3 Der Naschmarkt ist ein Muss, besonders
der Stand von Martina Himmelsbach mit seiner Opulenz an
Obst und Gemüse
Bernhard zu zitieren – und
jedes Mal sind es andere!
Dagegen ist das Café
Anzengruber um die Ecke
eher eine dunkle, deftige
Künstlerkneipe. Man bekommt Würstl im Saft und
ähnliche traditionelle Leckereien. Bis tief in die Nacht
trifft man hier interessante
Gesprächspartner. Weil ich
aber auch gern selber koche,
ist der Kochbuchladen
Babette’s mit der kleinen
Bar nebenan ebenfalls ein
toller Anziehungspunkt für
mich. Ich habe dort schon
oft Bücher erstanden, und
ich liebe den Geruch nach
Gewürzen aus dem großen
2
Alle Fotos: Katarina Šoškić außer S. 74: © Österreich Werbung / Thomas Smetana. S. 76 l. o.: Philippe Servent, S. 78 M.:
Agentur Anzenberger; S. 80 o.: Richard Artschwager © VG Bild-Kunst Bonn, 2016
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4
3
5
2
1
Regal an der Stirnwand.
Weiter die Schleifmühlgasse hinauf reiht sich
eine Galerie an die nächste:
Georg Kargl, Kerstin
Engholm, Andreas Huber,
Gabriele Senn und Christine
König sind hervorragende
Adressen, bei denen ich mir
möglichst alle Ausstellungen
anschaue.
Auf der anderen Straßenseite wirkt der Laden
Blumenkraft mit seinen
unglaublichen Arrangements
von Rittersporn, Anthurien
oder Orchideen fast wie ein
Gesamtkunstwerk. In dem
alten Werkstattraum mit
hohen Säulen strahlt alles
so schön, dass ich mich gar
nicht sattsehen kann!
Ähnlich ergeht es mir in
dem berühmten Glasgeschäft
Lobmeyr in der Kärntner
Straße, eine echte Wiener
Institution! Gegründet
1823, wird es heute in der
sechsten Generation weiter-
1 Lobmeyr ist seit
1823 eine Institution
2 Die Galerie Georg
Kargl, gestaltet von
Richard Artschwager
3 Der Laden Blumenkraft ist ein Paradies
4 Der Kochbuchladen Babette’s ist
die beste Anleitung
zum Selbermachen
5 Gerhard Urbanek
macht Feinkost zum
Erlebnis
geführt. Der ganze Laden
leuchtet und glitzert von
Gläsern und Kristalllüstern.
Ich mag besonders die
nüchternen Formen der
Wiener Werkstätte vom
Anfang des 20. Jahrhunderts,
vor allem von Adolf Loos
und Josef Hoffmann, von
dem ich einige Gläser gekauft
habe: Sie sind formvollendet
und passen absolut in unsere
Zeit. Über die Wendeltreppe
gelangt man zum oberen
Stock in ein kleines Glasmuseum. Natürlich darf
man auch die süßen Köstlichkeiten nicht außer Acht lassen, die es bei Altmann &
Kühne am Graben gibt.
Nach einer kurzen Pause
bei den feinen Brötchen
im Schwarzen Kameel
mache ich einen Rundgang
durch die Galerien im
1. Bezirk. Das liebe ich an
Wien: Die Stadt ist voll
von Entdeckungen aus alten
Zeiten und der Gegenwart.
L I N Z m i t G e r f r i e d S t o c k e r,
Leiter der Ars Electronica
1
2
4
1 Das Ars Electronica Center mit
seiner interaktiven
Fassade
2 Der Knödelautomat gleich neben
dem Hochofen
3 Die linke Szene
trifft sich im
Salonschiff
4 Peter Behrens’
alte Tabakfabrik
3
L
inz ist eine Stadt
der Technik und
Industrie. Auch
wenn ich nun
schon seit 20 Jahren hier lebe,
spüre ich die Industrieromantik jedes Mal wieder, wenn
ich von einer Reise zurückkomme. Mein täglicher Weg
zur Arbeit führt mich durch
die Stadt und über die
Nibelungenbrücke nach
Urfahr, in den nördlichen
Teil von Linz. Direkt am
Donauufer befindet sich
hier das Ars Electronica
Center, ein sehr moderner,
in allen möglichen Farben
schimmernder Bau, der
fixer Bestandteil des Linzer
Stadtbilds ist. Wenn ich
das Gebäude abends wieder
verlasse, sehe ich meist
Jugendliche rund um unser
Fassadenterminal versammelt, an dem sie ihre
Smartphones mit der LEDund lautsprecherbestückten
Fassade des Ars Electronica
Center verbinden und ihre
Lieblingsmusik abspielen
und visualisieren können.
Schräg gegenüber öffnet
sich ein kleiner Platz mit
alten Häuschen und der
Stadtpfarrkirche. Abends ist
er voller Leute, die vor dem
Café Strom sitzen. In den
Achtzigern war das ein besetztes Haus. Die Provokation
von damals ist einem Partizipationsprojekt gewichen:
Heute gibt es hier Studiowerkstätten für Kreative, das Radio
FRO (der erste private Radiosender Österreichs) und eben
das Café, wo bis in die Nacht
hinein fröhliche Stimmung
herrscht. Ein paar Schritte
die Donau hinunter liegt
das Salonschiff Fräulein
Florentine vor Anker, ebenfalls ein charmanter Ort zum
Essen, Trinken und Feiern.
Auch hier trifft sich die Alternativszene.
Wenn ich mal frische Luft
brauche, fahre ich gern zur
neuen Anton-BrucknerUniversität für Musik,
Tanz und Schauspiel auf
den Pöstlingberg hinauf.
Sie wurde erst vor wenigen
Monaten eröffnet. Mit der
dynamisch verschränkten
Lamellenfassade wirkt das
Gebäude ein bisschen wie
eine Ziehharmonika, spiegelt aber auch die Berge
der Umgebung. Ich trinke
hier gern einen Kaffee und
genieße den Blick von
der Terrasse ins Grüne.
Im Park daneben steht auch
ein futuristischer Brunnen
aus den 60er-Jahren – man
hat ihn von dem alten
Gebäude hierher verpflanzt,
wo er erstaunlich futuristisch aussieht. Die Musik
der Studierenden tönt nach
draußen und mischt sich
im Sommer mit dem Vogelkonzert; für mich ist der
Bau eine wunderbare Schnittstelle zwischen Industrielandschaft und Natur.
Zum Leben erweckt ist
inzwischen auch wieder die
alte Tabakfabrik an der
südlichen Seite der Donau.
Der Industriebau, der zwischen 1929 und 1935 von
Peter Behrens und Alexander
Popp errichtet wurde, steht
unter Denkmalschutz und
beeindruckt durch seine
schlichte Backsteinarchitektur.
Ich kann mich noch gut
erinnern, wie wir Anfang 2010
zum ersten Mal durch die
ewig langen Gänge und
riesigen Speicher gegangen
sind, um sie für das Ars
Electronica Festival im
September zu besichtigen –
der Tabakgeruch lag noch
in der Luft, und man konnte
die Arbeiterinnen und Arbeiter inmitten ihrer tosenden
Maschinen und Gerätschaften fast noch vor sich sehen.
Heute werden in diesen
Räumen Ausstellungen oder
Messen veranstaltet, es gibt
ein Café, einen Concept-Store,
ein Coworking Loft und einen
Markt. Ebenfalls zu Hause
in der Tabakfabrik ist die
Ars Electronica Solutions,
ein erwerbswirtschaftlich
ausgerichteter Bereich unseres
Unternehmens. Für mich ist
die ehemalige Tabakfabrik
einer jener Orte, an denen
der Charakter von Linz
besonders spürbar wird.
Noch viel mehr gilt das
natürlich für die Stahlwelt
der Voestalpine. Wenn
ich Besuch aus dem Ausland
habe, führt mich eine LinzRunde meistens auch zur
Aussichtsplattform. Dieses
Informations- und Veranstaltungszentrum, wo man am
Knödelautomaten auch
gleich sein Abendessen
einkaufen kann, hat eine
markante Architektur und
eröffnet seinen Besuchern
einen fantastischen Ausblick
auf das Stahlwerk. Vor allem
abends lohnt sich der Besuch,
weil dann die Abstiche gemacht werden und Feuerwolken in den Himmel schießen
und alles gelborange färben.
