million dollar baby spoiler
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DAS LEBEN EIN SCHLACHTFELD, DIE LEINWAND NIE Joan MITCHELL WARUM MONIKA GRÜTTERS IRRT Mathias DÖPFNER ICH BAUE MIR EIN MUSEUM Thomas SCHÜTTE DER MANN MIT DEM BÖSEN BLICK Martin MOSEBACH über Mario PR AZ 6 EURO JULI / AUGUST 2015 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 3 Nr. 1 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 3 4EIN 190171 006003 03 KUNSTMAGAZIN ES IST IMMER WAS DAHINTER ANDREAS SCHULZE Porsche empfiehlt und Performance-Kunst. Der neue 911 Targa 4 GTS. Sportlichkeit trifft auf Stil. GTS trifft auf Targa. In einem 911 mit leistungsgesteigertem 3,8-Liter-Boxermotor, 316 kW (430 PS), revolutionärem Dachkonzept und hochwertiger Serienausstattung – zum Beispiel 20-Zoll-Räder mit Zentralverschluss, Sportabgasanlage und Bi-Xenon-Hauptscheinwerfer. Kurz: ein Sportwagen für alle, die sich mit weniger nicht zufriedengeben. 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Gerade noch wurde Quartett gespielt, jetzt hatte ich die Gruppe ZERO komplett. Ich war Sammler und es fühlte sich gut an. Wenig später war ich auf einer Vernissage. Ich unterhielt mich gerade mit Gotthard Graubner, als Jörg Immendorff mich zur Seite zog. Ich solle doch mit diesem ZERO-Quatsch aufhören, das könne nicht mehr als eine jugendliche Verirrung sein. Wenn ich einen richtigen Künstler kennenlernen wolle, müsse ich ihn im Atelier besuchen. Eine Woche später klingelte ich zum verabredeten Zeitpunkt an seiner Tür. Ich meinte Stimmen zu hören, aber die Tür blieb zu. Ich klingelte ein zweites und ein drittes Mal, dann ging die Tür doch noch auf und mir stand ein sehr verschwitzter Immendorff gegenüber. Er habe mich schlicht vergessen, erklärte er, ein großes Saunatuch notdürftig um die Hüften geschlungen, während hinter ihm zwei nackte, ungewöhnlich attraktive Frauen durch den Flur liefen. Aber wo ich schon mal da sei, könne ich mir in seinem Grafikatelier eine Arbeit aussuchen, gleich hier rechts hinter der Tür, er müsse mich dabei leider allein lassen, weil er noch eine andere, unaufschiebbare Verabredung habe. Spätestens jetzt wurden mir drei Dinge klar: Wer sammelt, dem APÉRO 5 öffnen sich Türen. Die Kunstwelt ist ein einziger Abenteuerspielplatz. Und ich würde dabei sein. Sammeln ist noch immer ein Abenteuer. Doch erst als ich für diese Ausgabe von BLAU den norwegischen Polarforscher und Mount-Everest-Bezwinger Erling Kagge zum Gespräch traf, fiel mir auf, wie sehr, wie fast ausschließlich die Berichterstattung über Sammler und Sammlungen vom ganz großen Geld erzählt. Von Firmenlenkern, Mode-Tycoons, Wall-Street-Legenden und Oligarchen. Kagge, der erste Mensch, der unbegleitet zum Südpol gewandert ist, hat ein Buch über seine zweite Leidenschaft geschrieben: das Sammeln. A Poor Collector’s Guide to Buying Great Art heißt es, und auch wenn Kagge betont, nicht im herkömmlichen Sinne arm zu sein, so erinnert sein Buch doch daran, dass der Kunstmarkt eben nicht nur für die Superreichen da ist, dass zu viel Geld im Gegenteil meist zu schrecklich langweiligen Sammlungen führt. Auf seinen Expeditionen in die unwegsamsten Gebiete der Welt, so erzählt er ab Seite 75, gelten für ihn die gleichen Regeln wie für einen Kunstmessebesuch: Schaue voraus, reise leicht und lass deine Ängste hinter dir. Wir alle, sagt Kagge, werden als Abenteurer und Forscher geboren, wir wollen klettern, bevor wir laufen können. Kunst sammeln helfe einem dabei, das Leben wieder schwerer zu machen als unbedingt nötig. Und wenn man seinem eigenen Geschmack zwei Schritte voraus sei, habe man auch als armer Sammler eine Chance, die Klassiker von morgen zu kaufen. Sammeln als Abenteuer, von einem Abenteurer erklärt, und ich wusste wieder, warum ich fast 25 Jahre nach meiner Konfirmation noch immer dabei bin. CORNELIUS TITTEL PICASSO À MALAGA, 2015 (DETAIL) ÖL AUF LEINWAND, 150 x 100 CM © BILDRECHT, WIEN, 2015 YAN PEI-MING SALZBURG JULI – AUGUST 2015 ROPAC.NET PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG Oben: JOAN MITCHELL Pastel, 1991, Pastell auf Papier, 76 × 60 cm. Links unten: THOMAS SCHÜTTE Basler Maske, 2014, glasierte Keramik, 43 × 31 × 18 cm. Rechts unten: Museum La Congiunta in Giornico, Schweiz APÉRO EIN KUNSTMAGAZIN 10 CONTRIBUTORS / IMPRESSUM 13 ESSAY Die Kunst gehört der ganzen Welt 16 NEUES, ALTES, BLAUES 18 DICHTER DRAN Steffen Popp 19 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT Nr. 3 / Juli – August 2015 ANDREAS SCHULZE Ohne Titel (Bahn strecke am Meer), 2015, Acryl auf Passepartoutkarton, 172 × 123 cm „Nach einem guten Tag in der Werkstatt, wenn ich so 20 Skulpturen glasiert habe, überschlage ich schon mal, wie viel Umsatz ich gerade hergestellt habe“ 20 UM DIE ECKE Europäische Zentralbank, Frankfurt 24 BLITZSCHLAG Roland Berger — THOMAS SCHÜTTE JOAN MITCHELL NUR IN IHREN BILDERN WURDE ALLES GUT: AMERIKAS GRÖSSTE MALERIN IST IMMER NOCH ZU ENTDECKEN. PLUS: ALBERT OEHLEN ÜBER MITCHELL s. 30 THOMAS SCHÜTTE ES MUSS NICHT IMMER MOMA SEIN ERST DIE SCHEIDUNG, DANN DAS EIGENE MUSEUM. EIN BAUSTELLENGESPRÄCH AM NIEDERRHEIN WOHIN ES SIR NICHOLAS SEROTA, GLENN D. LOWRY UND KOLLEGEN IM SOMMER ZIEHT s. 26 s. 44 INHALT 7 „Wer glaubt, durchs Kunstsammeln reich zu werden, ist naiv. Wenn man ein Werk für 20.000 Dollar in einer Galerie kauft, dann ist es in dem Moment, wenn man es zu Hause auf hängt, meist nur noch 10.000 wert“ ENCORE 75 INTERVIEW Erling Kagge 80 WERTSACHEN EIN KUNSTMAGAZIN Was uns gefällt Nr. 3 / Juli – August 2015 AUKTIONEN Die Auswahl der Redaktion 82 GRAND PRIX Buy now 84 BLAU KALENDER Unsere Termine im Juli und August 89 BILDNACHWEISE 90 DER AUGENBLICK Stephen Gill EIGENTLICH RAUCHE ICH NICHT NAIRY BAGHRAMIAN IST DIE BILDHAUERIN DER STUNDE. IN IHREM BERLINER ATELIER WIRD SCHWÄCHE ZU STÄRKE s. 60 MAN HAT SICH AN DEN BERUF GEWÖHNT EIN NACHMITTAG MIT ANDREAS SCHULZE, DEM GROSSEN UNBEKANNTEN DER DEUTSCHEN MALEREI WARTE, BIS ES DUNKEL WIRD RAUM FÜR RAUM EIN MAGISCHER KREIS: MARTIN MOSEBACH ZU GAST BEI MARIO PRAZ s. 50 INHALT 8 s. 66 Oben: NAIRY BAGHRAMIAN Porträt (Der Kopf des Konzeptkünstlers raucht)/Portrait (The Concept-Artist Smoking Head), 2008, Schwarz-Weiß-Print, 125 × 123 × 3 cm — ERLING KAGGE 81 530 FLÜGE ZUM MOND. Im letzten Jahr legten die 700 Jets unserer Flotte mehr als 200 Millionen Kilometer zurück – das entspricht 530 Expeditionen zum Mond. Ob Sie nach Barcelona, Bangkok oder Boston ʇLHJHQI¾U6LHVWHKWLPPHUHLQ)OXJ]HXJYRQ1HW-HWVPLWGHUSDVVHQGHQ&UHZEHUHLW Das ist NetJets. RUFEN SIE UNS UNTER +49 (0) 89 2323 7547 AN ODER BESUCHEN SIE UNS AUF NETJETS.COM Alle von NetJets® Europe angebotenen Flugzeuge werden von NetJets Transportes Aéreos S.A., einer EU-Luftfahrtgesellschaft, betrieben. NetJets ist eine eingetragene Dienstleistungsmarke. NetJets Inc. ist ein Unternehmen von Berkshire Hathaway. © 2015 NetJets Inc. Alle Rechte vorbehalten. JOHANNES WOHNSEIFER 6.6.–5.7.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES CHAPEL RAGNAR KJARTANSSON 27.6.–23.8.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES NAVE ANDREAS FISCHER 11.7.–9.8.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES CHAPEL CONTRIBUTORS Martin MOSEBACH Er ist zum intimen Kenner Roms geworden, der Schriftsteller Martin Mosebach. Mit Leidenschaft sucht er in der Ewigen Stadt die Orte auf, die in kaum einem Touristenführer stehen. Für BLAU hat er sich im Wohnmuseum des kauzigen italienischen Gelehrten Mario Praz umgesehen, eines großen Kenners der Romantik und des Neoklassizismus, der sich in einem Palast am Tiber eine Welt verklungener Schönheit eingerichtet hat. Fasziniert beschreibt Mosebach die Collage aus Leben und Geschichte, die er dort antraf. Und wie er Stück um Stück betrachtet, könnte man fast meinen, er selbst wäre der nachgeborene Bewohner des verwunschenen Hauses. Seite 66 IMPRESSUM Redaktion CHEFREDAKTEUR Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.) MANAGING EDITOR Helen Speitler STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich ART DIRECTION Mike Meiré Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Charlotte Cassel TEXTCHEF Hans-Joachim Müller BILDREDAKTION Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg (frei) REDAKTION Gesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoffmans (NRW) SCHLUSSREDAKTION Karola Handwerker, René Reinholz REDAKTIONSASSISTENZ Claudia Cliff Autoren dieser Ausgabe DAVID ZINK YI 15.8.–13.9.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES CHAPEL CAMILLE HENROT 5.9.–1.11.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES NAVE JORINDE VOIGT 17.–20.9.15 ABC | ART BERLIN CONTEMPORARY MATTHIAS WEISCHER 19.9.–25.10.15 KÖNIG GALERIE | ST. AGNES CHAPEL KÖNIG GALERIE ST. AGNES | ALEXANDRINENSTR. 118–121 D-10969 BERLIN KOENIGGALERIE.COM Gesine BORCHERDT Als Gesine Borcherdt Anfang Mai von der Eröffnung der VenedigBiennale zurückkehrte, war ihr klar: Über die offizielle Ausstellung von Okwui Enwezor wird man in ein paar Jahren wohl nicht mehr sprechen, über die von Danh Vō kuratierte Gruppenausstellung in der Pinault Collection hingegen schon. Slip of the Tongue heißt sie, und nicht nur der Name wurde von Nairy Baghramian inspiriert, auch einige der eindrücklichsten Arbeiten stammen von ihr. Grund genug für die BLAU-Redakteurin, die in Berlin lebende Künstlerin im Atelier zu besuchen. Seite 60 Mathias Döpfner, Leo Fischer, Oliver Koerner von Gustorf, Martin Mosebach, Steffen Popp, Ulf Poschardt, Frederic Schwilden, Michael Stürmer, Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler Fotografen dieser Ausgabe Yves Borgwardt, Markus Burke, Albrecht Fuchs, Peter Kaaden, Kristine Jakobsen, Vitus Saloshanka Sitz der Redaktion BLAU Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188 – 400 redaktion@blau–magazin.de BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188 –222 Nr. 3, Juli/August 2015 Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt. Verlag GESCHÄFTSFÜHRER Steffen POPP Jan Bayer, Petra Kalb Sales GESCHÄFTSFÜHRER ASMI Die Zeilen von Steffen Popp sind wie eine Schneeflocke, die mitten im Hochsommer auf der Handfläche landet. Der Lyriker, der 2014 den renommierten Peter-HuchelPreis erhielt, ist in diesem Jahr Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom. Als wir ihn dort erreichen und ihn um einen Beitrag für DICHTER DRAN zu bitten, sorgt er sich zunächst. Er hoffe mit seinem Gedicht nicht zu sehr an dem Werk zu kleben. Das Ergebnis aber zeugt von seiner lyrischen Kraft, die Dinge einzukreisen und nicht zu überschreiben. Sein letzter Gedichtband, Dickicht mit Reden und Augen, ist bei kookbooks erschienen. Seite 18 Arne Bergmann SALES MARKE Xenia Kunow, (V. i. S. d. P. MarkenartikelAnzeigen), xenia.kunow@axelspringer.de SALES KUNSTMARKT Nele Heinevetter (V. i. S. d. P. KunstmarktAnzeigen), nele.heinevetter@axelspringer.de HERSTELLUNG Olaf Hopf DIGITALE VORSTUFE Image- und AdMediapool DRUCK Firmengruppe APPL, appl druck GmbH BLAU erscheint als Beilage der WELT am letzten Samstag im Monat und danach im ausgewählten Zeitschriftenhandel. Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 1 vom 01.01.2015. Copyright 2015, Axel Springer Mediahouse GmbH. Der einzigartige LAMY dialog 3 ist ein Füllhalter ohne Kappe. Seine besonders weich schreibende 14 Karat Gold-Feder gleitet durch einen faszinierenden Drehmechanismus elegant aus dem Gehäuse. Innovation – Made in Germany. Ausführung: pianoblack/platin www.lamy.com ORANIENBURGER STRASSE 18 D-10178 BERLIN P+49(0)30 2888 4030 F+49(0)30 2888 40352 CYPRIEN GAILLARD WHERE NATURE RUNS RIOT MAI – JULI 2015 MARCEL VAN EEDEN THE SYMMETRY ARGUMENT MAI – JULI 2015 ANDREAS SCHULZE STAU JULI – AUGUST 2015 JENNY HOLZER, BARBARA KRUGER, LOUISE LAWLER, CINDY SHERMAN, ROSEMARIE TROCKEL SEPTEMBER – OKTOBER 2015 7A GRAFTON STREET LONDON, W1S 4EJ UNITED KINGDOM P+44(0)20 7408 1613 F+44(0)20 7499 4531 JOHN WATERS BEVERLY HILLS JOHN JULI – AUGUST 2015 KEITH ARNATT THE ABSENCE OF THE ARTIST SEPTEMBER 2015 REINHARD MUCHA OKTOBER – NOVEMBER 2015 ESSAY DIE KUNST GEHÖRT DER GANZEN WELT! NATIONALES KULTURGUT Martin K ippenbergers Bild Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken in der Sammlung Flick dürfte ab 2034 das Land nicht mehr verlassen Warum Monika Grütters’ Kulturgutschutzgesetz zum Kulturgutvertreibungsgesetz wird. Von Mathias Döpfner M onika Grütters ist ein Glücksfall für die deutsche Kulturpolitik: Sie ist leidenschaftlich gebildet, eine treue Besucherin aller wichtigen Theater- und Opernpremieren, sie liebt zeitgenössische Kunst, im politischen Alltag gilt sie als verlässlich und ihr Wesen ist von unerschütterlicher Fröhlichkeit. Die Kulturszene hat in kürzester Zeit ein empathisches Vertrauensverhältnis zu ihr aufgebaut – etwas, das in dieser Form keiner ihrer Vorgänger selbst nach mehrjähriger Amtszeit erreichte. Seit einigen Wochen jedoch ist dieses Vertrauen empfindlich gestört. Aus der Schutzheiligen wird plötzlich – zumindest für die Kunstszene – eine gefährliche Gegnerin. Monika Grütters steht im Zentrum einer erbitterten Debatte um das sogenannte Kulturgutschutzgesetz. Ausgehend von der Debatte um die Versteigerung zweier wichtiger Bilder von Andy Warhol durch die nordrhein-westfälische Lotteriegesellschaft WestSpiel geht es darum, Bilder und Arbeiten von überragender Bedeutung für die deutsche Kulturgeschichte vor einer unkontrollierten Ausfuhr zu bewahren. Das Anliegen klingt verständlich und berechtigt. Doch das geplante Gesetz wäre ein Sargnagel für den im internationalen Vergleich ohnehin schwächelnden deutschen Kunstmarkt. Und damit langfristig auch für die Attraktivität deutscher Museen, die nicht unwesentlich von den Stiftungen privater Sammler profitieren. Händler, Galeristen und Auktionshäuser sind entsetzt, weil künftig womöglich alle Arbeiten, die älter als 50 Jahre sind oder mehr als 150.000 Euro Wert haben, nur dann ins Ausland verkauft werden dürfen, wenn eine Kommission dies genehmigt. Der Münchner Kunsthändler Bernheimer spricht zu Recht von „kalter Enteignung“, denn dem Eigentümer eines Bildes wird durch die sehr willkürliche Entscheidung der Kommission die Möglichkeit genommen, eine Arbeit zum internationalen Marktpreis zu verkaufen. Das heißt, er muss unter Umständen auf Teile seines Vermögens verzichten. Ich bin in den letzten Wochen keinem privaten Sammler begegnet, der sich nicht Gedanken macht, wie er seine Werke noch APÉRO 13 rechtzeitig außer Landes bringen könnte, sollte die Novelle Gesetz werden. Selbst wenn viele Sammler nur selten oder noch nie eine Arbeit verkauft haben, wollen sie sich vom Staat die Möglichkeit dazu zumindest nicht einschränken lassen. Auch wenn die meisten Sammler nicht ein einziges Wort des Protestes öffentlich artikulieren: Sie werden ihr Eigentum ins Ausland bringen, noch bevor die Tinte auf den Papieren der Gesetzesmacher getrocknet ist. Neben den in der Debatte der letzten Wochen bereits vorgebrachten Argumenten sehe ich vor allem drei Aspekte, die das geplante Gesetz ad absurdum führen. 1. Die Umkehr der Beweislast. Nicht mehr eine Expertenkommission muss Ikonen des Kulturguts identifizieren und nachweisen, dass der drohende Verkauf ins Ausland nicht zu vertreten ist. Vielmehr müsste in Zukunft jeder Besitzer eines älteren oder teureren Kunstwerks durch Anmeldung bei und Verhandlung mit der Expertenkommission auf Bundesländerebene sicherstellen, dass die Arbeit kein nationales Kulturgut ist. Nicht zuletzt weil die Preisschwelle verhältnismäßig gering ist, würde so ein bürokratisches Monster geschaffen, in dem Abertausende Vorgänge abgearbeitet werden müssten. Entscheidungen könnten höchst subjektiv getroffen werden. Schon jetzt hört man, Kulturpolitiker hätten Sammlern signalisiert, sie würden selbstverständlich dafür sorgen, dass diese nicht mit Problemen zu rechnen hätten. Hinzu kommt aber: Wenn ein Werk so wichtig ist, dass es als nationales Kulturgut unbedingt im Land bleiben muss, dann sollte man doch davon ausgehen, dass diese Arbeit den Experten bekannt ist. Warum also der Anmeldeprozess? 2. Das sozialistische Verständnis von Eigentum. Schon öfter in den letzten Jahren hat die Bundesregierung eine wachsende Gleichgültigkeit im Umgang mit Eigentumsrechten bewiesen. Der Mindestlohn ist ein Beispiel im Grenzbereich. Eigentümern wurde hier vorgeschrieben, zu welchem Preis sie Arbeit einkaufen. Der undemokratische Weg des kopflosen Ausstiegs aus der Atomenergie ist – unabhängig von der Frage, ob man Nuklearenergie befürwortet oder nicht – ein eindeutiges Beispiel, weil hier in nicht rechtsstaatlicher Weise Milliardenwerte vernichtet und Unternehmen zerstört wurden, von denen eines, RWE, jetzt sogar verstaatlicht werden soll. Auf dieser Linie liegt die geplante Novelle des Kulturgutschutzgesetzes. Indem das Gesetz den Eigentümern rückwirkend das Recht nehmen würde, ihr Eigentum zu einem marktgerechten Preis zu verkaufen, und sie unter Umständen zwingt, das Kunstwerk zu einem – meist dramatisch – niedrigeren Preis nur in Deutschland zu veräußern, (teil-)enteignet es den Eigentümer. Die einzige ordnungspolitisch vertretbare Lösung ist das staatliche Vorkaufsrecht, wie es etwa in England seit Langem erfolgreich gehandhabt wird. Identifiziert die Expertenkommission des Staates ein nationales Kulturgut, kann sie es zu dem international in einer Auktion oder im Handel erzielten Marktpreis erwerben. Das ist fair für alle Beteiligten. Warum Monika Grütters diese Lösung nicht will, hat sie mit ungewöhnlicher Ehrlichkeit erklärt: „Ich bin aber ganz klar gegen ein solches Vorkaufsrecht (…): Die teuren Werke kann sich das Land nicht leisten und muss sie dann ins Ausland lassen – obwohl man sie für national wertvoll hält.“ Hier verrät sich die wahre Absicht des geplanten Gesetzes: Der Staat will nicht so viel Geld ausgeben und stattdessen die wichtigen Werke den privaten Besitzern lieber billiger abzwingen. Das ist DDR in jeder Hinsicht. Nicht nur weil es privaten Besitz verstaatlicht, sondern weil durch Umverteilung ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird. Anstatt durch Steuererleichterung und andere Liberalisierungen dafür zu sorgen, dass der Kunststandort Deutschland attraktiver wird und noch mehr internationale Sammler und Arbeiten ins Land gelockt werden, wird durch Überregulierung eine Auszehrung betrieben, an deren Ende der Mangel gerechter verteilt wird. Das Kulturgutschutzgesetz würde zum Kulturgutvertreibungsgesetz. Die Leidtragenden werden nicht nur Sammler und Galeristen sein, sondern vor allem die deutschen Museen, deren Bestände dann immer weniger von privaten Schenkungen profitieren. 3. Die Prämisse ist falsch. Kunsteigentum ist nicht nach nationalen Kategorien zu ordnen, denn die Kunst selbst ist international. Das gilt heute, in einer digitalisierten und globalisierten Welt, erst recht. Aber eigentlich galt es schon immer. Eine der wesentlichen Ideen und Aufgaben der Kunst war es stets, Grenzen zu überwinden. Entsprechend international haben die großen Künstler gearbeitet. Natürlich gibt es regionale und nationale Ausprägungen und Schulen. Glücklicherweise. Heimat ist Identität, Besonderheit, Signum. Nationalen Besitzanspruch aber gibt es mitnichten. Warum sollte der Elvis-Warhol denn in Deutschland bleiben: weil die Glücksspielgesellschaft ihn vor vielen Jahren gekauft hat? Was, wenn die amerikanische Regierung auf die Idee käme, dass Hauptwerke des amerikanischen Künstlers Warhol eindeutig in Amerika zu sein hätten und nicht ins Ausland verkauft werden dürften? Die ganze Idee nationaler Besitzansprüche ist falsch. Auch hier ist das einzige Kriterium das rechtmäßig erworbene Eigentum. Entwendetes muss zurückgeführt werden. Während des Dritten Reiches enteignetes oder unter Zwang verkauftes Eigentum von jüdischen und anderen verfolgten Sammlern ist Hehlerware. Das Eigentum muss wieder dem gehören, dem es genommen wurde. Ansonsten aber gilt: Die Kunst ist frei. Und frei ist sie nur dann, wenn sie frei gezeigt, betrachtet, gekauft und verkauft werden kann. Der nationale Anspruch auf ein frei und privat veräußertes und erworbenes Kunstwerk muss die absolute Ausnahme sein. Gerade deutsche Museen wären die größten Leidtragenden einer Renationalisierung von Besitzansprüchen. Müssen wir die Nofretete aus Berlin wieder nach Ägypten bringen, weil sie dort vor Jahrtausenden geschaffen und vor mehr als hundert Jahren ausgegraben wurde? Die Sixtinische Madonna von Raffael hängt in Dresden und lockt jedes Jahr Hunderttausende Besucher an. Soll sie wieder zurück nach Italien, weil sie – ohne Zweifel – nationales italienisches Kulturgut ist? Streit um die Nationalität und Internationalität von Kunst gibt es seit je. Berühmt APÉRO 14 wurde der Bremer Künstlerstreit. 1911 protestierten deutsche Künstler dagegen, dass die öffentlichen Sammlungen in Bremen vermehrt Bilder französischer Künstler kauften. Das Problem begann mit der Berufung des Kunsthistorikers Gustav Pauli als wissenschaftlicher Leiter der Kunsthalle Bremen. Pauli kaufte 1906 das Bild Die Dame im grünen Kleid (Camille) von Claude Monet. Es wurde ihm vorgeworfen, „die ausländische Kunst zum Nachteil der einheimischen deutschen zu begünstigen“. Es gab eine Protestschrift von 140 Künstlern und Kunstschriftstellern unter der Überschrift „Ein Protest deutscher Künstler“. Außer von Stuck und Kollwitz sind unter den Unterzeichnern wenige Namen heute noch Teil des Kanons. In der Gegenantwort, „Im Kampf um die Kunst“, verteidigten 47 Künstler sowie 28 Galerieleiter und Kunstkritiker den angegriffenen Kunsthallendirektor und den französischen Impressionismus. Unterzeichner der Antwortschrift waren unter anderem Max Beckmann, Gustav Klimt, Lovis Corinth, Max Liebermann, Georg Kolbe, August Macke, Franz Marc, Otto Modersohn, Carl Moll, Ernst Oppler, Max Pechstein, Wassily Kandinsky und Max Slevogt. Ein Blick ins Lexikon der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts zeigt, welche Haltung damals die besseren Verbündeten hatte. Kunst lebt davon und dafür, Grenzen zu überwinden. Grenzen des Denkens, des Geschmacks, der Konvention. Kulturgut ist nicht dazu da, um in nationale Grenzen eingehegt zu werden. Sein Sinn besteht darin, die Welt zu erobern. Künstler haben eine Nationalität. Die Kunst nicht. Sie ist global. Der Kunstmarkt ist international. Monika Grütters ist zu klug, um bis zum bitteren Ende in die gut gemeinte, aber falsche Richtung zu rennen. Das Kulturgutschutzgesetz passt ins Zeitalter der Globalisierung wie ein Kutscher mit Peitsche in die Straßenverkehrsordnung der fahrerlosen Autos. Die Kulturstaatsministerin könnte sich am Ende an Goethe erinnern und seine Quintessenz: „Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören, wie alles hohe Gute, der ganzen Welt.