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A k t i o n E r i n n e r u n g Me ns chen w ie wir ... ( Z w e i t e r T e i l ) Menschen wie wir ... Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Herausgegeben vom: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Werner-Hilpert-Straße 2, 34112 Kassel Internet. www.volksbund.de E-Mail: info@volksbund.de Spenden helfen: Konto 4300 603, Postbank Frankfurt, BLZ 500 100 60 Verantwortlich: Burkhard Nipper, Generalsekretär Redaktion und Gestaltung: Anja Kammerer, AWK-Dialog Marketing Endredaktion: Dr. Martin Dodenhöft 1. Auflage 2002 Druck: GGP Media, Pößneck /115 Inhalt Vorwort 4 Erinnerungen an den Bruder – von Brüdern 7 Erinnerungen an den Bruder – von Schwestern 51 Erinnerungen an den Onkel 101 Erinnerungen an den Vater 129 Erinnerungen an den Ehemann, den Verlobten, den Freund 177 Erinnerungen an liebe Menschen 199 Erinnerungen an die Familie 219 Nachwort 234 Abkürzungsverzeichnis 236 Namensverzeichnis 237 Bisher in der Volksbund-Buchreihe erschienen 240 Menschen wie wir ... 3 Vorwort Täglich gehen in der Abteilung Gräbernachweis und Angehörigenbetreuung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge Anfragen nach dem Schicksal geliebter Menschen ein – nach Ehemännern, Verlobten, Brüdern, Vätern oder Großvätern, nach Freunden oder Kriegskameraden. So entstand im Herbst 1999 bei uns im Volksbund die Idee, die Erinnerungen der Angehörigen an ihre Gefallenen und Vermissten in einer umfassenden Dokumentation festzuhalten. Es gehört zum schwersten und bedrückendsten Teil unserer Arbeit, nicht immer Auskunft geben zu können, wie ein Angehöriger starb, ob er ein würdiges Grab erhielt oder ob wenigstens Aussicht besteht, ihn zu finden und auf einer Kriegsgräberstätte zu bestatten. So möchten wir wenigstens das festhalten, was die Angehörigen und Freunde selbst über die Opfer des Krieges wissen und schreiben können. Wir wollen ihnen zeigen, dass sie in ihrem Gedenken nicht allein sind. Daraus entstand die „Aktion Erinnerung“. Wird das Wissen über den Krieg und seine Folgen mit dem Tod der letzten Zeitzeugen aus der Kriegsgeneration verloren gehen? Wie sollen die jüngeren Menschen lernen, was Krieg wirklich bedeutet, wenn es ihnen niemand mehr erzählen kann? Wissen wir denn, was Krieg ist, wenn er in unseren Medien wie ein Computerspiel erscheint? Es ist an der Zeit, die Erinnerungen und Erfahrungen der Kriegsgeneration für die Nachwelt festzuhalten. Die Geschichtsforschung kennt den Begriff der „oral history“, der von Zeitzeugen erzählten Geschichte. Anders als die „große Geschichte“ der Menschheit mit ihren weltweiten, europäischen oder nationalen Bezugspunkten leistet „oral history“ einen Beitrag für eine „Geschichte von unten“. Viele Menschen haben ihre eigene Geschichte bereits für sich und ihre Familien dokumentiert. Form und Reichweite dieser Zeitzeugnisse sind sehr unterschiedlich. Manche haben sie in Buchform niedergelegt, andere in Tagebüchern, in Fotobänden oder Filmen. Manches lebt über Erzählungen in der Erinnerung der Nachkommen weiter. Aber auch diese Erinnerung verblasst, und sie verliert sich eines Tages ganz. Die „Aktion Erinnerung“ leistet einen Beitrag dazu, dass die Opfer des Krieges und ebenso die Gedanken und Gefühle ihrer Angehörigen und Freunde nicht vergessen oder verdrängt werden. Wir wünschen uns, dass die „Aktion Erinnerung“ mit ihren Lebensgeschichten und Gedanken an den Schulen für den Geschichtsunterricht und die Friedens- 4 Menschen wie wir ... erziehung Verwendung findet, in Verbindung und als Ergänzung zu anderen Lernmitteln über die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Zugleich verfolgt die „Aktion Erinnerung“, aus der wir bereits rund 100 Beiträge in einem ersten Band veröffentlicht und aus der wir auf vielfachen Wunsch weitere Beiträge für dieses zweite Buch herausgesucht haben, ein anderes Ziel. Es war nicht ausschlaggebend für das Projekt. Aber wir akzeptieren es, und ich spreche es deshalb an. In vielen der Beiträge, die uns erreichen, und in einer Fülle von Briefen spüren wir, wie die in Deutschland gängige kollektive Missachtung und Verleumdung der Kriegsteilnehmer als „Verbrecher, Mörder oder Handlanger des NS-Terrors“ die damals ganz Jungen und heute alt gewordenen letzten Überlebenden der Kriegsgeneration und die Angehörigen der Millionen Opfer von Krieg und Gewalt aufs Tiefste verletzt. Sie leiden darunter, ohne sich wehren zu können, und auch darunter, dass ihr eigenes, oft namenloses Leid, ihr eigener Verlust, aber auch ihre eigene Leistung – während und nach dem Krieg – verdrängt und vergessen werden. Die „Aktion Erinnerung“ bietet zu diesem Thema keine letzten Antworten, und sie beansprucht natürlich nicht, Geschichte darzustellen oder sie gar neu und anders zu entwerfen. Sie ergreift allerdings Partei dadurch, dass sie als Beitrag zur „oral history“ Stimmen, Gedanken, Erinnerungen und Spuren der Kriegsgeneration festhält, sie aufbewahrt und einbringt in die großen geschichtlichen Zusammenhänge. Sie gehört zur Erbschaft unserer Zeit. Die „Aktion Erinnerung“ überliefert und erhält sie deshalb kommenden forschenden und fragenden Generationen. Seien wir uns unserer Sache nicht allzu sicher. Die durch große Kriege und Menschheitskatastrophen geprägte Geschichte des 20. Jahrhunderts ist weder zu Ende – noch zu Ende geschrieben. Und wir sind weder besser noch klüger als die Menschen, von denen dieses Buch berichtet. Also lassen Sie uns ihnen aufmerksam zuhören und aus ihrem Leben lernen. Sie waren Menschen wie wir ... Karl-Wilhelm Lange Präsident des Volksbundes Menschen wie wir ... 5 Erinnerungen an den Bruder von Brüdern geschrieben Hans-Joachim Kuck von Burkhard Kuck 8 Kurt Eugen Krösa von Alfred Krösa 10 Jakob Kirchhoffs von Egon Kirchhoffs 11 Otto Jahn von Friedrich Jahn 18 Josef Kimmig von Lorenz Kimmig 20 Heini Koch von Gerhard Koch 22 Gottfried Jacobs von Norbert Jacobs 25 Heinz und Kurt Paul Lange von Richard Lange 27 Karl-Joachim Heiße von Leberecht Heiße 33 Franz Lirche von Joseph Lirche 36 Martin Voigt von Dr. Joachim Voigt 38 Achim Kluger von Karl Kluger 40 Johann Tatarczyk von Hubert Tannhausen 44 Emil Vohlken von Georg Vohlken 47 Erinnerungen an den Bruder 7 Hans-Joachim Kuck * 25. Oktober 1921 = 16. Januar 1945 Von Burkhard Kuck Am heutigen Volkstrauertag im Jahr 2001 habe ich meinem gefallenen Bruder einen Brief geschrieben, den ich Ihnen hiermit überreiche. Er ist beim Absturz eines neu übernommenen Flugzeuges ums Leben gekommen. Lieber Hans-Joachim, Dein Bild steht vor mir, beleuchtet von einer brennenden Kerze. Ich denke an dich, meinen Bruder, den besten Freund meiner Kindheit. Dein Lachen und dein Humor ist mir noch heute gegenwärtig. Aber auch dein Eingehen auf meine Sorgen, gleich welcher Art. Man soll nicht glauben, dass Kinder keine Sorgen haben. Damals wie heute. Ob ich morgen in Latein drankomme, oder in Mathe. Du hast mir auf den Zahn gefühlt, wo es brennt, und dann hast du mir das erklärt und eingepaukt, was mir die Lehrer vergeblich versuchten beizubringen. Du hast zum Beispiel erkannt, dass es nur aufs Bruchrechnen ankommt, um in Mathe nicht zu versagen. Und auf einmal ging es. Ich denke an die frühen morgendlichen Waldläufe bis zum See, an das Eintauchen in die noch spiegelglatte Fläche, an das gemeinsame Erleben der aufwachenden Natur. Wie sprühtest du immer von Ideen. Was hattest du für Pläne in Physik und Chemie. Die Lehrer staunten oft über deine Fragen, die weit über das hinausgingen, was sie beantworten konnten. Was 8 Erinnerungen an den Bruder wäre aus dir geworden, wenn das Schicksal dir ein längeres Leben vergönnt hätte. Als ich noch zur Schule ging, wurdest du Soldat, wurdest Flieger, Fernaufklärer. Als ich dich das letzte Mal sah, im Herbst 1942, kurz bevor auch ich einrücken musste, hattest du mehr als zweihundert einsame Feindflüge hinter dir. Damals erzähltest du mir auch, wie sehr dich das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen berührt hatte, die du am Rande des Rollfeldes hast arbeiten sehen. Als ich zwei Jahre später vermisst gemeldet wurde, hattest du noch Mutti in deinen Briefen getröstet und in deinem letzten Schreiben die Freude über die Nachricht ausgedrückt, dass ich noch lebe. Ich lag damals als Kriegsgefangener in einem Lazarett in England ohne Nachricht von meinen Angehörigen. Normalerweise behalte ich keine Träume in Erinnerung, aber Mitte Januar 1945 träumte ich so intensiv von dir, dass ich bis heute diesen Traum nicht vergessen habe. Ein Jahr später erfuhr ich dann, dass du am 16. Januar 1945 tödlich abgestürzt bist und in Tharau beerdigt wurdest. Seitdem kann ich kaum die Tränen zurückhalten, wenn ich das Lied vom Ännchen von Tharau höre. Lieber Hans-Joachim, es vergeht selten ein Tag, an dem ich nicht an dich denke, dein Bild hängt über meinem Bett. Du warst und bist ein Teil meines Lebens. Dafür danke ich dir. Erinnerungen an den Bruder 9 Kurt Eugen Krösa * 28. November 1922 in Olmütz (Mähren) Vermisst seit Januar 1945 Von Alfred Krösa Als erster Sohn des Ehepaares Otto und Ada Krösa, geb. Hrabal, besuchte Kurt die Volksschule im Vorort Olmütz-Powel, trat dann in das Realgymnasium Olmütz ein, das er mit der Reifeprüfung im März 1941 mit ausgezeichnetem Erfolg abschloss. Seine Begabungen und Interessen lagen auf den Gebieten der Musik – er hatte das „absolute Gehör“ und spielte sehr gut Violoncello, ferner auf dem Gebiet der Biologe, die er studieren wollte. Als Hobby unterhielt er viele Jahre im elterlichen Garten ein Terrarium, in dem er Schildkröten, Lurche und Reptilien hielt. Auch eine kleine Schmetterlingszucht machte ihm große Freude. Kurt Krösa war etwa 1,78 Meter groß und hatte volles braunes Haar. Nach seinem Abitur wurde er zu einer Panzergrenadiereinheit nach Dresden eingezogen und nach seiner Ausbildung Anfang 1942 an die Ostfront abgeordnet. Bereits am 23. Juni 1942 durch Granatsplitter am Oberarm verwundet, kam er in das Reserve-Lazarett von Biberach an der Riß, wo ihm bei der Entlassung am 16. Juli 1942 das VerwundetenAbzeichen in Schwarz verliehen wurde (Urkunde vorhanden). Die Angabe über seinen Truppenteil lautet dort 6./Schtz. Rgt. 103. Nach seiner Genesung in einer Ausbildungs-Einheit wurde er wieder an die Ostfront abgeordnet, wo er, inzwischen zum Obergefreiten befördert und mit dem EK II ausgezeichnet, zum zweiten Mal eine Verwundung am (anderen) Oberarm erlitt. Nach dem Lazarett-Aufenthalt (der Ort ist unbekannt) war er in einer Genesenden-Kompanie in Dresden stationiert. Zu Weihnachten 1944 war Kurt als Urlauber für einige Tage in Olmütz bei seinen Eltern zu Besuch. Von seinem weiteren Einsatz fehlen genauere Angaben. Es ist nur bekannt, dass seine Einheit, das 1./Pz.Gren.Rgt. 103, an der Ostfront im Bereich Westpreußen im Winter 1944/45 eingesetzt war, etwa im Raum Dirschau/Westpreußen, aus dem die letzte Post seine Eltern erreichte. Bei Kriegsende wurde ein Suchantrag beim Deutschen Roten Kreuz gestellt, der aber erfolglos blieb. 10 Erinnerungen an den Bruder Jakob Kirchhoffs * 27. Februar 1923 in Krefeld = 28. Oktober 1944 im Gebiet Woroschilowgrad/Sowjetunion Von Egon Kirchhoffs Ihren Wunsch entsprechend möchte ich Ihnen etwas aus meiner Erinnerung über meinen Bruder Jakob Kirchhoffs mitteilen. Unsere Familie war sehr arm, Vater war bis 1936 sieben Jahre arbeitslos. Unsere Wohnung bestand aus einer Wohnküche, einem Schlafzimmer, in dem die Eltern und die beiden kleinsten Kinder schliefen. In einem größeren Mansardenzimmer schliefen meine Brüder Jakob und Johannes, in einem kleineren Mansardenzimmer unsere Schwester Eleonore. Wasser gab es nur auf dem Etagenflur, auch die Toilette befand sich dort und musste von allen Bewohnern der Etage benutzt werden. In der Wohnküche gab es einen Gasanschluss, so konnte dieser Raum mit einer Gaslampe beleuchtet werden. Nach achtjährigem Besuch der Volksschule 36 in Krefeld begann Jakob am 1. April 1937 eine Lehre als Maschinenschlosser und trat dort in den Spielmannszug der Hitlerjugend ein, denn er war ein begeisterter Trommler. Da er aber noch keine eigene Trommel besaß, übte er immer auf der rechten Ecke des Unterteils vom Küchenschrank. Meine Mutter schimpfte oft mit Jakob, da ihr die Trommelei auf die Nerven ging. Jakob war das ruhigste Kind unserer Familie und löste gerne Kreuzworträtsel. Er hatte dabei die Angewohnheit, beim Nachdenken mit seinen Fingern in den Haaren zu drehen. Da mein Bruder sehr starke Naturkrause hatte, drehte er sich die Haare oft so ineinander, dass sie später mit dem Kamm nicht mehr auseinander zu bringen waren. Es blieb dann der Mutter nichts anderes übrig, als die zusammen gedrehten Haare mit der Schere abzuschneiden. Wenn mein Bruder Samstagnacht bis zum Morgen Kreuzworträtsel löste, schlief er am Sonntag bis zum Mittag. Er hatte dann die Zeit zum Mittagessen verschlafen. Hier aber war meine Mutter konsequent. Wer am Sonntag nicht pünktlich um 12.00 Uhr am Mittagstisch saß, bekam kein Mittagessen mehr. Beim Frühstück am Sonntagmorgen habe ich Jakob nie gesehen, außer an den Weihnachtsfeiertagen. Erinnerungen an den Bruder 11 Neben den Kreuzworträtseln und der Musik hatte Jakob ein weiteres Steckenpferd: Er sammelte aus den Zigarettenpackungen die Bilderschecks oder die bei einigen Zigarettenmarken in den Packungen liegenden Bilder. In den Packungen mit drei Zigaretten war ein Bilderscheck, in den Sechserpackungen ein Doppelscheck. Die Bilderschecks waren von 1 bis 50 nummeriert, und zweimal 1 bis 50 als Einzelscheck, oder einmal 1 bis 50 als Doppelscheck waren eine komplette Scheckserie. Die Scheckserien konnten gegen Bilderserien eingetauscht werden, und dafür konnte man preiswerte Sammelalben zum Einkleben der Bilder in den Tabakwarengeschäften für eine Reichsmark kaufen. Je nach Größe der Sammelalben, benötigte man sechs bis acht Bilderserien, bis alle Bilder für das Album komplett vorhanden waren. Bei einigen Zigarettenmarken waren anstelle der Bilderschecks Bilder in den Sechserpackungen, alle von gleicher Größe. Jakob versuchte durch Tauschen von doppelten Bildern die Bilder für ein Sammelalbum komplett zu bekommen. Ich kam am 1. April 1939 in die Schule, im gleichen Jahr wurde Johann aus der Schule entlassen, und Jakob begann sein drittes Lehrjahr. Jetzt waren meine beiden Brüder tagsüber arbeiten, mussten aber am Abend immer Futter für die 116 Kaninchen besorgen, die mein Vater im Garten hatte. Durch den Verkauf von Kaninchen finanzierte Vater unser Weihnachtsfest. Im Laufe des Sommer 1939 gab es mehrfach Streit zwischen meinem Vater und meinen Brüdern, wegen der Kaninchen. So viele Kaninchen brauchten eine ganze Menge Futter. Meine Brüder hatten am Abend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen, keine Lust mehr, noch Futter für die Kaninchen zu besorgen. Mein Bruder Jakob wollte lieber auf seiner Trommel üben, die er inzwischen besaß, oft war er abends mit dem Spielmannszug der HJ unterwegs. Es wurde jeder Grünabfall aus dem Garten verfüttert, Blätter von Kohlrabi, Karotten und anderes. Die Nachbarn brachten Grünabfälle zum Verfüttern, trotzdem musste noch viel Futter zusätzlich besorgt werden, besonders Gras, Klee und Löwenzahn. Ein Teil des Futters, das meine Brüder besorgten, wurde vom Vater als Wintervorrat getrocknet. Ab September 1939 gab es nicht mehr so viele Abfälle, mit denen unser Vater das Vieh, Kaninchen und Hühner, füttern konnte. Es gab jetzt weniger Brotreste sowie trocken gewordenes Brot. Diese Brotabfälle fehlten jetzt fast ganz, denn seit Ende August 1939 gab es Brot nur noch auf Bezugscheinkarten, und darauf konnte nur noch die Brotmenge gekauft werden, wie für den Ausgabezeitraum vorgesehen war. Bis zur Ausgabe der Bezugscheinkarten hatten auch die Gartennachbarn immer ihre Brotreste zum Verfüttern an die Tiere gebracht. 12 Erinnerungen an den Bruder Jakob, zweiter von links, mit Freunden beim Sport. Jakob mit 17 Jahren Jakob, ganz hinten, bei der Goldenen Hochzeit seiner Großeltern. 1943 als Soldat in Russland. Erinnerungen an den Bruder 13 Nach einem Bombentreffer in unserem Garten schaffte der Vater alle Tiere im Garten ab. Von diesem Tag an brauchten meine Brüder Jakob und Johannes kein Futter für die Kaninchen mehr zu besorgen. Jakob und Johann spielten beide Fußball im Fußballverein Spiel und Sport 08 Krefeld, Jakob in der A-Jugend und Johann in der B-Jugend. Als die B-Jugend im Winter auf gefrorenem Boden spielte, rutschte Johann aus und brach sich das Handgelenk. Nach diesem Bruch spielte er nie wieder Fußball, im Gegensatz zu Jakob, der bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht weiter spielte. 1940 kaufte sich Jakob eine Ziehharmonika, auf der er fleißig übte. Am 1. April 1942 wurde Jakob Soldat, kam zur Ausbildung nach Naumburg an der Saale und wurde als Richtkanonier an einer 8,8 cmFlak ausgebildet. Er meldete sich freiwillig zu den verschiedensten Lehrgängen. Der letzte Lehrgang, den er vor seinem Fronteinsatz mitmachte, war ein Funkerlehrgang in Budweis. Von dort schrieb er mir eine bunte Postkarte. Es sollte das einzige Schreiben bleiben, das ich je von Jakob bekommen habe. Neun Monate nach seiner Einberufung kam Jakob nach Russland an die Front. Die Flakbatterie, der er angehörte, wurde zur Panzerabwehr eingesetzt. Mit meinem Bruder Jakob wurden gleichzeitig 20 weitere junge Männer aus der Nachbarschaft, alle im gleichen Alter, zum Wehrdienst einberufen. Mit fast allen war mein Bruder in der gleichen Schulklasse gewesen. Es war auch fast die gesamte Fußballmannschaft, in der er bis zu seiner Einberufung gespielt hatte. Drei junge Männer, die ebenfalls an diesem Tag aus der Nachbarschaft zum Wehrdienst einrückten, waren ein Jahr jünger, diese drei hatten sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Sie wollten, wie sie sagten, in einer Eliteeinheit kämpfen. Ich sah sie wieder, als sie auf Urlaub kamen, die Brust voller Orden, die Nahkampfspange in Silber, das Deutsche Kreuz in Gold. Zwei hatten das silberne, einer das goldene Verwundeten-Abzeichen. Alle hatten das EK I und zwischen drei und sechs Panzerknackerabzeichen auf den Ärmeln ihrer Uniformjacken. Das Kriegsende hat keiner von ihnen erlebt. Von den 20 jungen Männern, die an diesem Tag mit meinem Bruder Jakob eingezogen wurden, haben nur drei den Krieg überlebt, zwei unverletzt und einer mit nur noch mit einem Bein. Einer der beiden Unverletzten wurde 1956 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Er gehörte zu den Kriegsgefangenen, die nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1956 in Moskau freigelassen wurden. Mitte September kam mein Bruder Jakob zu einem Kurzurlaub nach Hause. Er hatte sich freiwillig zu einem Funkerlehrgang gemeldet und 14 Erinnerungen an den Bruder durfte die Tage, bevor der Funkerlehrgang in Budweis begann, zu Hause verbringen. Obwohl er keine Erlaubnis für das Tragen von Zivilkleidung hatte, zog er sich an einem Tag Zivilkleidung an. Er wollte in die Stadt, und hatte, wie er sagte, keine Lust, dauernd „Männchen zu bauen“. Er meinte damit das Grüßen aller Soldatendienstgrade vom Unteroffizier aufwärts. Mein Bruder Johann nutzte die Abwesenheit von Jakob, zog dessen Uniform an und ließ sich auf dem Hof fotografieren. Die Mutter schimpfte, als sie Johann in der Uniform von Jakob durch das Haus laufen sah. Was Johann machte, war verboten, deshalb konnte er auch später das Bild niemandem zeigen. Am 1. Oktober wurde Johann einberufen und kam zu den Panzergrenadieren. Als mein Bruder sich am Ende seines Urlaubs von der Familie verabschiedete, ahnte keiner, dass wir Jakob nie mehr wiedersehen sollten. Kurz vor Weihnachten 1942 bekamen meine Eltern Briefe von Jakob und Johann, beide wünschten ein frohes Weihnachtsfest und hofften, dass sie die Familie gesund und munter wiedersehen würden. Jakob teilte den Eltern mit, dass er sich Weihnachten mit einem Mädel aus Naumburg an der Saale verloben werde, und schickte ein Foto von sich und seiner Auserwählten. Dieses Foto besitze ich immer noch. Er teilte den Eltern mit, dass sein Regiment Anfang Januar 1943 nach Russland verlegt werde. Dieser Brief kam nicht mit der Feldpost, er trug als Absender die Anschrift der Freundin von Jakob. Der Brief wäre mit diesem Inhalt nie durch die Militärzensur gegangen. Die Mutter antwortete sofort, sie schrieb auch einen kurzen Brief an seine Freundin, in dem sie die Hoffnung ausdrückte, die zukünftige Schwiegertochter bald persönlich kennenzulernen. Diesem Brief legte sie den Brief für Jakob bei, mit der Bitte, den Brief Jakob auszuhändigen. In beiden Schreiben gratulierte sie auch im Namen der Familie zur bevorstehenden Verlobung und wünschte den beiden für die Zukunft alles Gute. Zehn Tage vor Weihnachten 1943 kam ein Brief von Jakob. Die Mutter weinte, als sie den Brief las, und steckte ihn, nachdem sie ihn gelesen hatte, in ihre Kitteltasche. Bis zum Abend sagte sie kein Wort über den Inhalt. Erst nachdem mein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen war und die Familie das Abendbrot gegessen hatten, sprach sie von Jakobs Brief und las ihn vor. Wie sollte man diesen Brief bezeichnen? Als Jakobs Vermächtnis, als Testament oder als Abschiedsbrief? Jakob verschenkte in diesem Brief alle seine persönlichen Sachen. Hatte mein Bruder geahnt, dass er seine Familie nicht mehr wiedersehen werde? Ich bekam Jakobs Ziehharmonika und begann noch am gleichen Abend darauf zu üben. Ich freute mich über das Geschenk, denn ich mit Erinnerungen an den Bruder 15 meinen elf Jahren hatte die Bedeutung dieses Briefes nicht verstanden. Es war der Brief eines Menschen, der geahnt hatte, dass er die Heimat nicht mehr wiedersehen sollte. Am 10. Februar 1944 kam ein Brief von Johann. Er teilte den Eltern mit, dass er am 27. Februar in Bad Harzburg heiraten werde. Er hatte den Geburtstag seines Bruders Jakob als Hochzeitstag gewählt, der an diesem Tag 21 Jahre alt wurde. Johann hatte, ohne es zu ahnen, den Tag gewählt, den die Familie als Todestag von Jakob ansehen sollte. Er sollte öfter ohne es zu ahnen bestimmte Tage als Schicksalstage wählen. Da er noch immer bettlägerig war, fand die Trauung an seinem Bett im Lazarett statt. Nach der Trauung bekamen beide vom Standesbeamten Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ geschenkt. Nachdem sie die Heiratsurkunde unterschrieben hatten, schenkte der Standesbeamte Johann den Federhalter und der Braut die Feder zur Erinnerung. Anfang März 1944 bekamen meine Eltern einen Brief vom Leutnant aus Jakobs Kompanie. Der Leutnant teilte mit, dass Jakob seit dem 27. Februar bei der Truppe vermisst werde. Es war Jakobs Geburtstag, und zugleich der Hochzeitstag von Johann. Dieser Brief ging beim Tode meines Vaters verloren. Ich nahm an, Johann hätte diesen Brief, er wiederum glaubte, unsere jüngste Schwester Anneliese hätte ihn. Als ich Jahre später nach dem Brief fragte, war er nicht mehr aufzufinden. Da ich diesen Brief mehrfach gelesen habe, kann ich mich noch gut an den Inhalt erinnern. Der Leutnant schrieb, die Einheit sei an diesem Tag von russischen Truppen eingekesselt worden, hätte aber nach heftigem Kampf den Kessel sprengen können. Dabei hätte Jakob einen Kopfstreifschuss und einen Oberarmdurchschuss erhalten. Er wäre dann mit anderen Verwundeten auf einem Raupenschlepper zum Hauptverbandplatz gebracht worden. Auf dem Weg dorthin seien Schwerverwundete auf einen LKW umgeladen worden. Dieser sei auf dem Hauptverbandplatz angekommen, vom langsameren Raupenschlepper mit den leichter Verwundeten würde jedoch jede Spur fehlen. Er hätte die vorgeschriebenen drei Tage gewartet, ob noch ein Lebenszeichen von einem der auf dem Raupenschlepper befindlichen Soldaten kommen würde, aber es wäre vergeblich gewesen. So erfülle er die traurige Pflicht, die Eltern davon zu unterrichten, dass ihr Sohn Jakob Kirchhoffs bei der Truppe vermisst werde. Normalerweise hätte der Hauptmann als Kompaniechef diese Mitteilung geschrieben, aber auch von ihm und vom stellvertretenden Kompaniechef, die ebenfalls als Leichtverwundete auf diesem Raupenschlepper gewesen waren, fehlte seitdem jede Spur. 16 Erinnerungen an den Bruder Johann hatte seinem Bruder Jakob in einem Brief seine Hochzeit mitgeteilt. Johann hatte diesen Brief, zwei Tage bevor die Eltern den Brief des Leutnants erhielten, mit dem Vermerk „Empfänger vermisst“ zurückerhalten. Der Hochzeitstag von Johann wurde seitdem in der Familie als Todestag von Jakob angesehen. Als ich zwei Tage nach Weihnachten 1944 nach Hause kam, traf ich drei fremde Personen bei uns in der Wohnung an. Die Frau wurde mir als die Verlobte von Jakob und die beiden Männer als deren Brüder vorgestellt. Als sie die Wohnung verlassen hatten, erfuhr ich den Grund ihres Besuches: Die Verlobte meines Bruders war gekommen, um meinen Eltern mitzuteilen, dass sie die Verlobung mit Jakob gelöst habe, da sie von ihm seit mehr als einem Jahr nichts mehr gehört habe. Sie wäre noch so jung und wolle nicht ewig auf Jakob warten, sie wüsste ja auch nicht, ob er noch leben würde. Sie hätte einen anderen Mann kennen gelernt, mit dem sie ihre Zukunft planen wolle. Aufgrund der Vermisstenmeldung vom März 1944 nahm die Familie bis 1997 an, dass der Hochzeitstag von Johann auch der Todestag von Jakob war. Mit Datum vom 2. Juli 1997 erreichte meine Schwester Anneliese ein Schreiben vom Suchdienst des Roten Kreuzes, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass Jakob am 28. Oktober 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft im Gebiet Woroschilowgrad verstorben ist. Der angegebene Todestag war der 20. Geburtstag von Johann. Da Johann bereits 1993 verstarb, hat er den wahren Todestag seines Bruders nicht mehr erfahren. Nicht sein Hochzeitstag, sondern sein Geburtstag war der Todestag unseres Bruders Jakob. Das Gebiet von Woroschilowgrad umfasste die heutige Südregion der Ukraine und Moldawien. Ich habe beim Standesamt nachgefragt, ob ein Sterbeort bekannt sei. Es wurde mir Gorskoje als Ort des Kriegsgefangenenlagers genannt. Dieser Ort wurde inzwischen auch in die Todesurkunde meines Bruders beim Standesamt Krefeld eingetragen. Damit wurde das Schicksal meines Bruders nach 53 Jahren aufgeklärt. Die drei Trommeln, die Jakob gehörten, wurden nach dem Krieg gegen Lebensmittel eingetauscht, seine Kleidung hat unser Vater aufgehoben. Er hatte immer die Hoffnung, dass sein Sohn lebt und wieder nach Hause kommt. Im Frühjahr 1948 bekam ich einen der Anzüge meines Bruders, damit ich sonntags „etwas Vernünftiges zum Anziehen hätte“. Die Fotos, die ich meinem Schreiben beilege, sind alles, was mir neben der Erinnerung an meinem Bruder Jakob geblieben ist. Erinnerungen an den Bruder 17 Otto Jahn * 2. März 1923 in Gr. Wittenberg = 29. November 1943 in Russland Von Friedrich Jahn Meine Eltern besaßen in Gr. Wittenberg, in der Nähe von Schneidemühl in Ostpreußen, einen kleinen Bauernhof. Da sich Vater und Mutter in der schweren Zeit von 1929 bis 1934 keine Hilfskräfte leisten konnten, mussten wir drei Jungen – Karl, Otto und ich – kräftig zu Hause helfen. Es war im Frühjahr 1932, als mein Vater Karl und Otto bat, mit dem Pferdegespann beim Landwirt Klawitter im Nachbarort Hasenberg Saatkartoffeln abzuholen. Beide Jungen wussten das Vertrauen, das der Vater in sie setzte, zu würdigen und nahmen ihm die Arbeit ab. Von der Reichsstraße, die von Deutsch Krone nach Schneidemühl führte, gab es einen etwa einen Kilometer langen Landweg nach Hasenberg, den fuhren die Jungen. Als sie die Kartoffeln geladen hatten, versuchte Karl, zwölf Jahre alt, das Gespann in ruhiger Gangart wieder zum Hof zurückzukutschieren. Neben ihm saß Otto, neun Jahre alt. Sehr bald kam die Wegstrecke, wo es abwärts ging, langsam kam der Wagen ins Rollen, und plötzlich hatten die Pferde das Gefühl, dass der Wagen ihnen in die Hacken geriet. Sie rasten los, der Wagen holperte durch ausgefahrene Löcher und über harte Steinbrocken. Karl versuchte die Pferde zu beruhigen, jedoch ohne die Leine fest in die Hände zu nehmen. Otto spürte, welche Gefahr im Verzuge war. Er riss Karl die Leine aus der Hand, stemmte sich mit beiden Beinen gegen die Kante des Kastenwagens und zügelte die Pferde mit ganzer Kraft. Karl konnte sich nicht mehr halten, er fiel vom Wagen und konnte sich in letzter Sekunde durch eine Körperdrehung davor retten, vom Hinterrad des Wagens überfahren zu werden. Otto stand wie ein alter Kutscher auf dem Wagen und bekam nach einer kurzen Wegstrecke die Pferde zum Stehen. Karl stieg wieder auf, aber Otto ließ sich die Zügel nicht mehr aus den Händen nehmen! Ja, so war er, der Bruder Otto. Er redete nicht viel, sondern handelte. Alles sah er sich genau an und beobachtete stets Tiere, Bäume und Pflanzen auf unserem Hof. Auch konnte er mit allen landwirtschaftli- 18 Erinnerungen an den Bruder chen Geräten gut umgehen, sie sogar, wenn nötig, reparieren. Oft konnte er sogar dem Vater diesen oder jenen guten Tipp geben. Eine weiterführende Schule wollte Otto nicht besuchen. Mit 14 Jahren verließ er die Volksschule und widmete sich von da an den Arbeiten auf dem Hof. Mit 19 Jahren wurde er 1942 zur Infanterie eingezogen, noch im gleichen Jahr wurde er in Russland schwer verwundet. In seinem Genesungsurlaub im Sommer 1943 sahen wir drei Brüder uns zum letzten Mal zu Hause. Der Feldwebel Karl – Luftwaffe – der Gefreite Friedrich – Nachrichtentruppe – und der Gefreite Otto – Infanterist – tauschten ihre Kriegserfahrungen aus. Es waren unvergessene Urlaubstage auf unserem Bauernhof in Gr. Wittenberg. Als Karl und ich unseren Bruder Otto in Schneidemühl an den Zug brachten, der ihn zu seiner Ersatzeinheit zurückbringen sollte, schlossen wir uns noch einmal in die Arme, und da sagte Otto: „Ich komme ja doch nicht wieder!“ Er fiel am 29. November 1943 – er, der den Bauernhof erben sollte! Erinnerungen an den Bruder 19 Josef Kimmig Josef Kimmig als Soldat * 18. Oktober 1919 in Bad Peterstal = 21. Oktober 1944 in Lötzen Kriegsgräberstätte Bartossen (Bartosze)/Polen Block 5, Reihe 29, Grab 1439 Von Lorenz Kimmig Mein Bruder Josef Kimmig ist am 18. Oktober 1919 in Bad Peterstal als erster Sohn der Eheleute Lorenz Kimmig (Landwirt) und Franziska geb. Huber, geboren. Er starb am 21. Oktober 1944 in Lötzen an seiner schweren Kopfverletzung. Dort wurde er auch auf dem Friedhof begraben, was schriftlich bestätigt wurde. Eine weitere Nachricht ist mir nicht mehr bekannt. Merkmale: 1,80 Meter groß, schwarze Haare, graue Augen, kräftig. Er war ein tüchtiger Bauer mit Leib und Seele und sollte den elterlichen Hof übernehmen. Schon während der Schulzeit und in den Jahren bis zur Einberufung als Soldat liebte er die Arbeit als Land- und Forstwirt. Da der Vater durch eine Kriegsverletzung nicht immer einsatzfähig war, musste er oft die Arbeit allein mit den vier Geschwistern, Mutter und Tagelöhnern bewältigen. Es war ihm nichts zu viel, wenn es auch im Sommer abends manchmal sehr spät wurde. Sein hervorragender Sinn für Ordnung hat manche Arbeit erleichtert. Gerade im Wald hat sich das als lohnend erwiesen. Die Felder und Wiesen, aber auch der Obstbaumbestand und das Vieh zeugten von seinem Können und seiner Liebe. Im Urlaub war er von der ersten bis zur letzten Minute in Feld und Wald tätig. Bei jedem Abschied schaute er mit wehmütigem Blick in den Stall. 20 Erinnerungen an den Bruder Beim letzten Urlaub, im August 1944, soll er mehrmals stehen geblieben sein, beim Abschied, und immer wieder zum Haus hingewendet gesagt haben: „Ja, soll ich dich nicht mehr sehen?“ Ähnliche Gedanken äußerte er auch mir gegenüber, als er mich in Stuttgart besuchte, wo ich damals als Soldat in Ausbildung war. Die Zeit seines Todes stimmte genau mit der Zeit überein, als meine Mutter nachts aufgeschreckt wurde, durch einen Riss, den es in der Wand gab. Sie weckte den Vater und sagte: „Jetzt ist unser Josef gefallen.“ So hat es sich dann auch bestätigt. Das Bild meines lieben Bruders lebt noch in meinem Herzen. Mein Wunsch, sein Grab einmal besuchen zu können ist nicht möglich geworden, da der Friedhof in Lötzen nicht mehr besteht. Wenn ich schon auf sein Grab keine Blumen mehr legen kann, werde ich immer wieder mein Scherflein geben, damit andere Gefallene geehrt werden können. Inzwischen hat der Umbettungsdienst des Volksbundes das Grab von Josef Kimmig gefunden und den Gefallenen auf die Kriegsgräberstätte Bartossen (heute Bartosze)/Polen umgebettet. Erinnerungen an den Bruder 21 Heini Albert Ernst Koch * 30. Januar 1916 = Januar 1945 am Baranow-Brückenkopf, Raum Opatow/Cmielow Von Gerhard Koch Der DRK-Suchdienst gab Ende der 50er Jahre, nach Rückkehr eines Spätheimkehrers bekannt, dass der Gefreite Steinmetz in russischer Gefangenschaft ihm erzählt habe, dass er meinen Bruder Heini Koch nach seiner Gefangennahme bei einer Zuckerfabrik tot habe liegen sehen. Persönliche Merkmale meines Bruders: 1,77 Meter groß, Haarfarbe bräunlich, Augenfarbe braun. Besondere Eigenschaften: Vorbildlich in Hilfsbereitschaft, kameradschaftliche Haltung, praktisch veranlagt, sportlich sehr begabt, er hatte verschiedene Sportabzeichen sowie den Schein als Rettungschwimmer der DLG. Er war voller Ideale und suchte 1936 als Freiwilliger in der Deutschen Wehrmacht seine Zukunft. Unser Vater war im Ersten Weltkrieg Soldat und in Frankreich gefallen. War es ein vorgezeichnetes Schicksal, dass auch mein Bruder, wie meine Mutter meinte, im Zweiten Weltkrieg hat sterben müssen? 1922 bis 1930 besuchte er die Volksschule in Uslar. Er hatte eine gute Einstellung zur Natur. So war er gern am Wasser, stand gern mit den Füßen in Bächen und Flüssen, Forellen jagen war ein Hobby, an der See bei Verwandten konnte er den ganzen Tag im oder am Wasser verbringen, um Muscheln zu suchen. Er hatte ein freundliches, bescheidenes Wesen. Von 1930 bis 1933 folgte die Lehre als Holzkaufmann bei der Kleinmöbelfabrik Ilse & Co. in Uslar sowie der Besuch der Kaufmännischen Berufsschule. Als er 1930 ein Fahrrad bekam, war die Freude groß. Es folgten viele Fahrten in die nähere und weitere Umgebung mit Freunden und Jugendverbänden. Er kümmerte sich viel um mich, seinen neun Jahre jüngeren Bruder. So nahm er mich auf dem Fahrrad mit und zeigte mir in Wald und Flur die Natur, wobei wir dann die kletternden Eichhörnchen, Vogelarten und verschiedenen Wildarten beobachteten. Kamen wir an Quellen vorbei, wurde halt gemacht und getrunken. Fuhr er zum Schwimmen, so nahm er mich ebenfalls mit. So lehrte er mich das Schwimmen und später auch das Rad fahren. 22 Erinnerungen an den Bruder Am 1. April wurde er bis zum 30. September 1936 zum Reichsarbeitsdienst nach Northeim einberufen. Zu dieser Zeit wurde die „Weihestätte am Gesundbrunnen“ eröffnet, eine Freilichtbühne, heute unter dem Namen „Waldbühne Northeim“ bekannt. Sein Kommentar: „Wenn später mal Veranstaltungen dort stattfinden, dann denk daran, dass wir hier so manchen Schweißtropfen vergossen und uns manche Schwiele uns an den Händen geholt haben.“ Aber wer denkt oder weiß heute von den jungen Leuten, wenn sie das Fest der Volksmusik dort besuchen, dass ihre Väter und Großväter, die heute auf irgendwelchen Soldatenfriedhof in Europa liegen, diese schöne Anlage gebaut haben. Die Wehrmachtszeit begann im Oktober 1936, er musste er sich beim 105. Infanterieregiments in Trier melden. Dort wurde er als Funker im Nachrichtenzug des Regiments ausgebildet. So durchlief er die Rekrutenzeit und war wegen seiner sportlichen Begabung bald Trainingspartner von verschiedenen Offizieren. 1937 war er Regimentssieger bei den Wehrsportkämpfen des Regiments und erhielt einen Pokal. In seiner Freizeit war er viel mit dem „Dienstpaddelboot“ auf Mosel und Saar unterwegs, was ihm sicher Spaß machte. Ein lustiges Erlebnis aus der Ausbildungszeit 1937 auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg möchte ich noch erwähnen: Er schickte meiner Großmutter ein Päckchen mit schmutziger Wäsche, mit großer Aufschrift: „Sechs Tage Quarantäne wegen Ungeziefer“. Es war nur ein Scherz, doch die Oma nahm das sehr ernst. 1939 bei Kriegsbeginn bezog er mit seiner Einheit Stellung im Westwall, es folgte 1940 der Westfeldzug, der ihn bis zum Atlantik bei Nantes brachte, im Herbst folgten rund drei Monate Wachregiment in Paris. Hier machte er seinen Führerschein. Dann ging es in die Vogesen, im Januar 1941 weiter nach Rumänien als Angehöriger einer sogenannten Lehrtruppe. Es folgten dann im März 1941 der Einmarsch in Bulgarien und im April 1941 die Durchbruchskämpfe in Griechenland bei Saloniki und weiter bis zum Olymp. Inzwischen zum Feldwebel befördert, machte er im Mai 1941 den Rückmarsch durch Bulgarien mit dem Ziel Rumänien mit. Im Juni 1941 begann der Angriff auf die Sowjetunion, er führte ihn über den Dnjestr und den Bug bis Melitopol ans Asowsche Meer. Der weitere Vormarsch führte ihn auf die Halbinsel Krim. Die Städte Sewastopol und Jalta waren die markantesten Punkte. Man schrieb 1942. Es gab einen Führerbefehl, dass Söhne von im Ersten Weltkrieg gefallenen Vätern aus der kämpfenden Truppe herausgezo- Erinnerungen an den Bruder 23 gen und in einem Ersatztruppenteil oder in einer Einheit der Versorgungstruppen eingesetzt werden könnten. Ende August wurde die Einheit meines Bruders in die Abwehrschlacht im Raum Rshew verlegt. Hier kam der Bewilligungsbescheid auf ein rückwärtiges Kommando. Mein Bruder wurde stellvertretender Verbindungsoffizier der 72. Infanteriedivision in Warschau (Anschrift: Kdo. UKftV. Postfach 1379). Aufgabe dieser Dienststelle war die Ersatzteilbeschaffung. In dieser Zeit hat mein Bruder in Moringen/Northeim geheiratet und konnte mit seiner Frau auch einige Zeit in einem Warschauer Hotel wohnen. Auch sportlich war er in Warschau sehr aktiv. So spielte er dort in einer Handballmannschaft, die sich „Sportgemeinschaft Fort Berna Warschau“ nannte, und wurde mit dieser Handballmeister 1943/44 im Distrikt Warschau. Er war viel auf Dienstreisen in Deutschland. Auf einer solchen Reise besuchte er mich einen Tag vor der ersten Bombardierung der Firma Kugelfischer in Schweinfurt – es war im Oktober 1943. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder gesehen habe. Als sich Ende 1944 die Front auf Warschau zu bewegte, wurde die Dienststelle nach Krakau verlegt. Hier holte der Krieg meinen Bruder wieder ein. In seinem letzten Brief vom 7. Januar 1945 schrieb er an Mutter: „Hoffentlich habt ihr meine Briefe erhalten, vor allem die Marken für Gerhard, damit ihr dem armen Bengel einige Päckchen schicken könnt. Mir braucht ihr nichts zu schicken, ich habe von allem.“ Weiter schreibt er dann: „Haben Weihnachten gut gefeiert, hatten Kuchen und Bohnenkaffee, Wein und Schnaps. Am dritten Weihnachtstag war ich mit der Kutsche weg und habe drei Hasen für Silvester geschossen. Der Iwan war sehr ruhig, er hat uns durch Lautsprecher ein frohes Weihnachtsfest und ein frohes Neues Jahr gewünscht.“ Er wusste, dass seine Frau Hannchen Nachwuchs erwartete: „Hoffentlich wird es ein kleiner Junge, mir ist aber auch eine Monika recht. Wenn ihr diesen Brief habt, werde ich wohl schon Nachricht haben.“ Er hat es nicht mehr erfahren. Seine Tochter wurde am 14. Januar 1945 geboren. Am 12. Januar 1945 begann die große russische Offensive im Osten. Seine Einheit lag zu der Zeit am Baranow-Brückenkopf, dem äußersten Ende im Raum Sandonierz – Opatow – Ostrowice. Hier ereilte ihn das Soldatenschicksal, wahrscheinlich zwischen dem 14. und 20. Januar 1945. Damit wurde ein hoffnungsvolles Leben ausgelöscht. Man fragt sich heute: „Wofür?“ 24 Erinnerungen an den Bruder Gottfried Jacobs * 31. Oktober 1921 = 16. März 1944 Von Norbert Jacobs Ich möchte Ihnen in der Sache „Aktion Erinnerung“ das Schreiben des Regimentkommandeurs Major Below vom 6. April 1944 zusenden. Regimentskommandeur 669 Osten, 6.4.44 Sehr geehrter Herr Jacobs, ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn Gottfried am 16. März 1944 um 3.00 Uhr den Heldentod gestorben ist. Als ich im Februar 1944 das Regiment als Kommandeur übernahm, wurde Ihr Sohn in meinen Stab als Ordonanzoffizier kommandiert. Wir haben in angenehmen, frohen Stunden im Kameradenkreis unvergessliche Stunden erlebt, Stunden, in denen wir über existierende Fragen des Lebens, des Krieges und des Sterbens sprachen. Immer wieder hat mich an Ihrem Sohn das tiefe Verständnis, das weit über seine Lebensjahre ging und das er an die letzten Tage des Daseins richtete, erfreut. Unser Stab, der eine Gemeinschaft … bildet und unser „Jacöble“, wie wir ihn nannten, war einer der Besten. Es kamen schwere Tage des Kampfes, gegen starke russische Verbände mussten wir uns wehren. Ihr Sohn hat in diesen schweren Stunden als Offizier sein Bestes gegeben. In diesen Tagen ist er mir mehr als ein Begleitoffizier geworden. Trotz des Dienstgrad- und Altersunterschiedes wurde er mir ein persönlicher Freund. Bereit, die Dinge des Krieges von ihrer besten Seite zu sehen, hat er mit seiner Erinnerungen an den Bruder 25 Heiterkeit des Herzens mir nahe gestanden. Es ging in diesem Krieg nicht alles glatt. Schlimme drei Tage vor seinem Tod habe ich mit Gottfried unter Artilleriefeuer gesessen. Wir sprachen über die Gegenwart, die Zukunft und über die Interessen. Am 16. März 1944 war ein verhältnismäßig ruhiger Tag. Wir feierten den Geburtstag eines Kameraden. Gegen 3.00 Uhr erfolgte ein starker Angriff der Russen. Ihr Sohn und ich sprangen mit der Maschinenpistole aus dem Graben, da ging unmittelbar vor uns eine Granate rein. Gottfried rief zu mir: „Donnerwetter, es hat mich erwischt.“ Ich fing ihn auf, riss ihn in den Graben zurück. Er war in meinen Armen sofort tot. Der ärztliche Befund ergab einen Granatsplitter in seinem Herzen. Ihr Sohn starb als tapferer Offizier. Er war in diesen Tagen mein Freund geworden. So galt mir sein letzter Satz in seinem Sterben. Meine Aufgabe ist es, nichts als Trost zu spenden. So mag es denn so sein. Gottfried ist aus einem frohen Offiziersleben gegangen, ohne die Stunde des Sterbens zu kennen. Er ist mit lachendem Gesicht gefallen. Er war immer ein beliebter Offizier. Ich habe ihn am ukrainischen Bug der Erde übergeben. Zwei Kirschbäume stehen an seinem Grab. Bald werden sie blühen. Uns Überlebenden aber bleibt ein bitterer Eindruck zurück. Am letzten Tag konnte ich Ihrem Sohn wegen seiner Tapferkeit das EK 2 und 1 überreichen. Er erklärte mir, es sei der schönste Tag in seinem Leben. Durch die gegenwärtigen Kampfesumstände kann ich Ihnen das letzte Besitztum Ihres Sohnes, eine Geldbörse und persönliche Briefe, nicht übergeben. Alles andere haben wir in den letzten Kämpfen verloren. Sobald die Möglichkeit besteht, auf gewohnte Weise Post zu übersenden, werde ich diese Dinge Ihnen zusenden. Sie werden entschuldigen, wenn ich diesen Brief nicht mit Tinte schreibe. Er ist unter erschwerten Kampfverhältnissen entstanden. Sehr geehrter Herr Jacobs, immer wenn Sie und Ihre hochverehrte Frau Gemahlin von meinem guten Freund Gottfried noch etwas wissen wollen, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ich möchte Sie nur bitten, stark zu sein in Ihrer Trauer. Von den vielen gefallenen Kameraden in diesen Kriegsjahren war Ihr Sohn einer der besten. Er war einer, dessen Sterben mir sehr nahegegangen ist. Er war mir ein guter Freund. Ihr Hauptmann Below Major und Regimentskommandeur 26 Erinnerungen an den Bruder Heinz Lange * 12. Juli 1920 in Oelsnitz/Erzgebirge = 31. Oktober 1941 in Erunowo Kurt Paul Lange * 22. August 1924 in Oelsnitz/Erzgebirge vermisst seit 9. März 1944 bei Staro Konstantinow Von Richard Lange Kurt Heinz Lange: Größe: ca. 1,72 Meter, Haar: dunkelblond, Augen: blau. Mein um ein Jahr jüngerer Bruder Heinz hat mir von meinen Geschwistern am nächsten gestanden. Er war charakterlich feiner, zarter und stiller veranlagt als ich und war, soweit ich mich an frühe Kindheit zurückerinnern kann, bis zum Beginn meiner Dienstzeit ständiger Gefährte vielartiger Jugenderlebnisse. In der Schulzeit entwickelte Heinz eine besondere Begabung zum Malen und Zeichnen. Er liebte vor allem Tier- und Landschaftsmotive. Sein Talent wurde von unserem Vater und von unserem Vetter Max Kropp – damals Kunststudent in München – gefördert. Schularbeiten und häusliche Aufgaben erledigte Heinz fleißig, gewissenhaft und sauber. Während ich in den schulischen Hauptfächern vieles spielend erfasste und mir gute Noten zuflogen, musste Heinz sich alles gründlich erarbeiten. Unsere Eltern ließen mir die Freiheit, vom vierten bis zum siebten Volksschuljahr, nach dem Schulunterricht und während der Ferien, bei einem Bauer als sogenannter „Kuhjunge“ für Beköstigung und ein kleines Taschengeld zu arbeiten. Heinz durfte das nicht. Er musste im Haushalt helfen. In diese Zeit fällt ein Ereignis, das charakteristisch für unser gegenseitiges enges Verhältnis war. Auf dem Gutshof des Bauern Schubert wurde auch ein mehrere Jahre älterer Junge namens Gerhard Werner, genannt „Werner-Kaas“ (Käse), für grobe Arbeiten beschäftigt. Der war für unsere Begriffe ein bärenstarker Kerl, aber wie wir sagten „im Kopf leicht Erinnerungen an den Bruder 27 behämmert“. Ich kannte und sah ihn nie anders als mit laufender Rotznase. Werner-Kaas wurde oft von den Knechten und Mägden des Hofes aufgestachelt, sich mit mir herumzukeilen. Da ich ihm geistig überlegen, aber körperlich nicht gewachsen war, brachten mir die Prügeleien mehr blaue Flecke ein als ihm. Mehr noch als ich war Heinz das Opfer dieses Raufboldes. Mein Bruder besuchte mich trotzdem häufig auf dem Hof, denn er liebte den Umgang mit Tieren. Eines Tages konnte ich ihn vor brutalen Schlägen nur retten, indem ich Werner-Kaas auf mich lenkte und selbst die Prügel einsteckte. Meine blutende Nase bewog die ältere Tochter des Bauern, uns Streithähne mit einem Rutenbesen auseinander zu jagen. Das Gelächter der Hofknechte stachelte mich an und zornerfüllt forderte ich „Kaas“ auf, den Kampf nach Feierabend auf der Straße am Blei-Teich fortzusetzen. Ich stellte mich pünktlich dem angekündigten Kampf. Heinz wich mir nicht von der Seite. Sein Antlitz war blass, aber entschlossen. WernerKaas lehnte am Teichgeländer mit einer Rute in der Hand. Noch hatten wir die Möglichkeit, den vorteilhafteren Teil der Tapferkeit in rasanter Flucht zu erproben. Dann schritten wir, wie zwei der sicheren Niederlage tapfer ins Auge blickenden Gladiatoren, dem „Feind“ entgegen. Da geschah etwas merkwürdiges: Unser Gegner machte plötzlich kehrt und preschte wie in panischer Furcht davon. Heinz und ich liefen mit drohendem Geschrei ein Stück hinterher, holten ihn aber nicht ein und hatten, ehrlich zugegeben, auch gar nicht die Absicht dazu. Wir waren glücklich, einen nicht erwarteten Sieg errungen zu haben. Werner-Kaas hat uns von da an nie mehr belästigt. Unser Vater wollte nicht, dass seine Söhne – wie er selbst, unsere Großväter und weitere Vorfahren – Bergleute würden. Ich musste den Kaufmannsberuf erlernen, obwohl ich eine Abneigung gegen Schlips und Kragen, lange Hosen und geschraubte Höflichkeitsfloskeln hatte. Dieser Beruf passte für Heinz schon besser. Seine Lehrstelle war aber recht kümmerlich. Trotzdem schaffte er die Gehilfenprüfung, fand sogar Interesse am Hobby seines verkalkten, knauserigen Lehrherrn und richtete sich im Elternhaus einen Taubenschlag ein. Nachdem Heinz ausgelernt hatte, war er, wie vordem auch ich, einige Zeit arbeitslos. Dann arbeitete er mehrere Wochen lang als Tiefbauarbeiter in einem Abschnitt der Reichsautobahn und schließlich als kaufmännischer Angestellter im Kaufhaus Merkur/Lugau. Dort lernte er auch Lieselotte kennen. 28 Erinnerungen an den Bruder Nach Kriegsbeginn wurde Heinz am 8. April 1940 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und mit seiner RAD-Abteilung für rückwärtige Dienste in Frankreich eingesetzt. Am 28. Oktober 1940 aus dem RAD entlassen, folgte am 15. November 1940 der Wehrdienst. Heinz wurde zur 4. MG-Kompanie im I. Infanterieersatzbataillon nach Glauchau eingezogen. Als ich in der zweiten Novemberhälfte aus Belgien auf Heimaturlaub kam, besuchte ich Heinz in seiner Glauchauer Kaserne. 