Für mich ist das schöner
als Alpenglühen.
ENCORE
HERZOG WÜRTTEMBERG —
—
GR AND PRIX — WERTSACHEN
R
AU KT IO NE N — BL AU K ALENDE
— DER AUGENBLICK
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Reisende
darf man
nicht
aufhalten“
Die Aktie fällt, der
Exodus hält an:
Sotheby’s steckt in
der Krise. Zeit für
ein offenes Gespräch
mit Europa-Chef
Philipp Herzog von
Württemberg
Seit einigen Monaten feuert es von allen
Seiten Richtung Sotheby’s. Das Auktionshaus stand immer für Tradition und
Vertrauen – jetzt dreht sich der Wind. Jetzt
laufen Ihnen die besten Leute weg.
Was ist los?
— Wenn zwei der renommiertesten Mitarbeiter wie der Auktionator Henry Wyndham
oder auch Cheyenne Westphal bei einem
Weltunternehmen wie Sotheby’s gehen, wird
immer spekuliert. Dabei sind das alles
normale Prozesse, die wichtig sind. Wie jedes
große Unternehmen unterliegen auch wir
dem Wandel der Zeit. Dass in einer solchen
Situation nicht die Jungen gehen, sondern
die, die zwischen 20 und 35 Jahre dabei
gewesen sind, das ist verständlich. Wir alle
wissen, Reisende darf man nicht aufhalten.
Ganz ehrlich, hat sich was geändert? PHILIPP HERZOG VON WÜRTTEMBERG
Melanie Clore, Alex Rotter und David
Norman – das sind einige Wichtige mehr,
die Sotheby’s ziehen lässt. Henry
Wyndham steht für den seriösen Charakter
des Hauses. Die Experten pflegen
die engen Kontakte zu den Sammlern,
sie haben die Erfahrung.
— Henry Wyndham war mein Mentor. Er
hat mich zu Sotheby’s gebracht. Er ist ein
Freund. Jetzt ist er weg. Fällt jetzt Sotheby’s
zusammen? Ganz ehrlich, hat sich was
ENCORE
83
verändert? Nein. Ist der Umsatz nach
unten gegangen? Nein. Sind die Auktionen
schlechter geworden? Nein.
Sotheby’s macht Verluste. Die Aktie erlebte
in den vergangenen Monaten einen
Absturz – seit Mitte 2015 ist der Kurs
um mehr als 30 Prozent gefallen. Die
Impressionismus-Auktionen in New York
im Mai sahen nicht gut aus. Wie ist das
zu erklären?
— Sotheby’s ist ein börsennotiertes Unternehmen, somit öffentlich. Und jede
Veränderung – positiv oder negativ – schlägt
sich auf die Aktie nieder, insbesondere
wenn diese mit einem Managementwechsel
einhergeht. Das ist nicht ungewöhnlich.
Hinzu kommt, dass wir uns aufgrund der
allgemeinen weltwirtschaftlichen Situation
seit einiger Zeit in einem schwierigeren
Marktumfeld bewegen.
Der Boom des 19. Jahrhunderts ist also
eine Mär?
— Ja, auch dort ist der Rückgang zu beobachten. Wir sprechen von jungen Leuten,
die in Kunst investieren; sie sind im Alter
von 45 und sogar jünger. Das ist die entscheidende Schicht von Käufern für uns.
Ab 55, 60 hat man meist schon viel
gesammelt, man agiert gezielter, erwirbt
noch das eine oder andere Werk. Aber
viel passiert nicht mehr.
Von außen betrachtet verkaufen wir nur
Kunst. Aber eigentlich verkaufen
wir Emotionen. Denn Kunst ist etwas, das
Sie nicht zwingend brauchen. Ein Auto
brauche ich vielleicht. Benzin dafür brauche
ich. Essen brauche ich. Aber Kunst nicht.
Haben Sie eigentlich irgendeine Idee, wie
viele Sammler in diesen Höhen kaufen?
— Unsere Top-Kunden stellen ungefähr
4.500 Sammler. Diese 4.500 Sammler
machen 80 Prozent unseres Umsatzes aus.
Sind die vielen Garantien vielleicht auch
schuld? Monatelang wurde das große Risiko Offiziell wird immer ein Gesamtumsatz
des Auktionsmarkts von 60 Milliarden
diskutiert. Sie versprachen Ihren Kunden
genannt. Davon fallen auf Sotheby’s
hohe Gewinne. Doch die Margen wurden
6,7 Milliarden, also 10 Prozent. Und auf
immer kleiner. Hat sich Sotheby’s übernommen, als es 500 Millionen Dollar für die Christie’s noch einmal derselbe Betrag.
Wichtig aber ist, dass diese High-EndSammlung von Alfred Taubman versprach
Kunden natürlich nicht nur bei Sotheby’s
und sie nachher nicht einspielte?
— Die vielen Garantien im vergangenen
kaufen, sondern überall. Das erklärt
Herbst wurden schon im Frühjahr 2015
den harten Konkurrenzkampf.
versprochen. Und jetzt fokussieren wir
uns schon auf die großen Auktionen im
4.500 Menschen machen 80 Prozent aus –
kommenden November. Daran kann man
Sie sind also vollständig abhängig von
ablesen, dass sich der Markt schon länger
dieser Klientel?
— Es geht immer irgendwie weiter. Das
nicht gerade in einer Super-Booming-Zeit
war schon immer so. Ich bin nach der
befindet. Der Kunde fordert aber, dass
er nach der Versteigerung das Geld auf dem Japan-Krise zu Sotheby’s gekommen. Dann
gab es die Internetblase. Dann dauerte
Konto hat, egal ob verkauft wird oder
es zehn Jahre bis zum nächsten Krach von
nicht. Das Risiko bleibt bei uns. Wir versuLehman Brothers. Die Krisen, die Brüche,
chen deswegen, Garantien zu vermeiden.
die Veränderungen, die Abstände werden
immer kürzer. Als ich 1999 in Deutschland
Wie schätzen Sie die Lage des Markts
bei Sotheby’s Geschäftsführer wurde, haben
wirklich ein?
— Die Ergebnisse 2015 waren mit 6,72 Mil- wir entlassen müssen, das ist nie schön,
liarden Dollar Umsatz ähnlich wie
aber oft zwingend, wenn sich der Markt
im Vorjahr, also gleich. Eine harmlose Form verändert. Jetzt planen wir zum Beispiel
von Stagnation. Gute Arbeiten zu kriegen
ein Büro in Südafrika. Einige Länder in
ist jedoch schwierig geworden. Und das liegt Afrika wie Ruanda wachsen momentan
tatsächlich an der politischen Entwicklung.
wirtschaftlich schneller als andere Länder.
Wir haben Wahlen in den USA im Novem- Wo Wachstum ist, ist Geld. Wo Geld ist,
ber. Krise in Europa, man sorgt sich
ist auch immer Kunst im Spiel. Übermorgen
wegen der Flüchtlingsströme. Die wenigen
kann es schon wieder anders sein. Schauen
superreichen Sammler überlegen sich, ob
Sie auf die Ölkrise, den Nahen Osten.
sie jetzt wirklich 30 oder 40 Millionen für
Das sind Einschnitte, die Folgen haben.
einen Cy Twombly ausgeben wollen. Sie
Besonders der Mittelbau des Markts leidet.
schauen auf ihr Portfolio, sehen die Ölkrise,
ein schlechtes Investment in Asien, das
Was zählen Sie zum Mittelbau?
nicht um 40 Prozent gewachsen ist, sondern — Alte Kunst vor 1900 wird immer weniger
nur um 14 Prozent. Wenn der Kunstmarkt
akzeptiert von einer jungen Klientel,
im freien Fall war, wurden trotzdem Weltre- die sich einrichtet. Silber, Porzellan, Glas,
kordpreise für Spitzenwerke gemeldet, wie Möbel, alles aus der Zeit vor unseren
die 20,4 Millionen Dollar für die Marmor- Großeltern, das Viktorianische, dieses
skulptur L’Éternel Printemps von Rodin.