“ Das wäre – dann wirklich – ein Glücksfall. HAUSER & WIRTH LOUISE BOURGEOIS STRUCTURES OF EXISTENCE: THE CELLS 27 FEBRUARY – 2 AUGUST 2015 HAUS DER KUNST, MÜNCHEN I HAVE BEEN TO HELL AND BACK 10 JUNE - 27 SEPTEMBER 2015 MUSEO PICASSO MÁLAGA CELL XXIV (PORTRAIT), 2001 STEEL, STAINLESS STEEL, GLASS, WOOD AND FABRIC 177.8 X 106.7 X 106.7 CM COLLECTION THE EASTON FOUNDATION PHOTO: CHRISTOPHER BURKE, © THE EASTON FOUNDATION/LICENSED BY VG BILD-KUNST APÉRO NEUES, ALTES, BLAUES BITTE NICHT SCHLIESSEN! D D CONGO KITOKO ie afrikanische Kunstgeschichte der Moderne begann Mitte der 20erJahre in Kinshasa. Die Hauptstadt der heutigen Demokratischen Republik Kongo hieß damals noch Léopoldville und war gerade zum neuen Regierungssitz der Kolonialherren von Belgisch-Kongo erklärt worden. Als der belgische Staatsbedienstete Georges Thiry, privat ein Kunstliebhaber, einige Hütten in der schnell wachsenden Stadt inspizierte, fielen ihm Wanddekorationen von hoher künstlerischer Qualität auf. Er ging auf die Suche nach ihren Schöpfern und fand drei der Künstler – Albert Lubaki, dessen Frau, Antoinette, und Djilatendo – in ihren Dörfern, gab ihnen Papier und Aquarellfarben und begründete so die moderne Malerei in Zentralafrika. Ungegenständliche Muster in leuchtenden Farben, grafisch abstrahierte Tierbilder, narrative Jagd- und Familienszenen, poppig stilisierter Alltag zwischen surrealistischen Symbolen. Als die Gemälde und Wasserfarbzeichnungen von Lubaki und Djilatendo 1929 erstmals in Brüssel ausgestellt wurden, müssen sie die Avantgarde begeistert haben. Doch der rege Kulturaustausch währte nur wenige Jahre, die Künstler bekamen keinen Materialnachschub mehr, ihre Kunstwerke gerieten in Vergessenheit. Mit Beauté Congo, 1926 – 2015, Congo Kitoko (11.07. – 15.11.) rückt die Fondation Cartier in Paris das Land mit der reichsten malerischen Tradition in Afrika neu in den Mittelpunkt. Wenngleich man von den Künstlern nicht mehr viel weiß – ihre Werke konnten überdauern: in Depots belgischer, französischer und schweizerischer Museen, aber auch in Privatsammlungen ehemaliger Kolonialbeamter und Ministerialdirektoren. Viele der ungemein frisch und unbeschwert wirkenden Arbeiten werden jetzt zum ersten Mal öffentlich ausgestellt. WOE DJILATENDO, Ohne Titel, ca. 1930 Oben: ALBERT LUBAKI, Ohne Titel, 1929 APÉRO 16 er Schinkel Pavillon ist Berlins einzige Adresse, wo jeder, aber auch wirklich jeder Künstler der Welt unbedingt sofort ausstellen will. Denken wir uns die Hauptstadt einmal ohne ihn: Es gäbe eine Flutwelle von Abgesängen auf Berlin, das es einfach nicht schafft, einen der wichtigsten Orte der Kulturszene zu halten. Leider ist die Vorstellung nicht ganz unrealistisch. Denn das gläserne Oktogon nahe Unter den Linden, in dem schon Erich Honecker Cocktailpartys gab, leidet unter akuter Geldnot. Eine reguläre Förderung der Stadt gab es nie – obwohl so manche Ausstellung längst Grund genug dafür gewesen wäre. Wo sonst gab es je eine Gemeinschaftsarbeit von Franz West und Anselm Reyle, die aussah wie ein psychedelisches Wohnzimmer der Zukunft? Damit das anspruchsvolle Programm fortgesetzt werden kann, findet während der Kunstmesse ABC vom 17. bis 20.09. eine Benefizauktion statt. Organisiert wird sie von der Kuratorin Nina Pohl, die den Pavillon seit einigen Jahren betreut. GB PAUL McCARTHY, Tree, 2014 Oben: ROBERT LONGO, Untitled (Tiger Head 3), 2011 DIE HÖRLISIERUNG MITTELEUROPAS n naher Zukunft werden Kunsthistoriker nur noch vom „post-Hörl age“ sprechen. In Europa wird es keinen Ort mehr geben, an dem man vor den Skulpturen von Ottmar Hörl sicher wäre. Das große Euro-Logo hat Hörl 2001 vor die EZB in Frankfurt gestellt. Zuvor noch ein blaues Haus vor die Tore von Ravensburg. Und der Professor, besessen von der Idee, mit in Plastik gegossenen Dingen die Welt wie mit einem Pilzmyzel zu überwuchern, will immer mehr. Vor über zehn Jahren brachte Hörl unter dem Deckmantel einer Kunstaktion 7.000 Hasenplastiken nach Nürnberg. Wir erinnern uns, was geschah, als im 19. Jahrhundert europäische Siedler 24 Kaninchen nach Australien einführten: Australien wurde überrannt von den Tieren. Nur hundert Jahre später waren es eine Milliarde, gegen die dann der berüchtigte Kaninchenkrieg geführt wurde. Glücklicherweise vermehrten sich Hörls Plastiken nicht so schnell. I Dafür stehen in Bayreuth inzwischen mehrere Millionen Wagner-Skulpturen. Im Nürnberger Büro des Heimatministers Markus Söder zeigt die Skulptur Weltanschauungsmodell II einen Mann, der durch ein Fernglas blickt. Und auf dem Parteifest der Linken ruft Hörls Marx zum Klassenkampf auf. Hörl schreckte auch nicht davor zurück, einmal 10.000 Eulen nach Athen zu tragen. Das Abendland ist endgültig hörlisiert. Sogar auf der TurkuBiennale in Finnland ist Hörl zu sehen. Auch wenn Hörls größter Wurf das Hasenmassaker von Nürnberg war, so ist er im Herzen doch ein Igel. Denn egal wie schnell der Hase rennt, stets sagt der Igel zum Hasen: „Ich bin schon da!“ FS TANZ auf dem VULKAN Stromboli ein Festival statt (17. – 27.07), initiiert vom Fiorucci Art Trust. Das Motto in diesem Jahr: In Favour of a Total Eclipse. An teils abgelegenen und olcano Extravaganza: Was kann versteckten Orten auf der Insel werden das wohl sein? Erstens: ein Künstler in drei Akten dem Vulkan Bling-Bling-Modelabel. Zweitens: huldigen: Kenneth Anger und Brian Butler die Espressovariante eines Organic führen eine Filmperformance auf. Thomas Coffeeshops in Berlin-Neukölln. Und Zipp und Adriano Costa bringen Opferdrittens? Genau, Kunst! Zum fünften Mal gaben dar. Christodoulos Panayiotou findet unter diesem Namen auf der Insel nimmt mit einer Performancelesung den Tod auf der Bühne ins Visier. Goshka Macuga lässt einen Alien seine Botschaft an die Menschheit loswerden und Mathilde Rosier vollführt einen Tanz auf dem Vulkan. Das Ganze startet bei Neumond und läuft bis zum Höhepunkt des allsommerlichen Meteorschauers. Parallel dazu gibt es ein Musikprogramm mit „Cosmic Disco“. Vielleicht sind Bling und Espresso da gar nicht weit weg. GB ANNA BLESSMANN & PETER SAVILLE Live Under the Sun, V Performance, Volcano Extravaganza 2013 DEICHTOR HALLEN INTERNATIONALE KUNST UND FOTOGRAFIE HAMBURG WWW.DEICHTORHALLEN.DE GEORGE CONDO, MULTI COLORED PORTRAIT, 1990 (DETAIL). BISCHOFBERGER. COLLECTION, SWITZERLAND, © VG BILD-KUNST, BONN PICASSO IN DER KUNST DER GEGENWART 1. APRIL – 12. JULI 2015 HALLE FÜR AKTUELLE KUNST PHILLIP TOLEDANO, UNTITLED, AUS DER SERIE MAYBE (DETAIL), 2011–15 © PHILLIP TOLEDANO TRIENNALE DER PHOTOGRAPHIE THE DAY WILL COME WHEN MAN FALLS PHILLIP TOLEDANO 19. JUNI – 6. SEPTEMBER 2015 HAUS DER PHOTOGRAPHIE LYNN HERSHMAN LEESON, SHOWER, FILMSTILL AUS TEKNOLUST, 2002 (DETAIL) · © LYNN HERSHMAN LEESON LYNN HERSHMAN LEESON CIVIC RADAR 14. JUNI – 15. NOVEMBER 2015 SAMMLUNG FALCKENBERG PARTNER DER DEICHTORHALLEN KULTURPARTNER APÉRO 17 Schneefall wird den Abend beleuchten archaisches Gleißen unter unzähligen deren Summe das Dunkel ist. Sieh dich kunstlos an, Kunststück Versunkenheit sprich – schwebend, latent – namenlos farblos und atemlos, was diese Kontur diesen Kontrast ergibt. Abheben sich – wie Hörer, krass. Dabei gelassen liegen ungehoben und unbetreten – gelandet wie aus dem All, eines der Shuttles sein. DICHTER DRAN SCHNEEFALL STEFFEN POPP [ Schneefall ] Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst trifft? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Steffen Popp, Jahrgang 1978, badet in einem Pool für Albino-Echsen Wandler: ein Magnetismus, submarin Howl-Zone, Pool für Albino-Echsen – nie scheint Sonne ferner, ihr Abglanz kühler, wirken Gezeiten geweihter und durch alle zwölf Häuser, hypnotisiert träumen wie eine Strömung die Sinne du stehst mit Wölfen aus Gräbern auf unter Artenschutz nachts, über Halden Spaceshuttles, Riten, was dich beglänzt jeder Opal ist ein Hüter von Narben. Inspiriert von Joseph Beuys [ Mond ] Wurzeln wie die gehn durch alles, sei es Granit, sei es Haut: geplatzte Äderchen auf deiner Wange etc., Jahre dazwischen verfliegen im Schlaf – später in anderen wach, Zeitaltern, Leben, wie man sagt du erinnerst mich an was: dieses Gefühl ist selbst historisch, ein Stiefkind von Traurigkeit, das in die Zukunft reicht – Wachstum, Verflechtung, Zersiedlung … Kronen- und Wurzelvolumen sind gleich. [ Baumriesen | Tränen ] Wuchern und Dunkel, zwei Schwestern ein Puls. Alles wächst innen, unendlich in einem unendlichen Pool. Aufs Ganze gehen, das ganze Defizit – ein Erbgut verformender Schub. Leichengeschmack deiner Prothesen im Denken, Unsummen in Wüsten versenkt, die deine Technik kaufen, die dich später bekämpft. Hydra wägt träge das ein oder andere Haupt. Deine SkinCare kostet mehr als ein Barrel. JOSEPH BEUYS, Schneefall, 1965 32 Filzdecken über drei Tannenstämmen 23 × 120 × 375 cm [ Monster | Rendite ] APÉRO 18 O-TON DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT GIB’S MIR! Axel HAUBROK Der Sammler zeigt Kunst im Theater „Wir sind eingeladen worden, eine Ausstellung im Theater zu machen. Das ist reizvoll, aber auch ein großes Wagnis, denn es gibt für so etwas eigentlich kein Vorbild. Wir sind auf der Bühne zum Start des Berliner Tanzfestivals Tanz im August im HAU mit Werken aus unserer Sammlung. Es wird eine richtige Aufführung, also ist unsere Ausstellung nur einen Abend lang zu sehen (13.08., ab 17 Uhr). Was unterscheidet ein Theater vom klassischen White Cube? Viel Technik auf der Bühne und im Fall des HebbelTheaters ein holzgetäfelter Zuschauerraum. Da bleibt nur die Möglichkeit, das Auditorium selbst zur Schau zu stellen und den Saal für die Besucher zu sperren. Stattdessen wird das Publikum die Bühne betreten. Hier gibt es dann das unvermeidbare Aufeinandertreffen von Bühnentechnik und zeitgenössischer Kunst. Gerade das Tanztheater ist Bewegung und Licht. Natürlich werden die Arbeiten nicht nur an einer Stelle verharren, und die im HAU vorhandene professionelle Bühnenbeleuchtung wird auf Lichtarbeiten von Ólafur Eliasson, Martin Boyce und Cerith Wyn Evans treffen. Wie das alles zusammen wirkt? Wir werden sehen.“ So winzig der 550er ist, so elegant zirkelt er sich auf Passstraßen an Jaguaren und Healeys vorbei, die spürbar mehr PS habenn PORSCHE 550 SPYDER RS L et’s go bürgerlich: Leserbeschimpfung! Daran sind Kunstfreunde gewöhnt, wird ihnen doch oft genug eingeredet, Kapitalismus und Entfremdung seien ihre Schuld. Bei uns Freunden des kultivierten Blechkleids geht’s andersherum: Wir sind „Bourgeoisisten“, wie der Architekturtheoretiker Julius Posener sie so schön beschrieben hat. „Bourgeoisisten“ haben Schuldgefühle und Scham tiefergelegt und ihren Hedonismus getuned. Deshalb: Geht es Ihnen wirklich um Stil und Distinktion, versuchen Sie es mal mit der Mille Miglia statt mit der Art Basel. Mehr Geld, mehr Charme und glücklicherweise keinen Smalltalk mit dem angelesenen postmodernen Imposanzvokabular. Zurückgekommen von der Mille Miglia, saß ich abends neben einem, der stets beides liebte, Autos wie Kunst, und wir fragten uns: Lieber einen grandiosen Polke oder einen Ferrari 250 GTO? Natürlich einen GTO, erklärte der Kunstsammler, ohne lange nachzudenken. Die Mille Miglia 2015 war wie immer sonnig, abenteuerlich, lässig, entspannt, antineureich, euphorisch, anarchisch. Eine Oldtimerrallye, wie sie so nur in dem libertärsten Land Europas denkbar ist: in Italien. Mein Vergnügen war es, in einem Porsche 550 Spyder RS von Brescia nach Rom und zurück zu heizen. Und obwohl das Ganze schon ein paar Tage her ist, wache ich noch jeden Morgen auf und vermisse es, ohne Frühstück, direkt aus dem Hotel runter in den Parc fermé zu gehen, die Mechaniker nach dem Zustand des Museumsstücks zu fragen, um es dann rauschhaft im Race-Modus um die Ecken zu zimmern. Das Auto ist mehrere Millionen Euro wert. Das vergisst jeder, der in diesem ersten reinrassigen Rennwagen von Porsche sitzt, weil alles an dem Design, dem Fahrwerk, der Ergonomie, der nicht APÉRO 19 vorhandenen Sicherheit (keine Gurte, kein Nix), dem wild heulenden Motor signalisiert: Fahr mich, gib’s mir, schone mich nicht, sei mutig und gefährlich, respektiere die Regeln des Wettbewerbs und des Gentlemen Driving! Das 62 Jahre alte Auto fuhr die 1.600 Kilometer zu 65 bis 70 Prozent im Renn-Speed ohne eine Macke. Der 550 Kilo leichte Mittelmotor-Roadster verblüffte mit einer Drehfreude und einer Agilität, die mit den 110 bis 125 PS kaum zu erklären sind. Die absolut brillante Gewichtsverteilung sorgt für ein neutrales Fahrverhalten auch in kniffligen Situationen. So winzig der 550er ist, so elegant zirkelt er sich auf Passstraßen auch an Jaguaren und Healeys vorbei, die spürbar mehr PS, Hubraum und Zylinder haben. Es ist ein wundervolles Auto, und es ist ein Geschenk, es mit 175 km/h über holprige Fernstraßen zu prügeln. Das Auto hätte einen Polke in seiner Garage verdient. ULF POSCHARDT UM DIE ECKE EUROPÄISCHE ZENTRALBANK Jede Stadt hat ihre MIKROKOSMEN, wir stellen sie vor. Und umkreisen die Straßen des neuen Hochsicherheitstrakts der EZB in Frankfurt, lassen uns von den Menschen zeigen, wie sie hier leben und wo die Schwimmverein, darf man sich auf dem 60 mal 70 Meter kleinen Areal fühlen wie in Kunst spielt gewachsen ist. Daran stimmt nun erst mal Schweden. Ins Café darf jeder. QUARTIER? ETWAS UNSCHEINBAR, DIE VERSORGUNGSWEGE IN EZB-NÄHE Z weierlei Arten Besoffenheit gibt es: solche, die vom Überfluss an Möglichkeit kommt, und solche, die vom Mangel an Möglichkeit kommt. So heißt es in einem Lehrgedicht von Meister Laotse – oder könnte es heißen, wenn Laotse sich für diese Themen interessiert hätte und wir Heutigen diese Wahrheiten nicht mühsam erfinden müssten. Nicht schlecht staunte Laotse aber, würde man ihn ins heutige Frankfurter Ostend führen, denn zurzeit sind hier beide Arten Besoffenheit anwesend. Es geht im Osten der Stadt natürlich um die besenrein fertiggestellte EUROPÄISCHE ZENTRALBANK an der Sonnemannstraße, die am bislang unbesuchten, unbeliebten Mainufer festgemacht hat und hier seither, so raunen’s die Gentrifizierungsrauner, alles kaputtmacht, was über die Jahrhunderte rein gar nichts. Zunächst gibt es keine gewachsenen Strukturen, gab es nie. Demzufolge gab es auch nie irgendwas zu zerstören. DAS OSTEND, Viertel der Arbeiter, Juden und allerlei Hafengeschöpfe, hatte immer nur so viel Struktur, wie sich die Honoratioren im wenige Kilometer entfernten Rathaus gerade noch leisten wollten. Die letzten Jahrzehnte sind nahezu spurlos am Ostend vorübergegangen. Der Stadtteil wird abgewohnt, wie eine alte Wohnung abgewohnt wird. Aber es ist ein Wohnen an den Strukturen vorbei. So wie vor Jahren aus einem ungenutzten Hafenbecken, das sich allmählich mit Grundwasser füllte, der SCHWEDLERSEE wurde, so füllt sich das Viertel mit Menschen, die zielstrebig die Pläne ignorieren, die für sie gemacht wurden. Jetzt versuchen sie auch die eingezäunte EZB zu ignorieren. Wenn man Mitglied wird im APÉRO 20 Wenn man sich aber von den Menschen, die den Weg kreuzen, durch das Ostend leiten lässt, trifft man auf Plätze und Straßen, die brutal in die Bausubstanz hineingefräst wirken. Doch fragt man nach, erfährt man, dass sie schon Jahre so vor sich hin bluteten, bevor man auch nur an einen Neubau der Zentralbank denken konnte. Tatsächlich schwebt die EZB wie ein Heißluftballon über dem Viertel, semitransparent, unwirklich, an heißen Tagen von atmosphärischem Flirren umgeben wie eine Fata Morgana, und ähnlich zart und unscheinbar sind ihre Versorgungswege. Es hat noch kaum eine Transformation stattgefunden. Wer brutale Hyper-Lofts und Finanzwohnungen sehen möchte, muss ins Europaviertel fahren, jene aus dem Boden gestampfte Hochleistungssiedlung, die im Westen der Stadt neu entstanden ist und sich DAS BERMUDADREIECK? DAS NEUE EZB-GEBÄUDE IST IM FRANKFURTER STADTTEIL OSTEND WIE EIN UFO GELANDET (OBEN). MIREK MACKE VOM KUNSTVEREIN MONTEZ (LINKS) UND DIE KINDER IN DEN SIEDLUNGEN SPIELEN EINFACH WEITER langsam mit ihren hohen Mieten reinfrisst in das Arbeiter-Gallusviertel. a, die EZB! Viele Gemeinheiten wurden und werden über das Gebäude ausgesprochen. „Raumschiff“ hat man es genannt, „Todesstern“ und viele andere imperiumskritische Schimpfwörter mehr. Die gemeinste Gemeinheit, das finale Verdikt über das Haus steht jedoch gleich hier, in diesem Magazin, und ist bisher nur mir selber eingefallen. Das Gebäude – Achtung, jetzt kommt’s! – sieht reinmontiert aus. Jawohl, reinmontiert! Also im Sinne einer Fotomontage. Die genialen grafischen Werkzeuge der Architekten, sie haben sich selbst überlistet. Das Gebäude steht exakt so da wie in jenen gerenderten Voransichten, die in den Jahren vor dem Bau zu sehen waren – mit der Konsequenz, dass das Gebäude selbst durch und durch unwirklich aussieht, als wäre es in die Wirklichkeit eingeklinkt worden wie ein Grafikelement in Photoshop. J Offenbar ist die Bautechnik schneller fortgeschritten als die entsprechende Grafiksoftware. Jedenfalls wäre nur so zu erklären, wie es möglich ist, dass der Bau eins zu eins einen digitalen Plan wiedergibt, der selbst doch nur Abstraktion, Prätention auf Höheres, Schöneres war. Ich bin überzeugt: Suchte ein Experte für Grafiksoftware das Gebäude ab, er fände Rendering-Artefakte, falsch dargestellte Pixel und Ebenenfehler, die von fleißigen Handwerkern in Beton gegossen wurden, so streng hat die Wirklichkeit die Computer imitiert. Der wichtigste Versorgungsweg des Gebäudes ist ein TRAMPELPFAD, der durchs Gehölz des Ostends geschlagen wurde. Er führt von der S-Bahn-Station Ostendstraße über die Westseite des Paul-Arnsberg-Platzes hin zum EZB-Haupteingang. Jeden Morgen und Mittag kann man dort dasselbe Schauspiel sehen: Hunderte, vielleicht Tausende Banker watscheln den Pfad entlang wie die Pinguine, in einer schmalen Linie, vermeiden den Kontakt mit der Ostendbevölkerung, surren geschäftig wie die Ameisen und in APÉRO 21 strenger Formation, als fürchteten sie, auf ihrem Arbeitsweg von der Seite bespuckt, beworfen und beschimpft zu werden. Zahllose Sprachen kann man auf dem Trampelpfad hören: Englisch natürlich, viel Italienisch und Französisch auch. Und die Mode ist durchaus nicht uniform: Wer es nicht liebt, bereits auf dem Weg zum Job als Weltvernichter und Jobstreicher erkannt zu werden, nimmt ihn in leichter Freizeitkleidung oder im Sportdress. paßigerweise geht es auf der anderen Seite des Trampelpfads und auf dem restlichen Platz nicht anders zu, nämlich auch sehr bunt und vielsprachig. Die Stadt Frankfurt treibt Migranten und andere Unerwünschte weit in den Osten. Der Paul-Arnsberg-Platz, der im Einzugsbereich dreier Schulen liegt, wird dabei zum natürlichen Aufenthaltsort vieler Migrationsjugendlicher – und dadurch zu einem der wenigen Frankfurter Plätze, die funktionieren. Zwischen den Gründerzeitkasernen, den geometrischen 90er-Jahre-Blocks S und den postmodernen Fassaden der Lifestyle-Wohnmaschinen wuseln und wurschteln sie herum, die Jugendlichen, spielen Fußball oder auf dem Handy und tun dies weit weniger pittoresk und sozialpädagogisch wertvoll als auf der nahe gelegenen SKATERBAHN – sie tun das, was Jugendliche idealerweise tun sollten, nämlich rumlungern, und wenn ein supermodernes Büro superschnell wieder dichtmachen und das Inventar vor die Tür stellen muss, spielen sie Destruction Derby mit Bürostühlen, von denen jeder mehrere Monatsgehälter kostet. Wie sieht’s aus mit der Kunst in diesem komisch trägen, stets zwischen Lethargie und dolce far un poco wabbelnden Ostend? Sollte hier nicht „was gehen“, in einem Viertel, wo die Widersprüche derart bilderbuchartig aufeinander prallen? Natürlich geht hier nichts, denn es prallt ja auch gar nichts. Die Städelpartys finden andernorts statt, trotz aller Lock- und Balzrufe des KUNSTVEREINS FAMILIE MONTEZ. Der private Verein ist der neue Nachbar der Skaterbahn und haust hier wie viele unter einer Brücke. Der Künstler und Langbartträger MIREK MACKE, Schüler von Hermann Nitsch, hat den Verein 2007 im Städelhof gegründet. KOMMERZ ODER KIOSK? DAS GEBÄUDE DER EZB IST VON EINEM HOCHSICHERHEITSZAUN UMGEBEN. DA HILFT NUR, DEN NEUEN NACHBARN ZU IGNORIEREN, EIN BAD IM SCHWEDLERSEE ZU NEHMEN (LINKS) UND ANSCHLIESSEND AM KIOSK EIN BIER ZU TRINKEN Seit 25 Jahren gibt es die GALERIE MARTINA DETTERER auf der Hanauer Landstraße, im Hinterhof eines kleinen Wohnblocks gelegen. Alle sechs Wochen wechseln hier die Ausstellungen, und die Vernissagen sind kleine, unaufgeregte Angelegenheiten. Vom neu eingetroffenen Europa-Geld spürt man hier noch nichts. Gerüchteweise, so heißt es seitens der Galeristin, gibt’s befreundete Galerien, die schon eine gesteigerte Kunstkaufkraft erfahren haben wollen, aber das Geld kriecht erstaunlich langsam die Hanauer hoch. Aber natürlich weiß man auch hier von den vielen neuen Galerien, die in der Innenstadt aufgemacht haben, und die Frage nach einem neu entstehenden Kunstmekka Frankfurt beantwortet man mit hochgezogenen Augenbrauen: Was innerstädtisch ausgestellt werde, stehe in keiner Konkurrenz und bediene eine ganz bestimmte (lies touristische) Klientel; das böse Wort „dekorativ“ fällt einem auf die Zunge. Der Verfasser dieser Zeilen, selbst kein