1936 hatten wir dort mit einigen Freunden die „Reiterscheinprüfung“ bestanden. Er freute sich sehr über unser Wiedersehen, sprach aber weniger als ich und schien sich in der neuen Umgebung unwohl zu fühlen. Wir glaubten damals, wie viele andere, dass nach dem siegreichen Frankreichfeldzug nur noch England zum Friedensschluss bewogen werden müsse. Wir ahnten nicht, dass dies unser letztes Wiedersehen war. Bevor Heinz am 21. August 1941 zur 1. Kompanie des Marschbataillons 2064 versetzt wurde, fand am 18. August 1941 in Oelsnitz/Erzgebirge seine Kriegstrauung mit Lieselotte statt. In der folgenden Woche fuhr das Marschbataillon an die Ostfront. Zu dieser Zeit wurden die Divisionen der Heeresgruppe Mitte zur Fortsetzung der deutschen Offensive aufgefüllt. Das Operationsziel war Moskau. Ab dem 14. September 1941 war Heinz Soldat im Granatwerferzug der 8. MG-Kompanie des Infanterieregiments 471. Dieses Regiment lag in jener Zeit südlich des Quellgebietes der Wolga in den riesigen Wäldern der Waldai-Höhen. Am 4. November 1941 schrieb der Führer der 8./IR 471 an Lieselotte folgenden Brief: Sehr geehrte Frau Lange, im Kampf um die Ortschaft Erunowo fiel am 31.10.1941 um 15.30 Uhr Ihr Ehegatte, Oberschütze Heinz Lange, in soldatischer Pflichterfüllung getreu seinem Fahneneide für Führer und Vaterland. Ihr Ehegatte hat nicht gelitten, der Tod trat auf der Stelle ein. Ich spreche Ihnen, zugleich im Namen seiner Kameraden, meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Die Gewissheit, dass Ihr Gemahl sein Leben für die Größe und den Bestand des deutschen Volkes und Reiches hingegeben hat, möge Ihnen Trost sein. Ihr Gemahl wurde am 31.10.1941 im Ort Erunowo, 45 km südwestlich Torshok, in einem Einzelgrab beigesetzt. Ich grüße Sie in aufrichtigem Mitgefühl. Erinnerungen an den Bruder 29 Unter dem Einfluss eigener Kampferlebnisse und durch den Soldatentod des Bruders voller aufgewühlter Empfindungen schrieb ich in der Winterstellung vor Sewastopol für Heinz als Nachruf: Mein Bruder Als mich die Fahne rief hast du gedacht, du käm’st zu spät ins Feld und sah’st in mir, was du nun bist, den Held, mein Bruder. Bald kam der Tag, da rief man dich, und du war’st selbst Soldat. Du spartest große Worte, sprach’st durch deine Tat, mein Bruder. Kurz war dein Kampf, doch hast das Beste du gegeben, das du besaß’st, dein treues junges Leben, mein Bruder. Nun schwör ich dir an Deinem früheren Heldengrabe, treue Gefolgschaft, bis ich selber falle, mein Bruder! Kurt Paul Lange: Größe: 1,70 Meter, Haar: dunkelblond, Augen: blau. Mitte September 1944 kam nach mehreren Wochen Unterbrechung endlich wieder Heimatpost zu den in Lettland kämpfenden Fronttruppen. Ich erhielt zwei Briefe. Lieselotte sandte die freudige Botschaft, dass sie nun „guter Hoffnung” sei und Anfang Dezember unser lang ersehntes Kind erwarte. Meine große Freude über diese gute Nachricht wurde durch den zweiten Brief gedämpft. Die Eltern teilten mit, dass Kurt seit dem 9. März 1944, nach bei Staro-Konstantinow stattgefundenen schweren Abwehrkämpfen, vermisst werde. Vater und Mutter hofften, dass Kurt in russische Kriegsgefangenschaft geraten sei. So sehr auch ich dies wünschte, konnte ich nach innerem Empfinden und eigenen Erfahrungen diese Hoffnung nicht teilen. Während der fraglichen Märztage hatten im gesamten Kampfraum der 30 Erinnerungen an den Bruder Heeresgruppe Süd, zwischen dem Schwarzen Meer und den PripjetSümpfen, heftige Panzerschlachten getobt. Den angreifenden drei „Ukrainischen Fronten” (Fronten = sowjetische Heeresgruppen) war es dabei gelungen, die bereits angeschlagene Heeresgruppe Süd unter enormen Verlusten vom Dnjepr bis zum Längengrad der östlichen rumänischen Staatsgrenze zurückzudrängen und die Ukraine, mit Ausnahme eines kleinen Restzipfels, zurückzuerobern. In den Brennpunkten großer Panzerschlachten war erfahrungsgemäß die Zahl der Gefallenen oder nach erlittener Verwundung Sterbenden größer als die der versprengt in Gefangenschaft geratenden Überlebenden. Viele Jahre später konnte ich, anhand des Wortlautes der Vermisstenmeldung, sowjetischer Militärliteratur und Situationskarten den Versuch unternehmen, mit Erzählung des kurzen Lebenslaufs meines jüngsten Bruders auch sein Soldatenschicksal bis zum Tag zu beschreiben, an dem es sich in dunkel bleibende Nimmerwiederkehr verlor. Kurt wurde am 22. August 1924 als dritter Sohn unserer Eltern geboren. Schwester Irmgard war damals zehn, ich fünf, Bruder Heinz vier Jahre alt. An Kurts Geburtstag kann ich mich auch heute noch gut erinnern. Vormittags wurde ich mit Heinz an der einen, einer vollen Pflaumentüte in der anderen Hand zur Großmutter Anna Lange geschickt, die mehrere hundert Meter entfernt in der gleichen Straße wohnte. Als uns unsere Großmutter am späten Nachmittag wieder heimbrachte, hatte uns der „Klapperstorch“ ein kleines Brüderchen gebracht. Wir durften es „Kurtl“ nennen. Mit dieser Verkleinerungsform seines Namens wurde er sein ganzes Leben lang gerufen. Kurt war und blieb das „Nesthäkchen“ der Familie. Er wuchs zu einem knapp unter Durchschnitt bleibenden, aber stämmigen Jungen heran. Er war oft eigenwillig-trotzig, vorwiegend aber sehr anhänglich, zuneigungsbedürftig und empfindsam veranlagt. Mutter bedeutete ihm mehr als alles andere. Die Erfüllung der Schulpflichten fiel ihm schwerer als meinem fleißigen Bruder Heinz, aber er kam schließlich gut über die Hürden. Er lernte den Strumpfwirkerberuf und verdiente von Anfang an mehr Geld als seine beiden Brüder. Im Kriegsjahr 1942 wurde er, nach Ableistung seiner Zeit im Reichsarbeitsdienst in Russland, nahtlos zur Wehrmacht eingezogen und kam zu einem Gebirgsjägerregiment. Dieses nahm im Winter 1942/43 an den Kaukasuskämpfen teil. Die Gebirgsjäger mussten sich in schweren Rückzugskämpfen zur Taman-Halbinsel durchschlagen. Nach weiterer Ausblutung wurden die Reste des Regiments auf die Halbinsel Krim gebracht und zur Neuaufstellung in die Heimatgarnison verlegt. Erinnerungen an den Bruder 31 Anfang Juli 1943 war ich von der Leningrader Front auf Heimaturlaub. Kurz nach meiner Ankunft traf auch Kurt in unserem Elternhaus ein. Es war ein seltener Glücksfall, der uns ein solches Wiedersehen bescherte. Niemand ahnte, dass dies unsere letzten gemeinsamen Tage waren. Kurt sah, nach überstandenen Strapazen und Entbehrungen, in seiner viel zu weit gewordenen feldgrünen Kluft krank und elend aus. Sein Verhalten war sehr schüchtern geworden, so als könne er es noch nicht fassen, wieder daheim sein zu dürfen. Mir erzählte er mehrere Male mit knappen Worten durchstandene Erlebnisse. Ich fühlte sein Bedürfnis, sich am „großen” Bruder aufzurichten. Ab dem ersten Urlaubstag litt Kurt unter heftigen Malaria-Anfällen. Der Arzt drang auf Einlieferung ins Stollberger Reserve-Lazarett. Bevor mein Urlaub zu Ende ging, haben Lieselotte und ich ihn dort noch einmal besucht. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Kurt ist nach hinreichender Genesung für mehrere Wochen zur Erholungskur geschickt worden. Dann kam er zu einem in Freiberg stationierten Infanterieersatzbataillon. Während dieser Zeit war er noch mehrere Male auf Heimaturlaub. Mutter hat später oft davon gesprochen, dass Kurt am letzten im Elternhaus verbrachten Abend entgegen seiner sonstigen Gewohnheit sehr fröhlich gewesen sei und viel gelacht habe. In seinem letzten Brief teilte er den Eltern Mitte Februar 1944 mit, dass er einen Marschbefehl für die Ostfront habe. Erst durch die Vermisstenmeldung vom 14. Mai 1944 erfuhren die Eltern, dass Kurt zu einem Panzergrenadierregiment versetzt worden war. Das Schreiben seines Kompanie-Führers lautete: „Sehr geehrter Herr Lange! Zu meinem größten Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn, der Panzergrenadier Kurt Lange, seit dem 9. März 1944 vermisst wird. Die Kompanie befand sich an diesem Tage bei Staro-Konstantinow infolge des Nachdrängens einer Überzahl Russen in einer äußerst kritischen Lage. Nach Abschluss des Gefechts fanden sich nur Teile der Kompanie wieder ein. Unter den Fehlenden befand sich auch Ihr Sohn. Leider ist es mir nicht möglich, Ihnen irgendeinen Anhaltspunkt über das Schicksal Ihres Sohnes zu geben. Insbesondere weiß ich nicht, ob er noch lebt, oder ob er in die Hand der Russen geraten ist. Ich weiß, wie schwer gerade diese Ungewissheit für Sie zu ertragen ist und nehme zutiefst daran Anteil.” 32 Erinnerungen an den Bruder Karl-Joachim Heiße * 20. September 1923 Vermisst seit dem 22.–26. Juni 1944 Von Leberecht Heiße Als mir meine 42-jährige Tochter Monika Ihr Schreiben gab, wurden all die Erinnerungen von damals, die eigentlich nie ganz verblassten, wieder wach. Ich bin jetzt 69 Jahre alt und 1945 nur knapp dem Wehrdienst entgangen. Ein Jahr vor mir Geborene wurden in den letzten Kriegsmonaten teilweise noch zum Wehrdienst einberufen. Mein Bruder Karl-Joachim erlernte, genau wie mein jüngster Bruder und ich, das Schneiderhandwerk. Bereits drei Monate nach der Gehilfenprüfung wurde er 1941 zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Radeberg eingezogen, später dann zum Militär nach Altenburg. Nach einiger Zeit wurde ihm eine Ausbildung als Offizieranwärter angeboten. Als er mit den Worten antwortete: „Ich kann den Sinn meines Lebens nicht darin sehen, Menschen über den Kasernenhof zu jagen“, wurde er an die Ostfront versetzt. Alle seine Briefe bis zum bitteren Ende hat meine Mutter aufbewahrt, auch alle an ihn gerichteten Briefe schickte er zurück bzw. brachte sie im Urlaub mit nach Hause. Sein letzter Brief ist mit dem 21. Juni 1944 datiert. Auch die Vermisstenmeldung: „…Er ist somit seit den Kämpfen nördlich Orscha in der Zeit vom 22. bis 26. Juni 1944 vermisst …“ habe ich noch in Besitz. Was gibt es noch über „Karli“ zu erzählen? Er war uns ein lieber älterer Bruder, insgesamt waren wir vier Brüder, Jahrgang 1923, 1930 (ich), Erinnerungen an den Bruder 33 Jahrgang 1933 und 1938. Der jüngste Bruder kann sich nur schwach an die wenigen Urlaubstage von Karli besinnen. Meine Mutter hat den Tod meines Bruders ihr Leben lang nicht verwinden können. Er sollte das traditionsreiche Schneidergeschäft (über 200 Jahre in gerader Erbfolge) weiterführen. Das blieb dann mir, meinem jüngsten Bruder und meinen beiden Töchtern vorbehalten. Ein Erlebnis erzählte uns Karli bei seinem letzten Urlaub. Er sollte auf Befehl seines Vorgesetzten eine verwundete Partisanin erschießen. Da er sich weigerte, richtete der Vorgesetzte die Pistole auf Karli. Darauf griff auch mein Bruder zur Waffe und drohte ebenfalls im gleichen Moment abzudrücken. Der Vorgesetzte verließ daraufhin schweigend den Ort. Oberkommando des Heeres Rudolstadt i/Thür., den 2. Dez. 1944 Sehr geehrter Herr Heiße! Der Abschluss der Ermittlungen über das Schicksal Ihres Sohnes, des Ogefr. Karl-Joachim Heiße, geb. 20.9.23, 12. G.R. 456 FpNr. 31115 E, hat somit keine restlose Klarheit erbracht. Er ist somit seit den Kämpfen nördlich Orscha in der Zeit vom 22.–26.6.1944 vermisst. Die Sowjet-Union lehnt die namentliche Bekanntgabe der in ihrer Hand befindlichen Kriegsgefangenen ab, obwohl ein derartiges Verhalten im Widerspruch zu dem Kriegsrecht steht. Bemühungen internationaler Hilfsgesellschaften oder neutraler Staaten, die darauf abzielten, diese Haltung der UdSSR zu ändern, sind ergebnislos verlaufen. Nachrichten, die über das Schicksal der Kriegsgefangenen umlaufen oder eingehen, sind unkontrollierbar und es besteht Veranlassung zu der Annahme, dass sie zur Irreführung sowie Beunruhigung weiter Volkskreise als feindliche Zweckpropaganda in die Welt gesetzt sind. Ich bedaure daher tief, dass ich nicht in der Lage bin, Ihnen eine aufklärende Mitteilung und tröstende Gewissheit zukommen zu lassen. Heil Hitler! Hptm. u. Sachbearbeiter 34 Erinnerungen an den Bruder Sulzbach den 10. März 1946 Werte Frau Heiße! Vor zwei Tagen erhielt ich Ihren Brief vom 29.1. und will auch heute gleich denselben beantworten. Ich habe ja schon verschiedene Mütter und Frauen benachrichtigen dürfen, dass ihre Angehörigen noch am Leben sind, musste aber auch, so Leid es mir tat, wiederum meine Pflicht erfüllen, traurige Nachrichten zu übermitteln. Ihren Sohn Karl kannte ich sogar sehr gut, da er ja auch manchmal innerhalb der Kompanie geschneidert hat. Leider muss ich Ihnen gestehen, dass ich über den Verbleib Ihres Sohnes nicht näher Auskunft geben kann. Am 22.6.44 mussten wir unsere Stellung aufgeben und das Kesseltreiben ging los. Wir wurden dann alle selbständig, da wir keine Führung mehr hatten. Ich selbst konnte mich bis 28.6.44 durchschlagen, wonach wir dann auch in Gefangenschaft geraten sind. Wir wurden dann nach Orscha transportiert, wo hernach wieder die Transporte nach Moskau und noch weiter so 1900 km hinter den Ural gingen. Ich glaube, es dürften keine 15 Mann mehr vom ganzen Bataillon gewesen sein, als wir uns im Lager getroffen haben. Sie brauchen aber nicht deshalb damit rechnen, dass die anderen alle gefallen sind, denn es sind ja schon vor uns allerhand von Divisionen in Gefangenschaft geraten. Ich kann nur das eine mitteilen, dass Ihr Sohn Karl bis zur Einkesselung bei der Kompanie war. In der Hoffnung, dass Ihr Sohn Karl gesund und vor allem recht bald zu Ihnen zurückkehren wird, grüßt Sie recht freundlichst Michael Pirner Sulzbach-Rosenberg (Bayern) Erinnerungen an den Bruder 35 Franz Lirche * 18. Juni 1929 = 31. Mai 1945 Friedhof Berlin-Spandau „In den Kisseln“ Block IVb, Reihe 16, Grab 24 Von Joseph Lirche Anbei meine Erzählungen über den Tod meines Bruders, der als Flakhelfer schwer verwundet wurde und eine Woche später daran starb. Er liegt auf dem Ehrenfeld des Friedhofes „In den Kisseln“ in BerlinSpandau. Mein Bruder war Jahrgang 1929. Erinnerungen an schwere Tage im April/Mai 1945 in Spandau Im überfüllten Luftschutzkeller saßen wir bei Kerzenlicht. Strom und Wasser gab es seit Tagen nicht mehr. Draußen war es Tag, als jemand von der Kellertreppe rief: „Die Russen kommen.” Unsere Propaganda hatte nichts Gutes über die Rotarmisten berichtet. Wir wussten nicht, was auf uns zukommen würde. Alle hatten Angst. Als keine Kämpfe mehr zu erwarten waren, durften wir Kinder, ich war damals zehn Jahre alt, vor das Haus, um Luft zu schnappen. Wir schauten uns das Szenarium an und waren erschrocken – wir sahen zwei ausgebrannte Schützenpanzerwagen. Zwei verkohlte Leichen hingen über der Panzerung und ein dritter Soldat saß verkohlt am Steuer. Russische Offiziere und Mannschaften standen auf den Bürgersteigen und sahen zu, wie ein Arzt im weißen Kittel und ein paar Zivilisten die Toten nach Erkennungsmarken durchsuchten. Als ich nach Hause kam, sagte meine Mutter, dass eine Frau Krüger mitgeteilt habe, dass Franz, der als Flakhelfer eingezogen war, schwer verwundet in den Kasematten an der Teltower Straße liege. Man hatte die Verwundeten aus dem Bereich des Olympia-Geländes dorthin getragen. Die Russen hatten die Anwohner der gegenüber liegenden Häuser aus den Kellern geholt und befohlen, sich um die verwundeten und gefallenen deutschen Soldaten zu kümmern. Das Sanitätspersonal der Wehrmacht hatte sich abgesetzt oder war in Gefangenschaft gera- 36 Erinnerungen an den Bruder ten. Unser Bruder Franz gab sich Frau Krüger zu erkennen und sagte ihr, dass er „An der Kappe 79“ zu Hause sei. Als keine Gefechte mehr stattfanden, kam Frau Krüger dann und benachrichtigte uns. Meine Schwester Agnes, die Nachbarin Frau Ottermann, ihre Tochter Ursel und zwei Männer aus der Nachbarschaft zogen mit einem Handkarren, den der Klempnermeister Kirst von gegenüber uns lieh, und einem Feldbett los. Meine Mutter konnte nicht mitgehen, denn wir hatten noch zwei kleinere Brüder. Nach Stunden kehrten sie zurück, nicht nur mit einem, sondern mit zwei kleinen Leiterwagen, auf beiden lagen verwundete Soldaten. Mein Bruder hatte einen Granatsplitter im Unterleib und der zweite Verwundete, ein Junglehrer aus Königsstein (Sachsen), hatte Splitter im Rücken und Gesäß. Frau Ottermann, die ihren Mann und einen Sohn an der Front verloren hatte, nahm den Verwundeten auf. Unser Bruder, der noch Uniform trug, und der andere Soldat konnten weder in ein Lazarett noch in ein Krankenhaus gebracht werden. Sie wären unweigerlich in Gefangenschaft geraten. Dr. Manitz wurde verständigt und kam nach langem Warten auch. Er versorgte beide Verletzte. Unser Bruder Franz hätte sofort operiert werden müssen, doch unter den gegebenen Umständen war es nicht möglich. Es dauerte noch ein paar Tage, bis eine Oberschwester aus unserer Gemeinde eine Möglichkeit sah, meinen Bruder auf Schleichwegen heimlich ins Lynar-Krankenhaus einzuschleusen. Unser Bruder verstarb am 31. Mai 1945 im Lynar-Krankenhaus an seiner schweren Verwundung. Am 18. Juni wäre er 16 Jahre alt geworden. Weil es keine Särge gab, wurde er in seiner Militärdecke eingewickelt und beigesetzt. Er liegt mit den Gefallenen der Seegefelder Straße in einem Massengrab auf dem späteren Ehrenfeld. In den Gräberreihen liegen viele unbekannte Soldaten. Unser aller Wunsch: „Nie wieder Krieg“ hat sich leider nie verwirklicht! Erinnerungen an den Bruder 37 Martin Voigt * 20. Januar 1922 = 30. März 1944 Von Dr. Joachim Voigt Mein Bruder Martin wurde am 20. Januar 1922 in Hannover geboren und wuchs in Celle und Hildesheim in der Geborgenheit und Bescheidenheit einer christlich geprägten Beamtenfamilie auf, für die es ein Opfer bedeutete, den Söhnen das Gymnasium zu ermöglichen. Er war schlank, hellblond und schon früh hochgeschossen, aber trotz dieses „nordischen“ Aussehens unsportlich und nicht kämpferisch veranlagt. Gewalt war ihm zuwider. Als Kind der Weimarer Zeit hatte er gern gesungen: „Nie, nie woll’n wir Waffen tragen, nie, nie woll’n wir wieder Krieg! Lasst die Großen selber sich doch schlagen, wir machen einfach nicht mehr mit!“ Mich kleinen Bruder hat er nie verhauen, obwohl ich ihn manchmal ärgerte. Ich habe ihn niemals ein Tier oder einen Menschen quälen sehen. Hitlerjugend und „politische Schulung“ machte er ohne Begeisterung mit, weil es Pflicht war. Lieber war er zu Hause und las, experimentierte mit Freunden oder spielte Klavier, was er sich selbst beigebracht hatte. Das wohl aufregendste Erlebnis dieser Jahre war eine Klassenfahrt ins Riesengebirge. Paradoxer Weise war das erste Kriegsjahr vermutlich seine schönste Lebenszeit. Wie alle 18-jährigen Jungen wurde auch er gemustert, aber wegen schwächlicher Gesundheit zurückgestellt. So konnte er das Chemiestudium an der TH Hannover beginnen. Wie seine sorgfältigen 38 Erinnerungen an den Bruder Nachschriften und Protokolle belegen, betrieb er das Studium fleißig. Aber daneben eröffnete sich ihm auch eine neue, weitere Welt des Geistes, der Geselligkeit und einer relativ großen Freiheit. Und er begegnete seiner ersten – und einzigen – Liebe. Seine Gerda war „ein Mädchen, das man sofort lieb haben musste“, wie meine Mutter sagte, als er sie zu Hause vorgestellt hatte. 1941 – im 4. Trimester – wurde er eingezogen. Seine Abneigung gegen das Soldatsein wurde durch die entwürdigenden Schikanen, an denen besonders die niedrigen Dienstgrade gegenüber den studentischen Rekruten ihren Spaß hatten, schnell zum Hass. Das „Schleifen“ machte ihn so krank, dass er – zunächst als „Simulant“ beschimpft – neun Wochen ins Lazarett musste. Das bescherte ihm eine zweite Rekrutenzeit. Danach empfand er es fast als eine Befreiung, an die Ostfront zu kommen, wo die Offiziere die unnötige Schinderei unterbanden. Als Kanonier der Nebeltruppe machte er den Vormarsch bis zur Wolga mit. Zwei Tage vor der Einkesselung der 6. Armee wurde er aus Stalingrad im Lazarettzug abtransportiert. Er hatte das Glück, dass sein Ersatztruppenteil in seinem Heimatort stationiert war. Erst in der Genesendenbatterie, danach in Unterführer– und Offizierlehrgängen blieb er ein ganzes Jahr in der Heimat und konnte fast täglich nach dem Dienst für Stunden – bei zunehmenden Fliegeralarm oft auch nur für halbe Stunden – heimeilen. Wir alle genossen das zerbrechliche Glück dieses „Gnadenjahres“ sehr bewusst. Es endete mit Martins Beförderung zum Leutnant. 5 000 Oberfähnriche wurden in Breslau vom „Führer“ selber über den Ernst der Kriegslage informiert. Bedrückt, aber auch beeindruckt kam er zurück und sagte: „Als ich das erste Mal im Osten war, fühlte ich mich als Kanonenfutter, aber heute weiß ich, dass es jetzt um die Existenz Deutschlands geht.“ Er wurde einem neu aufgestellten Regiment zugeteilt. Es belastete ihn, dass fast alle seiner Männer viel älter waren als er und er ihnen zu befehlen hatte. Wie wir später erfuhren, bemühte er sich, ihnen zu ersparen, was er als Rekrut hatte durchmachen müssen, und sie liebten ihn dafür. Anfangs März 1944 war die Front um 1 500 Kilometer näher gekommen, und das Regiment wurde in Russisch-Polen in die Schlacht geworfen. Martins Briefe handelten von Landschaft und Wetter, nicht vom Kriege. Am 30. März 1944 fiel er. Er hatte nur 22 Jahre leben dürfen. Alle unsere Briefe an ihn kamen ungeöffnet zurück mit dem Vermerk: „Gefallen für Großdeutschland.“ Seine Kameraden begruben ihn bei Hutniki südlich Brody. Die Gräber dort sind nicht mehr zu finden. Erinnerungen an den Bruder 39 Achim Kluger * 3. Dezember 1925 Vermisst seit 20. August 1944 Von Karl Kluger Wie Sie mitteilen, wollen Sie eine Dokumentation erstellen und sind für Unterlagen dankbar. Hiermit übersende ich Ihnen solche. Ich werde 77 Jahre alt und habe niemanden, der sich nach meinem Ableben dafür interessieren würde oder eine Verwendung dafür hätte. Ich stelle Ihnen die Originale zur Verfügung. Es handelt sich um meinen Bruder. Ich selbst war, mit Unterbrechung, zwei Jahre in Russland. Auch im Winter. Vor Kriegsende wurde ich entlassen, da ich mir eine Lungentuberkulose zugezogen hatte. Ich überweise Ihnen seit über 20 Jahren, es können auch 25 oder 30 sein, jedes Jahr eine kleine Spende. Der Grund war und ist, dass es vielleicht ein Grab eines unbekannten Soldaten geben könnte, das von Ihnen gepflegt wird und in dem mein vermisster Bruder liegt. An Frau Marta Kluger Absender: Gefreiter Kluger 20161 D Luftfeldpost geht nicht mehr! Im Osten, am 20.7.43 Liebe Mama, liebe Anneliese! Heute muss ich wieder einmal an euch schreiben, denn es ist schon wieder eine ganze Reihe von Tagen vergangen. Ich hoffe, dass es euch beiden noch gut geht und ihr wohlauf seid. Ich habe von dem Angriff am 7.7. gehört und befürchte das Schlimmste. Ich habe nämlich seit nunmehr fast einem Monat keine Post mehr von euch. Überhaupt habe ich noch keine Zeile weiter erhalten als den einen Brief von Anneliese und den von Mama. Geht denn die Post so lang? Habt ihr denn meine Briefe immer erhalten? Meine Päckchen, sind die alle angekommen? Mir geht es soweit gut. Das Wetter scheint sich jetzt auf Regen umzustellen, denn es ist immer trübe und aller Stunden kommt es nass von oben. In letzter Zeit haben wir sehr viel Obst gegessen, vor allem Birnen und 40 Erinnerungen an den Bruder Pfirsiche, die es in rauhen Mengen gibt. Wenn ihr das Obst alles haben könntet! Wir wissen gar nicht, wo wir alles hinessen sollen. Von Papa habe ich aus Kaufbeuren eine Postkarte bekommen. Wie er schreibt, kommt er von da weg und bekommt eine neue Anschrift. Auch Kurtchen hat mir wieder einmal geschrieben. Er ist froh, dass er nicht auch fort muss. Anscheinend geht es dem Rudi auch nicht gut dort. Ja, er hatte auch etwas Anderes erwartet. So muss er nun in den sauren Apfel beißen. Wie es aussieht, scheint der Krieg doch noch eine Weile zu dauern. Na, wenn es hier so ruhig bleibt, wie es ist, kann man es schon aushalten. Wir haben uns einen prima Bunker gebaut mit Tisch und Spiegel, die Wände sind sogar mit Teppichen ausgeschlagen. Alles neue Teppiche, die die Bevölkerung hierlassen musste. Wenn wir so einen in unserer Wohnung haben könnten! Sogar eine weiße Tischdecke haben wir. Leider sind wir nur Stunden am Tage hier drinnen, dann müssen wir wieder auf Posten. Aber so ist es gemütlich. Ich möchte nun schließen und hoffe bald auf Post von euch. Ich wünsche euch alles Gute und grüße herzlich, euer Achim O.U. 15. Mai 44 Liebe Mutti! Zum Muttertag übersende ich dir meine herzlichen Grüße und wünsche für die Zukunft alles Gute. Bleib gesund und lass es dir gut gehen. Wir sind zur Zeit an der ungarisch-rumänischen Grenze angekommen. Heute Mittag geht es weiter. Das Wetter ist herrlich, die Stimmung ausgezeichnet. Ich hoffe, dass du und Papa und Anneliese noch wohlauf sind, was ich auch von mir sagen kann. Es grüßt dich dein Sohn Achim An Frau Marta Kluger Absender Gefreiter Kluger 20161 D Im Osten, d. 29. Juli 1944 Liebe Mutter, liebe Schwester! Vor wenigen Tagen erhielt ich Euren Brief vom 8.7., wofür ich mich vielmals bedanke. Ich freute mich, als ich las, dass bei dem Angriff auf unser Leipzig noch einmal alles gut gegangen ist. Ich hatte schon große Sorge um euch. Wieviel steht denn immer noch von unserer Stadt? Erinnerungen an den Bruder 41 Gestern erhielt ich auch wieder zwei Päckchen mit Keksen von euch. Leider hat man sie wieder auf einer Feldpostsammelstelle neu verpacken müssen. Ihr müsst immer etwas Papier darum machen. Sonst haben sie sehr gut geschmeckt und es war einmal eine Abwechslung. Das Essen, was wir seit einigen Wochen bekommen, ist unter aller Sau. Fast jeden Abend sauer und so dünn, dass fast der Löffel abbricht. Auch knapp, vor allem die kalte Kost. Es ist wirklich nicht mehr schön! Und dies alles bei einer so festen Stellung wie hier, wo es nicht rückwärts geht. Dazu kommt noch, dass wir fast keinen Schlaf haben, weil wir so wenig Leute sind. Wir haben vor wenigen Tagen unseren Standort gewechselt und sind nun leider aus unserer schönen Obstplantage herausgekommen. Auch die Waschgelegenheit ist ganz schlecht. Ich sehne mich nach einem kleinen, ganz bescheidenen Bad. So wie jetzt habe ich die Nase noch nie voll gehabt. Es wäre besser, der Krieg ginge ganz schnell zu Ende. Papa hat mir heute auch einen Brief geschrieben und zwar aus Nagold. Er soll aber wieder versetzt werden. Auch bittet er um Rauchwaren. Schickt ihm nur etwas. Wieviel Päckchen sind nun schon von mir angekommen? Es sind ca. 16 bis 17 Stück unterwegs. In einem Päckchen ist Tabak und eine Armbanduhr. Sie ist kaputt. Ich hatte sie von einem Kameraden auf der Fahrt hier herausbekommen. Sonst bin ich gesundheitlich noch wohlauf und hoffe und wünsche euch das gleiche. Seid nun auf der Hut, dass euch nichts passiert. Ich werde schon tüchtig aufpassen, dass mir nichts geschieht. Karlchen hat es ja Gott sei Dank geschafft. Er kann nur froh sein. Der Krieg hat eben bald seinen höchsten Punkt erreicht. Wie er ausgeht, ist noch nicht abzusehen. Die Lage ist nicht so glänzend für uns. Im Westen sieht es nicht so gut aus. Auch im Osten ist allerhand los. Die Flieger sind ja auch noch immer über dem Reichsgebiet und es werden noch tüchtige Angriffe durchgeführt. Man hat gedacht, dass es etwas nachlassen wird, aber es ist nicht der Fall. Sonst hätte ich nichts mehr zu berichten. Dass es keine Luftfeldpost mehr gibt, hatte ich schon geschrieben. Nun möchte ich schließen, denn ich muss auf Posten. Lasst es euch gut gehen und seid vielmals gegrüßt von eurem Jungen! 42 Erinnerungen an den Bruder Leipzig, 29.10.44 Mein herzlichster Junge! Es sind nun gute elf Wochen, dass wir von dir keine Nachricht haben. Wo steckst du denn eigentlich? Wir sind in großer Sorge um dich. Hast du die letzte Post erhalten mit der Einwilligung? Uns geht es noch gut. Aber wie geht es dir? Karlchen hat am 20.10. geheiratet. Anneliese und ich waren dort. Papa bekam keinen Urlaub, er ist jetzt in Koblenz. Es gab sehr gut zu essen. Die beiden wohnen vorläufig hier. Es geht somit ganz gut. Es grüßen dich herzlichst deine Mutti, Karlchen und die beiden Anneliesen. Deutsches Rotes Kreuz Suchdienst München München, den 15. April 1970 GUTACHTEN über das Schicksal des Verschollenen Achim Kluger, geb. 3.12.25 Letzte eigene Nachricht vom 13. August 1944 Ausgangspunkt für die Nachforschungen waren die dem Suchantrag entnommenen Angaben, die in die Verschollenen-Bildlisten aufgenommen wurden. Damit sind alle erreichbaren Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft befragt worden, von denen angenommen werden konnte, dass sie mit dem Verschollenen zuletzt zusammen gewesen sind. Ferner sind von anderen Stellen, die Unterlagen über die Verluste im Zweiten Weltkrieg besitzen, Informationen eingeholt worden. Über diese individuellen Ermittlungen hinaus wurde die Frage geprüft, ob der Verschollene in Gefangenschaft geraten sein konnte. Dabei wurden die Kampfhandlungen, an denen er zuletzt teilgenommen hat, rekonstruiert. Als Unterlage dienten dem DRK-Suchdienst Angaben über Kameraden, die der gleichen Einheit angehört hatten und zum selben Zeitpunkt und am selben Einsatzort verschollen sind, Heimkehrerberichte, Schilderungen von Kampfhandlungen, Kriegstagebücher sowie Heeres- und Speziallandkarten. Das Ergebnis aller Nachforschungen führte zu dem Schluss, dass Achim Kluger mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen dem 20. August und den ersten Septembertagen 1944 in Rumänien oder in der ersten Zeit der Gefangenschaft den Tod gefunden hat. Da es aber keinen Hinweis dafür gibt, dass der Verschollene in Gefangenschaft geriet oder in einem Lager gesehen wurde, zwingen alle Feststellungen zu der Schlussfolgerung, dass er bei den Kämpfen gefallen ist. Erinnerungen an den Bruder 43 Johann Tatarczyk * 1. November 1913 = 28. Juni 1942 Von Hubert Tannhausen Geboren wurde Hans im oberschlesischen Mszanna, als erster Sohn des Bäcker- und Konditormeisters Alois Tatarczyk, der an einer Schusswunde während der Flucht im Frühjahr 1945 starb und in einem Massengrab bei Svitava (Tschechien) beigesetzt wurde, und seiner Ehefrau Anna Tatarczyk, vermisst, verschollen seit Februar 1945. Hans war der Bruder von Rudi Tatarczyk, der, eine Klasse überspringend, kurz vor dem Abitur verhungerte; Bruder von Hubert Tatarczyk, der, nach der Kesselschlacht von Bobruisk in russische Gefangenschaft geraten, im September 1944 als vermisst, Wochen später als „gefallen auf dem Felde der Ehre für Führer, Volk und Reich“ gemeldet wurde; Bruder von Edeltraud Tatarczyk; Bruder von Christa Tatarczyk, die sich im Frühjahr 1945 mit zwei Kindern durch die Tschechei nach Deutschland durchschlug; Enkel von Johann Tatarczyk, der von den Russen erschossen wurde. Das ist die kurze Familien-Saga derer aus Ratibor/Mszanna (Oberschlesien): Zweimal um die Heimat gebracht, zweimal um Hab und 44 Erinnerungen an den Bruder Gut, zweimal Krieg und Not, zweimal Flucht ... und dann? Dann der Tod. Hans, blond, blauäugig, war ein Lebenskünstler, heiter, sonnig, problemlos. Als Sechsjähriger rettete er seine kaum dreijährige Schwester vor dem Ertrinken. Nicht weit vom Elternhaus floss ein Dorfbach, in den wir Kinder im Sommer Sand von der erhöhten Straße warfen. Ein heftiger Wind wehte die Schwester in den Bach hinein. Entsetzt flohen wir in alle Richtungen. Nur Hans behielt klaren Kopf, rannte nach Hause, verständigte die Eltern. Unser Vater holte die Kleine aus dem Wasser. Während des polnischen Aufstandes in Oberschlesien (1920/1921) wurde Vater, als Deutscher im Ort nicht gelitten, von einer Kugel, die durchs Fenster ins Zimmer schlug, nah am Auge getroffen. Noch ehe die Aufständischen ins Haus eindrangen, um Vater zu holen, versteckte ihn Mutter im Zimmereck hinterm Schrank. Auf kindlich unbeholfene Art half Hans, der noch keine zehn Jahre alt war, den Schrank zurechtzurücken. 1921 flüchteten die Eltern ins deutsch gebliebene Ratibor (35 Kilometer entfernt), gründeten dort eine neue Existenz. Hans und ich blieben bei den Großeltern. Da war Großmutters schwarze Kuh, ein Phänomen von einer Kuh, die Hans auf die Hörner nahm, als er ihr zu nahe kam. Da war der Kuhstall, in den Hans flüchtete, wenn die Aufständischen wiederkamen, die Küchendielen aufrissen und nach Geld suchten. Am Schluss stahlen sie Großvaters frisch geschlachtetes Schwein aus dem Trog. In Großvaters Wohnküche war ein Fleischerhaken an der Decke angebracht. Hans befestigte daran eine Schnur zum Schaukeln. Die Schnur riss, Hans fiel auf den Rücken, lief blau an, bekam keine Luft. Tante Marianka heulte, ich mit, sie betete vor dem Kreuz und Hans kam wieder zu sich. Eines Tages holte uns Vater zu sich nach Ratibor. Da mussten wir erst einmal bei einem Privatlehrer „richtig“ Deutsch lernen. Statt „Was“ fragte Hans auf polnisch „co“, worauf Mutter gleich sagte: „Das heißt was!“ Hans, begabt für Musik und Malerei, saß in der Küche vorm Fenster, mit Blick zum Garten und malte Tiere und Landschaften. Einmal malte er in der Volksschule auf Geheiß des Lehrers aus Mangel an Anschauungsmaterial für den Unterricht Tiere an die Tafel. Mir spielte er Lieder mit der Mundharmonika vor, später auf der Geige, ohne Noten. Erinnerungen an den Bruder 45 Und zu Streichen war er stets aufgelegt. So vernagelte er das Hoffenster des vermieteten Lebensmittelgeschäftes mit Brettern. Vater und Mutter drückten bei allen Streichen mehr als ein Auge zu. Auch klauten wir von Nachbars Baum die reifen Birnen, die ganz an der Grenze zu unserem Hof hingen. Der Eigentümer, ein Gastwirt, jagte Hans hinterher bis ins Vorderhaus, vier Stockwerke hoch. Hans erklomm die Leiter zur Dachluke, zog sie ein und setzte sich auf den Deckel der Dachluke. Wir vier Geschwister, zwei Schwestern, zwei Brüder, besuchten die Höhere Schule, aber Hans nur die Volksschule. Denn, so Rektor Scholz zum Vater, wozu aufs Gymnasium? Hans brauche nur deutsche Hörnchen zu backen, keine englischen oder französischen ... Das war Wasser auf Vaters Mühlen. So sah er es auch. Für ihn war Hans der künftige Bäcker- und Konditormeister, der den väterlichen Betrieb später einmal übernehmen würde. Immerhin waren es zwei Häuser mit zwei Geschäften. So kam Hans nach Beendigung der Schule in die Lehre. Zwar fertigte er Geburtstagstorten mit Blumenmotiven von bestechender Schönheit an, aber es füllte ihn nicht aus, das Handwerkliche in ihm zerstörte das Künstlerische. Ende der dreißiger Jahre wurde er zur Wehrmacht eingezogen, machte gleich den Polenfeldzug als Infanterist mit, wurde vermisst, tauchte aber wieder auf. Er wurde verwundet und kam nach Wien ins Lazarett. Von einem „Kameraden“ denunziert, einem polnischen Kriegsgefangenen Brot gegeben zu haben, wurde er wegen „Veräußerung von Wehrmachtsgut an den Feind“ verurteilt, degradiert und ins Strafbataillon versetzt. Auch am Krieg gegen Frankreich und die Sowjetunion nahm er teil. Das letzte Mal sahen wir ihn, als er unverhofft auf Urlaub heimkam. Mutter setzte ihm gebratene Gans mit polnischen Klößen vor, aber Hans war so müde, dass er während des Essens einschlief, mit dem Essbesteck in den Händen. Über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erhielten wir nach fast 60 Jahren, im Frühjahr 2002, folgende Nachricht: „Johann Tatarczyk, geboren am 1. November 1913 in Mszanna, ist am 26. Juni 1942 im Wald, fünf Kilometer südwestlich von Mostki (Erikaschneise), gefallen. Grablage: am Westufer des Polistj-Baches an der Brücke, 1500 Meter nördlich des Punktes 40.5.“ 46 Erinnerungen an den Bruder Emil Friedrich Vohlken * 29. Juli 1924 = 16. April 1944 Von Georg Vohlken Seine letzte Nachricht kam aus dem Reservelazarett I Lemberg. Persönliche Merkmale: Größe: 1,85 Meter, Haarfarbe mittelblond, Augenfarbe blau. Schlank. Besondere Eigenschaften: fleißig und strebsam, liebevolles Wesen, kameradschaftlich, technische Begabung (er bastelte Doppeldecker - Flugzeuge aus Pappe nach eigenem Entwurf), spielte Geige. Sein Lebenslauf: - Volksschule - Berufsschule - kaufmännische Lehre - Lehrabschlussprüfung zum Industriekaufmann - Maschinenbuchhalter - Teilnahme an einem Fernstudium zur Ablegung der BilanzbuchhalterPrüfung mit sehr gutem Erfolg, leider durch Einberufung zur Wehrmacht unterbrochen - militärische Ausbildung in Lübeck und Lüneburg - anschließend Einsatz an der Ostfront, Raum Tarnopol - Eisernes Kreuz II. Klasse - schwere Verwundung im Raum Tarnopol - verstorben in einem Lazarettzug auf der Fahrt nach Lemberg am 16.4.1944 - bestattet auf dem Soldatenfriedhof Stryerpark in Lemberg Erinnerungen an den Bruder 47 Erinnerungen Da mein Bruder und ich beide unsere kaufmännische Tätigkeit in Fleischwarenfabriken hatten, dazu noch im selben Ort, kam es, wie es bei jungen Menschen oft üblich ist, zu Rivalitäten bezüglich der Qualität der Erzeugnisse des Arbeitgebers. Mein Bruder lobte die Wurstwaren aus „seiner“ Fabrik, besonders deren Haltbarkeit, ich die aus „meinem“ benachbarten Betrieb. Eines Tages – er war schon an der Ostfront – hatten wir von zu Hause ein Feldpostpäckchen an ihn abgesandt, unter anderem auch mit Wurstwaren aus „meiner“ Fabrik. Nach einer gewissen Zeit – wir hatten schon befürchtet, das Päckchen sei nicht angekommen – schrieb er, dass er es erhalten hätte und sehr über den Inhalt erstaunt gewesen wäre. Die Wurst wäre in bestem Zustand und von hervorragendem Geschmack gewesen. „Koopmanns (Name der Fabrik) Wurst in Ehren“, war sein Kommentar. Emils Feldpostbriefe waren stets sehr ausführlich und aufschlussreich. Er war zunächst einer Pioniereinheit zugeteilt worden und bei einer russischen Familie in Quartier. Nach einiger Zeit entwickelte sich ein sehr gutes Verhältnis zwischen den deutschen Besatzern und den russischen Familien. So schrieb mein Bruder in einem seiner letzten Briefe, dass die Frau ihm jeden Morgen, bevor er zum Stellungsbau ausrücken musste, einen Hirsebrei kochte. „Ich bekomme hier das vergolten, was du, liebe Mutter, dem Wassil gegeben hast“ (Wassil war ein ukrainischer Zivilarbeiter – etwa 60 Jahre alt – der bei einem Landwirt in unserer Nähe arbeitete). Er wurde von unserer Mutter, obwohl es streng verboten war, oft in unser Haus eingeladen. Reserve-Lazarett Lemberg – Universitätsklinik – Lemberg, den 18.4.1944 An Familie Georg Vohlken Sehr geehrte Familie Vohlken! Da ich nicht weiß, ob Sie von irgendeiner Seite eine Nachricht über Ihren Sohn erhalten haben, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn, der Schtz. Emil-Friedrich Vohlken, am 16.4.1944 in einem Lazarettzug an den Folgen seiner schweren Verwundung verstorben ist. Wie ich aus dem Verwundetenbegleitzettel entnehmen kann, wurde Ihr Sohn am 13.4.1944 auf dem Hauptverbandsplatz Jaslowiec wegen 48 Erinnerungen an den Bruder Granatsplitterverletzung am Gesäß, am Rücken und am linken Kniegelenk ärztlich versorgt. Am 14.4.1944 wurde Ihr Sohn in einen Lazarettzug verladen, um möglichst rasch in ein Fachlazarett zur Weiterbehandlung verlegt zu werden. Auf dem Transport ist Ihr Sohn infolge Versagens der Herzkraft am 16.4.1944 um 6 Uhr 45 Minuten verstorben. Nähere Einzelheiten konnte ich leider nicht erfahren. Die Leiche Ihres Sohnes wurde in Lemberg ausgeladen und meinem Lazarett zur Beisetzung übergeben. Wir haben die Leiche Ihres Sohnes hier würdig aufgebahrt und werden Ihren Sohn am 19.4.1944 vormittags 10 Uhr auf dem Heldenfriedhof (Stryerpark) in Lemberg mit allen militärischen Ehren beisetzten. Zu diesem schweren Verlust spreche ich Ihnen mein herzlichstes Beileid aus. Möge die Gewißheit, dass ihr Sohn sein Leben für die Größe und Zukunft unseres ewigen Deutschen Volkes hingab, Kraft geben und Ihnen Trost sein in diesem schweren Leid, das Sie betroffen hat. Die Nachlasssachen werden von uns in den nächsten Tagen abgesandt. Bei der allgemeinen Transportlage dürfte es jedoch noch einige Wochen dauern, bis Sie dieselben erhalten. In herzlicher Anteilnahme grüße ich Sie mit Heil Hitler! Oberstabsarzt und Chefarzt Erinnerungen an den Bruder 49 50 Erinnerungen an den Bruder von Schwestern geschrieben Herwig Haesner von Heide Krukow 52 Günter Korsitzky von Herta Schweitzer 55 Bernhard Terhünte von Maria Böckmann 58 Herbert Kautz von Gertrud Volkmann 62 Horst-Günter Zedel von Charlotte Kalberlah 63 Harm-Wulf Greulich von Elgin Loos 66 Heinz Kirchner von Inge Kievelitz 69 Jakob Heigert von Katharina Lautz 71 Gerhard Renz von Irmgard Karl 75 Hans und Wolfgang Zaeske von Gisela Meichelböck 77 Hermann + Gerhard Wilkens von Paula Korte 81 Helmut Peitz von Lydia Littek 84 Heinz und Robert Henk von M. Strickhausen 85 Alfons Wurm von Gisela Mathes 89 Wolf-Dietrich Steinbach von Ursula Steinbach 92 Erwin Albrecht von Else Albrecht 94 Rudolf Schulz von Christa Schlüter 96 Erinnerungen an den Bruder 51 Herwig Haesner *13. Dezember 1925 in Berlin vermisst seit Anfang Dezember 1945 = 12. Dezember 1945 in Woroschilowgrad im Dongebiet Todesanzeige im Juni 1997 erhalten Von Heide Krukow Mein Bruder Herwig Haesner war das erste Kind meiner Eltern und wurde mit viel Liebe großgezogen. Als Kleinkind war er oft krank und er suchte sich die ausgefallensten Kinderkrankheiten aus, zum Beispiel eine Dickdarmentzündung, bei der sich der ganze Darm häutete. Unsere jüdische Kinderärztin, Frau Dr. Amalie Peiser, wachte zusammen mit meiner Mutter die ganze Nacht bei uns zu Hause am Kinderbett, bis die Krise vorüber war. Anschließend ging Frau Dr. Peiser wieder in ihre Praxis. So eine Ärztin gibt es so schnell nicht wieder. Behütet von meiner Mutter und meiner Großmutter wuchsen wir Kinder in unserer Mietwohnung und im Schrebergarten auf. Mein Bruder sollte in den Kindergarten gehen und sich an andere Kinder gewöhnen. Doch allein blieb er nicht im Kindergarten. Ich war fast drei Jahre jünger als mein Bruder und musste mit in den Kindergarten. In der Schule lernte er gut und schnell. 1933 zogen meine Eltern mit uns nach Lankwitz. Dort hatten wir einen eigenen Garten und ein eigenes Häuschen, das meine Eltern gebaut hatten, weil Kinder im Mietshaus unerwünscht waren und der Kinderwagen unseres kleinen Bruders wiederholt die Treppe hinuntergeschubst worden war. 52 Erinnerungen an den Bruder In Lankwitz lebten wir glücklich und zufrieden. Mein Bruder war ein fleißiger Schüler. Jedes Jahr, wenn es neue Schulbücher gab, war er mehrere Tage nicht zu sehen. Er ging alle Bücher durch, um am Ende festzustellen: Jetzt kann ich das ganze Pensum vom neuen Schuljahr. Weihnachten bekamen wir drei Kinder neben anderen Geschenken jeder ein Buch. Herwig las sie alle, zuerst das von unserem kleinen Bruder, dann meines und zum Schluss sein eigenes. Im letzten Schuljahr belegte er Flugphysik und war ein begeisterter Mathematiker. Wenn sein Lehrer sagte, für diese Aufgabe gäbe es nur eine Lösung, so setzte sich mein Bruder den ganzen Nachmittag hin, um dem Lehrer zu beweisen, dass noch eine andere Lösung möglich sei. Im August 1939 am ersten Mobilmachungstag musste sich mein Vater bei der Wehrmacht stellen. Nun vertrat mein Bruder meinen Vater. Er stützte den Luftschutzkeller mit dicken Holzstämmen ab und warf an der Außenseite einen Erdwall auf. Hatte er nach der harten, ungewohnten Arbeit Schwielen an den Händen, war er stolz. 1943 stürzte unser Haus durch eine Luftmine ein, es fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Doch meine Großmutter und mein Vater, die sich im Luftschutzkeller aufhielten, konnten unverletzt aus den Trümmern kriechen, sie halfen noch, die toten Nachbarn aus dem Nebenhaus zu bergen. Wahrscheinlich haben die Versteifungen, die mein Bruder einbaute, meinen Vater und meine Großmutter davor bewahrt, verschüttet zu werden. Als der Krieg ausbrach, wurde mein Bruder im Dezember 14 Jahre alt. In seinem Urlaub fuhr er nach Westpreußen mit seinem Vetter zu Verwandten auf ein großes Gut. Die beiden Jungen fuhren alle Tage mit Pferd und Hungerharke auf das Feld, um die letzten Getreidehalme zusammenzuharken. Es gab dort noch kein elektrisches Licht. Herwig hatte sofort die Idee: „Wenn das mein Hof wäre, hätte ich schon längst Strom vom nahen Bach zum Haus herüber geleitet“. Mit 17 Jahren wurde Herwig von der Schulbank weg zum Militär gezogen. Er kam nach Verden an der Aller, um als Funker ausgebildet zu werden. Danach wurde er nach Russland an die Front geschickt, um als Vorgeschobener Beobachter die Truppenbewegungen zu registrieren und der Truppe zu melden. Er war am Weichselbogen, genau dort, wo der Durchbruch der Russen begann. Die letzte Nachricht erhielten wir von ihm im November oder Dezember 1944. Unser Haus war zerstört, Schulen gab es nicht mehr in Berlin. Ende Januar 1945 machten wir uns mit Pferd und Wagen auf den Weg, um den Russen zu entkommen. Wir Erinnerungen an den Bruder 53 kamen bis in die Nähe von Rostock, als die Russen uns einholten. Im September 1945 gingen wir zurück nach Berlin. Von meinem Bruder Herwig sollten wir nie wieder etwas hören. Vergebens warteten wir auf das winzigste Lebenszeichen, vor allem meine Mutter. Ein junges Leben, das eigentlich erst anfangen wollte, seine Zukunft zu gestalten, es hatte keine Zeit, seine Träume zu verwirklichen. Mein Bruder hatte geträumt, Bauer zu werden, eine Familie zu gründen, er wollte einen Führerschein machen, um ein Auto fahren zu können, er wollte fliegen lernen … Nichts von alledem konnte er verwirklichen! Ein Mensch, der nie einem anderen weh tun konnte, ein friedlicher, fleißiger, arbeitsamer, intelligenter Bürger wurde einfach in einen sinnlosen Krieg geholt, um darin umzukommen. Im Sommer 1997 erhielt ich die Nachricht vom Deutschen Roten Kreuz, dass mein Bruder Herwig am 12. Dezember 1945, genau einen Tag vor seinem zwanzigsten Geburtstag, im Gebiet von Woroschilowgrad im Kriegsgefangenenlager verstorben sei. 52 Jahre waren seit seiner Gefangennahme verflossen. Meine Mutter und mein Vater haben es nie erfahren, sie lebten beide nicht mehr, obwohl mein Vater 95 Jahre alt geworden ist. Es ist unvorstellbar! 54 Erinnerungen an den Bruder Günter Korsitzky * 11. Februar 1924 in Troppau/Sudetenland, = 17. August 1944 in der Normandie Kriegsgräberstätte Champigny-St-André/Frankreich, Block 17, Reihe 40, Grab 2161 Von Herta Schweitzer Im Gedenken an meinen kleinen Bruder (er war viereinhalb Jahre jünger als ich), der an seiner Verwundung beim Kampf in der Normandie gestorben ist. Er war zehn Jahre lang vermisst, gefunden wurde er vom Volksbund. Er hatte blonde Haare und blaue Augen, war weich und künstlerisch. Günter besuchte das Gymnasium. Zeichnen und Musik waren sein Leben. Er vergrößerte in Kohle oder Kreide nach Fotografien Bilder, auch von Menschen der Geschichte wie zum Beispiel Bismarck, die so naturgetreu waren, dass sie ihm sogar für Dienststellen abgekauft wurden. Er spielte Klavier, Ziehharmonika, Badonium. Er gründete in der Jugendorganisation eine Musikkapelle, schrieb für acht Mann die Noten und spielte in der Tanzstunde, um sein Taschengeld aufzubessern. Einmal komponierte er einen Walzer, den wegen seiner Schüchternheit ein anderer, der sich an erster Stelle nannte, mit ihm einreichte. Wenn ihm im Radio ein Lied gefiel, nahm er seine Ziehharmonika und spielte das Lied nach. Als er das Abitur geschafft hatte, führte seine Klasse das Stück „Lumpazi Vagabundus“ auf. Einer der maßgebenden Herren unseres Stadttheaters, der die Aufführung sah, fragte, ob er nicht Schauspieler werden wolle. Aber er musste in den Krieg. Seine Mitschüler waren zur SS gemustert, er zur Luftwaffe. Da sagten sie: „Günter, du bist ja eine ,Missgeburt‘, sonst hätten sie dich doch auch zur SS genommen!