überfüllte Wohnen, das ist Geschichte.
ENCORE
84
Sorgte für gute Umsätze, jetzt wechselt sie
zu Phillips: CHEYENNE WESTPHAL
Stand für die alte Schule der Kennerschaft:
Auktionator HENRY WYNDHAM
Ein Großteil des Markts wird mittlerweile
von Käufern bestimmt, die Kunst als
Investment sehen. Was würden Sie empfehlen, wenn jemand 5.000 Euro zur
Verfügung hat und auf Rendite hofft?
— Wer nur auf das Investment aus ist, dem
würde ich immer einen guten, bekannten
Namen empfehlen und eine Edition. Also
als Beispiel: Ich habe 2014 vier Freunde
angerufen, die ich gut kenne, und gesagt:
Kauft gegen alle Geschmacksfragen die
Champagnerbox für Dom Pérignon von
Jeff Koons. Bis zum Dezember 2014
wurde sie in einer 650er-Auflage für 17.000
Euro angeboten. Kaum war im November
die letzte verkauft oder ausgeliefert, war sie
schon im Frühjahr in den Auktionen in
London bei Phillips: geschätzt auf 20.000
bis 30.000 Dollar, verkauft für 60.000
Dollar. Seitdem gibt’s in jeder Auktion eine,
bei uns auch. Und sie gehen alle zwischen
40.000 bis 70.000 Dollar weg. Später habe
ich einen in Maastricht auf der Tefaf
gesehen, 75.000 Euro wollte der Händler
dafür. Ich hoffe, der nächste Coup passt
wieder. Ich habe Spaß daran.
Wo viel Geld eingesetzt wird, wird auch Geld
gewaschen. Welche Rolle spielen da der
Auktionsmarkt und Ihr Unternehmen?
— Es gibt schon immer klare Regeln: Sie
dürfen nur bis 7.000 Dollar bar zahlen.
Wenn Sie bei mir einliefern und auf dem
Vertrag als Einlieferer stehen, darf ich das
Geld auf jedes Konto dieser Welt überweisen. Aber es muss auf den Namen des
Einlieferers laufen. Anders herum: Wenn
Sie bei uns kaufen auf Ihren Namen, muss
das Geld von einem Konto kommen,
das auf Ihren Namen läuft, nicht irgendein
Nummernkonto, nicht ein Konto in
Timbuktu. Und ich kann Ihnen versichern,
wenn das passiert, dann wird das Geld
nicht angenommen. Punktum. Sie müssen
sowieso beim Ersteinkauf oder Verkauf
immer eine Passkopie vorlegen, als würden
Sie ein Konto eröffnen. Die Risikoprüfung
und die Sorgfaltspflichten sind präzise.
Mir würde es sofort auffallen, wenn sich
jemand schon vorab danach erkundigt,
ob wir die Summe auf ein Nummernkonto
nach Chile überweisen können. Dann
klingeln die Alarmglocken.
Der amerikanische Markt ist wesentlich
aggressiver als der deutsche. Sie selbst
Setzt Sotheby’s seit Jahren unter Druck:
Investor DANIEL LOEB
Interessanterweise ist Afrika gerade en
vogue und natürlich Asien. Dieser
Mittelmarkt war bis vor zwei, drei, ach
vor einem Jahr ein Booming-Markt.
Da konnten Sie alles verkaufen. Jetzt aber
spürt man Trends, Moden und Dinge,
die einfach nicht mehr gewollt werden.
Investmenttipps vom Herzog: Satte Rendite mit JEFF KOONS und seiner limitierten
Balloon Venus Edition für Dom Pérignon
ENCORE
85
werden in Ihrem Unternehmen vom
Investor und Hedgefonds-Manager Daniel
Loeb unter Druck gesetzt.
— Ganz klar. Deswegen ist es ja so absurd,
dass ausgerechnet hier in Deutschland,
wo Firmen in den 60er-Jahren angefangen
haben, Kunst zu sammeln – der WDR,
die Deutsche Bank –, heute über ein derart
strenges Kulturgutschutzgesetz diskutiert
wird, das vorsieht, dass die Ein- und Ausfuhr
von Kunst kontrolliert wird. Aus dieser
guten Kunsttradition entstanden Sammlungen wie die von Herrn Würth, die Sammlung
Ritter oder Schaufler, die sich ihre Denkmäler setzen. Warum auch nicht? Müssen wir
uns denn dafür schämen? Meine Vorfahren,
die Herzöge und Könige von Württemberg,
haben sich Schlösser gebaut und Kunst
gesammelt und sie nur teilweise öffentlich
gemacht. Aber ein Herr Würth macht es.
Das ist doch schön und für Deutschland als
Kulturnation wichtig. Also sollte man nicht
sagen: Du böser Bube.
Aber es gibt jede Menge böse Buben in
Ihrem Geschäft.
— Böse Buben gibt’s überall.
Und jetzt haben wir in letzter Zeit mit ganz
schön vielen bösen Buben zu tun gehabt.
— Mit welchen denn?
Der Fall um den verschwundenen Modigliani
und die Familie Nahmad ist in den
Panama Papers aufgetaucht. Welche Rolle
spielt die Familie in Ihrem Unternehmen?
— Wo viel Geld gemacht wird, gibt es
eine Menge von Leuten, die meinen,
sie müssen noch mehr Geld machen. Für
mich steht immer das Kunstwerk im
Vordergrund. Wir haben eine Sorgfaltspflicht, doch keine Kontrollfunktion,
die ein Staat oder ein Finanzamt haben muss.
Wenn mir jemand ein Bild von Cy Twombly
anbietet und sagt: Der gehört mir, dann
muss ich zunächst mal davon ausgehen. Die
generelle Frage ist: Ist er legal erworben
und nach Deutschland importiert worden?
Wir fragen unter anderem auch: Sind Sie
alleiniger Eigentümer oder ist Ihre Frau
Miteigentümerin? Wenn ja, brauchen wir
eine Bestätigung der Ehefrau. Wenn wir
rausfinden, dass etwas nicht in Ordnung ist,
dann schauen wir ganz genau hin.
Aber wir wissen doch heute um die Wege,
die das Geld geht, bis es dann bei Ihnen
landet. Am Anfang stehen Bareinzahlungen
auf Bankkonten in Steueroasen. Von dort
erfolgen Transfers auf ein Konto bei einer
Geschäftsbank, zum Beispiel in London.
Macht es Ihnen nicht zu schaffen, dass Sie
da am Ende einer sehr unsauberen Kette
stehen? Es ist doch allgemein bekannt, dass
auch der Marktwert von Künstlern auf
Auktionen durch zuvor abgesprochene
taktische Ver- oder Zukäufe oder Stützungskäufe manipuliert wird.
— Das liegt doch außerhalb unserer Verantwortung und Kenntnis. Wir sind keine
Ermittlungsbehörde oder Staatsanwaltschaft.
Auch in der derzeitigen Diskussion muss
man differenzieren. Ich halte nichts davon,
unsere Kunden allgemein unter Generalverdacht zu stellen. Auktionen sind immer
noch die transparenteste Form des Kunstverkaufs.
Taucht Raubgut in Ihrem Haus auf?
— Es wird uns angeboten. Doch wir
richten uns an die strengen Vorgaben der
Unesco-Konvention von 1970. Sie dürfen
nicht vergessen, als amerikanisches Aktienunternehmen unterliegen wir den gesetzlichen Rahmenbedingungen der USA. Im
Gegensatz zur Bundesrepublik haben die
USA diese Konventionen 1982 unterschrieben. Deswegen noch mal: Uns ist es ganz
wichtig, dass wir den Sammler kennen.
Bildersammler sind ganz eigene Charaktere.
Wie verhindern Sie, dass Fälschungen in die
Auktionen gelangen?
— Als Experte verlässt man sich neben der
Expertise auch auf das Bauchgefühl.
Das Bauchgefühl, das sagt: Es ist wunderschön, aber irgendetwas stimmt nicht.