ausgewiesener Kunstexperte, ja nicht einmal ein sonderlicher APÉRO 22 -freund, findet sich jedoch zuverlässig und weißnichtwie immer wieder in der Galerie Martina Detterer wieder, hingeschleppt von den unterschiedlichsten Leuten zu den merkwürdigsten Ausstellungen. Eine Interaktion mit den Nachbarn, gar mit den neuen Nachbarn aus Europa hat man hier nicht nötig; es reicht schon, dass der Hausmeister bei den Eröffnungen vorbeischaut, um sich ein Friedensbier zu holen. Jahrzehntelang wurde das Ostend vernachlässigt, und die EZB wird daran nichts ändern, vielleicht die Vernachlässigung nur radikalisieren, zur aktiven Brutalität heben. Zusammenwachsen jedoch wird hier nichts. Am sonnenbeschienenen Paul-ArnsbergPlatz wird bis dahin weiter gegammelt und gehetzt, hört man Maßanzüge und Trainingsanzüge in zahllosen Sprachen Aktien und Drogen bestellen – ein, frei nach E. T. A. Hoffmann, ewiger Dienstag im Gemüt. LEO FISCHER IST REDAKTEUR BEI DER SATIREZEITSCHRIFT TITANIC. FÜNF JAHRE WAR ER DORT CHEFREDAKTEUR, BEVOR ER SICH 2013 AUF SEINE ROMANE KONZENTRIERTE FOTOS: VITUS SALOSHANKA ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT APÉRO 23 BLITZSCHLAG ADLER FÜR DEUTSCHLAND Es ist ein Augenblick der Gewissheit: Dieses Kunstwerk trifft mich im Kern. Der Unternehmensberater Roland Berger ch habe das Glück gehabt, eine humanistische Erziehung über seinen zu genießen, sechs Jahre Altgriechisch, neun Jahre Latein liebsten Remix I und alle die Themen, die in diesen alten Sprachen ge- und beschrieben sind. Von daher waren Kultur und Geschichte, Kunst und Theater schon immer Teil meines Lebens. Aber wirklich begonnen hat mein Interesse an zeitgenössischer Kunst Anfang der 50er-Jahre. Ich kann mich noch gut erinnern, wie uns unser Zeichenlehrer am Neuen Gymnasium in Nürnberg in eine KandinskyAusstellung führte. Bis dahin hatte ich mit zeitgenössischer Kunst nie etwas zu tun gehabt. Künstlerisch lebte ich noch mit dem Hasen von Dürer. Und jetzt dies: Kandinskys Art, die Welt ganz anders zu sehen, das war für mich ein Schock und ein Weckruf. Ich habe diese Ausstellung noch viermal besucht – aus Neugier und auf eigene Rechnung. Den Katalog, auf billigem Papier schwarz-weiß gedruckt, besitze ich heute noch. Seither hat mich die Kunst nicht mehr losgelassen Lebt und arbeitet mit Kunst: ROLAND BERGER FOTO: MARKUS BURKE und mich mein Leben lang begleitet. Und mehr und mehr habe ich verstanden, dass bildende Kunst auch Ausdruck der Befindlichkeiten und Bedürfnisse einer Gesellschaft ist. Meine Frau und ich haben nie systematisch bestimmte Kunstrichtungen oder Künstler gesammelt, sondern ich habe Bilder gesammelt, die parallel zu meinem Leben und meinen Möglichkeiten entstanden sind. Fast ein Jahrzehnt lang hing in meinem Büro ein Adler von Georg Baselitz aus seiner Remix-Serie. Der Adler ist ja eigentlich ein Uraltmotiv, das immer wieder in seinem Werk auftaucht und dabei sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren hat. In meiner Sammlung befinden sich mehrere Adler-Bilder von Baselitz. Aber es war vor allem dieser eine, der mich begeistert – nicht zuletzt wegen der Symbolik: ein fallender Adler, der sich wieder fängt. Was ich immer auch als politisches Zeichen verstanden habe, weil der Adler nun mal für Deutschland steht, für ein Land, das sich wieder gefangen hat nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg und sich seitdem immer wieder fangen musste – und es auch getan hat. Wohl hat mich dieser Adler auch so berührt, weil er so leicht wirkt. Baselitz hat ja in seinen Remix-Bildern, die ganz anders anmuten als die in seiner frühen oder mittleren Schaffensperiode, einen neuen Blick auf die Welt genommen, auch auf sein eigenes Werk. Er hat sich noch einmal neu erfunden, und das in einer Serie, die farblich viel leichter und durchsichtiger erscheint, ungemein sensibel, hell und voller Licht. APÉRO 24 GEORG BASELITZ Adler (Remix), 2006 rahlwespietz APÉRO 25 „ES WÄRE QUATSCH, SIE ZU VERSCHLEUDERN — THOMAS SCHÜTTE Chips auf Schachtel: THOMAS SCHÜTTE vor der Baustelle seiner Skulpturenhalle in Neuss-Holzheim Große Ausstellungen, Rekordpreise auf Auktionen: Thomas Schütte hat alles erreicht. Jetzt gönnt er sich für seine Sammlung eigener Werke ein Museum auf dem Lande. Ein Baustellengespräch APÉRO 26 T homas Schütte gehört zu den erfolgreichsten Bildhauern seiner Generation. Er wird umschwärmt von Sammlern und Museen. Seine Lieblingsstücke hat er für sein eigenes Museum zurückbehalten, das im Frühjahr 2016 eröffnet werden soll. Im Gespräch zeigt er sich als ein Virtuose des Understatements, der seinen Zynismus so pflegt, wie er seine gammelige Strickmütze in Ehren hält. Ein eigenes Museum bauen: Ist das nicht ein Spielfeld für eitle Sammler? — Thomas Schütte: Geplant war das nicht aus Eitelkeit, sondern eher aus praktischen Gründen. Während meines Scheidungsverfahrens vor einigen Jahren hat die Anwältin meiner Frau ein bisschen gegoogelt und gesehen, was meine Werke auf Aktionen erzielen. Daraufhin verlangte sie prompt zehnmal mehr Geld. Ich habe dann Monate gebraucht, um ihr zu erklären, wie das Geschäft so läuft. Dass ich eine Ware herstelle, die sich zu einem bestimmten Preis verkauft. Den teilt man sich mit der Herstellung, dem Händler, dann mit der Steuer, mit den Kindern und auch noch mit der Ehefrau. Und dass die Wahnsinnssummen, die für meine Skulpturen auf Auktionen bezahlt werden, so etwas wie Pferdewetten sind. Ich selbst sehe keinen Cent davon, nur das eine Prozent der Folgerechte. Die Scheidungsgeschichte lehrte mich, dass ich mal was in Sicherheit bringen musste. STAHLFRAU NR. 7, 2001, Stahl, 130 × 125 × 250 cm Anteil. Aber was macht man mit Kunst? Ich wollte nicht, dass meine Arbeiten in alle Welt verstreut, sondern dass sie an einem Ort zusammengehalten werden. Da erschien mir ein eigenes Museum die beste Lösung – natürlich auch im Hinblick auf riesige Lagerräume im Keller. Sind alle Werke in der Stiftung? — Momentan sind es 18 Frauenskulpturen und 80 Aquarelle. So eine Kombination muss einfach zusammenbleiben. Es wäre Vor wem: dem Staat oder den Ehefrauen? Quatsch, sie zu verschleudern. Die Negativ— Vor beiden. Ich habe mich damals gefragt: formen werden zerschnipselt, damit bloß Was geschieht mit meinen Sachen nach keiner auf die Idee kommt, man könnte meinem Tod? Die Menschen kommen auf posthum noch etwas gießen, wie bei Rodin, den Friedhof, das Zeug auf den Müll oder, von dessen Sachen man in Museumsshops wenn es gut geht, ins Museum. Ich bin jetzt Nachgüsse kaufen konnte. Dann gab es über 60. Wer weiß, wie lange ich noch lebe. noch sechs weitere Arbeiten, die verkauft Momentan sieht es allerdings ganz gut aus. wurden, als die Stiftung Geld brauchte, um die Skulpturenhalle zu finanzieren. Hätte es nicht gereicht, eine Stiftung zu gründen? Sie stellen also alle Weichen, um Ihren Ruhm — Wenn die drei Kinder nach meinem über den Tod hinaus zu mehren. Tod hundert Sachen kriegen, müssten sie — Um Sie zu beruhigen: Es geht nicht den größten Teil davon verkaufen, um die nur um meinen Ruhm. Mein Haus ist kein Steuern zu zahlen. Hätte ich Geld auf Museum im klassischen Sinne, sondern dem Konto, wäre es einfacher: Das kann eher eine Kunsthalle. Der Keller ist zwar für man gut teilen. Da reißt man einfach ein mich und die Stiftung reserviert, aber in Sparbuch durch und jeder kriegt seinen der Halle werden wir auch Ausstellungen APÉRO 27 anderer Künstler zeigen. Mario Merz wird den Anfang machen. Sie argumentieren wie jemand, der seine Arbeiten nicht gern verkauft. — Die meisten Künstler verkaufen gar nichts oder nicht genug. Aber ich horte meine Sachen. Seit Jahren gieße ich immer ein paar Skulpturen mehr. Einige davon lagere ich dann eichhörnchenmäßig im Keller. Ich habe so viele Werke, dass ich regelmäßig Ausstellungen mit ihnen bestücken kann. Warum machen Sie das? Behalten Sie gern die Kontrolle? — Man ist museal präsenter, wenn man die Werke aus dem eigenen Archiv zaubern kann. Das ist ein Aspekt. Hinzu kommt: Die echten Preise kriege ich nur, wenn ich nicht verkaufen muss. Zumal der Markt total intransparent ist. Wenn ich meine Spione nach Miami auf die Messe schicke, damit sie mal schauen, ob meine Galeristen sich an Absprachen halten, erlebe ich manchmal durchaus Überraschungen. Ein Objekt, das ich mit 300.000 Dollar ausgewiesen habe, kostet dann schon mal 375.000. Das sind mal eben 75.000 mehr als vereinbart. Das ist ein Vertrauensbruch. — Na ja, dann geht der Galerist in der Verhandlung mit dem Käufer 75.000 Dollar runter, als Rabatt – und schon sind wir wieder bei 300.000 und alle sind zufrieden. Glücklicherweise sind meine Preise so hoch, dass ich nicht viel verkaufen muss. Momentan sind eh nur Spekulanten unterwegs und die öffentlichen Museen können sich meine Arbeiten schon lange nicht mehr leisten. Sie können sich Ihre Käufer also aussuchen? — Von mir gibt’s nur etwas, wenn die Sammler im Atelier auftauchen. Wenn die nicht kommen, gibt’s auch nichts. Ich will sehen, wer meine Werke kauft, wenn es um große Sachen geht. Das ist so eine Art Gesichtskontrolle. Sie sortieren Ihre Kundschaft mit der Pinzette? — Ich habe weltweit vielleicht 10 bis 15 Sammler, die im größeren Stil meine Arbeiten kaufen. Über alle Kontinente verteilt? — Eigentlich nur in Nordamerika und Europa. Asiaten und Araber haben bislang nichts gekauft. Russen, die schon nach drei Wochen keine Lust mehr auf mein Werk haben, habe ich auch nicht im Pelz. Aus politischen Gründen? — Sagen wir mal so: In Krisengebieten lasse ich mich nicht blicken. Auch nicht in Gegenden, wo die Menschen denken, für Geld kriegt man alles. Ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust, ständig Strategien für den Markt zu entwickeln. So groß ist mein Ego dann doch nicht. Wichtig ist mir, etwas mit netten Menschen zu machen und Sachen zu gestalten, die bleiben. Wenn ich nichts verkaufen möchte, frage ich die Kunden, ob sie nicht ein Gebäude haben wollen. Das mache ich dann ganz umsonst. „Ich will wissen, wer meine Werke kauft, wenn es um große Sachen geht. Das ist so eine Art Gesichtskontrolle“ Die hohen Preise garantieren Ihnen Unabhängigkeit. Macht Sie das zufrieden? — Nach einem guten Tag in der Werkstatt, wenn ich so 20 Skulpturen glasiert habe, überschlage ich schon mal, wie viel Umsatz ich gerade hergestellt habe. Auf welche Summe kommen Sie dann? — Die ist recht bemerkenswert. Mir ist klar, dass es ein Wahnsinnsprivileg ist, keine Geldsorgen zu haben und samstagnachmittags, wenn die Bundesliga läuft, gemütlich Rechnungen zu schreiben und Rechnungen zu bezahlen. Das mache ich immer selber. Worauf führen Sie Ihre lange Karriere zurück? — Mir ist immer etwas eingefallen. Das fanden die Sammler gut. Ich poliere nicht an einer Marke wie so viele andere Künstler, sondern ich mache immer, wozu ich Lust habe. Ehrlich gesagt bin ich auch immer wieder überrascht, mit wie wenig Anstrengung man so weit kommt. Das ist kokett. Dabei verraten Werke wie Mann im Matsch und United Enemies, dass es auch eine schwere Schütte-Seite geben muss. — Am Anfang hat mich das Ganze sehr angestrengt. Ausstellungen sind ja keine Ehre, sondern eine Prüfung. Funktioniert die Kunst im Raum? Können die Leute was mit deiner Idee anfangen? Reagiert die Presse? Ohne Publikum kann man schließlich nichts machen. Eröffnungen haben mich damals sehr mitgenommen. Vor den inzelausstellungen bin ich immer kotzend, trinkend und rauchend um den Block gelaufen und kam erst zurück, wenn die Eröffnung vorbei war. Dazu kam, dass ich mir Anfang der 80er-Jahre eine schwere Psychose eingehandelt habe. Wahrscheinlich durch exzessives Trinken und die Arbeit mit giftigen Lacken. Es folgten ein Totalzusammenbruch und mehrere lange Klinikaufenthalte. Das habe ich aber ganz gut überstanden. Den Klinikaufenthalt oder die Krankheit? — Zum Glück beides. In der Klinik habe ich sogar meine ersten Tonköpfe gemacht. Die Kunsttherapie dauerte inklusive Aufräumen und zwei Raucherpausen 45 Minuten. Seitdem kann ich mit schusseligem Kopf und vollgepumpt mit Medikamenten in kurzer Zeit eine Figur modellieren und dabei die Umgebung gut ignorieren. Baustellenansicht der Skulpturenhalle APÉRO 28 Sie zeichnen hübsche Blumen und Fucking Flowers, entwerfen Ferienhäuser für Terroristen und Liebesnester, radieren blöde Witze, kneten böse Männer und gießen schöne Frauen. Gibt es in Ihrem Werk ein verbindendes Element? — In der Kunst ist alles, was man so macht, irgendwie ein Selbstporträt. Ich komme ja noch aus einer Zeit, als individueller Stil und persönlich-expressiver Ausdruck verboten waren. Die Konzeptkunst der 70er-Jahre war mir immer zu limitiert: Wie viele graue Bilder und Metallkonstrukte kann man machen? Erst durch Gevatter Baselitz und die Jungen Wilden wurde der persönliche Ausdruck wieder eingeführt. Allerdings in einer Art und Weise, die mir auch nicht gepasst hat: zu angestrengt. Wie haben Sie sich aus der Enge der Konzeptkunst gelöst? — Als Student habe ich auch konzeptuell gearbeitet: Pünktchen an die Wand gemacht, Ufos gemalt und Hauptstadtpläne gezeichnet. Doch glücklicherweise hatte ich an der Düsseldorfer Kunstakademie mit Fritz Schwegler und Gerhard Richter Lehrer, die in keiner Weise dogmatisch waren. Sie wollten, dass wir uns entsprechend unserer jeweiligen Begabung entwickeln. Es gab keine Tabus. Aus der Konzeptkunstnummer rausgekommen sind wir durchs Basteln. Wir haben mit Figürchen und Spielzeug gearbeitet. Meine Fimo-Männchen kommen daher. Auch die Architektur für mein Museum ist spielerisch so entstanden. Ich habe am Büdchen eine Zehnerpackung Streichholzschachteln und eine Dose PringlesChips gekauft. Chips auf Schachtel – schon war das Urmodell fertig. Ich wollte unbedingt einen ovalen Raum mit einem geschwungenen Dach. Einen Raum, den es so noch nicht gibt, nicht einfach eine eckige Kiste. Aus Ihrem Jahrgang sind erstaunlich viele erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler hervorgegangen. Katharina Fritsch, Reinhard Mucha, Bogomir Ecker, Thomas Struth, Karin Kneffel, Thomas Demand, Martin Honert, Ludger Gerdes waren an der Düsseldorfer Akademie. Und dann waren da noch die Becher-Schüler. Waren Sie Konkurrenten? — Insgesamt waren wir so hundert Leute, die im regelmäßigen Austausch standen. Es war ein großes Team. Geld spielte noch keine Rolle, weil der Kunstmarkt noch nicht so aufgeheizt war. Wir verkauften gar nichts oder nur sehr wenig zu kleinen Preisen. Dagegen waren die Kölner und Berliner Künstler, wie Oehlen, Dahn, Dokoupil, Kippenberger, schon sehr — Diese zehn Männer, Frauen und Kinder mit den 20 Gepäckstücken habe ich vor dem rechtsextremistischen Anschlag auf ein Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen 1992 gemacht. Dort lebten vietnamesische Asylanten, die von der Polizei vor dem rechten Terror nicht geschützt wurden. Es gab einen Rechtsruck in der Republik. Die Stimmung war hässlich: „Die Ausländer nehmen uns die Frauen, die Arbeit, die Autos, das Essen weg.“ Meine Fremden legen sich nicht fest: Verlassen sie das Land oder kommen sie, nehmen sie was weg oder bringen sie was mit? Man weiß es nicht. Die Unentschiedenheit fand ich spannend. NETT IM BETT 20.11.2006 (aus der Serie Deprinotes, 2006 – 08), Tusche und Farbstift auf Papier, 38 × 28 cm erfolgreich. Die haben jeden Tag ein Bild gemalt und konnten mit dem Taxi von Köln nach Düsseldorf in den Ratinger Hof fahren und wieder zurück. Fünf Jahre später war es andersherum. Wir hingegen haben einfach gebastelt und liefen ständig ins Kino. Damals habe ich alle King Kong-Versionen, alle Godzilla-Filme, Wim Wenders, Werner Herzog und die ganze Stummfilmpalette gesehen. Wie hat der Film Ihr Werk beeinflusst? Sind die fratzenhaften Gesichter der United Enemies Godzilla-Parodien? — Das könnte man meinen. Sicher haben auch einzelne meiner Figuren, wie Vater Staat oder Mann im Matsch, eine gewisse Theatralik. Doch eins zu eins lässt sich das nicht übertragen. Was man generell behaupten kann: Der Film hat mich mehr beeinflusst als die Kunst. Die statischen mittelalterlichen Gemälde oder das ewige Getümmel bei Rubens sagen mir nichts. Aber jeder gute Film hat mindestens drei Minuten, die einem nachhängen. Den Einfluss einer filmischen Dramaturgie spürt man bei meinen Ausstellungspräsentationen. Die müssen gut choreografiert sein. Neben Ihrer Rolle als Spieler sehen Sie sich auch gern in der des politisch engagierten Menschen. Oder wie soll man Ihre Figurengruppe Die Fremden sonst lesen? APÉRO 29 Bei der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sind Sie deutlich entschiedener. Männerfiguren sind alt und garstig, die Frauen hingegen schön, aber Torsi. Die Männer stehen, die Frauen liegen. Ist da Schütte der Macho am Werk? — Bei den Männern ist das ganz einfach: Ich habe seit Jahren eine Monatskarte für die Straßenbahn und auf den Fahrten habe ich viele skurrile Männergesichter gesehen. Wenn ich dann Figuren gestalte, mache ich einfach, wozu ich Lust habe. Das gilt auch für die Frauen. Ich gebe aber zu, dass die Frauen schon ziemlich gequält aussehen. Anfangs dachte ich, das gibt Stress mit Frauenrechtlerinnen. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Die älteren Frauen schmunzeln, die jungen können gar nichts damit anfangen. Da soll sich mal jemand einen Reim drauf machen. Die Frauenfiguren wurden in der Fachwelt mit Skepsis aufgenommen: Jetzt macht der Schütte auf Picasso oder Moore. — Ja, was soll ich sonst machen? Die ersten Tonskizzen für die Frauen zu finden war eine Formsuche – und die Suche selbst ist dann der Inhalt geworden. Was nicht passte, wurde mit dem Nudelholz plattgeschlagen und ins Regal gestellt. So was passiert einfach. Letztendlich waren nur 18 Stücke für eine Vergrößerung geeignet. Wenn man Dinge macht, nur weil sie en vogue sind und sich gut verkaufen, hat man schon verloren. TEXT: CHRISTIANE HOFFMANS FOTOS: ALBRECHT FUCHS BIS AN DIE GRENZE UND DARÜBER HINAUS Sie trank und prügelte wie Pollock und de Kooning, nahm sich Männer für eine Nacht und beschimpfte ihre Konkurrentin Helen Frankenthaler als „TamponMalerin“. Das Leben der JOAN MITCHELL war ein einziges Schlachtfeld, nur die Leinwand der Ort, an dem sich alles fügte. Erst heute erkennen wir langsam ihre wahre Bedeutung. Von Oliver Koerner von Gustorf JOAN MITCHTELL mit ihrem Hund George in Springs, Long Island, 1954 Erste Doppelseite: GIROLATA TRIPTYCH, 1964, Öl auf Leinwand, 195 × 302 cm G eorg Baselitz sagte 2013 im Spiegel, seine Bilder seien Schlachtfelder und Frauen könnten nicht malen. Erst in diesem Mai wiederholte er das im Guardian. Selbstverständlich relativiert er diese These immer wieder. Doch wer wissen will, woher solche Auffassungen kommen und warum sie noch immer diskutiert werden, sollte sich in eine Zeitmaschine setzen und nach New York reisen. Zurück in die Ära des Kalten Krieges, als der Kunstkritiker Harold Rosenberg 1952 im Magazin ARTnews sein berühmtes Manifest „The American Action Painters“ veröffentlichte. Der Verfechter des abstrakten Expressionismus sah die Leinwand als Arena, in der einige amerikanische Künstler nicht mehr bloß Gegenstände wiedergeben, analysieren oder „zum Ausdruck bringen“, sondern wie Gladiatoren in Aktion treten. Was auf ihr vor sich geht, so postulierte er, sei kein Bild mehr, sondern ein „Ereignis“, der Akt des Malens untrennbar mit der Biografie und dem Selbst des Künstlers verbunden. Ohne Namen zu nennen, machte Rosenberg deutlich, dass Willem de Kooning mit seinem existenzialistischen Ansatz der Inbegriff des Action Painters sei, während Jackson Pollocks Drip Paintings für ihn „apokalyptische Tapeten“ waren, die seine Kunst zu einem „Markenzeichen“ degradieren. Malerinnen kamen nicht vor. Rosenbergs Artikel war nicht nur eine Kriegserklärung an seinen mächtigen Kritikerrivalen Clement Greenberg und dessen Schützling Pollock. Er zementierte auch die bis heute vertretene Meinung, dass expressive, gestische Malerei Männersache sei und vor allem von Alphatieren betrieben werde, die heroisch gegen die Leinwand kämpften. UNTITLED, 1961 Öl auf Leinwand, 229 × 206 cm Wie eindimensional diese Betrachtungsweise ist, zeigt das Werk von Joan Mitchell, einer Zeitgenossin Rosenbergs und führenden Malerin der New York School, von der selbst Georg Baselitz glaubt, dass sie wirklich gut malen konnte. In einer fulminanten Retrospektive werden ihre Bilder von Yilmaz Dziewior im Kunsthaus Bregenz und anschließend im Kölner Museum Ludwig neu zur Diskussion gestellt. Zusätzlich wird in einer eigens entworfenen Architektur noch nie gezeigtes Material präsentiert: Fotografien, Filme, Mitchells umfassende Korrespondenzen mit Elaine de Kooning, Franz Kline, Frank O’Hara, Samuel Beckett. Doch warum ausgerechnet Mitchell? Natürlich gibt es seit Jahren diesen Trend zur Wiederentdeckung, bei dem der Blick vor allem auf übersehene und zu wenig gewürdigte Frauen der Moderne und der Kunst des 20. Jahrhunderts geworfen wird. Aber bei Mitchell kann man eigentlich nicht von einer Unterschätzung und Neuentdeckung sprechen. Ihre Gemälde hängen in allen großen amerikanischen Museumssammlungen, in den USA und in Frankreich ist sie, anders als im deutschsprachigen Raum, eine der ganz Großen der Nachkriegsmoderne. Mit 11,9 Millionen Dollar für eines ihrer Werke hielt Mitchell den Rekord als teuerste Künstlerin der Geschichte, bis sie vor Kurzem von Georgia O’Keeffe entthront wurde. Doch ihre Malerei war bislang vor allem etwas für das Art-Establishment, für Kuratoren, Sammler, Künstler, Bildungsbürger. Mitchells Werke sind Klassiker, es wird aber nur wenig über sie gesprochen. Und wenn es um ihre Biografie geht, wird man CERCANDO UN AGO, 1957 Öl auf Leinwand, 239 × 223 cm auch in Kunstkreisen immer wieder dieselben Statements hören, vor allem eines: „She was one of the boys.