“ Wer läßt sich schon gerne sagen, dass er eine Missgeburt sei – also meldete sich Günter auch zur SS. Er war 19 Jahre alt als er ging. Wegen meiner Hochzeit bekam er noch einige Tage Aufschub. Als Kradmelder hatte er irgendwann einen Unfall und verlor einige Zähne. Bei dem Zahnarzt arbeitete auch ein SS-Unteroffizier. In der Ecke sah Günter eine Ziehharmonika stehen. Er bat den Unteroffizier, doch einmal spielen zu dürfen. Der Unteroffizier sagte: „Komm doch zu uns, da kannst du dir schon für deinen späteren Erinnerungen an den Bruder 55 Beruf ein paar Kenntnisse erwerben und wir könnten zusammen musizieren“. Günter wollte Zahnarzt werden, da meine Eltern ein Musikstudium für eine brotlose Kunst hielten – Günter war schon in Wien immatrikuliert. Und so nahm er das Angebot des Unteroffiziers an. Nun spielten sie bei Offiziers-Abenden, wobei Günter in kürzester Zeit der Gefragtere war. Der Neid oder der Hass des Anderen war somit vorprogrammiert, und immer wieder denunzierte er Günter bei ihrem Vorgesetzten, dem Zahnarzt. Eines Tages wurde diese Einheit der SS-Division „Hohenstaufen“ nach Russland verlegt. Beim nächtlichen Schanzen im Schützengraben griff der Unteroffizier Günter mit einer Schaufel an und wollte ihn erschlagen. Am nächsten Tag hat er wohl Günters Meldung befürchtet und verdrehte die ganze Sache so, als ob Günter ihn angegriffen hätte. Wem glaubte man mehr? Natürlich dem Ranghöheren, und so wurde Günter zu einem Strafbataillon versetzt. Er schrieb: „Was bis jetzt war, war furchtbar, was jetzt kommen wird, wird noch viel schlimmer sein.“ Meine Mutter besorgte vom Gymnasialdirektor ein Schreiben, in dem dieser als sein langjähriger Lehrer schrieb, dass er einen derartigen Angriff von Günter für völlig unmöglich halte, schon auf Grund seiner Mentalität. Er war ja wirklich viel zu weich, er weinte schon, wenn er den Eltern zum Geburtstag gratulierte. Mein Schwager, der bei der Wehrmacht Leutnant war, rief auch noch den Kompaniechef von Günter an, aber der sagte nur, dass das Bataillon in drei Kampfeinheiten eingeteilt sei und nicht festzustellen ist, zu welcher Einheit Günter gekommen wäre. Eines Tages bekamen wir Verwundeten-Gepäck von Günter – seine letzten Habseligkeiten. Dann blieb er zehn Jahre lang verschollen, bis ihn die Kriegsgräberfürsorge entdeckte. Meine Mutter schrieb an den Bürgermeister des Ortes, wo seine sterblichen Überrest gefunden wurden. Dieser erzählte, dass die verwundeten Soldaten in einer Kirche untergebracht gewesen wären, wo sie sich gegenseitig gepflegt hätten. Mit 19 Jahren eingerückt, mit 20 Jahren tot, das Schicksal ließ ihn nicht einmal großjährig werden – gestorben … Wofür? Ob er geahnt hat, dass er die Heimat nie wiedersehen würde? Als ihn meine Eltern zum Zug brachten und der Zug abfuhr, liefen ihm die Tränen über die Wangen. 56 Erinnerungen an den Bruder Günters letzter Brief! Westen, 10. August 1944 Liebste Eltern und Herti! Ich schreib noch schnell ein paar Zeilen, weil ich dann eine längere Zeit nicht oder nur ganz selten werde schreiben können. Heute abend oder morgen früh geht’s dann nach vorn und, hoffentlich geht alles einigermaßen gut aus, aber mit Geduld und Spucke geht’s schon … Ich habe vorgestern noch ein paar (zwei Briefe) abgesandt mit russischem Tee. Hoffentlich kommen sie an. – Bis jetzt war alles nichts gegen das, was erst kommt. Der Herr Zahnarzt hat schon gewusst, wo er mich hingibt. Na, ist ja egal! Wie geht es bei euch zu? Ich kann mir das schöne Bad usw. bei der Hitze gut vorstellen. Bei uns brennt die Sonne nicht allzu lind. Wie geht es Hansi und Frau Olsen? Ich lasse beide recht herzlich grüßen und, falls ich heute noch ein paar Minuten Zeit haben sollte, so schreibe ich ihr auch! – Die Feldpost-Nr., die auf diesem Brief ist, ist die von der Kompanie, wo ich bin. Die vorherige war vom Bataillon. Erinnerungen an den Bruder 57 Bernhard Terhünte * 11. Juli 1929 = Januar 1949 in Rovno in russischer Kriegsgefangenschaft Von Maria Böckmann Unser Bruder, wir nannten ihn Berni, war das älteste von sechs Kindern. Der Zweitgeborene starb als Säugling, dann kamen wir vier Schwestern, die alle noch leben. Berni war ein nachdenklicher ernster Junge, sehr naturverbunden, immer um das Wohl seiner jüngeren Geschwister bemüht. Als eines Tages das „Fahrende Volk“ mit klapprigen Wagen und dürren Gäulen durch unser Dorf fuhr und er neben dem Lenker des Pferdefuhrwerks ein dunkelhaariges Mädchen mit langen Zöpfen entdeckte, das große Ähnlichkeit mit unserer ältesten Schwester hatte, kam er ganz aufgeregt ins Haus gerannt und war sehr erleichtert, dass er sie daheim beim Spielen vorfand. Seine Tauben und Kaninchen liebte er über alles, und wir durften ihm bei der Pflege und Versorgung immer gerne helfen. Als Berni im September 1943 als 16-jähriger aus der Untersekunda heraus zur Luftwaffe eingezogen wurde, war ich gerade neun Jahre alt. Somit habe ich nicht sehr viele Erinnerungen an ihn. Wenn mein Bruder aber in einem seiner zahlreichen Briefe an sein „liebes kleines Schwes- 58 Erinnerungen an den Bruder terlein“ mich tröstete, weil drei seiner Kaninchen eingegangen waren, für die ich doch sorgen musste, so konnte er dies besser als meine Eltern es vermochten. Einmal als Berni als Flakhelfer zwei Tage Sonderurlaub hatte und am 1. Mai früh morgens zur Luftwaffe zurückkehren musste, weckte er mich in der Frühe um 5 Uhr heimlich. Das hatten wir so ausgemacht. Mein Vater machte nämlich jedes Jahr mit ihm und meinen beiden älteren Schwestern einen Maigang, an dem ich auch gern teilnehmen wollte, doch in den Augen meiner Eltern noch zu klein war. So zog ich mich schnell an und konnte dann mit den anderen unseren Bruder zur Bahn bringen. Nach dem Abschiednehmen gingen wir dann gemeinsam durch den Wald, sangen mit Vater Mailieder und lauschten dem Vogelgezwitscher. Aber wir waren auch alle sehr traurig, dass unser Bruder an diesem 1. Mai nicht mit uns wandern konnte – er hätte es bestimmt sehr genossen. Seine Naturverbundenheit kam in einem seiner Briefe als Luftwaffenhelfer zum Ausdruck: „Ich muss leider auf Posten sein in einsamer Nacht. Aber in solch einer schönen Sommernacht stehe ich gerne, wenn alles in der Natur ruhig ist. Nur ab und zu hoppeln einige Kaninchen oder Hasen herum, oder es ruft ein Kiebitz. Auch fliegt manchmal eine Eule um die Geschütze herum.“ Den Reichsarbeitsdienst verbrachte mein Bruder in Allendorf, Kreis Marburg, bis zum 8. September 1944. Bei Nacht und Nebel wurde er dann nach Ostpreußen abkommandiert und kam nach einer langen und beschwerlichen Bahnfahrt nach 5 Tagen in Ittau an. Aus seinen Briefen geht hervor, wie sehr er unter Heimweh litt, hatte er doch seine Familie über ein Jahr nicht mehr gesehen. Immer wieder war ihm Heimaturlaub zugesichert worden, doch immer wieder wurde ihm dieser im letzten Augenblick gestrichen. Auch an Weihnachten 1944 wurde der zuerst versprochene Urlaub wieder abgesagt. So verbrachte mein Bruder das Weihnachtsfest 1944 in Piaski (Südostpreußen) in trauriger Erinnerung an das letzte Weihnachten im Elternhaus, als er drei Tage Sonderurlaub bekommen hatte: „Wie hat mein Schwesterchen Gerda geweint, als ich am Weihnachtsmorgen plötzlich vor ihr stand und ich sie vor lauter Wiedersehensfreude in den Arm nahm!“ Die Zigaretten, ein Fläschchen Kölnisch Wasser und zwei Tafeln Schokolade, die er Heiligabend als Weihnachtsgeschenke von seinem Zugführer bekam, schickte er nach Hause, um meinen Eltern und uns eine Freude zu machen, da er sonst kein Weihnachtsgeschenk hatte. Erinnerungen an den Bruder 59 Immer wieder hatte mein Bruder große Sorge um unseren Vater, dass er auch eingezogen werden könnte. Aus all seinen Briefen spürt man das große Heimweh, und auf seinem Rückzug aus Ostpreußen Ende Januar 1945 schreibt er: „Ihr werdet sicher in großer Sorge um mich sein. Aber diesmal bin ich dem Iwan noch entkommen. Es ist jetzt 3:20 Uhr. Nun geht es weiter zum Westen. Herrlich! Endlich ein Stück näher zur Heimat. Wir sind aber auch gelaufen, um nicht von den Russen abgeschnitten zu werden! Beinahe hätte ich euch ein Mädchen im Alter von Anneliese (12 Jahre) geschickt, das Vater und Mutter auf der Flucht verloren hat. Ihr schreibt ja immer, ich sollte nur einen Kameraden, der die Heimat verloren hat, mitbringen. So hättet ihr auch gleichzeitig von mir Nachricht gehabt. Wäre ich doch erst mal zu Hause!“ Am 27. Januar 1945 schrieb Berni aus Bülow (Ostpreußen) wiederum eine Karte: „Ihr seht, der Russe hat uns doch noch nicht erwischt. Ich kann euch sagen, das war eine Reise! Von Mielau aus bis hier mit Pferdewagen durch Eis und Schnee und auf Schusters Rappen. Meine Füße sind angefroren, doch da macht euch deswegen keine Sorgen. Ich muss noch ein paar Tage hierbleiben, und zwar als Ordonanz beim RAD-Auffangkommando, um die versprengten Arbeitsmänner zu sammeln. In den nächsten Tagen geht es dann wahrscheinlich mit dem Zug weiter nach Westen, der Heimat immer näher. Ihr braucht euch also keine Sorgen mehr um mich zu machen, bald bin ich daheim!“ „Daheim“, das war zunächst Rodewald bei Hannover, wo er nach seinem großen Treck durch Ostpreußen Anfang Februar 1945 eintraf und am 23. Februar 1945 seinen letzten ausführlichen Brief nach Hause schrieb. Berni bat unter anderem darum, dass Vater ihn dort nicht besuchen solle: „Jetzt macht mir keinen Unfug und kommt herüber, um mich zu besuchen. Denn in den nächsten vier bis sechs Wochen komme ich doch auf Urlaub! Die Fahrt nach hier ist für euch zu weit, und jetzt geht inzwischen eine große Gefahr von den Tieffliegern aus.“ Unser Vater hat Berni trotzdem besucht. Er war viele Tage mit dem Fahrrad unterwegs. Glücklicherweise hat er seine abenteuerliche Fahrradtour trotz Bombennächten und Tieffliegerangriffen heil überstanden. Die Gespräche zwischen Vater und Sohn waren das letzte Lebenszeichen, das wir von unserem Bruder erhalten haben. Bei den Kämpfen 60 Erinnerungen an den Bruder um Berlin im April 1945 muss er wohl in russische Kriegsgefangenschaft geraten sein. Sein Schicksal war vorausbestimmt. Genau an dem Tag seines 18. Geburtstages wurden alle Kriegsgefangenen, die unter 18 Jahre alt waren, entlassen. Er war an diesem Tag nicht mehr unter 18, er musste somit bleiben. Diese traurige Wahrheit berichtete uns später ein Mitgefangener. Im August 1948 brachte uns ein Heimkehrer die Todesnachricht von unserem Berni. Er hatte mit meinem Bruder in Rowno in russischer Kriegsgefangenschaft gelebt und ihn beim Sterben begleitet. Eine Welt stürzte für uns alle ein, hatten wir doch bis zum letzten Tag die Hoffnung auf eine Heimkehr nicht aufgegeben. Friedlich und Gott ergeben sei er mit 18 Jahren an Unterernährung gestorben, Mutters Rosenkranz, den er immer bei sich trug, um den Hals. Meine Schwester und ich haben im August 2002 an einer Sonderreise des Volksbundes durch die Ukraine teilgenommen. Wir haben auf dieser Reise auf einigen deutschen Soldaten- und Kriegsgefangenenfriedhöfen Spurensuche betrieben, in der Hoffnung, am Grabe unseres Bruders verweilen zu dürfen – leider war uns dies nicht vergönnt. Doch die Suche geht weiter – wir hoffen, mit Hilfe des Volksbundes, doch noch eines Tages das Grabe unseres Bruders zu finden. Auf unserer Reise durch die Ukraine waren wir sehr beeindruckt und bewegt von dem, was der Volksbund geleistet hat und noch leistet. Auch wir geben unsere Hoffnung nicht auf, dass auch unser Bruder eines Tages eine würdige Ruhestätte auf einem der Friedhöfe in der Ukraine bekommt. Dann hätten auch wir Geschwister unseren inneren Frieden gefunden. Erinnerungen an den Bruder 61 Herbert Kautz * 12. Dezember 1921 = 14. Dezember 1945 in französischer Gefangenschaft Kriegsgräberstätte Andilly/Frankreich Block 34, Reihe 4, Grab 242 Von Gertrud Volkmann Die Ursache seines Todes ist uns unbekannt und wird es wohl für immer bleiben. Mein Bruder war groß, schlank, dunkelhaarig und hatte wunderschöne blaue Augen. Er war immer lustig und hat gern gesungen. Sein Lieblings Lied war „Mamatschi, schenk mir doch ein Pferdchen“. Er hat von seiner Jugend nicht viel gehabt, musste sehr jung in den Krieg. Für Führer, Volk und Vaterland, wie man so schön sagte. Ich kann mich nur sehr wenig an ihn erinnern. Ich war erst fünf Jahre alt, als er in diesen sinnlosen Krieg musste. Meine Mutter hat immer viel von ihm erzählt. Ich habe meinen Bruder eigentlich nur durch diese Erzählungen meiner Mutter kennen gelernt. Meine Eltern haben ihn im Sommer 1943 in Breslau das letzte Mal gesehen. Da hatte er ein oder zwei Tage Aufenthalt, bevor er weiter an die Front ziehen musste. Danach haben wir keine Verbindung mehr zu ihm gehabt. Nach langem Suchen, haben wir im Jahr 2000 endlich erfahren, dass mein Bruder seine letzte Ruhestätte auf dem Soldatenfriedhof in Andilly (Frankreich) hat. So lange ich lebe, wird mein Bruder in Gedanken immer bei mir sein. 62 Erinnerungen an den Bruder Horst-Günter Zedel * 2. Februar 1920 in Braunschweig Vermisst seit 24. August 1944 Von Charlotte Kalberlah Ihrer Aufforderung, etwas über meinen Bruder Horst-Günter Zedel zu schreiben, bin ich gerne gefolgt. Viele Erinnerungen wurden dabei wach. Mein Bruder Horst-Günter Albert Wilhelm Zedel und sein 20 Minuten älterer Zwillingsbruder Heinz-Joachim Hermann Richard Zedel, beide nach den Großvätern Hermann (väterlicherseits) und Albert (mütterlicherseits) und den Paten, den Brüdern meines Vaters Wilhelm und Richard, benannt, wurden am 2. Februar 1920, mittags um 13.30 Uhr in der elterlichen Wohnung in Braunschweig geboren. Als ich von der Schule nach Hause kam, ich war sieben Jahre alt, lagen meine Brüder in der Wiege nebeneinander. Sie waren sehr zart, wogen zusammen siebeneinhalb Kilo, und ich bewunderte ihre braunen Augen, die dunkelblonden Haare und ihre kleinen Händchen mit den winzigen Fingernägeln. Der Arzt schlug meinen Eltern vor, sie ins Säuglingsheim zu bringen, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Der ältere Zwilling, Heinz-Joachim, hatte von Geburt an einen schweren Herzfehler, an dem er dann mit viereinhalb Jahren starb. Im Juli 1920 mussten meine Eltern meine Brüder wegen einer im Heim ausgebrochenen Infektionskrankheit nach Hause holen. Eine Ansteckung hätten sie wohl nicht überlebt. Da sie besonders ernährt wurden, mussten wir jeden Tag Säuglingsflaschen mit entsprechender Nahrung vom Säuglingsheim abholen. Horst hatte dort noch im Brutkasten gelegen. So schafften es meine Eltern durch sorgfältige Betreuung, sie über die ersten schweren Jahre hinweg zu bringen. Sie durften zum Beispiel möglichst nicht weinen, da dies ihr Gewicht vermindern konnte. Am Abend saß ich also zwischen ihren Bettchen und jeder hielt einen meiner Finger, bis sie eingeschlafen waren. Heinz, der ältere, nannte seinen Bruder Horst „Bua, Bua“, wohl weil er der jüngere Bruder war, und Horst seinen Bruder Heinz „Hachi“. Sie lernten früh sprechen und konnten sich gut beschäftigen. Erinnerungen an den Bruder 63 Horst konnte mit sechseinviertel Jahren zu Ostern 1926 eingeschult werden. Nach der schulärztlichen Untersuchung wurde meine Mutter zur Schule bestellt und ihr eröffnet, dass Horst der Schwächlichste von allen Schülern sei und etwas für ihn getan werden müsste. Der Lehrer ahnte ja nicht, was bereits alles für ihn getan worden war ... Mit acht Jahren wurde mein Bruder zur Kur in die Nordseeklinik auf Norderney geschickt. Dort infizierte er sich mit Scharlach und wurde isoliert betreut und verwöhnt. Nach der Genesung bat er, von den Schwestern weiter betreut zu werden und kam gut erholt zurück. Ein Vetter meines Vaters war Korvettenkapitän, daher interessierten wir uns alle für die Marine. So trat Horst in die Marinejugendabteilung des Marinevereins ein. Sie hatten einen vorzüglichen Jugendbetreuer, der die Jugend begeisterte. 1933 schenkte die Kriegsmarine ihnen einen alten Kutter, den Graf Luckner an Ostern auf seinen Namen taufte. Die Marinejugend wurde dann später Marine-Hitlerjugend und Marine-SA genannt, trug aber weiter die Marineuniform. Mit zehn Jahren fiel Horst durch die Prüfung für das Gymnasium, bestand aber die Prüfung für die Mittelschule, die er ab Ostern besuchte. Im nächsten Jahr bestand er die Prüfung für das Gymnasium dann doch noch. Ostern 1939 machte er sein Abitur. Dann wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Als er dort einmal ein Opernmotiv vor sich hin pfiff, sprach ihn ein Kamerad darauf an. Es war Rudolf Schock, der am Braunschweiger Staatstheater als Sänger tätig war, aber auch noch seinen Arbeitsdienst ableisten musste und nur zu den Proben und Aufführungen beurlaubt war. Im Sommer wurde mein Bruder zum Dienst in der Landwirtschaft abkommandiert und Mitte Oktober entlassen. Da er sich als Kriegsfreiwilliger bei der Marine gemeldet hatte, aber nach dem Arbeitsdienst nicht eingezogen wurde, hatte er die Möglichkeit, von November 1939 bis April 1940 bei der MIAG in Braunschweig die halbjährige Vorpraxis zum Studium des Schiffsbaus und anschließend ein Trimester an der TH Braunschweig zu belegen. Am 7. August 1940 erhielt er den Gestellungsbefehl zum „Seetransportchef zur besonderen Verwendung”, Paris. Dort erhielt er französisches Marinezeug und deutsche Marinedrillichanzüge – er war Zivilangestellter der Marine. Alles diente zur Vorbereitung für die Landung in England. Die Matrosen wohnten in einer Villa von Rothschild und lernten Paris kennen. 64 Erinnerungen an den Bruder Seinen Gestellungsbefehl zur Marine erhielt Horst am 15. Oktober 1940 in Paris. Am 9. November kam er nach Cuxhaven. Am 30. November 1940 war die Vereidigung und am 10. Januar 1941 erfolgte dann die Abkommandierung zur Marine-Flak. Leider bekam er keinen Weihnachtsurlaub, so dass er seinen Vater, der im April 1941 starb, nicht mehr sehen konnte. Das traf ihn sehr hart. Nach der Ausbildung kamen die Marineartilleristen am 8. Mai 1941 nach Gotenhafen und am 7. Juni 1941 nach Libau. Zusammen mit einem Kameraden nahm er Russischunterricht bei einer Baltendeutschen, besuchte auch andere baltendeutsche Familien und, wenn es möglich war, das Theater. Außerdem führte er in jenen Tagen einen lebhaften Briefwechsel. Am 20. August 1944 erhielten meine Mutter in Braunschweig und ich in Berlin die letzte Nachricht von ihm. Darin hieß es: „Vorübergehendes Kommando. Neue Feldpostnr. abwarten“. Da wir aber nie die neue Feldpostnummer erhielten, schrieb ich an seine alte Dienststelle. Darauf bekam ich vom Batteriechef die Kopie eines Schreibens, das an meine Mutter gegangen war, sie aber nie erreicht hatte. Darin hieß es, dass mein Bruder seit dem 24. August 1944 vermisst sei. Er war bei einer Kampfgruppe als Angehöriger der Marineflakabteilung 712 zum besonderen Einsatz in der Nähe des litauischen Dorfes Kruopiai, als das Dorf von starken russischen Kräften angegriffen wurde. Meine Mutter hat lange angenommen, ihr Sohn sei in einem Schweigelager in Russland. Leider muss ich annehmen, dass er beim Einsatz um das litauische Dorf Kruopiai gefallen ist. Als meine Mutter die Vermisstenmeldung meines Bruders erhielt, wollte und konnte sie nicht verstehen, dass ihr der zweite Zwilling auch noch genommen war. Wir erinnerten uns gemeinsam an den August 1944. Mutter war in Braunlage und als ich sie dort traf, erzählte sie mir, sie hätte so schwer von Horst geträumt. Da er am 24. August 1944 bei Kruopiai vermisst wurde, kann das seine Todesstunde gewesen sein. Denn wir haben nie mehr von ihm gehört. Erinnerungen an den Bruder 65 Harm-Wulf Greulich * 27. Juli 1923 = 13. Juli 1944 Kriegsgräberstätte Orglandes in der Normandie/Frankreich, Block 20, Reihe 7, Grab 239 Hermann Greulich (Vater) * 19. April 1886 = 29. März 1945 Von Elgin Loos Mein Vater Hermann Greulich, geboren am 19. April 1886, gefallen am 29. März 1945, fiel als Kompanieführer beim Volkssturm mit 59 Jahren bei der Verteidigung der Festung Glogau in Schlesien. Er ruht in einem Massengrab auf dem dortigen Garnisonsfriedhof, wie ich vom Volksbund erfuhr. Einst waren wir fünf in der Familie und wohnten in Glogau/Schlesien. Den Krieg überlebten nur drei, meine Mutter, meine Zwillingsschwester und ich. Mein Vater und mein Bruder fielen innerhalb eines Jahres. Von meinem Bruder Harm-Wulf will ich berichten. Er war zweieinhalb Jahre älter als wir Zwillinge. Wir verlebten eine glückliche und ungetrübte Kindheit in der Geborgenheit unserer Familie. 66 Erinnerungen an den Bruder Er war ein guter Schüler mit besonderer Begabung für Zeichnen und Musik, spielte Klavier und Akkordeon, sang viele Jahre im Kirchenchor. 1930 wurde er in die Evangelische Knabenvolksschule eingeschult und wechselte 1934 über auf das Evangelische Gymnasium, an dem er 1942 das Abitur ablegte. Er wollte Architektur studieren, um später die Nachfolge unseres Vaters anzutreten, der selbständiger Baumeister eines großen Baugeschäftes war. Unser Bruder malte und musizierte sehr gern und hatte noch ein weiteres Hobby: Eine Hühnerzucht, in der er reinrassige Hühner züchtete und die er ab seinem vierzehnten Lebensjahr eigenverantwortlich betreute. Wie die meisten jungen Männer damals wartete er nach dem Abitur voller Ungeduld auf seine Einberufung in die Wehrmacht. Er wollte für sein Vaterland kämpfen, im Glauben an eine gerechte Sache. Sein Wunsch war, Flugzeugführer werden. Dazu musste er sich in Dresden einer Tauglichkeitsprüfung unterziehen. Wegen eines leichten chronischen Augenleidens wurde er nicht genommen. Spontan bewarb er sich als Fallschirmjäger. In Stendal absolvierte er die Springerschule und trug von da an stolz das Sprungabzeichen an der Uniform. Er war ein begeisterter Soldat, kämpfte in Italien bei Monte Cassino, 1943 bei der Infanterie an der Ostfront. Nur zweimal bekam er einen kurzen Heimaturlaub. Die Familie stand in reger brieflicher Verbindung mit ihm. Unzählige Briefe und hundert Gramm schwere kleine Feldpostpäckchen gingen an seine Feldpostnummer. Seine Briefe waren voller Hoffnung und Zuversicht. Ausführlich malte er uns aus, was er nach Beendigung des Krieges, nach dem Endsieg, auf den wir total verblendet alle hofften, alles mit uns unternehmen wollte. Es waren Luftschlösser von einer friedlicheren, besseren Zeit. 1944 wurde seine Division nach Frankreich an die Landungsfront abkommandiert. Von dort kam, wenige Tage vor seinem Tod, sein letzter Brief, dessen Inhalt verzagt und niedergeschlagen klang. Er schrieb den Brief, in einem Panzerdeckungsloch kauernd bei strömenden Regen, war völlig durchnässt und hatte Hunger. Am 13. Juli 1944 ist er gefallen. Uns erreichte die Nachricht erst einige Wochen später. Ein „Amtswalter“ in brauner Uniform überbrachte sie. Da habe ich meinen Vater das erste Mal weinen sehen. Unsere Mutter war zu dieser Zeit zur Kur in Franzensbad. Auch sie und wir Schwestern versanken in tiefe Trauer, konnten den Verlust kaum fassen. Es gab keinen Adventskranz und keinen Christbaum in diesem Jahr. Dabei ahnten wir zu der Zeit nicht, dass wir bald auch unseren Vater Erinnerungen an den Bruder 67 und die Heimat und allen Besitz verlieren würden. Auf einem dramatischen Fluchtweg durch die Tschechei gelangten wir in die Niederlausitz, wo wir einige Jahre wohnten, bis wir 1953 nach Westdeutschland flüchteten. Hier bekam unsere Mutter wenigstens eine Kriegswitwenrente und ich zur Fortsetzung meines begonnenen Studiums für einige Monate eine Kriegswaisenrente. So lange unsere Mutter lebte, haben wir auf Nachforschungen nach dem Grab unseres Bruder verzichtet. Erst 1971 schrieb ich eine Anfrage nach Kassel und bekam in kürzester Zeit erschöpfende Auskunft über sein Grab auf dem Soldatenfriedhof in Orglandes in der Normandie. Im November 1971 fuhren wir zum ersten Mal dorthin. Die Glocken der nahen Dorfkirche läuteten, als wir tief bewegt am Grab unseres Bruders standen. Meine Sohn war damals neun Jahre alt. Er kauerte vor dem Kreuz seines Onkels Wulf, von dem wir so oft erzählt hatten, und malte es ab. Die Anlage des Friedhofes passt sich in optimaler Weise in die Landschaft der Normandie ein. Obwohl Orglandes 1 200 Kilometer von unserem Wohnort entfernt ist, waren wir mehrmals dort und sind dankbar, dass der Friedhof so gut betreut wird. Zuletzt besuchten meine Schwester und ich das Grab im Juli 1994 zum 50. Todestag unseres Bruders. Wir wohnten in Saint-Lo und gingen durch die Innenstadt, standen erschüttert vor der nur noch zum Teil erhaltenen Kathedrale. Dabei kam uns zum Bewusstsein, welches Ausmaß an Opfern gerade in der Normandie von der Zivilbevölkerung bei den Kämpfen gefordert wurde. Alles, was wir unseren Kindern und Enkeln eindringlichst weitergeben, lässt sich in drei Worten sagen: Nie wieder Krieg! Darüber hinaus wollen wir die Erinnerung an unsere gefallenen Angehörigen wach halten und von Generation zu Generation weitergeben. Heute ist mein Sohn 37 Jahre alt und hat selbst zwei Kinder. Welche Freude empfand ich, dass er 1996 das Grab seines Onkels mit seiner Familie besuchte. Sein eineinhalb Jahre alter Jonathan konnte damals noch nicht verstehen, hinter welchem Kreuz er stand. Aber heute weiß er es wohl dank unseres Erzählens. So wird das Andenken an unsere lieben Toten wachgehalten. 68 Erinnerungen an den Bruder Heinz Franz Hermann Kirchner * 28. Februar 1921 in Duisburg = 7. November 1945 bei Flamizoule Kriegsgräberstätte Recogne-Bastogne/Belgien, Block 8, Nr. 77 Von Inge Kievelitz Ihre Idee finde ich großartig. Anbei sende ich Ihnen die wichtigsten Fakten über meinen Bruder. Größe: 1,74 Meter, Haarfarbe mittelblond, Augenfarbe blau – er trug eine Brille. Eigenschaften: gutmütig, sportlich, freundlich. Das machte ihm Freude: Radtouren mit seinem Freund und Cousin Konrad, der in Düsseldorf wohnte. In sechs Tagen mit dem Rad bis Trier und zurück. Am ersten Tag schafften sie 162 Kilometer, danach so zwischen 75 und 108 Kilometer. Übernachtet wurde in einer Jugendherberge, wenn die besetzt war, in einer Scheune oder einem Kloster, auch schon mal in einem Heuschuppen. Die Räder waren schwer beladen mit Proviant. An Konrads Geburtstag leisteten sie sich eine Flasche Wein. Gewaschen haben sie sich in der Mosel oder einem Bach. Er schrieb von Stürzen und heiß gefahrenen Rücktrittsbremsen. Auf jeden Fall hatten sie viel Spaß, und gesehen haben sie auch etwas. Gern erinnere ich mich an unsere Besuche im Freibad. Es war ziemlich weit, und so fuhren wir mit einem Rad. Ich besaß keines und saß daher auf dem Gepäckträger auf den Badesachen. Heinz passte auf Polizisten auf, denn es war verboten Kinder über sechs Jahre auf dem Gepäckträger mitzunehmen. Kam ein Polizist, musste ich abspringen. Mein Bruder fuhr langsam, ich lief sportlich nebenher, bis unser Gegner außer Sicht war. Dann stieg ich wieder auf, und weiter ging es. Oft konnten wir auch ungehindert durchfahren. Wir hatten unseren Spaß dabei, und es erhöhte den Reiz des Unternehmens. Unsere Eltern erfuhren nichts, denn wir wurden nie erwischt. Die Polizisten hatten selten ein Rad bei sich und wogen meistens mehr als wir beide zusammen. Mein Bruder Heinz wurde am 28. Februar 1921 in Duisburg-Meiderich geboren. Die Familie wohnte zuerst in einem Häuschen im Stadtpark und dann auf der Gabelsberger Straße neben der Stadtgärtnerei, wo der Vater arbeitete. Im April 1927 kam Heinz zur Volksschule. Er erkrankte Erinnerungen an den Bruder 69 lebensgefährlich an Diphterie, Scharlach und eitriger Mittelohrentzündung und lag lange im Krankenhaus. 1932 zog die Familie nach Duisburg-Wanheimerort, im Süden der Stadt, wo der Vater einen anderen Arbeitsbereich übernommen hatte. Heinz besuchte hier die Mittelschule, die er mit der Mittleren Reife abschloss. Danach begann er eine Ausbildung als Verwaltungskaufmann bei der Stadt Duisburg. 1940 war diese beendet. Er war nun Inspektoranwärter und auf dem Standesamt Duisburg-Süd tätig, was ihm sehr zusagte. Im November musste er zum Arbeitsdienst nach Bad Zwischenahn in Oldenburg. Dort wurde draußen auf dem Lande gearbeitet. Im März 1941 kam er wieder nach Hause und konnte noch kurze Zeit in seinem Beruf arbeiten. Am 5. Mai wurde Heinz zur Wehrmacht einberufen und kam zu einer Sanitätsausbildungsabteilung der Luftwaffe nach Bonn-Venusberg. Am 15. Juli wurde diese nach Essen-Kupferdreh verlegt. Das war nicht weit von zu Hause, und er konnte mit dem „Kleinen Urlaubsschein“ schon mal Eltern und Schwester in Duisburg besuchen. Am 24. Dezember 1941 war er bei uns, am ersten Weihnachtstag und an Silvester auch. In der letzten Maiwoche 1942 wurde er, für uns ganz plötzlich, nach Russland abkommandiert. Dort wurde Heinz auf verschiedenen Flugplätzen als Sanitäter eingesetzt, mal im Norden, im Mittelabschnitt oder im Süden Russlands. Zu Weihnachten 1942 hatte er Heimaturlaub. Im Januar/Februar 1944 gab es noch einmal Urlaub. Im August kam das Geschwader (Legion Condor) nach Deutschland und wurde teilweise aufgelöst. Da die Luftwaffe kaum noch Benzin zum Fliegen hatte, wurden die Soldaten auf andere Einheiten verteilt. Auch Heinz landete bei verschiedenen Einheiten, diese wurden mit der Eisenbahn hin- und her transportiert. Er schrieb immer wenn er Gelegenheit hatte, einen Brief einzuwerfen. Die Post von zu Hause hat ihn wohl selten erreicht, wenn überhaupt. Im Dezember war er in der Nähe, in Mönchengladbach. Der letzte Brief war vom 25. Dezember 1944. Da muss er schon in der Nähe der Kampfhandlungen gewesen sein. Danach kam nichts mehr. Er fiel am 7. Januar 1945 bei Flamizoule im Raum Bastogne und ruht heute auf der deutschen Kriegsgräberstätte Recogne-Bastogne. Seit der Einweihung 1960 sind wir jedes Jahr dorthin gefahren. Bis 1980 fuhr ich mit meinen Eltern, danach fuhr mein Sohn mit mir. Dem Volksbund Dank für alle Mühe und sein Engagement. 70 Erinnerungen an den Bruder Jakob Robert Heigert * 7. Juni 1921 = 17. August 1942 Von Katharina Lautz Er war Bombenschütze eines Sturzkampfbombers (Ju 88) im Kampfgeschwader „Hindenburg“. Todesursache: Russischer Flakvolltreffer. Was kann ich über meinen gefallenen Bruder Jakob sagen oder schreiben? Er hat kein Grab! Die Maschine ist restlos verbrannt! Da kann kein Knochen übrig sein! Absturzstelle ist Kolodedesi, westlich von Orel. Sein letzter Brief war vom 14. August 1942 mit Stempel vom 17. August 1942 (Königsberg). Er schrieb: „Wir werden siegen, und wo gehobelt wird, da fallen Späne, und für Großdeutschland zu sterben, dafür lohnt es sich schon.“ Persönliche Merkmale: Jakob war ein fröhlicher Mensch, 1,75 Meter groß, dunkelblond und hatte braune Augen. Er war Hitlerjunge und begeisterter Segelflieger. Lebenslauf: Er machte eine Lehre des Sattler- und Tapezierer-Handwerks, der Gesellenbrief ist vom 1. Oktober 1938. Ab dem 2. Oktober 1938 arbeitete Jakob in Mainz-Mombach in der Westwaggonfabrik bis Erinnerungen an den Bruder 71 zum 17. September 1939. Hier wurden Omnibusse hergestellt, er polsterte Sitze. Wir waren fünf Geschwister, drei Jungen, Jakob, Franz und Georg, und zwei Schwestern, Katharina und Annemarie. Alle sind tot, nur ich, seit drei Jahren Witwe und 100-prozentig schwerbehindert, bin übrig geblieben, heute 76 Jahre alt. Erinnerungen: Wenn ein Fest in unserem Ort war, gewann mein Bruder Jakob immer bei der Tombola. Peter, Willi und Jakob waren Freunde und alle sind gefallen im Krieg. Wenn mein Bruder ausging, kam er erst morgens heim. Dann sagte er immer zu unseren Eltern: „Anständige Leute kommen am Tag heim“. Lustiges Erlebnis: Sein letzter Urlaub war Ostern 1942. Wir waren zu dritt, er mit seiner Braut Käthi und ich. Wir speisten gemeinsam im benachbarten Gasthaus und es fiel ihm seine Gabel auf den Boden. Da setzte er sich aus Spaß auf den Boden und aß dort weiter. Seinen Abschied werde ich nie vergessen, wir wohnten in Bahnhofsnähe und wir gingen beide gemeinsam dort hin. Unterwegs rannte ich noch schnell heim und holte sein Feuerzeug, das er vergessen hatte. Als wir uns auf Wiedersehen sagten, war seine Gesichtsfarbe kalkweiß. Er muss seinen Tod geahnt haben. Als Kleinkind war mein Bruder schwer krank, lag im Krankenhaus mit Lungen- und Rippenfellentzündung und weil er vor Heimweh nichts aß, nahm ihn mein Vater mit nach Hause und sagte: „Wenn der Bub stirbt, dann sterbe ich auch.” Als wir am 3. September 1942 die Todesnachricht bekamen, starb Vater sechs Tage später, am 9. September 1942. Weitere Erinnerungen: Zuerst war Jakob in Stendal, er wollte Fallschirmspringer werden. Wegen einer Blinddarm-Operationsnarbe wurde er heimgeschickt. Danach war er in der Fliegerschützenschule Rahmel über Gotenhafen – Warschau – Oslo. Sein Flugbuch befindet sich in meinem Besitz. Es begann am 19. September 1941 und endete mit Eintragungen am 16. August 1942. Flug 29 – rechter Motor zerschossen, 7. August 1942. Frontflug 38 – rechter Motor ausgefallen, Flugdauer 92 Minuten 10. August 1942. Jakob bekam am 23. Mai 1942 die Frontflugspange in Bronze, am 18. Juli die Frontflugspange in Silber. Am 18. Juni 1942 das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Nach seinem Tod am 31. August 1942 wurde ihm das 72 Erinnerungen an den Bruder Eiserne Kreuz 1. Klasse verliehen. Sein Eigentum, Koffer, FliegerSchirmmütze und Fliegerdolch, wurde uns zugeschickt. Im Frühjahr 1999 beauftragte ich den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes mit der Nachforschung nach seinem Verbleib. Am 21. September 1999 bekam ich ein Schreiben der Deutschen Dienststelle in Berlin. Nach den dortigen Unterlagen gilt er seit dem 17. August 1942 in der ehemaligen Sowjetunion als vermisst. Nun sind 60 Jahre vergangen, aber die Trauer über seinen schrecklichen Tod vergeht nicht. Jakob ist unvergessen. Ich habe aber immer noch die Hoffnung, dass seine Erkennungsmarke gefunden wird. Russland, 19.8.42 Sehr geehrter Herr Heigert! Ein ernster Anlass zwingt mich leider, Ihnen zu schreiben. Ihr Sohn, der Gefreite Jakob Heigert, ist am 17. August getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland gefallen. Die Staffel war an diesem Tag zur Unterstützung des Heeres nordwestlich Orel eingesetzt. Ihr Sohn flog in der Maschine von Leutnant Seefried. Sie wurde bei einem Angriff auf stark besetzte russische Stellungen von russischer Flak abgeschossen, kurz nachdem sie ihre Bomben geworfen hatte, die als Volltreffer in die russischen Stellungen einschlugen. Die Maschine schlug etwa drei km jenseits der eigenen Linien brennend auf und verbrannte restlos. Es ist nicht anzunehmen, dass es einem Besatzungsmitglied geglückt ist, sich zu retten, die Besatzung wurde wohl durch den Aufschlag getötet. Die Gruppe hat Verbindung mit den Heeresteilen aufgenommen, die in der Nähe der Aufschlagstelle lagen, um Näheres zu erfahren, die Aufschlagstelle ist inzwischen in eigene Hand gefallen. Sie erhalten sofort Nachricht von dem, was ich über das Schicksal, gegebenenfalls Grablage usw. erfahre. Eine Kartenskizze der Aufschlagstelle liegt bei. Ihr Sohn, der Gefreite Heigert, hat sich während der kurzen Zeit, die er der Staffel angehörte, als tapferer Soldat und stets aufrechter guter Kamerad erwiesen, seine Besatzung versprach eine der besten zu werden. Noch zwei Tage vor seinem Tode war Ihr Sohn wegen seiner tapferen Pflichterfüllung zum E. K. I eingereicht worden. Die Staffel wird ihn und seine mit ihm gefallenen Kameraden stets in ehrendem Gedenken behalten. Die Staffel trauert mit Ihnen und Ihrer Familie um den schweren Verlust, den Sie, Ihre Frau und Ihre Angehörigen erlitten haben. Möge es Ihnen aber ein Trost sein, dass Ihr Sohn nicht umsonst gefallen sein wird, denn Erinnerungen an den Bruder 73 dieser Krieg wird siegreich für Deutschland beendet. Ihr Sohn hat durch sein Opfer aber den Sieg ermöglicht. Ich bitte Sie, mir den Empfang dieses Schreibens kurz zu bestätigen. Für Anfragen stehe ich gern zur Verfügung. Das Privateigentum Ihres Sohnes wird Ihnen, sobald es die Umstände zulassen, zugesandt. In tiefen und aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie, sehr geehrter Herr Heigert, und Ihre Frau Gemahlin mit Heil Hitler! Ihr ergebener Karl Gebhardt Oberleutnant Russland, den 5.9.42 Sehr geehrter Herr Heigert! Nach längerer Wartezeit kann ich Ihnen leider noch nichts genaues, amtliches über das Schicksal der Besatzung Ihres Sohnes mitteilen. Die Aufschlagstelle fiel wohl in deutsche Hand, doch wurde sie nach kurzer Zeit wieder von den deutschen Truppen geräumt. Die Besatzung und damit Ihr Sohn gelten daher als vermisst, doch will ich bei Ihnen mit diesem Wort keine unnützen Hoffnungen wecken, ich glaube, dass es in Ihrem Sinn ist. Nach mehreren übereinstimmenden Beobachtungen stürzte das Flugzeug jenseits der Linien nach einem Flakvolltreffer ab und verbrannte nach dem Aufschlag. Fallschirmabsprung wurde nicht beobachtet. Es ist daher mit allergrößter Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Besatzung einen kurzen und schnellen Tod beim Aufschlag gefunden hat. Falls Sie den Wunsch haben, mit den Angehörigen der Kameraden Ihres Sohnes in Verbindung zu treten, lege ich Ihnen deren Adressen bei. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen keine bessere Nachricht zukommen lassen kann. Ich versichere Sie nochmals des Mitgefühls der ganzen Staffel, die um einen guten und aufrichtigen Kameraden trauert. In tiefen und aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie, sehr geehrter Herr Heigert, mit deutschem Gruß. Heil Hitler! Ihr ergebener Karl Gebhardt Hauptmann 74 Erinnerungen an den Bruder Gerhard Willy Renz * 12. Dezember 1914 in Plauen = 21. Mai 1940 in Chemery/Frankreich Kriegsgräberstätte Noyers-Pont-Maugis/Frankreich Block 2, Grab 2120 Von Irmgard Karl Mein unvergessener Bruder Gerhard verlor sein Leben bei einem Spähtrupp in Frankreich, kurz vor Kriegsende bei Chemery. Von dieser Nachricht erholten sich meine Eltern nicht mehr. Sein Beruf war Friseur, später arbeitete er in der Schiffswerft von Wismar. Er war sehr musikalisch und bei der Wehrmacht im Spielmannszug. Wir waren sechs Geschwister, fünf Mädchen, Gerhard als einziger Junge wurde von der Familie sehr verwöhnt. Wir verbrachten eine schöne Jugendzeit im Elternhaus mit großem Garten. Mein Vater war ein sehr guter Zeichner und Maler, er arbeitete als Theatermaler für die Bühnenbilder im Plauener Theater. Er wurde dienstverpflichtet, als das Theater wegen des Krieges geschlossen wurde. Er kam bei einem Bombenangriff auf Plauen ums Leben! Meine Mutter starb vor Kummer. Wir Schwestern waren ausgebombt – keine Wohnung. Zum Glück waren wir und unsere Kinder noch am Leben. So trafen wir alle wieder im Elternhaus zusammen, das den Krieg überstanden hatte. Unsere Erinnerungen an den Bruder 75 Männer kehrten bis auf einen, der vermisst gemeldet wurde, zurück. Von unserer großen Familie sind nur noch meine jüngere Schwester und ich am Leben, wie lange, weiß nur Gott! Mein Bruder war 1,80 Meter groß, hatte braunes Haar, braune Augen, war sehr hübsch, lustig und witzig! Ich kann nur mit Goethe sagen: Er war edel, hilfreich und gut! Er war ein liebenswerter, hoffnungsvoller junger Mann, wollte heiraten und Kinder haben. Seine Braut trug schwer an der Nachricht über seinen Tod. Aber so ein Schicksal traf Millionen. Nie wieder Krieg! Ich glaube er wurde auf einen Soldatenfriedhof umgebettet, aber wo in Frankreich, das weiß ich nicht. Es würde mich freuen, wenn Sie mir darüber eine Antwort senden könnten. 76 Erinnerungen an den Bruder Hans Arnold Zaeske * 27. Juni 1916 = 21. Oktober 1944 Kriegsgräberstätte Costermano/Italien Block 6, Grab 1146 Wolfgang Zaeske * 7. November 1926 = 9. September 1944 Kriegsgräberstätte Lommel/Belgien Block 52, Grab 366 Von Gisela Meichelböck Hans Arnold war immer voller Ideen, wie Indianerlager im Wald, Schülerzeitung, Zirkusvorstellungen oder Geld verdienen durch Einkaufen für ältere Leute. Immer war ein ganzer Schwarm Kinder, meist Jungen aller Altersstufen um ihn herum. Von der Schule war er nicht so sehr begeistert, aber er schaffte doch acht Klassen Gymnasium. Danach war er kaufmännischer Lehrling bei der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft (Standardöl). Erinnerungen an den Bruder 77 Nach etwa einem Jahr war bei ihm der Entschluss gereift, das Abitur nachzumachen und Offizier zu werden. Mit Hilfe meines Vaters (Mathe und Naturwissenschaften) und meiner Mutter (Sprachen) schaffte er es sehr bald und gut. Die Frist für seine Bewerbung als Offizier war aber abgelaufen, so musste er den längeren und schwierigeren Weg gehen und sich vom untersten Mannschaftsgrad an bewähren. Er schaffte auch das und kam 1939 auf die Kriegsschule nach Dresden. Da er immer sehr sportlich war, wurde er ausgewählt, an der Olympiade 1940 teilzunehmen, aber es kam der Krieg dazwischen und Hans Arnold war vom ersten Tag an mit dabei, zuerst in Polen, dann in Frankreich und in Russland. Unter Guderian erlebte er den kalten russischen Winter und bekam eine schwere Gelbsucht. Er war inzwischen Hauptmann geworden und hatte immer ein sehr gutes Einvernehmen mit seinen Leuten. Als Letzter ging er in Urlaub, kümmerte sich um jeden seiner Männer und schrieb persönlich an die Angehörigen. Er war bei seinen Leuten sehr beliebt. Nachdem seine Einheit in Orel völlig aufgerieben wurde, kam er nach Italien. Hier wurde die Einheit neu zusammengestellt, mein Bruder wurde zurück an den Gardasee abkommandiert, weil er den ganzen Krieg an vorderster Front gewesen war. Es fiel ihm sehr schwer, von seiner Einheit fort zu müssen, er schrieb es uns mehrmals, wie schwer ihm dieses Kommando fiel. Er wollte nicht weg von seinen Männern und umgekehrt war es dasselbe, seine Männer unterschrieben einen Brief mit: „Die trauernden Hinterbliebenen“. Hans Arnold hatte am 17. November 1943 geheiratet, es war eine sehr schöne Kriegstrauung gewesen. Auf dem Weg zum Gardasee stürzte ein Panzer um und begrub meinen Bruder unter sich. Er war sofort tot. Es war am 21. Oktober 1944, vier Monate später kam seine Tochter auf die Welt. Nun möchte ich noch von meinem kleinen Bruder Wolfgang erzählen, geboren am 7. November 1926. Er war zwar größer als ich, er blieb aber der „Kleine“, denn er war sieben Jahre jünger als ich. Wir verstanden uns sehr gut, auch seine Freunde mochten und akzeptierten mich, was sonst bei älteren Schwestern nicht so oft vorkommt. Ich war ja nur mit Jungen groß geworden und allen ein guter Kamerad und Kumpel. 78 Erinnerungen an den Bruder Wolfi war von klein auf sehr beliebt durch seine Kameradschaftlichkeit und Hilfsbereitschaft. Er war ein begeisterter Segelflieger, hatte mit sechzehn Jahren schon alle drei Segelflugscheine, A, B und C und war im Januar 1944 in Erding, um den Motorflugschein zu bekommen. Im Sommer 1943 machten wir eine Radtour ins Allgäu. Da stürzte er vor meinen Augen mit einem Felsbrocken den steilen Abhang hinunter und blieb knapp vor dem Abgrund liegen, gebremst nur durch einen kleinen hervorstehenden Felsen. Unten hörte man die Felsbrocken aufschlagen. Uns beiden zitterten die Knie und eine Stunde konnten wir nicht weiter. Er hatte einen Schutzengel, seine Zeit war noch nicht um. Als der Krieg ausbrach, war Wolfgang zwölf Jahre alt und mein Vater tröstete meine Mutter mit den Worten: „Wir haben ja noch den Kleinen, er muss nicht hinaus.“ Das war ein Irrtum. Als sein Jahrgang dran war, meldete er sich freiwillig zu den Fliegern. Er war groß, blond und blauäugig und es bestand die Möglichkeit, dass er zur Waffen-SS eingezogen würde wie zwei andere aus seiner Klasse. Aber er wollte nur zu den Fliegern. Als sich mein Bruder Hans Arnold nach der Hochzeit im November 1943 verabschiedete, um wieder an die Front zu fahren, stand Wolfi lange am Gartentor und weinte bitterlich. Auf unsere Fragen nach dem Grund schüttelte er nur mit dem Kopf, sagte dann aber: „Wir gehen auseinander, geben uns die Hand, sagen auf Wiedersehen und wir sehen uns nie wieder.“ Und so war es auch, Wolfgang ging im April 1944 und fiel am 8. September 1944 in einer Regennacht, als er Wache hatte, an der Kanalbrücke Aart, am Maas-Schelde-Kanal zwischen Geel und Casterke durch eine Handgranate, 17-jährig. Er wurde von Engländern begraben. Ein Kamerad von Wolfi hat uns später alles erzählt. Wolfis letzte Post, mit dem einzigen Foto in Uniform von ihm, kam zum 31. August zum Geburtstag meiner Mutter. Er schrieb darin unter anderem, jetzt wisse er, was es bedeute, so einen guten Vorgesetzten zu haben wie sein Bruder es sei. Wir hatten immer zweistimmig zusammen gesungen und gepfiffen. Als er im April 1944 nach Nagold eingezogen wurde und er sich verabschiedete, fragte ich: „Und wer singt jetzt mit mir?“ Er antwortete: „Ich komm ja wieder.“ Er kam aber nicht wieder. Erinnerungen an den Bruder 79 Hans Arnold schrieb am 9. September 1944 an seine Frau, sein Kamerad der 1. Kompanie sei gefallen, aber ihm sei es so, als wäre heute sein Bruder gefallen. Wenn er fallen würde, solle man nichts schreiben von Gottes unerforschlichem Ratschluss, sondern er würde sterben getreu seiner Pflicht. Der Kommandeur von Hans Arnold ließ ihn zu seiner Einheit zurückbringen und er wurde mit allen Ehren begraben, es war ein großes Begräbnis mit Kameraden und Offizieren, mit Ansprachen und Gesang. Lange wussten wir nichts von Wolfi, bis dann die Nachricht kam, dass er gefunden und in Lommel beigesetzt wurde. Hans Arnold liegt in Costermano. Meine Mutter starb vier Jahre später, wohl an Herzeleid. Mit meinem Vater und mit meinem Mann und den Kindern waren wir oft an beiden Gräbern und ich nahm selbstgebundene Kränze mit. Meine Brüder sind unvergessen und oft habe ich Sehnsucht nach ihnen. 80 Erinnerungen an den Bruder Hermann Wilkens * 12. Februar 1924 in Papenburg/Ems Vermisst seit 9. Mai 1944 bei Sewastopol auf der Krim Gerhard Wilkens * 18. November 1920 = 15. November 1943 bei Godinkowa Beigesetzt in Worony an der Rollbahn Witebsk – Smolensk Von Paula Korte Ihre Aktion „Erinnerung“ hat mich ermutigt, über meinen gefallenen Bruder Gerhard Wilkens, geboren am 18. November 1920 in Papenburg, gefallen am 15. November 1943 in Godinkowa, bestattet in Worony an der Rollbahn Witebsk-Smolensk und über meinen vermissten Bruder Hermann Wilkens, geboren am 12. Februar 1924 in Papenburg, vermisst am 9. Mai 1944 in Sewastopol/Krim, einige Unterlagen beizufügen. Erinnerungen an den Bruder 81 O.U., den 16. Juni 1944 Sehr verehrter Herr Wilkens! Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn Hermann seit dem Einsatz um Sewastopol vermisst wird. Er wurde zuletzt am 9. Mai 1944 in der Nähe des Ölberges bei der Festung Sewastopol gesehen und ist seitdem zu seiner Kompanie nicht zurückgekehrt. Die von hier aus angestellten Nachforschungen haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Betrachten Sie, verehrter Herr Wilkens, diese Nachricht nicht als endgültig. Es besteht die Möglichkeit, dass Ihr Sohn während der schweren Kämpfe um Sewastopol krank oder verwundet in ein Feldlazarett überführt worden ist. Falls Sie also aus einem Lazarett eine Nachricht erhalten haben, betrachten Sie meine Mitteilung bitte als erledigt. Ich wäre Ihnen in diesem Falle für eine Nachricht dankbar. Ich und alle Kameraden Ihres Sohnes gedenken Ihrer und Ihrer Familie in herzlicher Anteilnahme, die Sie die schwere Last der Ungewissheit über den Verbleib Ihres Sohnes zu tragen haben. Mit Ihnen hoffen wir, dass er noch lebt und Ihnen erhalten bleiben möge. Die Bedeutung des Opfers der von der Krim nicht mehr zurückgekehrten Kameraden liegt darin, dass sie in entscheidenden Wochen des Krieges dem Ansturm zahlenmäßig weit überlegener Feindkräfte tapfer standhielten und so deren Einsatz an anderen entscheidenden Abschnitten der Ostfront unmöglich machten. Sie schützten so die Heimat an entscheidender Stelle. Möge Ihnen, verehrter Herr Wilkens, die Gewißheit, dass Ihr Sohn sich im Entscheidungskampf um Großdeutschlands Sieg und Zukunft getreu seinem Fahneneide als tapferer Soldat mit dem Leben eingesetzt hat, helfen, die schwere Last zu tragen, die Ihnen das Schicksal auferlegt hat. In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie (L. S.) gez. Martin Ohlbrecht, Leutnant und Kompanieführer Feldp. Nr. 16084 D Oblt. Peters d. 23.11.43. Sehr geehrter Herr Wilkens! Ich habe die traurige und auch für Sie überaus schmerzliche Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Sohn, der San. Obergefreite Gerhard Wilkens am 15.11.43 gefallen ist. Seit dem 9.11. stand das Batl. an der Rollbahn Witebsk – Smolensk in schwerem Abwehrkampf und hatte unter beständig schwerem Beschuss fast 82 Erinnerungen an den Bruder täglich Angriffe abzuwehren. Am 15.11. griff der Russe besonders heftig an, so dass die Komp. erhebliche Ausfälle hatte. Als Ihr Sohn einen Schwerverwundeten versorgen wollte und sich dazu aus dem Wald heraus auf eine freie Pläne begab und kriechend schon fast bis zu dem Verwundeten herangekommen war, erhielt er einen Kopfschuss und war sofort tot. Ich weiß, dass Worte bei der Schwere des Verlustes, der Sie betroffen hat, wenig zu sagen vermögen. Es mag aber Ihnen und den Ihren in Ihrem Schmerz ein Trost sein die Gewissheit, dass auch wir wenigen Überlebenden um einen lieben und allseitig beliebten Kameraden trauern, der in stiller, unermüdlicher Pflichterfüllung im Dienst für seine verwundeten Kameraden das Höchste gegeben hat, was er einzusetzen hatte, sein Leben. Immer in meiner Nähe habe ich ihn besonders gern gehabt und ich sehe noch seine stolze Freude, als ich ihm einige Tage vorher das EK II an die Brust heften konnte. Dass sein und aller unser Toten Opfer nicht umsonst war, dafür haben wir nun einzustehen, wir Lebenden. Zusammen mit seinen toten Kameraden haben wir ihn am 16.11. in Worony an der Rollbahn Witebsk – Smolensk mit militärischen Ehren zur letzten Ruhe bestattet. Er wird bei uns, in seiner Kompanie, in der er sich wohl fühlte und der er seinen unermüdlichen Arbeitseifer schenkte, unvergessen sein! In aufrichtigstem Mitgefühl grüße ich Sie und die Ihren. Ihr gez. J. Peters, Oblt. und Komp. Chef Erinnerungen an den Bruder 83 Helmut Peitz * 27. Januar 1926 in Duisburg = Anfang Mai 1945 südlich von Berlin Kriegsgräberstätte Halbe/Deutschland Block 3, Reihe 3, Grab 367 Von Lydia Littek Er war 1,94 Meter groß, blond und hatte blaue Augen. Von uns zehn Geschwistern war er der Zweite. Er spielte Geige. Nach der mittleren Reife machte er eine Ausbildung bei den Ausbesserungswerken der Reichsbahn in Duisburg-Wedau. Im September 1944 wurde er zum Wehrmacht-Ertüchtigungslager einberufen. Dort verunglückte er auf einem Lastwagen und lag bis März 1945 in Andernach im Lazarett. Mitte März 1945 stand er bei Mutter vor der Tür, in Oberhessen. Dahin war sie mit den jüngeren Geschwistern evakuiert worden. Helmut ging noch an einer Krücke, hatte sich aber „frontdienstverwendungsfähig“ schreiben lassen. Als die Mutter fragte: „Helmut, denkst du, das geht noch gut?