Dann prüfen wir noch intensiver nach, und
beim leisesten Hinweis lassen wir es. Ich
bin immer wieder erstaunt, wie Experten
erkennen – schon vom blanken Hinsehen
auf zwei Meter Entfernung –: Das ist eine
Fälschung! Das kann man nicht beschreiben. So was lernt man über die Jahre.
Die Erfahrung zeigt aber doch, dass diese
Form der Erkennung nicht sehr sicher
ist, Materialprüfungen entscheidend sind.
Man hört ja immer wieder, der Anteil
— In den Auktionen kaum – bei uns zumindest und ich glaube bei allen anderen
seriösen Auktionshäusern auch. Sie werden
ja schon im Vorfeld einfach abgeblockt.
Aber wir sind nicht unfehlbar, wenn
Fälschungen so perfekt gemacht sind, dass
sie durchs System durchrutschen. Das
passiert. Aber überlegen Sie mal, in die
Auktionen kommen bei uns 40.000 Lose
im Jahr. Das heißt, wir begutachten vorher
ein Vielfaches, sortieren Unmengen aus.
Setzt auf Expertise plus Bauchgefühl:
Der Herzog in seinem Frankfurter Büro
von Fälschungen auf dem Markt liege
bei 30 Prozent.
— Was glauben Sie, wie viele Materialgutachten wir von renommierten Gutachtern
erhalten, die positiv sind, und die Werke sind
dennoch falsch? Es ist immer eine Kombination aus beidem. Papier ist geduldig. Bei
Sotheby’s bekommen Sie auf alle Werke
eine Fünfjahresgarantie. Ich habe zum Beispiel am Anfang meiner Karriere einmal
ein Möbel falsch eingeschätzt. Das passiert.
Das Möbel wurde verkauft zu einem
Spitzenpreis an einen tollen Sammler nach
Deutschland, den ich selbst noch am
Telefon hatte. Er ging nach der Auktion zu
einem Restaurator, der wollte das Möbel
auseinandernehmen, wieder schön verleimen, und da kam zum Vorschein, das
Möbel ist eine reine Melange, eine Marriage
zwischen verschiedenen Hölzern, eine
Fälschung. Ich bin selbst hingegangen, habe
es mir angeschaut. Wir hatten den
Verkäufer schon ausgezahlt. Dann haben
wir selbstverständlich den Käufer
entschädigt und das Möbel ist in unser
Inventar übergegangen. Das passiert.
Wie viele Fälschungen tauchen denn real in
den Auktionshäusern auf?
ar t
basel
booth
2 .1
L12
Wie kann man sich vor Fälschungen
schützen?
— Der sicherste Künstler ist Gerhard
Richter, weil er alle Arbeiten dokumentiert.
Warhol hingegen ist schwieriger. Die
Warhol Foundation gibt keine Expertisen
mehr, weil der Markt so unübersichtlich
geworden ist. Wenn wir einen Warhol
versteigern wollen, müssen wir Provenienzforschung betreiben: Wann wurde das
Werk bei wem und wo und wie gekauft –
bis zum Tag, an dem der Künstler es
geschaffen hat. Wenn die Herleitung nicht
möglich ist, müssen wir die Versteigerung
ablehnen.
In diesem globalen Monopoly-Spiel scheint
der deutsche Markt unwichtig.
— Na ja, wir werden sehen, was passiert,
wenn das geplante Kulturgutschutzgesetz
wirklich kommt. Wir erleben eine Riesenunruhe, die zu einem extremen Export an
Kunst geführt hat. Plötzlich tauchen Leihgaben aus deutschen Museen in den Auktionen auf. Deutscher Expressionismus, all die
Kunst, die eventuell unter Schutz gestellt
werden könnte.
Am Ende profitieren nur Sotheby’s und
Christie’s von dieser Krise in Deutschland!
— Wissen Sie, das Auktionsgeschäft ist
schnelllebig! Nicht das gesamte Unternehmen profitiert von den Veränderungen.
Viele deutsche Händler eröffnen jetzt
Dependancen im Ausland, die Sammler
bringen die Kunst raus. Sotheby’s Deutschland wird bald nicht mehr rechtfertigen
können, warum wir hier fünf Büros haben.
Willkommen in der Kunst-Diaspora
Deutschland!
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ENCORE
86
47
W W W. V E R A M U N R O . D E
silvia bächli
KLIMTKETTE
ERDENBÜRGER
Es gibt Fotos von Emilie Flöge,
Flöge, da
trägt sie tatsächlich einen Muff an der
Kette, die Gustav Klimt seiner
iner Lebensnkte. Der
gefährtin und Muse schenkte.
de, die
Muff ist längst aus der Mode,
erne
70 Zentimeter lange, silberne
hließMuffkette sicher nicht. Schließnder
lich hat sie 1905 der Gründer
der Wiener Werkstätte undd
man
Gesamtkunstwerker Koloman
Moser entworfen, der auchh
sgeFlöges Modesalon mit ausgestattet hatte. Dort nähte Flöge
en Klimt
die Reformkleider, in denen
sie porträtierte. Die Kette kann man
also als Sinnbild für den ZusammenJugendstil
halt der Wiener Avantgardee sehen – und
13
13. JJunii iim
im Dorotheum ersteigern für 60.000
Dorotheum
in Wien
bis 80.000 Euro. WOE
Als Neil Armstrong am 16. Juli
1969 mit der Apollo 11 ins
All abhob, war die Ära der
Raumfahrt in vollem Gange.
Wie sehr die Erdlinge mitfieberten, bezeugt nicht zuletzt,
dass neun Tage vor der
Mondlandung David
Bowies Album Space Oddity erschien. So heißt auch
Space Oddity
die Auktion von Karl & Faber mit Fotos früher
9. Juni bei
Missionen bis zum „Challenger“-Zeitalter. Dazu
Karl & Faber
zählen auch Bilder von der Erde, wo sich – wie
in München
beim Start von Apollo 15 im Juli 1971 – Tausende
versammelten. Wenn sie schon nicht mitfliegen konnten,
so wollten sie doch diesem historischen Augenblick beiwohnen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wie die
vielen kleinen Menschen mit ihren Ferngläsern in den
Wertvolle Bücher
Himmel starren. Der Vintage-Silbergelatine-Abzug
13.
Juli bei Christie’s
mit Notizen der Nasa ist auf 500 Euro geschätzt. GB
in London
GARTENERSATZ
Wer dieses Buch besitzt, braucht keinen Garten
mehr. Schöner als im Hortus Eystettensis von
1613 blüht es in keiner Rabatte. Weltweit sind
nur 25 Exemplare bekannt. In dem prächtigsten Pflanzenbuch des Barock mit mehr als
1.000 Bildern und 360 kolorierten Kupferstichen erlebt man den botanischen Lustgarten
auf der Willibaldsburg in Eichstätt – der
Garten wurde im Dreißigjährigen Krieg zerstört.
Das Buch, initiiert vom Nürnberger Apotheker Basilius Besler, ist auf 800.000 bis 1,2
Millionen Pfund geschätzt. WOE
WEITBLICK
Ausstattungskunst, postimpressionistisch. Das Park Hotel
Waldhaus in Flims hatte die dreiteilige Landschaftsansicht
1904 beim Schweizer Maler Giovanni Giacometti bestellt.
Und der gab sein Bestes, um die Heimat mit See, Alpen,
Sommerwolken und grünen Matten anmutig ins Bild zu
bringen. Neben Cuno Amiet gehörte Giacometti zu den sanften Erneuerern der Schweizer Kunst, die mit aufgehellten Farben und ohne erzählerische Schwere den Zeitgeschmack bedienten. Warum das über vier Meter breite
Schweizer Kunst
24. Juni bei Koller Panorama bald wieder abgehängt wurde, weiß man nicht mehr. 1986 wurde es im Fundus wiederentdeckt
und neu installiert. Nun lassen es die neuen Waldhaus-Eigner bei Koller in Zürich versteigern, geschätzt auf 3 bis
in Zürich
4 Millionen Franken: Ein so bedeutendes Werk sei in einer öffentlichen oder privaten Sammlung besser
aufgehoben als im unruhigen Hotel. MÜ
ENCORE
88
Basel Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
Museum Tinguely
08.06.–25.09.