“ Dass sie „eine von den Jungs“ war, heißt, dass sie nicht nur genauso große Leinwände wie Pollock, de Kooning oder Kline bewältigt hat, sondern auch genauso saufen, ficken, pöbeln und leiden konnte wie die Heroen des abstrakten Expressionismus. Aber wie so oft gibt es für Frauen eine Einschränkung: in diesem Fall das Label „zweite Generation“. Denn während die 1925 in Chicago geborene Joan Mitchell Mitte der 40er-Jahre noch Kunst studierte, in Mexiko den Kommunismus und Diego Riviera entdeckte, betete, dass sie zeichnen können möge wie Käthe Kollwitz, vollendete Pollock bereits seine berühmten Werke The She-Wolf und Mural. Sie kam dann erst Ende der Vierziger nach New York und lernte Kline und de Kooning 1951 kennen. och in den Topf „second generation“ wurden in den Fünfzigern sowieso sämtliche Frauen des abstrakten Expressionismus geworfen, ganz egal wie lange sie gemalt und nebenbei noch für ihre Maler-Männer Bolognese gekocht hatten. Das „second“ impliziert eine Art Trostpreis, den Makel, keine echte Pionierin gewesen zu sein. Bei allem Ruhm, den Mitchell zu Lebzeiten und posthum erfahren hat – große Einzelausstellungen und Retrospektiven 1974 und 2002 im Whitney Museum of American Art in New York und 1982 im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris –, haftete ihr immer der Ruf der Außenseiterin an. Das betrifft nicht nur ihre abenteuerlich lyrische Malerei, für die die Kunstkritik der 50er- und 60er-Jahre keine passenden Worte findet, sondern vor allem ihre Person. Im Auftreten unterscheidet Mitchell sich grundlegend von den malenden Frauen in den New Yorker Fifties. Denn zumeist sind das die Frauen der Maler: Elaine, die Frau von de Kooning; Helen Frankenthaler, die Freundin von Clement Greenberg; Lee Krasner, die Gattin von Jackson Pollock. Neben der damals viel bekannteren Malerin Grace Hartigan ist Mitchell eine der wenigen, die ohne Begleitschutz in den Ring der Downtown-Szene steigt. Joan trinkt mehr als alle anderen, prügelt sich und hat One-Night-Stands. Wenn sie sehnsüchtig, aber mit trockenem Humor an ihre Männer schreibt, dann vermisst sie nicht D GEORGE WENT SWIMMING AT BARNES HOLE, BUT IT GOT TOO COLD, 1957 Öl auf Leinwand, 223 × 204 × 7 cm LADYBUG, 1957 Öl auf Leinwand, 198 × 274 cm Joan Mitchell der späteren Jahre. Nicht umsonst verwechselt man sie häufig mit der ebenfalls nach Frankreich emigrierten Autorin Patricia Highsmith. Mit ihren Rollkragenpullovern, der getönten Brille und der gerade geschnittenen Frisur, die ihr von Alkohol gezeichnetes Gesicht rahmen, erinnert sie mehr an eine Krimiautorin als an eine Malerin. Dass die big boys des abstrakten Expressionismus gebrochene, egomanische Alkoholiker waren, gehört zu ihrem Mythos. Man beglückwünschte sie buchstäblich zu ihren Exzessen. Pollock wurde es posthum nicht krummgenommen, dass er bei seinem Autounfall volltrunken eine junge Frau mit in den Tod gerissen hatte. Mitchells Inkarnationen wurden da schon ambivalenter gesehen. Sie sicherten ihr den Zutritt zum Club, verpassten ihr aber auch eine Art Hofnarrenrolle, die abermals chauvinistischen Klischees entsprach: dem der sexualisierten, wilden, hysterischen Frau und dem der herrischen, exzentrischen Alten, die es irgendwie immer übertrieb. Mitchell nahm das in Kauf und kultivierte diese Rollen sogar. Immer empfand sie mehr Solidarität mit den Kerlen als mit den malenden Frauen, unter denen es sowieso keine Solidarität gab. Helen Frankenthaler wurde von ihr einmal verächtlich als „Tampon-Malerin“ bezeichnet. uch im späteren Leben waren ihre Ausfälle legendär. Der Kunstkritiker der New York Times Peter Schjeldhal beschreibt 2002 im New Yorker eine typische Szene, die sich bei einer Dinnerparty in Manhattan zutrug. Erst beschimpfte die betrunkene Mitchell die Gastgeberin, die verkündete, heiraten zu wollen, als „bourgeoise Kuh“. Dann lieferte sie sich mit ihrem Geliebten Riopelle einen handgreiflichen Streit, der sich bis ins Treppenhaus zog. „Diejenigen, die Joan Mitchell kannten, tauschten solche Storys aus wie Karten in einem Heilige-Monster-Quartett. Aber Mitchells Persönlichkeit war eine Sache – ihre Kunst eine völlig andere.“ Ein anderer Kritiker, John Perreault, schrieb: „Je weiter man sich von Mitchell der Trinkerin entfernt, desto näher kommt man ihren Gemälden.“ Der Preis, den sie für ihr Benehmen zahlte, war hoch. Nicht nur dass ihr Leben ein Trümmerfeld aus kaputten Beziehungen, Krankheit und Erniedrigungen war – es wurde A GRANDES CARRIÈRES, 1961/62 Öl auf Leinwand, 200 × 301 cm die romantischen Spaziergänge, sondern „den schwarzen Kaffee, das Rumalbern, das Ficken“. Ihre Kämpfe trägt sie überall aus: im Eighth Street Club, zu dem neben Pollock und de Kooning auch Robert Motherwell und Franz Kline gehören, in der Cedar Tavern, auf Partys, in Betten, auf Eröffnungen oder an den Stränden von Long Island, wo sich die New Yorker Kunstszene im Sommer trifft. Während sich die ebenfalls fluchende und saufende Grace Hartigan 1957 für das Magazin LIFE mit Perlenohrringen von Cecil Beaton ablichten lässt und betont: „When I go out, I’m all woman“, sind Mitchells Uniform die ungebügelten Hemden ihrer Liebhaber, Loafer ohne Socken, aufgerollte Jeans und Ledertrenchcoat. Die frühe Inkarnation von Mitchell gleicht einer androgynen Mischung aus Lauren Bacall, Nouvelle Vague und dem Vagabundenstil des Poeten Arthur Rimbaud. 1958 verlässt sie New York aus Liebe zum bad boy des Tachismus, dem kanadischen Maler Jean-Paul Riopelle, und zieht mit ihm erst nach Paris und dann, Ende der Sechziger, nach Vétheuil an der Seine auf ein Anwesen, zu dem auch das ehemalige Studio des Impressionisten Claude Monet gehört. Auf den Fotos jener Zeit verwandelt sich die Rebellin in eine grimmige Einsiedlerin, die REVUE 36 ALBERT OEHLEN ÜBER JOAN MITCHELL „Wenn man so malen will, dann tut man das halt“ Joan Mitchell hatte als Malerin der „second generation“ des abstrakten Expressionismus lange einen Außenseiterstatus. Das begann sich erst nach ihrer Retrospektive im Whitney Museum 2002 zu ändern. Heute wird ihr Werk von einer neuen Malergeneration neu gelesen. Warum, denken Sie, hat es so lange gedauert, bis die Bedeutung ihrer Malerei für die Kunst des 20. Jahrhunderts wirklich gewürdigt wurde? — Albert Oehlen: Fast alle Maler der Generation des abstrakten Expressionismus hatten eine Art Erkennungszeichen. Bei Willem de Kooning ist es schon etwas komplexer, aber bei Franz Kline oder Clyfford Still oder auch bei Jackson Pollock ist es für den Laien ganz einfach, sich die Malerei zu merken. Meine These ist, dass diejenigen, die ein klares Erkennungszeichen haben, eher entdeckt werden. Diejenigen, die keines haben, müssen eben warten. Das war auch bei Joan Mitchell der Grund, warum es länger gedauert hat. Das ist für mich ohnehin die interessantere Kunst: wenn jemand auf einer formalen Ebene scheinbar nichts besonders Neues oder Auffälliges bietet, sondern sich in der Arbeit etwas Komplexeres abspielt, das neu ist. Das ist bei Mitchell der Fall. Sie hat nicht die schöne Linie, wie de Kooning sie hatte. Mitchell hat diese 20 Zentimeter langen Pinselstriche, was eigentlich unoriginell ist. Das Bild wirkt als Gesamtes, man muss es wirklich als Ganzes verstehen. Die Künstler vor ihr haben so etwas wie ein formales Stilmerkmal für sich erfunden und dann diese Welle durchexekutiert — von Franz Kline bis Hans Hartung. Es geht nicht darum, wer wo der Erste war. Die Zeit relativiert das ohnehin. Guston war auch zu spät dran und hat einfach auf der Leinwand gemalt — ohne diese JOAN MITCHELL in ihrem Studio, ca. 1960 originelle Signatur. Ich glaube, bei Mitchell ist dieser Verzicht auf die Signatur eher der Grund für ihre späte Entdeckung als der Umstand, dass sie eine Frau war. Empfinden Sie als Maler Nähe zu der Arbeit von Mitchell? — Die Übereinstimmungen zwischen unserer Malerei wären, dass man im Bild arbeitet, dass das Bild auf der Leinwand entwickelt und konstruiert wird, während man malt, dass eine Art Improvisation eine Rolle spielt. Eigentlich ist das eine rein technische Beschreibung, aber sie schließt zugleich viele Maler aus. Darin unterscheide ich mich etwa von Glenn Brown und von anderen Malern, die ich toll finde. Die gehen halt anders vor. Diese Idee, das Bild als eine Art Feld zu sehen, in dem etwas aufgebaut oder abgebaut wird, teilen nicht sehr viele Leute, und das ist der Grund, warum Mitchell für mich eine besondere Bedeutung hat. Mir gefällt, dass sie ihre Malerei direkt auf dem Bild erarbeitet und sie nicht schon vorher entwirft. Sie geht in die Tiefe, sie schichtet die Farben auf, schafft Plastizität. Sie selbst haben den Malereibegriff immer wieder formal erweitert und kritisiert und immer wieder mit REVUE 37 unterschiedlichen Medien gearbeitet. Sie prägen eine jüngere Generation von abstrakten und durchaus konzeptionellen Malern, zu denen etwa der Amerikaner Wade Guyton gehört. Joan Mitchell verkörperte da einen ganz anderen Typus der Malerei: Sie ignorierte die Massenkultur, sie stand Pop Art, Konzeptkunst und Minimal sehr kritisch gegenüber, auch Ironie war ihr in der Malerei eher ein Gräuel. Sie sagte einmal, dass es immer Maler geben werde, „wirkliche Maler“, und bezeichnete sich als „Konservative“. Glauben Sie, dass man heute noch so malen kann, mit der Leinwand als Arena? — Es kommt darauf an, wie es gemeint ist. Natürlich sieht das dann nicht sehr aktuell aus. Aber es gibt Maler und Malerinnen, die in diese Richtung arbeiten, Martha Jungwirth etwa, die gerade wiederentdeckt wird. Man könnte sagen, da ist die Zeit stehen geblieben, aber das ist gut so. Wenn die Zeit vergeht, verschieben sich die Maßstäbe, und dann ist jemand, der gut war, einfach gut, egal ob er oder sie nun 20 Jahre zu spät dran war oder zu früh. Wenn man so malen will, dann tut man das halt. INTERVIEW: OLIVER KOERNER VON GUSTORF UNTITLED, 1979 Triptychon, Öl auf Leinwand, 195 × 390 cm MERCI, 1992 Diptychon, Öl auf Leinwand, 280 × 360 cm weitgehend aus der Rezeption ihrer Malerei ausgeklammert. Das ändert jetzt die Ausstellung von Yilmaz Dziewior, der Mitchells Biografie wieder in die Nähe ihres Werkes rückt. Bereits 2011 erschien die fantastisch recherchierte, absolut gnadenlose Biografie Joan Mitchell: Lady Painter von Patricia Albers. Die macht auch vor intimen Details wie der Zahnprothese nicht halt, die Samuel Beckett in Paris nach einem Schäferstündchen mit Mitchell unter der Bettdecke suchen musste. Mit gelegentlich romanhaften Ausschmückungen entkleidet Albers Mitchell bis auf die Unterwäsche, führt ihre Verletzlichkeit vor, folgt ihr in Betten und Abtreibungskliniken, schildert ihre Lügen, ihre Großzügigkeit, ihre Grausamkeit. Doch wer diese Biografie liest, wird auch Mitchells großartige Kunst besser verstehen. Ihr Leben ist zwar ein Schlachtfeld, ihre Malerei aber die Antithese zum Action Painting. Bei Mitchell ist die Leinwand ein freies, transzendentes Territorium, auf dem die Künstlerin endlich selbstlos sein kann – ohne andere zu benutzen und zu manipulieren. In der Malerei öffnet sich diese Frau, die sonst nur durch extreme, selbstzerstörerische Reize REVUE 40 etwas spürt. „Musik, Landschaften, Hunde: Das bringt mich zum Malen“, sagt sie einmal. „Malerei erlaubt es mir zu überleben.“ nd so entsteht auch eines ihrer ersten Meisterwerke im Gedenken an ihren Hund. Georges du Soleil, Gorgeous George Sunbeam: Das sind die Kosenamen, die Mitchell 1952, dem Jahr, in dem Rosenbergs Action-Painting-Artikel erscheint, ihrem Pudel gibt. George ist ein letztes Geschenk ihres Mannes, Barney Rosset, der sich 1952 gerade von ihr scheiden lässt, weil er die Liebesaffären seiner Frau nicht mehr ertragen kann. Kurz hintereinander hat sie ein Kind U von ihm abgetrieben und das ihres Geliebten durch eine absichtlich eingeleitete Fehlgeburt verloren. Barney hat George aus Paris mitgebracht, wohin er für den Verlag Grove Press immer wieder reist. Barney geht. George der Pudel bleibt – zumindest vorerst. Ein schwarzes, glänzendes Fellknäuel, das, wie Mitchell einer Freundin schreibt, „sehr viel Zeit in Anspruch nimmt – ich habe noch nicht mal mehr Zeit, Leute nicht zu mögen. Tatsächlich ist dieser Pudel, übrigens ein Männchen, interessanter als alles andere.“ Im nächsten Sommer, den sie mit ihrem Geliebten, dem Maler Mike Goldberg, in den Hamptons verbringt, schenkt sie George ihren Nachbarn – weil sie ständig von ihm besprungen wird. Doch der schlecht erzogene Hund kehrt schon bald in ihr Sommerhaus zurück. Er wird krank. Nachdem sie fast ihr Leben riskiert, um ihn während eines Hurrikans zum Tierarzt zu bringen, gibt sie ihn am Ende dieses Urlaubs an einen Farmer ab. Kurz darauf wird George überfahren. Mitchell trauert tief und lange. ünf Jahre später, 1957, malt sie ein abstraktes Bild, das als eines ihrer besten in die Kunstgeschichte eingeht: George Went Swimming at Barnes Hole, But It Got Too Cold. Sie beginnt diese Erinnerung an ihren Hund und einen Tag am Meer mit einem großen Spritzer Gelb, den sie aber, als ihr der Hurrikan in den Sinn kommt, schon in der nächsten Nacht weiß übertüncht. Das Gemälde kühlt ab. Graue, frostige Blautöne erinnern an Winterhimmel. Aus dem Weiß schießt ein Wirbel aus horizontal gesetzten Pinselstrichen: Schwarzblau, Königsblau, Ocker, fahle Grün- und Brauntöne, zwischen denen Cadmiumrot aufleuchtet. Immer wieder wird das aufsteigende Weiß von sommerlichen Tönen gestreift oder durchbrochen: Sprenkel und Schlieren von Türkis, die an funkelndes Wasser denken lassen, warmes Gelb. Mitchell gelingt es, wie auch auf dem Bild Ladybug, das im selben Jahr nach einem New Yorker Konzert von Billie Holiday entsteht, Aufgewühltheit und meditative Ruhe in einer haarfeinen Balance zu halten. Der imaginäre Sprung ins Wasser wird zu einem Sprung in ein Meer von Empfindungen. Dennoch sind es, wie Mitchell betont, nicht innere Gefühlszustände, die hier zum Ausdruck gebracht werden, sondern Eindrücke der äußeren Welt, die sie in ihrem fotografischen Gedächtnis archiviert. Ihre Arbeit, so F erklärt sie, „entspringt der Landschaft und handelt von der Landschaft, nicht von mir“. 1957 vollzieht sich ein auffälliger Wandel. Im Schutzraum des Studios löst sich ihre Malerei allmählich von der Ästhetik der New York School hin zu einem mehr lyrischen, organischen Stil, der zugleich „akkurat“ ist, wie Mitchell ihn im Hinblick auf all die inneren Bilder und Landschaften nennt, die sie mit sich herumträgt. Malen, das sei für sie wie freihändig Fahrrad fahren. Eine Freiheit, die sie als „ziemlich kontrolliert“ beschreibt: „Ich schließe nicht meine Augen und hoffe das Beste.“ Immer wieder unterbricht sie den Malprozess, geht auf Distanz, um über den nächsten Schritt nachzudenken. Mitchell hat nicht nur ein fotografisches Gedächtnis, sondern auch Synästhesie, eine neurologische Kopplung unterschiedlicher Bereiche der Wahrnehmung. Sie nimmt Musik und Emotionen als Farben wahr. Das führt bereits in ihrer frühen Kindheit zu dem Gefühl, anders, isoliert zu sein. Der 1925 in Chicago als Tochter eines erfolgreichen Dermatologen und einer bekannten Dichterin und Erbin einer Stahl- und Brückenbauerdynastie geborenen Joan werden besonders vom Vater, einem begeisterten Hobbyaquarellisten, schon früh Leistung und Perfektion abverlangt. Doch Joan fällt immer wieder unangenehm auf. Als eine Kindergärtnerin der Vierjährigen das Alphabet erklärt und auf ein rotes A zeigt, widerspricht das Mädchen, das sei nicht wahr, es sei grün. Die anderen Kinder lachen sie aus. Erst 60 Jahre später spricht Mitchell über die Farben von Lauten und Buchstaben: A ist für sie leuchtendes Farngrün, J mattes Silber, N schmutzig braun und gelb gesprenkelt wie Laub im Herbst. Schon früh weiß Joan, dass sie Künstlerin werden will. Doch vor ihrem Studium an der School of the Art Institute of Chicago tritt zunächst der Sport in den Vordergrund. Obwohl sie körperlich kaum dafür prädestiniert ist, widmet sie sich auf Anregung des Vaters dem Eiskunstlauf und schafft es allein durch Disziplin und Ambition bis in die Nationalliga. Die Mischung aus lyrischem Exzess und Selbstkontrolle ist wohl das, was gerade Künstler heute an Mitchells Malerei interessiert. So schreibt den Katalogbeitrag zur Retrospektive auch kein kunsthistorischer Experte für die Nachkriegsmoderne, sondern REVUE 41 Malen ist für Joan Mitchell wie freihändig Fahrrad fahren. Eine Freiheit, die sie als „ziemlich kontrolliert“ beschreibt: „Ich schließe nicht meine Augen und hoffe das Beste“ Ken Okiishi, ein New Yorker Künstler, der Post-Digital Art und Malerei verbindet. Dazu diskutieren die Kunsttheoretikerin Isabell Graw und die Malerin Jutta Koether über Mitchells Bedeutung – zwei Frauen, die die Institutionskritik und die Gender-Debatten der letzten Jahrzehnte entscheidend mitbestimmt haben. Doch scheitert nicht alle Theorie an dieser widerspenstigen Joan Mitchell? Einer Künstlerin, die zu Beginn der 60er-Jahre, als Pop Art und Farbfeldmalerei auf dem Vormarsch waren, stöhnte: „Nur Geld, keine Kathedrale.“ Einer Frau, die 1968, als die Studenten rebellierten, die Blümchen in ihrem Schloss goss und ihr Auto volltankte, damit sie schnell über die Grenze käme? Schon einmal, 1974, wurde Mitchell wiederentdeckt. Damals war es die feministische Kuratorin Marcia Tucker, die ihr eine große Einzelausstellung im Whitney widmete. Ursprünglich sollte es eine Doppelausstellung mit Lee Krasner werden, doch Mitchell sagte nur unter der Bedingung zu, dass sie allein würden ausstellen können. Tucker reiste nach Vétheuil, geriet in einen Streit zwischen Mitchell und Riopelle, bei dem sie fast von einem Teller getroffen wurde. Erst als sie drohte, die Schau abzusagen, wenn Mitchell sich nicht benähme, lenkte diese ein. Als Tucker abreiste, schrieb die Künstlerin an eine Freundin: „Miss Kurator Whitney war hier. Joan hat das Gefühl, Miss Whitney missbraucht sie für die Frauenbewegung.“ ass immer wieder feministische Kuratorinnen und Künstlerinnen so großes Interesse an Mitchell zeigen, liegt sicher auch an der Intensität der Bilder, die an die besten Gemälde der abstrakten Expressionisten heranreichen und doch auf große Überwältigungsgesten verzichten. Mitchell ist die wohl beste amerikanische Malerin des 20. Jahrhunderts. Ihre Bilder sind D aber nicht nur wichtig, weil sie von einer sehr eigenwilligen Frau gemalt sind, sondern weil sie zeigen, dass derart intensive Malerei ohne jeden chauvinistischen Gestus möglich ist. Besonders deutlich machen das die Werke der frühen 60er-Jahre, die in einer Zeit entstehen, als die Malerin fast vergessen scheint. Mit Riopelle führt sie ein bourgeoises Leben in Paris, kümmert sich um ihre Stiefkinder und um ihre kranken Eltern in Chicago, die beide kurz hintereinander sterben. Und sie malt. Auch nachdem Clement Greenberg dafür gesorgt hat, dass sie 1962 von ihrer Pariser Galerie gefeuert wird. „Werde diesen gestischen Horror los!“, riet er dem Galeristen. Mitchell ist außer sich vor Wut und bezeichnet ihn als „Klobrille“. Der Horror, das sind diese fantastischen Bilder wie Grandes Carrières, Frémicourt und Bonhomme de Bois, in denen sie eine völlig neue Freiheit entwickelt. Zu den gedämpften Tönen kommen leuchtendes Pink, Korallenrot, Altrosa, die Mitchell wie einst Turner in Rauchwolken aufblitzen und tanzen lässt. „Joan kann Gelb schwer aussehen lassen“, hat Brice Marden einmal gesagt. Mitchell lässt die Pigmente aufschweben, fallen, in Blitzen explodieren oder zu Wolken kumulieren. „Es gibt beispielsweise diese Arbeiten, die sehr filigran und sehr atmosphärisch sind“, sagt Yilmaz Dziewior. „Mittendrin ist dieser grüne Klumpen, wie hingeworfene Erde. Man hat das Gefühl, als wäre man über ein Feld gegangen und an den Schuhen haftet noch Lehm, dieses Braun. Und dieser Fleck ist brachial auf die filigrane Struktur gesetzt. Er zerstört eigentlich das Bild, das wunderschön ist. Das ist für mich nicht nur dieses lyrische Evozieren einer Landschaft oder einer Tages- oder Jahreszeitatmosphäre, sondern drückt auch kompositorische Distanz aus.“ Mitchell hätte bestimmt etwas Zynisches dazu gesagt, besonders in ihren alten, störrischen Tagen. Einen Bewunderer, der sich wegen ihres Umgangs mit der Farbe gar nicht mehr einkriegte, beruhigte sie: „Baby, sie kommt aus der Tube.