“, da hat er gesagt: „Mutter, warte mal ab, wenn die neuen Waffen eingesetzt werden. Außerdem ist Vater in Duisburg, und da schießen die Amis schon hinein. Jetzt wird jeder gebraucht.“ Er hatte einen Gestellungsbefehl nach Frankfurt an der Oder. Tagsüber fuhr kein Zug, sie wurden alle beschossen. Ich brachte ihn abends zum Bahnhof im nächsten Ort und trug sein Gewehr. Seine letzten Worte an mich waren: „Wenn ich nicht wiederkomme, tröste du die Mutter.“ Er war ein liebenswerter Bruder, aufmerksam und hilfsbereit. Meine Mutter hat oft gesagt: „Hätte ich ihn doch festgehalten und versteckt.“ Denn einige Tage später waren die Amis da, und der Krieg war vorbei! Erst im September 1972 erhielt mein Vater die Nachricht von seinem Tod, 27 Jahre später! Bis dahin galt er als vermisst. Meine Mutter, die täglich auf eine Nachricht wartete, erfuhr es nicht mehr. Sie starb 1960. Dabei waren sein Name und die Nummer seiner Erkennungsmarke die ganze Zeit im Kirchenregister von Halbe eingetragen gewesen. 84 Erinnerungen an den Bruder Heinz-Wilhelm (Willi) Henk * 27. März 1921 = 22. August 1941 in Russland Robert Henk * 9. Oktober 1923 Vermisst seit April 1944 in Russland Von Margarete Strickhausen Meine beiden Brüder hingen sehr aneinander. Willi war für den jüngeren Bruder Robert stets ein Vorbild und wurde von ihm besonders geliebt. Ich war die Jüngste, und wir drei verlebten in unserem Elternhaus, einem idyllisch gelegenen alten Fachwerkhaus, eine unbeschwerte Jugend. Ich erinnere mich gerne an schöne Spaziergänge mit den Eltern, an Schwimmen und Drachensteigenlassen im Sommer. Einmal hatten meine Brüder ihren roten Drachen an einer langen Schnur im Kirschbaum festgebunden, und wir konnten ihn vom Sportplatz aus sehen. Im Winter waren sie oft mit den Skiern unterwegs und wir waren manchmal in Sorge, wenn sie erst bei Dunkelheit nach Hause kamen. Bei uns zu Hause wurde viel gesungen und musiziert. Beide Jungen spielten Schifferklavier und Mundharmonika. Robert hatte eine schöne Stimme. Ich erinnere mich, dass er als Schüler bei einer Weihnachtsfeier in der Kirche „Der Mond ist aufgegangen“ sang – nie höre ich dieses Lied, ohne an ihn zu denken. Willi absolvierte eine Lehre bei der Spar- und Darlehenskasse und Robert eine kaufmännische Lehre bei einer Holz verarbeitenden Firma, beide mit gutem Abschluss. Es sah für unsere Familie alles ganz hoffnungsfroh aus, aber es kam der Krieg. Unseren Vater erfüllte dies von Anfang an mit großer Sorge und Zweifel. Er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht und zwei Brüder verloren. Willi wurde am 21. August 1940 zum Arbeitsdienst und nach wenigen Tagen zu Hause zur Panzerdivision nach Büdingen eingezogen. Zur Beerdigung unserer Großmutter am 14. April 1941 erhielt Willi Urlaub, Erinnerungen an den Bruder 85 Willi und Robert als Kinder Robert Henk Willi Henk 86 Erinnerungen an den Bruder und so sahen wir ihn Ostern zum ersten Mal als Soldat und zugleich zum letzten Mal. Ihr plötzlicher Tod bewahrte unsere Großmutter davor, zu erleben, dass ihre vier Enkelsöhne – meine beiden Brüder und meine zwei Vetter – aus Russland nicht zurückkamen. Willis Truppe wurde Anfang Juni nach Thüringen verlegt. Dort verlebten die jungen Soldaten noch einige unbeschwerte Tage. Von dort ging es zum Einsatz zur litauischen Grenze. Wir erhielten sechs kurze Feldpostbriefe von ihm, auch er erhielt Post und kleine Päckchen von zu Hause. Dann hörten wir nichts mehr. Nach langem bangem Warten erhielten wir dann in einen Feldpostbrief seiner Einheit die Nachricht, dass Willi am 22. August 1941 beim Angriff auf Welikije Luki beim Dorf Tichonowa gefallen sei. Die Todesnachricht traf uns alle schwer, besonders Robert, der erst abends spät nach Hause kam. Als ich ihn weinend in seinem Zimmer traf und ihn zu trösten versuchte, sagte er: „Aber ich sehe ihn doch nie wieder“. Erschüttert hat mich auch der Ausspruch unserer Mutter: „Wenn morgens über dem Höllscheid die Sonne aufgeht, muss ich immer denken, sie hat dem Jungen schon auf sein Grab geschienen.“ Am 7. Oktober 1941 wurde Robert dann zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und kam von dort nach einem Jahr zur Wehrmacht. Bis zum November 1943 arbeitete er auf der Schreibstube, danach wurde er nach Radom/Polen abgestellt. Ende Februar 1944 kam er von dort unverhofft für einen Tag und eine Nacht nach Hause und besuchte alle Verwandten und Bekannten. Zu einer Tante von uns sagte er: „Ich musste noch mal nach Hause, es konnte gehen wie es wollte.“ Vielleicht hat er von dem bevorstehenden Einsatz gewusst, denn am 9. März 1944 ging es nach Tarnopol. Die Stadt wurde von russischen Truppen eingeschlossen. Nach schweren Kämpfen und in hoffnungsloser Lage brachen rund 1 500 Soldaten nach Westen aus. Von ihnen kamen nur 55 bei den deutschen Linien an, Robert war nicht darunter. Der Vermisstenbescheid vom 10. Mai 1944 verschlimmerte unsere schon seit Wochen währende Angst und Sorge. Vom Suchdienst des Roten Kreuzes erhielten meine Eltern 1974 ein Gutachten, in dem die Kampfhandlungen in und um Tarnopol und der Ausbruch beschrieben wurden. Es wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass Robert entweder gefallen oder in der ersten Zeit der Gefangenschaft – noch vor der Registrierung – gestorben sei. Erinnerungen an den Bruder 87 Eine Anzeige in der Zeitschrift „Der Heimkehrer“ brachte uns 1984 eine Zuschrift aus Leverkusen. Der Kamerad berichtete uns, dass er bei dem Ausbruch am 16. April 1944 mit mehreren anderen in Gefangenschaft geraten sei. Mein Bruder Robert, sagte er, sei auch dabei gewesen. Die Gefangenen seien nach Kiew marschiert. Robert sei gesund und unverletzt gewesen und hätte schwächeren Kameraden Mut gemacht und geholfen. In Kiew hätten sich ihre Wege getrennt, da er selbst in ein Lazarett eingeliefert worden sei. Auch die Öffnung der russischen Archive in den neunziger Jahren brachte uns bis jetzt keine Gewissheit. Meine Eltern, die 92 und 95 Jahre alt wurden, haben bis an ihr Lebensende um ihre Söhne getrauert. Auch ich trauere noch heute. 88 Erinnerungen an den Bruder Alfons Wurm * 18. Juli 1915 = 25. April 1944 Von Gisela Mathes Unser Elternhaus, ein Bauernhof mit 140 Tagwerk im Chiemgau, steht auf einer Hochebene über dem Trauntal, mit Ausblick aufs Gebirge vom Steinernen Meer bis zur Zugspitze. Unsere Eltern haben am 12. Dezember 1912 geheiratet. Sie bekamen fünf Buben und drei Mädchen. Alfons war das dritte Kind, der zweite Bub. Unsere Kindheit war wie bei den meisten Bauernkindern sehr karg, und man musste schon früh zur Arbeit ran und auch mit den Pferden arbeiten. Alfons ging in seiner Jugend zum Turn- und Sportverein Trostberg. Er wurde mit 17 Jahren Gaumeister des Gaues Rosenheim im Ringen und Stemmen. Später rückte er zur Landespolizei nach München ein. Als Hitler ans Ruder kam, wurde die Landespolizei aufgelöst. Alfons ging zur Reichswehr. Als die Saar „heimgeholt“ wurde, hatten wir Angst um ihn. Es kam lange keine Post. Gott sei Dank lief aber alles glimpflich ab. Erinnerungen an den Bruder 89 Als der Anschluss Österreichs erfolgte, kam Alfons mit einigen Kameraden nach Salzburg, von wo er öfter heimkam und auch manchmal einen Kameraden mitbrachte. Das war für uns immer eine große Freude. Im Herbst 1938 kam der Anschluss des Sudetenlandes, die Truppen kamen aber bald wieder zurück. Im Frühjahr 1939 ging’s in die Tschechei und Alfons war überall dabei. Und dann war Krieg. Krieg mit Polen. Mutter kam von der Kirche heim, und sagte, die Leute hätten sie so seltsam angesehen. Nach ein paar Tagen erfuhren wir, dass das Gerücht umging, unser Alfons sei gefallen. Die Leute wunderten sich, dass Mutter nicht weinte. Schwarz angezogen ging sie ja immer in die Kirche, von den Strümpfen bis zum hier üblichen Prienerhut. Aber mein Bruder war nicht tot. Ein Sprichwort sagt: „Ein Totgemeldeter lebt lange“. Alfons aber durfte dann doch nur 29 Jahre alt werden. Der Polenkrieg ging schnell vorbei. Dann kam der Frankreichkrieg, da war schon unser Bruder Hansi mit dabei. Wir haben täglich nach dem Abendessen für den Schutz der beiden Brüdern gebetet; das große Abendgebet und zehn Vaterunser. Alfons heiratete im Dezember 1940. Er brachte aus Frankreich zwei Kisten Sekt mit. Die Stimmung auf der Hochzeitsfeier war sehr gedämpft, es wurde nicht getanzt. Im „Weinstüberl“ wurde gesungen: Alfons’ Lieblingslieder „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“ und „Im schönsten Wiesengrunde steht meiner Heimat Haus“. Einige Hochzeitsgäste mussten am anderen Tag schon wieder an die Front. Alfons’ Frau lebte weiter bei ihren Eltern. Wenn er auf Urlaub kam, waren sie abwechselnd bei uns oder bei ihren Leuten. Auch der Frankreichkrieg ging zu Ende. Nach kurzer Verschnaufpause dann der Krieg mit Russland. Viele mussten einrücken, da kamen dann Briefe aus allen Ecken der Welt. Wir freuten uns über jeden Brief und trauerten aus tiefsten Herzen, wenn einer zurückkam mit dem Vermerk: „Gefallen für Großdeutschland“. Inzwischen war auch schon mein dritter Bruder Rasso dabei, als Panzerjäger. Irrtümlich wurde er im März 1942 als tot gemeldet. Aber Alfons schickte uns ein Telegramm: „Rasso lebt“. Das Telegramm haben wir heute noch. 90 Erinnerungen an den Bruder Einmal waren wir in der Küche, die Fenster standen weit offen, da schob sich ein wunderschönes Auto vor das Küchenfenster. Alfons hatte den Auftrag bekommen, einen Wagen für einen General von Wien nach München zu bringen. Er fuhr die Autobahn. Kurz vor Traunstein knurrte ihm der Magen, da flitzte er schnell die 20 Kilometer nach Hause. Er rief: „Mama, hast du was zu essen für einen hungrigen Soldaten?“ Und Mutter machte ihm gleich eine Pfanne Ochsenaugen (Spiegeleier). Alfons kam in der Nacht wieder heim, und erzählte, als er den Wagen abgeliefert hatte, wäre der General mit ausgestrecktem Finger auf ihn zugekommen und hätte gesagt: „Sie kenne ich noch. Sie sind der Oberfeldwebel Wurm!“ Das hat Alfons sehr gefreut. Der Krieg ging weiter. Inzwischen war auch der vierte Bruder – Hartl – an der Front. Alfons hat nur einmal heimtelefoniert, Hartl tat dies öfter. Er war bei den „Nachrichten“. Wenn gegen Morgen zwischen 3.00 und 5.00 Uhr das Telefon läutete, standen wir alle bei Fuß, wir wussten ja wer es war. Alfons war bei den Vorgesetzten sehr beliebt. Er hat für sie und die Kameraden sehr gesorgt. Als sein Chef eine Ferntrauung hatte, sorgte er mit seinen Kameraden für ein Hochzeitsessen. Kuchen, Braten, rohe Kartoffelklöße – und das alles auf einem Kanonenofen. Alfons war bei allen der „Papa“. Selbst die Brüder fragten nach „Papa“, wenn sie Gelegenheit hatten, bei ihm vorbeizuschauen. Alfons ahnte, dass er nicht heimkommen würde. Er schickte seinen Ehering heim zu uns, aber wir durften es seiner Frau nicht sagen. Er tat Dienst auf einem Schiff. An einem Tag sagte er zu seinem Kameraden: „Mir ist heut’ so mulmig, bocken wir unseren Karren auf und pumpen die Schläuche auf“. Sie taten das und aßen noch eine Tafel Schokolade. Dann ging der Höllenzauber los. Die Flieger kamen, bombardierten das größte Schiff von drei Schiffen. Alfons hat es gleich erwischt, das Schiff brannte. Wir verloren einen vielgeliebten Bruder. Wir haben viel verloren, und er ist uns unvergessen. Aber wir müssen auch dankbar sein: Von vier Brüdern durften drei heimkommen. Erinnerungen an den Bruder 91 Wolf-Dietrich Steinbach * 25. Oktober 1914 = 17. Juni 1940 Kriegsgräberstätte Andilly/Frankreich Block 14, Reihe 1, Grab 12 Von Ursula Steinbach Meine drei Brüder im Krieg 1940 – 1945: Wolf-Dietrich, geboren am 25. Oktober 1914, war der jüngste meiner drei Brüder und etwas über ein Jahr älter als ich. Wir sind zusammen aufgewachsen und hingen sehr aneinander. Als Kinder wie auch später als Erwachsene unternahmen wir viel miteinander – zumal wir auch gemeinsame Interessen hatten, wie zum Beispiel Sport. Dieter war ein froher und sehr hilfsbereiter Mensch. Aber durch seinen Wagemut brachte er mich auch manches Mal in Gefahr. Er gehörte den Goslarer Jägern an und dort wurde auch seine Einsatzbereitschaft sehr geschätzt. Wolf-Dietrich hatte dunkelbraune, wellige Haare und schöne braune Augen – wie mein Vater. Als wir einer Bekannten aus der Nachbarschaft sagen mussten, dass er gefallen sei, sagte diese ganz entsetzt: „Diesen schönen Jungen haben Sie Ihnen genommen!“ 92 Erinnerungen an den Bruder Ich habe seinen Tod bis heute nicht überwunden – zumal auch von unseren gemeinsamen Freunden nur einer zurückgekehrt ist. Meine Mutter gewann dem Leben erst wieder etwas Positives ab, als Horst (mein zweiter Bruder, geboren 1911 – er war zunächst bei Stalingrad als vermisst gemeldet) 1948 aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte. Mein Vater, der im Januar 1945 starb, hat dies nicht mehr erlebt. Horst hatte ein Auge verloren und war von einer russischen Ärztin operiert worden. Als er nach seiner Rückkehr zu einem deutschen Augenarzt ging, war dieser voll des Lobes über die ausgezeichnete Behandlung des Auges durch die russische Ärztin. Mein älterer Bruder Hans-Joachim hatte den Polenfeldzug mitgemacht und wurde dann auf die Insel Usedom geschickt und bei der Entwicklung der V2-Waffen eingesetzt – mein Bruder war Diplomingenieur. Nachdem die Anlagen dort durch englische Flieger zerstört worden sind, wurde in Nordhausen in unterirdischen Anlagen weiter daran gearbeitet – eine starke gesundheitliche Belastung. Beide Brüder starben später plötzlich an Herzversagen. Mein Vater wollte während der Fliegerangriffe auf Hannover nie mit in den Keller gehen. Er meinte, er könne sich nicht in Sicherheit bringen, während seine drei Söhne im Krieg in Gefahr seien. Ich konnte ihn nur dazu bewegen, wenn ich mich weigerte, ohne ihn hinunter zu gehen. Als ich das erste Mal mit dem Volksbund, Bezirksverband Hannover, nach Andilly fuhr und am Grab meines Bruders stand, hat es lange gedauert, bis ich – abgesehen von dem Schmerz, der mich am Grabe meines Bruders übermannte – den tiefen Eindruck, den die endlosen Gräberreihen und das Grab für die vielen unbekannten Soldaten am Ende des Friedhofes hinterlassen haben, verarbeitet hatte. Später bin ich noch zweimal mit dem eigenen Wagen dort gewesen. Heute kann ich aus gesundheitlichen und Altersgründen eine so weite Reise nicht mehr unternehmen. Da ist es ein beruhigender Gedanke und eine große Hilfe, zu wissen, dass der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für die Gräber der Gefallenen sorgt. Dafür bin ich sehr dankbar. Erinnerungen an den Bruder 93 Erwin Albrecht * 21. Juni 1919 in Frankfurt am Main = 20. Juli 1944 bei Chiltschizy Von Else Albrecht Nun stehe ich da, wo du zuletzt gelebt, gekämpft, gehofft hast, mein Bruder: Am Ortsausgang von Chiltschizy, in der heute unabhängigen Republik Ukraine, die zu deiner Zeit Galizien hieß und zu Sowjetrussland gehörte. Ich kam, um zu sehen, was du zuletzt gesehen hast. Die Landschaft hat sich nicht verändert seit 1944, wie die 90-jährige Zeitzeugin sagt, die noch in ihrem abseits des Dorfes liegenden Häuschen wohnt. Ihr Sohn, der damals zwei Jahre alt war, ist gestorben. Vier deutsche Divisionen, erinnert sie sich, waren auf dem Rückzug durch das Dorf gezogen. Der Koch hatte seine Küche neben ihrem Haus und wohnte im Haus. Alle Offiziere, die das Essen für ihre Leute organisierten, kamen auf ihr Grundstück. Sie glaubt, dass viele, viele Soldaten in dem gegenüber liegenden Wald begraben sind. Die Dorfbewohner haben sie dort – oftmals mit bloßen Händen – beerdigt. Und Erwin? Er hatte die Regimentsspitze zu führen, aus der Umklammerung durch die Sowjetarmeen. Er sprang also als erster aus der Deckung und gab das Angriffssignal mit dem linken Arm. Auf den einzeln stehenden Kiefern vor dem Waldrand saßen russische Scharfschützen, die sofort seine Handschlagader durchschossen. Als sein Melder vom Feldverbandsplatz zurückkam, hatte er zusätzlich einen Kopfschuss. 94 Erinnerungen an den Bruder Wo und ob du begraben wurdest, mein Bruder, habe ich nicht erfahren. Jener Melder, der unsere Eltern besuchte und ihnen deine Erkennungsmarke, Orden und sonstige Habseligkeiten überbrachte, vermutete, dass das Schlachtfeld von den Russen aus Zeitdruck überwalzt wurde. Du durftest – obwohl noch 25 Jahre jung – nicht leben. Aber ich bin froh, dass ich dich aufsuchen konnte, nach so vielen Jahren der vergeblichen Recherchen nach dem Ort Chiltschizy, der mit seinen fünf verschiedenen Schreibweisen die Suche erschwerte. Die unendliche Weite der ukrainischen Ebenen atmet so viel Stille. Ich sehe sie nun vor meinem inneren Auge, dank der Reise zu dir mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ich bin aufs neue mit dir eng verbunden, wie damals auf dem Hanauer Bahnhof, wo der Truppentransportzug dich für immer nach Russland entführte. Erinnerungen an den Bruder 95 Rudolf Schulz * 16. April 1918 Vermisst seit dem 6. Juli 1942 Von Christa Schlüter Rudolf wurde als drittes von fünf Kindern im April 1918 in Halle/Saale geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Halle und besuchte dort das Stadtgymnasium. Er wählte den naturwissenschaftlichen Zweig. Das Lernen fiel ihm leicht, aber er war auch ein guter Sportler. Seine Leidenschaft war das Zeichnen. Nach dem Abitur kam er für ein halbes Jahr zum Arbeitsdienst. Anschließend leistete er bis Kriegsausbruch seine zwei Jahre Wehrdienst bei der berittenen Artillerie in Naumburg ab. Kurz nach Kriegsausbruch meldete er sich als Aufklärungsflieger zur Luftwaffe. Nach der Ausbildung zum Flieger, bei der sein bester Freund abstürzte, kam er nach Frankreich, dann an die Ostfront: Rumänien, Bulgarien, Russland. Am 6. Juli 1942 kehrte er von einem Aufklärungsflug in der Nähe von Liwny (Russland) nicht zurück und ist seitdem vermisst. Lieber Rudolf, heute ist dein Geburtstag und ich denke an dich. Mit Freude würde ich dir heute gratulieren. Aber vor nunmehr 60 Jahren kam ein Brief, in dem stand das schreckliche Wort „vermisst“. Seitdem suchen dich meine Gedanken vergeblich irgendwo in Russland. Du bist von einem Beobachtungsflug nicht zurückgekehrt: Abgestürzt? Abgeschossen? Tot? In Gefangenschaft? Deine Staffelkameraden haben nach eurem Flugzeug gesucht. Die ganze Gegend sind sie abgeflogen, vergeblich! Dein Einsatz war über besiedeltem Ackergelände. Warum hat man nicht wenigstens die Trümmer des Flugzeuges entdeckt? Heute wärst du 84 Jahre alt. In meiner Erinnerung lebst du als der 24-jährige. fröhliche, junge Mann, den wir liebten. Da stehst du vor mir, 96 Erinnerungen an den Bruder leicht an den Türrahmen der geöffneten Esszimmertür gelehnt, schon halb im Aufbruch, und hörst dir dein Lieblingslied an, das vom „Alten Cowboy“ von den Comedian Harmonists. Bei jedem Abschied legtest du diese Platte aufs Grammophon – auch bei deinem letzten. Du warst viereinhalb Jahre älter als ich. In der Kindheit ist das viel. Später verwischt sich der Abstand. Aber von unserer Schwester Hanni trennten dich nur elf Monate. Ihr wart wie Zwillinge: gemeinsame Konfirmation, gemeinsame Tanzstunde, gemeinsame Freundschaften. Hanni erzähltest du deine Erlebnisse, Schulstreiche und auch mal Liebeskummer. Ich hörte oft mit, denn Hanni und ich teilten ein Zimmer. Manchmal, wenn Hanni krank war, kamst du vorm Schlafengehen noch an ihr Bett und hast auf der Mundharmonika gespielt. Du spieltest sehr gut. Du warst ein guter Sportler und ein guter Tänzer und du gefielst den Mädchen. Eine Geschichte habe ich bis heute nicht vergessen: Es war wenige Wochen vor deinem Abitur. Du gingst mit einer Freundin an der Saale spazieren und ihr habt deinen Lateinlehrer getroffen. Am nächsten Tag sprach der dich daraufhin im Schulflur an und warnte ernsthaft: „Schulz, das Abitur macht man nicht mit dem Herzen, das macht man mit dem Verstand!“ Dass es dir an Verstand nicht mangelte, hast du bald darauf im Abitur bewiesen. Mit den besten Noten des Jahrgangs bekamst du einen Preis. Von deiner Prüfung in Mathematik hast du uns lachend erzählt: Der Schulleiter wollte zum Ende der Prüfung kommen, aber dein Lehrer wollte mit seinem Schüler glänzen. „Noch eine Frage, Herr Direktor, noch eine Frage!“, bat er immer wieder. Im Arbeitsdienst bist du ungern gewesen. „Keine gute Atmosphäre“, das war deine Meinung. Dagegen gefiel dir der Dienst bei der berittenen Artillerie gut, auch wenn es ein harter Dienst war. Du warst Fahrer, und wenn die Kanoniere Feierabend hatten, musstet ihr Fahrer erst eure Pferde versorgen. Aber du liebtest deine zwei Pferde. Aus dieser Zeit fällt mir eine Geschichte ein, die typisch für dich ist: Bei einem Manöver wurdest du auf einem Bauernhof einquartiert. Beim gemeinsamen Mittagessen aß die Familie aus einer Schüssel, aber dir hatten sie extra einen Teller hingestellt. Du jedoch hast den Teller beiseite geschoben und erklärt: „Wenn Sie es erlauben, möchte ich gerne aus Ihrer Schüssel essen.“ Und von da an hattest du bei den Bauersleuten einen dicken Stein im Brett. Ja, genauso warst du. Selbstsicher und zugleich taktvoll, dazu begabt mit viel Humor. Erinnerungen an den Bruder 97 Als der Krieg ausbrach, warst du gerade fertig mit deinem zweijährigen Wehrdienst. Nach dem Willen deiner Vorgesetzten solltest du in Naumburg als Ausbilder bleiben. Aber das passte dir nicht. Auf keinen Fall wolltest du daheim einen „ruhige Kugel schieben“, während deine Freunde an der Front ihren Kopf hinhalten mussten. Darum hast du dich bei der ersten Gelegenheit als Artilleriebeobachter zur Luftwaffe gemeldet. Was hast du damals im Krieg gedacht? Du warst solch ein Idealist. Die Menschen die du liebtest, dein Vaterland, uns wolltest du beschützen und verteidigen. Das weiß ich aus vielen Gesprächen mir dir. Und manchmal bin ich heute fast froh, dass dir die Enttäuschung und Verzweiflung erspart blieb, die wir nach dem Krieg durchlebten, als wir von Verbrechen erfuhren, von denen du und ich damals nichts ahnten. Bei deinem letzten Heimaturlaub musst du geahnt haben, was auf dich zukommt. Als wir beide vor deiner Abfahrt allein am Fenster standen, sagtest du zu mir: „Wenn ich nicht zurückkomme, dann tröste du die Eltern, dann war mein Leben erfüllt.“ Mit diesem Satz meintest du mehr als die soldatische Pflichterfüllung. Du glaubtest, dass Gott jedem Menschen für dieses Leben eine bestimmte Aufgabe zugedacht hat. Dieses innere Wissen machte dich ruhig. Und so habe ich das später unseren Eltern weitergesagt. Noch eins muss ich nachtragen: Unsere Eltern haben bis 1956 in Halle auf dich gewartet. Erst dann sind sie zu unserer ältesten Schwester nach München gezogen. Bis dahin haben sie immer noch gehofft, du könntest doch noch leben. Und du solltest auf keinen Fall vor fremder, verschlossener Tür stehen, falls du heimkämest. Lieber Rudolf, was so oft an Gräbern gesprochen wird, ich rufe es dir heute in eine unbekannte Ferne zu: Du bist nicht vergessen. Deine Schwester Christa 98 Erinnerungen an den Bruder Brief von Rudolf Schulz an seine Eltern aus Russland vom 6.7.1942 – am Tage seines letzten Fluges: Liebe Eltern! Diesmal bin ich nun mit dabei. Seit einigen Tagen ist’s mit der Ruhestellung vorbei. Immerhin ist seit den ersten Tagen mit Regen jetzt schönes Wetter, so dass es sich in den Zelten gut leben lässt. Wir wohnen zu 15 in einem großen Zelt, in dem wir sogar aufrecht gehen können. Seit gestern habe ich sogar einen Strohsack, so dass ich nicht mehr nur auf meiner Zeltplane schlafe. Zwei Tage lang war meine Erkältung sehr unangenehm mit Kopf- und Ohrenschmerzen, so dass ich nicht fliegen konnte, aber nun ist nur noch ein mittlerer Schnupfen geblieben, der auch schon im Abflauen ist. Sonst geht es mir sehr gut und ich fühle mich sehr wohl. Die Verpflegung ist immer noch recht ordentlich. Gestern habe ich mit meinen Kameraden ein Huhn gekauft und zum Abendbrot gebraten. Würde euch auch schmecken, was? (...) Ein Sommerbärtchen, so ein kleines auf der Oberlippe, bin ich auch wieder im Begriff mir zuzulegen. Zum Zeichnen werde ich wohl vorerst wenig kommen. Wie geht es euch? Wenn der Brief eintrifft, wird der Urlaub schon bald ran sein. Post ist jetzt rar, denn die Eisenbahn hat anderes zu transportieren. Luftpost gibt’s für uns immer noch nicht. Na, mir geht’s immer gut und schlechte Nachrichten gehen ja meist sehr schnell. Also keine Sorge, wenn mal die Post ausbleibt. Viel Vergnügen für den Urlaub und herzliche Grüße, Euer Rudolf Erinnerungen an den Bruder 99 100 Erinnerungen an den Onkel Günther Kiesel von Rolf Kiesel 102 Joachim Methner von Gerhard Methner 105 Alfred Krämer von Dr. Margarethe Sitz 107 Erwin Schwambach von Jörg Jacob 109 Bernhard Koss von Paul Koss 111 Max Leo Müller von Monika Müller 116 Aloysius Inderdühnen von E. Inderdühnen 118 Gerhard und Otto Thräner von Gerhard Konrad 119 Kurt Mann von Frank-M. Mann 122 Hugo Bornmann von Hildegard Koch 125 Erinnerungen an den Onkel 101 Günther Kiesel Günter im Mai 1944 als Gefreiter (ROA) * 13. November 1925 = 26. November 1944 Von Rolf Kiesel Die deutschen Soldaten, die den Befehlen gehorchten, weil sie aus dem Verständnis dieser damaligen Zeit und ihrer Erziehung heraus dem Staat und dem Prinzip „Befehl und Gehorsam“ vertrauten, darf man bei Betrachtung der heutigen Erkenntnisse und Erfahrungen nicht vorschnell, undifferenziert und ungerecht verurteilen. Mein Onkel Günther machte in Hannover eine kaufmännische Lehre und wurde nach seiner RAD-Zeit im April 1944 der Schnellen Abteilung 509 in den Niederlanden zugeteilt. Sein Bruder Rolf war bereits seit dem 15. Juli 1942 als 20-jähriger Schütze vor Woroschilowgrad vermisst. Rolf konnte bei einem Gegenangriff der Russen, verwundet auf dem Schlachtfeld liegend, nicht zurückgebracht werden. Bei der Rückeroberung konnte er nicht mehr gefunden werden. Seine Kameraden gingen später in Stalingrad mit der 6. Armee unter. Ich hoffe noch heute, dass die Erkennungsmarke meines Onkels Rolf gefunden wird und der Volksbund ihm ein würdiges Grab geben kann. Nach der Landung der Alliierten und dem Chaos in Frankreich schaffte es Günther, sich im September 1944 mit einigen Kameraden nach Deutschland zurückzuschlagen. Was noch an Resten der Schnellen Abteilung 509 übrig war, wurde der Panzer-Lehr-Division eingegliedert. Es folgte eine Verlegung in den Hunsrück. Günther wurde als Unteroffizer (ROB) mit 19 Jahren Zugführer. Notdürftig mit jungen kampf- 102 Erinnerungen an den Onkel unerfahrenen Männern aufgefüllt und mangelhaft mit Fahrzeugen und schweren Waffen ausgerüstet, ereilte die Division am 22. November 1944 der überstürzte Abmarschbefehl und er schrieb an meine Großeltern und meinen Vater sein letztes Lebenszeichen: „Liebe Eltern, lieber Henry! Es ist 0.30 Uhr. Wir sind gerade im gemütlichen Kreis beim Tanzen, da kommt ein Melder vom Bataillon: Sofort fertig machen. Abmarsch noch heute Nacht, Richtung Front (Saarlautern). Will euch nur kurz benachrichtigen. Keine Angst, wenn ihr längere Zeit keine Post bekommt. Wird schon alles gut gehen. Meine Einheit ist 5. Komp./2. Batl./Pz.Gren.Lehr.Rgt. 901 für evtl. Anfragen. Alles Gute, in Gedanken bin ich bei euch, in der Hoffnung auf baldiges Wiedersehen. Euer Günther.“ Meine Großeltern erhielten erst am 18. Januar 1945 die Todesnachricht mit folgendem Wortlaut: „Sehr geehrter Herr Kiesel! Als Kompanieführer Ihres Sohnes und unseres Kameraden, Uffz. Günther Kiesel, habe ich die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn am 25.11.1944 durch Granatsplitter am Oberschenkel schwer verwundet wurde. Er wurde von seinen Kameraden sofort zum Hauptverbandsplatz Oermingen Krs. Zabern geschafft. Erst jetzt erhielt ich die Nachricht von der San. Kompanie, dass Ihr Sohn dort am selben Tage an den Folgen seiner schweren Verwundung verschieden ist. Ihr Sohn, unser lieber Kamerad Günther, war bei allen Vorgesetzten und Kameraden sehr beliebt. Die Kompanie verliert in ihm einen ihrer besten Kameraden. Wenn wir einerseits in stiller Trauer seiner gedenken, so sind wir andererseits stolz auf ihn, der sein Bestes und Höchstes gab, um seine soldatische Pflicht fürs Vaterland, für eine bessere Zukunft und Freiheit, zu erfüllen. Ebenso sind unsere Gedanken teilnehmend bei Ihnen, den Eltern unseres Kameraden. Er und seine Kameraden, die bei den schweren Kämpfen bei Hirschland (Elsass-Lothringen) fielen oder verwundet wurden, haben insbesondere dazu beigetragen, einen weiteren Schritt zum siegreichen Ende dieses großen Ringes zu tun. Er fehlt in unserer Mitte, wird aber in unseren Gedanken immer unvergessen bleiben. Die Kameraden betteten ihn auf dem Heldenfriedhof im Garten des Gemeindehauses Oermingen unter allen militärischen Ehren zur letzten Ruhe. Möge ihm die fremde Erde leicht werden. Nach diesem großen Ringen werden sich unsere Fahnen in Ehrfurcht vor diesen Helden neigen, zu denen nun auch Ihr Sohn gehört … In teilnehmendem Gedenken …“ Über 50 Jahre nach Kriegsende habe ich durch Nachforschungen nach meinen gefallenen und vermissten Angehörigen von einem ehemaligen Kameraden über Günthers letzte Stunden folgendes erfahren: Erinnerungen an den Onkel 103 „Das Regiment sollte bei Hirschland angreifen, da der Amerikaner durchgebrochen war. Am 25. November 1944 erreichten wir den Bereitstellungsraum. Ich lehnte mit Günther an einem Panzer und er sagte zu mir, dass wir noch eine Zigarette rauchen sollten, obwohl wir Nichtraucher waren. Als ob er geahnt hat, dass es seine letzte Zigarette sein würde. Zur Unterstützung unseres Angriffs sollte Artillerie feuern, was jedoch ausblieb. Da wir Grenadiere keine Fahrzeuge hatten, wurde der Angriff auf Panzern aufgesessen gefahren. Insgesamt hatten wir vier Panzer. Es entwickelte sich eine Panzerschlacht und während des Kampfes wurde ein anderer Uffz. verletzt. Günther und ich sowie zwei weitere Kameraden sprangen sofort zu ihm, legten den Verwundeten in eine Zeltbahn und zogen ihn durch die tiefen Panzerspuren zurück. Der 25. November 1944 war ein regnerischer Tag. Kurz bevor wir über eine sichere Anhöhe kamen wurde Günther schwer verwundet. Ich lief sofort zu ihm, um ihm zu helfen. Als ich ihm die Hose und das Hemd aufknöpfte sah ich, dass er schwerste Verwundungen erlitten hatte. Ich ahnte, dass er es nicht schaffen würde. Notdürftig drückte ich ihm das Verbandsmaterial auf die Wunde und sorgte dafür, dass er zum Sanitätsplatz kam. Kurze Zeit später wurde auch ich schwer verwundet.“ Mein Onkel verstarb in der Nacht zum 26. November 1944. Er liegt heute auf dem vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gepflegten Soldatenfriedhof Sandweiler in Luxemburg. Jährlich besuche ich mit meiner Frau und, wenn möglich, meinen Eltern sein Grab. Trauer und Stolz auf seinen Mut, seine Tapferkeit und seine Angst, die er durchstand, verbinden meine Gedanken. Wir, die wir nach dem Krieg geboren wurden, haben die Pflicht, unseren ehemaligen Soldaten Ehre zu erweisen und den Gefallenen und Vermissten ein ehrendes Andenken zu bewahren, denn sie haben an eine gute Sache geglaubt und sind dafür in den Krieg gezogen. Dem Großteil der 18 Millionen deutschen Soldaten war nicht klar, in welchem politischen Spiel ihr Leben eingesetzt wurde. Die Arbeit des Volksbundes ist für mich eine ganz besonders wichtige Arbeit, denn sie gibt uns die Möglichkeit, unserer gefallenen Soldaten zu gedenken und daran zu erinnern, wieviel Leid Kriege bringen. Diese Arbeit schafft Versöhnung vieler Nationen, über diesen Soldatengräbern. Ein kleiner Trost, dass die vielen Opfer doch nicht ganz umsonst waren. Ich danke Ihnen persönlich für Ihren Einsatz und vielleicht kann ich zukünftig einmal ehrenamtlich für den Volksbund tätig sein und hierdurch mehr tun als einen jährlich bescheidenen finanziellen Beitrag zu leisten. 104 Erinnerungen an den Onkel Joachim Methner * 17. Mai 1918 in Königsberg/Ostpreußen = 7. Mai 1945 als U-Bootkommandant Name verzeichnet am U–Boot–Ehrenmal in Kiel-Möltenort Von Gerhard Methner Ich habe Onkel Joachim (Achim) nicht persönlich kennengelernt. Vater berichtete gelegentlich über ihn, wenn auch kurz. So muss ich aus der Erinnerung erzählen. Onkel Joachim war ein schlanker, gut aussehender Mann, gut 1,75 Meter groß, dunkelhaarig, mit scharf geschnittenem, markantem Gesicht und offensichtlich der Schwarm der Frauen. So soll die Familie froh gewesen sein, dass er zur See fuhr, denn er hatte in der Damenwelt – auch der Verwandtschaft – einige Verwirrung angestiftet. Am 7. Mai 1945 soll er als Kommandant beschlossen haben, sein U–Boot samt Besatzung nach Dänemark zu überführen, um sich internieren zu lassen. Bei der Ausfahrt aus der Flensburger Förde soll das Boot von einer englischen Fliegerbombe getroffen und versenkt worden sein. Meine Tante schrieb mir neulich, dass der Ort der Versenkung die Erinnerungen an den Onkel 105 Flensburger Reede gewesen ist. Von der Besatzung hat niemand überlebt. Die Namen der Crew sind am U–Boot–Denkmal in Kiel-Möltenort auf einer Gedenktafel vermerkt. Bliebe noch eine Episode zu ergänzen, von der meine Tante Rosemarie berichtet: So hat Onkel Joachim ein dem Kaiserhaus wichtiges Hirschgeweih aus Ostpreußen gerettet, indem er es am Heck des U–Bootes befestigt in den Westen brachte. Dieses Geweih soll im Ostpreußen–Museum in Lüneburg ausgestellt sein. Prinz Louis Ferdinand von Preußen hat diesen Vorgang erwähnt, wenn auch der Name meines Onkels unrichtig wiedergegeben ist. 106 Erinnerungen an den Onkel Alfred Wilhelm Krämer * 23. März 1914 in Neckarsulm = 18. November 1944 Kriegsgräberstätte Ysselstein/Niederlande Block I, Reihe 11, Grab 252 Von Dr. Margarete Sitz Ich selbst bin die Tochter von Alfred Krämers ältester Schwester. Ich wurde 1939 geboren und kann mich nur dunkel an meinen Onkel erinnern. Er muss mich sehr gern gehabt haben, und von seiner vielseitigen Begabung durfte ich mehrfach profitieren: Mit seiner Leica machte er von mir die schönsten Kinderfotos, als guter Zeichner malte er für mich wunderschöne Bilder, und die Laute, die er als begeistertes Mitglied der katholischen Jugendbewegung gespielt hatte, kann ich heute noch spielen und halte sie als Erinnerungsstück in Ehren. Alfred Wilhelm Krämer wurde als achtes von zehn Kindern des Maurermeisters und Bauunternehmers Viktor Krämer und seiner Frau Wilhelmine geb. Schädel in Neckarsulm geboren. Er erlernte das Maurerhandwerk und wurde für kurze Zeit vom Militär beurlaubt, um 1942, nach weniger als drei Monaten Vorbereitung, die Meisterprüfung ablegen zu können. Auf ihm ruhten die größten Hoffnungen seiner Eltern und Geschwister: Er verstand es, in der Familie bestehende Spannungen auszugleichen, er sollte seiner seit 1941 verwitweten Mutter einen angenehmen Lebensabend sichern und das Baugeschäft im Einvernehmen mit seinem älteren Bruder weiterführen. Sein Wunschtraum, mit 30 Jahren selbst eine Familie zu gründen, hat sich nicht erfüllt. Seit dem 26. August 1939 war er Soldat, wurde 1940 Feldwebel, 1941 Oberfeldwebel. 1940 nahm er am Westfeldzug teil, im Juli wurde er an die Ostfront verbracht. Am 24. November 1942 erlitt er bei Stalingrad einen Durchschuss vom rechten Ohr zur linken Nasenhälfte. Nach dem Lazarettaufenthalt in Oberschlesien einigermaßen wieder hergestellt, war er ab September 1943 an der Front bei Witebsk und wurde am 4. Dezember 1943 nach einem Durchschuss knapp oberhalb der Niere bis Juli 1944 kampfunfähig. Mit einem neuformierten Pionierbataillon kam er im September an die Westfront in die Gegend von Aachen. Dort fiel er am 18. November 1944. Erinnerungen an den Onkel 107 Ein Kamerad schreibt im Februar 1945 über die näheren Umstände seines Todes: „… Wir bauten damals eine 60-Tonnen-Brücke in der Nähe von Geilenkirchen. Die Brücke war noch nicht fertig, da trat der Amerikaner am 17. November zum Großangriff an. Noch in der Nacht kam für uns Bereitschaft. Am Vormittag des 18. November sollten wir dann in Stellung gehen. In Abständen gingen wir einzeln vom Schloss weg, wo wir lagen. Am ersten Waldeck wurde Halt gemacht. Da sollten wir näher unterwiesen werden. Wir waren 40 Mann und standen alle auf einem Haufen beisammen. Da gab es plötzlich einen Kracher, und ich konnte vor Staub und Dreck nichts mehr sehen. Ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, um zu wissen, was los war. Wir hatten einen Volltreffer bekommen: sechs Tote, drei Schwer- und Leichtverwundete. Der Oberfeldwebel hatte einen Splitter ins Gesicht und durch den Hals bekommen. Er wollte noch einmal hoch, kam jedoch nur auf die Knie. Das Blut trat aus den Wunden, und sein Schreien wurde allmählich zu einem Röcheln. Er brach dann vollends zusammen und verschied nach wenigen Minuten. Er wurde sofort mit einem Wagen zurückgefahren und auf einem Heldenfriedhof beerdigt.“ 1950 wurde Alfred Krämer auf den Friedhof Ysselstein umgebettet, er ruht heute in Block I, Reihe 11, Grab 252. Seine Gedanken über den Krieg, die er Herbst 1943 an der Ostfront niederschreibt, erscheinen mir wert, überliefert zu werden: „Wir als Pioniere arbeiten mit allen Kräften am Ausbau der Stellung, damit es der Infanterie gelingt, den Russen wenigsten über Winter aufzuhalten. Sogar Frauenbataillone arbeiten jetzt mit. Vorgestern sollen alle geweint haben (wenig Kleidung – in der Nacht in offenen Scheunen oder Strohhaufen!). Wenn ich denke, dass ein solches Schicksal auch einmal deutsche Frauen treffen könnte! … Wir müssen ja den Krieg gewinnen und dürfen ihn nicht verlieren. Wehe uns, wenn es einen Richter gibt, der von dieser Generation schon Sühne fordert.“ 108 Erinnerungen an den Onkel Erwin Schwambach Mein Onkel rechts auf dem Bild, August 1941 * 2. Juni 1909 = 11. Oktober 1944 Kriegsgräberstätte Ysselstein Block W, Reihe 2, Grab 47 Von Jörg Jacob Die Heeresleitung teilte meiner Mutter 1944 mit, dass ihr Bruder (mein Onkel) Erwin Schwambach vermisst sei. Der zuletzt bekannte Einsatzort lag irgendwo in Holland. Eine Todesnachricht erhielten wir nicht. Er blieb auch nach Kriegsende verschollen. Mein Vater war vor Kriegsende von Griechenland zur Front nach Holland versetzt worden; über den Aufenthalt meines Onkels wusste er aber auch nichts. Ein Kamerad aus der Kriegsgefangenschaft in England wurde nach ihm entlassen. Durch Briefkontakt stellten sie fest, dass sie nur rund 150 Kilometer voneinander entfernt wohnten. Mein Vater besuchte ihn auf einer ausgedehnten „Hamsterfahrt“ kurz vor Weihnachten. Am Abend wurden Familien- und Kriegsfotos angeschaut. Da entdeckte mein Vater auf einem Gruppenfoto meinen Onkel. Sein Gastgeber bestätigte ihm: „Ja, das ist der Schwambach Erwin. Ich habe ihn in Holland begraben.“ Sie lagen nach seinen Angaben den ganzen Tag unter Flammenwerferbeschuss, im Erdreich eingegraben. Mein Onkel soll es nicht mehr aus- Erinnerungen an den Onkel 109 gehalten und versucht haben, in den Schutz eines Dammes zu kommen. Den Weg schaffte er nicht mehr. Mich erschütterte diese Erzählung sehr und ich weinte nächtelang. Meine Eltern wussten nun aber, dass keine Hoffnung mehr bestand. Wir begannen, nach seinem Grab zu suchen. Anfragen beim Roten Kreuz blieben erfolglos. Wir suchten vergeblich im Umfeld des genannten Dorfes nach Gräbern. Erst Anfang der 80er Jahre bekamen wir Nachricht, dass mein Onkel auf dem Soldatenfriedhof in Ysselstein, nahe der deutschen Grenze, begraben sei. Er war von Südholland hierher umgebettet worden. Vier Jahre später kam ich beruflich in die Nähe in Weeze, nicht weit von der riesigen Anlage entfernt. Bei meinem ersten Besuch war ich so erschüttert wie damals als Jugendlicher bei der Nachricht vom Tod meines Onkels. Jetzt stand ich vor über 30 000 Kreuzen. Der Kreis hatte sich endlich geschlossen, nach fast vierzig Jahren. So hatte ich über Jahre hinweg Gelegenheit, das Grab zu besuchen, um meinem Lieblingsonkel die letzte Ehre zu erweisen. Leider konnten meine Eltern, aus Altersgründen und der langen Anreise wegen, nur noch einmal dorthin fahren. 110 Erinnerungen an den Onkel Bernhard Koss * 27. Januar 1917 in Hindenburg = vermutlich 12. Januar 1945 vor dem Baranow-Brückenkopf Von Paul Koss Persönliche Merkmale: Größe: etwa 1,72 Meter, Haarfarbe: dunkelblond, gescheitelt, zurückgekämmt, Augenfarbe: blau-grau, Figur: schlank, Gesicht oval. Besondere Eigenschaften: still, in sich gekehrt; Hang zum Mystischen und zum Dichten. Dies ist die kurze Lebensgeschichte eines jungen Deutschen, der in den schrecklichsten aller Kriege ziehen musste, nur weil die Politiker der Welt es so wollten. Er hat sich in Nichts aufgelöst, war einfach nicht mehr da. Er war Soldat der Deutschen Wehrmacht. Bernhard Koss lag seit etwa April 1944 vor dem sowjetischen Brückenkopf auf dem linken Weichselufer, auch als Baranow-Brückenkopf bekannt. Nach den Aufzeichnungen des DRK-Suchdienstes hatte die Infanterie-Sicherungsdivision 213, in deren Bestand auch das InfanterieSicherungsregiment 177 einging, auf der Linie Ostrowiec-Wasniów Stellung bezogen. In der Nacht vom 12./13. Januar 1945 brach aus dem Brückenkopf die große Winteroffensive der Sowjets los. Seitdem fehlt von Bernhard Koss jegliche Spur! Bernhard wird am 27. Januar 1917 als achtes Kind des Kesselschmieds Paul Koss in Oberschlesien geboren. Sein Vater stirbt 1918 an einer damals unheilbaren Lungenentzündung. 1923 wird der Sechsjährige in die erste Klasse der Volksschule in Hindenburg 3 aufgenommen. In dieser Zeit haben es die Familien schwer und müssen hart ums Überleben kämpfen. Es herrscht große Arbeitslosigkeit und die älteren Brüder stehen erst in der Ausbildung. Die Mutter muss klug haushalten. Man lebt von dem, was der kleine Streifen gepachteten Feldes hergibt. Die Familie hält in der Hoffnung auf ein besseres Morgen, in ihrem katholischen Glauben fest, zusammen. Erinnerungen an den Onkel 111 1929 geht Bernhard zur ersten Heiligen Kommunion. 1932, nach Abschluss der Volksschule, wird er in die Missionsschule, das Gymnasium Carolinum in Heiligkreuz bei Neiße O/S, aufgenommen. Es folgen unbeschwerte Jahre in Internaten und Schulen. Bernhard hat sich zum Ziel gesetzt, Priester zu werden. Am 7. März 1939 erhielt Bernhard nach der Reifeprüfung das Abschlusszeugnis. Inzwischen ist eine neue Zeit angebrochen. Erstmals munkelt man, dass man zunächst beim Staat einen Dienst für die Allgemeinheit wird ableisten müssen. Das wird wohl eine kurze Verzögerung geben, denkt jeder, aber wenn es nicht zu umgehen ist, so wird man sich halt fügen müssen. Bislang hat in keinem Staat der Erde ein Bürger machen können, was er wollte, es sei denn, er stellte sich außerhalb des Gesetzes. Dieser Staatsdienst heißt Reichsarbeitsdienst, kurz RAD. Daran kann, so die Meinung, außer der lästigen Verzögerung des Studiums nichts Schlechtes sein, denn für die Allgemeinheit zu arbeiten ist eine ehrenhafte Pflicht und kann nur Gott wohlgefällig sein. Bernhards Bruder Arnold ist bereits in den RAD gekommen. Viel sind die Brüder nicht zusammen. Zum Austauschen von Erfahrungen gibt es kaum Gelegenheit. Gleich nach Abschluss des Carolinums hat Bernhard seine Bewerbungsunterlagen im Priesterseminar St. Augustin/Rheon eingereicht. Als RAD-Mann kann er im Sommer 1939 seine Tante Gertrud (jetzt Schwester Limbania) in St. Mauritz besuchen und der Gottesfrau von seinem Abschluss und dem bevorstehenden Theologiestudium berichten. Wer hat geahnt, dass die Würfel für Millionen von Menschen, von den Satans dieser Welt gerührt, die Schicksale lenken würden? Und nun verläuft Bernhards Leben ganz anders, als er und seine Angehörigen es sich vorgestellt und gewünscht haben. Vom RAD wird Bernhard unmittelbar zur 213. Infanteriedivision eingezogen. Er wird als Funker ausgebildet und anschließend beim Divisionsstab eingesetzt. Am 1. September 1939 beginnt der Polenfeldzug. Die Division rückt aus dem Raum Forst (ostwärts Breslau) über Kalisch nach Lodz – Modlin vor. Anschließend wird sie als Besatzungstruppe in der Provinz Posen eingesetzt. 1940 folgt der Feldzug gegen Frankreich. Von Warthelager geht es in den Bereitstellungsraum Villingen/Baden, von dort an den Oberrhein, von wo aus im Rahmen des XXXIII. Korps in Verfolgungskämpfen der Raum Mühlhausen/Elsass erreicht wird und die Besetzung von Ostfrankreich erfolgt. 112 Erinnerungen an den Onkel Bernhard wird wieder ins Zivilleben nach Hause entlassen. Die Freude, diesen Krieg glücklich überstanden zu haben und nun das ersehnte Theologiestudium antreten zu können, währt nur kurz. Die erneute Einberufung kommt früher als der Antritt des Studiums. Im März 1941 ist er wieder bei seiner alten Einheit. Am 22. Juni 1941 bricht der Krieg gegen Russland los. Von der ersten Stunde an ist Bernhard mit im Brennpunkt der Geschehnisse. Im Raum Kiew gelingt es ihm, bei einem überraschenden Panzerangriff in letzter Minute schwimmend den Dnjepr zu durchqueren und das noch von den Kameraden gesicherte westliche Ufer zu erreichen. Erst im August 1943 erhält Bernhard den fälligen Heimaturlaub. Der Zufall will es, dass auch zwei seiner Brüder, die ebenfalls an der Ostfront kämpfen, im Heimaturlaub sind. Die Tage voller Freude und Frieden bei Mutter und den Lieben daheim fließen schnell dahin. In Oberschlesien hat man zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung von dem, was Krieg heißt. Die Front ist noch weit weg und man hört nur vom täglichen Bombenterror der Alliierten aus dem Radio. Oberschlesien ist noch „der Luftschutzkeller des Reiches“. Bernhard berichtet von einem Angebot, das ihm sein Stabsfeldwebel gemacht hat: „Du bist doch ein ,Studierter‘. Wir müssen einige Leute in die Heimat zum Medizinstudium abstellen, ich habe keine große Auswahl, überlege es dir, ob du ,Medizinmann‘ werden willst.