2016
WERT
SACHEN
M BERG —
H ER ZOG W Ü RT TE
—
— A U K TI O N EN
WERTSACHEN
R
AU K ALENDE
GRAND PRIX — BL
— DER AUGEN BLICK
Michael Landy
Out Of Order
Fugu nennt man den Kugelfisch in Japan, und sein Gift ist
tödlich. Trotzdem wird er zu Sashimi aufgeschnitten. Wer sich an
den Genuss wagt, sollte also seinem Sushimeister vertrauen.
Zu Beltracchis Zeiten war auch Max Ernst nur mit Vorsicht zu
genießen, jedenfalls seine Gemälde. Die Goldskulptur in Form
eines plattgedrückten Kugelfisches kommt nun aber mit Referenznummer und einem vom Künstler unterzeichneten
Moderne Kunst,
Dedikationsblatt zum Aufruf sowie der Punze
Teil II
des Ateliers von François Hugo in Aix en Provence.
16. Juni bei
Der Goldschmied hat schon mit Picasso gearbeitet.
Kornfeld
Kornfeld in Bern schätzt den Fisch von 1960,
in Bern
n. Erstbesitzer
Auflage 6, auf 12.500 Franken.
ngswar der damalige UN-Flüchtlingshochkommissar Sadruddin
Aga K han, eingeliefert wird
er vom Schweizer Unternehmer Walter Bechtler. WOE
VOTE
OR DIE
AKT NACKT
Duchamp vor Duchamp. Tatsächlich hat der Mann
der Readymades als suchender Maler begonnen,
nomadisierend von einem Stil zum anderen. Und
noch bevor er mit seinem Akt, eine Treppe herabsteigend
eine Ikone des Kubismus schuf, ließ er sich von
den Fauvisten und Symbolisten anregen, und nichts
deutete auf die RevolutioImpressionismus
nen, die er mal anzetteln
und Moderne
wird. Wohl hat er sich
6. und 7. Juni bei
später etwas abschätzig an
Artcurial in Paris
die Jahre zwischen 1906
und 1911 erinnert. Aber
verworfen hat er sein Frühwerk nie. Die Nu sur nu ist
ein herausragendes Beispiel dieser Periode. Eingehüllt
in ihren grünblauen Schatten sieht die Aktfigur wie
eine seltsame Erscheinung aus. Das Bild stammt aus
der Sammlung Arnold Fawcus, Gründer des legendären Kunstbuchverlags Trianon Press. Im Auftrag
seiner Erben wird das Bild bei Artcurial in Paris
versteigert, geschätzt auf 500.000 bis 700.000 Euro.
Der Erlös ist für die NGO Médecins Sans Frontières
bestimmt. MÜ
Es ist so still geworden um die Grünen. Die Partei begann Ende
der 70er-Jahre noch klein, aber laut. Heute ist sie groß und leise.
Kretschmann ist ja seine eigene Marke. Fast vergessen sind die Jahre,
als Joseph Beuys, der wunderbar
Klassische Moderne, Nachkriegs- und
polternde Querulant, fürs
Gegenwartskunst
Europaparlament antrat. Rudi
8. Juni bei Neumeister in München
Dutschke war an seiner
Seite und sogar Andy Warhol.
Warhol und Beuys – ein
ungleiches Freundespaar. Der
eine in die Konsumwelt
vernarrt, der andere ein Egoromantiker. Beide aber waren
Revolutionäre. Und so unterstützte Warhol Beuys mit
einem Plakat: Neben Selbstporträts steht das Bekenntnis
„Für die Grünen“. Es ist bei
Neumeister geschätzt auf
15.000 bis 16.000 Euro. Beuys
aber meinte es ernster: Auf
seinem Wahlplakat Der Unbesiegbare von 1979 zielt ein Zinnsoldat auf einen Hasen. Das
Fotografie
historische Motiv als Farbseri1. Juni bei Bassenge
grafie, Auflage 30, ist geschätzt
in Berlin
auf 2.000 bis 2.500 Euro. SWKA
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
AUKTIONEN
1./2. JUNI
DOROTHEUM IN WIEN Gegenwartskunst
1.–4. JUNI
GRISEBACH IN BERLIN Fotografie, Kunst des 19. Jahrhunderts,
Ausgewählte Werke, Orangerie, Moderne und Gegenwartskunst
2. JUNI
VAN HAM IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst
3./4. JUNI
LEMPERTZ IN KÖLN
Impressionismus
Imppresssio
sionis
nismus
nis
mu un
mus
undd Mode
M
Moderne;
oderne
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Nachkriegsach
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kri
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und Geg
Gegenwartskunst
genw
enwartsku
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kunst
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7./8. JUNI
SOTHEBY’S IN PARIS Gegenwartskunst
8. JUNI
CHRISTIE’S IN PARIS Gegenwartskunst
Fotogr
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K
Kun
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Dru
D
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ruckgrafi
ckggrafi
rafifik,
k, Design
Deesig
D
esign
ssig
ign
Fotografi
Kunstgewerbe,
15. JUNI
LEMPERTZ IN BRÜSSEL Afrikanische und ozeanische Kunst
18. JUNI
VAN HAM IN KÖLN Achenbach Art Auction, Teil 4
21. JUNI
ARTCURIAL IN PARIS Asiatische Kunst
21./22. JUNI SOTHEBY’S IN LONDON Impressionismus und Moderne
22. JUNI
DOROTHEUM IN WIEN
Moderne und Gegenwartskunst, Autografen
22./23. JUNI CHRISTIE’S IN LONDON Impressionismus
p
und Moderne
Sch
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Kunst
nst,, Impr
IImpressionismus
mpr
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nd Mo
Moder
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de
der
Schweizer
Kunst,
Moderne
25. JUNI
KOLLER IN ZÜRICH Design, Nachkriegs- und Gegenwartskunst
27./28. JUNI PHILLIPS IN LONDON Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts
28./29. JUNI SOTHEBY’S IN LONDON Gegenwartskunst
29./30. JUNI CHRISTIE’S IN LONDON Gegenwartskunst
30. JUNI
DOROTHEUM IN WIEN
Bücher und dekorative Grafik, Kunst des 19. Jahrhunderts
5.–7. JULI
ANDERSON & LOW
SOTHEBY’S IN LONDON Alte Meister
5./7./8. JULI CHRISTIE’S IN LONDON
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Rembrandt Druckgrafiken; Gemälde und Zeichnungen Alter Meister
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Kunstauktionen seit 1923
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karlundfaber.de
GRAND PRIX
SCHÜTZENHILFE
Auktionen Moderne und Zeitgenössische Kunst 9. / 10. Juni 2016
EIN FALL FÜR DIE
GERICHTE,
NICHT ERST SEIT
ERSCHEINEN DER
PANAMA PAPERS:
MODIGLIANIS
SITZENDER MANN
MIT STOCK, 1918
Das System der
Briefkastenfirmen
ließ alle ruhig
eit Jahren steht das Bild im Zentrum eines absurden Gezerres: Modiglianis Sitzender
Mann mit Stock. Es ist für mich zum Symbol für einen Teil des Kunstmarkts geworden,
schlafen.
der außer Kontrolle geraten scheint. Und von dem man sich zunehmend verschaukelt
fühlt. Dieses Gefühl wird immer stärker, je länger das großartige Bild durch die Medien geistert.
Damit ist Im Zentrum stehen alte Bekannte, die jüdisch-monegassische Kunsthändlerfamilie Nahmad, Pioniere im globalen Art-Stock-Market, mit Wohnsitz in Monaco und Galerien in New York und Lones jetzt don und einer milliardenschweren Sammlung in Zollfreilagern. Sie behauptet hartnäckig, dass sie
nichts mit der Offshore-Firma International Art Center zu tun hat, in deren Besitz sich das Bild seit
vorbei
1996 befindet. Das Gemälde stammte aus der Sammlung des jüdischen Kunsthändlers Oscar Stetti-
S
ner. Er musste vor den Nationalsozialisten aus Paris fliehen. Sein Modigliani blieb zurück. Die Erben
bemühen sich um eine Restitution. Doch mit einer Briefkastenfirma lässt sich schlecht verhandeln.