“ SUNFLOWERS, 1990/91 Diptychon, Öl auf Leinwand, 280 × 400 cm Rechts: JOAN MITCHELL, 1988 fotografiert von ROBERT MAPPLETHORPE YVES, 1991 Öl auf Leinwand, 280 × 200 cm JOAN MITCHELL: RETROSPEKTIVE. HER LIFE AND PAINTINGS. KUNSTHAUS BREGENZ, 18. JULI BIS 25. OKTOBER 2015 JOAN MITCHELL, MUSEUM LUDWIG, KÖLN, 14. NOVEMBER 2015 BIS 21. FEBRUAR 2016 REVUE 42 ES MUSS NICHT IMMER MOMA SEIN DIE KLEINSTEN MUSEEN SIND OFT DIE SCHÖNSTEN. WIR HABEN DIE DIREKTOREN VON SECHS GROSSEN INSTITUTIONEN NACH IHREN SEHNSUCHTSORTEN GEFRAGT – ES SIND INTIME MUSEEN, IN DIE ES SIE IMMER WIEDER ZURÜCKZIEHT. EINE SOMMERREISE VOM TESSIN BIS NACH ISTANBUL UDO KITTELMANN, NATIONALGALERIE CONGIUNTA IN GIORNICO er Weg zu meinem Museum ist ganz entscheidend. Früher hat man Kirchen auf Hügeln gebaut. Die Wegstrecke gehörte zur meditativen Vorbereitung. Die Mühe muss sein. So komme auch ich auf dem Weg zur Ruhe, stimme mich ein. Mein Museum liegt in einem Tal, das fast jeder kennt. Dort fließt der berühmte Ticino. Sein Wasser läuft hinunter zum Schweizer Ende D REVUE 44 „Halte an der Osteria und trink einen Kaffee. Nimm dir etwas Zeit. All das gehört zum Ritual“ UDO KITTELMANN: LOREM IPSUM NAME des Lago Maggiore. Die Städte Locarno und Ascona kennt man dort natürlich – mein Museum nicht. Wenn man es finden will, muss man vom Lago Maggiore das Ticinotal hoch, eine Stunde, immer weiter. Man kann sich nicht verfahren. Irgendwann kommt ein kleiner Ort: Giornico. Halte an der Osteria an und trink einen Kaffee. Nimm dir etwas Zeit. All das gehört zum Ritual. Und dann frag an der Bar nach dem Schlüssel für das Museum: La Congiunta. Er wird dir anvertraut werden. Das Haus steht auf einer Wiese am Dorfende. Ein Betongebäude. Der Architekt Peter Märkli hat das Haus für Reliefs und Halbfiguren von Hans Josephsohn gebaut. Und du hast jetzt den Schlüssel. Es geht um Vertrauen, Bereitschaft, Offenheit. Dann öffnest du das Haus. Und dann bist du drin. Allein mit den Skulpturen, mit den Halbfiguren, mit den Reliefs, ganz allein in der Natur mit dem großartigen Werk von Hans Josephsohn. Er ist einer der wichtigsten Künstler überhaupt – für mich und mittlerweile auch für viele andere. Als ich vor vielen Jahren, in den frühen 2000ern, das erste Mal einer Skulptur von ihm begegnete, umschritt ich immer wieder die großen Halbfiguren aus Gips mit ihren rauen Oberflächen. Ich habe sie mit meinen Handflächen berührt. Diese krasse Körperlichkeit und Materialität einer Skulptur, der menschlichen Figur kannte ich bis dahin nur von Medardo Rosso und Alberto Giacometti. Josephsohn, 1920 in Königsberg geboren, studierte in Florenz und floh als verfolgter Jude in die Schweiz. Im Tessin begreift man seine Arbeit erst richtig. Sie findet ihre Entsprechung in den Felszügen. Ich war sehr eng mit Josephsohn, der 2012 im Alter von 92 Jahren verstorben ist. 2010 habe ich entschieden, dass die erste Skulptur auf der Terrasse von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin nach 25 Jahren eine frühe Arbeit von ihm aus der Gruppe der großen Halbfiguren und Liegenden sein soll. In La Congiunta stellt sich mir immer die Frage: Braucht die Kunst mehr verwunschene Orte, Orte des Rückzugs, wo nicht immer alles verfügbar ist? Das hat natürlich etwas Sakrales. Man ist ganz allein mit sich und den Skulpturen. Man darf sie berühren. Und der Schlüssel ist sehr symbolträchtig: Man trägt die Verantwortung für dieses Haus – einen Besuch lang. UDO KITTELMANN IST DIREKTOR DER BERLINER NATIONALGALERIE, ZU DER SECHS MUSEEN IN DER STADT GEHÖREN REVUE 45 MAX HOLLEIN, STÄDEL MUSEU FREDERIC MARÈS „Eine schier unendliche Sammlung von Sammlungen“ ein absoluter musealer Geheimtipp führt nach Barcelona: Es ist das Museu Frederic Marès, das sich im Gotischen Viertel der Hauptstadt Kataloniens befindet, in einem altehrwürdigen mittelalterlichen Gebäude, und sei all jenen wärmstens empfohlen, die sich bei einem Museumsbesuch in ein besonderes, umfassendes Universum begeben wollen. Das Haus beherbergt seit rund 15 Jahren neben einer wertvollen Sammlung spanischer Skulpturen aus dem 12. bis 19. Jahrhundert auch eine schier unendliche Sammlung SIR NICHOLAS SEROTA, TATE LITTLE SPARTA ines meiner Lieblingsmuseen ist Little Sparta in den Pentland Hills in der Nähe von Edinburgh, ein Skulpturengarten, den Ian Hamilton Finlay geschaffen hat. Finlay war ein Bildhauer, der in den frühen 60er-Jahren zunächst mit Gedichten und Kurzgeschichten bekannt wurde. 1966, als er 40 Jahre alt war, begann er diesen Skulpturengarten anzulegen. Er inszenierte seine skulpturalen Arbeiten in den Gebäuden und im Garten und verband auf ganz besondere Weise Kunst und Natur mit intellektuellen Themen. Man „Jeder Teil des wandelt durch den Garten wie durch Gartens erzählt die Säle eines Museums. Jede Sektion hat ihren eigenen Namen und erzählt eine eigene eine andere Geschichte. Es sind Geschichten, die sich auf die Antike, Geschichte“ auf die Renaissance und die Französische Revolution beziehen. Da gibt es zum Beispiel „English Parkland“ mit einer großen Wiese, auf der fünf flache Steine liegen. In alle ist das Wort „Welle“ eingemeißelt, jeweils in einer anderen Sprache. Es sind one-word poems, mit denen Finlay berühmt geworden ist. Besonders beeindruckt mich auch „The Roman Garden“. Dort stößt man zwischen großblättrigen Grünpflanzen überall auf kleine Steinskulpturen: kleine Steinmodelle von Flugzeugen und U-Booten. Ich lernte Finlay als jemanden kennen, den kriegerische Konflikte sehr beschäftigt haben. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sah er Litte Sparta als eine Art Schlachtfeld. Und doch wirkt sein Skulpturengarten still und friedlich, bildet eine Einheit aus Kunst und Natur. 30 Jahre lang besuchte ich Finlay immer wieder dort draußen, wo er bis zu seinem Tod 2006 auch lebte, und konnte dabei zusehen, wie der Garten allmählich auf anderthalb Hektar anwuchs. So wie eben jedes Museum wächst. E M von Sammlungen. Raum um Raum durchschreitet man hier erstaunliche Kollektionen von Haarkämmen, Uhren, Fotografien, Spielzeug, Spazierstöcken, Zigarrenbanderolen, Schlüsseln, Fächern und vielem mehr. Der Bildhauer und Begründer des Museums, Frederic Marès (1893 – 1991), entdeckte bereits in jungen Jahren seine Sammelleidenschaft. Er schuf nicht nur selbst Skulpturen, sondern widmete sich auch manisch dem Bewahren von Gegenständen und Kuriositäten, die unser Leben abbilden. Die Figur Marès’ und sein Museum sind damit auch Sinnbild des ewigen Menschentriebs, die Welt qua Sammeln zu ordnen, zu strukturieren und letztlich zu handhaben. MAX HOLLEIN IST DIREKTOR DES STÄDEL MUSEUMS, DER SCHIRN KUNSTHALLE UND DES LIEBIEGHAUSES IN FRANKFURT SIR NICHOLAS SEROTA IST DIREKTOR DER TATE GALLERY IN LONDON REVUE 46 des Erzählers raucht, die Fotografien, die ihre Kindheit dokumentieren –, nimmt man gleichsam körperlich am Geschehen teil. Pamuk erfindet dieses unglaublich üppige Leben eines Mannes und das der Liebe seines Lebens und versammelt die von der Geliebten gesammelten Gegenstände wie in einem Museum. So kam Pamuk während des Schreibens die Idee, selbst ein Museum einzurichten – gewissermaßen als Erweiterung seines Romans. Er erwarb dieses kleine, wunderschöne Haus in dem Teil von Istanbul, in dem seine Geschichte spielt, und verbrachte fast zehn Jahre damit, mit Architekten, Ingenieuren und Konservatoren ein winziges, perfektes Museum aufzubauen, in dem die Handlung in ihren Gegenständen physisch präsent wird. Was mich besonders fasziniert, ist dieses Zusammenspiel von Fakt und Fiktion. Schon immer hatte ich den Verdacht, dass im Roman auch autobiografische Aspekte stecken. Und als ich mit Pamuk durch das Museum ging, wies er wiederholt darauf hin, dass unter den vielen Fotografien, die vermeintlich die Liebesbeziehung dokumentieren, GLENN D. LOWRY, MOMA auch solche sind, die aus seiner eigenen Kindheit stammen. Heimlich hat er seine eigene Person in die museale Erzählung verwoben. Auch einige der Gemälde, die man in Vitrinen und Schränken betrachten kann, sind von ihm gemalt. on großen Museen wie Ja, und nicht zuletzt mag ich am Museum der Unschuld, dass „Was mich besonders der National Gallery in es völlig abseits liegt. Es gibt ja all diese großen, bedeutenden fasziniert, ist dieses London oder der Neuen Museen in Istanbul: das Topkapı Sarayı, das Museum für Türkische Zusammenspiel von Nationalgalerie in Berlin kann und Islamische Kunst, das Istanbul Modern, und alle befinden ich begeistert sein. Was mich sich in den hochfrequentierten touristiFakt und Fiktion. aber noch mehr interessiert, sind schen Quartieren. Nur das Museum Orhan Pamuk hat die kleineren Museen, die eine der Unschuld hat sich mitten in eine bestimmte Geschichte erzählen. Wohngegend zurückgezogen. Es ist, heimlich seine eigene wie das Museum der als wäre man von der Hauptstraße Person in die museale Orte Unschuld erzählen sie mit abgekommen und in eine kleine Gasse Erzählung verwoben“ solcher Präzision, dass die geraten – man nähert sich dem Museum ausgestellten Objekte regelrecht fast wie einer Liebesgeschichte. zum Leben erweckt werden. Als ich zum ersten Mal Orhan Pamuks Museum der Unschuld las, war ich völlig gebannt. Es ist ja eine ziemlich komplizierte Liebesgeschichte, von der das Buch handelt. Aber durch die Art, wie GLENN D. LOWRY IST DIREKTOR DES MUSEUM OF MODERN ART IN NEW YORK die Dinge beschrieben werden – die Zigaretten, die die Geliebte DAS MUSEUM DER UNSCHULD V REVUE 47 MARION ACKERMANN, K20/K21 MUSEO CANOVA IN POSSAGNO „Jeder Sockel ist einzeln gestaltet, überall sind kleine Fenster eingelassen – die Lichteffekte heben die Skulpturen wunderbar hervor“ er eine Sommertour durchs Veneto plant, sollte unbedingt bei dem kleinen Museo Canova in Possagno haltmachen, dem Geburtsort des neoklassizistischen Bildhauers Antonio Canova. Es liegt in der Nähe von Bassano, woher der berühmte Grappa kommt – vor dem Haus steht eine riesige, alte Pinie. Ich war das erste Mal vor etwa zehn Jahren dort, als ich den Freundeskreis des Kunstmuseums Stuttgart durch die Region führte. Da wir auch Verona im Programm hatten, wurde der venezianische Architekt Carlo Scarpa zu einem Leitfaden unserer Reise. In Verona hatte er mit dem Castelvecchio zum ersten Mal in den 60er-Jahren ein W mittelalterliches Museum zu einer Gesamtinszenierung gebracht, bei der Sockel, Vitrine und vor allem die Lichtwirkung exakt festgelegt worden sind. Im Jahr 1957 hatte Scarpa dem Museo Canova einen Flügel angefügt, in dem Canovas Skulpturen in einem unglaublichen puristischen Arrangement wie ein Gesamtkunstwerk inszeniert sind. Jeder Sockel ist einzeln gestaltet, überall sind kleine Fenster eingelassen – so entstehen Lichteffekte, die die Materialität der Gipse und Marmorskulpturen auf wunderbare Weise hervorheben. Dunkle Metallelemente betonen zudem die Linearität des Raumes, sie fungieren wie ein zeichnerisches Gerüst, das die einzelnen Skulpturen miteinander in Beziehung setzt. Gleichzeitig entstehen dadurch aber auch reizvolle Korrespondenzen zu den Volumina der einzelnen CanovaSkulpturen. Scarpa war ein Architekt, der musealen Raum bis ins Kleinste durchgestaltete. Damit hat er die Ausstellungsräume perfektioniert, festgelegt und natürlich immobil gemacht: Was für ein Kontrapunkt zu uns heute, die wir unsere Museen ständig „erneuern“ und die Räume „in Bewegung halten“. Scarpas perfekte Gestaltung mit ihrer Tendenz zur dauerhaft festgeschriebenen Statik sehe ich deshalb nur als eine Möglichkeit der Momentaufnahme, danach ist das Museum wieder in die Wandlung aufzulösen. MARION ACKERMANN IST DIREKTORIN DER KUNSTSAMMLUNG NORDRHEIN-WESTFALEN (K20 UND K21) REVUE 48 WIM PIJBES, RIJKSMUSEUM MUSEUM VAN LOON irekt an einer Gracht in Amsterdams Altstadt steht ein herrschaftliches Wohnhaus aus dem 17. Jahrhundert. Die junge Frau van Loon lebt hier unter dem Dach – seit 1884 gehört das Haus ihrer Familie, die während der Kolonialzeit zu Reichtum kam. Sie förderte Kunst im großen Stil, vergleichbar mit dem Königshaus. 1960 beschlossen die Van Loons, ihren Wohnsitz für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und so ist er heute ein Museum. Ich fahre oft mit dem Fahrrad vorbei, denn von hier sind es nur fünf Minuten zum Rijksmuseum. Meinen Freunden aber, die zum ersten Mal Amsterdam besuchen, sage ich immer: „Geht als Erstes ins Museum Van Loon.“ Denn als ich 2008 nach Amsterdam zog, hatte ich das Gefühl, mit einem Besuch D dort auf kleinstem Raum die „Allein schon der ganze Stadtgeschichte zu Geruch antiker erleben. Allein schon der Geruch antiker Möbel, Möbel, schwerer schwerer Vorhänge und alter Vorhänge und Teppiche vermittelt das Gefühl alter Teppiche einer anderen Zeit. Und der Feinsinn, mit dem hier Porzelvermittelt lan, Schmuck und mit floralen Mustern bedruckte das Gefühl einer anderen Zeit“ Stofftapeten aufeinander abgestimmt sind, beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue. Besonders charmant ist im Obergeschoss das Elternschlafzimmer mit rotem Baldachin über dem Bett, das auf einem zierlichen Marmorpodest thront. Trotz barocker Pracht ist hier nichts überladen; vor allem wenn Licht durch die Zimmer strömt, spürt man die harmonische Einheit des ganzen Hauses. Fast hat man das Gefühl, die Bewohner wären nur kurz ausgegangen: Unten im Wohnzimmer steht eine mit Silber gedeckte Tafel, in der Küche liegt Brot in einem Korb. Man kann auch in den Garten hinaustreten, der in geometrischen Mustern angelegt ist. Das Wichtigste sind für mich jedoch die Gemälde: Hier findet man eine der größten Ahnengalerien der Welt! Das Bild, das die Hochzeit von Willem van Loon und Margeretha Bas darstellt, 1637 von Jan Miense Molenaer gemalt, ist für mich das wichtigste Stück: Die feine Detailgenauigkeit, mit der der Frans-Hals-Schüler die Kleidung der Hochzeitsgäste mit ihren Spitzen und Faltenwürfen auf die Leinwand gesetzt hat, fasziniert mich ebenso wie die kleinen Gesten und Gesichtsausdrücke, durch die jede Figur ihren eigenen Charakter erhält. Die junge Frau van Loon organisiert übrigens Ausstellungen mit Altmeistern und zeitgenössischer Kunst. Für mich ist das Haus ein echtes Phänomen. REVUE 49 WIM PIJBES IST GENERALDIREKTOR DES RIJKSMUSEUMS IN AMSTERDAM Andreas Schulze MAN HAT SICH AN DEN BERUF GEWÖHNT OHNE TITEL (REISEABTEIL), 2010 Acryl auf Nessel, zweiteilig, 190 × 320 cm Die Unbestechlichkeit der Schildkröte: Seit mehr als 30 Jahren arbeitet Andreas Schulze an und in seinem Paralleluniversum. Wie beispiellos es geraten ist, zeigt jetzt die 80er-JahreAusstellung im Frankfurter Städel. Ein Atelierbesuch beim großen Unbekannten der deutschen Malerei TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER FOTOS: PETER KAADEN N un könnte man ein bisschen mit der Eisenbahn spielen. Aber man ist ja da, um über den Wurstaltar zu reden. Dabei lässt sich die Überraschung, so tief im Jahr da und dort noch auf weihnachtlichen Nachlass zu stoßen, kaum verhehlen. Schon bei der Ankunft leise Verwirrung. Nichts hier im Hinterhof in der Kölner Südstadt deutet auf kreative Verdichtung hin. Kita, Zahnlabor, Ersatzteillager: Manches könnte sich hinter den Wänden verbergen. Und man sucht die Fenster ab nach durchscheinenden Zeichen der Kunst und findet keine. Und dann winkt der Assistent auf der Kellertreppe. Und Andreas Schulze beugt sich über die Modellhäuschen und dreht ein wenig am Trafo. Es sieht hier unten auf gepflegte Weise verwohnt aus, als sollte die Einrichtungsnorm gut sichtbar unterboten werden. Und während das Züglein mit den drei Wagen einmal vorwärts- und einmal rückwärtsrollt, fällt einem das staubige Wort „Stube“ ein. Und man denkt sich dazu die Bilder voller umwachsener Fertighäuser, die Andreas Schulze in den frühen 80er-Jahren aus schräger Vogelperspektive gemalt hat, als flöge er mit dem Hubschrauber über die Siedlung und schaute den Leuten auf den Beistelltisch mit der Häkeldecke. Damals sollte das ja alles nichts zu bedeuten haben. Es war eine wundersam alberne, etwas angestrengt krasse Epoche. Ausstellungen hießen Finger für Deutschland oder Wenn das Perlhuhn leise weint. Albert Oehlen malte das Bild Doris hat das Ficken satt. Martin Kippenberger gab das Buch Durch die Pubertät zum Erfolg heraus. Andreas Schulze war mit von der Partie, hat mit den Freunden ausgestellt, aber zu keinem der Jungmännerbünde gehört. Auch nicht zur Mülheimer Freiheit, jenem legendären Kölner Gemeinschaftsatelier, in dem sich Hans Peter Adamski, Peter Bömmels, Walter Dahn, Jiří Georg Dokoupil, Gerard Kever und Gerhard Naschberger in neoexpressiver Banalmalerei verausgabten. Man traf sich – schon etwas ermattet – zur heiteren Bilanz unter der Parole „Rundschau Deutschland“. Andreas Schulze steuerte seine Fertighausbilder bei. Ansonsten sah er zu, wie die Kollegen in der Galerie von Paul Maenz als „Neue Wilde“ vermarktet wurden. Lange hielt REVUE 52 der Rausch ohnehin nicht an. Als man merkte, dass es keine Bilder ohne Bedeutung gibt, ging jeder seinen eigenen Weg. Bilder ohne Bedeutung? „Nee, nee“, sagt Andreas Schulze. „Immer ist was dahinter.“ Er knurrt ein wenig, wenn er etwas sagt. Und zögert, ob er was sagen soll. Und sagt nicht viel an diesem Nachmittag. Als gälte es, der Verführung zu widerstehen, sich in Lebensräume ziehen zu lassen, die man schon längere Zeit nicht mehr betreten hat. Wer hätte sich damals auch vorstellen können, dass man 35 Jahre später mal so aussehen würde: ärmellose, blaue Weste, gelber Schal, dicke Brille, zurückgekämmte Haare. Mehrere Wochen später trifft man sich zufällig auf einem Bahnhof wieder. Und wieder die blaue Weste, der gelbe Schal. Es ändert sich jetzt nicht mehr viel. Wie sich überhaupt nie viel verändert hat. Es gibt lange Serien in diesem Werk, abgeschlossene, unabschließbare. Es gibt die Kugelbilder und Wellenbilder, die Rahmenbilder und Erbsenbilder, Bilder mit schwebenden Schachteln und andere mit gestauchten Autos und wieder andere mit Röhren, aus denen Gase, Schwaden, Dämpfe zischen. Es gibt den Wurstaltar: ein Tisch, mit einer rot-gelb-blauen Husse überzogen, über dem etwas schwebt, das an eine prall gestopfte Riesensalami erinnert. Aber all die erstaunlichen Dinge folgen in sehr gemächlichem, völlig undramatischem Wechsel aufeinander. Lösen einander ab, ohne sich gegenseitig zu überbieten. Und nie lassen die neuen Bilder die alten hinter sich. Und vergeblich wohl, darauf zu warten, dass ein Alterswerk noch einmal einen Sturm entfachen könnte, der alles Vorangegangene entwurzelt. „Mmh“, sagt er. Und „mmh“ klingt wie Ja mit Vorbehalt. Seit 2008 ist er Professor für Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er einst bei Dieter Krieg studiert hat. Krieg, ein unbeirrbarer Einzelgänger unter den Malern der 70er- und 80er-Jahre, ist mit seinen großgestischen Inszenierungen belangloser Motive im Werk des ehemaligen Meisterschülers bis heute spürbar. Auch wenn sich Schulze von der übertourten Dynamik des Lehrers bald ebenso weit entfernte wie vom absichtsvollen bad painting DIE ERFAHRUNG ZEIGT: WENN ER DEN FUSS RUNTERNIMMT, WÄCHST SICH DIE PLÜSCHTIERDELLE WIEDER AUS. ANDREAS SCHULZE IN SEINEM KÖLNER STUDIO, JUNI 2015 OHNE TITEL (AUTOWERKSTATT ), 2014 Acryl auf Nessel, 200 × 200 cm seiner Freunde. Es ist der schmale Grat zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, auf den ihn der eigene Weg führen sollte. Und dort turnt er bis heute überaus virtuos und lässt an den Dingen, die er malt, just so viel zu, dass man sie zu erkennen meint, und nimmt wieder just so viel weg, dass sie mit ebenso guten Gründen als Muster oder Ornament durchgehen könnten. Darüber müsse er jetzt nachdenken, sagt Andreas Schulze und blättert im Katalog seiner Ausstellungstournee, die nach Stationen in Esslingen und Bonn gerade im Schweizerischen St. Gallen ihren Abschluss gefunden hat. Für den Juli plant das Frankfurter Städel eine Übersicht zur Kunst der 80er-Jahre, bei der auch er wieder einen großen Auftritt haben wird. Schulzes Bilder standen nie im Schatten. Und doch ist es, als würde neues, helles Licht auf sie fallen und die Unbestechlichkeit der malerischen Position erst jetzt wirklich gewürdigt. Wie wichtig ist es ihm, Erfolg zu haben? „Ist schon wichtig“, brummt er. Und wenn sich keiner für seine Bilder interessierte, würde er trotzdem weitermalen? „Mmh.“ Und „mmh“ klingt wie Nein mit Vorbehalt. REVUE 54 E s ist in allen Schulze-Ausstellungen zu beobachten, wie die Leute ungewöhnlich lange vor den Bildern ausharren. Nicht dass es tief versteckte Zeichen zu entdecken und entschlüsseln gäbe. Wenn die Beschriftung Reiseabteil sagt, dann hat das beim Blick aufs Bild auch eine gewisse Plausibilität: Die wulstigen Formen lassen durchaus an Sitze in einem Bahnabteil denken. Und die bauchige Molluske mit den schlingernden Tentakeln erfüllt alle Anforderungen des Titelversprechens vom gestrandeten Kraken. Was einen hält vor diesen Bildern, ist etwas anderes: Es hat LOREM IPSUM 2010, 31 × 51 cm Es war die Sehnsucht danach, dass es etwas gibt, was so ist, wie es ist – und das wahr ist, auch wenn es nur eine Hundertstelsekunde in dieser Form existiert OHNE TITEL (KRAKE VON LINKS), 2014 Acryl auf Nessel, 130 × 110 cm weniger mit dem Geheimnis der Dinge als mit ihrer sonderbaren Konsistenz zu tun. Irgendwie hat man das Gefühl, die Formen bräuchten ein bisschen Zeit, um sich auszudehnen, um ihre kissenartigen Gegenstände aufzublasen, Zeit, um zur vollen Größe und mehr noch zur vollen Schwere anzuwachsen. ewissermaßen seien es ja gemalte Skulpturen, die man sich auch auf einem Platz in einer Kleinstadt vorstellen könne, als Brunnenfiguren etwa, aus denen es da und dort herausspritzt. Das war der längste Satz an diesem Nach- G mittag. Und länger wird man sich nun über das gemalt Skulpturale, also Blasige der Gegenstände unterhalten, über ihre bemerkenswerte Tendenz zur weichen Schwere und zum rundlichen Design, was sie ja doch auch etwas komisch aussehen lässt. Wenn es aus einem Mauerloch neblig bläst, als pustete dahinter einer mit schrecklichem Mundgeruch, und ein Huhn auf die Mauer zuspaziert und im Hintergrund ein Stück schematisierter Farmlandschaft klebt, dann wird man der Komposition keinen übertriebenen Ernst attestieren wollen. Ganz offensichtlich führt in diesem Werk REVUE 56 ein surrealer Übermut Regie, der sich aus ziemlich heillos-ironischen Abständen zur Welt der Dinge und Verhältnisse speist. Abstände, aus denen die Welt wie eine Spielzeugwelt erscheint, die unversehens auch etwas Bedrohliches annehmen kann. Wie das Monsterbaby im Film, das hilflos durch die Stadt tapst und dabei alles zertrampelt. Noch waltet ja eine gewisse Ordnung in Schulzes Kuriositätenkabinett. Wenn er die Beine aufs Plüschtier legt, dann kriegt es eine Delle, doch die wächst sich auch wieder aus. Aber irgendwie wird man das Gefühl nicht los, es könne OHNE TITEL (SEESTÜCK /5 SORTEN WASSER), 2011 Acryl auf Nessel, zweiteilig, 170 × 440 cm hier im sogenannten Wohnbereich bald einmal zu einem Aufstand der Dinge kommen und das ganze System der Künstlichkeit sei nicht weit davon entfernt, in einem psychotisch-schwarzen Loch zu verschwinden. ielleicht ist Malerei ja doch so eine Art Kampf dagegen. Und vielleicht ist mehr noch auf die Treue Verlass, mit der der Maler bei seiner Sache geblieben ist. Wenn man an Wandel und Wechsel bei seinen ehemaligen Weggefährten denkt, dann muss die Verbohrtheit, mit der Schulze seinen malerischen Blick auf die V Welt kultiviert, umso mehr auffallen. Man hat gelegentlich behauptet, wenn man ein Schulze-Bild gesehen habe, habe man im Grunde alle gesehen. Das ist mindestens fahrlässig geurteilt. Denn eine SchulzeAusstellung kann eine überaus vergnügliche Erfahrung sein mit immer neuen Überraschungen an den Wänden oder im Raum, wo an keiner Stelle Überdruss an der Repetition aufkommt. Aber richtig ist schon auch, dass es so etwas wie ein Schulze-Klima gibt, das mit ziemlicher barometrischer Stabilität nun seit über drei Jahrzehnten anhält. REVUE 57 Wie soll man es beschreiben? Es ist, als kündeten die Formen und Dinge, die ja malerisch, koloristisch allesamt gut oder sogar überversorgt scheinen, doch von einem eher prekären Weltverhältnis – so als wären die Gegenstände überhaupt nur zu ertragen, wenn man sie ein bisschen ärmlich gibt, ihnen das Gewese der Bedeutungen nimmt, ihrem Hang, immer gleich Zeichen sein zu müssen, entgegensteuert, indem man ihnen eine Art Speckschicht aufmalt, die sie so wunderlich aussehen lässt, dass der Popanz Sinn wie von selbst zerschmilzt. EINBLICKE IN ANDREAS SCHULZES ATELIER, IN DEM DIE DINGE KURZ DAVOR SIND, DEN AUFSTAND ZU PROBEN W ährend sich die Malerei der 80er-Jahre unter Ausnutzung der Hirnlosigkeit ihrer Adoleszenz noch einmal richtig austoben wollte und dem Sinnversprechen der Kunst mit frivolen Unsinnsbehauptungen begegnete, legte Andreas Schulze die Beine aufs Plüschtier und wartete, bis sich die Delle wieder auswuchs. Bilder sind in diesem Werk immer auch Selbstversteck, hermetische Kulissen, hinter denen der Autor es sich gemütlich oder auch, wer weiß, ungemütlich macht. Und wenn man mit ein wenig Übung sogleich erkennt, von wem die Kulissen stammen, dann gibt es doch wenige Künstler, die mit so viel Unbeirrbarkeit so wenig aus sich machen. Das Understatement, mit dem Andreas Schulze seine Künstlerrolle spielt, und die Radikalität, mit der er seine Bilder aus all dem heraushält, was der Kunstdiskurs an saisonalen Verhaltensvorschriften umzuwälzen pflegt, machen ihn gerade für jüngere Maler zu einem Vorbild an Authentizität. Und ihre Bewunderung gilt einem Werk, das auch ohne Abstützung durch Konzeptualismus, Institutionenkritik und andere zeitgenössische Gehhilfen gut frei steht und seinen Einzelrang mit schon faszinierender Gelassenheit verteidigt. REVUE 58 Wobei einem so viel Gelassenheit ja auch suspekt vorkommen darf. Die Autobilder zum Beispiel. Wären nicht wenigstens sie zu retten – als kritischer Kommentar zur mobilisierten Zivilisation? „Tut mir leid“, sagt der Maler. „Es ist drauf, was man sieht.