“ Bernhard schlägt das Angebot aus. Seine Berufung ist die Theologie, und er hat sich doch bereits in St. Augustin um einen Studienplatz beworben. Victor, der älteste Bruder rät ihm, zuzugreifen und sich dafür zu melden. In einem Feldpostbrief vom 5. Januar 1944 rät Victor noch mal, doch das Angebot der Vorgesetzten für das Medizinstudium anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt aber sind die Würfel bereits gefallen – Bernhard wird vom Divisionsstab als Funker in eine Kompanie versetzt. Er ist jetzt direkt am „Geschehen“. Vielleicht war das Schicksal für Bernhard so vorgezeichnet? Zu Pfingsten 1944 erhält er Heimaturlaub. Diesmal hat er es nicht mehr weit bis nach Hause. Die Front ist an die Ostgrenze des Reiches herangerückt, nur etwa 200 Kilometer von der Heimatstadt Hindenburg entfernt steht in diesen Junitagen 1944 schon der Feind. Das Pfingstfest verbringt Bernhard im Kreise der Familie, doch die Urlaubstage sind nicht mehr so unbeschwert. Auch die Heimat ist nicht mehr so sicher. Sie ist nicht mehr der Luftschutzkeller des Reiches. Das Pfingstfest verläuft trotz allem in Frieden. Bernhard zieht seine Zivil- Erinnerungen an den Onkel 113 kleider wieder aus und legt den Waffenrock an. Vier Tage später sitzt er erneut an seinem Funkgerät bei den Kameraden. Weihnachten und Neujahr 1945 verlaufen ohne besondere Ereignisse. Am 5. Januar 1945 ruft Bruder Arnold, der in Warschau stationiert ist, Bernhard kurz an. Belangloses Zeug wird geredet. Eigentlich sind jegliche Privatgespräche untersagt, aber Bernhard sitzt doch an der Quelle, und so will Arnold nochmals kurz, wie von einer Vorahnung getrieben, mit ihm sprechen. In der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1945 bricht aus dem BaranowBrückenkopf ein auch von alten Fronthasen bisher noch nicht erlebter Feuerorkan los. Die Sowjets haben auf einem Kilometer Frontbreite 200 Geschütze platziert, aus denen sie stundenlang ihre tödlichen Salven auf die dünn besetzten deutschen Stellungen niederprasseln lassen. Seit diesem 12./13. Januar 1945 ist der Obergefreite Bernhard Koss aus Hindenburg spurlos verschwunden. Jegliche Bemühungen über den DRK-Suchdienst, den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wojennyje Memoriale-Moskau oder auch über den direkten Kontakt zu Bürgermeistern verschiedener Dörfer im Raum Konskie/Polen eine Spur von Bernhard Koss zu finden, blieben bisher ohne Erfolg. Besondere Erinnerungen: Mein Onkel Bernhard, der jüngste Bruder meines Vaters, war selten zu Hause. Schule, Internat, RAD, Wehrmachtsdienst hatten ihn immer nur für kurze Zeit in der Heimatstadt weilen lassen. Ich habe ihn mit Kinderaugen als stillen, unauffälligen, freundlich lächelnden Menschen gesehen, dessen Bild mir so im Gedächtnis erhalten geblieben ist. Wenn er von der Front in Heimaturlaub kam, hat er viel Zeit zu Hause bei Muttern, meiner Oma, mit Schlafen verbracht (wahrscheinlich holte er alles nach, was ihm im Feld an Schlaf entzogen worden war). Wir waren vier Cousins, Kerlchen von neun bis elf Jahren, und für uns war die Gegenwart des „Kriegshelden“ etwas ganz Besonderes. Wir schlichen uns ins Schlafzimmer und begannen ihn zu necken und alberten herum. Der Schlaf war natürlich dahin. Oma, auf das Wohlbefinden ihres Jüngsten bedacht, schimpfte mit uns und scheuchte uns mit dem Worten weg: „Onkel Bernhard ist doch nicht euer Spielkamerad.“ Der Onkel beschwichtigte daraufhin: „Ach lass doch, Mutter, das sind doch Jungens.“ 114 Erinnerungen an den Onkel Große Freude hat er mir mit kleinen Geschenken, mit Büchern wie „Die Geschichte vom Hasen Langohr“ oder „Die Wiesenapotheke“ von Sophie Reinheimer gemacht. Letzteres Büchlein, in Sütterlin geschrieben, hat alle Wirren der roten und polnischen Jahre voller Elend und Terror von 1945 bis zum Verlassen meiner Heimat 1962 überstanden. Noch heute, wenn ich als 66-jähriger beim Kramen in den Schubladen dieses Büchlein in die Finger bekomme, lese ich es von vorn bis hinten durch, und da ist auch mein Onkel Bernhard wieder da, der sich mit 28 Jahren in Nichts aufgelöst hat, der aus dieser Welt verschwunden ist. Sein Gedicht für den gefallenen Kameraden ist wohl nach Kämpfen in Frankreich entstanden. Am Freundesgrab Von Bernhard Koss Des Lebens Schicksal probte ohne Maßen, Und warf dir Not, Verachtung, Kummer in den Schoß, Ich sah dich täglich unter dieser Last erblassen, Und meine Sorgen waren um dich groß. Ich sah dein Weichen vor der übergroßen Wucht, Mit starkem Arm verscheuchte ich die Stunde, Die dennoch kam, mit schmerzerfüllter Lust Und drückte auf dir deine Todeswunde. Nun liegst du tot, gebrochen von dem Sturm, Und ruhst im stillen Schoß der Erde, Ein sanfter Hügel wölbt sich über deiner Brust, Ein Kreuzlein kündet deine Ruhestätte. Du harrst dem Tag, dem ich auch seh’ entgegen, Mich bangt die Stund’, die einmal mir noch schlägt, Nach überstandener Angst vereint wir sind hienieden, Kein Kummer dann, nur Freude uns bewegt. Erinnerungen an den Onkel 115 Max Leo Müller * 25. Juli 1917 = 12. Juli 1943 bei Murmansk Von Monika Müller Gerne beteilige ich mich an Ihrer Aktion und sende Ihnen eine Beschreibung des kurzen Lebens meines Onkels Max Müller. Ich war noch sehr klein, da erzählte mir mein Vater von seinem Bruder, der im Krieg gefallen sei. Von nun an begann ich, in den Kirchen die Gedenktafeln der Kriegsopfer zu studieren. Später, als in der Schule im Erdkundeunterricht die Karte von Skandinavien an der Tafel hing, suchte ich den Ort Murmansk. Denn dort irgendwo, so hieß es, sei mein Onkel gefallen. Als es Zeit war, Maschinenschreiben zu lernen, stand auf einmal die alte schwarze Schreibmaschine vor mir, auf der mein Onkel immer seine Manuskripte geschrieben hatte. Bei der Abschlussprüfung entschied ich mich für das Aufsatzthema Umweltschutz. Erst Jahre später erfuhr ich, dass Onkel auch mal einen Artikel über Umweltschutz geschrieben hatte. Ich bezog meine erste kleine Wohnung und sofort erzählte man mir, dass genau gegenüber mein Onkel einmal gewohnt hatte. Nach und nach erfuhr und begriff ich, wer mein Onkel war: Max Leo Müller, geboren am 25. Juli 1917, hatte viele Talente. In erster Linie war er Schriftsteller. In frühester Jugend schrieb er bereits Romane, mit 116 Erinnerungen an den Onkel 24 Jahren arbeitete er als freier Schriftsteller. Bedingt durch den Krieg schaffte er es nicht mehr, seine Werke als Bücher herauszugeben. Kleine Geschichten und Berichte von ihm sind jedoch in Zeitungen erschienen. Er gab Klavierabende, spielte Bassgeige in einer Band und hatte Verbindungen zu einem Münchener Kabarett. Er schrieb Schlagertexte, malte Bilder, konnte mehrere Sprachen sprechen und war auch sehr gut im Weitsprung. Während einer Frankreichreise lernte er seine Frau Carmen kennen. Er brachte sie mit nach Landshut und vermählte sich 1942 mit ihr. 1943 fiel er bei Murmansk. Es war eine schwere Minenverletzung, bei der er seine Beine verlor. Er wollte einem Kameraden zu Hilfe eilen und überlebte noch schwerverletzt eine Weile im Lazarett. Und er diktierte noch Briefe an seine Mutter und an seine Frau. In einem der Briefe soll er geschrieben haben: „Alles können sie mir nehmen, aber nicht meinen Kopf (Verstand).“ Am 12. Juli 1943, um 12.40 Uhr starb er den sogenannten Heldentod. Seine Witwe ging zurück nach Frankreich. Über Jahrzehnte wuchs mein Wunsch, wenigstens eine einzige Zeile zu haben, die aus seiner Feder stammte. Als ich 40 Jahre alt war, bekam ich einen entscheidenden Hinweis, fasste mir ein Herz und begann, in einem Archiv zu stöbern. Nach einiger Zeit der Suche wurde mir die Aussichtslosigkeit, nach einer Stecknadel im Heuhaufen zu suchen, klar. Ich blätterte, gleich mehrere Seiten greifend, noch einmal durch und las plötzlich den Namen meines Onkels. Ich weinte nicht, ich war nur erschrocken und konnte vor Aufregung nicht weiterlesen. Ich hatte das Gefühl, mein Onkel wäre plötzlich im Raum und er sagt zu mir: „Jetzt lernst du mich endlich kennen, das hast du dir ja immer gewünscht.“ Ganz vorsichtig begann ich, die wunderschöne historische Novelle zu lesen. Den ersten Absatz lernte ich im Nu auswendig. Es ist sein Erbe an mich. Durch die Freude dieses Fundes begann ich, mir sämtliche Urkunden und Unterlagen über ihn zu besorgen. Es sind auch noch Fotos von ihm aufgetaucht. Sein Hochzeitsfoto hat einen Ehrenplatz auf meiner Kommode. Darüber denke ich oft nach: Max Leo war an einem 25. geboren, Carmen war an einem 25. geboren, die Heirat war an einem 25., er starb mit 25 Jahren, sie starb an einem 25. ... Erinnerungen an den Onkel 117 Aloysius Inderdühnen * 31. Dezember 1919 Vermisst seit 16. – 18. Januar 1945 bei Nowe Miasto Von Engelbert Inderdühnen Aloysius Inderdühnen war mein Lieblingsonkel. Als Bruder meines Vaters hat er mich als kleiner Junge mit Wehrmachtsabzeichen ausgestattet. Er kaufte immer ein paar mehr für seinen Neffen. Einmal beteten wir im Oktober in der Heimat (in Bracht am Niederrhein) für ihn den Rosenkranz. Plötzlich, während unseres Gebetes in der Familie, klopfte es bei Dunkelheit am Fenster und eine Stimme rief „Engelbert“. Erstaunen erfasste uns alle – Onkel Alois stand draußen vor der Tür. Er war auf Urlaub nach Hause gekommen. Vor dem Krieg bzw. seiner Einberufung war er mein bester Kamerad und Freund. Der Onkel war unverheiratet und arbeitete in der heimischen Dachziegelindustrie. Er war ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf. Ich besitze noch seine alte Kameraausrüstung in funktionsfähigem Zustand. Diese war in den Kriegsjahren in einem Brunnenschacht versteckt. Nachher zeigte sich das Gerät noch voll intakt. Selbst bereits über zehn Jahre alte Platten habe ich noch belichtet. Die Ergebnisse waren tadellos. Zu Streichen mit mir war der Onkel immer aufgelegt. Der Weg in den nahegelegenen Wald war für uns beide immer eine große Freude. Zur Nikolauszeit gab es Weckmänner; mit der Pfeife des Weckmannes wollte er mir das Rauchen lehren. Er stopfte die Pfeife mit Tabak und ich durfte ziehen, mit dem entsprechenden Erfolg … (mit acht Jahren!). Der Onkel ist leider nicht aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt. Eine spätere Nachforschung durch die Schwester des Vermissten über das DRK brachte das Ergebnis: „Der Gesuchte ist vermisst zwischen dem 16. und 18. Januar 1945 bei Nowe Miasto und wahrscheinlich gefallen. Es keinen Hinweis, dass der Verschollene in Kriegsgefangenschaft geraten ist.“ Dies ist alles, was wir über das Schicksal meines Onkels Alois Inderdühnen erfahren konnten. Mein Vater hat ihn später für tot erklären lassen, um familiäre Entscheidungen treffen zu können. 118 Erinnerungen an den Onkel Otto Thräner * 25. November 1914 in Tiefengruben bei Kranichfeld/Thüringen = 10. März 1943 bei Tawanowka/Charkow Gerhard Thräner * 3. Juli 1921 in Haarhausen, Kreis Arnstadt/Thüringen = 9. Juli 1941 bei Witebsk Von Gerhard Konrad Die Erinnerung darf nicht verlorengehen! Ja, ich mache bei der Aktion des Volksbundes mit und schreibe etwas über meinen Angehörigen: Name: Thräner Vorname: Otto Größe: 1,70 Meter, Haarfarbe: blond, Augenfarbe: blau, Besondere Eigenschaften: sind mir nicht bekannt. Erinnerungen an den Onkel 119 Lebenslauf: 25. November 1914 in Tiefengruben bei Kranichfeld/Thüringen geboren; Vater: Otto Hugo Thräner, Mutter: Olga Thräner geb. Möller. 2. November 1916 – 6. März 1920: Kriegsgefangenschaft seines Vaters in Frankreich. 1922–1930: Volksschule in Haarhausen. 9. Juli 1941: Sein Stiefbruder fällt bei den schweren Kämpfen um Witebsk. 16. Januar 1942: Einberufung zur Wehrmacht durch das Wehrbezirkskommando Weimar; militärische Ausbildung am Standort Gotha – Messbatterie Heeres-Flak Art.Ers.Abt. 279. Ab 23. Mai 1942 Kanonier in 2./Heeres-Flak-Abteilung (mot.) 274. 1. Juli 1942: Eingliederung der 2./Heeres-Flak-Abteilung (mot.) 274 in das Panzerartillerie-Regiment 16 (16. Panzerdivision; 6. Armee), Einsatz in der Ukraine und in Südrussland. 10. März 1943: Otto fällt bei Tawanowka (Ukraine) durch Infanteriegeschoss in die Brust; Grablage in Oschotschaje etwa 40 Kilometer südlich von Charkow, 3. Reihe Kameradengrab Nr. 9 von links. Ich, Gerhard Konrad, bin am 29. November 1946 geboren, somit gibt es keine persönlichen Erinnerungen an meinen Onkel. Name: Thräner Vornamen: Gerhard Otto Karl Größe: 1,62 Meter, Haarfarbe: schwarz, Augenfarbe: blaugrün, Besondere Eigenschaften: sind mir nicht bekannt. Lebenslauf: 3. Juli 1921 Haarhausen Kreis Arnstadt/Thüringen geboren; Vater: Otto Hugo Thräner, Mutter: Olga Thräner geborene Möller. 7. August 1921: Taufe in der St. Nicolai Kirche zu Haarhausen. 120 Erinnerungen an den Onkel 21. Dezember 1926: Geburt seiner Schwester Ursula Paula Thräner. Juli 1928 – Juli 1936: Besuch der Volksschule in Haarhausen. August 1936 – Februar 1941: Geschirrführer auf dem Bauernhof von Paul Geyersbach (Haarhausen). 22. April 1937: Tod der Mutter (Alter 41 Jahre). März 1941: Einberufung zur Wehrmacht und ab 28. März 1941 militärische Ausbildung am Standort Meiningen – 1. Kompanie KradschützenErsatzbataillon. 16. Mai 1941 – 20. Panzerdivision – hier wird Gerhard Kradschütze in der 2. Kompanie des Kradschützenbataillon 20 (K 20). 20. Mai 1941: Verlegung in den Raum Ohrdruf/Thüringen. In einem Brief vom 29. Mai 1941 an seine Schwester Ursula heißt es: „Ich bin in ein Dorf W. bei Ohrdruf gekommen.“ (Bei dem Dorf W. handelt es sich um Wölfis, wo er bei den Eltern des ihm bekannten Werner Heyn Quartier bezieht.) 8. Juni 1941: Gerhard besucht ein letztes Mal sein Elternhaus. 14. Juni 1941: Mitteilung an seine Schwester: „Mit Urlaub ist es jetzt ganz vorbei, denn in Kürze werden wir fortkommen. Wohin ist unbekannt.“ 9. Juli 1941: K 20 steht um 0.15 Uhr bereits einen Kilometer vor Witebsk; 7.45 Uhr beginnt der Angriff auf Witebsk; Vorausabteilung mit K 20 stößt auf harten Widerstand; nachmittags gegen 15.00 Uhr dringt K 20 in das brennende Witebsk ein; Stoßtrupps des K 20 besetzen nach hartem Kampf die Eisenbahnbrücke in Richtung Smolensk. Im Laufe der Kämpfe zwischen 7.45 und 19.00 Uhr wird Gerhard von einem Granatsplitter am Hinterkopf getroffen. Nach dem Bericht einer seiner Kameraden wurde der Kopf vom Körper gerissen … Nach der Einnahme von Witebsk am 10. Juli 1941 wird Gerhard zunächst drei Kilometer ostwärts der Stadt beerdigt, später erfolgt seine Umbettung auf den damaligen Heldenfriedhof II Witebsk. Erinnerungen an den Onkel 121 Kurt Mann Kurt Mann (im Bild links) mit seinem Bruder Walter im Kriegsjahr 1943 vor dem Theater in Kassel. * 8. März 1924 = 26. Januar 1946 Von Frank-Matthias Mann Kurt Mann wurde am 8. März 1924 als drittes von fünf Kindern geboren. Mein Vater Walter war zwei Jahre jünger – er starb, als ich 17 Jahre alt war. Die Familie wohnte im 4. Stock des Hauses Schillerstraße 13 in Kassel, in unmittelbarer Nähe der heutigen Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes. Der Vater war Zimmermann, die Mutter Näherin, wir waren einfache Leute in geordneten Verhältnissen. Was es gab, wurde geteilt – auch die Wohnung, mit ihnen lebte ein jüdischer Untermieter. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943 wurde die Familie ausgebombt und zog dann in die Friedenstraße. Der älteste Bruder, Helmut, war damals bei der Marine. Kurt war nach dem Besuch der Knaben-Mittelschule, der „HorstWessel-Schule“, Werkzeugmacher-Lehrling. In seinen Musterungsunterlagen stehen die Angaben „Größe: 160, Gewicht: 47, Körperbau: schlank“, unter „Nachträge“ steht: „will sich auf 12 Jahre verpflichten“. 122 Erinnerungen an den Onkel Aus der ersten Musterung geht er mit dem Stempel „untauglich“. Die zweite Musterung ergibt: „Zurückgestellt bis zum 31. Januar 1943“. Aber dennoch: als 18-jähriger wird er am 10. Dezember 1942 in den Dienst der Wehrmacht einberufen. Seine Ausbildung erfolgte in der Drachenberg-Kaserne in Meinigen/Thüringen zum Krad-Schützen im Ersatzbataillon 1, 1. Kompanie. „Ausbildung an der schnellsten erdgebundenen Waffe“ hieß das im Wehrmachts-Werbetext. Ein Kamerad, der mit ihm ausgebildet wurde, erinnerte sich, dass Kurt nicht nur ein weiches Gesicht, sondern auch ein weiches Wesen hatte und sehr anhänglich war. Während seiner Ausbildung verlor Kurt bei einem Schießunfall ein Auge, ihm wurde ein Glasauge eingesetzt. Kurt schrieb meinem Bruder schließlich mit der Feldpost: aus Dänemark (1944) und aus Weimar. Am 2. Juni 1944 schrieb er den gewagten Satz: „Ich muss nur staunen, dass du einen so großen Optimismus hast ...“. Zu Weinachten schickt er ihm eine angerauchte Tabakpfeife vom Heimaturlaub, bevor er wieder zu seiner Einheit zurückmusste. „Das ich nicht davon begeistert bin, kannst du dir sicher vorstellen. Aber man ist Soldat und muss das tun, was befohlen wird.“ So schrieb er an seinen Bruder, der mittlerweile auch 18-jährig, in die Ardennenoffensive „geschmissen“ worden war. Von Kurt gibt es vier erhaltene Fotos. Zwei zeigen ihn, vor Dattelpalmen, auf einem Kasernengelände. Auf dem dritten steht er vor einer Phoenix-Palme. Als Angehöriger der 1. Panzer-Division muss er sich damals im Raum Patras in Griechenland aufgehalten haben. Auf die Rückseite hat er geschrieben: „Meinem lb. Bruder Walter zum Andenken an seinen Bruder Kurt. O.h. d. 3. Oktober 1943.“ Feldpost von Kurt aus seinen östlichen Einsatzgebieten (Russland und Ukraine) ist nicht erhalten, wohl aber eine Urkunde über die Verleihung eines „Eisernen Kreuzes 2. Klasse“ – mit dem Blechstück dabei – unterschrieben vom General der Panzertruppe aus dieser Einsatzzeit. Kurt bekam es offensichtlich für eine schwere Verwundung verliehen. Am 26. Januar 1946 ist Kurt in einem Kriegsgefangenenhospital in Lublin/Polen verstorben. Ein Grab ist nicht vorhanden. Auf dem in Bau befindlichen Soldatenfriedhof wird auf einer Namenstafel bzw. in einem Namenbuch an ihn erinnert werden, wie mir der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in einem Brief mitgeteilt hat. In meiner Erinnerung sehe ich ein gerahmtes Foto von Kurt auf dem Fernseher meiner Oma, seiner Mutter. Ein schwarzes Bändchen befand Erinnerungen an den Onkel 123 sich – als Trauerflor – am oberen linken Rand. Manchmal kam bei Oma so eine Melancholie auf, die irreale „Vielleicht kommt er ja eines Tages doch noch“-Hoffnung. Und stand nicht an Festtagen ein zusätzliches Gedeck auf dem Tisch? Das aber mag Fiktion sein, fabuliert aus meinen kindlichen Erinnerungen und Phantasien. Als 14-jähriger sammelte ich, im Klassenverband, das erste Mal mit einer Spendenbüchse für den Volksbund im Gedenken an Onkel Kurt. Als 18-jähriger verweigerte ich den Kriegsdienst in der Überzeugung, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Im vergangenen Jahr wurde ich Mitglied im Volksbund im Gedenken an den Onkel und immer noch in der Hoffnung, dass Menschen aufhören, gegeneinander Krieg zu führen. 124 Erinnerungen an den Onkel Hugo Bornmann Hugo Bornemann, im Bild vorne rechts. * 5. März 1921 in Utphe/Kreis Giessen = 14. Juni 1943 Von Hildegard Koch Von meinem Onkel Hugo möchte ich erzählen. Er wurde als das sechstes Kind der Familie geboren. Der Großvater hatte eine kleine Landwirtschaft, in der alle mithelfen mussten, bis sie ins Berufsleben gingen. Onkel Hugo hatte sich für den Beruf des Metzgers entschieden, er fand in Wetzlar nach der Volksschule eine Lehrstelle. Ich denke, dass er noch seine Gesellenprüfung absolvierte, genaues ist mir darüber aber nicht bekannt. Jedenfalls meldete er sich, als der Krieg begann, freiwillig zur Marine. Wie kommt ein junger, liebenswerter, fröhlicher Mann aus Hessen, wo weit und breit kein Wasser ist, dazu, sich zur Marine zu melden? Ich habe es nicht verstanden. Erinnerungen an den Onkel 125 Onkel Hugo ist ein begeisterter Seemann geworden. Wenn er auf Urlaub kam, erzählte er uns von seiner Ausbildung, von dem schönen Schiff „Robert Ley“, von dem Hafen Pillau und von der Ostsee. Wir Kinder hörten gespannt zu, das war alles so neu und so weit weg. Vom großen Wasser, der Ostsee, hatten wir keine Vorstellung. Wir planschten im Sommer in der Horloff, einem kleinen Gewässer, in dem wir noch nicht mal schwimmen lernen konnten. Nach der Grundausbildung (als Koch und am Geschütz) kam Onkel Hugo auf ein U-Boot in Frankreich. Dort waren die U-Boot-Bunker, von dort liefen die Boote zur „Feindfahrt“ aus, dahin kamen sie zurück zur Reparatur, Ausbesserungen und zum Bereitmachen für die nächste „Feindfahrt“. Für die Bootsmannschaft gab es vier bis sechs Wochen Heimaturlaub, je nachdem wie stark das Boot beschädigt war. Wir Kinder freuten uns sehr, wenn Onkel Hugo heimkam. Er hatte immer viel zu erzählen: Dass sie wieder einmal Glück gehabt hätten, dass aber das Boot durch Wasserbomben Beschädigungen abbekommen hätte. Nie hat er uns erzählt, welchen Erfolg sie mit ihren Torpedos gehabt haben. Einmal erzählte er uns ein Geheimnis. Wir mussten ihm versprechen, mit niemandem darüber zu reden! Mit ihrem U-Boot hatten sie eine Fahrt nach Südamerika unternommen bis nahe an die Küste, um Spione abzusetzen! Von einer schrecklichen Sache hat er auch mal gesprochen. Ein Deserteur sollte erschossen werden. Willkürlich wurden sechs Matrosen ausgewählt, sie mussten alle schießen, aber nur in einem Gewehr war die tödliche Kugel. Keiner wusste, wer dieses Gewehr bekommen hatte. Ich war entsetzt, so grausam ist der Krieg: einen Kameraden erschießen! Bei seinen Urlauben brachte Onkel Hugo seinen großen Seesack mit. Wir durften darin wühlen, bis wir in der Schmutzwäsche Herrlichkeiten fanden, die wir nicht kannten und die wir nicht kaufen konnten: Da kamen Fläschchen Kölnisch Wasser 4711 zum Vorschein oder LacalutPulver in Flaschen zum Zähneputzen. Heute noch kaufe ich Lacalut, es gibt aber nur Pasta. Wir fanden noch andere Köstlichkeiten, wohlriechende Seife, Plätzchen und Zwieback, die wir sehr sparsam verbrauchten, um recht lange davon zu haben. Einmal hat er uns den Nikolaus gespielt. Meine jüngste Schwester war fünf oder sechs Jahre alt, sie war sehr krank. Mutter hatte in der immer warmen Küche auf der Bank ein Bett für sie gebaut, ich habe ihr vorgelesen. Da polterte es draußen, ein Klopfen an der Küchentüre und herein kam der Nikolaus mit einem großen, gefüllten Sack. Meine kleine 126 Erinnerungen an den Onkel Schwester hat sich sehr gefürchtet; ich musste ein Gedicht aufsagen. Irgendwie habe ich herausbekommen, dass der Nikolaus vielleicht Onkel Hugo sein könnte. Meiner Schwester wollte ich zeigen, dass der Nikolaus ganz harmlos ist: Ich zupfte und zog am Mantel und Sack. Diesen hatte er inzwischen ausgeleert. Was drinnen war, ich weiß es nicht! Der Nikolaus drehte sich wieder zu mir um, schnappte mich und setzte mich kopfüber in den Sack, meine Beine schauten noch raus, er band ihn zu, nahm ihn auf den Rücken und ging, unter dem Geschrei meiner Schwester, zur Tür hinaus. In seinem Bart brummte er: „Dich nehme ich mit!“ Er ging zur Tür und zum Haus hinaus. Jetzt wurde mir Angst und Bange. War das doch nicht Onkel Hugo? Am Hoftor hat er mich dann aus dem Sack befreit und mit tiefer Stimme gebrummt: „Necke nie den Nikolaus! Und nun geh zu deiner Schwester und tröste sie.“ Da wusste ich genau, das es doch Onkel Hugo war. Wir haben aber nie darüber gesprochen. Onkel Hugos letzter Urlaub. Dieser Urlaub dauerte nur 14 Tage. Sein U-Boot hatte einen neuen Kommandanten bekommen und der wollte so schnell wie möglich wieder „an den Feind“. Es war heller Mondschein am letzten Abend. Ich habe Onkel Hugo zum Zug gebracht. Es war im Mai 1943 und ich war zwölf Jahre alt. Onkels Seesack lag gefüllt mit frischer Wäsche und Proviant auf unserem Handwagen, den wir gemeinsam die vier Kilometer bis zum Bahnhof zogen. Unterwegs war Onkel Hugo sehr ernst. Sonst hatten wir auf diesem Weg immer fröhlich gesungen und Witze erzählt. Doch dieses Mal sagte er: „Hör zu, was ich dir jetzt sage, musst du für dich behalten: Dies war mein letzter Urlaub, ich komme nicht mehr wieder! Unser Kommandant ist sehr ehrgeizig, er hat schon das Ritterkreuz und nun will er auch noch das mit Eichenlaub und Schwertern.“ Onkel Hugo hat mich ganz fest gedrückt und wir haben beide sehr geweint. Ich habe ihn nie wieder gesehen! Nach Monaten kam ein Brief aus Amerika an meine Großeltern vom Kommandanten. Er schrieb: „Ihr Sohn Hugo ist in Tapferkeit auf seinem Posten an der Flak gefallen. Das Boot konnte nicht mehr tauchen, wurde getroffen und sank am 14. Juni 1943.“ Ein paar Kameraden und der Kommandant wurden von amerikanischen Schiffen gerettet. Onkel Hugo ist mit dem U-Boot untergegangen. Für meine Großeltern war 1943 ein schlimmes Jahr, es ist noch ein Sohn in Italien gefallen, ein anderer wurde in Afrika vermisst. Erinnerungen an den Onkel 127 128 Erinnerungen an den Vater Friedrich Koch von Dr. Friedrich Koch 130 Otto Woggon von Anneliese Langbeck 133 Franz Hügen von Gerda Michels 134 Curt Hildebrand von Ingeborg Linder 136 Dr. Fritz Röhricht von Dr. Gisela Koch 139 Ernst Kampe von Dieter Kampe 141 Wilhelm Knoch von Dieter Knoch 144 Friedrich Ihle von Barbara Ihle 145 August Kunz von Ingeborg Kunz 148 Reinhold Pinske von Dorothea Lange 150 Adolf Lerche von Hans Ulrich Lerche 154 Emil Witzke von Alfreda Mielcarek 156 Hermann Mette von Gisela Müller 157 Kurt Masson von Helga Kuhnert 161 Franz-Joseph Vantroyen von Marianne Tropper 162 Kurt Johannes Stephan von Alice Stephan 164 Edwin Schunda von Ingrid Tschorn 166 Heinrich Jakob Vierheller von Ilse Müller 168 Friedrich Münstermann von Albert Münstermann 170 Wilhelm Neidel von Christoph Neidel 173 Erinnerungen an den Vater 129 Friedrich Koch * 25. März 1919 in Riga = 17. Juli 1941 Von Dr. Friedrich Koch Mein Vater starb etwa drei Wochen vor meiner Geburt im Alter von nur 25 Jahren. Ich kann trotzdem einiges, wenn auch nicht sehr viel, über ihn berichten, denn Verwandte, Bekannte, Kameraden, seine Lehrer und sein Bruder haben viel über ihn erzählt. Sie sprachen durchweg mit großer Hochachtung von ihm. Er ist am 25. März 1916 in Riga als ältester Sohn des Frauenarztes Dr. Ernst Koch geboren. Vater und Mutter entstammten deutsch-baltischen Familien. Seine Mutter war die Schwester des bekannten baltischen Schriftstellers Siegfried von Vegesack, der seit dem Ersten Weltkrieg sein Domizil im Bayerischen Wald hatte. Mein Vater bekam, wie damals üblich, zuerst häuslichen Unterricht, besuchte dann die städtische Deutsche Grundschule und das Klassische Gymnasium in Riga. Sein Ziel war die Universitätslaufbahn, doch der beginnende Zweite Weltkrieg zerschlug diese Pläne. Hitler hatte im September 1939 Polen überfallen und alle Baltendeutschen mussten nach dem Hitler-Stalin Pakt ihre Heimat verlassen und in den eroberten „Warthegau“ (Posen) umsiedeln. Am 27. September 1940 heirateten mein Vater und meine Mutter in Posen. Nach zwei Monaten glücklicher Ehe erhielt mein Vater den Einberufungsbefehl und Anfang Dezember hieß es Abschied nehmen. Im Laufe des Frühlings 1941 erhielt er einmal kurzen Urlaub. Der letzte Brief meines Vaters an meine Mutter stammte vom April 1941. Er schreibt: „Ich habe jetzt öfter über die Zukunft nachgedacht, und zwar auch über den Fall, dass es schief geht. – Zunächst mal, sollte ich weit fort kommen, z. B. Afrika, so ist es klar, dass Nachrichten nur selten und in sehr langen Zwischenräumen an dich gelangen können. 14 Tage – drei bis vier Wochen ist dann nichts ungewöhnliches für Feldpost! Wenn du nun dann in Unruhe gerätst und die Eltern auch, so wäre mir das schmerzlich, – es ist nicht gut für dich und unser Kindchen. – Darum bitte ich dich sehr, gewöhne 130 Erinnerungen an den Vater dich an den Gedanken langer Briefpausen – solange du keine authentische Nachricht hast, dass ich gefallen bin, solange besteht stets die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich wiederkomme. Ich glaube, dass unser nächster Einsatz in sehr großen Räumen sich abspielen wird, d.h. für uns, dass wir leicht auf Gegner stoßen können, unsere sehr starke Bewaffnung lässt mir das wahrscheinlich erscheinen. Dabei ist natürlich mit Verlusten und Gefangenen zu rechnen. Aus Gefangenschaft wird eine Nachricht von mir dich erst sehr spät erreichen! – Siehst du, solche Sachen wollen alle bedacht sein, damit im gegebenen Fall etwas da ist, an das sich Hoffnungen anknüpfen können. Ich hoffe, mein Liebes, es ist dir nicht zu schmerzlich, darüber mit mir zu schwatzen. Es ist doch viel besser und leichter, wenn wir wissen, was wir darüber denken und im Ernstfall ein Trost. Ich glaube zwar bestimmt, dass ich wiederkomme, aber wissen kann das niemand. Man kann das doch nicht so abtun, wie ich das bisher tat. Ich glaube, es wird für dich viel leichter sein, wenn du weißt, wie ich über den Tod als Soldat denke und was ich wünsche. Das ist doch noch so ein letzter Ruf, wenn es soweit kommen sollte. Falls ich also falle, so ist mir daran nur ein Gedanke sehr, sehr schwer, und das ist dein Leben! Wirst du mein Kindchen weiter erziehen, wenn ich es nicht mehr können sollte? Du kannst es ja nicht anders als ich! Ich bin sehr froh, dass du nun in dem Kind stets etwas haben wirst, was dein Leben ausfüllt. Mein Tod wird (falls ich nachher noch denken kann) mir nicht unnütz vorkommen Mein Sohn, oder meine Tochter (beide wären mir gleich lieb) sollen das später wissen, sie sollen Balten werden – sollen trotz aller Schwere den Konflikt spüren oder zumindest verstehen, den wir tragen müssen. So, viel lieber aber will ich und werde ich mit dir mein Leben noch selbst in die Hand nehmen. Ich bin natürlich derselbe Schwärmer, das siehst du schon aus diesem Brief, aber doch haben mich Ehe und jetzt die Soldatenzeit ein wenig geändert, und den Nutzen davon werde ich ein Leben lang haben. Ich werde in meinem Beruf etwas erreichen, du wirst zufrieden mit mir sein können. Ich will, da wir hier nun leben, auch eine äußere Anerkennung erringen, aber vor allem nie innerlich einrosten. Jetzt warte ich auf die Post, die gleich gebracht wird und vielleicht ist ein Brief von dir dabei. Weißt du, ich merke, dass es so viel schwerer ist, dir schriftlich etwas Liebes zu sagen und nett zu sein, als mündlich oder wenn wir ganz still zusammen sind. Ich sehe noch deine liebe Gestalt von dir, mit den für mich unendlich schönen Zeichen einer jungen Mutter … das Gefühl, dass ich dein Beschützer bin und der unserer Kinder, wächst noch Erinnerungen an den Vater 131 mehr. Es ist schön, dass wir in unserer Ehe alles sein können, Geliebte, Geliebter, Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter. Ich umarme dich voller Liebe und küsse dich, meine geliebte Frau Dein Mann.“ Die erste Nachricht vom Tode meines Vaters ist vom 24. Juli 1941 datiert und war an meine Mutter gerichtet. Am 17. Juli fiel er durch einen Lungenschuss in der Gegend zwischen Smolensk und Witebsk. Meine Mutter war vor Schmerz versteinert und wusste, dass sie ihren kleinen Sohn, der drei Wochen später zur Welt kommen sollte, alleine würde aufziehen müssen. 132 Erinnerungen an den Vater Otto Woggon * 17. Februar 1921 in Kirchweyhe bei Uelzen = 14. März 1942 in Russland Von Anneliese Langbeck Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater, nur Bilder und Erzählungen meiner Mutter. Ich wurde im August 1939 geboren. 1940 wurde mein Vater eingezogen. 1941 hatte er noch einmal Urlaub und wir haben Bilder davon. Dann kam er nach Russland und dort ist er am 14. März 1942 gefallen. Mit 21 Jahren. Der Ort hieß Toßno. Meine Mutter bekam alle Papiere und Auszeichnungen zugeschickt, auch Bilder vom Soldatenfriedhof, auf dem mein Vater begraben wurde. Als Kind habe ich sehr darunter gelitten, ohne Vater aufzuwachsen. Als die ersten Heimkehrer aus Russland kamen, dachte ich immer, mein Vater könnte dabei sein. Es ging mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht hätten sich alle geirrt und er stünde auf einmal vor unserer Tür. Meine Mutter hatte es damals nicht leicht mit mir. Aber das Wunder geschah nicht und ich musste mich damit abfinden. Als Andenken blieb mir nur seine Mandoline. Die hatte er mit großer Leidenschaft seit seinem achten Lebensjahr gespielt. Nun bin auch ich Mutter und mein Sohn ist Berufssoldat und für ein halbes Jahr im Kosovo. Warum gibt es immer wieder Krieg? Wann lernen die Menschen endlich, miteinander zu leben? Erinnerungen an den Vater 133 Franz Hügen Mein Vater und meine Mutter * 5. April 1914 = zwischen 17. Februar und 30. März 1945 Soldatenfriedhof Saldus/Lettland Grablage: Block F, Reihe 28, Grab 1192 Von Gerda Michels Mein Vater, Franz Hügen, wurde 1914 in Kranenburg, einer kleinen Gemeinde im Kreis Kleve am Niederrhein geboren. Er war das jüngste von sieben Kindern. Seine Mutter und sein Vater verstarben früh, als mein Vater sieben Jahre alt war. Er wuchs bei einer Schwester auf und besuchte die Volksschule in Kranenburg. Nach deren Beendigung trat er in den Dienst der Reichsbahn. Im November 1940 heiratete er. Wann er zum Wehrdienst einberufen wurde, ist mir nicht bekannt. Seine Anfangsbriefe von der Ostfront haben das Datum Frühjahr 1943. Er schrieb in seinem Briefen, dass er bei Polok in Weißrussland liege und bei den feldgrauen Eisenbahnern wäre. Wahrscheinlich war mein Vater bei der Heeresgruppe Nord. Im Juni/Juli 1944 mussten sie vor den Russen zurückweichen. Dann schrieb er, er liege bei Dünaburg/Lettland. Ende 1944 schrieb er aus Windau/Lettland. Seine letzten Briefe stammten vom 6., 7. und 8. November 1944. Da Kranenburg/Kleve am Niederrhein Frontgebiet geworden und die Bevölkerung evakuiert worden war, sind wohl Briefe von Vater verloren gegangen. 134 Erinnerungen an den Vater In den Briefen schrieb Vater auch, dass er über zwei Jahre keinen Urlaub hatte und nicht mehr zu Hause war. Bekannt ist mir, dass Vater im Januar 1945 überraschend kurz auf Urlaub in Kranenburg war, als aber alle Urlauber wieder zurück an die Front mussten, ist auch er zurückgefahren. Auch in Lettland/Kurland ging im Januar 1945 alles drunter und drüber. Es gab dort sechs Schlachten bis Kriegsende. Meine Mutter hat von Vater nie mehr etwas gehört. Keine Nachricht, keinen Brief. Sie hat Kameraden gefragt, an heimkehrende Kameraden geschrieben, ob diese Vater gesehen hätten oder etwas von ihm wüssten, aber niemand konnte ihr etwas über den Verbleib meines Vaters sagen. Seit dieser Zeit galt er als vermisst. Mutter hat 1951 wieder geheiratet und Vater für tot erklären lassen. Danach wollte Mutter nicht mehr über den Krieg oder über Vater sprechen. Meine Schwester und ich waren noch zu klein, meine Schwester Jahrgang 1942 und ich 1941, um dies zu begreifen. Meine Mutter verstarb 1995 und so hat sie nie etwas von Vater erfahren. Nach Mutters Tod bekamen wir, meine Schwester und ich, den Nachlass mit Vaters Briefen und wenigen Fotos. Da die Briefe in Sütterlin geschrieben waren, mussten wir sie erst übersetzen, um sie lesen zu können. Es war für meine Schwester und mich sehr schmerzvoll zu lesen, was Vater so schrieb, bewegte und dass er voller Sorge um seine Familie in der Fremde war. Am 27. November 1998 kam der Brief an meinen Halbbruder, von der Benachrichtigungsstelle in Berlin, dass man Vater bei Umbettungsarbeiten in Bukupe/Lettland gefunden hat und seine Gebeine auf den Soldatenfriedhof in Saldus beigesetzt wurden. Bei den Einweihungsfeierlichkeiten durfte ich dank der unermüdlichen Arbeit des Volksbundes im Osten an seinem Grab stehen. Ich werde Ihre Arbeit und Mühe auch weiterhin unterstützen, so gut es geht. Denn ohne Sie hätten wir nie mehr etwas vom Schicksal meines Vaters erfahren und hätten nicht gewusst, wo er geblieben ist! Für Ihre große Mühe und Arbeit bedanke ich mich ganz herzlich. Erinnerungen an den Vater 135 Curt Hildebrand Vermisst seit Mai 1945 Von Ingeborg Linder Mein Vater wurde schon am 26. August 1939 eingezogen. Die wehrpflichtigen Männer in den Grenzorten waren zuerst dran. Die Einberufungsbefehle mussten von Postbeamten zugestellt werden. Sie schafften es tagsüber nicht, und so lief der Bote auch in der Nacht herum und kletterte, wenn nötig, sogar über Zäune, um an die Schlafzimmerfenster zu klopfen. Ich wachte durch den Lichtschein der Nachttischlampe und durch eine fremde Stimme auf. Mein Vater wandte mir, weiß und lang behemdet, den Rücken zu und nahm ein Papier entgegen. Das Fenster war wieder geschlossen. Meine Mutter redete aufgeregt. Das Licht war aus, aber ich hörte noch lange, wie die Mama weinte und der Papa leise flüsterte. Es war der 26. August 1939. Wir waren gerade aus dem Urlaub in Henkenhagen an der Ostsee zurückgekommen. Es war ein ganz besonders schöner Sommer! Die Koffer waren noch nicht auf den Speicher gestellt. Einer wurde nun wieder gepackt. An dem Tag, als meine Schwester getauft werden sollte, klingelte es an der Tür. Ich öffnete – da stand der Papa und strahlte übers ganze Gesicht. Nachdem das Baby im Stubenwagen gebührend bewundert war, tauschte Papa schnell und gern die Uniform mit seinem besten Anzug. Während der Taufzeremonie konnten die Eltern abwechselnd das Baby im Kissen halten und wiegen. 18. Dezember 1944 Meine liebe Lieselotte! Herzlichen Dank für deinen lieben Brief vom 12. d. M., den ich heute Mittag erhielt. Ich habe alles mit Interesse gelesen. Am meisten Sorge macht man sich nun um die Eltern; denn fast alle Tage liest man ja von Einflügen nach dort (Korbach bei Kassel!), so auch heute wieder. Was mag dort noch vor sich gehen, was man nicht weiß bzw. hört. Ich habe ihnen gestern meinen Weihnachtsbrief geschrieben. Es ist ja immer viel Leid in der Welt gewesen; aber was der furchtbare Krieg für Leid hervorgerufen hat, das ist so schrecklich, dass man in einer 136 Erinnerungen an den Vater ruhigen, besinnlichen Stunde zu keinem Resultat kommt, weshalb das alles über uns kommen und ertragen werden muss. Nun, liebe Lieselotte, wir fühlen darin ja nur mit den anderen. Wir selbst sind ja, trotz allem Schweren, das der Krieg für uns, jeder auf seinem Platze, mit sich gebracht hat, noch gesund daraus hervorgegangen, alle sechs. Und dafür wollen wir dem Schicksal dankbar sein. Nun, wir wollen nicht nur das Trübe sehen. Vielmehr wollen wir gerade angesichts des Weihnachtsbaumes etwas froher ins Licht sehen. Der Christbaum hat uns unser Leben lang fast nur frohe Stunden bereitet, uns zufrieden und glücklich gemacht, sodass wir auch in dieser ernsten Zeit nicht ganz mutlos werden wollen; hoffen wir, dass auf uns alle mal wieder etwas Licht und Sonne fällt. Ich lege diesem Brief ein Weihnachtskärtchen für Klein-Rosemarie und einen Brief für die große Ingeborg bei; bitte lege den lieben Kleinen meine Grüße auf den Weihnachtstisch. Was ich darin gesagt habe, wird ja jedes verstehen. Die bescheidenen Geschenke, die ich im Laufe der Wochen geschickt habe, machen ihnen hoffentlich auch Freude. Nur vor dir stehe ich mit leeren Händen. Aber ich denke, ein irgendwo erstandenes Schmuckstück oder ein anderer Gegenstand macht’s bei dir auch nicht. Was ich meine, weißt du. Und nun, liebe Lieselotte, habe ich den Wunsch, dass du den Weihnachtsabend so gestalten möchtest, als wenn ich auch dabei wäre. Alles, was uns früher froh gemacht hat, soll die Kinder auch froh machen. Feiert ein frohes, deutsches Weihnachtsfest, und ich will herzlich an euch denken. Dir, liebe Lieselotte, auch viele liebe Weihnachtsgrüße. Dein Curt N.S. Das Feldpostpäckchen mit Kuchen und Gepäck ist heute auch noch angekommen; vielen Dank dafür. Mein Vater ist nie wiedergekommen Sein letztes Lebenszeichen war ein Brief vom 14. März 1945 aus Littau (bei Olmütz, Tschechoslowakei) an seinen Freund aus der Wandervogelzeit: „Wieder muss ich heute schreiben: Wie hat sich die Lage verändert! Du meinst, dass uns am Tage deines Schreibens der Boden auch in Krakau heiß Erinnerungen an den Vater 137 werden würde. Nun, am 18.1. waren die Russen schon im Besitz dieser Stadt. Es überstürzten sich die Ereignisse. Am 16.1. rückte das Gros unserer Kompanie ab; ich blieb bei einem Nachkommando von 20 Mann. … Wir mussten auf Befehl bald weiter über Auschwitz, Pleß und Rybnik nach Ratibor. Auf diesen Wegen und später noch sahen wir Bilder schrecklichen Jammers; endlose Züge der flüchtenden Zivilbevölkerung, Gefangenenkolonnen und Wehrmachtstrosse bei eisiger Kälte von 15 bis 20 Grad auf der Chaussee. Wir sahen noch mehr, was man nicht schreiben kann. – In Ratibor blieben wir einige Tage und wurden dann in jenes kleine Städtchen bei Olmütz befohlen, wo wir schon mal vergangenen Sommer fünf Wochen gelegen hatten. Es ging über Troppau und Bärn im Sudetenland; wäre der Anlass nicht so traurig gewesen, behielte man die Fahrt als schönes Erlebnis in Erinnerung. – Nun sind wir schon wieder sieben Wochen hier, können aber jeden Tag wegkommen.“ Nach Auskunft des Suchdienstes vom Roten Kreuz wurde mein Vater noch am 1. Mai 1945 von Lissa an der Elbe zu einem Lehrgang nach Nymwegen abkommandiert. Es wird angenommen, dass er auf diesem Weg nicht weit gekommen und in den Wäldern bei Prag bei letzten Kämpfen (evtl. durch Partisanen) umgekommen ist. 138 Erinnerungen an den Vater Dr. Fritz Röhricht * 26. März 1898 = 9. September 1945 in Kragujevac/Jugoslawien Von Dr. med. Gisela Koch Ich bedanke mich für den Anstoß zur eigenen Erinnerung. Schön daran ist allein schon, dass man sich selbst, veranlasst durch Ihre Aktion, noch einmal mit demVerstorbenen intensiv befasst und eigene Erinnerungen, wenn sie auch noch so gering sind, hervorsucht. So habe ich meine ältere Schwester beauftragt, mit dabei zu helfen und lege Ihnen deren Aufzeichnungen bei, da sie Persönliches und Anekdotisches besser als ich behalten hat. Ich habe meinen Vater nur in meinen allerersten Kinderjahren erlebt und kann mich nur noch sehr verschwommen an ihn erinnern. Es war ein Gefühl von Geborgenheit und Liebe. Ich kann mich noch an zwei Lieder erinnern, die er immer gesungen hat. Oft hat unser Vati mich auf den Arm genommen und mir vorgesungen. Das sind so etwa meine ersten Kindheitserinnerungen. Dann weiß ich noch einige Episoden, die mir Mutti und unsere Anna (Kinderfrau) erzählt haben. Als ich geboren wurde, hatte ich noch keine Haare, ich hatte eine Glatze, die schön in der Sonne glänzte. Als unser Vati kurz nach meiner Geburt Mutti im Krankenhaus besuchte, stand er da und betrachtete mich mit zerfurchter Stirn. Unsere Mutti fragte ihn, was denn los wäre, warum er mich so sorgenvoll ansehen würde. Da fragte er ganz besorgt: „Wird die Kleine denn lebenslänglich die Glatze behalten?“ Da lachte seine Frau und klärte ihn darüber auf, dass die meisten Babys mit einer Glatze auf die Welt kommen und die Haare dann im Laufe der Zeit wachsen. Vati hat sehr viel und gern gelesen. Wir hatten ein riesengroßes Bibliothekszimmer mit Bücherregalen ringsherum. Unser Vati hatte fast sein ganzes Geld für Bücher ausgegeben. Er konnte so viel verdienen, wie er wollte, spätestens in der Mitte des Monats hatte er nichts mehr. Daraufhin hat unsere Mutti das Geld verwaltet. Das hat sie oft erzählt. Eine heitere Geschichte: Unser Vati war zwar intellektuell und geistig sehr hochstehend, aber im praktischen Leben völlig ungeschickt. Einmal war er allein zu Hause und hatte den Abwasch erledigt. Als Anna Erinnerungen an den Vater 139 und unsere Mutti nach Hause kamen, hatten sie das Geschirr gesucht. Nirgendwo war ein Teller oder eine Tasse zu finden. Dann hatte Anna im äußersten Winkel hinter dem Ofen ein Bündel entdeckt, das in ein Tuch eingebunden war. Als sie sich das Bündel genau ansah, waren darin lauter zerbrochene Teller und Tassen, die Scherben vom Abwasch unseres Vaters. Eine merkwürdige Geschichte: Es war das letzte Kriegsjahr, etwa Anfang 1945. Vater war im Herbst 1944 zum Kriegsdienst eingezogen worden. Anna hörte plötzlich nachts in ihrem Schlafzimmer ganz laut und deutlich neben sich die Stimmen unseres Vaters: „Anna, ich bin wieder da!“ Anna war daraufhin aufgestanden, hatte das Licht angeknipst, aber nirgendwo war Vater zu sehen. Sie suchte ihn überall. Den ganzen Raum hat sie abgesucht, in den Schränken und unter dem Bett (als ob unser Vater, wenn er wirklich wiedergekommen wäre, sich im Schrank oder gar unter dem Bett versteckt hätte). Das war ein Zeichen, dass er niemals wieder zurückkehren würde, hat Anna gesagt, und so ist es ja auch wirklich gekommen ... 140 Erinnerungen an den Vater Ernst Kampe * 16. Dezember 1910 in Salzwedel/Altmark Vermisst 1944/45 Von Dieter Kampe Lange habe ich überlegt, ob ich Ihnen die Lebensgeschichte meines Vaters, über den ich selbst auch nur wenig weiß, aufschreiben soll. Aber auch heute noch, 60 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, nachdem ich selber schon alt bin, geht mir immer wieder die Frage durch den Kopf, wie und wo sein Leben ein Ende fand, unter welchen Umständen er, wenn überhaupt, begraben wurde. Mein Vater kam als Sechs- oder Achtjähriger mit seiner Großmutter und seiner Mutter nach Berlin. Beide Frauen hatten keine Männer mehr und schlugen sich recht und schlecht durch die schweren Jahre. Die Großmutter lebte von einer kleinen Rente, die sie für zwei im Ersten Weltkrieg gefallene Söhne bekam. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zweimal in Berlin bei den Bombenangriffen verschüttet und verlor all das Wenige, was sie besaß. Die Bombenangriffe überlebte sie unversehrt, starb aber 1949 ärmlich und gebrochen im Alter von nur 60 Jahren an Krebs. In der Obhut der beiden Frauen – Großmutter und Mutter – wuchs mein Vater nicht weit vom Luisenplatz, direkt bei der berühmten Berliner Charité, auf. Es war die Zeit der Unruhen, Revolution, Aufstände, Inflation, Arbeitslosigkeit und des Elends. Mein Vater konnte keinen Beruf erlernen, auch wenn er für kurze Zeit eine Lehrstelle als Erinnerungen an den Vater 141 Schmied hatte, er musste sie abbrechen, da sie so weit außerhalb von Berlin lag, dass er sie kaum erreichen konnte. Er muss sehr fleißig und zu jeder Arbeit bereit gewesen sein, so dass er immer wieder eine Beschäftigung fand. 1929 lernte er dann Mutter kennen, 1933 heirateten meine Eltern, ich wurde 1934 geboren. Zu der Zeit arbeitete mein Vater als Rollkutscher, wie man damals noch sagte, für Speditionsfirmen. Allerdings nicht mehr mit Pferd und Wagen, sondern schon als Lastkraftwagenfahrer, da er in der Zwischenzeit seinen Führerschein gemacht hatte. Meine Mutter hat in den Jahren immer mitgearbeitet, sofern sie oder beide in der Zeit überhaupt Arbeit hatten. Ich glaube, es war im Frühjahr 1938, als mein Vater sich freiwillig für ein paar Monate zum Wehrdienst meldete, da er wieder mal keine Arbeit hatte. Mein Vater war immer guter Dinge und sehr zuverlässig, denn irgendwann nach Kriegsende fragte man bei meiner Mutter an, was aus ihm geworden sei, und ob er nicht wieder bei der Firma anfangen und als Haus- und Platzmeister arbeiten wolle. Überhaupt waren meine Eltern sehr lebenslustig, haben gern und viel gelesen, gingen auch gern tanzen und ins Theater, aber auch mal in die Oper oder Operette, sofern sie das Geld dafür abzweigen konnten, denn es fehlte an vielem. Auch sind sie gern mit dem Fahrrad gefahren, aber auch zum Schwimmen an die Seen rund um Berlin. Wenn ich heute an meine Kindheit denke, war meine Mutter viel und oft daheim am Singen. Ich sehe heute noch, wie Vater eines Morgens unsere Wohnung in seiner Lederjacke verließ, die er als Kraftfahrer immer trug. Ich stand am Fenster unserer kleinen Einzimmerwohnung, die im Parterre lag und winkte, als er am Fenster vorbei ging. Es war der 30. August 1939, und man hatte ihn eingezogen. Eine Woche später, meine Mutter war hochschwanger, kam mein Bruder Rüdiger zur Welt. Mein Vater bekam nicht gleich Urlaub, und es wundert mich, dass man ihn damals unter den gegebenen Umständen gleich eingezogen hatte, zumal er ja nur zur Reserve kam. Mein Bruder Rüdiger und mein im Februar 1944 geborener Bruder Ingo können sich an ihren Vater kaum oder gar nicht erinnern. Es war sogar so, dass Rüdiger, als mein Vater einmal auf Urlaub kam, gesagt haben soll: „Mutti, was will der fremde Mann hier, er soll wieder gehen!