Nach Jahren des Hin und Her haben nun die geleakten Panama Papers den Beweis geliefert: Sie
benennen die Nahmads eindeutig als Akteure der dubiosen Firma. Gewusst haben es alle. Schützenhilfe für das absurde Versteckspiel kam direkt vom Restitutionsexperten bei Sotheby’s: Lucian Simmons
schrieb Helly Nahmad 2010 in einem Brief, den Artnet veröffentlichte, er habe den Anwalt der Stettiners gesprochen. Er versicherte: „I have not, and will not, disclose your identity to him unless I am
obligated to do so by order of the Court.“: „Ich habe ihm Ihre Identität nicht offenbart und werde es
auch nicht tun, es sei denn, ich wäre durch die Verfügung des Gerichts dazu verpflichtet.“ Diese Art
der Diskretion ist auf dem Auktionsmarkt ein wichtiges Asset zur Kundengewinnung. Vor Gericht
sagte Daisy Edelson von Sotheby’s aus: „Einlieferer ist International Art Center, und nicht Helly
Nahmad.“ Wenn man sich das nach wie vor unvollständige Puzzle anschaut, wird einem mulmig:
Was versteckt sich noch alles in den Zollfreilagern? Die Modigliani-Nahmad-Aktion wirkt wie der
Versuch, ein historisch problematisches Bild im Besitz einer Briefkastenfirma zu verstecken, im Wert
zu steigern und mit krasser Rendite wieder loszuwerden: 1996 taucht das Gemälde bei Christie’s auf,
versteigert für 3,2 Millionen Dollar an die Nahmad’sche Briefkastenfirma. Von Raubkunst ist damals
noch nichts zu lesen. Als das Bild später bei Sotheby’s eingeliefert wird, macht man sich dort die Mühe
und recherchiert die Provenienz, schätzt das Bild auf 18 bis 25 Millionen Dollar. Doch in der Versteigerung bleiben die Gebote aus. Oscar Stettiner ist jetzt Thema. Aufgegeben haben die Nahmads bis
heute nicht. Der Schutz des Systems ließ alle ruhig schlafen. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein.
Der Modigliani ist im Genfer Zollfreilager beschlagnahmt worden.
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92
Peter Doig, „Jetty“, 1996, Bleistift auf Bütten, 25 × 19 cm,
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FEINSTEIN
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07.06. – 18.09.2016
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GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBLICK
Unsere TERMINE im Sommer
BETON
KUNSTHALLE WIEN
25.06. – 16.10.2016
Printemps, um 1942–1943
Love Your Work
(Part of Love Vibe),
1999–2014
Eine intellektuelle Weise
des Kunstmachens, die nicht
eigentlich auf Bilder als
Sammlergegenstände zielt.
Wenn Rochelle Feinstein
malt, ist es wie Entmystifizieren
des Malens. Ihre Arbeiten
wirken seltsam unfertig, rasch
angelegt, liegen gelassen,
ohne dieses repräsentative Outfit, in dem Bilder mitunter
das Atelier verlassen. Selbst der
szenenahe Beobachter wird
keine rechte Vorstellung vom
Werk der bald 70-jährigen
Amerikanerin haben. Noch nie
war es in einem Museum
ausgestellt. Jetzt kann man in
ihrer ersten großen Werkübersicht sehen, was hier zum
Kunstmachen anstiftet:
die Auseinandersetzung mit
abstrakter Malerei, mit
konzeptueller Kunst, die Abhängigkeit von Kunsträumen,
das Spiel mit der Sprache der
Werbung, mit Pop als kulturellem Lebens- und Wohlfühlraum, die Problematisierung
des Genderthemas und nicht
zuletzt diese unbesiegbare
Unlust an der klassischen
Künstlerinszenierung. MÜ
FRANCIS PICABIA
KUNSTHAUS ZÜRICH
03.06. – 25.09.2016
Er war schon postmodern,
als es das Wort noch gar
nicht gab. Francis Picabia,
der große Verwirrspieler
unter den Künstlern des
20. Jahrhunderts. Wie er hat
keiner den Selbstentwurf
der Moderne als kulturelle
Geradeausstrecke, die in
konsequenten Schritten zum
Ziel führt, lächerlich gemacht. Dass er, ähnlich wie
Duchamp, als traditionsgebundener Maler begann,
dann zum Erzdadaisten
mutierte, der für die ganze
Kunstausübung nur noch
Spott übrig hatte, war kein
Hinderungsgrund, immer
wieder zur Malerei zurückzuurückzukehren und mit grandios
dios
kitschigen Pin-up-Girls
rls sein
Publikum zu erschrecken.
cken.
Und natürlich hat es bei so
viel Verliebtheit in den
en
mutwilligen Bruch nicht
icht
ausbleiben können, dass das
Spätwerk auch noch abstrakt wurde. Anders als so
manche Übersichtsaususstellung, die die „problematiblematischen“ Phasen aussparen
paren
wollte, zeigt das Kunsthaus
sthaus
Zürich den ganzen PicabiacabiaFilm – mit all den radikalen
dikalen
und reaktionären, den
en
ironischen und provokanten
kanten
Schwenks. mü
ENCORE
94
TOBIAS ZIELONY
Structure, 2010, aus der Serie Vele
Man denkt leider gleich an
morsche Plattenbauten und
welke Brückenpfeiler, wenn
das Wort, das einmal die
Utopie der architektonischen
Moderne versprach, deutsch
ausgesprochen wird: Beh-tong
klingt wirklich schwerfällig.
Da die Gruppenausstellung, um
die es hier geht, in der Kunsthalle Wien läuft, halten wir es
lieber
ebe mitt den
de Öster
Öste reichern
ec e
und prononcieren betoon, weil
der prosaische Stoff aus
Wasser, Zement, Sand und Kies
ja auch etwas divenhaft
Gespreiztes hat. Weshalb er nicht
nur Architekten fasziniert,
sondern auch Künstler: Isa
Melsheimer und Tom Burr
sind dem Beton brutalismus
verfallen, Tobias Zielony
und David Maljkovic fotografieren betonierte Vorstädte,
Thomas Demand oder Liam
Gillick erforschen, wie Betonarchitektur unsere Wahrnehmung prägt, und nicht nur
Sofie Thorsen betrauert,
wie bürokratische
Betonköpfe mit
unserer gebauten
Umwelt umgehen. WOE
BEAT
GENERATION
CENTRE POMPIDOU
HOKUSAI X MANGA
GA
MUSEUM FÜR KUNST
UND GEWERBE
HAMBURG
10.06. – 11.09.2016
PARIS
BRAD
22.06. – 03.10.2016
Sie ist so etwas wie der Humus aller späteren Künstlergenerationen: die Beat-Generation. 1944 lernten
sich William S. Burroughs, Allen Ginsberg und Jack
Kerouac an der New Yorker Columbia University
kennen. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei, nun
prägten Kalter Krieg und McCarthy-Puritanismus
das Klima. Beides unterwanderte der rebellische Streetslang ihrer Prosa und Poesie, der ab Ende der
40er-Jahre Fahrt aufnahm. Flankiert von bildenden
Künstlern aus der Szene Kaliforniens wie Wallace
Berman, Bruce Conner und George Herms, afroamerikanischen Sprechdichtern wie LeRoi Jones oder Bob
BOB THOMPSON
LeRoi Jones and his Family, 1964
Kaufman und Fotografen wie Robert Frank bildeten
Lesungen, Performances, Dias, Filme und Konzerte
probate Mittel für den interdisziplinären und oft
auch kollaborativen Anspruch der Gruppe. Als Paris
zwischen 1957 und 1963 ihre Anlaufstelle war, vor
allem das schäbige Beat Hotel, wo Burroughs mithilfe
ns Cut-up-Technik seinen Roman
von Brion Gysins
endet haben soll, war die Beat-GeneraNaked Lunch beendet
hon Mainstream, befeuerte so
tion beinahe schon
le Revolution. Wenn das
auch die sexuelle
ou dieser Ära jetzt eine
Centre Pompidou
dmet, legt sie ein AugenAusstellung widmet,
n enorme geografische
merk auf deren
Ausdehnung: Von New York bis L. A.,
anger gedieh eine Kultur,
von Paris bis Tanger
es und Hipster nicht
ohne die Hippies
denkbar wären. gb
TROE
MEL
Life/W
ork, 2
014
PROCESS, PERFORMANCE,
PRESENCE
KUNSTVEREIN BRAUNSCHWEIG
11.06. – 21.08.2016
Zeit ist ein großes Thema in der
Kunst. Seit den 60er-Jahren beschäftigen sich Künstler mit Prozessen, mit
Vergänglichkeit und Veränderung von
UTAGAWA HIROSHIGE
Raum, Material und Körper. Wie
Adler über den schneebedeckten
Sümpfen von Fukagawa, 1857
virulent das bis heute ist, vor allem
aber welche poetisch-reduzierten,
Wenn nostalgisch-futuristisch
teils organisch anmutenden Arbeiten
kostümierte Cosplay-Kids durch dabei entstehen, zeigt nun eine
ihre Manga-Bücher blättern,
Ausstellung im Kunstverein Braunin Anime-Universen versinken
schweig. Jens Risch knotet täglich vier
und von Hentai-Sex träumen,
dann kommt das nicht von einem Stunden lang an einem Seidenfaden,
anderen Stern, sondern
der am Ende mit Schmutz, Haut und
geradewegs aus dem 17. JahrBlut Spuren der verbrachten Lebenshundert. Um 1680 datiert das
Hamburger Museum für Kunst
und Gewerbe – ausgehend
von seiner einmaligen Sammlung von asiatischen Farbholzschnitten und Holzschnittbüchern – den Ursprung einer
japanischen Popkultur: In der
vormodernen Megacity Edo,
dem heutigen Tokio, florierte im
Rotlichtviertel Yoshiwara
ein Entertainment-Business.