“ Und so, wie er es sagt, ist es die schiere Provokation. Nur dass Schulze nie provoziert hat, in keiner Skandalchronik vorkommt und nie behauptet hat, dass die Geschichte der Malerei mit ihm begonnen habe und mit ihm an ihr Ende kommen werde. Dafür hat er wider die Hybris der immerwährenden Moderne die denkbar trefflichsten Gegenfiguren erfunden, Formen OHNE TITEL (MORRIS NOLDE/RÜGEN), 2009 Acryl auf Nessel, zweiteilig, 240 × 380 cm Sein Understatement, seine radikale Authentizität machen ihn gerade für jüngere Maler zum Vorbild mit viel Luft – zum Aufblasen oder zum Ausblasen, also leere Formen. Und was sich aufblasen lässt oder Luft verliert, wirkt komisch, ob es will oder nicht. ndererseits, gibt Andreas Schulze zu bedenken, empfinde er seine Bilder gar nicht als so komisch. Allenfalls wenn er Arbeiten anderer Künstler in Betracht ziehe, die ja doch sehr ernsthaft seien, dann falle ihm der Unterschied schon auf. Es gab den Unterschied von Anbeginn. Von Anbeginn dieses seltsame Malen, das nichts eigentlich erfindet, das sich stets an irgendein gesehenes, erinnertes Sujet hält und dann malend zusieht, wie die Dinge unter der Hand aus der Form geraten, bis sie wie ein behäbiger Gargantua im Bild sitzen und immer A erstaunlicher werden. Dabei habe er doch alles vorweg und ganz genau im Kopf. Das zumindest bitte er unmissverständlich mitzuteilen. Weshalb man jetzt rübergeht, ein paar Schritte um die Ecke ins Atelier, wo die Assistenten in Kisten kramen und es so arbeitsvermüllt aussieht, wie man sich ein zünftiges Künstlerstudio vorstellt. Hier, denkt man, muss der Wurstaltar geplant worden sein, und die Riesensalami wird nichts anderes sein als eine Art Dauerkonserve der unbeseitigbaren Lebensund Arbeitsreste, die sich in dreieinhalb Jahrzehnten post-Mülheimer Freiheit angesammelt haben. Aber Andreas Schulze sucht hier eine Zeichnung – besser: eine Skizze. Um zu demonstrieren, dass er „alles vorweg und ganz genau im Kopf“ hat. Ein paar Striche, ein Auspuffrohr, ein Spoiler, ein paar Farbvorschriften: grau, grün, gelb. Und dann gehe das Blatt verloren. Und dann tauche es wieder auf. Und irgendwann mache es klick im Kopf und es werde wieder ein Bild. REVUE 59 Und mit jedem neuen klick im Kopf und jedem neuen Bild unter der Hand füllt sich – oder soll man sagen: bläht sich? – die Schulze-Welt, diese Welt ohne Bewegung, die bis heute auch eine Welt ohne Figuren geblieben ist. Mag er keine Figuren, kann er keine zeichnen? Weiß er nicht. Aber bewohnt seien die Bilder schon. Und die Autos stünden im Stau. Weshalb man die Autobilder Kante an Kante hängen müsse. Sagt’s und schlendert zurück zur Modelleisenbahn. An der Ecke wartet das Taxi. So sei das eben mit dem Malen: „Man hat sich an den Beruf gewöhnt.“ DIE 80ER. FIGURATIVE MALEREI IN DER BRD, GRUPPENAUSSTELLUNG, 22. JULI BIS 18. OKTOBER 2015, STÄDEL MUSEUM, FRANKFURT STAU. ANDREAS SCHULZE BEI SPRÜTH MAGERS, BERLIN, 28. JULI BIS 29. AUGUST HOMEBASE. ÜBER DAS INTERIEUR IN DER GEGENWARTSKUNST. GRUPPENAUSSTELLUNG, KUNSTHALLE NÜRNBERG, 3. DEZEMBER 2015 BIS 21. FEBRUAR 2016 EIGENTLICH RAUCHE ICH NICHT Selten haben derart erschöpft aussehende Skulpturen Furore gesorgt. für mehr m Ein Treffen mit NAIRY BAGHR AMIAN, N deren Arbeiten im Zentrum der spannendsten Schau des Sommers stehen SIEHT WEICH AUS, IST ABER KNÜPPELHART: DIE SKULPTUREN VON SLIP OF THE TONGUE WAREN ERSTMALS UNTER VITRINENGLAS IM CAFÉ DES ART INSTITUTE OF CHICAGO ZU SEHEN E in blassrunzliges Stück Bein. Eine eiternde Armbeuge. Undefinierbare Fleischklumpen. Eigentlich sieht das alles hier aus wie amputierte Riesenpenisse, die an einer Vitrine herumlungern. Slip of the Tongue nennt Nairy Baghramian ihre Installation. Slip of the Tongue heißt auch die beste Gruppenausstellung des Biennale-Sommers in Venedig, eine, die Okwui Enwezors Politschau glatt den Rang abläuft. Der Künstler Danh Vō hat sie für die Pinault Collection kuratiert, in den alten Zollhallen am Canal Grande: eine sinnliche, atmosphärische Komposition, mit der Nairy Baghramian zur Hochform aufläuft. „Der Titel klingt erotisch, aber eigentlich bedeutet er ‚Versprecher‘. Das Potenzial des Scheiterns ist darin angelegt“, sagt die Künstlerin. Die schwarzen Haare aufgestrubbelt, die Lippen knallrot, steht sie in ihrem Atelier in Berlin-Wedding, einem ehemaligen Ladenlokal, das von oben bis unten weiß gestrichen ist. Für eine Bildhauerin, die regelmäßig ganze Museen in allerlei Ländern bespielt, ist ihr Arbeitsplatz erstaunlich klein und erinnert mehr an ein Medizinlabor. Auf REVUE 61 einem Tisch Skulpturenelemente wie von einem Anatomielehrmodell. Im Raum prothesenartige Einzelstücke. Ein Chromgestell auf Rollen, an dem durchsichtige, glibberige Lappen hängen. Ein kleiner Aluminiumtisch an der Wand. Eine Gummimatte, die sich auf ihm rollt. Am Boden ein faustgroßer Klumpen, der aussieht wie Gelatine. Wenn man ihn anstupst, ist er hart. Türstopper heißt er. Als sie in den 90er-Jahren als Künstlerin anfing, sei Körperlichkeit verpönt gewesen. „Damals ging es um Identitätsfragen, Materialien standen nicht im Fokus. Aber mich Ihre Skulpturen sind Hybride aus Weichheit und Härte. Sie selbst nennt sie „Platzhalter“ und „Prothesen“ interessiert die Frage, wie ich gesellschaftliche Fragen mit skulpturalen Formen verbinden kann.“ Sie steuert auf einen großen Tisch im Hinterzimmer zu. Die Oberfläche sieht aus, als hätte jemand Leim darübergekippt. Viele ihrer neueren Arbeiten wirken so: gummiartig, aber hart, wie künstliche Körperteile. „Eigentlich rauche ich nicht“, sagt Nairy Baghramian und greift nach einer Packung Zigaretten. In den nächsten zwei Stunden wir klar, dass das ihr Grundprinzip ist: das eine vorgeben und das andere tun. Nairy Baghramian lebt seit ihrem 14. Lebensjahr in Deutschland. 1985, sechs Jahre nach der Revolution im Iran, floh ihre armenisch-christliche Familie aus Isfahan nach Berlin. Als Teenager beginnt sie im Frauenhaus zu arbeiten. Dann studiert sie Kunst. Als sie mit der Berliner Kunstwelt in Berührung kommt, reagiert sie genervt. Die neoexpressive Malerei liegt ihr nicht. Und so, wie es damals üblich ist: nur noch Texte und Dokumentarfotos in den Raum zu hängen, so will sie nicht arbeiten. Lieber setzt sie sich in Heiner Müllers Sprechtheater in der Volksbühne und guckt Fassbinder-Filme wie Angst essen Seele auf. Bei der Kunst bleibt sie trotzdem. nfangs entstehen spröde, eher gebastelte Konstruktionen aus bemaltem Holz und Metall, die zum linksdiskursiven Umfeld der späten Neunziger passen. Andrea Fraser, Renée Green und Rosemarie Trockel prägen die Szene. Dann rückt die Reflektion der Moderne in den Fokus. Isa Genzken wird zum role model für die nächste Generation, jüngere Künstler wie Tatiana Trouvé, Martin Boyce, Thea Djordjadze bauen Kunst wie ephemeres Möbeldesign. Doch Baghramian wird nie wirklich Teil dieser Bewegung. OBEN: RETAINER, 2013: INSTALLATIONSANSICHT SCULPTURECENTER NEW YORK, 2013. AUCH DIESE ARBEIT IST GERADE IN DER PUNTA DELLA DOGANA IN VENEDIG ZU SEHEN LINKS: KLASSENTREFFEN (CLASS REUNION), 2008, INSTALLATIONSANSICHT SERPENTINE GALLERY, 2010 A OBEN: DEKORATIVE PROTHESEN: SILOS, 2012 ERINNERT AN EIN PRALL AUFGEPUMPTES GUMMIBOOT RECHTS: BITTE NICHT ANFASSEN: DER KLEINE AUFSEHER LEHNTE 2010 AN EINER WAND IM EHEMALIGEN TEEHAUS DER SERPENTINE GALLERY REVUE 62 GUERIDON (BRACE), 2013, INSTALLATIONSANSICHT SCULPTURECENTER NEW YORK Der organisch-mimetische Unterton, mit dem sie im Laufe der Jahre luftgefüllte Stoffkissen, gekrümmte Metallbögen und deformierte Plastikteile entwickelt, klingt etwas fremd im Konzert der Gegenwartskunst. Und wenn die Abstraktion ihrer Gebilde auch viele Kuratoren und Kritiker anspricht, so werden die Skulpturen doch immer sinnlicher und somatischer und mehr und mehr anekdotisch. airy Baghramians Arbeiten triumphieren nicht, sondern wirken etwas niedergestimmt, als hätten sie sich aufbäumen wollen und dabei hätte sie die Kraft verlassen. Unübersehbar sind die Parallelen zu Eva Hesses schlaffen, hautartig schimmernden Gebilden. Auch an Louise Bourgeois’ geschlechtsartig ausgestülpte oder eingeritzte Objekte aus Stoff und Latex lässt sich denken. Vor allem aber an die überdimensionalen Soft Sculptures von Claes Oldenburg, die sich ihren Betrachtern wie auf einer Bühne entgegenschieben und sie, wie es die Kunsthistorikerin Rosalind E. Krauss einmal ausgedrückt hat, „zu Teilnehmern am Drama ihrer Präsentation machen“. Dabei haben Nairy Baghramians Installationen oft etwas Choreografisches. Die Einzelteile von Slip of the Tongue könnten N ebenso gut einem Ballettstück entstammen, dessen Figuren nun ermattet auf der Bühne liegen. „Tanz war sehr prägend für mich. Ich hatte das Glück, Stücke von Trisha Brown, Merce Cunningham und auch Yvonne Rainer zu sehen“, erzählt die Künstlerin. Bis heute seien die reduzierten Bewegungen dieser Tänzer für sie ein starker Impuls. Ebenso wie die Wahrnehmungstheorien der Minimal Art: Der Kritiker Michael Fried beschrieb 1967 mit dem Begriffspaar „Gestalt und Theatralität“ die Raumpräsenz von Objekten, die man umkreisen muss, wenn man sie ganz erfahren will. Nonchalant bedient sich Nairy Baghramian beim Erbe der Minimal Art, um dann doch Objekte zu bauen, die geradeso viel mit klassischer Bildhauerei zu tun haben. Die Künstlerin steht auf und führt nach nebenan in ihre Werkstatt, wo eines ihrer phallischen Objekte aus einer Holzkonstruktion aufragt. Ein bisschen schwer fällt es schon, sich diese grazile Person beim Zusammenkleistern von Beton und Farbe vorzustellen. Doch Nairy Baghramian lässt nur bestimmte Einzelteile und größere Arbeiten maschinell produzieren. Ob das kein Widerspruch zu ihren geistigen Paten ist, die Handarbeit vehement ablehnten? Nairy Baghramian schüttelt den Kopf. Es gehe ihr um die DIE RÜCKKEHR DES SCHULTERPOLSTERS: COLD SHOULDER (2014) LIEGT IM GARTEN DES MUSEU DE SERRALVES IN PORTO UND FLIRTET DORT MIT DER ARCHITEKTUR REVUE 64 Verbindung von traditioneller Skulptur mit konzeptuellen Fragestellungen. Und ohne den Körper, sagt sie, gehe es nicht. Und auch nicht ohne Ambivalenzen. Nairy Baghramian lässt sich nicht festlegen. Was sie sagt, wie sie sich erklärt, das klingt perfekt und ist so dehnbar wie Gummi, als habe sie sich ihre Rolle im Kunstbetrieb sehr genau überlegt. Man kann darin Erfolgsmanagement sehen oder einen entschiedenen Anspruch auf Freiheit in jede Richtung. So sind auch ihre Skulpturen Hybridwesen aus Präsenz und Absenz, Weichheit und Härte, Blässe und Farbe, Transparenz und Dichte, Ballung und Ausdehnung, Aufbäumen und Scheitern. Sie drücken etwas aus, das man in den angestrengten Texten über sie nicht findet: dass sie auch Zeichen sein wollen für die Tragik des Lebens. Nairy Baghramian sagt es vorsichtiger, spricht von „Platzhaltern“ und „Prothesen“. Und doch ist klar: Es geht um den Menschen und am Ende wohl auch um sie selbst. Wenn sie von Raum und Körper spricht, darf man schon mitdenken, dass sie aus einem Land kommt, in dem für den Körper der Frau männliche Regeln gelten. unst müsse nicht direkt politisch sein, sagt Nairy Baghramian. Wo immer sie zu einer Gruppenschau zum Thema Migration eingeladen war, hat sie abgelehnt. „Ich engagiere mich bei Human Rights Watch. Aber das hat nichts mit meiner Kunst zu tun.“ Im Iran war sie das letzte Mal vor 15 Jahren. Die Gesellschaft dort sei früher sehr vielfältig gewesen, heute herrsche Monokultur. Sie hat miterlebt, wie es plötzlich bestimmte Bücher nicht mehr gab. Kultur bedeute Freiheit, „und die ist dort verschwunden“. Als sie bei der Sharjah Biennale mitmachen sollte, sagte sie ab – zumal der Iran ihre Arbeit sponsern wollte. Mit allem Nachdruck beharrt die Künstlerin auf ihrer Unabhängigkeit und schützt ihre Arbeit vor Instrumentalisierung. Und bei all ihren Ausstellungsprojekten sieht sie zuerst auf die gesellschaftspolitische Situation: ob es ein Wüstenstaat ist oder ein europäisches Museum. Für sie sind Städte hierarchisch gegliederte Ensembles, Bauwerke eher patriarchalisches Terrain, Innenräume und Kleidung klassische Frauenthemen. „Frauen“, sagt sie, „sind bis heute nur für die Dekoration zuständig. Wie viele große Architektinnen gibt es schon?!“ K DIE BESTE SCHAU DES BIENNALE-SOMMERS: SLIP OF THE TONGUE IN DER PINAULT COLLECTION IN VENEDIG. KURATIERT HAT SIE DER KÜNSTLER DANH VO. IM ZENTRUM DIE GLEICHNAMIGE SKULPTURENGRUPPE VON NAIRY BAGHRAMIAN I n ihrer Arbeit reagiert sie darauf eher subtil. Und dazu steht auch nicht im Widerspruch, dass sie ihren Anspielungen auf Körper, Mode, Möbeldesign und Architektur zuweilen eine fröhliche Kaltschnäuzigkeit gibt. So liegt neuerdings das riesige rosa Schulterpolster Cold Shoulder im Skulpturenpark des Museu de Serralves von Álvaro Siza Vieira in Porto, wo es dem eleganten, weißen Bau des portugiesischen Grandseigneurs die kalte Schulter zeigt. Im ehemaligen Teehaus der Londoner Serpentine Gallery stützte sich 2008 ihr kleiner Aluminiumtisch mit Gummimatte als Aufbauhelfer an die Wand. Und auf der Berlin Biennale im selben Jahr flirteten zwei gekrümmte Stahlflächen an der Glasfassade von Mies van der Rohes Nationalgalerie gefährlich nah miteinander, eine von innen, die andere von außen. Der Titel der Installation La colonne cassée (1871) spielt auf die Pariser Kommune an, als auf Anweisung von Gustave Courbet die Säule auf der Place Vendôme, das Denkmal von Ludwig XIV., entfernt wurde und dabei umstürzte. Für die Künstlerin ein schönes Symbol dafür, dass alle herrschaftlichen Bauwerke nur temporär sind – auch die selbstherrlichen der Moderne. Nairy Baghramian drückt die letzte Zigarette aus und greift nach ihrem Schlüsselbund. Sie muss zur U-Bahn Richtung BerlinMitte, wo sie wohnt. Irgendjemand hat ihre Skulpturen einmal mit den geklumpten Gebilden von Franz West verglichen, auf die man sich setzen kann oder mit denen man hantieren soll. Nein, sagt sie, „Kunst als Dienstleistung interessiert mich nicht. Der Bezug zu meinen Arbeiten spielt sich im Kopf ab.“ Und der sitzt bekanntlich auf dem Körper. TEXT: GESINE BORCHERDT SLIP OF THE TONGUE, PUNTA DELLA DOGANA, VENEDIG, BIS 31. DEZEMBER 2015 Eintritt ins Totenreich der Schönheit: in der Wohnung des Mario Praz ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile Mario Praz 1950 WARTE, BIS ES DUNKEL WIRD Lag es am leichten Hinken oder am „bösen Blick“? MARIO PRAZ war einer der großen Gelehrten Italiens, schrieb das Standardwerk zur Schwarzen Romantik und inspirierte Visconti zu dessen letztem Film. Und doch wagte man kaum, seinen Namen auszusprechen. Praz’ vielleicht größtes Werk: seine Wohnung in Rom. Martin Mosebach hat sie besucht Zimmer waren für Praz Organismen, die für ihre Beseeltheit auf Bewohner nicht angewiesen waren N icht wenige Wohnungen von Politikern, Dichtern und Heiligen werden in dem Zustand bewahrt, in dem ihr Bewohner sie bei seinem Tode verlassen hat. In Rom allein kann man die Sterbezimmer des Heiligen Ignatius und des Heiligen José de Calasanz, des Schriftstellers Luigi Pirandello, des Komponisten Scelsi und des Malers Giorgio de Chirico besichtigen. Aber es dürfte wenige Wohnungen geben, die Museen geworden sind, weil ihre Bewohner das Wohnen zu ihrer wesentlichen Leistung erkoren hatten. Mario Praz hieß einer dieser leidenschaftlichen Wohnenden. Der 1896 geborene Sohn eines Schweizers und einer umbrischen Gräfin hat wahrlich genug Spuren hinterlassen, um nicht einfach nur als Möbelsammler im Gedächtnis der Nachwelt zu bleiben. Er war einer der bedeutendsten Kenner der Literatur im akademischen Italien seines Jahrhunderts. Er war der Autor bedeutender Bücher über die Romantik in Europa, deren Farbigkeit und Originalität ihm bei seinem strengen Zeitgenossen Benedetto Croce den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit einbrachten. Und er war gewiss einer der Unbehelligt von den Zumutungen der Moderne: Praz verschrieb sich ganz dem Neoklassizismus wirkungsmächtigsten Literaturkritiker: Sein Urteil hat auch lange nach seinem Tod 1982 sein Gewicht nicht verloren. Aber das Herz dieses Mannes, der nach kurzer Ehe die längste Zeit seines Lebens zölibatär verbrachte, gehörte dem Sammeln, um die immer komplizierter werdende Ordnung seiner Wohnung zu einem lückenlosen Mosaik seines Geschmacks zu machen. Täglich war er in den Antiquitätengeschäften Roms zu sehen, auf der Jagd nach großen und kleinen Absonderlichkeiten, die im Epos seiner Behausung zu einer erlesenen Metapher, einem poetischen Goldfunken, einem unerwarteten Reim werden würden. strologen dürfen sich in ihren Charakterbildern bestätigt sehen. Praz war im Zeichen der Jungfrau geboren, dem Zeichen der großen Protagonisten einer klassizistischen Ästhetik wie Jacques-Louis David, der Maler Napoleons, und Goethe, Napoleons Dichter. Wie eine männliche Vestalin hütete Mario Praz die Hinterlassenschaften dieser Epoche, in der sich revolutionärer Aufbruch und der Blick in die Tiefen der Vergangenheit eigentümlich A vermischten. So schuf er eine Wohnung, von der er glauben durfte, dass sie auch ohne seine Existenz weiterleben würde – weil sich im Schamanenkreis ihrer Gegenstände ein unsichtbares Wesen entwickelt hatte, eine Geistperson zwischen Genius Loci und Gespenst. Unmittelbar nach seinem Tod wurde die Wohnung ausgeraubt. Vasen, Schnupftabakdosen, Leuchter und Statuetten verschwanden wieder dort, wo sie hergekommen waren: in den Antiquitätenläden. Aber die Lebenskraft der Wohnung bewährte sich. Wie bei einem lebenden Organismus schlossen sich die Wunden und vernarbten – und dem Besucher heute ist es unmöglich, eine Lücke zu entdecken, in der man auch nur das kleinste Emailledöschen abstellen könnte. L’INNOMINABILE Italien ist das Land des Aberglaubens; je weiter man in den Süden kommt, desto sicherer weiß jeder, welches Unglück es bringt, wenn man bei Tisch um Salz bittet und das Salzfass von Hand zu Hand REVUE 69 wandert, anstatt dem Bittenden vor den Teller gestellt zu werden. Besonders schlimm ist es, wenn ein Hut auf das Bett gelegt wird – dann kommt der Tod. Vor allem aber gilt es, sich vor dem „bösen Blick“ zu schützen. Ein rotes Korallenhörnchen kann schon sehr viel Schaden abwenden. In Rom behauptet heute noch jeder, der den Namen Mario Praz kennt, der Professor habe den malocchio, den bösen Blick, gehabt. Wenn die Rede auf ihn kam, gab es bestimmt immer einen, der ausrief: „Nicht den Namen aussprechen! Bloß nicht den Namen! Sagen Sie nur: ‚M. P.