“ Damals, zu Beginn des Krieges, war mein Vater für eine längere Zeit bei einer Einheit im Osten von Berlin stationiert. Er kam alle 14 Tage am Wochenende nach Hause. Dazwischen besuchte ihn manchmal meine Mutter. Aus dieser Zeit stammt ein kleines, für mich unvergessenes 142 Erinnerungen an den Vater Erlebnis. Meine Mutter hatte mich mit zu ihm genommen, und ich durfte mit meinem Vater zurück auf seinem Fahrrad fahren. Wir machten uns auf den fast zehn Kilometer langen Weg nach Fürstenwalde. Ich saß auf dem Gepäckständer und sollte die Beine schön gespreizt halten, was nur eine Weile gut ging, dann kam ich immer wieder mit den Füßen gefährlich nahe ans Rad, und es gab eine Ermahnung. Irgendwann passierte es dann doch und ich war mit den Füßen in den Speichen, was zur Folge hatte, dass wir im Chausseegraben landeten. Uns war weiter nichts passiert, aber das Fahrrad war ziemlich ramponiert, und wir mussten den Rest der Strecke bis zur Bahn zu Fuß gehen. Ich hatte Angst, dass mein Vater schimpft und im Moment war er wohl auch sauer, aber gesagt hat er nicht viel, sondern nahm es relativ gelassen hin. 1944 wurde Vater nach Debrecen abkommandiert, wo der Russe durchzubrechen drohte. Aus dieser Zeit stammt auch ein Brief, in dem er schrieb, sie bekämen jeden Tag ein halbes Pfund Butter zu essen, man wolle sie wohl fürs Sterben mästen … Schon 1944 kam er immer seltener auf Urlaub. Ich kann mich nur noch entsinnen, dass er ganz kurz noch einmal kam, nach der Geburt meines jüngsten Bruders im Februar 1944. Ich war damals neuneinhalb Jahre alt. Die letzte Post meines Vaters erhielten wir Weihnachten 1944 zusammen mit einem Holzkoffer, wie er wohl bei der Wehrmacht üblich war. Der Koffer war voll mit Walnüssen und anderen Leckereien, die damals kostbar waren. Ein Kamerad meines Vaters überbrachte uns den Koffer und auch die Post. Danach haben wir nie wieder etwas gehört, weder von meinem Vater, noch von seiner Einheit oder von einzelnen Kameraden. Meinen Vater habe ich nie vergessen und oft in stillen Stunden gehofft, er würde doch eines Tages wiederkommen. Es waren Träume und Sehnsüchte. Meine Mutter hat in den ersten Jahren nach ihm geforscht, bis sie ihn dann für tot erklären ließ, weil sie auf das Kindergeld und die Rente angewiesen war. Aber auch noch später hat sie jeden ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, dem sie begegnete und der in Ungarn oder Budapest stationiert gewesen war, ausgefragt, ob er evtl. meinem Vater oder seiner Einheit zum Schluss begegnet sei. Jedoch ohne Erfolg! Erinnerungen an den Vater 143 Wilhelm Knoch * 12. September 1905 in Weißenborn – Schwalm-Eder-Kreis = 14. April 1945 in Dömitz an der Elbe Von Dieter Knoch Mein Vater war ein großer blonder stattlicher Mann, 1,80 Meter groß. Er war Holzkaufmann und Besitzer eines Sägewerks, das ich und meine Schwester einmal erben sollten, aber der Krieg hat alles zunichte gemacht. Ich war aber noch zu klein und meine Mutter konnte das Sägewerk nicht allein weiterführen. Ich bin 1939 geboren, meine Schwester 1934. So haben meine Mutter und wir durch den Krieg fast alles verloren und ich hätte meinen Vater so gebraucht. Das Grab befindet sich auf dem Friedhof in Dömitz, auf dem 37 Soldaten ruhen. 1951 hat meine Mutter einen Grabstein setzen lassen (sie ist am 21. März 1978 verstorben). Zu DDR-Zeiten wurde das Grab nicht gepflegt und ich konnte die Grabstätte meines Vaters nicht besuchen, weil Dömitz in der „Fünf-Kilometer-Zone“ lag. Nach der Wende 1989 bin ich sofort nach Dömitz ans Grab gefahren. Die Grabsteine waren in einem sehr schlechten Zustand, man konnte den Namen meines Vaters kaum lesen. Zu DDR-Zeiten war alles verwildert. 1990 hat die Stadt durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Soldatengräber wieder hergerichtet. 1992 habe ich den Grabstein auf meine Kosten von einem Steinmetz in Dömitz neu herstellen lassen. In jedem Jahr fahre ich mit meiner Frau an das Grab meines Vaters, eine Fahrtstrecke von 350 Kilometern. Heute bin ich selbst Vater von zwei Söhnen und erzähle ihnen, was ich von meiner Mutter über meinen lieben und guten Vater weiß. Den letzten Brief (den ich in Ehren aufbewahre) hat er mir zu meinem fünften Geburtstag, am 21. Dezember 1944, von der Front geschrieben, dass er bald wieder nach Hause käme und mich in den Arm nähme und Geburtstag und Weihnachten nachhole. Aber der Krieg wollte es anders und mein Vater fiel noch zu guter Letzt, eine Schande. Nach dem Krieg bekamen alle Hilfe, bis heute noch, aber uns Kindern ist wenig geholfen worden und keiner fragt heute noch nach uns. Nur die Trauer bliebt, wenn ich am Grab stehe. 144 Erinnerungen an den Vater Friedrich Ihle * 31. Mai 1901 in Chemnitz = 19. August 1944 Kriegsgräberstätte Champigny-St-André/Frankreich Block 14, Reihe 9, Grab 498 Von Barbara Ihle Als ich im Herbst 1945 eingeschult werden sollte, examinierte mich meine Mutter: „Und was sagst du, wenn man dich in der Schule fragt, was dein Vater von Beruf gewesen ist?“ Das wusste ich: „Oberzahlmeister“. „Das war er im Krieg, und sonst?“ „Ach so, Ortsgruppenleiter.“ „Das sag lieber nicht, sondern?“ „Bankangestellter!“, fiel mir schließlich noch ein. Dieses Gespräch sagt schon allerhand über meinen Vater und meine kindliche Sicht auf ihn. Als er am 20. August 1944 in Nordfrankreich fiel, war ich fünf Jahre alt. 1940 war er eingezogen worden, ich kannte ihn also nur von den seltenen Urlaubsaufenthalten, doch kann ich von ihm, den ich schwärmerisch verehrte, viel berichten, teils nach Erzählungen meiner Mutter, teils nach noch vorhandenen Unterlagen. Mein Vater wurde am 31. Mai 1901 in Chemnitz geboren. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges legte sein älterer Bruder Paul ein Notabitur ab und meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst. Er wurde am 13. Mai 1915 in Flandern nach einem Gefecht bei Verlorenheck vermisst gemeldet. Mein Großvater überlebte den Verlust seines Sohnes Paul nicht lange, er starb einige Wochen später an einem Krebsleiden. Im Gedenken an den Bruder, über dessen Tod trotz Nachforschung nichts näheres in Erfahrung gebracht werden konnte, wurde Vater später Mitglied beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. 1918 ging Friedrich Ihle von der Schule ab und trat als Volontär bei einer Bank ein. Nach dem Friedensschluss wurden Arbeitsplätze für aus dem Krieg heimkehrende Angestellte gebraucht, Fritz musste weichen und ging für einige Zeit nach Pommern, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. 1923 konnte er zur Stadtbank zurückkehren und war dort in der Effektenabteilung und als Börsenvertreter beschäftigt. 1925 heirateten mein Vater und meine Mutter. Beide hatten Arbeit und reisten im Urlaub in die Alpen, denn sie waren große Berg- und Wanderfreunde. Erinnerungen an den Vater 145 1927 konnten sie eine Wohnung in der „Kriegersiedlung“ in einem Vorort von Chemnitz beziehen. Else gab ihre Arbeit auf, denn „Doppelverdiener“ wurden damals nicht gern gesehen. Fritz trat in die NSDAP ein, nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung. Er nahm an Lehrgängen teil, leitete die Ortsgruppe im Wohngebiet, war 1934 Stadtverordneter und wurde später zum Kreiskassenleiter berufen. Anfang 1940 wurde mein Vater ins „Protektorat Böhmen und Mähren“ als Kriegsverwaltungs-Inspektor eingezogen. Er zahlte Gehälter an die Heeresbeamten aus, musste aber auch über Land fahren und zum Beispiel Schulen zu Lazaretten umfunktionieren. Irgendwelche Kampfhandlungen gab es dort nicht, es war ein besetztes Land, in dem die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs besser als im „Reich“ war, wo schon die Kriegs-Mangelwirtschaft herrschte. Neben seinem Dienst hatte er Zeit, für die Familie einzukaufen und Pakete abzuschicken. Bis Mai 1943 war er so im Protektorat gewesen, wo er außer der Trennung von Frau und Kindern keine Not leiden musste. Dies alles änderte sich, als er an die Ostfront ging. Nach einem Heimaturlaub im Januar 1944 wurde er in Bessarabien eingesetzt, bevor er im Zusammenhang mit der Landung der Alliierten nach Frankreich musste. Nach einigen Wochen brach der bis dahin aufrechterhaltene Briefkontakt meiner Eltern ab, obwohl Mutter zuletzt täglich zwei Briefe aufgab. Schließlich kam der 20. September, an dem sie von der Kreisleitung die Todesnachricht erhielt. Als sich nach dem Kriege die Lage stabilisiert hatte, stellte meine Mutter Nachforschungen an. Den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gab es in der DDR natürlich nicht, zuständig war eine Einrichtung in Berlin. Von dort konnte ihr 1964 mitgeteilt werden, dass ihr Mann in Champigny-St. André begraben liegt. Sie selbst hat die Wende nicht erlebt. Ich aber besuchte 1992 auf einer Reise mit dem Volksbund das Grab meines Vaters. Oberleutnant Hustert O.U., den 10. Oktober 1944 Sehr geehrte Frau Ihle! Bei den überaus harten und schweren Kämpfen an der Invasionsfront im Westen hat Ihr Gatte, der Oberzahlmeister Friedrich Ihle, getreu seinem Soldateneid den Heldentod gefunden. Ich fand seine Leiche am 20.8.44 bei Moissy, zwischen St. Lambert und Chambois, 5 km südostw. Trun, Normandie. Die Art seiner Verwundung, mehrere Schüsse durch Brust und Bauch, ließ darauf schließen, dass er sofort tot gewesen ist und nicht mehr zu leiden hatte. Ich habe ihn mit einigen Kameraden beerdigt, doch musste dies wegen des scharf nachdrängenden Feindes in aller Eile geschehen. 146 Erinnerungen an den Vater Ihr Gatte gehörte weder meinem Bataillon noch meiner Division an, ich habe seine Leiche nur zufällig gefunden und war glücklich, ihm den letzten Kameradendienst erweisen zu können, indem ich ihn beerdigte. Geehrte Frau Ihle, ich habe vollstes Verständnis für Ihre Trauer und Ihr Leid. Bedenken Sie, dass Ihr Gatte für sein geliebtes Vaterland als Held den Tod fand. Auch sein Blutopfer wird ein Beitrag zum deutschen Sieg sein, auf den wir fest vertrauen wollen. Ich grüße Sie und Ihre Familie im tiefsten Mitgefühl mit Ihnen Ihr stets hilfsbereiter Hustert Erinnerungen an den Vater 147 August Kunz * 7. Januar 1901 = 20. September 1944 Von Ingeborg Kunz Meine Eltern und mein Bruder; ich bin das kleine Mädchen links. Ich bin Ihnen dankbar, für die Möglichkeit, die mir gegeben ist, die Erinnerung an einen wertvollen Menschen zu dokumentieren, zumal wir in unserer Familie keine Nachkommen haben. Das war einmal eine Familie, die der Krieg für immer zerstörte. Innerhalb eines Jahres verloren wir durch amerikanische Bomber unser Haus, ist mein Vater als Soldat gefallen und meine Mutter wurde von Amerikanern verschleppt und unschuldig in verschiedenen Internierungslagern über zwei Jahre festgehalten. Mein Vater August Kunz war zuletzt in Pirmasens stationiert. Dort traf ihn ein Geschoss eines amerikanische Tieffliegers in den Kopf und eines ins Herz, als er den Bunker im Kasernenhof nicht mehr erreichte. Im Waldfriedhof von Pirmasens hat er auf einem Ehrenfeld der Kriegsgräberfürsorge einen würdevollen Ruheplatz, wie er ihn sich sicher gewünscht hätte, denn er liebte den Pfälzer Wald. Über persönliche äußere Merkmale kann ich nicht viel sagen, ich habe nur eine schwache Erinnerung an ihn als Soldat in Uniform, wenn er mal zu kurzem Urlaub zu Hause war. Ich bin 1937 geboren, und mein Vater war so ziemlich von Anfang an im Krieg. Ich habe oft in meinem Leben gehört, wie ähnlich ich meinem Vater im Wesen bin, und ich kann sagen, ich hätte ihn sehr gerne gekannt! Mein Vater hatte eine kaufmännische Ausbildung und war dann nach Verwaltungsseminaren in der Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung unserer Heimatstadt Limburg in Hessen. Als Stadtinspektor war 148 Erinnerungen an den Vater er zuletzt Leiter des Einwohnermelde- und Ordnungsamtes, also der Ortspolizeibehörde. Als Menschenfreund, wie er geschildert wird, konnte er dort sicher einiges bewirken, obwohl es nicht der ideale Beruf für ihn war. Mein Vater war ein musischer Mensch mit wunderbaren Talenten und vor allen Dingen liebte er die Natur über alles. Als junger Mensch, das heißt vor dem Krieg, war er ein fröhlicher, geselliger Mann, der einem Wanderclub angehörte, dort für seine Wanderfreunde Gitarre spielte und sang. Wir erhielten mit seinem Nachlass sehr schöne Naturbilder, vor allem Wiesenblumen, die er in seiner Soldatenzeit mit einfachen Mitteln, teilweise mit Buntstiften auf Butterbrotpapier gemalt hat, aber auch bemalte Kacheln, in denen sich das Motiv fortsetzt. Ebenso erhielten wir Notizbücher mit tiefgründigen Versen, die er in feinster Druckschrift abgefasst hatte. Aus seinen Briefen an unsere Mutter sehe ich, dass nur seine Liebe zur Natur und die Möglichkeit, diese Gefühle in Bildern und Versen auszudrücken, ihm geholfen haben, die Grausamkeiten des Krieges auszuhalten. Arme kleine Tanne von August Kunz Dein Vaterland von August Kunz Mit einem weißen Kleide hat sich die Flur geschmückt, und eine kleine Tanne hat mich so sehr entzückt. Was wär’ des Lebens Freude, Was wär’ des Soldes Wert, Was wär’ des Sieges Beute, Was wär’ des Heimes Herd. Was alles auf der Erde, Was wär’ das Stückes Pfand, Wenn nicht die Liebe wäre Und nicht Dein Vaterland? Beladen mit dem Leide, sie stumm und reglos stand, Wie eine kleine Heldin, so schaut sie über’s Land. Es trägt auch unter Menschen gar mancher schweres Leid, und trägt mit Stolz und Würde dazu ein festlich Kleid. Erinnerungen an den Vater 149 Reinhold Ferdinand Christian Pinske * 29.1.1906 in Kartowen/Westpreußen = 4. April 1948 im Internierungslager Mühlberg an TBC Von Dorothea Lange Ich sende Ihnen meine Erinnerungen an meinen Vater. Es sind ja nur die Erlebnisse mit ihm bis zu meinem zehnten Lebensjahr, bzw. bis zum dreizehnten Lebensjahr, Sommer 1948. Anbei finden Sie ein Foto von meinem Vater und ein Zettelchen, das er aus dem Lager herausschmuggeln konnte. Ferner die Benachrichtigung vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, München. An allem hängt ein Stück persönliches Erleben, ein Stück meines Herzens. Größe 1,70 Meter, Haarfarbe braun, Augenfarbe graublau, kräftige, kernige Gestalt, besondere Eigenschaften: liebender, treu sorgender Gatte und Familienvater, lebensbejahend, wahrhaftig, geradlinig, korrekt, zielstrebig, ideenreich, unternehmungslustig, fröhlich, sportlich, gütig, gottesfürchtig. Lebenslauf (Stationen) 29. Januar 1906: in Westpreußen geboren. 1933: Eheschließung mit Erna Heiß. Tätig als Hauptwachtmeister in Wittenberg, Halle, Hamersleben Kreis Ischersleben (alles Sachsen-Anhalt) 1934–1937: Geburt der Kinder Joachim, Dorothea und Wilfried. 1939: Umzug nach Wegeleben/Ostharz (Sachsen-Anhalt). 150 Erinnerungen an den Vater 1939: Einberufung zum Wehrdienst, bis Kriegsende ... 1945: Soldat an der Front (1941 Verwundung). 1943: Geburt der Tochter Bärbel. 1945: Heimkehr nach dem Krieg von München nach Wegeleben am 8. Juni in die Ostzone mit russischer Besatzung. Tätig auf der Domäne in Wegeleben als Pferdeknecht. 1945: Am 10. Oktober denunziert, verhaftet durch die russische Besatzungsmacht und ins Internierungslager Mühlberg/Elbe verschleppt. 1948: Dort am 4. April an TBC umgekommen. Diese Nachricht erfuhren unsere Mutter und wir vier Kinder durch Kameraden, die im Juli 1948 aus Mühlberg entlassen wurden. Ihre Aussage beruht auf dem Bericht des Barackenältesten. 1993 im Januar erfuhr ich durch die Kriegsgräberfürsorge von der Existenz der „Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V.“ und konnte die Massengrabstelle aufsuchen und betreten, wo mein Vater begraben wurde. Im gleichen Jahr ließ ich ein Holzkreuz zum ehrenden Gedenken an meinen Vaters dort errichten. Ich kann nun diese Stelle pflegen und dadurch meinen Vater ehren. Besondere Erinnerungen: Vati war unkompliziert! Schnell entschlossen hieß es einmal: „Mutti, lass Abwasch Abwasch sein, lass alles stehn und liegen, das Wetter ist heute so schön, wir fahren in den Harz!“ (Mit der Eisenbahn versteht sich!) Und es ging in den Harz! Durchs Bodetal, die Schurre hoch, zur Roßtrappe, zum Hexentanzplatz, wieder hinunter zum Teufelskessel! Herrlich war es, im Wald zu wandern, zu spielen und Vatis frohe Stimme zu hören. Vati konnte so herrlich mit uns turnen. Wenn er mal auf Urlaub kam, ging es in der Stube hoch her. War das eine Lust! Oder wenn wir sonntags in den Nachbarort zum Gastwirt Schulze wanderten, führte unser Weg durch die Wiesen längs der Bode, die ja an Wegeleben vorbeifließt. Auch auf der Wiese war „turnen“ angesagt! Handstand – Kopfstand – Spagat – Brücke – Welle vorwärts und rückwärts! Arme, Beine und Kopf kreisen – alles war dran – und alles war drin! „Die Amis kommen! – Die Amis kommen!“ Und dann waren sie da! Einfach so! Über Nacht kamen sie in unsere Kleinstadt. Der Acker vor unserem Haus auf der anderen Straßenseite war übersät mit Panzern und Kriegsfahrzeugen. Erinnerungen an den Vater 151 Und dann stand mein Vater vor unserer Hoftür in Knickerbockern und Kniestrümpfen mit gemustertem Jackett und einem Fahrrad. Hurra, hurra, er lebt, und ist gesund! Ohne Schramme – ohne Makel! – Direkt von München ist er bis Wegeleben geradelt bei all den Nachkriegswirren. Das war genau am 8. Juni 1945. Wir hatten Vati endlich, endlich wieder, für immer bei uns, der Krieg war zu Ende! Wir waren wieder eine richtige Familie. Das Bangen um sein Leben war vorbei. Er arbeitete auf dem Bauernhof und war zu Hause! „Großer Gott, wir loben dich!“ Und dann kam der wohl schwärzeste Tag für Vati und für uns alle! Es war der Abend des 9. Oktober 1945. Vater und Mutter waren nicht zu Hause. Es klingelte. Draußen stand der Jungpolizist aus der Nachbarschaft. Er solle einen Mann aufs Rathaus bringen und nennt die Personalien. Alles passt haargenau auf unseren Vati! – bis auf eine klitzekleine Kleinigkeit. Er solle Reinhold Rinske holen, nicht Pinske!!! Dies nahm er zum Anlass fortzugehen, vielleicht morgen wiederzukommen. Als Vati heimkam, sah er dies als Warnung an und wollte flüchten. Aber Mutti glaubte seinen Befürchtungen nicht und Vati blieb! Am Nachmittag des nächsten Tages brachte uns eine Nachbarin die Nachricht: „Euer Vati wurde von den Russen vom Feld geholt und zur Kommandantur nach Oschersleben gebracht. Er rief mir zu: ,Grüßen Sie meine Frau und die Kinder, ich komme bald zurück!‘” Das war das Ende! 20.11.45 Liebes Frauchen, liebe Kinderlein, ihr Lieben Alle! Heute sollt ihr wieder mal ein Lebenszeichen erhalten. Die schwersten Zeiten werden wohl überstanden sein. Sonst geht es mir gut und ich bin gesund. Wie mag es euch ergehen? Seid ihr gesund? Habt ihr Sorgen gehabt? 152 Erinnerungen an den Vater Besucht Joachim die Schule? Habt ihr Gerste zum Schroten gekauft? Wird das Schlachten genehmigt werden? Gestern träumte ich, dass ich zu Hause angelangt sei. Die Freude war unbeschreiblich, nicht zu fassen. Gott der Herr möge uns bald ein endgültiges Wiedersehen schenken. Wie habt ihr deinen lieben Geburtstag verlebt? Falls ich zu Weihnachten nicht daheim sein kann, dann wünsche ich gesunde, gesegnete und fröhliche Weihnachten. Strafe ist hart, der Herr weiß warum. Auch Brüderlein gratuliere ich zum Geburtstag und wünsche ihm Gottes Segen. Ist Timpe schon daheim? Ich wünsche mir nichts anderes als Weihnachten daheim. Ich will hinfort ganz bescheiden sein. Habt ihr die Kartoffeln besser zugedeckt? Schöner ist, wenn wir Mitte Dezember nach Hause kommen könnten. Dann ist es auch nicht notwendig. Hebt mit bitte Senfgurken, Kürbis, Käse und etwas Haferflocken auf. Bleibt nun dem Allmächtigen Herrgott befohlen! Was er tut, ist wohlgetan. Recht herzliche Grüße und tausend Küsse von Eurem euch liebenden Vati und Onkel Reinhold DRK-Suchdienst München Pinske, Reinhold, geb. 29.1.1906 in Kartowen/Westpreußen Ihr Schreiben vom 28.10.1993 Sehr geehrte Frau Lange, der Gesuchte ist in unserer Zentralen Namenskartei (ZNK) registriert. Aufgrund unserer Anfrage beim ehemaligen Sowjetischen Roten Kreuz wurde mitgeteilt, dass der Gesuchte am 4. April 1948 verstorben ist. Der Todesort und die Todesursache wurden grundsätzlich nicht bekanntgegeben. Nach Aussagen von Gewährspersonen ist er 1948 im Lager Mühlberg verstorben. Weitere Angaben können leider nicht gemacht werden. Erinnerungen an den Vater 153 Adolf Lerche * 10. Februar 1887 in Braunschweig = 23. Oktober 1945 im Kriegsgefangenenlager-Lazarett Tost Von Hans Ulrich Lerche Mein Vater war ein humanistisch gebildeter, national eingestellter und sozial denkender Mann, der bei der Belegschaft des Kaiserin-AugustaSchachtes ein hohes Ansehen genoss. Er wurde 1887 in einer Braunschweiger Pastorenfamilie geboren, studierte das Bergfach in Freiburg und war Offizier im Ersten Weltkrieg. Der Kaiserin-Augusta-Schacht war seit 1922 seine Arbeitsstätte. Zuerst war er Bergverwalter, später Bergdirektor und Mitglied des Grubenvorstands. Unter seiner Leitung wurden wichtige Werksanlagen erstellt. Später gehörte zu seinen Aufgaben die Ausbildung und die soziale Betreuung der Arbeiter. In den letzten Kriegstagen 1945 wurde mein Vater noch Bataillonsführer im Volkssturm. Wie mir ein ehemaliger Angehöriger des damaligen Volkssturms in Oelsnitz mitteilte, war sein einziger Befehl der, dass er die Einheit auflöste. Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates verlor er seine leitende Stellung, arbeitete aber weiter als Reviersteiger unter Tage. Dann kam der Einmarsch der sowjetischen Armee. Deutsche Kommunisten verhafteten ihn am 27. Mai 1945 und brachten ihn in das Gefängnis Hoheneck. Da wurde er von der sowjetischen Besatzungsmacht übernommen und über Chemnitz und Bautzen in das oberschlesische Internierungslager Tost gebracht. Durch Krankheiten geschwächt erlag er den Belastungen der Internierung am 23. Oktober 1945 und wurde in Tost beerdigt. Vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde in Tost ein Kreuz errichtet zum Gedenken an das unermessliche Leid des Krieges und zur Mahnung für eine Zukunft in Frieden. Standesamt Köln I Köln, den 10. Februar 1951 Es erscheint Herr Dr. Ing. Diplomoberingenieur Herbert Riess und erklärt an Eides statt: Ich war als Feldscher im russischen Kriegsgefangenenlager in Tost (Oberschlesien). Unter den im August 1945 eingelieferten Kranken erkannte ich meinen früheren Berufskollegen, Bergwerksdirektor Adolf Lerche, 154 Erinnerungen an den Vater wieder. Lerche war herzkrank und wurde nach etwa vier Wochen wieder aus dem Lazarett entlassen. Mitte Oktober 1945 wurde er wiederum eingeliefert. Der Krankheitszustand Lerches war aber derart schwer, dass er schon am 23. Oktober 1945 starb. Ich habe ihn gepflegt und war bei seinem Tode persönlich zugegen. Am darauffolgenden Tag fand die Beerdigung in der Sandgrube von Tost statt. An der Beerdigung habe ich nicht teilgenommen. Lerche ist als früherer Offizier von den Russen verschleppt worden. Zur Zeit des Todes war Lerche kein Soldat. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben. Der Standesbeamte Erinnerungen an den Vater 155 Emil Witzke * 14. Januar 1897 = 11. April 1945 Kriegsgräberstätte Wallachisch Meseritsch/ Tschechische Republik, Block 3, Reihe 18, Grab 564 Von Alfreda Mielcarek Als ich im Juni 1934 auf die Welt kam, war mein Vater schon 37 Jahre alt. Wir waren fünf Geschwister, drei noch jünger als ich. Unsere Eltern waren nicht jung, aber sie waren mit uns Kindern sehr verbunden und behandelten uns liebevoll. An meinen Vater denke ich als einen echten Bauern. Ich sehe ihn aber nicht nur bei seiner Arbeit vor mir, sondern auch mit dem Netz voller Fische, wie er uns die Bibel vorlas, mit uns Lieder sang, aber auch oft sehr ernst die Schularbeiten kontrollierte. Ich denke, er war ein guter Bauer. Nie fehlte es uns an Brot und Butter. Mein erstes großes Kinderdrama erlebte ich, als ich fünf Jahre als war: Zu Beginn des Krieges wurde mein Vater abgeführt und für ein paar Tage verschleppt. Ich weinte mich fast krank und konnte nichts hören. Ich habe mir bald mein Herz aus dem Leib gerissen und war überglükklich, als er wieder zurückkam. Zuletzt sah ich meinen Vater im Oktober 1943, als er in den Krieg musste. Seine vier jüngeren Brüder waren schon früher eingezogen worden. Drei von ihnen sind im Krieg gefallen, einer kam spät aus der russischen Gefangenschaft zurück und starb bald danach. In unserem Haus änderte sich viel: Mutter blieb mit uns fünf kleinen Kindern alleine, mein kleiner Bruder war damals kaum vier Monate alt. Vaters Platz am Tisch war leer. Die Bibel wurde auch nicht mehr vorgelesen. Unsere Mama weinte oft. Laut und mit Tränen und Freude wurden jetzt die Briefe vorgelesen, die aus dem Feld kamen – das war ja immer ein Zeichen vom Vater und die Hoffnung, dass er noch lebte. Mein Vater kehrte nicht wieder aus dem Krieg zurück, wir wurden aus unserer Heimat vertrieben und mussten viel Schlimmes erleiden. Heute besuchen wir den Friedhof, wo unser Vater die letzte Ruhe im eigenen Grab hat, in jedem Frühling. 156 Erinnerungen an den Vater Hermann Mette * geb. 28. Mai 1909 in Wernigerode = 16. Oktober 1944 Pargaskut in Ungarn Von Gisela Müller Der Vater in meinem Herzen, den ich nie kennenlernte ... Mein Vater starb am eigentlichen Beginn seines Lebens. Der Krieg zerstörte alles. Er zerstörte seine Wünsche und Hoffnungen, seine Pläne und Ziele, seine Träume und sein junges Glück. Doch immer werden irgendwo Spuren seines Lebens sein, Gedanken, Bilder, Augenblicke und Gefühle. Als mein Vater im Oktober 1944 in Ungarn starb, war ich erst ein Jahr und elf Monate alt. Ich kann mich deshalb nicht bewusst an ihn erinnern. Meine Mutter war es, die, geprägt von der unerschütterlichen Hoffnung auf die Heimkehr ihres Ehemannes aus diesen unseligen Krieg, viel erzählte und mein Bild von ihm prägte. Im Frühjahr 1942 hatten meine Eltern geheiratet, nachdem mein Vater seinen Dienst als landwirtschaftlicher Inspektor auf einem großen Gut angetreten hatte. Doch alles berufliche und familiäre Glück fand ein jähes Ende, als er im September 1942 den Einberufungsbefehl erhielt. Am Jahresende wurde ich geboren. Mutter schrieb meinem Vater die schönsten Briefe. Sie fotografierte mich unentwegt, um meinem Vater mit den Fotos Kraft und Trost von zu Hause zu signalisieren, Kostbarkeiten, die sie eigentlich selbst suchte. Hatte doch der Krieg ihren gemeinsam erträumten Himmel so erbarmungslos geteilt. Erinnerungen an den Vater 157 Er hasste diesen sinnlosen Krieg, und sein Wille und seine Hoffnung, dieses Unheil zu überleben, waren groß und lebendig. In jedem seiner Briefe klang die Sorge um das Wohl und das Glück seiner noch so jungen kleinen Familie mit. Wusste er doch zu jenem Zeitpunkt, dass bereits drei liebe Menschen aus seinem familiären Umfeld Opfer dieses Krieges geworden waren. Doch wenige Tage vor Weihnachten 1944 kam die bittere Nachricht, dass mein Vater seit dem 8. Oktober 1944 vermisst und er an diesem Tag zuletzt bei Püspök-Ladany in Ungarn gesehen worden ist. Ständiges Hoffen und Bangen bestimmte von nun an die Ungewissheit des täglichen Lebens. Mutter war gerade erst 29 Jahre alt. In unserem Wohnzimmer hing neben einem großen Fenster mit vielen Blumen das Bild meines Vaters in nahezu Lebensgröße. Oft holte ich als Kind frische Blumen für die kleine Wandvase. Ich wuchs heran, und Mutter suchte und fand wohl an mir viele Gemeinsamkeiten des äußeren Aussehens und manche Charaktereigenschaften, die es zwischen mir und meinem Vater gibt. Amüsiert erzählte sie oft die Begebenheit, als ich unverwechselbar gleich der Eigenheit meines Vaters, eines Tages Schulranzen und Schuhe mit dem Taschentuch auf Hochglanz poliert haben soll. Er hatte nämlich einmal – scheinbar sich unbeobachtet fühlend – eine ähnliche vergleichbare Eitelkeitsprozedur vor einem Rendezvous mit meiner Mutter praktiziert. So erzählte sie mir oft und gern mit liebevollen Worten ausgeschmückte kleine Begebenheiten dieser Art immer wieder und brachte mir auf diese Weise die menschliche Seite meines Vaters sehr nahe. Erst ein Jahr nach meinem Abitur im August 1962 erreichte uns ein Brief mit der Nachricht, dass mein Vater am 16. Oktober 1944 in Pargaskut in Ungarn an den Schussverletzungen der linken Schulter und der linken Seite verstorben ist. Dienststelle Feldpost-Nr. 25 751 D O.U., den 15. Dezember 1944 An Frau Elisabeth Mette Sehr geehrte Frau Mette! Die Kompanie bedauert Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr lieber Mann, der Gefreite Hermann Mette, seit 8. Oktober 1944 vermisst wird. 158 Erinnerungen an den Vater Trotz aller Nachforschungen nach dem Verbleib Ihres lieben Gatten war es leider nicht möglich, irgendeinen Bescheid zu erhalten. Ihr lieber Mann wurde zuletzt am 8. Oktober 1944 gegen 10.30 Uhr in Püspök-Ladany, südl. des Bahnhofs, gesehen. Die Nachforschungen werden auch weiterhin fortgesetzt. Sollten noch Nachrichten über Ihren lieben Gatten eingehen, werden Sie von hier aus sofort unterrichtet. Die Kompanie bedauert, einen lieben Kameraden verloren zu haben. Der Gedanke, dass Ihr lieber Mann für den Kampf um Deutschlands Zukunft geblieben ist, sei Ihnen in Ihrem großen Schmerz ein Trost. Mit aufrichtiger Anteilnahme und Heil Hitler! Ihr ... Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht Berlin-Borsigwalde 23.8.1962 Sehr geehrte Frau Mette! Als Rechtsnachfolgerin der früheren Wehrmachtsauskunftsstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene haben wir die Aufgabe, die Sterbefälle des letzten Krieges zu erfassen, der standesamtlichen Beurkundung zuzuführen und die Angehörigen zu verständigen. Wir bedauern, Ihnen heute die Nachricht übermitteln zu müssen, dass sich Ihr Ehemann Hermann Mette, geb. am 28.5.1909, nicht mehr am Leben befindet. Bei der Bearbeitung des hier vorhandenen umfangreichen Materials, das zum Teil erst nach dem Kriege auf vielen Umwegen in unseren Besitz gelangte, stellten wir jetzt die Meldung fest, nach der am 16. Oktober 1944 in Pargaskut (Ungarn) ein Wehrmachtsangehöriger mit Schussverletzungen an der linken Schulter und linken Seite tot aufgefunden wurde und dortselbst beerdigt worden ist. Weiter geht aus dieser Meldung hervor, dass die Soldaten von einer ungarischen Frau benachrichtigt wurden, dass sie einen kranken deutschen Soldaten aus Furcht vor den Russen in einem Maishaufen verborgen und schon seit einigen Tagen gepflegt hat. Am Abend des 15.10.1944 hatte er noch gelebt. Eine Erkennungsmarke mit der Beschriftung „ – 5873 – I. Pz.Jg.E.Kp.209“ war beigefügt. Wertgegenstände, persönliches Eigentum und das Soldbuch wurden nicht gefunden. Nach den hier vorliegenden Erkennungsmarkenverzeichnissen der ehemaligen Wehrmacht war Ihr Ehemann Träger der genannten Erkennungsmarke. Erinnerungen an den Vater 159 Da nach Aussage der ungarischen Frau Ihr Ehemann noch am Abend des 15.10.1944 gelebt hat, ist anzunehmen, dass er in der darauffolgenden Nacht verstorben ist. Zu dem schweren Verlust, den Sie durch den Tod Ihres Ehemanns erlitten haben, sprechen wir Ihnen unsere aufrichtige Anteilnahme aus. Um den Sterbefall nunmehr dem zuständigen Standesamt anzeigen und Ihnen somit zu Sterbeurkunden verhelfen zu können, bitten wir Sie, den als Anlage beigefügten Personalfragebogen ergänzt zurückzusenden. Hochachtungsvoll Im Auftrage ... 160 Erinnerungen an den Vater Kurt Masson = 6. November 1940 Von Helga Kuhnert Mein Vater Kurt Masson wurde 1940 in Russland von einem Partisanen erschossen. Der genaue Ort ist nicht bekannt. Er starb schon vor dem Zeitpunkt meiner Geburt am 6. November 1940. Uns erreichte zunächst nur die Todesnachricht. In den 70er Jahren, als seine Mutter in Freiburg/Breisgau im Krankenhaus lag, klopfte ein ehemaliger Kriegskamerad, der ihren Namen an der Tür gelesen hatte, und berichtete über die Todesumstände. Er betonte, dass Kurt ein sehr guter Kamerad gewesen sein. Als er in den Krieg musste, versicherte er: „Ich weiß, ich komme ganz bestimmt nicht wieder zurück!“ Er hatte zwei jüngere Brüder, Richard und Helmut, die beide heimgekehrt sind. Erinnerungen an den Vater 161 Franz-Joseph Vantroyen * 23.März 1906 = 5. Juli 1946 Von Marianne Tropper Ich danke Ihnen, dass sie versuchen, die Erinnerung an die Toten und die Schrecken des Krieges wachzuhalten. Hoffentlich können unsere Kinder und Enkelkinder daraus lernen. Bevor mein Vater Soldat wurde, war er bei den Junkers-Flugzeugwerken in Dessau beschäftigt. Sein Vorgesetzter hatte ihn lange als „unabkömmlich“ in der Heimat halten können. Anfang 1943 sagte er zu ihm: „Herr Vantroyen, gehen sie doch in die Partei, ich kann sie hier sonst nicht länger halten.“ Mein Vater antwortete: „Ich verkaufe meine Gesinnung nicht!“ Damit begann sein Weg in den Tod. Im März 1943 wurde er als Kanonier eingezogen und kam sehr schnell an die russische Front, wo er zweimal verwundet wurde. Weihnachten 1943 war sein letzter Heimaturlaub, am 3. Dezember 1944 schrieb er seinen letzten Feldpostbrief. Im Dezember 1944 kam Vater in russische Kriegsgefangenschaft. Sein Weg von der Gefangenschaft bis zu seinem Tod wurde von drei Kameraden begleitet, die sich zu verschiedenen Zeiten bei meiner Mutter meldeten. Der erste Kriegskamerad brachte die Nachricht über die Gefangennahme meines Vaters am 5. Dezember 1944 um etwa 17 Uhr bei Budapest. Der Kamerad war erst 21 Jahre alt und er half meinem Vater, der noch unter seiner Verwundung litt, auf dem langen Fußmarsch nach Focsani am Schwarzen Meer in Rumänien. Wer nicht laufen konnte und am Straßenrand liegen blieb, wurde erschossen. Der zweite Kriegskamerad brachte Weihnachten 1945 aus Focsani die Nachricht, dass mein Vater lebte. Er war in dem Lager überdurchschnittlich beliebt, da er trotz aller Hoffnungslosigkeit viel Hoffnung und Glauben an eine gute Zukunft verbreitete. Anfang Juni 1946 wurden die Gefangenen auf Güterzüge verladen. Es ging das Gerücht, sie kämen nach Hause. Der Zug fuhr aber nach Tiflis im Kaukasus. Völlig entkräftet kam mein Vater in ein Kriegsgefange- 162 Erinnerungen an den Vater nenlazarett, wo er am 5. Juli 1946 in den Morgenstunden an Unterernährung und Wasseransammlung verstarb. Der dritte Kriegskamerad, der in der Sterbestunde bei meinem Vater war, brachte meiner Mutter im November 1946 die Todesnachricht. Er brachte sogar Fotografien von uns mit, die mein Vater trotz vieler Repressalien noch bei sich gehabt hatte. Das Leben meiner Mutter war für lange Zeit von Sorge um ihre beiden Kinder – ich habe noch einen elf Jahre jüngeren Bruder – geprägt. Nach ihrem Tode 1997 fand ich die Feldpostbriefe meines Vaters. Unter ihnen gibt es viele Gedichte, die im Schützengraben, im Feldlazarett und an anderen Kriegsorten geschrieben wurden. Obwohl die Not so groß war und Sorge und Heimweh meinen Vater quälten, waren seine Briefe voller Hoffnung, Liebe und Gottvertrauen, aber oftmals auch voller Verzweiflung und Anklage gegen die Kriegstreiber. Wären seine Briefe damals geöffnet worden, hätte sein Weg wohl nicht in die Gefangenschaft geführt ... Erinnerungen an den Vater 163 Kurt Johannes Stephan * 21. Juni 1899 = 8. Juni 1945 Kriegsgräberstätte Rüdersdorf bei Berlin/Deutschland Block C Von Alice Stephan Mein Vater kam 1907 mit seinen Eltern nach Berlin, besuchte hier die Volksschule und begann eine kaufmännische Lehre. Er wurde im Ersten Weltkrieg Soldat und damals auch verwundet. Nach dem Krieg – sein Vater war Invalide und 1917 verstorben – trat er in die Deutsche Reichspost ein, war zunächst Hilfs-, dann regulärer Postschaffner im Bahnpostdienst, vornehmlich auf der Strecke BerlinHamburg. Dort lernte er 1929 meine Mutter kennen. Sie zog nach Berlin und heiratete meinen Vater am 28. September 1929. Ich wurde am 25. Juni 1930 geboren. Zum Haushalt gehörte bis zu ihrem Tode 1937 auch die Mutter meines Vaters. Aus guten Tagen ist mir besonders ihre Weihnachtsbäckerei in Erinnerung geblieben. Für 25-jährige Dienste erhielt mein Vater im Krieg das TreudienstEhrenzeichen, wurde auch zum Postbetriebsassistenten befördert. Ich habe meinen Vater zum letzten Mal bei seinem genehmigungspflichtigen Besuch bei mir im Lager der Kinderlandverschickung in Königsaal (Zbraslav) südlich von Prag im Dezember 1944 gesehen. Bei 164 Erinnerungen an den Vater einem gemeinsamen Spaziergang auf einen Aussichtsberg hatten wir einen eindrucksvollen Blick auf Königsaal, die Moldau und die umliegenden Dörfer. Wir haben auch eine Fahrt nach Prag unternommen und sind über den Wenzelsplatz und durch die Altstadt gegangen. Bei dieser letzten Begegnung hat mir mein Vater wesentliche Einsichten für mein späteres Leben vermittelt. Während des Krieges war Vater u.k.-gestellt. Er bekam noch im April 1945 einen Einberufungsbefehl nach Rathenow. Er hätte sich der Einberufung entziehen und bei unseren Verwandten in Hamburg untertauchen und dort das – absehbare – Kriegsende abwarten können, begab sich aber doch aus Pflichtbewusstsein an den Gestellungsort. Nach Kriegsende versuchten wir, Näheres über sein Schicksal zu erfahren. Wir richteten Anfragen am 14. März 1946 an Oberst Mamenko, Leiter der Abteilung für Kriegsgefangene der Sowjetischen Militäradministration in Potsdam und am 15. April 1946 an die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in Berlin. Wir erhielten keinerlei Antwort, nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Auf Umwegen erfuhren meine Mutter und ich dann 1947, dass mein Vater bei Kriegsende in das Kriegsgefangenenlager in Rüdersdorf bei Berlin gekommen war. Dort ist er unter desolaten Umständen am 8. Juni 1945 gestorben und auf einem – jetzt nicht mehr bestehenden – Soldatenfriedhof beigesetzt worden. Erinnerungen an den Vater 165 Edwin Schunda * 22. September 1904 Vermisst seit Juni 1944 Von Ingrid Tschorn Ich wurde 1939 geboren und habe nur ganz magere Erinnerungen an meinen Vater. Aber von meiner Mutter Elli Schunda, die vor kurzem 90 Jahre alt geworden ist, habe ich allerhand Daten und Fakten zusammengetragen. Mein Vater Edwin Schunda, geboren am 22. September 1904 in Böhmisch Aicha bei Reichenberg, war Obergefreiter in der Stabsbatterie II./ Artillerieregiment 6 (L), FpNr. 29 997 A. Er ist seit den Kämpfen um Witebsk vom 23. Juni bis 30. Juni 1944 vermisst und wir haben trotz vieler Nachforschungen nichts Genaues erfahren können. Mein Vater war ein sensibler und gebildeter Mensch und seinen zwei Kindern ein liebevoller Vater. Er arbeitete bei der Exportfirma W. Klar in Gablonz a. N. als Buchhalter und Korrespondent, wo er seine englischen und französischen Sprachkenntnisse anwenden konnte. Im September 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Widerwillig nur zog 166 Erinnerungen an den Vater er in den Krieg, war zuerst in Frankreich und kam dann nach Russland in den Mittelabschnitt bei Welikije Luki. Dort wurden die Deutschen eingekesselt, und es kam keine Post mehr. Meine Großeltern väterlicherseits hatten vier Söhne. Der älteste wurde 1945 noch zur Wehrmacht eingezogen und ist ebenfalls vermisst. Die beiden jüngeren Brüder wurden während des Krieges verwundet und überlebten. Der Krieg hat die Eltern zwei Söhne gekostet, nur Leid und Elend und noch außerdem die Vertreibung. Im November 2001 wurde in unserem Ort auch eine Gedenktafel mit den Namen der gefallenen und vermissten Soldaten des Zweiten Weltkrieges aus Koblenz enthüllt. Durch die Vertreibung aus unserer Heimat wird es solch eine Gedenktafel für meinen Vater nicht geben, und so möchte ich wenigstens auf diese Art und Weise meinem Vater ein kleines „Denkmal“ setzen. Oberkommando des Heeres, Rudolstadt/Th., den 16.2.1945 An Frau Elli Schunda Der Abschluss der Ermittlungen über das Schicksal Ihres Gatten, des Obergefreiten Edwin Schunda, geb. 22.9.1904, Aicha bei Reichenberg, Stabsbatterie II./Artillerie-Rgt. 6 (L), hat keine restlose Klarheit erbracht. Er ist seit den Kämpfen um Witebsk vom 23.6. – 30.6.1944 vermisst. Ich bedauere tief, dass ich nicht in der Lage bin, Ihnen eine tröstende Gewißheit zu verschaffen, will aber mit Ihnen hoffen, dass er noch gesund und glücklich heimkehren wird. Im Auftrag Hauptmann und Sachbearbeiter Erinnerungen an den Vater 167 Heinrich Jakob Vierheller Links: Heinrich Vierheller als Soldat, oben: seine Frau und die Kinder warten zu Hause auf ihn. * 13. August 1900 Vermisst seit 18. Januar 1943 Von Ilse Müller Mein Vater: Heinrich Jakob Vierheller geboren 13. August 1900 in Mundeheim Krs. Speyer am Rhein zuletzt wohnhaft in Schotten – Oberhessen Beruf: Sanitäter Vermisst: seit 18. Januar 1943, letzte Post: 11. Januar 1943 Woronesch, Charkow, Stalingrad Luftwaffenbaubataillon, Feldpost-Nr. L 12437 Mein Vater Heinrich Jakob Vierheller wurde als zweites von neun Kindern geboren. Am 20. Februar 1921 heiratete er Anna, geb. Nies, geb. am 26. Mai 1898, in Schotten. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, sechs Mädchen und ein Junge. Im Krankenhaus Schotten war er als Krankenpfleger, also auch für alle anfallenden Arbeiten im und ums Krankenhaus tätig. (Das war zur 168 Erinnerungen an den Vater damaligen Zeit so üblich). Tatkräftige Unterstützung fand er durch meine älteren Geschwister. Nur so war es ihm möglich, allen an ihn gestellten Forderungen gerecht zu werden. Er übte seinen Beruf mit Leib und Seele aus und war daher in ganz Schotten und Umgebung bekannt und beliebt. Ich, Ilse, wurde mit sieben Jahren Abstand zu meinen älteren vier Geschwistern am 18. März 1935, geboren. Danach folgten noch Hedwig und Marianne. Mein Vater war sehr stolz auf seine Kinder. So wurden wir des öfteren den Kranken im Krankenhaus vorgeführt. Ich hatte strohweißes Haar und wurde „blondes Gift“ genannt. Ein kinderloser Zahnarzt war so sehr von mir angetan, dass er mich adoptieren wollte. Dazu kam es Gott sei Dank nicht, da sich meine Eltern nicht dazu entschließen konnten. Denn sie liebten all ihre sieben Kinder gleichermaßen, wie mir meine Mutter des öfteren immer wieder erzählte. Das kann ich aus vollstem Herzen nur bestätigen. 1939 wurde in Eigenleistung ein Eigenheim erbaut. Kurz darauf wurde Vater zur Wehrmacht einberufen. Nun stand meine Mutter alleine mit ihren sieben Kindern da, es begann eine schwere Zeit für sie. Sie hat alles mit Bravour gemeistert, jedes Kind hat einen Beruf erlernt und seinen Weg gefunden. Darauf war sie immer sehr stolz und das mit Recht. Ein anderer Mann hat in ihrem ganzen Leben nie mehr eine Rolle gespielt. Somit ist die ganze Familie ganz eng zusammengewachsen und wir haben alles Schöne und Schwere im Leben gemeinsam gemeistert. Vom 7. bis 12. September 2001 haben ich, meine Schwester Hedwig sowie mein Sohn Jürgen eine Reise nach Stalingrad (Wolgograd) – Moskau unternommen, um nach meinem vermissten Vater zu suchen. Die Reise wurde von der Kriegsgräberfürsorge organisiert. Es war eine bewegende Reise voller Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Von ganzen Herzen danke ich der Kriegsgräberfürsorge, dass sie durch unermüdliche Verhandlungen die Möglichkeiten geschaffen hat, dass Hinterbliebene endlich die Möglichkeit haben, von ihren Lieben in den Weiten Russlands Abschied zu nehmen. Weiter so. Leider haben wir von meinem Vater sowie von zweien seiner Brüder in Rossoschka keine Spur gefunden. Die nächste Reise führt uns nach Woronesch, wir suchen weiter. Das Geschehene darf nicht vergessen werden, denn ich möchte nicht, dass meinen Kindern und Enkelkinder das gleiche Schicksal widerfährt. Erinnerungen an den Vater 169 Friedrich Albert Münstermann * 20. September 1909 = 20. Juli 1942 Wolchow-Front Russland Von Albert Münstermann Geboren wurde mein Vater am 20. September 1909 als siebtes Kind des Glasmachers Christian Münstermann und dessen Ehefrau Auguste, geborene Kaufhold. Sein Vater verstarb, als er knapp fünf Jahre alt war. Deshalb wuchs er in großer Armut auf. Drei Brüder waren im Ersten Weltkrieg Soldat, einer davon fiel, einer wurde stark verwundet an der rechten Hand, so dass er nach dem Krieg seinen Beruf als Glasmacher nur noch beschränkt ausüben konnte. Ein Bruder kam schwer krank 1920 aus französischer Gefangenschaft zurück. Wegen der Armut in der Familie war mein Vater unzureichend ernährt, blieb klein und schwächlich in jungen Jahren. Er konnte deshalb nicht, wie in der Familie üblich, zum Glasmacher ausgebildet werden; er war zu schwach und zu klein, um als „Einträger“ in der Glasfabrik arbeiten zu können. So begann er eine Lehre in einem Eisenwerk. Da er zu klein war, um am Schraubstock richtig arbeiten zu können, stand er auf einer Holzkiste. Später half er seinem älteren Bruder als Malergehilfe. In dreieinhalb Jahren, von 1925 bis 1929, erlernte er während der Winter das Hausschlachter-Handwerk. Die Gesellenprüfung legte er im März 1935 ab, danach war er in diesem Beruf selbständig. Im Sommer war er weiter als Maler und Anstreicher tätig. Am 19. Dezember 1937 bestand er die Meisterprüfung für das Hausschlachter-Handwerk. 170 Erinnerungen an den Vater Wegen seines Berufes bekam er im Winter 1940/41 von der Wehrmacht sechs Wochen Sonderurlaub, um in seinem Heimatort bei zahlreichen Familien die Hausschlachtung von Schweinen vorzunehmen. Meine Eltern heirateten am 30. August 1930. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor: Ich wurde im Dezember 1930 geboren, mein Bruder Günter im Dezember 1940. Mein Vater erlitt beim Entschärfen einer sowjetischen Mine schwere Verletzungen, er verlor den rechten Arm. Ich erinnere mich an seine Verabschiedung nach dem Genesungsurlaub, den er im Februar/März 1942 nach dem Verlust seines Armes bekam. Meine Mutter und ich verabschiedeten ihn auf dem Bahnhof in Porta. Seine letzten Worte waren an meine Mutter: „Mariechen, vergiss es nicht, dass die Jungens etwas lernen, damit sie unter Dach arbeiten können“ – unvergesslich! Seine letzten Worte hat meine Mutter immer im Herzen getragen und mich und meinen Bruder entsprechende Berufe lernen lassen. Dieser Gedanke resultierte wohl aus seiner eigenen Arbeit als Maler und Hausschlachter, bei deren Ausübung er Wind und Wetter immer stark ausgesetzt gewesen war. Durch seinen Beruf als Hausschlachter kam mein Vater in zahlreiche Familien und lernte dort den Umgang mit den verschiedensten Menschen. Was hätten mein Bruder und ich nicht alles von ihm für unseren Lebensweg lernen können, wenn der Krieg ihn uns nicht geraubt hätte! Am 19. Juli 1942 wurde er in den WolchowSümpfen erneut schwer verletzt, diesmal am rechten Bein. Am 20. Juli 1942 versuchte man im Lazarett, sein Bein zu amputieren, dabei starb er. Persönliche Erinnerungen Ich habe meinen Vater als lebensfrohen Papa in bleibender Erinnerung, der mit seiner Familie glücklich lebte. Er pflegte einen innigen Kontakt zu den Familien seiner Geschwister und deren Kindern. Zu persönlichen Festtagen, insbesondere zu Geburtstagen seiner Mutter waren alle zu Gast in unserem Haus, das gleichzeitig das Elternhaus seiner Geschwister war. Neben seiner beruflichen Tätigkeit galt seine Neigung dem Obst- und Gartenbau auf dem von ihm geerbten Grundstück mit kleinem Haus, das er 1937 zur Hälfte abreißen und neu aufbauen ließ. Auf diesem Grundstück gab es ca. 150 bis 160 Obstbäume! Deshalb war er auch Mitglied im Hausberger Gartenbauverein. Erinnerungen an den Vater 171 Seine besondere Liebe galt indes dem Sport mit Brieftauben. Ich erinnere mich, dass im Sommer die zum Preisflug bestimmten Tauben in einem speziellen Reisekorb samstags „eingesetzt“ wurden und vom Vereinslokal mit anderen Tauben „verschickt“ wurden. Sonntags war dann Rückflug zum heimatlichen Schlag. Es musste aufgepasst werden, dass die heimkehrenden Tauben nicht auf dem Hausdach oder einem großen Baum vor dem Haus sitzen blieben. Deshalb versuchte mein Vater (wie jeder andere Taubenzüchter, als „Taubenvater“) die Tauben durch Flöten und Rufen in den Schlag zu locken, damit ihnen der Gummiring für den Einwurf in die Konstatieruhr abgenommen werden konnte. Noch als ich ein kleiner Junge war, weckte Papa mein Interesse für die Tauben und für deren Pflege und Betreuung. So verabschiedete er sich bei seinem letzten Heimaturlaub auf dem Taubenschlag von mir mit den Worten: „ Nun bist du der kleine Taubenvater.“ Der „Taubenverein“ war ein fester treuer Freundeskreis, der meiner Mutter auch nach Kriegsende manche Hilfe zuteil werden ließ. Im Frühjahr 1942 schrieb Vater dann, dass die Tauben nach und nach abgeschafft werden sollten. Es war immer schwieriger geworden, für entsprechendes Futter zu sorgen, obwohl wir schon Bucheckern und Eicheln gesucht, diese getrocknet und zum Verfüttern zerkleinert hatten. „Wenn der Krieg vorbei ist, schaffen wir wieder neue Tauben an“, schrieb er. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen. 172 Erinnerungen an den Vater Wilhelm Neidel Unsere Familie im April 1943. * 12. November 1895 in Grün/Asch, Sudetengau = 10. Mai 1945 in Pilsen (Bory) Kriegsgräberstätte Pilsen/Tschechische Republik auf der Namentafel verzeichnet Von Christoph Neidel In jenen schlimmen Kriegsjahren (1939-1945) wurde nicht nur an der Front gelitten und gestorben, sondern auch hinter der Front, ja sogar in der zu schützenden Heimat. Wie verworren und verflochten manche menschliche Schicksale eben oft sind, so auch manche Lebensabläufe gerade in der Zeit des Nationalsozialismus. Mein Vater hätte durchaus noch viele Jahre in unserer Mitte sein können, wenn nicht sehr unglückliche Umstände zu seinem frühen Tod geführt hätten. Er wurde am 12. November 1895 in Grün bei Asch im Sudetengau geboren, ist dort aufgewachsen und hat dort auch acht Jahre die Volksschule besucht. Nach einer Kellnerlehre im nahen Bad Elster (Sachsen) und anschließender Weiterbildung in einer Hotelfachschule bei Dresden war er in verschiedenen guten Hotels in Deutschland tätig. Während des Ersten Weltkrieges musste er zwei Jahre in einer Munitionsfabrik bei Wien arbeiten. Danach war er aufgrund seiner guten Ausbildung einige Jahre in Frankreich in verschiedenen Hotels. Anfang 1936 heirateten meine Eltern, wohnten anfänglich in Grün und mein Vater arbeitete wieder in Bad Elster als Oberkellner im Hotel Erinnerungen an den Vater 173 „Wettiner Hof“. 1938 machten sich meine Eltern selbständig und pachteten von 1938 bis 1941 die Ausflugsgaststätte auf dem Hainberg. Im Sommer 1941 begann dann die verhängnisvolle weitere Entwicklung: Deutsche Offiziere hatten wieder mal in unserem Lokal etwas über den Durst getrunken und taten dann Dinge, die sie in normalen Zustand wahrscheinlich nie getan hätten. Sie entnahmen unerlaubt aus unserer Hauptkasse einige größere Geldscheine. Nach genauer Überprüfung der ganzen Situation seitens meiner Eltern meldete mein Vater diesen Vorgang der Polizei. Doch nun wurden in den folgenden Tagen nicht die Schuldigen bestraft, sondern meine Eltern: Am 8. August 1941 wurde er (damals 46 Jahre) zur Polizeireserve eingezogen und musste von nun an in Kosolup, Kreis Mies im Sudetengau seinen Dienst tun. Damit war meinen Eltern die gemeinsame Existenzgrundlage entzogen; der Pachtvertrag wurde gekündigt und meine Eltern erwarben ein Haus in der Nähe von Bad Brambach. In den folgenden Jahren bis Ende 1947 wohnten wir dort und mein Vater kehrte in seinem Urlaub jeweils bis zum Frühjahr 1945 dahin zurück. Am 8. Mai 1945 war die Kapitulation Deutschlands. Von nun an hörten wir lange nichts mehr von meinem Vater. Was hat meine Mutter in dieser Zeit durchstehen müssen! Die Not des eigenen Lebens, die Ungewissheit über den Aufenthalt meines Vaters, die ungenauen und wechselhaften Informationen jener Zeit! Dann schließlich kamen nach und nach mehr negative als hoffnungsvolle Nachrichten über den Verbleib meines Vaters vom Suchdienst des DRK, und endlich dann auch eine konkrete Aussage eines Mitgefangenen, der als Breslauer Flüchtling noch kurz vor seiner Inhaftierung in Pilsen gewohnt hatte. In einem Brief an meine Mutter schrieb er: „Am Sonntag, den 6. Mai 1945 rückten nun die Amerikaner in Pilsen ein und die Tschechen hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Deutschen zu verfolgen und einzusperren. So kam auch ich an diesem Sonntag nach vorherigen Misshandlungen in die Strafanstalt Pilsen-Bory, Zelle Nr. 276. Zunächst waren wir drei Mann in dieser Zelle. Am Abend dieses Sonntages gegen acht Uhr wurde noch Ihr Gatte in unsere Zelle bewusstlos hinein geschleppt, nachdem er, wie ich später erfuhr, auf dem Polizeirevier, wo er seine Uniform abgeben sollte, schwer misshandelt worden war. Am nächsten und an den folgenden Tagen erholte sich Ihr Gatte soweit, dass wir uns gegenseitig unterhalten konnten. Aus diesen Unterhaltungen blieb mir im Gedächtnis, dass ihr Gatte im Brambach beheimatet war. 174 Erinnerungen an den Vater Gegen Ende der Woche, also um den 8. Mai 1945 herum, verschlimmerte sich der Zustand Ihres Gatten, so dass ich Meldung an den Schließer erstattete. Es kam darauf eine deutsche Ärztin (ebenfalls Strafgefangene), die ihn untersuchte und eine Aufnahme in ein Krankenhaus für notwendig hielt. Die Tschechen haben aber in ihrer maßlosen Wut gegen alles Deutsche nichts unternommen um Ihrem Gatten zu helfen bzw. ihn in ein Krankenhaus zu bringen. So kam es langsam, wie es kommen musste: Es stellte sich irgendeine innere Komplikation ein, die ihn fiebernd und fröstelnd aufs Lager warf. Wir pflegten ihn, soweit wir in der Lage waren, denn wir hatten nichts als Wasser. Am 10. Mai 1945 gab ich ihm noch persönlich eine dünne Brühe, die wir als Mittagessen erhielten, denn Kartoffeln oder Brot konnte er nicht mehr schlucken. Es war für uns andere Mitgefangene eine schwere Belastung, zuzusehen, wie sich ihr Gatte gegen seine Krankheit wehrte und doch nicht die Oberhand gewann. Liebe Frau Neidel, seien Sie eine tapfere Frau und denken Sie an den Heimgang so vieler Millionen Männer und Söhne, die dieser Krieg erforderte, seien Sie tapfer und voller Gottvertrauen, wenn ich ihnen mitteile, dass ich am 1. Mai 1945 frühmorgens gegen 2.00 Uhr Ihrem Gatten die Augen zudrückte, nachdem er schon seit dem Spätnachmittag des vorangegangenen Tages die Besinnung verloren hatte. ... Ich weiß auch nichts mehr und habe auch nichts mehr erfahren, wo und wann ihr Gatte beerdigt wurde ...“ Um die spezielle Situation meines Vaters richtig verstehen zu können, muss man dazu wissen, dass nach dem Zusammenbruch der HitlerDiktatur in der Tschechoslowakei die Gefangenen, die aus Asch stammten, eine „Sonderbehandlung“ über sich ergehen lassen mussten, die nur die jüngeren und robusteren Gefangenen lebend überstanden. Diese „Sonderbehandlung“ wurde mit dem Namen Konrad Henlein (Gründer der Sudetendeutschen Partei, 1938 Gauleiter, 1939 Reichsstatthalter des Sudetengaus) begründet, der auch aus Asch stammte. Nachweislich aber hatte sich mein Vater nie mit der NSDAP identifiziert und musste trotzdem sein Leben dafür lassen. Während andere Mitarbeiter seiner Polizeidienststelle kurz vor Kriegsende flüchteten, war mein Vater bis zuletzt guten Glaubens, er könne die Dienststelle ordnungsgemäß den Tschechen übergeben. Wie oben erwähnt, wurde er aber schon bei der Übergabe schwer misshandelt und später nochmals im Gefängnis, was schließlich zu seinem Tode führte. Vermutlich ist mein Vater in ein Massengrab gekommen. Heute erinnert nur noch sein Name auf einer Gedenktafel an ihn, die von der Kriegsgräberfürsorge auf dem Pilsener Stadtfriedhof errichtet wurde. Erinnerungen an den Vater 175 176 Erinnerungen an den Ehemann, den Verlobten, den Freund Erich Schlicht von Else Leis 178 Walter Ziege von Anni Teichert 180 Paul Haas von Gertrude Laub 182 Alfred Neubauer von Gerda Neubauer 184 Werner Löhmer von Leonore Löhmer 187 Heinrich Neuhausen von Anna Neuhausen 188 Horst Rimkus von Inge Trümpner 190 Ernst Kirmse von Marie Kirmse 192 Nikolai Birnbaum von Marie-Luise Kaden 193 Georg Marschall von Wilhelmine Lettau 196 Erinnerungen an den Ehemann 177 Erich Schlicht * 1. Januar 1916 in Heilbronn/N. Vermisst 1944/45 Von Else Leis Erich Schlicht lernte ich 1938 während meiner Ferien in Heilbronn kennen. Er war etwa 1,67 Meter groß, hatte schwarze Haare, braune Augen und war von Beruf Bürokaufmann. Im Jahr 1939 kam er zum Reichsarbeitsdienst in den Schwarzwald. Von dort schrieb er mir, dass er mich nicht besuchen käme, wenn er Urlaub habe, weil er sich selbst in der Uniform nicht gefalle! Erst nach seiner Entlassung kam er nach Pforzheim, um mich zu besuchen. 1940 kam seine Einberufung zum Militär und nach der Ausbildung an die Front nach Russland. 1941 wurde er verwundet und kam nach Leipzig ins Lazarett. Im November habe ich ihn dort besucht. Und bevor er im Februar 1942 entlassen wurde nochmals. Beim Abschied ahnten wir beide nicht, dass wir uns nicht mehr sehen sollten. Er musste an die Front nach Russland, wurde wieder verwundet und kam nach Annaberg im Erzgebirge, danach nochmals nach Russland. Er wurde ein drittes Mal verwundet und kam nach Kutno in Polen ins Lazarett. Als die Russen kamen, hörte man nie mehr etwas von ihm. Wäre es auch möglich, dass Erich Schlicht und seine verwundeten Kameraden von den Russen nach Finnland verschleppt wurden? Meine 178 Erinnerungen an den Freund Tochter hatte in jungen Jahren einige Auslands-Brieffreunde, darunter auch einen aus Finnland. Dieser bekam damals ein Stipendium in Schwäbisch-Gmünd. Von dort schrieb er ihr, ob er sie besuchen dürfe. Ich habe es ihr erlaubt und als er zur Tür hereinkam, verschlug es mir die Sprache. Ich dachte, das darf doch nicht wahr sein, denn ich dachte, mein Freund Erich käme zur Tür herein. Er kam noch ein paarmal, aber sie trafen sich in der Stadt. Als dann sein Jahr um war, kam und verabschiedete er sich, und am Bahnhof sagte er zu ihr: Er hätte einen deutschen Vater. Als sie mir das sagte, bat ich sie, ihn nach dem Namen seines Vaters zu fragen, aber meine Tochter meinte, dass mich das nichts anginge. Erinnerungen an den Freund 179 Walter Ziege * 21. Januar 1920 = 17. Dezember 1942 Von Anni Teichert Mein Zusammentreffen mit Walter kam auf eine besondere Art und Weise zustande. 1938 heiratete meine Mutter, damals 41 Jahre alt, noch einmal einen Witwer mit erwachsenen Kindern. Außer zwei Jungen waren alle verheiratet und hatten eigene Familien. Plötzlich hatte ich zwei Brüder, Walter war 18 Jahre und Helmut 14. Da nicht genug Platz im Haus für alle vorhanden war, eine Wohnung war vermietet, blieb ich vorerst bei den Großeltern. Ich war froh darüber. Nach einigen Monaten zog ich dann mit den Großeltern zu meiner Mutter. Was sollte ich jedoch mit zwei Brüdern anfangen? Für Jungen hatte ich in dem Alter wenig Interesse. Am Tisch saß Walter neben mir. Sonst ging jeder von uns seine eigenen Wege. Doch es kam so, wie es kommen sollte. Walter gefiel mir immer besser. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und einen liebenswerten Charakter. Ich verliebte mich in ihn und er sich in mich. Anfangs war es am Tisch nur ein kurzes Berühren mit dem Knie, ein kleiner Händedruck beim Vorbeigehen. Wenn niemand in der Nähe war, ein flüchtiger Kuss. Keiner merkte etwas von unserer Liebe und wir waren glücklich mit diesen kleinen Aufmerksamkeiten und unserem Geheimnis. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. 1940 meldete sich Walter freiwillig zum Militär. 180 Erinnerungen an den Verlobten Wie sollte er mir wohl schreiben? So kamen wir auf folgende Idee: Wenn ein Brief an die Eltern kam und der Ortsname war doppelt unterstrichen, so war für mich ein Brief „Postlagernd“. Das ging ganz gut. Walter war inzwischen in Frankreich und sollte nach Russland versetzt werden. Urlaub gab es keinen. Es war nur ein Aufenthalt von einem Tag in Delitzsch vorgesehen. Ich wollte ihn unbedingt noch einmal sehen, und so erzählte ich den Eltern von unserer heimlichen Liebe. Geahnt hatten sie es bereits. So fuhr ich für einen Tag nach Delitzsch. Dort steckte mir Walter einen Goldreif an den Finger, den er aus Frankreich mitgebracht hatte. Das war unsere Verlobung. Es war ein sehr schmerzlicher Abschied. Wir wussten ja nicht, ob es ein Wiedersehen gab. Als ich nach Hause kam, fiel der Blick der Eltern sofort auf den Ring und sie freuten sich herzlich darüber. Walter habe ich vor seinem Tod noch einmal nur ganz kurz gesehen. Er bekam im Juli Heimaturlaub, es war sein letzter. Doch ich wurde im April 1942 zum RAD dienstverpflichtet und war nicht zu Hause. Deshalb besuchte Walter mich im Lager. Ich bekam zwei Stunden Ausgang, aber keinen Urlaub. Er musste vor dem Tor auf mich warten. Es war unser letztes Wiedersehen. Im Oktober 1942 kam das gesamte RAD-Lager nach Torgau in die Heeresmunitionsanstalt zum Kriegsdienst, ebenfalls ein Barackenlager und Arbeitslohn pro Tag eine Reichsmark. Im Februar 1943 kam meine Schwester zu mir und überbrachte mir die Nachricht, dass Walter bereits am 17. Dezember 1942 in Russland gefallen war. Weihnachten war ich zu Hause und wir hatten keine Ahnung, dass er bereits schon eine Woche in russischer Erde lag. Inzwischen bin ich 78 Jahre alt. Walter war meine erste große Liebe und ist es bis heute geblieben. Erinnerungen an den Verlobten 181 Paul Haas * 2. April 1914 = 20. Januar 1942 Von Gertrude Laub Die Erinnerung darf nicht verloren gehen! Mein Verlobter Paul Haas wurde am 2. April 1914 in Köln geboren. Er war ein lieber sonniger Mensch, ein guter Schwimmer (Trainer im Verein). Unsere Hochzeit war für den 2. September 1941 geplant. Leider kam der Russland-Feldzug und dieser Termin, wie auch weitere, mussten verschoben werden. So kam Ende Februar 1942 der Bescheid: „Gefallen am 20. Januar 1942“. Paul muss geahnt haben, dass er den Krieg nicht überleben würde. Wie sonst hätte er bereits im April 1941, also noch vor Beginn des Russlandkrieges, seinen Abschiedsbrief schreiben können? Diesen Brief habe ich im verschlossenen Umschlag im Mai 1941 erhalten und dann bei der Nachricht seines Todes geöffnet. Es lag auch sein Testament bei. Den Brief habe ich lange Jahre immer bei mir getragen. Dadurch hat er den Krieg überstanden. Alle anderen lieben Briefe kamen bei den Luftangriffen auf Köln abhanden. Wir wurden mehrmals ausgebombt. Bei dem schweren Luftangriff auf Köln am 30. Oktober 1944 verloren auch Pauls Eltern, Conrad und Sibille Haas, ihr Leben. Sie saßen laut Augenzeugen, die den Keller durch einen Durchbruch betraten, tot auf einem Sofa. Wahrscheinlich waren sie erstickt. 182 Erinnerungen an den Verlobten Es ist nun alles so lange her, dass ich meine Lieben verlor, doch es vergeht kaum ein Tag, an dem die Erinnerung nicht da ist. Es schmerzt immer noch, wenn auch gemildert. Meinem Liebsten, gefallen am 21.1.42 an der Ostfront Endlose, rastlose Weiten dehnen sich ferne im Osten. Dort musstest du für mich streiten, standest du für mich auf Posten. Musstest dein Leben du lassen, von feindlicher Kugel gefällt. Starbest so einsam, verlassen, glaubend an eine bessere Welt. Nun decket dich die kühle Erde, ruhst du von allen Schmerzen aus, bis Gott spricht sein neues: Werde! Ruft dich ins ewige Vaterhaus. Dienststelle O.U., den 24.1.1942 Herrn Konrad Haas, Köln/Rhein Ihr Sohn der Uffz. Paul Haas verstarb am 21.1.1942 auf dem Truppenverbandplatz an den Folgen eines am 19.1.1942 erhaltenen Lungendurchschusses. Er starb den Heldentod in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für Führer und Vaterland. Zu diesem schmerzlichen Verluste spreche ich Ihnen, zugleich im Namen seiner Kameraden, meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Die Gewissheit, das Ihr Sohn sein Leben für das Grossdeutsche Reich, für Führer und Volk hingegeben hat, möge Ihnen ein Trost sein in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat. Ich grüße Sie in aufrichtigem Mitgefühl. Leutnant u. Komp. Führer Anbei die Privatgegenstände des Toten. Die bei dem Toten vorgefundenen Barbeträge werden zusammen mit dem Wehrsold an Ihre Adresse per Postanweisung überwiesen. Erinnerungen an den Verlobten 183 Alfred Neubauer * 20. April 1912 in Hannover = 27. März 1943 im Lazarett in Kosmeneci Von Gerda Neubauer Geboren wurde Alfred Neubauer am 20. April 1912 in Hannover. Dort verbrachte er auch seine Kindheit und absolvierte die Schulzeit. Seit ca. 1934 war er Amateur-Radrennfahrer. Er fuhr viele Siege ein. Aufgrund dessen wurde er 1936 Profi. Zuletzt fuhr er für VIKTORIA. Am 3. Dezember 1938 haben wir geheiratet. Da ich noch nicht volljährig war, brauchten wir das Einverständnis meiner Eltern. Ein gutes halbes Jahr später, am 4. Juli 1939, schien unser Glück perfekt. Töchterchen Karin wurde geboren. Ein Monat später war die Radrenn-Deutschlandrundfahrt. Sie führte über 25 Etappen. Alles lief bestens, bis mein Mann bei der 24. Etappe in den Alpen stürzte. Seine Verletzung musste genäht werden und so durfte er an der letzten Etappe nicht mehr teilnehmen. 1940 kam seine Einberufung in Bielefeld als Gefreiter. Dort absolvierte er eine Ausbildung zum Scharfschützen. Im gleichen Jahr wurde unsere Tochter Bärbel geboren. Er wurde nach Frankreich versetzt und diente in Paris als Besatzungssoldat. Während dieser Wehrdienstzeit gab es für alle Profi-Radrennfahrer zwei Stunden Trainingszeit pro Tag. Bevor Ende 1941 die Radfahrerkompanie aufgelöst wurde, bekam mein Mann drei Wochen Heimaturlaub. Endlich konnte er seine zweite Tochter zum 184 Erinnerungen an den Ehemann ersten Mal sehen. Wir verbrachten eine kurze, aber glückliche Zeit zusammen. Nach dem Urlaub musste er mit seiner Kompanie nach Russland. In Smolensk diente er bei der Infanterie als Scharfschütze. Von da an war unser Glück und das Familienleben nur über Feldpost möglich. Er schilderte mir viele Erlebnisse, von denen ich wohl einige niemals vergessen werde. Zum Beispiel dies: An einem Tag kam es zu einer ungewollten Konfrontation mit einem russischen Scharfschützen. Sie konnten sich fast in die Augen sehen. Der Russe schoss zuerst, aber vorbei. Daraufhin haben sie sich voneinander abgewandt. Am nächsten Tag trafen sie erneut aufeinander. Alfred sah, wie der Russe die linke Hand hob. Es hieß soviel wie, wir schießen bewusst vorbei. Das waren die wenigen menschlichen Züge in diesem schrecklichen Krieg. Ein weiteres Treffen gab es nicht mehr. Bei einem Gefecht wurde Alfred mit zwei seiner Kameraden von der Truppe getrennt. Um sich zu ernähren, suchten sie Getreide, welches sie zuerst weichkauten, um es dann mit Wasser aus ihren Feldflaschen zu zerkochen. So kam etwas ähnliches wie eine Suppe zustande. Vom Kauen des harten Getreides taten ihnen die Kiefer weh. Am vierten Tag wurden sie gefunden und es gab wieder Verpflegung. Bis dahin hatte Alfred den Krieg ohne Blessuren überstanden. Im Herbst 1942 traf es ihn dann. Verwundung durch Kopfschuss. Der Arzt scherzte noch über den großen Kopfverband, aber die Verletzung sei nicht lebensbedrohlich. Er gab Alfred noch den Tipp, im Lazarett über Kopfschmerzen zu klagen, damit er von der Front versetzt werde. Es klappte tatsächlich. Wenige Tage später wurde er mit dem Zug von Kiew nach Wien gebracht. Ich bekam Nachricht, nach Wien zu kommen. Mit unserer dreijährigen Tochter Karin machte ich mich sofort auf den Weg. Bärbel blieb bei meinen Eltern. Wunderschöne drei Wochen haben wir dort zusammen verlebt. Anfang Januar 1943 musste er nach Quedlinburg, wo seine Einheit lag, um sich dort zu melden. Noch einmal bekam er die Genehmigung für weitere drei Wochen Genesungsurlaub. Den verbrachte er dann bei uns, zu Hause in Hannover. Endlich ein fast normales Familienleben, wenigstens für drei Wochen. Abgesehen von mir, auch seine beiden Töchter vermissten ihren Vater sehr. Sie kannten ihn ja kaum. Anfang Februar 1943 musste er zurück zum Mittelabschnitt, zur Truppe nach Smolensk. Per Feldpost teilte er mir mit, dass alle alten Kamera- Erinnerungen an den Ehemann 185 den nicht mehr da waren. Entweder verwundet oder gefallen. Die neuen Kameraden waren alle noch sehr jung, die meisten erst zwischen 18 und 20 Jahre alt. Bei einem Gefecht wurde Alfred erneut verwundet. Diesmal traf es ihn noch schlimmer. Sein Schlüsselbein war durch Granatsplitter zertrümmert. Sein Brustbein war durchgeschlagen, so dass der Lungenzwischenraum frei lag. Er kam ins Lazarett in Kosmeneci. Dort verstarb er am 27. März 1943 an seinen schweren Verletzungen. Aufgrund von Versorgungsmängeln bei den Truppen (zum Beispiel Spritmangel) war eine Rückführung der Schwerverletzten leider nicht möglich. Vielleicht hätte er in der Heimat aufgrund besserer medizinischer Versorgung überlebt. Immer wieder hat er betont, wie ungern er Soldat sei. Besonders schlimm waren für ihn an der Front die Trennung von seiner Familie, schlechte Verpflegung und die ständige Läuseplage. Paradox war für mich eigentlich, dass Alfred bei seinem Abschied vom letzten Heimaturlaub sagte: Er hätte das Gefühl, wieder verwundet zu werden: Bein-, Fuß- oder Armverletzung. Leider war dies nicht der Fall. Es begann eine sehr schwere Zeit für mich. Trotz tiefer Trauer musste ich mich ja um unsere beiden kleinen Mädchen kümmern, außerdem war ich im fünften Monat schwanger. Am 22. Juli 1943 kam unser Sohn Fred zur Welt. Den Namen hatte Alfred sich gewünscht. Er teilte es mir kurz vor seinem Tod per Brief mit. Was hätte Alfred sich über diesen Stammhalter gefreut! Freude und Trauer lagen so nahe für mich beieinander ... 186 Erinnerungen an den Ehemann Werner Löhmer *= April 1943 Von Leonore Löhmer Ich schicke Ihnen etwas zum Lesen aus dem Krieg von meinem Mann aus Russland. Es war das einzige und letzte, was ich erhalten habe. Meine liebste Lore! Da nun dieses Jahr zu Ende geht, bevor ich diesen Brief absenden kann, so will ich dir an diesem Jahresende noch einmal schreiben, wie lieb ich dich habe und wie ich auch die Kinder liebe. Immer denke ich an euch und hoffe auf den Tag, da ich wieder bei euch sein kann. Ich danke dir noch einmal für alles Schöne und für die Liebe, die du mir schenken konntest, und dadurch hast du mich reich gemacht. Das ist es auch, was mir die Kraft und den Mut verleiht, hier allen mit Ruhe und Festigkeit zu begegnen, und das ist es auch, was mich sicher macht und mich so gewiss sein lässt: Der Glaube an deine Liebe und dass du und die Kinder auf mich warten. Mein Leben steht in des höchsten Gottes Hand, darauf vertrau ich. Er segne euch reich im neuen Jahr und auch mich. Grüße mir meine lieben Kleinen und gib Ihnen einen Kuss von mir. Du aber denke immer an mich und daran, dass ich dich unsagbar lieb habe. „Reich mir deine Hände auch im neuen Jahr, dieses Krieges Ende, macht das wieder wahr.“ Gott segne euch! Es grüßt und küsst euch Euer Pappi Erinnerungen an den Ehemann 187 Heinrich Neuhausen * 24. August 1906 in Irlenborn bei Eitorf = 24.Juni 1940 Kriegsgräberstätte Bourdon/Frankreich Block 18, Reihe 7, Grab 245 Von Anna Katharina Neuhausen Heinrich Neuhausen wurde am 24. August 1906 in Irlenborn geboren, er war das jüngste von sieben Geschwistern. Seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Sein Vater hatte eine Landwirtschaft. Da mussten die älteren Geschwister die kleinen mit aufziehen. Nach acht Jahren Volksschule begann er eine Lehre als Schreiner. Er war 1,90 Meter groß, hatte blaue Augen, er war ein stattlicher Mann. Musikalisch war er auch, er ging nach Bonn aufs Konservatorium und lernte dort, Cello zu spielen. 1933 haben wir geheiratet, unser Sohn wurde im folgenden Jahr geboren. Dann beschloss Heinrich, die Meisterprüfung zu machen. Er bekam die Zulassung, aber es sollte anders kommen. Als 1939 der Krieg begann, hatte ich immer Angst, dass auch er fort müsse. Am 14. Januar 1940 wurde unsere Tochter geboren. Sie war vier Wochen alt, da kam der Gestellungsbefehl. Am 27. Februar 1940 musste er sich in Pillau melden. Nur einmal habe ich ihn als Soldat gesehen: Im Mai 1940 bekam er 14 Tage Urlaub, da er sich an der Hand verletzt hatte. Da hatte ich so eine Eingebung und sagte zu ihm: „Du siehst gar nicht, wie die Kinder groß werden.“ Er hatte immer Heimweh, fast jeden Tag schrieb er mir. Zuletzt schrieb er, als sie auf der Fahrt nach Frankreich waren. Dort 188 Erinnerungen an den Ehemann passierte es auch: Es war eine eingleisige Strecke, ein Zug mit zwei Lokomotiven kam entgegen, und der Zug, in dem die Soldaten waren, stieß frontal mit ihm zusammen. Heinrich ist im Schlaf erdrückt worden. Nun stand ich mit 29 Jahren und zwei kleinen Kindern allein da. Und jetzt ist wieder eine Zeit, wo man Angst hat. Ich bin froh, das ich mit meinen Kindern schon oft sein Grab in Bourdon/Pas-de-Calais besuchen konnte. Erinnerungen an den Ehemann 189 Horst Rimkus Horst und Inge in Friedenszeiten * 5. April 1926 in Tilsit/Ostpreußen = 10. August 1944 in Frankreich in Bernay Kriegsgräberstätte La Cambe/Frankreich Block 18, Grab 58 Von Inge Trümpner Es geht um das traurige Schicksal eines jungen Soldaten, der in Frankreich (Normandie) für den doch so sinnlosen Krieg sein Leben lassen musste. Es war mein Jugendfreund, meine erste Liebe! Er war ein tapferer junger Mann und immer mein Beschützer. Der letzte Brief an seine Mutter war noch voller Hoffnung! 1943, am 30. April, hatten wir den ersten schweren Bombenangriff in Tilsit/Ostpreußen. Wir liefen alle aus unseren Siedlungshäuschen zu benachbarten Gehöften, um dort Schutz vor den Bomben zu suchen. Ich hatte meinen kleinen Bruder vor Aufregung vergessen. Ich lief zurück, um ihn zu holen, da kam mir mein Freund entgegen. „Wo ist Inge?“, hatte er gerufen, als meine Mutter in seinem elterlichen Gehöft ankam, und war losgelaufen. Er holte mich mit meinem Bruder. Im Herbst wurde er eingezogen und wir konnten uns nur schreiben. Dann begann für uns die Flucht, die sich über ein Jahr hinzog, von Altenstein nach Zittau, von dort mit einem Lazarettzug nach dem damaligen Böhmen und Mähren in der Nähe von Brünn. Dann ging es ins Erzgebirge, mit mehreren Tieffliegerangriffen. Die Nachricht, dass mein Freund an seinen Verwundungen gestorben sein, erfuhr ich von 190 Erinnerungen an den Freund seiner Tante. Ich kann es heute noch nicht glauben! Ich hoffe, dass sich so etwas nicht wiederholt, dass deutsche Soldaten in fremder Erde ihr Leben lassen müssen. Meine Hochachtung für die Menschen, die Soldatenfriedhöfe angelegt haben und in Ordnung halten. Mein Mann und ich werden uns auch weiterhin mit Spenden daran beteiligen. Chefarzt des Lw. Ortslaz. L-28567, Lgp. Paris O.U., den 13.8.44 Sehr geehrter Herr Rimkus, zu meinem grossen Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Junge, der SS.Pz.Gren. Horst Rimkus, am 10.8.44 in meinem Lazarett verstorben ist. Er war am gleichen Tage mit mehreren Brustschussverletzungen in unser Lazarett gebracht worden. Obwohl er sofort ärztlich versorgt wurde und wir uns alle Mühe gaben, ist es uns doch nicht gelungen, ihn am Leben zu erhalten. Die Schmerzen konnten wir ihm erleichtern, und ohne besondere Wünsche ist er sanft hinübergeschlummert. Ich spreche Ihnen zu diesem schweren Verlust unser herzlichstes Beileid aus. Die Beerdigung Ihres Sohnes fand am 11.8.44 abends auf dem deutschen Heldenfriedhof in Bernay/Normandie statt. Das persönliche Eigentum, das Ihr Junge bei seiner Einlieferung bei sich trug, wird Ihnen vom hiesigen Lazarett zugesandt werden. Weitere Sachen dürften sich jedoch noch bei seiner Einheit befinden. Rat und Hilfe in allen Versorgungsfragen finden Sie beim nächsten Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt. Mit dem nochmaligen Ausdrucke unser herzlichsten Anteilnahme und Heil Hitler bin ich Ihr Oberfeldarzt Erinnerungen an den Freund 191 Ernst Kirmse * 8. Juli 1912 = 26. April 1945 Kriegsgräberstätte Costermano/Italien Block 4, Grab 1054 Von Marie Kirmse Am Anfang des Ersten Weltkrieges bin ich geboren. Doch Gott sei Dank kehrte mein Vater damals zurück. Ich war das vierte Kind meiner Eltern. Zwei kamen noch nach. Mein Mann und Vater meiner beiden Kinder kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück. Er wurde zuerst ausgebildet zum Brückenbau, bei den Pionieren. Dann Dünaburg. Kam krank ins Lazarett. Ende 1942 wurde er wieder eingezogen und kam dann 1944 nach seinem letzten kurzen Urlaub nach Italien. Ich bekam noch Post von März 1945. Erst Ende 1946 erhielt ich die Nachricht, dass der Unterstand mit allen Kameraden durch Bombenvolltreffer zerstört war. Ein Kamerad, der gerade zum Essenholen war, überlebte. Er kam am Tag danach in Gefangenschaft und durch ihn erhielt ich nach seiner Rückkehr die Nachricht. Mein Mann war 33 Jahre alt, sein Kamerad, der überlebte, etwas über 20. Er schrieb, dass mein Mann für ihn wie ein Vater war. So war unsere Hoffnung und das Warten auf eine Wiederkehr völlig zerstört. Für die Kinder war es besonders bitter. Gott hat mich gut geführt. Er nahm uns viel, gab mir und den Kindern vieles zurück. So nehme ich jeden Tag dankbar aus seinen Händen. Mein Mann ist auf dem wunderschönen Friedhof Costermano in Italien beerdigt, den wir des öfteren besuchen. Ein Trost zu wissen, wo die Ruhestätte meines Mannes ist, dafür spende ich gern. 192 Erinnerungen an den Ehemann Nikolai Birnbaum * 17. April 1923 in Riga/Lettland = 19. Juli 1944 in Pentjusi/Lettland Von Marie-Luise Kaden Mein ehemaliger Verlobter, Nikolai Birnbaum, wurde am 17. April 1923 in Riga/Lettland geboren. Als Baltendeutscher kam er während des Krieges mit seinen Eltern nach Dresden. Es war die Zeit, als Hitler die Auslandsdeutschen aufforderte, „heim ins Reich“ zu kommen. Die Umsiedlung hatte für Nicki, wie er genannte wurde, den Vorteil, dass er sein Abitur in Deutschland nachholen konnte. In Riga waren die deutschen Schulen, zumindest die Gymnasien, geschlossen worden. Anfangs musste die Familie in einem Lager für Umsiedler in Norddeutschland leben und wurde von der Bevölkerung als „Russen“ beschimpft. Niemand interessierte sich dafür, dass gerade die Balten ihr Deutschtum immer besonders hochgehalten hatten. Ich lernte Nicki in Dresden kennen, als ich im Haus der Kaufmannschaft gegenüber vom Zwinger die Tanzschule besuchte. Keiner konnte so gut tanzen wie er, und ich war froh, einen solchen Partner gefunden zu haben. Er war etwas größer als ich, hatte dunkelblondes Haar und schöne braune Augen. Zum Abschlussball, auf den wir uns schon sehr gefreut hatten, sollte jeder aus einem Körbchen die Hälfte eines Pappherzens ziehen und mit demjenigen Herrn, der das passende Ergänzungsstück hatte, das Fest verbringen. Als wir davon hörten, waren Nicki und ich sehr enttäuscht. Doch welch ein glücklicher Zufall: Unsere Herzen passten zueinander, obwohl das Körbchen noch sehr gefüllt war. Wir sahen darin ein beson- Erinnerungen an den Verlobten 193 deres Zeichen, und die beiderseitige Freude war groß. Ich habe meine Herzhälfte viele Jahre – auch noch nach dem Angriff auf Dresden – aufbewahrt. Da wir uns sehr gut verstanden, festigte sich unsere Freundschaft nach Abschluss der Tanzstunde immer mehr. Nicki machte inzwischen sein „Notabitur“. Als ältester Schüler des Gymnasiums wurde er sofort danach einberufen und in der Dresdner Grenadierkaserne mehrere Wochen für die Front ausgebildet. Sein erstes bitteres Erlebnis war, als zwei junge Zeugen Jehovas an einem Sonntagmorgen vor der gesamten Kompanie erschossen wurden, weil sie sich weigerten, den Fahneneid auf Hitler zu leisten. Bevor Nicki an die russische Front kam, verlobten wir uns im Januar 1944 in der Hoffnung auf eine spätere gemeinsame Zukunft. Ehe wir einige Tage später zum Bahnhof gingen, wo der Zug nach Russland bereitstand, sang ich Nicki in der Wohnung seiner Eltern noch ein Abschiedslied vor: „All’ mein Gedanken, die ich hab’, die sind bei dir ...“. Uns allen standen dabei die Tränen in den Augen. – Bevor Nicki nach schlimmen Monaten seinen ersten Fronturlaub bekommen sollte, fiel er am 19. Juli 1944 beim Rückzug unserer Armee in Pentjusi/Lettland, dem Land seiner ursprünglichen Heimat. Der Ring seines Lebens hatte sich für ihm im blühenden Alter von 21 Jahren geschlossen. In seinen zahlreichen Feldpostbriefen brachte Nicki oft zum Ausdruck, wie sehr er den Krieg verabscheute. Von seinem Feldwebel wurde er – als Abiturient – besonders getriezt, und, als er sich einmal für eine Sanitätsabteilung gemeldet hatte, da er wie sein Großvater Arzt werden wollte, nahm man ihn gerade deshalb nicht, sondern einen anderen, der dafür überhaupt kein Interesse zeigte. Nicki beherrschte die lettische Sprache und versuchte auf dem Rückzug seiner Truppe in Lettland – wo es möglich war – alte Menschen zu trösten, deren Häuser und Hütten von seinen Kameraden niedergebrannt wurden, oder sie rechtzeitig zu warnen. Es ist möglich, dass ihm dies und auch seine Offenheit in den Briefen zum Verhängnis wurde und er, wie ich vermute, von seinen Vorgesetzten zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Wie soll ich sonst verstehen, dass wenige Tage, bevor seine Eltern die übliche Gefallenennachricht erhielten, sowohl bei ihnen als auch bei mir (meine Adresse war ja durch die Feldpostbriefe bekannt) die Gestapo auftauchte und Erkundigungen über Nicki anstellte und auch meinen Bücherschrank inspizierte. Ein wertvolles baltisches Buch, das mir Nickis Mutter geschenkt hatte und das mir 194 Erinnerungen an den Verlobten hätte gefährlich werden können, hatte meine Mutter – in weiser Vorsicht – im Küchenschrank hinter Töpfen versteckt. Die Gestapo wusste zu dieser Zeit bestimmt schon von Nickis Tod. Wir haben auch nichts von dem, was er bis zuletzt bei sich hatte, zurückbekommen. Es war üblich, dass man den Ring und private Bilder erhielt. Angeblich soll Nicki durch Granatsplitter in Kopf und Herz tödlich getroffen worden sein. Man hat ihn danach noch zum Obergefreiten befördert. Aber das besagte wohl nicht viel, sondern kann ein Täuschungsmanöver gewesen sein, da ähnliches von Offizieren der Wehrmacht bekannt geworden ist, die aus politischen Gründen untragbar wurden und dies mit ihrem Leben bezahlen mussten, angeblich aber den „Heldentod“ starben. Jahre habe ich gebraucht, um Nickis Schicksal innerlich zu verarbeiten und mit meiner Trauer fertig zu werden. Niemals wird es auf dieser Welt eine Gewissheit darüber geben, wie sein Leben an der lettischen Front wirklich zu Ende ging. Erinnerungen an den Verlobten 195 Georg Marschall * 7. Juli 1913 in Willanzheim (Kitzingen/Main) Vermisst seit Juni 1944 Von Wilhelmine Lettau Möchte Ihnen ein paar Zeilen über meinem Mann schreiben. Georg Marschall hatte braunes Haar, war 1,75 Meter groß und hatte braune Augen. Von Beruf war er Sattler. 1939 wurde er eingezogen, 1940 kam unser Sohn zur Welt, 1941 haben wir geheiratet. 1942 war Georg auf Genesungsurlaub, weil er Malaria hatte, 1944 war sein letzter Urlaub. Das war nur eine kurze Zeit, wo wir zusammen waren. Im Juni 1944 wurde er vermisst bei Witebsk. 1944 wurde unser zweiter Sohn geboren. Das war nur eine kurze Zeit, wo wir zusammen waren, aber er ist in Gedanken noch immer bei mir. Nun bin ich fast 80 Jahre alt und nicht mehr ganz gesund. Ich habe unseren ältesten Sohn und dessen Frau verloren, das hat mich sehr mitgenommen. 196 Erinnerungen an den Ehemann Erinnerungen an liebe Menschen Thomas Hirsch von Hans Obermayer 198 Hans Wolfram von Heinz Mattick 199 Name nicht mehr bekannt von Karl Neef 201 Schulkameraden von I. von Kloch-Kornitz 202 Heinz Plöger von Heinz Koch 204 Hans-Joachim Eilers von Rosemarie Vogt 206 von Pauli Klebe 208 Fritz Wellern von Rolf Stiehler 210 Adolf Knorr von V. Kotschenreuther 212 Siegfried Gast von Christa Hohenöcker 213 Arthur Fischer von Karin Steppe 216 Erinnerungen an liebe Menschen 197 Thomas Hirsch * 11. August 1919 = 17. September 1941 Von Hans Obermayer Thomas, von uns allen Dam genannt, wurde am 11. August 1919 geboren und ist am 17. September 1941 in Schabanott bei Tergajenska (Russland) gefallen. Seine Grablage ist unbekannt. Er war der zweitälteste Sohn unserer Nachbarn. Seine Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft, als Nebenverdienst fuhren sie in den Staatswald zum Holzausfahren. Nachdem der Vater schon etwas älter war und kräftemäßig nicht mehr so konnte, war die Arbeit die Sache der zwei Söhne. Als sein Bruder Ludwig 1938 zum RAD eingezogen wurde, hing die ganze Arbeit bei Dam. Aber er meisterte die Angelegenheit recht gut. Als dann am 1. September 1939 der Krieg begann, war Dam mit bei den Ersten, die in die leer stehenden Kasernen einrücken mussten. Mit der Einberufung endete eine Zeit, in der er jeden Tag bei uns gewesen war. Am Anfang war es allein das gute Verstehen unter Nachbarn. Aber bald teilte er das Interesse meines Vaters an den Motorrädern. Mein Vater hatte eines. Dam war anfangs noch ein bisschen jung, aber bald hatte er auch ein gebrauchtes Motorrad und war in seiner wenigen Freizeit immer mit seiner Maschine und meinem Vater zusammen. Dam wurde Meldefahrer beim Gebirgs-Artillerieregiment 79, war beim Frankreichfeldzug dabei und wurde in der Folgezeit mit seiner Einheit nach dem Osten verlegt. Anfang Mai 1941 kam er in ein Lazarett, wo ihm sein Blinddarm entfernt wurde. Beim anschließenden Erholungsurlaub kam er natürlich auch zu uns. Er erzählte, dass es Krieg mit Russland geben würde. Ich wandte ein, wir hätten einen Nichtangriffspakt mit Russland, aber Dam ließ sich nicht beirren: „Es gibt Krieg mit Russland“. Er fuhr schweren Herzens wieder zu seiner Truppe zurück. Drei Monate später ist er gefallen. Heute denke ich oft an Dam, sein unbekümmertes Wesen, seine Frohnatur, seine Hilfsbereitschaft. Nur ein Opfer des Krieges, aber unvergessen, zumindest für mich. 198 Erinnerungen an liebe Menschen Hans Wolfram * 26. September 1925 = 23. September 1943 bei Salerno in Italien Kriegsgräberstätte Cassino/Italien Block 17, Grab 223 Von Heinz Mattick Als Hans drei Jahre alt war, zogen seine Eltern nach Altranft im Kreis Oberbarnim. Der Vater war Schäfermeister und übernahm auf dem Gutshof in Altranft eine große Schäferei. Die kleine Schwester Anneliese, meine heutige Frau, war gerade 14 Tage alt, als die Eltern den Umzug nach Altranft über die Bühne brachten. Die Kindheit und einen Teil seiner Jugend verbrachte Hans in einer sehr schönen Umgebung, denn Altranft war ein Ort, bei dem es viel Wald und auch Wasser gab. Im Sommer kamen immer viele Berliner Kurzurlauber in den Ort. Die Schulzeit wurde in der dortigen Volksschule absolviert, und die Lehrer waren bemüht, uns Kindern viel Wissen beizubringen. Hans war ein dunkelblonder, ruhiger und bescheidener Junge, der nur seiner kleinen Schwester Anneliese manchen Schabernack spielte. So kam es mal vor, dass er ihr Pferdeäpfel unter die Zudecke ihres Puppenwagens legte. Für solche kleinen Scherze war er immer mal zu haben ... Wir Kinder im Ort kannten uns ja alle bestens, auch wenn der Altersunterschied teilweise erheblich war. Hans konnte nicht ahnen, dass ich, der drei Jahre jünger war als er, einmal sein Schwager werden würde. Aber er hat es auch nie erfahren. Während unserer Schulzeit schrieb ich seiner kleinen Schwester schon mal kleine Briefchen. Einer dieser Briefe gelangte dann mal in seine Hände, aber er behielt es dann für sich und ging nicht gleich zu den Eltern, um zu petzen. Die Kindheit verlief wie bei allen Kindern dieser Zeit gleich. Mit zehn Jahren Pimpf im Jungvolk und mit 14 Jahren Übernahme in die Hitlerjugend. Unsere Generation kannte es ja nicht anderes, und wir glaubten alles, was man uns vorgaukelte. Nach acht Schuljahren wurde Hans aus der Volksschule entlassen. Das war 1940, und es schloss sich sofort eine Lehre als Maschinenschlosser in Bad Freienwalde an. Erinnerungen an liebe Menschen 199 Die Lehre gefiel Hans sehr gut, aber trotzdem meinte er, er müsste seinem Vaterland dienen und hat sich dann, wie viele seiner Alterskameraden, freiwillig zum Militär gemeldet. Seit dem 1. September 1939 war der Krieg ja schon in seiner ganzen Brutalität im Gange. Na und unsere Generation war so verbohrt, dass wir an den Spruch glaubten, „Führer befiehl, wir folgen dir“. Wohin wir diesen Größenwahnsinnigen gefolgt sind, erfuhren wir im ganzen Ausmaß erst 1945 nach Kriegsende. Im Jahre 1943 wurde der Lehrling Hans Wolfram zum Reichsarbeitsdienst und danach sofort zur Division „Hermann Göring“ eingezogen. Nach kurzem Drill ging es sehr schnell ab in Richtung Italien. Als die Amerikaner von Sizilien zum Festland übersetzten, traf den Pionier Hans Wolfram eine Granate. Sein kurzes Leben wurde am 23. September 1944, drei Tage vor seinem 18. Geburtstag, ausgelöscht, wie es damals hieß, „gefallen für Führer, Volk und Vaterland“. Die GefallenenMeldung bekamen die Eltern von der Einheit, 1946 kam noch eine Benachrichtigung der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Wehrmacht. Im Jahre 1960 erhielten meine Schwiegereltern eine Benachrichtigung von der Evangelischen Kirche der DDR, dass die sterblichen Überreste des Gefallenen nach Cassino zum dortigen Soldatenfriedhof überführt wurden. Dank dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bekamen wir im Frühjahr 2000 Fotos seiner Grabstätte. Dafür sind wir dem Volksbund sehr dankbar. Wie glücklich wären meine Schwiegereltern gewesen, hätten sie diese Aufnahmen von der Grabstätte ihres Sohnes noch sehen können. Man kann nur sagen, nie wieder Krieg, egal wer ihn anzetteln und was man damit bezwecken will! 200 Erinnerungen an liebe Menschen Name nicht mehr bekannt Von Karl Neef Ich weiß seinen Namen nicht mehr. Wir hatten uns auch erst eine Stunde vor seinem Tod kennengelernt. Nachdem wir, von Holland kommend, irgendwo aus unserem Truppentransportzug ausgeladen worden waren, um – wenn ich noch recht weiß – die 456. Volksgrenadierdivision zu bilden oder aufzufüllen, marschierten wir nebeneinander her. Er erzählte mir von daheim und dass seine drei Brüder gefallen seien. Als der letzte noch Lebende von vier Söhnen hätte er aufgrund eines Führerbefehls zur Sippenerhaltung nicht mehr in den Fronteinsatz kommen sollen. Aber er habe sich freiwillig gemeldet und das sichere Gefühl, dass es ihn nicht treffe. Inzwischen marschierten wir durch Hagenau und durften zu einer Marschpause wegtreten. Aber kaum saßen wir am Rand eines Platzes inmitten der Stadt, wurde unser Platz unter Artilleriefeuer genommen. Einige schrien getroffen auf. Einer wurde durch Granatsplitter am Oberarm, der andere am Unterschenkel getroffen. Ein dritter rührte sich nicht mehr: Ein großer Granatsplitter hatte ihm den Schädel abrasiert. Das war mein Kamerad, der das sichere Gefühl gehabt hatte, dass es ihn nicht treffe. So war der vierte und letzte von vier Söhnen einer Familie gefallen ... Erinnerungen an liebe Menschen 201 Schulkameraden Von Ingeborg von Kloch-Kornitz Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, so war das in den 30er Jahren eine unbeschwerte, schöne Zeit. Ich habe die Oberschule für Jungen in der kleinen Dossestadt Wittstock besucht, wir waren eine kleine Klasse, die aus neun Jungen und acht Mädchen bestand. Der Umgang miteinander war fröhlich, wenn auch der damaligen Erziehung entsprechend zwischen Jungen und Mädchen von einer gewissen Distanz. Dann brach der Krieg aus. 1940 wurde unser Jahrgang konfirmiert, nach drei weiteren Jahren erfolgte das Abitur und die Jungen gingen von der Schulbank zum Militärdienst. Als unsere Kreiszeitung die erste Gefallenenanzeige abdruckte, es war der Sohn des Amtsgerichtsrats der Stadt, Leutnant Eduard Hase, gefallen im Polenfeldzug 1939, da hielt die Stadt noch den Atem an. Aber seit 1941, dem Russlandfeldzug, standen täglich Gefallenenanzeigen im Blatt, und wir kannten sie in der kleinen Stadt fast alle, zumindest vom Sehen oder den Namen nach. Aber es war schon ein gewisser Fatalismus eingetreten, eine gewisse Abstumpfung, wenn es nicht gerade die nächsten Angehörigen betraf. Wenn ich heute darüber nachdenke, so muss diese Abstumpfung wohl ein gewisser Selbstschutz gewesen sein. Wir waren betroffen und bedrückt und haben doch damals das ganz Ausmaß des Grauens des Krieges nicht zu erfassen vermocht. Es brach einfach über uns herein. Unter den Gefallenen fanden sich die Namen von fünf Klassenkameraden: Wolfgang Kliemitz aus Wittstock, Herzog aus Babitz, Horsteberhard Krüger aus Freyensreich, Georg Müller aus dem Flecken Zechlin, Karl-Heinz Lingesleben aus Wittstock. Ein Schulkamerad hat ein Bein verloren, von zwei weiteren ist mir der Verbleib unbekannt, praktisch ist nur ein Schulkamerad von neun Jungen aus dem Krieg in die Heimat unversehrt heimgekehrt. Zwei weitere mir gut bekannte Jungen, Walter Kroll und Heinz Telschow aus Wittstock, sind gefallen, mein Nachhilfelehrer Alfred Suhr aus Dossow bei Wittstock, ebenso zwei Vettern: Eberhard Thiele aus Jahnsfelde bei Landsberg/Warthe und Walter Faustmann aus Guschterholländer bei Friedeberg Neumark. Ich könnte die Namen noch vieler anderer mir gut bekannter Jungen nennen. Unsere Jahrgänge sind so stark gelichtet. Und unser aller Leben 202 Erinnerungen an liebe Menschen hätte so ganz anders verlaufen können, wenn sie nicht so sinnlos gestorben wären. Und nicht nur dieser Krieg war sinnlos. Alle rohe Gewalt, jede kriegerische Auseinandersetzung mit Waffengewalt ist inhuman und sinnlos. Gewalt beschwört Gegengewalt. Wann endlich kann diese unheilvolle Kette nur durchbrochen werden! Kriege werden um Macht, Land oder Geld geführt, die Menschen werden als Werkzeuge in einem Massensog mit hineingezogen und müssen ihr Leben lassen für Dinge, die sie nie gewollt und meist gar nicht verstanden haben. Wann endet dieser Wahnsinn? Nicht immer wieder „Auge um Auge“ oder „Zahn um Zahn“, sondern Verstehen der Ursachen, Verständigung und Suchen nach möglicher Abhilfe. Die Kriege werden immer grausamer, weil die technischen Möglichkeiten immer grausamer werden. Wenn die unheilvolle Kette nicht endlich durchbrochen wird, kann das Ende nur ein endgültiges Chaos bedeuten, auf das wir sehenden Auges zugehen. Gott bewahre uns davor! Erinnerungen an liebe Menschen 203 Heinz Plöger * ca. 1923 = ca. Frühjahr 1949 Von Heinz Koch Russisches Kriegsgefangenenlager Nr. 7207/14 in Kosbasch im Ural: Täglich rückten die Arbeitsbrigaden aus, um in den Bergwerken, die rings um das Lager liegen, Kohle zu fördern. Es war eine schwere bis zur Leistungsgrenze gehende Tätigkeit, die die schon seit Jahren in Lagern lebenden Kriegsgefangenen erbringen mussten. Um nicht als Einzelner in der Masse der im Lager Lebenden zu vereinsamen, hatten sich Gruppen gebildet, die sich auf der Basis von Gemeinsamkeiten zusammen fanden. So einer Gruppe hatten sich Heinz Plöger und ich auch angeschlossen. Gemeinsam hatten wir schon an mehreren Plätzen gearbeitet. Vom Hausbau über Torfstechen, einer Auto-Reparaturwerkstatt, bis letztendlich zur Kohleförderung im Bergwerk. Gegenseitig bestärkten wir uns in der Hoffnung, bald die Heimreise antreten zu können und sprachen dabei auch von unseren Heimatstädten Lüdenscheid und Remscheid. Diese Gespräche wirkten dann wie eine Medizin, sie bauten uns auf und belebten uns. Durch eine Umorganisation wurden wir aber irgendwann getrennt und arbeiteten von nun an in zeitlich versetzten Schichten. Trotzdem verbrachten wir unsere Freizeit in der gleichen Gruppe wie bisher. 204 Erinnerungen an liebe Menschen Dann kam der Tag, an dem Heinz Plöger zum Schichtende von Kameraden ins Lager getragen wurde. Er hatte einen schweren Unfall erlitten: Ein Drahtseil war gerissen, und der daran hängende Waggon rollte in unkontrollierter Fahrt eine Schrägstrecke hinab, an deren Ende er arbeitete. Wegen der lauten Arbeitsgeräusche konnte er die Warnrufe nicht hören. So wurde er von dem mit hoher Fahrt ankommenden Waggon getroffen und zwischen zwei Stempel des Streckenausbaus gedrükkt. Der vorhandene Raum zwischen den Stempeln verhinderte, dass er von dem Waggon gleich zu Tode gequetscht wurde. Trotzdem waren seine Verletzungen sehr schwer. Der ihn untersuchende Lagerarzt entschied seine sofortige Einweisung in das Krankenhaus der nahegelegenen Kreisstadt Kiszel. Auf dieser Fahrt ist Heinz dann auf halber Strecke gestorben. Irgendwo in Kiszel ist er begraben worden. Niemand von uns Kameraden hat in Erfahrung bringen können, wo sein Grab liegt. Trotzdem sehe ich ihn nach mehr als fünfzig Jahren immer noch vor mir. Ihn, der mein Kamerad war und mit mir die Hoffnung auf die Heimkehr teilte. Heinz war von stattlicher Gestalt, hellblond und blauäugig. Gutmütigkeit und Ehrlichkeit waren seine Charakterzüge. Es war mir nicht gestattet, das Stück Papier, auf dem ich seine Adresse und seine Lebensdaten festgehalten hatte, mit in die Heimat zu nehmen. Erinnerungen an liebe Menschen 205 Hans-Joachim Eilers *10. November 1926 Vermisst seit 1945 Von Rosemarie Vogt Eigentlich ist es eine alltägliche Kriegsgeschichte. Persönlich erlebt sie jeder mit eigenem Empfinden: Traurigkeit, auch Fröhlichkeit, Erinnerungen an eine teilweise unbeschwerte Kindheit. Mit meinem Cousin Hans-Joachim-Eilers, geboren 1926, und seiner Schwester Lieselotte, geboren 1930, verbrachte ich in Holzen herrliche Sommerferien. Das kleine Dorf liegt am Ith und Hils und gehört jetzt zu Eschershausen, dem Geburtsort Wilhelm Raabes. Noch im Sommer 1943 unternahmen wir drei gemeinsame Wanderungen. Unser beliebtestes Ziel war der Wilhelm-Raabe-Turm auf dem Großen Sohl im Hils. Wir hatten viel Spaß miteinander, genossen den Weitblick vom Turm und zählten, wie oft wir wohl schon hier oben waren und in Zukunft noch sein würden. Niemand ahnte, dass es unser letztes Beisammensein war. Joachim und Lieselotte wurden in Leubingen, einem Dorf in Thüringen geboren und lebten dort. Der Vater Wilhelm Eilers war Rittergutsverwalter. Joachim absolvierte 1944 in Erfurt das Abitur und wurde sofort zur Waffen-SS, Division Hitlerjugend, eingezogen. Er war groß, blond, blauäugig und kräftig von Gestalt. Er konnte sich gegen die Musterung zur Waffen-SS nicht wehren. 