Ukiyo-e-Holzschnitte erzählten
von Fabelwesen und KabukiKurtisanen. Shunga-Pornos
machten die Run
atsushika
Runde. Katsushika
Hokusais Große Wellee von
Kanagawa w
wurde zum
Emblem des frühen
JapanJapan-Pop, der in
Form von Manga-Conga-Comics in den
d Achtzigern
htzigern
in den W
Westen kam.
WOE
SADAHARU HORIO
course ), 2009
Atarimae-no-koto („A matter of course“),
zeit trägt. Schirin Kretschmann bringt
im Haus rechteckige Formen aus
Fett an – versetzt mit blauem Pigment,
geraten sie durch Temperaturwechsel
in Bewegung und verschwimmen.
arbeitet auf Wänden
Sofia Duchovny ar
mit Dochten
Dochtten und Wachs:
Rußspuren
Rußspuren werden zum
Memento
Mem
mento mori. gb
Aus:
Aus
s: JED HENRY (DESIGN)
Foxmoon, 2012
HAUFE
SC
MATT
MULLICAN
Posters of Heaven and Hell, 2016
SPRENGEL MUSEUM
HANN0VER
05.06.2016 – 29.01.2017
In letzter Zeit wurde zuweilen gefragt, ob
Hannover nicht das heimliche Zentrum der
Republik sei. Schröders Machtnetzwerke,
die „Maschsee-Mafia“ und nicht zuletzt die
Wulff-Affäre – immer wieder Hannover.
Louis de Marsalle, 2016, Fotograf: Stephan Bösch
MELS
130 %
SPRENGEL
T E R DES
S
N
H IM
M BERG —
H ER ZOG W Ü RT TE
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GRAND PRIX — BL
— DER AUGENBLICK
22.06. – 25.09.2016
STÄDEL, FRANKFURT
KUNSTMUSEUM WINTERTHUR
12.06. – 16.10.2016
Seit 1925 beherbergt das Städel
mit den Flügeln des Altenberger Wer einmal in einer Mullican-Ausstellung war,
Klosteraltars Teile einer der
kennt das Gefühl der visuellen Überforderung.
bedeutendsten frühgotischen
Man weiß nicht, wo man beginnen soll, findet
Kirchenausstattungen. Über
keinen Halt im Dickicht der Zeichen, Embleme,
Jahrhunderte hinweg hatten die Signale, Logos, abstrakten Muster, BuchillusOrdensschwestern einen
trationen, Comic-Zeichnungen. An den Wänden
FRANZ GERTSCH Irene und Luciano, 2014
Schatz zusammengetragen, der breiten sich die Bildmontagen vom Boden
seinesgleichen sucht: aufwenbis an die Decke aus. Und alles scheint auf einen
Der Erweiterungsbau des Sprengel Museum dige Tafelmalerei, Goldschmie- einzustürmen. Dabei herrscht penible Ordnung.
dekunst und feinste TextilIrgendwie hängen die Bildteile zusammen,
verleiht der Anziehungskraft der niederarbeiten. Altenberg war eines
jedenfalls aneinander, und scheinen sich aufeinsächsischen Kleinstmetropole nun weiter
jener Beispiele für die gewalander zu beziehen, ohne dass sich Erzähllinien
Nachdruck: Über 5.000 Quadratmeter
tige Schaffenskraft des Mittel- bildeten. Zuweilen sehen Matt Mullicans Bildfelder
neue Flächen erlauben es dem Haus, die
alters. Mit der Zerschlagung
aus wie die Emoji-Kataloge, mit denen sich das
bedeutende Sammlung in noch nie
des Klosters Anfang des
SMS-Schreiben abkürzen lässt. Der amerikanische
dagewesenem Umfang mit dem Publikum
19. Jahrhunderts brach das
Konzeptkünstler bedient sich bei den Codes
zu teilen. Das erste große AusstellungsEnsemble auseinander.
der visuellen Kultur, bearbeitet sie, nimmt ihnen
projekt nach dem Umbau gerät denn auch
Nun vereint das Städel diese
ihren Gemeinsinn, ihren Verkehrswert und
gleich zur Leistungsschau: 130 % Sprengel.
Inszenierung des Himmels
deutet sie um zum Design einer Welt, die aus
Julian Rosefeldts Installation macht den
erstmals seit 200 Jahren
ungezählten Schichten von Bildern besteht.
Anfang für den Rundgang durchs
wieder unter einem Dach. mw Es ist sicherlich nicht verboten, sich mit dem
20. Jahrhundert. Es folgen die Klassische
sinnlichen Ereignis dieser
Moderne mit einem
Arbeiten zufriedenzugeben, mit
eigenen Raum für
ihrer grafischen Präzision
Picasso, Beckmann
und ihrem dekorativen Auftritt.
und Klee, die Kunst
Aber mehr noch wird in der
nach 1945 im
Zusammenschau des medial
Altbau des Sprengels
vielfältigen Werks die Grundidee
und schließlich
anschaulich, das Mullicandie Schenkungen
Motiv, das immerzu Bilder aus
der Niki de Saint
Rheinischer Meister: Altenberger Altar, um 1330 (Fotomontage), OBEN: Unbekannter Meister:
Armreliquiar
der
Heiligen
Elisabeth,
zweites
Viertel
des
13.
Jahrhunderts
Bildern entstehen lässt. MÜ
Phalle. MW
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BILDNACHWEISE
Nr. 12 / Sommer 2016
TITEL: © Carroll Dunham. Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels. EDITORIAL: S. 5:Foto:
Yves Borgwardt für BLAU. INHALT: S. 6 l. u.: Foto: bpk/
RMN- Grand Palais/Art Resource, NY. S. 6 M. o.: © Carroll Dunham. Courtesy Galerie Eva Presenhuber.
S. 6 r. u.: Foto: Jon Rafman. S. 8 l. u.: Foto: Geordie Wood
für BLAU. S. 8 M. o.: © und Foto: Daniel Blau. Courtesy
Peter Held. S. 8 r. u.: Foto: © Roland Beaufre/ World of
Interiors. CONTRIBUTORS: S. 10 o.: Foto: Getty Images. ESSAY: S. 13: Foto: akg – images. APÉRO: S. 16 l. o.
und l. u.: © 2014-2015 Hinako Sugiura. MS.Hs/Sarusuberi Film Partners. S. 16 r.: Courtesy BQ, Berlin. Foto:
Roman März. S. 17 o.: Foto: Bernd Borcherdt. © 2015
me Collectors Room/Stiftung Olbricht. S. 17 u.: Illustrationen Johannes Huntenburg. © 2015 me Collectors
Room/Stiftung Olbricht. S. 18. l. o.: Equator Production.