‘ “ Viele Leute hatten etwas Sensationelles über die Wirkung seines bösen Blicks gehört, die Erzählungen ließen das Gerücht zur Gewissheit anschwellen. Lag es an seinem leichten Hinken oder waren es seine literarischen Interessen, die solchen Rumor gefördert hatten? raz gehörte zu den ersten Literaturwissenschaftlern, die sich mit der Schwarzen Romantik beschäftigt haben; sein Standardwerk über diese literarische Epoche, Liebe, Tod und Teufel, ist bis heute auch in Deutschland berühmt. Dem Flirt mancher Autoren des 19. Jahrhunderts mit Perversion und Satanismus, Geisteskrankheit und Dämonen widmete er eine glänzende Darstellung. Und solches Interesse berührt eigentümlich bei einem Mann, der jahrzehntelang daran gearbeitet hat, sich eine Umgebung von poetischer Behaglichkeit zu schaffen, in der nichts an die makabren Fantasien seiner bevorzugten Lektüren erinnerte. Es erscheint zunächst abwegig, den patriarchalischen Frieden der zahlreichen Familienporträts, die er sammelte, mit Baudelaire oder Poe in Verbindung zu bringen. Andererseits: Hatten diese großen Dichter nicht in ebensolchen Interieurs gesessen, geträumt und geschrieben? Wenn man heute durch Praz’ Wohnung geht, sind die Fensterläden geschlossen, die Zimmer liegen im Halbdunkel, das tut den Seidenstoffen, den Zeichnungen und Aquarellen gewiss gut, aber man darf davon überzeugt sein, dass auch zu Lebzeiten des Sammlers diese Fensterläden meist geschlossen waren, denn in einer klassischen römischen Wohnung wird das Sonnenlicht als Feind betrachtet und die längste Zeit des Tages ausgesperrt. Praz ist oft gemalt worden, unter seinen Freunden waren viele Maler. Und an etwas versteckten Stellen im Museum, wo sie die neoklassizistische Atmosphäre nicht zu stören vermögen, stößt man auf kleine Porträts aus allen möglichen Altersstufen. Und immer sind die Augen kummervoll, die Stirn ist leicht gerunzelt; etwas Schüchtern-Ängstliches liegt in seinem Blick selbst noch auf dem Altersbild mit Lorbeerkranz, als hätten all diese Maler nichts anderes im Sinn gehabt, als die bedrückende Fama vom bösen Blick zu widerlegen. Es heißt, der letzte Film des Luchino Visconti sei durch die Gestalt und die Wohnung des Mario Praz angeregt worden. In Gewalt und Leidenschaft spielt der alte Burt Lancaster einen Kunst sammelnden Professor, der, mit dem Rücken zu seiner Zeit, in einer mit schönen alten Sachen vollgestopften römischen Wohnung lebt und eines Tages einer mondänen Frau, gespielt von Silvana Mangano, und deren schrecklichem Sohn, von Helmut Berger weniger gespielt als verkörpert, Zutritt zu seinen Räumen gewährt. Fast unnötig zu sagen, dass dieser kleine Einbruch in Zerstörung und Hass endet. Der Film gehört nicht zu Viscontis besten, aber dass seine Fantasie durch den vereinsamten, im Zauberschattenreich seiner Wohnung P verborgenen, angeblich mit dunklen Mächten in Verbindung stehenden, hochgelehrten Schönheitsfreund angeregt wurde, ist leicht nachvollziehbar. DER MARMOR UNTER DEN HÖLZERN Mario Praz hat zwei große essayistische Werke über den Geschmack verfasst. Der erste, grundsätzliche, La filosofia dell’arredamento – Die Philosophie der Einrichtung –, erschien 1945 in einem verarmten und vom Krieg schwer getroffenen Italien, in dem gewiss wenige Menschen über den Akkord nachdachten, den ein Paravent aus dem späten Louis-seize vor einem Bett aus dem frühen Directoire auslöst. Der zweite, ebenfalls reich bebilderte Essay war persönlicher gehalten. La casa della vita erschien 1958 und war vor allem der eigenen Wohnung gewidmet, die sich in der Nähe des Palazzo Farnese im Palazzo Ricci befand. Man tut diesen geistvollen Werken aber kein Unrecht, wenn man sie auch als erläuternde Begleiter des großen Essays ansieht, den diese Wohnung selbst darstellt. Diese Wohnung ist wie ihr Schöpfer Legende geworden. Es gibt sie nicht mehr (wie es sich für eine Legende gehört), denn Mario Praz musste die Riesenwohnung 1969 verlassen. Im Palazzo Primoli am Tiberufer fand er ein neues, verwinkeltes, schön unübersichtliches, aber deutlich kleineres Quartier. Die Adresse passte ihm, denn der Conte Primoli, ein Nachkomme der Familie Bonaparte, hatte im Parterre des großen Hauses ein Napoleonmuseum gestiftet; Praz wurde Präsident der Fondazione Primoli und bezog die Etage unterm Dach, wo er versuchte, die Atmosphäre der verlassenen, nur noch in seinem Buch weiterlebenden alten Wohnung zu rekonstruieren. an spricht gewöhnlich, von der „Sammlung“ des Mario Praz, aber es liegt eigentlich näher, von einer „Ansammlung“ zu sprechen. Da ist kein Stuhl, kein Schreibtisch, kein Kissen und kein Bücherregal – nichts, was aus dem Ensemble herausgelöst werden dürfte. Der Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ wird selten so augenfällig wie in der Wohnung des Mario Praz mit ihren Tausenden Objekten. Manche sind schön, manche sind auch nur hübsch, manche würden anderswo kaum ins Auge fallen. Auch sind alle nicht von besonders hohem Wert und waren wohl auch nicht teuer, als Praz sie von seinem Professorengehalt kaufte. Praz muss ein Antiquitätenstöberer wie Balzacs Vetter Pons gewesen sein, der niemals mehr als hundert Francs für ein Stück ausgab und dennoch einen großen Schatz anhäufte. Es ging ihm weniger um bestimmte Objekte als um die Beschwörung einer bestimmten Zeit: der Jahre zwischen 1790 und 1848, einer der unruhigsten Epochen der europäischen Geschichte, deren Brüche und Katastrophen Folgen hatten, die bis in unsere Gegenwart reichen. Aber in der friedlichen Versunkenheit seiner Wohnung ist vom Kriegsgeschrei, vom Zorn der Massen auf der Straße, vom Stampfen der frühen Maschinen nichts zu spüren. Zimmer waren für Praz Organismen, die für ihre Beseeltheit auf Bewohner nicht angewiesen waren. Er muss etwas von einem ägyptischen Pharao gehabt haben, der sich für den Aufenthalt in seiner Totenkammer rüstete, in der er von Möbeln und Bildern, von Waffen und Parfüms, von Vasen voll Wein und Honig umgeben liegen würde, mit den Edelsteinaugen der Totenmaske ins mit Dingen erfüllte Dunkel starrend. M REVUE 71 Es ist dieser Gedanke an einbalsamierte Mumien, mit dem Praz und sein Ensemble des Neoclassicismo, wie die Epoche der Revolutionen in Italien genannt wird, besser verständlich wird. Nicht umsonst konzentrierte er sich bei seinen Käufen auf die Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848. Es war die große Zeit des Fürsten Metternich, der für seinen Kaiser auch die Lombardei und Venetien regierte. Metternich, entschiedener Gegner der Revolution, war überzeugt davon, dass ihr Sieg unvermeidlich sei, dass man ihn auf Dauer nicht verhindern werde, dass er sich allenfalls hinauszögern lasse. So versuchte er, den Ländern der Donaumonarchie und dem Deutschen Bund eine Art heilsame Stagnation zu verordnen, ein Einfrieren der Verhältnisse. In Deutschland erhielt der Lebensstil, der dieses Großexperiment begleitete, den irreführend harmlosen Namen „Biedermeier“, was Ruhe, Gelassenheit, bürgerliche Zurückgezogenheit und Mäßigung der Leidenschaften suggeriert und die chaotischen Energien ausblendet, die unter der blumenbestickten Decke brodelten. STILLSTAND, EWIGKEIT D ie Vorstellung, die Zeit anhalten zu können, wie der Prophet Elias den Lauf der Sonne zum Stillstand brachte, muss für Mario Praz etwas Magisches gehabt haben. In Rom, der Stadt der Gräber, steckte er in seinen vier Wänden auf 200 Quadratmetern den Bereich ab, in dem die Zeit zur Ewigkeit wird – wie Fürst Metternich es einst im Großen gewollt hatte. Einer der surrealistischen Künstler, mit denen Praz befreundet war, der Zeichner, Dichter und Bühnenbildner Fabius von Gugel, behauptete, Mario Praz sei mit Grabsteinen möbliert gewesen. Das war eine kleine Bosheit – aber könnte man den Möbelstil des Empire nicht wirklich als eine Kreuzung antiker Grabmonumente mit kolonialem Mahagoni bezeichnen? Die Kultur der Metternich-Ära ist sich der revolutionären Vergangenheit wohl bewusst, aber sie dämpft diese Erinnerung in der Napoleon-Nostalgie und überführt den kaiserlichen in bürgerlich-kleinbürgerlichen Geschmack. Die Schwäche des napoleonischen Regiments: seine mafiöse Gefesseltheit an die Familie des Diktators, nährt nun die Sentimentalität des Familienalbums – auch Fontane berichtet über seinen französischen Apothekervater, dass er die napoleonischen Marschälle aufsagen konnte, als wären sie die zwölf Apostel. So schmücken denn die Elisen, Carolinen und Paulinen, die habgierigen Schwestern des Eroberers, in Stichen und Büsten auch die Suiten des Mario Praz. Man könnte sagen, in seinem Apartment werde versucht, die brutale Inbesitznahme Italiens durch die französischen Besatzer und Kunsträuber mit den Augen Stendhals zu sehen: als festlichen Traum und ästhetische Erfrischung, die in die Trance eines Posthistoire hinübergeglitten ist. Mit dem Ende Napoleons endet auch die Geschichte. Von nun an besteht das Leben aus Erinnerungen. Vor allem eine Eigenschaft zeichnet den Neoclassicismo aus, die ihn für Praz so anziehend machen musste. Man kann das lateinisch geprägte Europa als den Kontinent definieren, der in gewissen Intervallen Renaissancen der antiken Kultur erlebt hat. Das beginnt bei der Renaissance des Augustus, der klassizistisch geprägten Aneignung der griechischen Kultur, setzt sich fort in der Renaissance Karls des Großen, die mit der Übertragung des römischen Kaisertums auf die Germanen verbunden war. Die Renaissance der Staufer ging der Renaissance der Humanisten voraus. Der französische Klassizismus des 17. Jahrhunderts begleitete den Anspruch Frankreichs auf das Erbe der kaiserlichen römischen Antike. Und die bisher letzte in der Reihe von Renaissancen ist der Klassizismus der Französischen Revolution und des bonapartistischen Kaisertums, der Klassizismus Hölderlins und Goethes, Leopardis und Foscolos, Chateaubriands und André Chéniers – und der Architekten Ledoux und Boullée, Schinkel und Soane, der Neopalladianer von Boston und Sankt Petersburg. Es ist in mancher Hinsicht trotz großer Leistungen vor allem der Maler die schwächste der Renaissancen, vielleicht durch ihr Zusammenfallen mit dem Beginn der industriellen Fertigung, die eine Massenproduktion möglich machte, ein Vordringen klassizistischer Objekte in jedes Bürgerhaus – aber es ist eben zum letzten Mal ein Stil, der die europäische Verbundenheit mit der antiken Formensprache in unabsehbar vielfältiger Ausprägung feiert. Mario Praz hat seine Wohnung als Rekonstruktion einer geistigen Verfassung entworfen. In der ganzen Wohnung gibt es einen einzigen Gegenstand, den er nicht ausgesucht und gekauft, sondern geerbt hat: das von der Mutter gestickte Wappen ihrer Familie mit der Grafenkrone. Kein anderes Objekt seiner Elternwelt durfte Bestandteil seines Zauberkreises werden. Er liebte nicht nur Zimmer, sondern auch Bilder von Zimmern, und so suchte und fand er eine große Zahl von Interieur-Aquarellen. Da entstehen seltsame Effekte: An den Wänden der Zimmer hängen Bilder, die wiederum Zimmer zeigen, oft sogar ganz ähnliche wie die, in denen man sich gerade befindet. Und besondere Freude machten Praz seine conversation pieces, Interieurs mit Gruppenporträts. Sie sind das Personal, das man sich in seinen Zimmern vorstellen muss: Vorfahren fremder Leute, von denen er nicht einmal die Namen kannte, die in seinen Zimmern die Vorstellung erwecken, in ihnen wäre einmal eine Familie zu Hause gewesen. ei der Umschau in den Räumen glaubt man sich wirklich in der museal konservierten Wohnung eines wohlhabenden Akademikers aus der Vormärzzeit zu befinden; nicht ein einziger moderner Sessel ist hier anzutreffen und kein bequemes Sofa, wie man es in allen historischen Palästen der römischen Aristokratie unter den Deckenfresken fände. Weil Praz nicht auf ein Radio verzichten wollte, ließ er eines in ein Empire-Kästchen mit kleinen Säulen verwandeln – man muss schon darauf gestoßen werden, um es zu entdecken. Der Gedanke drängt sich auf, dass er in seinem Apartment in unablässigem Sammeln und Vervollständigen das Leben eines anderen zu dokumentieren suchte, dass er sich den Bewohner dieser Wohnung als einen derzeit Abwesenden erfand, als dessen Majordomus und Verwalter er figurierte. Obwohl die einzige Tochter, Lucia, es nach der Scheidung der Eltern ablehnte, beim Vater zu leben, und ihn jener malinconia solitudine, der melancholischen Einsamkeit, überließ, von der man in seiner Umgebung sprach, rekonstruierte er auch in der neuen Wohnung im Palazzo Primoli ihr Schlafzimmer – in dem sie jedoch nie mehr schlafen sollte. Der andere, für den er diese Wohnung plante, hatte eben eine Tochter. Die Worte des Schriftstellers Ennio Flaiano: „Ich habe alle Hoffnung in die Zukunft verloren und deshalb begonnen, für die Vergangenheit Pläne zu machen“, sie hätten ein Lebensmotto von Mario Praz sein können. B REVUE 72 Die Vorstellung, die Zeit anhalten zu können, wie der Prophet Elias den Lauf der Sonne zum Stillstand brachte, muss für Mario Praz etwas Magisches gehabt haben. In Rom, der Stadt der Gräber, steckte er in seinen vier Wänden den Bereich ab, in dem die Zeit zur Ewigkeit wird Mario Praz hat seine Wohnung als Rekonstruktion einer geistigen Verfassung entworfen, als festlichen Traum. Seine Tochter sollte ihr Schlafzimmer (ganz links) nie benutzen REVUE 73 9 JUL. – 27 SEP. 2015 DOUG AITKEN SCHIRN Doug Aitken is represented by 303 Gallery, New York | Victoria Miro Gallery, London | Galerie Eva Presenhuber, Zürich | Regen Projects, Los Angeles ENCORE ERLING KAGGE — — GR AND PRIX — WERTSACHEN R AU KT IO NE N — BL AU K ALENDE — DER AUGENBLICK Er war der erste Mensch, der unbegleitet zum Südpol gewandert ist. Jetzt hat Erling Kagge einen Ratgeber für angehende Kunstsammler geschrieben FOTO: KRISTINE JAKOBSEN „ES GEHT DARUM, SICH DAS LEBEN SCHWERER ZU MACHEN ALS NÖTIG ENCORE 75 E rling Kagge ist in Norwegen eine Art Volksheld. Der erste Mensch, der alle drei Pole bezwungen hat: Nordpol, Südpol und den Gipfel des Mount Everest. Und ist gleichzeitig ein erfolgreicher Literatur- und Sachbuchverleger. Was seinen Landsleuten erst diesen Sommer bewusst wird: Kagge ist zugleich einer der profiliertesten Kunstsammler Europas. Das Astrup Fearnley Museum in Oslo zeigt gerade Höhepunkte aus seiner Sammlung. Und pünktlich zur Ausstellung erscheint sein äußerst unterhaltsamer Insiderreport A Poor Collector’s Guide to Buying Great Art, den wir an dieser Stelle schon einmal uneingeschränkt empfehlen. Herr Kagge, Sie bezeichnen sich in Ihrem Buch als „poor collector“. Aber bereits auf der vierten Seite sieht man Sie am Steuer eines Rolls-Royce durch Oslo fahren. Im Journalismus spricht man bei so etwas von einer Text-Bild-Schere. – Erling Kagge: (Lacht) Nach gewöhnlichen Maßstäben bin ich natürlich nicht arm. Aber verglichen mit den meisten anderen Menschen, die die gleiche Kunst kaufen wie ich, habe ich wesentlich weniger Geld. Ich fand den Titel catchy. Und ich weiß, dass es da draußen einige Sammler wie mich gibt, Menschen, die für ihre Leidenschaft leiden müssen, die ihre Budgets bis aufs Äußerste und darüber hinaus ausreizen. Und die sich vieles von dem, was sie lieben, nicht leisten können. Verglichen mit den Oligarchen und Hedgefonds-Chefs, neben denen man dann manchmal auf Kunstmessen steht – Leute, die mehr Geld haben, als sie je ausgeben können –, fühlt man sich dann doch relativ arm. Aber es gibt einen Trost: Die Oligarchen enden meist mit schrecklich langweiligen Sammlungen. Nennen Sie uns ein Beispiel. – Nehmen wir Wiktor Pintschuk, den Milliardär aus Kiew, der sein Vermögen damit gemacht hat, seine Landsleute über den Tisch zu ziehen. Als er vor ein paar Jahren François Pinaults Sammlungspräsentation in der Punta della Dogana besuchte, zeigte er ständig auf Werke von Jeff Koons und rief laut: „Das habe ich! Und das da auch!“ Es war offensichtlich, dass sich sowohl White Cube als auch Larry Gagosian rührend um ihn gekümmert hatten. Deren Mitarbeiter erzählten mir dann auch, dass er allein bei diesen zwei Galerien geschätzte 1,5 Milliarden für Koons, Hirst und andere ausgegeben hatte. Die einzigen Kriterien für seine Sammlung waren anscheinend „Teuer“ und „Berühmt“. Sagen Sie uns bitte dennoch, wie Sie zu Ihrem Rolls-Royce gekommen sind? – Ich erhielt eine Einladungskarte der Galerie Grässlin aus Frankfurt für eine Franz-West-Ausstellung. Auf der Einladung sah man den Künstler neben einem Rolls-Royce stehen. Statt der Kühlerfigur hatte er eines seiner sogenannten Passstücke montiert, das in diesem wurstartigen Fall stark an Exkremente erinnerte. Ich war begeistert und rief die Galerie an, ob ich die Skulptur kaufen könne. Man sagte mir, ich müsse sechs davon kaufen, es sei eine Werkgruppe, für jeden Werktag eine andere Skulptur. Sechs Werktage? – (Lacht) So hieß es. Wir einigten uns also auf einen Preis. Und erst als ich die Rechnung bekam, wurde mir klar, dass ich gerade auch einen Rolls-Royce gekauft hatte. Mensch, der unbegleitet zum Südpol gewandert ist. Und als erster Mensch, der am Südpol, am Nordpol und auf dem Mount Everest war. Jetzt scheinen Sie vor allem mit Expeditionen in die Kunstwelt beschäftigt zu sein. Sehen Sie ein gemeinsames Muster in beidem oder hat das eine mit dem anderen nichts zu tun? – Es gibt in beidem große Ähnlichkeiten. Ich glaube, wir alle sind, wenn wir auf die Welt kommen, Entdecker, Forscher, explorer. Als meine Kinder klein waren, wollten sie klettern, bevor sie überhaupt laufen konnten. Jeder fragt sich, wenn er klein ist, was wohl hinter dem Horizont sein mag. Für mich geht es bei beidem, bei den Expeditionen wie beim Kunstsammeln, um Neugierde, Verstehenwollen. Und darum, sich das Leben schwerer zu machen als nötig. Wir haben diese Redewendung im Norwegischen: „am höchsten Punkt vom Zaun springen“. Statt am niedrigsten. So gehen Sie auch beim Sammeln vor? – Wenn Sie zu sammeln beginnen, wird man Ihnen immer wieder raten: „Kaufe, Eine schöne Überraschung. – In der Tat. Ich nutze ihn als Sommerfahrzeug. Nur jetzt steht er gerade im Museum. Wenn Sie damit unterwegs sind, schrauben Sie die Skulpturen ab, wenn Sie irgendwo parken? – Früher habe ich das nicht gemacht. Aber jetzt hat mir das Studio von Franz West Kopien angefertigt, die ich im Alltag benutze. Als ich die Arbeit kaufte, war sie schon ziemlich teuer. Und in der Zwischenzeit ist sie zu teuer geworden, um die originalen Passstücke unbeaufsichtigt auf der Straße stehen zu lassen. In Ihrer Heimat sind Sie vor allem als Abenteurer bekannt. Als erster ENCORE 76 JANA EULER Needs I, 2013 Acryl auf Leinwand, 140 × 200 cm „Wenn Sie zu sammeln beginnen, wird man Ihnen raten: ‚Kaufe, was dir gefällt.‘ Doch genau das ist falsch! Man sollte seinem eigenen Geschmack immer zwei Schritte voraus sein“ was dir gefällt.“ Genau das ist falsch. Ich bin der festen Überzeugung, dass man seinem eigenen Geschmack immer zwei Schritte voraus sein sollte. Man sollte komplizierte Sachen kaufen, Sachen, an denen der eigene Geschmack wachsen kann. Große Kunst wirkte meist seltsam, als sie das erste Mal zu sehen war. Man muss Risiken eingehen und sozusagen auf eine schöne Zukunft mit einem Kunstwerk wetten, das man zum Zeitpunkt des Kaufs überhaupt noch nicht verstanden hat. Ein anderer Ratschlag, den Sie als Neuling oft hören werden: „Schau dir möglichst viel Kunst an und lies dann alles über die Kunst, die du kaufen willst.“ Der erste Teil stimmt. Aber beim zweiten bin ich schon skeptischer. Du musst einfach anfangen, Kunst zu kaufen, nicht zu lange zögern. Du musst Entscheidungen treffen und dann von ihnen lernen. Ich befolge eigentlich die gleiche Regel wie damals, als ich zum Süd- und zum Nordpol gewandert und auf den Everest gestiegen bin: Denke voraus, reise leicht und lass deine Ängste hinter dir. Was, wenn man ungefähr weiß, welche Art von Kunst einen reizt? – Dann wird sich meistens herausstellen, dass diese Kunst von einer Handvoll Galerien vertreten wird. Bei mir waren das in Berlin zum Beispiel die Galerien Neu, Esther Schipper und Neugerriemschneider. Sie sollten sich unbedingt mit den Galeristen anfreunden, sie sind die Hüter des Schatzes. Seien Sie besser nett zu ihnen. Nett? – Sie wissen schon: Seien Sie präsent, stellen Sie Fragen, beantworten Sie E-Mails, zahlen Sie Rechnungen sofort, und wenn Sie gemeinsam im Restaurant sitzen, bezahlen Sie zur Abwechslung mal selbst die Rechnung – das ist immer eine schöne Überraschung für Galeristen. Wenn Sie ihnen gegenüber loyal sind und nicht nur die Werke der dort gerade angesagtesten Künstler kaufen wollen, wenn Sie immer wieder auch aus den ersten Ausstellungen der neuen, jungen Künstler kaufen, dann werden Sie belohnt. In Ihrem Buch, das zugleich als Ausstellungskatalog fungiert und einen Querschnitt Ihrer Sammlung zeigt, sieht man ein Gemälde von Tauba Auerbach aus dem Jahr 2013, als ähnliche Werke bereits Auktionsergebnisse von über einer Million Dollar erzielten. – Das ist es, was ich meine. Man muss natürlich auch ein bisschen Glück haben. Aber als ich 2008 Taubas erste Ausstellung im ERLING KAGGES ROLLS-ROYCE Standard in Oslo besuchte, da war ist ein Werk von FRANZ WEST (Rolls-Royce Adaptives, 2007, alles zu haben, zu kleinen Preisen. Epoxidharz). Für jeden Werktag hat West eine andere Ich hätte die ganze Schau kaufen Kühlerfigur geschaffen können. Ich habe ein paar Werke gekauft. Und dann bei der zweiten Ausauch seine Galeristin dazu, Barbara stellung wieder. Mein letztes Bild habe ich Gladstone. Es war ein nettes Essen. Und 2013 gekauft. Und das natürlich nicht wie die Amerikaner so sind, sagte sie, für eine Million Dollar. Ich habe vielleicht wenn ich nach New York käme, solle ich 150.000 bezahlt und man hat es mir mich unbedingt melden, sie würde sich verkauft, weil man wusste, dass ich früh revanchieren. Eine Woche später besuchte dabei war und ich es nicht für ein Vielich sie in ihrer Galerie, in der sie gerade faches auf dem secondary market weitereine Ausstellung mit Nurse-Paintings von verkaufen würde. Loyalität zahlt sich aus. Richard Prince vorbereitete. Ich habe Vor allem Loyalität einer großartigen hier etwas für Sie, sagte sie und zeigte mir Galerie gegenüber. eines der Bilder. Für 50.000 Dollar könne ich es kaufen. Sie sprechen etwas an, das manch ein Kunstmarktbeobachter bigott finden mag. Und? Ein guter Sammler verkauft nicht, sagt – Vier Jahre später habe ich es für fünf man. Vor allem sagen das die Galeristen. Millionen wieder verkauft. Ich habe Dass Sie überhaupt so viel Kunst kaufen das Bild sehr geliebt, aber das Geld noch können, hängt aber schon damit zusammen, mehr. Steuerfrei, fünf Millionen in Cash dass Sie einmal zum richtigen Zeitpunkt auf meinem Konto. Mein Vater sagte dazu ein Werk verkauft haben. nur: „Even idiots have birthdays.