206 Erinnerungen an liebe Menschen 1945, gegen Ende des Krieges, wurde die Division Hitlerjugend im Osten zum Kampf eingesetzt. Von der Familie wusste niemand, an welchem Kriegsschauplatz diese Soldaten zu kämpfen hatten: Schlesien, Berlin? Es kehrte nicht ein Einziger von diesen jungen Menschen heim. Trotz intensiver Suche über den Volksbund und über das Rote Kreuz hat sich kein Soldat gemeldet, der Auskunft geben konnte. Fast die ganze Division muss also ausgelöscht worden sein. Joachims Eltern und Geschwister mussten nach der Besetzung durch die Russen aus Leubingen nach Holzen fliehen. Dort steht auf dem Greitberg am Hils ein Kriegerdenkmal. Damit ihre Namen nicht vergessen werden, steht daran „Hans-Joachim Eilers“, zusammen mit dem 1940 in Frankreich gefallenen Onkel „Hermann Eilers“. Eine alltägliche Kriegsgeschichte. Erinnerungen an liebe Menschen 207 Ein junger Leutnant Von Pauli Klebe Sie fragen nach Gefallenen oder im Kriege Umgekommenen, deren Andenken nicht erlöschen soll. In meiner Erinnerung bleibt vor allem ein junger Mann lebendig, den ich kaum kannte, dessen Name mir nicht geläufig war. Mein Mann wurde gleich an seinem ersten Gefechtstag in Frankreich schwer verwundet, war dann als Gebirgsjäger von April 1942 bis April 1944 an der Front in der Ukraine, im Kaukasus, auf dem Balkan. Bevor er zuletzt in ein Regiment nach Nordnorwegen kam, bildete er an der Gebirgskampfschule in Mittenwald Bataillonsführer aus. Dabei bekam er öfter Besuch von der Front. So bewirteten wir auch einen jungen Leutnant, davon dieser Bericht: Wenn ich an Gefallene des Zweiten Weltkrieges denke, dann kommt mir nicht als erster Reinholds Vetter Helmuth Wittrock in den Sinn, der im Oktober 1942 als Leutnant auf einer Streife in Nordnorwegen, als sein Ski gebrochen war, seine Gruppe zurückschickte und erfror. Dann kommen mir auch nicht die Kameraden Reinholds in den Sinn, die ich ja zum Teil gut kannte, viele, viele!, sondern ein ganz junger Leutnant, „wie Milch und Blut“, der im Januar 1945 seinen ehemaligen Kommandeur, eben Reinhold, auf der Rückkehr aus dem Urlaub in Mittenwald besuchte. Es war an einem Samstag, und mein Mann forderte den Leutnant auf, eine Nacht bei uns zu verbringen – wir hatten im Wohnraum ein Sofa für Gäste, die mit uns eine Skitour im Karwendel machen wollten. „Der Krieg läuft Ihnen nicht fort, ein Tag richtiger Urlaub für einen Gebirgsjäger tut Ihnen gut!“ Wir hatten zu dritt einen schönen Abend mit guten Gesprächen. Was ich als Mahlzeit bieten konnte, befriedigte – damals! – immer. Am nächsten Morgen machten wir uns, natürlich per Bahn, auf nach Seefeld und hatten oben einen herrlichen Blick und eine schöne Abfahrt. Dann verabschiedete sich der junge Mann und fuhr zurück auf den Balkan. Wir hatten ein richtig gutes Gefühl und den Eindruck, unserem Gast auf der Rückfahrt in den Krieg noch einmal ein paar individuelle, kostbare Stunden ermöglicht zu haben. Wir fühlten uns selbst beschenkt. Es dauerte vielleicht zehn Tage, bis Reinhold mir mitteilte, der junge 208 Erinnerungen an liebe Menschen Leutnant sei gefallen, kaum, dass er sich zurückgemeldet hatte. Ich weiß keinen Namen, weiß nicht, woher er stammte, aber der junge blonde Mann, noch halb Bub, kommt mir nicht aus dem Sinn, und ich wünsche, dass wenigstens die vorletzte Episode seines Lebens, als er unser Gast war, für ihn glücklich gewesen ist. Erinnerungen an liebe Menschen 209 Fritz Wellern * 21. Februar 1927 = 17. Januar 1945 Raum Rypin (Posen-Westpreußen; Polen) Von Rolf Stiehler Über Fritz Wellern, geboren am 21. Februar 1927 in Linderte, Landkreis Hannover, vermisst seit 17. Januar 1945 im Raum Rypin (Posen-Westpreußen, jetzt Republik Polen), kann ich folgendes berichten: Seine persönliche Merkmale waren: Größe 1,80 Meter, blonde Haare, blaue Augen, kräftige Statur. Geboren am 21. Februar 1927. 1933 bis 1941: Volksschule. 1941 bis 1944: Landwirtschaftslehrling. 1941 bis 1944: Landwirtschaftliche Berufsschule. Oktober bis Dezember 1944: Reichsarbeitsdienst in Rosche bei Uelzen. Dezember 1944 eingezogen zum Fallschirm-Ersatz- und Ausbildungsregiment Nr. 1 der Division „Hermann Göring“. Mein Schwager Fritz Wellern war ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, der in der elterlichen Landwirtschaft tatkräftig mitarbeitete und bis zuletzt an den „Endsieg“ glaubte. Seine Einberufung als 17-jähriger zur Wehrmacht ließ ihn den Ernst der Kriegslage erkennen. Der Abschied aus dem Elternhaus und seiner heimatlichen Umgebung aufgrund des Einberufungsbefehls fiel ihm sichtlich schwer. Seinen letzten Feldpostbrief hat er am 15. Januar 1945 aus Rippin (Westpreußen) geschrieben. Unsere umfangreichen Nachforschungen nach seinem Schicksal beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes München und beim Komitee vom Internationalen Roten Kreuz in Genf und weiteren 17 deutschen Suchdiensten waren bisher erfolglos. 210 Erinnerungen an liebe Menschen Erinnerungen an liebe Menschen 211 Adolf Knorr * 3. Januar 1908 = 8. Dezember 1941 bei Pirowa Von Volker Kotschenreuther Mein Name ist Volker Kotschenreuther. Ich bin 30 Jahre alt und von Beruf Polizeibeamter. Beiliegend habe ich notiert, was ich noch über meinen Großvater mütterlicherseits, Adolf Knorr, in Erfahrung bringen konnte. Vermutliche Todesursache war ein Granatsplitter, der ihn traf. Nach Aussagen meiner Großmutter, die ebenfalls schon lange tot ist, war seine Einheit auf dem Rückmarsch von der Front. Mein Großvater half zunächst seinen Kameraden, darunter auch einigen Verwundeten, in den LKW zu steigen. Als er als letzter der Einheit einsteigen wollte, schlug in unmittelbarer Nähe des LKW eine Granate ein und ein Splitter traf ihn. Daraufhin fiel er zu Boden. Die Kameraden konnten ihm wohl nicht mehr helfen und mussten ihn liegen lassen. Die letzte Nachricht, die meine Großmutter über ihren Mann erhielt, war der Brief des Kompaniechefs, der den Tod meines Großvaters mitteilte. Über persönliche Merkmale und besondere Eigenschaften kann ich nur sehr wenig sagen. Ich weiß nur von Erzählungen meiner Großmutter, dass er ein guter Sportler (Turner) war und dass er als Feinarbeiter in der Deutschen Korbfachschule Lichtenfels beschäftigt war. Adolf Knorr war mit seiner Frau seit dem 7. August 1938 verheiratet. Meine Mutter und ihre Zwillingsschwester konnten sich nicht an ihren Vater erinnern. Als er fiel, waren meine Mutter und ihre Schwester gerade acht Monate alt. Meine Großmutter hat nach dem Krieg nicht mehr geheiratet und zog die Zwillinge alleine auf. Ich unterstütze seit einigen Jahren die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Es ist nur schade, dass sich heute nur wenige junge Menschen für die so wichtige Arbeit interessieren. Im Gedanken an meinen gefallenen Großvater hoffe ich, dass in Zukunft keine Kinder mehr durch Krieg ihre Eltern verlieren. 212 Erinnerungen an liebe Menschen Siegfried Gast * 10. Dezember 1923 = 6. März 1943 bei Bannowskij Von Christa Hohenöcker Ihre Idee, Erinnerungen an die Kriegstoten zu sammeln, finde ich sehr gut und mache gerne mit. Der junge Mann, dessen Andenken ich bewahren möchte, ist ein Jugendfreund von mir. Er war nicht sehr groß, schlank, Augen und Haare waren braun. Kennen lernten sich unsere beiden Familien 1936 im Urlaub in Pfaffendorf im Elbsandsteingebirge. Wir wohnten dort zufällig in der gleichen Pension. Ich war damals zehn Jahre alt, Siegfried zwölf. Ein paar Jahre später fiel es ihm plötzlich ein, mir zu schreiben, und so entwickelte sich eine herzliche Brieffreundschaft bis zu seinem Tod. Gesehen haben wir uns nur für zwei oder drei Urlaubswochen 1941 im Sommer, die er bei uns in Warnsdorf verbrachte. Wir sind viel im Gebirge gewandert, und Siegfried hatte es so gut gefallen, dass er gar nicht mehr nach Hause wollte. Er schrieb seinen Eltern sogar, es gebe wegen des Krieges keine Reiseerlaubnis (was nicht stimmte). Prompt kam darauf von den Eltern die Antwort, seine Einberufung zum Arbeitsdienst sei da, was auch nicht stimmte. Aber nun gab es keine Ausrede mehr, länger zu bleiben, und wir mussten ihn schweren Herzens ziehen lassen. Siegfried war ein sehr fröhlicher, netter, hilfsbereiter Mensch. Alle hatten ihn gern, und wir hatten viel Spaß miteinander. Seine große Leidenschaft war das Zeichnen und sein ganzer Ehrgeiz ging dahin, Kunstmaler zu werden. Bevor er auf die Akademie durfte, bestanden seine Eltern aber darauf, dass er etwas „Ordentliches“ lernte, und so machte er eine Lehre als Uhrmacher und auch die Abschlussprüfung. Danach aber war Schluss mit den Privatleben. Er leistete seine Arbeitsdienstzeit in Merseburg ab und kam dann zur Wehrmachtsausbildung nach Frankfurt/Oder, anschließend zur Besatzungstruppe nach Frankreich an die Atlantikküste. Dort war das Leben wohl halbwegs „gemütlich“. Erinnerungen an liebe Menschen 213 Eine Zeit lang war er in einem Hotel direkt am Meer einquartiert, was ihn tief beeindruckte. Mit seiner Malerei machte er nicht nur den Kameraden Freude, sondern war auch bei der französischen Bevölkerung im ganzen Ort dafür bekannt. Anfang Februar 1943 wurde die Kompanie nach Russland an die Front transportiert, und es dauerte nicht lange, bis die Kugel ihn traf. Er war gerade mal etwas über 19 Jahre alt. Seine Eltern waren tief verzweifelt, auch ihr älterer Sohn Günter war seit dem Winter in Stalingrad vermisst. Ob er je heimgekehrt ist – ich weiß es nicht. Siegfried hatte, als er davon erfuhr, seinen Eltern noch zum Trost geschrieben: „Mir kann ja nichts passieren, wo ich noch so viel vorhabe ...“. Die Zeichnung hat mir Siegfried aus Frankreich geschickt, wo er selbst Dienst als Radmelder tat. Ein Aquarell von ihm, das er bei seinem Besuch in Warnsdorf malte und unseren damaligen Hund zeigt, hängt noch heute in meiner Wohnung. Dienststelle E.O. den 11. März 1943 Sehr geehrter Herr Gast! Die Kompanie muss in einer ernsten Angelegenheit an Sie herantreten. Am 6.3.43 fiel ihr Sohn und unser guten Kamerad, der Grenadier Siegfried Gast, im Kampf gegen den Bolschewismus bei Bannowskij. Er hat sich als Melder heldenhaft zur Wehr gesetzt und sein junges Leben getreu dem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland hergegeben. Sein Tod bedeutet für uns Verpflichtung. Ihr Sohn hatte einen kurzen und schnellen Soldatentod. Nehmen Sie dies als einen Trost in Ihrem schweren Leid hin und seien Sie unserer Anteilnahme versichert. Die Kompanie wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Ich grüße Sie auch im Namen der Kameraden ihres Sohnes im aufrichtigen Mitgefühl. Heil Hitler! Leutnant und Komp.Führer 214 Erinnerungen an liebe Menschen NB Ihr Sohn Siegfried versah nach der Verwundung meines ersten Burschen seit 10.2.43 in vorbildlicher Weise Burschendienste bei mir. In seiner ruhigen und überlegten Art meisterte er alle ihm als Fußmelder übertragenen Aufgaben und war mir in allen Gefechtslagen stets am nächsten. Bei einem Kontrollgang in einer soeben erkämpfen Bergstellung am Donez konnte sich Ihr Sohn bei der Beobachtung des Gegners aus einer überhöhten Feldstellung heraus noch einmal des hier reizvollen Ausblickes auf den tief unter ihm liegenden Donez erfreuen. Er hatte als begabter Zeichner hierfür einen besonderen Blick. Kurz darauf traf ihn das Infanteriegeschoss eines Schafschützen in die Brust. Ihr Sohn sagte noch: „Ich bin getroffen“ und verlor dann die Besinnung. In diesem Zustand trug ich ihn mit Hilfe anderer Kameraden aus dem Feindfeuer und verband ihn an einer gedeckten Stelle, von wo ich seinen sofortigen Abtransport mit einem Handschlitten zum Verbandsplatz durchführen ließ. Dort noch einmal versorgt, hat ihr Sohn, ohne die Besinnung wiederzuerlangen, sein Leben schmerzlos hingegeben. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen nochmals mein persönliches Mitempfinden für den so schweren Verlust Ihres Sohnes zum Ausdruck zu bringen, zumal auch ich ihn als vorbildlichen und pflichtgetreuen Soldaten und guten Kameraden lieb gewonnen hatte und schätzte. Einige Nachlassdinge und persönliches Eigentum habe ich zunächst bei der Kompanie in Verwahrung nehmen lassen und werde sie, sobald sich hierfür einen Möglichkeit bietet, an Sie absenden. Erinnerungen an liebe Menschen 215 Arthur Fischer * ca. 1910 = 1943? (Schlacht um Stalingrad) Von Karin Steppe Zur Erinnerung an Arthur Fischer (Kosename Peter): Er war etwa 1,78 Meter groß, mittelblond und hatte graue Augen. Er war fröhlich und charmant. Seine Mutter und sein Vater, der Oberlehrer war, wohnten in Pawlowitz Post Josefihütte bei Marienbad (Sudetengau). Er hatte einen Bruder, den Franz, geboren um 1920, und eine Schwester, Isolde verheiratete Fröhlich, die in Prag wohnte und eine Tochter hatte. Sein Lebenslauf ist mir unbekannt. Arthur Fischer war ein sehr lustiger und fröhlicher Mensch. Meine Eltern waren geschieden, und meine Mutter war ab 1937 mit ihm befreundet. Er konnte gut kochen und war kinderlieb! Wir haben von der ganzen Familie nach Kriegsende nichts mehr gehört, in der Tschechei tobte die Rache. Ob die Eltern damals starben, ob Bruder, Schwester und Tochter noch leben, weiß ich leider nicht. Er starb an einem Kopfschuss. Er wollte einem verwundeten Kameraden retten, ein Kamerad teilte uns dies mit. Wo sein Grab liegt, ist mir unbekannt. 216 Erinnerungen an liebe Menschen 217 218 Erinnerungen an die Familie Familie Krieger und Haaf von Willibald Krieger 220 Franz Hohnheiser und KarlHeinz Villhard von Marianne Villhard 223 Heinrich Biermann, Johannes Dahl und Josef Hanemann von Willi Mues 226 Familie Flade von Ursula Lange 230 Erinnerungen an die Familie 219 Hans Krieger (Bruder) * 1920 = Juni 1944 im Lazarett Gelsenkirchen Georg Krieger (Bruder) * 1910 = 30. März 1945 in Bologna/Jtl. Barbara Haaf (Schwester) * 1912 = 11. April 1945 bei einem Bombenangriff auf Amberg zusammen mit ihren drei Kindern 4, 7 und 8 Jahre alt Herbert Haaf (Schwager) * 9. Mai 1919 in Brühl = 6. September 1941 bei Nikoskoa-Sloboda, Russland Von Willibald Krieger Ich bin gebürtiger Amberger. Meine Familie musste einen hohen Preis für den unsinnigen Krieg bezahlen. Mein Bruder Hans, 24 Jahre alt, starb im Lazarett Gelsenkirchen im Juni 1941. Mein ältester Bruder Georg fiel am 30. März 1945 in Bologna/Italien. Er war 35 Jahre alt. Meine Schwester Barbara, 33 Jahre alt, starb mit ihren drei Kindern, vier, sieben und acht Jahre alt, am 11. April 1945 bei einem Bombenangriff auf Amberg. Im April 1945 geriet ich in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Acht Tage waren wir auf einer Anhöhe in Gummersbach, dann kam ich in das berüchtigte Lager Remagen, 300 000 Gefangene haben im Freien in Erdlöchern gehaust, in zwei Monaten hatten wir 1 200 tote Kameraden, 220 Erinnerungen an die Familie die auf der Kriegsgräberstätte Bad Bodendorf unweit von Remagen beerdigt sind. Ich hatte das Glück nach vier Wochen mit vielen anderen nach Koblenz verlegt zu werden. Dort war es human, wir wurden von einem amerikanischen aktiven Offizier betreut. Nach vier Wochen wurde ich am 14. Juni 1945 entlassen. Frontbrief von Herbert Haaf Russland, den 31. August 41 Lieber Willi. Deinen Brief vom 18. des Monats mit Dank erhalten, habe daraus ersehen, dass es dir noch gut geht, was ich von kleineren Ausnahmen auch von mir berichten kann. Sitze hier mit einem Kameraden hinter dem MG in einer Panzerabdeckung. Haben vor zwei Tagen einen Angriff auf eine gut ausgebaute und mit schweren Waffen versehene russische Stellung gemacht, mussten uns aber während der Nacht zurückziehen, da sie uns an Zahl weit überlegen waren und das ganze Gelände vermint hatten. Jetzt sitzen wir in unseren Löchern in Verteidigung und warten auf Verstärkung, während unsere Flieger die russischen Stellungen bombardieren, aber die Russen bedienen uns auch mit Bomben und schwerer Artillerie. Wenn es kein Volltreffer ins Loch ist, macht uns das gar nichts aus, die Verteidigung hat auch für uns eine gute Seite, denn wir brauchen dann nicht marschieren, das macht unseren müden Knochen immerhin etwas aus. Sind wir doch seit Kriegsbeginn, das sind heute 71 Tage, rund 1500 km kämpfend marschiert, davon kommen 25 Tage ab, die wir in Verteidigung lagen und nicht marschiert sind, dann sind es 54 Tage. Das will was heißen, 1500 km zurücklegen. Vorgestern ist auch ein guter Kamerad von mir gefallen, auch ein MGSchütze; er bekam einen Querschläger von links durch den Stahlhelm, der ihm die ganze Stirn wegriss. Lieber Willi, musste eben den Brief unterbrechen, der Russe schoss eine Stunde lang Trommelfeuer auf unsere Stellung, ich dachte schon, der wollte uns sturmreif schießen, um uns anzugreifen. So habe ich die Russen noch nicht schießen gehört, wie eben eine Stunde lang aus allen Rohren. Unseren schlimmsten Tag hatten wir am 26. August nachmittags um 4.00 Uhr. Wir waren gerade auf dem Marsch, da flogen plötzlich über uns sieben Bomber mit zwei Jägern, und wir haben sie die ganze Zeit beobachtet. Einer von uns sagte, die fliegen nach Moskau. Doch auf einmal fielen die Bomben massenweise herunter, alles rannte in volle Deckung, das ganze Erinnerungen an die Familie 221 Regiment, die Pferde wurden scheu und rannten mit den Wagen die Straße entlang. Mancher von uns wurde überfahren, und viele Pferde rannten mit den Wagen die steile Böschung hinab und überschlugen sich. Bei mir in der Kompanie kamen fünf Bomben herunter und wir hatten nur einen Verletzten. Ungefähr 150 Meter von uns, bei der nächsten Kompanie, kamen 30 ums Leben. Da sah es vielleicht aus, das ganze Gelände lag voll mit Pferden und Menschen, das war ein Schreien von verwundeten Menschen und Tieren. Die Pferde, die getroffen waren, wurden alle erschossen. Alles war voll mit Blut und man konnte fast nichts sehen vor Pulverdampf und Staub. Den Anblick werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Für heute grüßt dich recht herzlich dein Schwager Herbert Mein Schwager Herbert Haaf ist zehn Tage später gefallen. Seine Einheit muss dem Bericht nach schwere Verluste erlitten haben und man legte dann in dieser Gegend vermutlich einen Friedhof an, auf dem auch mein Schwager Herbert Haaf beerdigt sein soll. Außer der Mitteilung, dass er gefallen ist, haben wir keine weitere Nachricht erhalten. 222 Erinnerungen an die Familie Franz Hohnheiser (Vater) In der Mitte meine Eltern, Mizzi und Franz Hohnheiser, außen die Eltern meiner Mutter, das Kind bin ich, Marianne. * 13. Juni 1916 = 12. April 1945 St. Kathrein am Hauenstein/Österreich; Reihe 3, Grab 66 Karl-Heinz Villhard (Onkel) * 19. August 1921 = 26. Juli 1942 bei Woronesch in Russland Von Marianne Villhard Mein Vater war Lehrer für Deutsch und Biologie. Meine Eltern heirateten im Mai 1940, im November wurde ich geboren. Vater war von Kriegsbeginn an in Polen dabei, dann Frankreich, Russland bis zum Terek und durch Rumänien und Ungarn nach Österreich, wo er bei den letzten Gefechten mit den Russen fiel. In den fünf Kriegsjahren war mein Vater dreimal auf Heimaturlaub. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Nur von der Situation, als die Todesnachricht im Sommer 1945 bei uns eintraf, habe ich ein Bild. Die Erwachsenen sitzen im Kreis mit gesenkten Köpfen, und ich gehe von einem zum anderen und verstehe nicht, was passiert ist. Meine Mutter wurde von 1945 bis 1946 in den Süden der Tschechei verschleppt, wo sie auf einen Bauernhof arbeiten musste. Zu unserer Erinnerungen an die Familie 223 Aussiedlung im Sommer 1946 kam sie zum Glück wieder zu uns zurück. Wir, meine Mutter und ich, die Großeltern mütterlicherseits, eine behinderte Großtante und die Urgroßeltern (also vier Generationen), landeten mit noch zwei Familien aus unserem Heimatdorf in einem kleinen Ort im Odenwald. Die Familie meines Vaters kam nach Süddeutschland. Dass ich meinen Vater vermisste, habe ich erst als erwachsene Frau verstanden. Man sagt, ich sei meinem Vater sehr ähnlich, sogar bis in meine Art, mich auszudrücken. Es gibt außer ein paar Kleinigkeiten keine Erinnerungsstücke an meinen Vater. Es gibt drei Briefe, die er an mich aus dem Feld geschrieben hat. Ich konnte sie aber nicht lesen, da sie in deutscher Schrift geschrieben sind. Ein Onkel hat sie mir in Maschinenschrift abgeschrieben. Als ich im Jahre 2000 in Rente ging, hatte ich mir vorgenommen, mich mehr mit den Gräbern meiner Onkel und meines Vaters zu beschäftigen. Am Grab meines Vaters waren wir mehrere Male. Zwei Wochen vor meinem 60. Geburtstag ist etwas sehr Seltsames und auch Wunderbares passiert. Der Vorgesetzte und Kamerad meines Vaters hat mich ausfindig gemacht. Nach 55 Jahren! Er hat mir von meinem Vater und von seiner Todesstunde erzählt. Er hat mir Abhandlungen, die mein Vater über Kampfhandlungen verfasst hat, zugeschikkt. Es ist für mich, als hätte mir mein Vater durch Herrn Albrecht über Zeit und Raum die Hand gereicht. Der Tod meines Vaters war nicht der einzige Tribut, den dieser Teil der Familie gezollt hat: Sein Bruder Walter, geboren 1925, ist am 19. April 1945 in Sandershausen bei Bitterfeld gefallen. In einer Woche starben so beide Brüder, als der Krieg fast zu Ende war. Sein Bruder Erhard, geboren 1926, erlitt eine Verletzung, die zur Amputation eines Unterschenkels führte. Seine Schwester Hermine, geboren 1922, wurde von einem Russen verletzt und blieb dadurch kinderlos. Das Grab meines Vaters befindet sich auf dem Soldatenfriedhof Sankt Kathrein am Hauenstein im Süden des Semmering in Österreich. Eine große Tragödie in meiner Familie war der Tod meines Onkels, des Bruders meiner Mutter. Diesen Onkel Karl habe ich natürlich auch nicht gekannt. Er muss lebenslustig, charmant und der Stolz meiner Großeltern gewesen sein. Er wurde eingezogen und war ab 1941 in Russland. 224 Erinnerungen an die Familie Seine Truppe war in der Nähe von Woronesch stationiert und zu dem Zeitpunkt nicht in Kampfhandlungen verwickelt. Sie haben die Waffen gewartet und sollten zum Schanzen ausrücken. Wahrscheinlich haben sie auch herumgealbert, wie junge Menschen halt sind. Ein Kamerad kam auf meinen Onkel zu und fragte ihn, mit dem Gewehr im Anschlag: „Was hast du vorhin gesagt?“, und schoss ihm durch den Mund. Wahrscheinlich war es ein lachender Mund. Mein Onkel war sofort tot. Diese Tragödie haben meine Großeltern nie verwunden, nie verzeihen können. Wäre er im Krieg gefallen, sozusagen für Volk und Vaterland, hätten sie es sicher leichter ertragen können. Oder wenn sie vielleicht ein Grab hätten besuchen können. So war unser Leben immer von diesem Schatten belastet. Ich hoffe, dass es dem Volksbund gelingt, diesen Friedhof, von dem ich die Fotografie beifüge, zu finden. Leider sind alle meine Angehörigen verstorben. Ich kann nicht mehr über all das sprechen. Es will niemand diese alten Geschichten hören. Für mich aber sind diese Verstorbenen ein Teil meines Lebens und meiner Wurzeln. Erinnerungen an die Familie 225 Heinrich Biermann (Onkel der Ehefrau) * 13. Januar 1921 = 28. August 1943 Kriegsgräberstätte Charkow/Ukraine Block 4, Reihe 29, Grab 2287 Johannes Dahl (Onkel der Ehefrau) * 3. August 1910 = 7. September 1944 Kriegsgräberstätte Lommel/Belgien Block 14, Grab 117 Josef Hanemann (Onkel) * 10. August 1919 Vermisst seit 3. April 1944 Von Willi Mues Heinrich Biermann war der Bruder meiner Schwiegermutter und der Onkel der Eheleute Heinrich Biermann und Maria Sottmann in Erwitte/Westfalen geboren. Nach seiner Schulentlassung erlernte er auf dem Zementwerk Nordstern in Erwitte das Schlosserhandwerk. Im Sommer 1940 wurde er zum Militärdienst eingezogen und kam zunächst ins Rheinland zur Ausbildung. Nach dem Bild müsste es das Infanterieersatzbataillon 77 gewesen sein. Später kam er dann nach Russland zum Kampfeinsatz. Laut seiner letzten FeldpostNr. gehörte er zuletzt zum PanzerAufklärungszug 1 in der 264. InfantrieDivision, die im Wehrkreis VI Münster aufgestellt worden war. Heinrich Biermann wurde am 28. August 1943 bei Isjum am Donez während des Wachstehens im Schützengraben durch einen Schuss 226 Erinnerungen an die Familie schwer verwundet und starb, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Er sollte sicherlich das väterliche Erbe, die Schlosserei im Hause Biermann, antreten. Aber durch den Krieg kam alles anders. Johannes Dahl war der ältere Bruder meines Schwiegervaters Josef Dahl und der Onkel meiner lieben verstorbenen Frau Marita Mues, geb. Dahl. Er wurde am 3. August 1910 als Sohn von Johannes Dahl und Theresia Finke in Helmern/Kreis Büren in Westfalen geboren. Nach seiner Schulentlassung war er zunächst bei mehreren Bauern in Diensten. Im Jahre 1937 heiratete er Theresia Hansmeier in Helmern und hatte mit ihr eine Tochter. Im Februar 1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und kam nach Marienwerder in Westpreußen zur 4. Kompanie/Infanterieersatzbataillon 236, später wurde er nach Minden verlegt. In Russland war er im Jahre 1943 unter anderem im II. Bataillon/Grenadierregiment 580 in der 306. Infanteriedivision. Wegen Krankheit wurde er später nach Deutschland zurükkverlegt und war im August 1944 bei einem Gefangenen-Wachkommando in Salzkotten/Westfalen. Ende August 1944 wurde er nach Belgien in Marsch gesetzt. Johannes Dahl wurde am 7. September 1944 bei Lüttich durch einen Partisanenangriff tödlich verwundet und starb kurz darauf. Die amtliche Nachricht stammt von einem Hauptfeldwebel Damski an den WehrmachtFürsorgeoffizier in Osnabrück: „In der Anlage überreiche ich das Soldbuch des O.-Gefr. Dahl, wohnhaft in Paderborn. Dahl ist auf dem Rückmarsch aus Lüttich beim 1./Sich.-Batl. 1030 am 7.September 1944 abends 6.00 Uhr durch einen Angriff von Partisanen schwer verwundet worden (3 Steckschüsse: 1 Brust, 2 Bauch) und anschl. gestorben. Da die Kompanie versprengt ist und ich beim Angriff zugegen war, bitte ich um Benachrichtigung der Ehefrau des Dahl. Infolge starker Feindeinwirkung konnten die Nachlasssachen nicht geborgen werden.“ Erinnerungen an die Familie 227 Johannes Dahl erhielt seine letzte Ruhestätte auf dem Soldatenfriedhof Lommel in Belgien. Seine Ehefrau hat zeitlebens um ihren Mann getrauert und seine Tochter, die Kusine meiner Frau, hat ihren Vater praktisch nicht gekannt. Ich habe im Jahre 1978 mit seiner Ehefrau das Grab von Johannes Dahl in Lommel besuchen können und auch einige Dias davon gemacht. Dabei ist die Witwe fast zusammengebrochen. Es war für mich, der ich schon einiges gesehen hatte, ein einmalig trauriges Erlebnis! Josef Hanemann war der jüngste Bruder meiner Mutter Katharina Mues, geborene Hanemann, und mein Onkel. Josef Hanemann wurde am 10. August 1919 als jüngster Sohn der Eheleute Hermann Hanemann und Franziska Kruse in Rixbeck bei Lippstadt geboren. Nach seiner Schulentlassung war er zunächst in Rixbeck bei einem Bauern tätig und später als Ziegeleiarbeiter. Mit 18 Jahren wurde er nach Königsberg in Ostpreußen zum Arbeitsdienst eingezogen und nahm als Arbeitsdienstmann am Polenfeldzug teil. Im Jahre 1940 wurde er zur Flak eingezogen und erhielt seine Ausbildung in Hagen-Boele. Dort kam er zur 5. Batterie, I. Abteilung des Flak-Regiments 4. Von dort ging es für kurze Zeit nach Wien und im Herbst 1940 im Verband der Deutschen Luftwaffen-Mission als Lehrtruppe nach Rumänien. Bei Ploesti lag der Verband zum Schutze der dortigen Erdöl-Raffinerien. Nachstehend die Erinnerungen seines Kameraden und Heimkehrers Peter Klein: „Im Frühjahr 1941 verlegten wir auf den Feldflugplatz bei Focsani, wo wir auch den Beginn des Russlandfeldzuges erlebten. Durch Bessarabien und die Südukraine machten wir meistens Flakschutz auf Feldflugplätzen oder Scheinflughäfen, im Verbande der 9. Flakdivision mot. (Generalleutnant Pickert), deren Großteil später in Stalingrad blieb. Der große Verband war die Panzergruppe Kleist im Südabschnitt. Der Miusbogen war bei uns berüchtigt und wer den Namen Krimskaja im Kubanbrückenkopf hört, der weiß sofort Bescheid. Später kamen wir zu anderen Flakeinheiten im Verband der 17. Armee. In der weiteren Folge waren wir Infanterie-Einheiten zugeteilt. Diese betrachteten die Flakeinheiten als Einsatzgruppen, um ihre 228 Erinnerungen an die Familie eigenen Einheiten zu schonen, so auch bei diesem Stoßtruppunternehmen, wo Ihr Onkel wahrscheinlich in Gefangenschaft kam. Es war ein Einsatz, der ja kein Ergebnis hatte, außer dass wir in eine Falle gelaufen sind. Das Dorf war feindfrei, die Russen lagen im nahen Wald und ließen uns ruhig kommen.“ Mein Onkel Josef Hanemann wird seit dem 3. April 1944 beim Forsthaus Laasen im Kessel von Kamenez-Podolsk als vermisst gemeldet. Meine Großeltern haben den Verlust auch ihres zweiten Sohnes, der älteste war an Kinderlähmung und Lungenentzündung 1930 gestorben, zeitlebens nicht verwunden. Auch meine Mutter und alle anderen Geschwister haben sehr um ihren jüngsten Bruder getrauert. – Auch ich werde ihn nie vergessen! Erinnerungen an die Familie 229 Klaus-Joachim Flade (Bruder) * 30. Juli 1924 in Culmitzsch/Thüringen = 25. Januar 1944 bei Krasny Bor/Russland Gotthard Flade (Bruder) * 8. Januar 1923 in Waldenburg = 10. Mai 1944 Kriegsgräberstätte Pomezia/Italien Block S, Grab 890 Dr. Gottfried Flade (Vater) * 31. Mai 1892 in Frauenhain bei Dresden = 29. April 1947 in Riga, Hospital 3338 Von Ursula Lange 230 Erinnerungen an die Familie Wenn eines von uns Geschwistern den Teller nicht leer essen wollte oder bei den Mahlzeiten mäkelte, pflegte die Mutter zu sagen: „Sei nicht undankbar! Wir mussten im Krieg Rübenschnitzel und Kartoffelschalen essen. Für einen halben Liter Milch gingen wir einen Weg von zwei Stunden. Und als der Krieg verloren war und die Sieger eine Hungerblockade über Deutschland verhängten, verhungerten in den Großstädten viele Kinder.“ Natürlich sprach Mutter vom Ersten Weltkrieg. Und ich dachte jedes Mal unwillig: Was interessiert mich der längst vergangene Krieg. Das war vor langer, langer Zeit, als ich noch nicht einmal auf der Welt war. Krieg – das hatte etwas zu tun mit dem großen Loch, das eine Kanonenkugel in Vaters Oberschenkel gegraben hatte. Wir Kinder durften, als wir noch sehr klein waren, manchmal ein Fäustchen in diese Grube legen, wobei ich jedes Mal ein merkwürdiges Gruseln empfand. Krieg – das hatte etwas zu tun mit den beiden schwarzumflorten Fotos von zwei jungen Burschen in Soldatenuniform auf Großmutters Schreibsekretär. Es waren Vaters Brüder gewesen, zwei von drei Söhnen. Der eine starb den „Heldentod“ 1916 an der Somme in Frankreich, der andere ein Jahr später 1917 in Italien. Nur mein Vater war heimgekehrt, wenn auch verwundet an Leib und Seele. Dann kam der 1. September 1939. Da wurden alle Schüler und Schülerinnen meiner Oberschule in die Aula befohlen. Hitler verkündete über den Rundfunk den Einmarsch deutscher Truppen in Polen „zum Schutz des Reiches“. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Ich lief heim und fand die Mutter in Tränen aufgelöst. So hatte ich diese stets selbstbeherrschte Frau noch nie gesehen. Erschrocken fragte ich: „Was ist passiert?“ Schluchzend entgegnete sie: „Ja weißt du denn nicht? Es ist Krieg!“ Verständnislos starrte ich sie an. „Aber deshalb brauchst du doch nicht zu weinen! Alle sagen, es dauert höchstens einige Wochen. Wir sollten nur Strümpfe, Schokolade und vielleicht Butter auf Vorrat kaufen“, gab ich die Weisheit von Freundinnen weiter. „Darum geht es doch nicht“, sagte die Mutter leise. „Die Jungen! Wenn sie Soldaten werden müssen … .“ Ihre Stimme zitterte. Lachend gab ich zu bedenken, dass die Brüder erst 15 und 16 Jahre alt seien und als Soldaten überhaupt nicht in Frage kämen. Bis sie im wehrpflichtigen Alter sein würden, wäre der Krieg längst vorüber. Die Mutter indes war nicht zu trösten. „Aber viele andere junge Menschen müssen in den Krieg. Sie werden unbekannte junge Menschen töten und selber getötet werden!“ Mutter weinte herzzerbrechend. Erinnerungen an die Familie 231 Die Jahre vergingen, und immer noch war Krieg. Siegesmeldungen zuerst, und dann Durchhalteparolen, Arbeitsverpflichtungen, Lebensmittelkarten, Kleiderkarten, Brennstoffkarten, Verdunkelung, Nächte im Luftschutzkeller. Von Woche zu Woche häuften sich die Nachrichten vom „Heldentod“ junger Menschen, „gefallen für Führer, Volk und Vaterland“. „Gefallen“ – das konnte vielerlei unvorstellbar Schreckliches sein: verblutet, erfroren, ertrunken, zerfetzt von einer Granate, verbrannt in einem Panzer oder Flugzeug, elend verendet in einem Feldlazarett an Wundbrand, verschüttet in einem Erdloch … Meinen beiden Brüdern wurden die Abiturprüfungen erspart. Sie durften sich noch an der Universität immatrikulieren und mussten dann in Kasernen einrücken. Und nur fünf Wochen nach dem Marschbefehl zum Fronteinsatz traf den Jüngeren irgendwo in den Weiten Russlands an einer Eisenbahnböschung ein Schuss. Sein Kopf fiel vornüber, der Stahlhelm rollte den Abhang hinab, das Blut des gerade Neunzehnjährigen, der noch nicht gelebt hatte, färbte den weißen Schnee rot. Und nur der Schnee deckte meinen toten kleinen Bruder zu. Vier Monate danach starb zwanzigjährig der zweite meiner Brüder an den schweren Verletzungen durch eine Granate, die ihm einen Arm wegriss und Bein und Lende zerfetzte, an einem Tag im Mai unter strahlend blauem Himmel, der aus seiner unendlichen Ferne so unbewegt auf den Monte Cassino herabsah, dass jedem klar sein musste: Mit dem jammervollen Geschehen auf unserer Erde hat der Himmel absolut nichts zu tun. Von 65 Millionen sinnlos verschwendeten Menschenleben aus vielen Nationen, die vor der Zeit grausam vernichtet wurden, sind zwei meine Brüder gewesen. Einer von diesen Millionen ist mein Vater gewesen. Er starb zwei Jahre nach dem Ende des Krieges in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager. Von acht meiner Cousins starben fünf einen sinnlosen Soldatentod. Wenn ich die Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges aus dem engsten Familienverband zusammenzähle, so sind das acht. Und ich denke, auch in Russland oder Frankreich oder sonst irgendwo zählt eine alte übriggebliebene Frau ihre toten Angehörigen und fragt sich wie ich immer wieder: Warum nur? In dem Dresdener Inferno vom 13./14. Februar 1945 sank mein Elternhaus in Schutt und Asche. 232 Erinnerungen an die Familie Ich habe ein langes Leben gelebt und habe es leben müssen ohne Brüder, ohne Vater, ohne Heimat. In vielen schwierigen Situationen hat mir dieser Rückhalt gefehlt und ich habe diejenigen beneidet, die behalten durften, was mir genommen wurde. Wir, die Überlebenden der Kriegsgeneration, haben einen hohen Preis bezahlt für das unermessliche Leid, das in unserem Namen von einem verbrecherischen Regime über Europa gekommen ist. Wir sind mehr als ein halbes Jahrhundert danach noch stigmatisiert. Und nicht nur wir tragen bis an unser Lebensende als Brandmal ein unsichtbares Hakenkreuz auf der Stirn – sogar noch unsere Enkel werden in manchen Ländern dieser Erde als „Nazi“ diffamiert, so dass wir uns, auch ohne persönliche Schuld, fragen: Haben wir sie mit einer Erbsünde belastet? Für alles das, was ich mir hier vom Herzen geschrieben habe, steht ein einziges Wort – Krieg. Und weil ich erlebt, erlitten und erfahren habe, was Krieg bedeutet, erscheint mir die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge unverzichtbar. Für ebenso unverzichtbar halte ich aber auch eine sehr viel weit reichendere Information der Jugend über die Arbeit des Volksbundes. Denn wie ich als Jugendliche dachte, so denken auch die heutigen jungen Leute: Was interessiert mich der längst vergangene Krieg? Doch vielleicht würde mancher anderes denken, wenn zum Beispiel eine Klassenreise nach Berlin oder Paris einen Soldatenfriedhof zum Ziel hätte. Wenn jeder Schüler wenigsten EINMAL auf einem der weiten Gräberfelder stehen und die unzählbare Menge der manchmal bis zum Horizont reichenden Kreuze mit eigenen Augen sehen würde. Denn Soldatenfriedhöfe reden in ihrer wortlosen Eindringlichkeit viel deutlicher als jedes gesprochene oder geschriebene Wort vom Grauen des Krieges. Jedes der Millionen Soldatengräber auf diesem geschundenen Kontinent ist eine Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung, die doch so bitter Not tut in dieser noch immer friedlosen und viel zu oft unversöhnlichen Welt. Erinnerungen an die Familie 233 Nachwort Die Arbeit an diesem Buch war schwer, und vielleicht stimmen Sie mir zu: Der Inhalt ist keine „leichte“ Lektüre. Wir haben inzwischen rund 2 500 Beiträge zur „Aktion Erinnerung“ erhalten, und allein die Texte für dieses Buch auszuwählen und für die Veröffentlichung vorzubereiten, war eine ziemliche Anstrengung. Dies betraf weniger die vielen Stunden, die wir damit verbracht haben. Vielmehr ist es die „Begegnung“ mit allen diesen Menschen, die so früh und tragisch sterben mussten, die für uns bedrückend bleibt. Die Erinnerungen und die Gefühle der Angehörigen und Freunde sind voller Trauer und Schmerz, auch dort, wo alltägliche oder sogar lustige Begebenheiten geschildert werden. Dies ist in und auch zwischen den Zeilen deutlich zu lesen. Jeder einzelne war eine besondere Persönlichkeit, in seiner Weise unersetzlich, ein wichtiger und wertvoller Mensch nicht nur für die engsten Angehörigen. Der Tod durch den Krieg hinterlässt nicht nur Trauer, Verzweiflung und ohnmächtige Ratlosigkeit, sondern auch Zorn – meistens nicht auf die Menschen, die ihn töteten, sondern auf die Verursacher des Krieges, das Schicksal und, wie wir so manches Mal lesen, auch auf Gott, der das Schreckliche geschehen ließ. Wir haben versucht, in unserem Buch möglichst viele Menschen zu Wort kommen zu lassen und deshalb nur wenige der längeren Texte aufgenommen. Besonders wichtig erschien es uns, möglichst viele Perspektiven zu zeigen – nicht nur diejenigen der Geschwister, Ehefrauen oder Kinder, sondern auch die von weitläufigen Verwandten, von Nichten und Neffen, Freunden, Bekannten und Kriegskameraden. Die Berichte der Angehörigen und Freunde sind, wie viele von ihnen es uns geschrieben haben und wie unsere Leser es selber feststellen werden, oft sehr lückenhaft. Und wie kann man auch einen Menschen umfassend beschreiben, der doch den weitaus größten Teil seines Lebens noch vor sich hatte? Auch Ehefrauen und Verlobte wissen häufig nicht viel zu berichten. Nach kurzem Kennenlernen eine schnelle Heirat, häufig eine Kriegstrauung; Wiedersehen danach nur, wenn überhaupt, in den wenigen kurzen Urlauben – das war kein Einzelfall. Nur über die Briefe gab es eine Kontaktmöglichkeit. Dennoch: Wie oft lesen wir, dass die Ehefrauen oder Verlobten den Tod des Geliebten nie verwunden haben, auch wenn sie später einen anderen Mann geheiratet haben! Viele Kinder haben ihre Väter nicht richtig kennenlernen können – sie waren sehr klein oder noch gar nicht geboren, als diese fielen. Besser hatten es die Geschwister und Jugendfreunde, die mit ihnen zusammen 234 Menschen wie wir ... aufwachsen konnten, und dies spiegelt sich auch in der Ausführlichkeit der Berichte wider. Am schwersten haben sicher die Eltern gelitten, und sie hätten am meisten zu erzählen. Doch nur wenige von ihnen sind noch am Leben. Ihre Gefühle, ihren Schmerz können sie uns nicht mehr mitteilen. Doch dieser erschließt sich uns mittelbar: Wie oft lesen wir in den Berichten der Geschwister von der unstillbaren Trauer der Eltern, in den Berichten der Kinder vom Schmerz der Großeltern, von deren frühem Tod aus Kummer über den Verlust ihrer Söhne! Doch am meisten bedrücken mich die Aussagen der Kinder, die ihren Vater oder ihre Mutter verloren, als sie ganz klein waren, und die bis heute unter diesem Verlust leiden. Manche entdecken den verdrängten Schmerz erst heute, obwohl sie selbst schon fast die 60 Jahre erreicht oder überschritten haben. Die Opfer sind unvergessen ... In manchen Berichten ist die Rede von übersinnlichen Erfahrungen, von schrecklichen Gefühlen, Erlebnissen, Alpträumen genau zum Zeitpunkt des Todes eines geliebten Menschen. Können wir dies einfach abtun als Phantasien? Oder gibt es vielleicht doch zwischen Himmel und Erde mehr, als wir mit unserem gesunden Menschenverstand erklären können? Auch die Todesahnungen der Soldaten, ihre Gewissheit, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, gehören in dieses Kapitel. Sie wurden oftmals geäußert in Briefen oder beim letzten Heimaturlaub. Gerade sie sind bei den Angehörigen in Erinnerung geblieben. Wir hätten in diesem Buch gern noch viel mehr Berichte abgedruckt. Doch das überstieg unsere Möglichkeiten, und dafür bitten wir alle, die uns etwas zugesandt haben, um Verständnis. Die Berichte der Angehörigen, Freunde und Kameraden über die Gefallenen und Vermissten sammeln wir weiter. Sie werden bei uns registriert, gelesen und dokumentiert. Wenn das Interesse unserer Freunde und Förderer groß genug ist – und wir werden es am Erfolg dieses Buches messen – werden wir, das Einverständnis der Einsender vorausgesetzt, im Jahr 2003 damit beginnen, die Texte auf den Internetseiten des Volksbundes zu veröffentlichen (www.volksbund.de). So können wir vor allem die jungen Generationen erreichen und weit über den Kreis unserer Freunde und Förderer hinaus wirken. Für die Redaktion: Martin Dodenhoeft Menschen wie wir ... 235 Abkürzungsverzeichnis AOK Adj. Btl. Div. DRK EK FEB FpNr. HKL HVP HJ Hptm. Inf. Div. Inf. Reg. k.v. KdF KOB Komp. Ltn. MG mot. NB NSKK Pak RAD Rgt RM ROA ROB sMG Uffz. u.k. u.k.-gestellt Armeeoberkommando Adjutant Bataillon Division Deutsches Rotes Kreuz Eisernes Kreuz Feldersatzbataillon Feldpostnummer Hauptkampflinie Hauptverbandsplatz Hitlerjugend Hauptmann Infanteriedivision Infanterieregiment kriegsverwendungsfähig Kraft durch Freude Kriegsoffiziersbewerber Kompanie Leutnant Maschinengewehr motorisiert notabene, übrigens Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps Panzerabwehrkanone Reichsarbeitsdienst Regiment Reichsmark Reserveoffiziersanwärter Reserveoffiziersbewerber schweres Maschinengewehr Unteroffizier unabkömmlich unabkömmlich gestellt 236 Menschen wie wir ... Namenverzeichnis Albrecht, Erwin 94 Biermann, Heinrich 226 Birnbaum, Nikolai 193 Bornmann, Hugo 125 Dahl, Johannes 226 Eilers, Hans-Joachim 206 Fischer, Arthur 216 Flade, Dr. Gottfried 230 Flade, Gotthard 230 Flade, Klaus-Joachim 230 Gast, Siegfried 213 Greulich, Harm-Wulf 66 Greulich, Hermann 66 Haaf, Barbara 220 Haaf, Herbert 220 Haas, Paul 182 Haesner, Herwig 52 Hanemann, Josef 226 Heigert, Jakob 71 Heiße, Karl-Joachim 33 Henk, Heinz-Wilhelm 85 Henk, Robert 85 Hildebrand, Curt 136 Hirsch, Thomas 198 Hohnheiser, Franz 223 Hügen, Franz 134 Ihle, Friedrich 145 Inderdühnen, Aloysius 118 Jacobs, Gottfried 25 Jahn, Otto 18 Kampe, Ernst 141 Kautz, Herbert 62 Kiesel, Günther 102 Kimmig, Josef 20 Kirchhoffs, Jakob 11 Kirchner, Heinz 69 Kirmse, Ernst 192 Kluger, Achim 40 Knoch, Wilhelm 144 Knorr, Adolf 212 Koch, Friedrich Koch, Heini Korsitzky, Günter Koss, Bernhard Krämer, Alfred Krieger, Georg Krieger, Hans Krösa, Kurt Kuck, Hans-Joachim Kunz, August Lange, Heinz Lange, Kurt Lerche, Adolf Lirche, Franz Löhmer, Werner Mann, Kurt Marschall, Georg Masson, Kurt Methner, Joachim Mette, Hermann Müller, Max Münstermann, Friedrich Neidel, Wilhelm Neubauer, Alfred Neuhausen, Heinrich Peitz, Helmut Pinske, Reinhold Plöger, Heinz Renz, Gerhard Rimkus, Horst Röhricht, Dr. Fritz Schlicht, Erich Schulz, Rudolf Schunda, Edwin Schwambach, Erwin Steinbach, Wolf-Dietrich Stephan, Kurt Tatarczyk, Johann Terhünte, Bernhard Thräner, Gerhard 130 22 55 111 107 220 220 10 8 148 27 27 154 36 187 122 196 161 105 157 116 170 173 184 188 84 150 204 75 190 139 178 96 166 109 92 164 44 58 119 Thräner, Otto Vantroyen, Franz-J. Vierheller, Heinrich Villhard, Karl-Heinz Vohlken, Emil Voigt, Martin Wellern, Fritz Wilkens, Gerhard Wilkens, Hermann Witzke, Emil Woggon, Otto Wolfram, Hans Wurm, Alfons Zaeske, Hans Zaeske, Wolfgang Zedel, Horst-Günter Ziege, Walter 119 162 168 223 47 38 210 81 81 156 133 199 89 77 77 63 180 Menschen wie wir ... 237 Kerzenaktion „Leben – Hoffnung – Frieden“ Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erinnert mit seiner Kerzenaktion an die Opfer des Krieges und der Gewalt in den Familien. Die Kerze steht symbolisch für das Leben – das Leben in der Hoffnung auf Frieden. Wie eine Kerze in einer geeigneten Umgebung lange friedlich brennt und schließlich am Ende verlischt, kann das Leben in Frieden lange dauern und am Ende, weil die Lebensenergie verbraucht ist, friedlich verlöschen. Doch wie eine Kerze vorzeitig gelöscht werden kann, so kann auch ein Leben gewaltsam beendet werden. Wir übersenden Ihnen gern eine kleine Kerze (auf Wunsch auch mehrere) in Erinnerung an einen geliebten Angehörigen oder Freund. Bitte schreiben Sie an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. – Kerzenaktion „Leben – Hoffnung – Frieden“ – Werner-Hilpert-Straße 2 34112 Kassel Für die Mitglieder und Spender des Volksbundes ist die Kerze selbstverständlich kostenlos. Wir freuen uns aber über jede (auch kleine) zusätzliche Spende! 238 Menschen wie wir ... Zur „Aktion Erinnerung“ Mit den Angehörigen der Kriegsopfer stirbt auch die Erinnerung ... Nur ihre Gräber bleiben zurück – und nüchterne, unfassbare Zahlen. Der Volksbund sammelt Informationen über die Opfer der Weltkriege, von Flucht und Vertreibung. So bleiben hinter den Zahlen die Menschen sichtbar. Auch damit tun wir etwas für die Würde der Kriegstoten. Und: Die nachwachsenden Generationen können erkennen, dass die Bilanz von Krieg und Gewalt aus zerstörten Menschenleben und nicht aus Zahlen besteht ... Möchten Sie an der „Aktion Erinnerung“ teilnehmen? Wenn ja: Was könnten Sie über Ihren Angehörigen schreiben? - Name, Vorname, weitere Namen - Geburtsdatum, Todesdatum - Todesursache, letzte Nachricht über ihn (evtl. Kopie beilegen) - Lage seines Grabes - persönliche Merkmale (Größe, Haarfarbe, Augenfarbe, u. a.) - besondere Eigenschaften - Informationen über die Familie (Eltern, Geschwister, Kinder) - Lebenslauf (Stationen) - besonders persönliche Erinnerungen (z. B. lustige Erlebnisse) Bitte möglichst leserlich schreiben (am besten mit Maschine)! Wir heben Ihren Text auf und übernehmen ihn in unsere Dokumentation. Die Berichte sollen vor allem für die Jugend- und Schularbeit des Volksbundes verwendet werden. Machen Sie mit? Dann senden Sie uns bitte Ihren Bericht zu (Absender bitte nicht vergessen!). Gut wäre es auch, wenn Sie Fotos und anderes Material beilegen könnten (bitte vermerken, wenn Sie es zurückhaben möchten). Bitte schreiben Sie an Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. „Aktion Erinnerung“ Werner-Hilpert-Straße 2 34112 Kassel Menschen wie wir ... 239 Bücher für Freunde und Förderer Herausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Band 1 Erzählen ist Erinnern. Kurzgeschichten aus 80 Jahren Volksbund. Kassel 1999 240 Seiten Band 2 Schicksal in Zahlen. Informationen über die weltweite Arbeit des Volksbundes und Verzeichnis der deutschen Kriegsgräberstätten. Kassel 2000 240 Seiten (Neuauflage geplant) Band 3 Vor Leningrad. Wolfgang Buff – Kriegstagebuch Ost. 29. September 1941 – 1. September 1942. Kassel 2000 120 Seiten Band 4 Menschen wie wir ... Teil I Erinnerungen an geliebte Menschen. Kassel 2000/2001 240 Seiten Neben Band 5 Menschen wie wir ... Teil II erscheint 2002 als Band 6: Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit (240 Seiten). 240 Menschen wie wir ...