S. 18 l. M.: Courtesy the artist and Meyer Riegger Gallery Berlin, Karlsruhe. S. 18 u.: Foto: Klaus Michalek. S. 18 r.:
Dauerleihgabe der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen. © SHK/Hamburger Kunsthalle/bpk.
Foto: Elke Walford. JON RAFMAN: S. 20: Foto: Dan
Wilton. S. 21 bis 23: © Jon Rafman. Courtesy Future
Gallery. BLITZSCHLAG: S. 24 o.: Foto: Claudia van
Koolwijk für BLAU. S. 24 u.: Foto: Fine Art Images-Artothek. GEORGIA O’KEEFE: S. 26: Foto: akg-images.
S. 27: Alfred Stieglitz Collection. Gift of Georgia
O’Keefe. © 2016 Digital Image, The Museum of Mo-
dern Art, New York/Scala, Florence/Art Resource.
S. 28 o.: Christal Bridges Museum of American Art, Arkansas, USA. Foto: Edward C. Robinson III. © 2016
Georgia O’Keefe Museum. S. 28 u.: Foto: akg-images.
DICHTER DRAN: S. 30: Courtesy Björn Kuligk.
BEWEGTBILD: S. 31 l. o.: Foto: Evaan Kheraj. S. 31 l. u.:
Foto: Getty Images. SCHNELLSTE SKULPTUREN:
S. 31 r.: Foto: Honda. UM DIE ECKE PARIS: S. 32: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 33 bis 35: Fotos:
Martina Maffini für BLAU. ARS VIVA KUNSTPREIS:
S. 36 l.: Privatsammlung. S. 36 r.: Foto: Stefan Braunbarth. S. 37 l.: Courtesy of the artist and CRG Gallery,
New York. S. 37 r.: Foto: Michael Koczy. S. 38 l.: Courtesy
the artist. S. 38 r.: Foto: Christian Werner für BLAU.
CARROLL DUNHAM: S. 40, S. 41, S. 44/45, S. 46, S. 47,
S. 48, S. 49, S. 51: © Carroll Dunham. Courtesy Gladstone Gallery, New York, Brussels. S. 50: © Carroll Dunnham. Courtesy Olbricht Collection. Courtesy Metro
Pictures. Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf. S. 42: Foto:
Gregory Halpern für BLAU. DANIEL BLAU: S. 52 bis
59: © und Fotos Daniel Blau. S. 52 r., S. 53, S.54 u., S. 56,
S.57 l. o., S.57 r. o.: Courtesy Peter Held. FONDATION
CUSTODIA: S. 60 bis S. 65: Fotos: © Roland Beaufre/
World of Interiors. HAROLD ANCART: S. 66/67 bis
S. 72: Courtesy CLEARING New York/Brussels. S. 73:
Foto: Geordie Wood für BLAU. SOTHEBY’S INTERVIEW: S. 83: Foto: Lottermann and Fuentes für BLAU.
ENCORE
97
S. 84 M. : Foto: Patrick McMullan. S. 84 u.: Foto: Dominik
Gigler. S. 85 : Courtesy Dom Perignon. S. 86: Foto: Lottermann and Fuentes für BLAU. KOLUMNE: S. 92:
Bridgeman Art Library. K ALENDER: S. 94 l.: Courtesy
the artist and On Stellar Rays, New York. S. 94 M.:
Courtesy Michael Werner Gallery, New York, London
and Märkisch Wilmersdorf. © 2016 Prolitteris, Zürich.
S. 94 r.: © Tobias Zielony. Courtesy der Künstler, KOW,
Berlin und Galleria Lia Rumma, Milano. S. 95 l.: Courtesy of Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithonian Institution, Washington D.C. © Estate of Bob
Thompson. Courtesy of Michael Rosenfeld Gallery
LLC, New York, NY. Foto: Lee Stalsworth. S. 95 M.: ©
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. S. 95 u.: ©
Jed Henry. S. 95 r. u.: Foto: Geneviève Haraguchi. S. 96 l.:
Sprengel Museum Hannover, © Franz Gertsch.
S. 96 M. o.: © Sammlung Fürst zu Sayn-Wittgenstein,
Sayn. S. 96 M. u.: Städel Museum-Artothek. S. 96 r.:
Courtesy Capitain Petzel. AUGENBLICK: S. 98 © Satoru Watanabe. Courtesy only photography, Berlin.
VG Bild-Kunst Bonn 2016
Joseph Beuys, Max Ernst, Georgia O’Keefe,
Francis Picabia, Rosemarie Trockel
DER AUGENBLICK
IN ODER AUF KYUSHU
Ein Bild und seine Modelle
SATORU WATANABE
Untitled, aus der Serie prana, 2014, Silbergelatine Print, 28 × 28 cm
G
ebundene Tiere machen
immer traurig. Aber
Damwild schießt man und
bringt es nicht zur Schlachtung.
Sogar, dass das Tier vorn im Bild
tot wäre, kann als unwahrscheinlich gelten. Vielleicht ist es
nur betäubt oder hat für den
Moment resigniert und den Kopf
auf den Boden gelegt. Und
bald vergnügen sich die beiden
in einem anderen Gehege.
Wozu hat der Forstmeister seinen
Pick-up-Truck.
Wilde Tiere wecken sehr
viel mehr Neugier als domestizierte. Das muss der Fotograf
gewusst haben, der versucht hat,
mit den schimmernden Leibern
dieser beiden das halbe Bildformat zu füllen. Verblüffend
die Archetypen liegender Tiere:
der statische, gestreckte Leib
und der geheimnisvoll in sich
gekehrte. In der Ansicht
sind sie miteinander verknüpft,
obwohl sie sich tatsächlich
wohl nicht berühren. Was die
Hirsche über die Ansicht
hinaus verbindet, ist
ihr Schicksal. Sie können aber
nicht wissen, dass es so
etwas überhaupt gibt.
Shinto, einst die Staatsreligion Japans, sah Götter in
Menschen, Tieren und Dingen,
ein Lebensmuster allgegenwärtiger Ehrfurcht, an das sich
der Fotograf Satoru Watanabe,
jetzt Mitte 50, durchaus
erinnern kann. Seine Großmutter, eine Frau vom Lande,
ENCORE
98
betete zu unsichtbaren Göttern
mit gefalteten Händen. Ihr
Mann jedoch, der Großvater,
war Ingenieur und wollte nur
anerkennen, was erklärbar war.
So jedenfalls berichtet
es der Fotograf in einem Buch,
dem dieses Bild entnommen
ist. Es handelt von den alten
japanischen Riten und von
der Natur. Die Frage ist, wie
Japan – nach Fukushima –
sich zum Erklärbaren, also zum
Machbaren, stellt. Selbst
die beiden Tiere scheinen zwei
unterschiedliche Modelle
anzubieten, animistische Demut
und kalkuliertes Scheitern.
Zufällig beugt sich, als ich
dieses schreibe, eine japanische
Schülerin über meinen Schreibtisch (wir wohnen zur Zeit in
Berlin Tür an Tür) und sagt, sie
erkenne auf der Kennzeichnung der Plane den Ortsnamen
Kyushu. Ich google das
sogleich und sage: Das ist eure
südwestliche Insel. Und sie
sagt: Nein, nicht eine Insel. So
sprechen wir immerzu miteinander, wir streiten uns fast. Wir
sehen nicht dasselbe und wir
denken nicht dasselbe. Sieh mal,
sage ich, sogar die Hirsche
sehen aus wie Inseln; Inseln aus
der Luft gesehen.
Das ist es überhaupt, was
mich zur Fotografie gebracht
hat. Immer wieder habe ich
geglaubt, die Faszination würde
irgendwann enden. Aber
nein, die Fotografie bleibt eine
globale Matrix, in der nahezu
alles universal verzeichnet ist
und an der man das Betrachten
üben kann. Es ist etwas, was
uns im Schauen eint – bis man
beginnt zu sprechen.
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