“ – Ich bin 52 Jahre alt und habe in meinem Leben drei Werke verkauft. In der Zwischenzeit waren die Nurse-Paintings zu einem absoluten Statussymbol unter den Erzählen Sie uns bitte von Ihrem besten Deal. superreichen Sammlern geworden. – Matthew Barney hatte einmal – Genau. Das Beispiel zeigt, dass man mit eine Ausstellung in Oslo. Ich habe ihn relativ geringen Mitteln den Abramovichs zum Lunch eingeladen und dann kam dieser Welt voraus sein kann. ENCORE 77 Was haben Sie mit dem Geldsegen gemacht? – Alles für Kunst ausgegeben. Es sind Geschichten wie diese, die das Spekulieren innerhalb der Kunstwelt zu einem Breitensport haben werden lassen. Viele träumen davon, auch einmal so viel Glück zu haben. – Der Kunstmarkt ist eine Blase. Die Preise werden auch wieder runtergehen, dramatisch runtergehen. Heute glauben die Leute, sie könnten ein Werk für 100.000 Dollar kaufen und es dann nach ein paar Jahren für eine Million verkaufen. Es gibt Beispiele genug, aber es wird nicht anhalten. Die meisten Werke, die heute 100.000 Dollar kosten, werden in fünf oder zehn Jahren allenfalls noch 50.000 wert sein. Für Leute, die genug Cash haben, wird der nächste Kunstmarkt-Crash fantastisch. Dann wird es wieder jede Menge hervor ragender Werke zu fairen Preisen geben. Für die, die jetzt weniger großartige Kunst zu sehr hohen Preisen kaufen, wird es natürlich ein Albtraum. „Insiderhandel, Kartelle, Preismanipulation. Ich genieße, dass es im Kunsthandel keine Regeln gibt, nur Deals“ Mit anderen Worten: Wer glaubt, durchs Kunstsammeln reich zu werden, ist naiv. Eines sollte man zum Beispiel nie vergessen: Wenn man ein Werk für 20.000 Dollar in einer Galerie kauft, dann ist es in dem Moment, wenn man es zu Hause aufhängt, nur noch 10.000 wert. Ganz einfach weil der Galerist üblicherweise 50 Prozent Kommission nimmt. Der wirkliche Wert des Sammelns ist die Freude, die einem ein originales Kunstwerk in den eigenen vier Wänden bereitet. Hamster? PR. Der legendäre Galerist Leo Castelli wurde 1966 zu Château Noir befragt, einem Cézanne-Bild, für das er damals 800.000 Dollar haben wollte. „Was ist schon ein CézanneHaus in der Mitte einer Landschaft?“, sagte Castelli. „Warum sollte es so einen Wert haben? Weil es ein Mythos ist. Diese Mythen zu machen, Material zu entdecken, aus dem sie sich machen lassen, das ist die Aufgabe eines Galeristen.“ Mythen können verblassen. Richard Prince ist, nachdem Sie Ihr Bild bei Barbara Gladstone gekauft haben, zu Larry Gagosian gewechselt. Dort hat er ein paar Jahre lang sehr, sehr viel produziert und zu sehr hohen Preisen verkauft. Und plötzlich war der Mythos dahin. Ihr Bild wäre schon ein halbes Jahr später nur noch zwei WOLFGANG TILLMANS Venus Transit, second contact, 2004 Millionen Dollar wert gewesen. C-Print, 200 × 145 cm – Das stimmt. Als man Richard Prince gefragt hat, wie es sich anfühle, plötzlich nicht mehr In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der angesagt zu sein, hat er geantwortet, dass Kunstmarkt keine Regeln kenne, nur Deals. er ganz glücklich über die nachlassende – Ich gestehe, ich genieße das. InsiderNachfrage sei. So habe er mehr Zeit, um handel, Preismanipulationen, Kartelle – für seine Piloten lizenz zu trainieren, alles, was einen in anderen Wirtschaftsdie wiederum wichtig sei, da er, wenn er feldern in den Knast bringen seinen Privatjet selbst fl iegen könne viel Geld sparen würde. würde, ist im Kunstmarkt könne, mu Standard. Das ist die Da musste ich sehr lachen. Realität, auf die man sich als a Sammler, so schreiben Sammler einstellen muss. Aber als I Sie in Ihrem Buch, lieben Sie Kü Was macht für Sie einen gute Künstler, die gerade nicht hoch guten Galeristen aus? im Kurs stehen. – Sie müssen Ihre Künstler – Es gibt eine Phase in der lieben und deren Kunst. Sie Karriere fast aller Künstler, müssen verstehen, was es in der ihr Markt einbricht. N braucht, um eine Karriere Nach fünf oder zehn e aufzubauen. Sie müssen erfolg reichen Jahren ist das I Leuten wie mir gegenüber Interesse der Öffentlichkeit w loyal sein, auch weil sie selbstt weiter gewandert. Und en e lohnt sich wirklich, auf Loyalität erwarten. Sie müssen es dden Day Auctions der Verkäufer sein. Und gute st PR-Leute. Denn was genau ist MANFRED PERNICE M der größte Unterschied zwiUntitled, 2008 Un schen einer Ratte und einem Ho Holz, Farbe, Metall, Seil 189 × 110 × 110 cm 18 ENCORE 78 R Restricted CEAL FLOYE aß Area, 2006, M e variabel Auktionshäuser nach ihnen Ausschau zu halten, wo die Preise dann plötzlich niedriger sind als in den Galerien. Man kann dort für wenig Geld immer wieder wichtige Werke von Künstlern kaufen, die in Museumssammlungen sind, die große Ausstellungen hatten. Und bei denen es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Aufmerksamkeit des Publikums wieder zurückkommt. Denken Sie nur an Günther Förg, was für fantastische Arbeiten Sie noch vor zwei, drei Jahren kaufen konnten. Jetzt ist es natürlich zu spät. Aber das Schöne ist: Jeden Tag verlassen Züge den Bahnhof – die Kunstwelt ist voller Möglichkeiten. Man sieht Sie auf den wichtigsten Messen, bei Ausstellungseröffnungen. Sie scheinen sehr sozial zu sein. Ich bringe das nicht recht mit dem Erling Kagge zusammen, der 50 Tage und 50 Nächte allein zum Südpol gewandert ist. – Für alles im Leben gibt es eine Zeit. Manchmal glaube ich, dass ich den Trubel der Kunstwelt noch mehr als andere genießen kann, eben weil ich das absolute Gegenteil kenne: die totale Einsamkeit. Ich liebe es, mit Leuten zu sprechen, und ich liebe es, allein zu sein. Abwechslung ist gut, ich möchte in meinem Leben möglichst viele verschiedene Erfahrungen machen. Aber die Zeiten Ihrer großen Expeditionen sind vorbei. – In diesem Sommer werde ich mit einem Freund von Spitzbergen aus nach Kvitøya, der „Weißen Insel“, segeln. Dann werden wir die Insel auf Skiern durchqueren. Das ist jetzt nicht unbedingt mit einer Wanderung zum Südpol zu vergleichen, aber es ist ähnlich kalt. (Lacht) Stimmt es, dass Sie vor gar nicht allzu langer Zeit New York von der Bronx bis zur Südspitze von Manhattan durchquert haben, und zwar ausschließlich unter Tage, in Wasser- und Abwasserkanälen, in Zug- und U-Bahntunneln? – Nun, nachts sind wir hochgekommen, um Essen zu kaufen und auch um von einem Tunnel oder Kanal in einen anderen zu wechseln. urban explorer. Und wir beschlossen, gemeinsam von der North Bronx aus loszumarschieren. Nur um das zu verstehen: Sie sind meilenweit durch Flüsse voller Urin und Exkremente gewatet. – Ja, auch das. Wir hatten so Wathosen an, aber manchmal waren wir auch bis auf die Haut durchweicht. Hatten Sie keine Angst vor Infektionen? – Doch, hatten wir. Gerade weil wir immer wieder Kratzer und kleinere offene Wunden hatten. Aber wir haben es gesund überstanden. Es muss doch schrecklich gestunken haben dort unten. – Wissen Sie, ich habe drei Kinder und der Gestank von vollen Windeln ist manchmal schlimmer. ANN CATHRIN NOVEMBER HØIBO Untitled, 2014 Handgesponnene Wolle, Nylon und Jersey, 210 × 182 × 15 cm Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? – Ich habe einen Freund, der Menschen hilft, die in New York unter Tage leben. Oft sind es psychisch kranke Menschen, aber auch ganze Familien. Er ermutigt sie, heraufzukommen, auch um sich behandeln und sich helfen zu lassen. Das hat mich sehr fasziniert, dass es unter einer Stadt wie New York eine menschengemachte Wildnis gibt, in der tatsächlich Menschen leben. Und dann traf ich diesen Mann namens Steve Duncan, einen ENCORE 79 Und haben Sie dort unten Menschen kennengelernt? – Natürlich nicht in den Abwasserkanälen, aber in den anderen Gängen. Auch neben den Bahngleisen haben wir immer wieder Leute getroffen, die dort leben. Eine Frau, die wir kennengelernt haben, lebt seit 1982 unter Tage. Sie kommt nur nachts kurz hoch, um Essen und Drogen zu organisieren, und verschwindet dann wieder durch einen Gullideckel. Als wir erfahren haben, dass sie Geburtstag hatte, sind wir hoch und haben eine große Cremetorte und Drinks besorgt. Und? – Es wurde eine wahnsinnig gute Party. INTERVIEW: CORNELIUS TITTEL A POOR COLLECTOR‘S GUIDE TO BUYING GREAT ART IST IM GESTALTEN VERLAG ERSCHIENEN LOVE STORY – WORK FROM ERLING KAGGE’S COLLECTION IST NOCH BIS ZUM 27. SEPTEMBER IM ASTRUP FEARNLEY MUSEUM IN OSLO ZU SEHEN WERT SACHEN — ERLING KAGGE — ERTSACHEN — W GRAND PRIX — BL AU K ALENDER A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot des Kunsthandels GOOD OLD TIMES SOMMER IN SALZBURG Horst P. Horst? Wer kennt diesen Mann? Der Fotograf ist immer noch nicht so berühmt wie seine Bilder, obwohl er 2014 eine große Retrospektive im Victoria & Albert in London hatte. Sein Porträt von Salvador Dalí hat jeder schon einmal gesehen. Die Galerie Johannes Faber zeigt das bekannte Licht-und-SchattenMotiv Mainbocher Corset (pink satin corset by Detolle), Paris, 1939, auf der Art Salzburg, einer kleinen, lohnenswerten Kunst- und Antiquitätenmesse in der Salzburger Residenz. Sie ist mehr als Begleitprogramm der Festspiele. SWKA PATRIOT Art Salzburg 15. – 24. August bei Johannes Faber in Wien PENG! Im Sommer, wenn die Auktionshäuser Urlaub machen, erwacht der Kunsthandel in vielen kleinen Städten, in der Altstadt von Bamberg zum Beispiel bei den Kunstund Antiquitätenwochen. Bei Senger ist diese Jagdszene nur Beiwerk zum wertvollen Hammerklavier (rechts). ENCORE 80 Do it for the kids – Benefizauktion 15. Juli bei Bonhams in London HT C U S GE ! Als Take That noch auf dem Fernsehbildschirm turnten, galt auch die Reise zum Mond noch etwas. Robbie Williams versteigert jetzt seinen MTV Europe Music Award von 1994 für einen guten Zweck: für das Donna Louise Children’s Hospice. Die Trophäe ist auf 2.800 bis 4.100 Euro geschätzt. WOE Vor ein paar Jahren widmete erst das Berliner Kunstgewerbemuseum David Roentgen eine glanzvolle Ausstellung, bald darauf das Metropolitan Museum. Die Ethik des Protestantismus und der Geist des Kapitalismus, wie Max Weber sie beschrieb, trafen sich im Aufstieg der Roentgen-Manufaktur. Was geschlossen aussieht wie ein Bureau Plat im strengen Geschmack des späten 18. Jahrhunderts, entpuppt sich als Hammerklavier der modernsten Art. Über der Tastatur findet sich die stolze Gravur der Designer-Künstler-Unternehmer: „Roentgen et Kinzing à Neuwied sur le Rhin“. Kinzing war Uhrmacher und Instrumentenbauer. Das Hammerklavier ist eine technische Glanzleistung, es ist spielbar über fünf Oktaven. Von den insgesamt sechs Objekten dieser Art weiß man fünf längst in Museen. Das jetzt von Senger in Bamberg angebotene sechste kommt aus einer aristokratischen Sammlung im Süden. Man wünscht sich, dass sich in Deutschland Senger Kunsthandel ein Sammler oder 21. Juli – 21. August Mäzen findet. Bamberger Kunst- und MICHAEL STÜRMER Antiquitätenwochen EINE AUSWAHL der BLAU-REDAKTION AUKTIONEN 30. JUNI PHILLIPS IN LONDON Gegenwartskunst 30. JUNI / 1. JULI SOTHEBY’S LONDON Gegenwartskunst FREUDS G GESCHENK 1. JULI NAGEL STUTTGART Kunst und Antiquitäten 1. / 2. JULI SOTHEBY’S LONDON Gegenwartskunst 3. / 4. JULI VILLA GRISEBACH BERLIN Sammlung Rohde-Hinze 7. – 10. JULI CHRISTIE’S LONDON Auktionswoche mit alten Meistern, Gemälden und Zeichnungen, Präraffaeliten, britischer Kunst 8. – 9. JULI SOTHEBY’S LONDON Auktionstage mit alten Meistern, Gemälden und Zeichnungen, britischer Kunst 15. JULI SOTHEBY’S LONDON Viktorianische Kunst, Präraffaeliten, britischer Impressionismus 15. JULI BONHAMS LONDON Benefizauktion für das Kinderhospiz: Robbie-Williams-Memorabilia MESSEN UND FESTIVALS 21. JULI – 21. AUG. BAMBERGER KUNST- UND ANTIQUITÄTENWOCHEN in den Kunsthandlungen der Stadt 15. – 24. AUG. ART SALZBURG Kunst und Antiquitäten 17. – 20. SEPT. ABC – ART BERLIN CONTEMPORARY 17. – 20. SEPT. EXPO CHICAGO Gegenwartskunst 24. – 27. SEPT. VIENNACONTEMPORARY in Wien: Gegenwartskunst 22. – 25. OKT. FIAC in Paris: Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst 28. OKT. – 1. NOV. HIGHLIGHTS IN MÜNCHEN Kunst und Antiquitäten 6. – 8. NOV. ARTISSIMA in Turin: Gegenwartskunst 12. – 15. NOV. PARIS PHOTO Fotografie 18. – 22. NOV. COLOGNE FINE ART & ANTIQUES Kunst und Antiquitäten 3. – 6. DEZ. ART BASEL MIAMI BEACH Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst Die sechs Mitford-Schwestern sind in England Legende, wie bei uns die Familie Mann. Nancy wurde Schriftstellerin, Diana heiratete den Faschistenführer Englands, Unity wurde HitlerFreundin. Susanne Kippenberger hat jüngst eine tolle Biografie über Jessica geschrieben. Die Jüngste, Deborah, wurde Herzogin und bekam sechs Kinder. Was das mit Lucian Freuds EierGemälde zu tun hat? „Debo“ und der Künstler waren enge Freunde. Er schenkte ihr 2002 Four Eggs on a Plate. Deborah Mitford posierte gern bis ins hohe Alter mit ihren Hühnern. Als Kind verkaufte sie deren Eier an ihre Mutter, um sich etwas zu verdienen. Die letzte der Mitfords ist 2014 im Alter von 94 Jahren gestorben. Das Gemälde von Lucian Freud ist auf 138.000 bis 207.500 Euro geschätzt. SWKA Die wahre Mona Lisa von JULI bis DEZEMBER 14. – 18. OKT. FRIEZE LONDON & FRIEZE MASTERS Alte Meister bis Gegenwartskunst Gegenwartskunst 1. Juli bei Sotheby’s in London 120 Jahre ist es her, dass man diese Schlafende, gebettet in Bleistift- und Kreisestriche, zum letzten Mal sah. Damals war sie in einem Kunstmagazin abgebildet, seither galt sie als verschollen. Das Motiv weckt Erinnerungen an ein Gemälde, das zuweilen als „Mona Lisa der südlichen Hemisphäre“ beschrieben worden ist: Lord Leightons Flaming June aus dem Jahr 1895. Eine langgliedrige, schöne Frau mit unendlich wucherndem roten Haar, blanken Brüsten und einem feurigen orangefarbenen Ölfarben-Kleid beobachten wir im erschöpften Schlaf. Unsere Abbildung zeigt eine Studie zum Gemälde. Wieder aufgetaucht ist sie jetzt an der Schlafzimmerwand von Mary, Herzogin von Rox burghe, in ihrem West Horsley Place. Es ist die einzige bekannte Kopfstudie für eines der bekanntesten Meisterwerke des 19. Jahrhunderts. Das Blatt ist bei Sotheby’s auf 55.000 bis 83.000 Euro geschätzt, was einigermaßen moderat erscheint – erst recht wenn man sich entscheiden müsste Viktorianische Kunst, Präraffaeliten zwischen diesem Werk und und britische Kunst einem Druck von Banksy. SWKA 15. Juli bei Sotheby’s in London ENCORE 81 ESSAY BUY NOW Online ist das Geschäft von heute – bald auch für die Galerien? ERLING KAGGE — — ERTSACHEN GRAND PRIX — W — BL AU K ALENDER A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK AUF PINTEREST: Die Mary Boone Gallery hat Barbara Krugers Untitled (I shop therefore I am) von 1987 gepostet O b sie will oder nicht, Kunst ist an den Veränderungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens beteiligt. Lange, vielleicht viel zu lange gingen digitale Debatten an der Kunst vorbei. Diskutiert wurde nur über kostenlose Musik oder Texte. Die Aura der Kunst, die Walter Benjamin als deren wahres Sein beschrieben hat, lässt sich nicht downloaden. Also glaubte man das Werk im Original gesehen haben zu müssen, bevor man es erwerben dürfe. Mittlerweile wächst der Kunst-Onlinehandel unaufhaltsam. Die Nachricht des Frühjahrs war, dass Sotheby’s sich mit eBay zusammengetan hat, um Versteigerungen im Internet anzubieten. Die letzte Meldung nun vor wenigen Tagen: Simon de Pury, Auktionator und ehemaliger Besitzer von Phillips de Pury (heute Phillips), hat ein Single-Owner-Auktionshaus im Netz eröffnet, das sich auf Kunst aus bekannten Sammlungen spezialisieren will. Die erste Versteigerung im Oktober umfasst 400 Lose des Besitzers der belgischen Banque Lambert. Das Onlinegeschäft, das vielen so vulgär vorkam wie ein Werbeaufkleber, auf dem „Kauf mich, dann bist du wer“ steht, belebt sich. Auch die Galerien werden Anschluss finden. In den vergangenen Jahren hörte man oft von den sogenannten JPEGMitarbeitern, die in den Galerien damit beschäftigt sind, Kunden die neuesten Abbildungen per Mail zu senden. Dann versuchte man sich an Onlinemessen wie der VIP Art Fair, die nach zwei Ausgaben scheiterte. Inzwischen freilich betrachten nicht nur Leute ohne viel Kaufkraft Kunst bei Instagram oder Pinterest – dort wimmelt es von Galeristen, Künstlern und Sammlern. Jetzt hat Pinterest es der Konkurrenz vorgemacht und in den USA einen Buy now-Button eingeführt. Facebook entwickelt Ähnliches und wirbt damit schon auf der deutschen Website. Pinterest basiert auf aufwendigen Datenbanken, die sich merken, was den surfenden Flaneuren gefallen hat. Die Kunst kann man sich dort in Sammelalben zusammenstellen. Bei jedem Besuch wird einem eine neue Auswahl nach dem eigenen Geschmack und Stil vorgeschlagen. Was fürs Modeshopping wie ein Paradies klingt, scheint für die Kunst ein Albtraum. Oder doch nicht? Ein Blick auf die Pinterest-Seite der Londoner Tate Modern mit Werken von Alberto Giacometti bis Ellsworth Kelly und man wünscht sich, dass die Algorithmen so schlau sind und sich merken, was man hier „gepinnt“ hat. Und dass das System bald ähnlich qualitätsvolle Bilder aus den Programmen der weltweit vertretenen Galerien für Gegenwartskunst zusammensucht und nach oben zaubert – dann auch gern mit Buy now-Button. SWANTJE KARICH ENCORE 82 FONDATION BEYELER 31. 5. – 6. 9. 2015 RIEHEN / BASEL www.fondationbeyeler.ch AVATAR UND ATAVISMUS Kunsthalle DÜSSELDORF 22.08. bis 08.11. Als um 1980 der Körper in die Kunst zurückkehrte, war er versehrt. Nach Jahren der Abstraktion und Konzeptualität, die als Errungenschaften der Moderne galten, tauchten plötzlich vereinzelte Köpfe, Hände und andere Gliedmaßen auf sowie Tiere und merkwürdige animistische Elemente. Man kann diese Tendenz mit Claude Lévi-Strauss’ Idee vom „Wilden Denken“ auf den Punkt bringen: Instinkt statt Ratio, Kosmos statt Kalkül, Energien und Kräfte, wie höchstens Urvölker sie noch kennen, wurden auf einmal wieder interessant, Obsession, Narration und Ironie wieder möglich, die Outsiderkunst rückte neu ins Blickfeld. Nun hat der Kurator Veit Loers in der Kunsthalle Düsseldorf eine Ausstellung kuratiert, die um die Idee der Archetypen und ihrer künstlerischen Ausformungen kreist: In den 80er-Jahren stehen dafür u. a. Siegfried Anzinger, Walter Dahn und Jiří Georg Dokoupil. Danach folgen maskenartige Gebilde wie die Lemurenköpfe von Franz West und Rosemarie Trockels gestrickte Balaklava. Heute führen Sarah Lucas, Kai Althoff, Thomas Zipp, Danh Vō, Justin Matherly und Eva Kotátková die Linie fort. Ergänzt um Arbeiten von Outsiderkünstlern, die hauptsächlich in Kliniken leben, wird daraus ein Schattenspiel der jüngeren Kunstgeschichte. BLAU K ALENDER — ERLING KAGGE — ERTSACHEN GRAND PRIX — W — BL AU K ALENDER A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK Unsere TERMINE im Juli und August NICHOS MANGAN CHISENHALE GALLERY, LONDON 03.07. BIS 23.08. JOSEPH CORNELL Untitled ( Tilly Losch ), ca. 1935 – 38 JOSEPH CORNELL WANDERLUST Royal Academy LONDON 04.07. bis 27.09. Er kam kaum einmal aus seinem New Yorker Stadtteil Queens heraus, dafür ist er viel auf Fantasiereise gewesen: Joseph Cornell, der Außenseiter unter den amerikanischen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Man muss nahe herantreten an seine Wandkästen und kleinen Vitrinen, um in die verwunschene Welt einzudringen, die sich hinter den Glasscheiben verbirgt. Dabei hat Cornell mit schöner Widerständigkeit gegen die surreale Verklärung des Unbewussten seine Assemblagen stets „Konstruktionen“ genannt. Und vielleicht liegt da auch der unver wüstliche Reiz dieser Arbeiten: dass ihrer Poesie so ganz der Stolz des genialisch Zufälligen fehlt. Da sitzt, so denkt man, ein versonnener Baumeister vor seinen Dingen, stellt sie zu Bühnenbildminiaturen zusammen und überlässt es uns, uns die Stücke dazuzuträumen. GÜNTHER FÖRG Maske, 1990 ENCORE 84 Seit geraumer Zeit fällt immer wieder das Wort „Anthropozän“. Es bezeichnet das Zeitalter, in dem wir leben – genauer gesagt seit wir mit dem Abwurf der ersten Atombombe dem Erdball unseren unlöschbaren Fußabdruck aufgedrückt haben. Nicht wenige jüngere Künstler reagieren darauf, thematisieren die Widersprüche zwischen Natur und Zivilisation, beschäftigen sich mit Umweltzerstörung oder beteiligen sich mit ihren Mitteln an der Suche nach natürlichen Energieressourcen. Der Australier Nicholas Mangan interessiert sich vor allem für die sozialen Auswirkungen ökonomischer Prozesse. Auf der letzten New York Triennial nahm er die winzige Pazifikinsel Nauru ins Visier, die drittkleinste Nation der Welt. Durch Phosphatminen kam sie zu Reichtum, wurde Steuerparadies und Knotenpunkt für Geldwäsche. Seine neue Filminstallation, Ancient Lights, kreist um die Sonne und kreuzt dabei Themenfelder wie aztekische Kolonialgeschichte, Solarenergie, NASA-Forschung, Revolutionstheorie und Dendrochronologie (Datierung anhand von Baumjahresringen). Auch an die Energiequellen seiner Ausstellung hat er gedacht: Solarzellen auf dem Dach liefern den Strom für Licht und Projektoren – der Galerieraum wird zum geschlossenen System. NICHOLAS MANGAN Ancient Lights, 2015 DOUG AITKEN EUROPÄISCHE GEISTER – DIE PRÄSENTATION VON KUNST AUS AFRIKA IM 20. JAHRHUNDERT KUNSTMUSEUM AAN ZEE, OOSTENDE, 04.07. – 03.01.2016 Foto aus dem Buch Iskusstvo Negrov, 1913 Es war der Theoretiker des Kubismus Guillaume Apollinaire, der 1908 den Louvre aufforderte, seine hehren Museumssäle auch der Stammeskunst aus Afrika zu öffnen. Seither hat es nicht an bedeutenden Versuchen gefehlt, auf der westlichen Kunstbühne zu rehabilitieren, was als Kunst lange verkannt worden war. Und doch, eine Spur Kolonialherrengesinnung hat auch die nobelsten Anstrengungen begleitet. Vielleicht scheitert ja jede museale Begegnung mit der afrikanischen Kultur an der Unvereinbarkeit der Begriffe und Erfahrungen. Die Ausstellung untersucht anhand von Objekten traditioneller und zeitgenössischer Kunst und von Dokumenten und Publikationen den Wandel der Afrikabilder im 20. Jahrhundert, entwirft eine Geschichte, die unentschieden, unentscheidbar schwankt zwischen ästhetischer Verzauberung und ethnografischer Korrektheit. SCHIRN KUNSTHALLE 09. JULI – 27. SEPTEMBER Doug Aitkens Filme sind wie Wellenreiten: Sie tragen einen rhythmisch und rauschhaft davon, erfassen sämtliche Sinne. Naturgewalten und Zivilisationsvehikel verschmelzen zu einer Dynamik. Da überrascht es nicht, dass der Künstler, Jahrgang 1968, in Los Angeles lebt. Durchdringender Sound und raumspezifische Skulpturen begleiten seine bewegten Bildwelten, mit denen er schon ganze Museumsfassaden bespielt hat. Nicht selten arbeitet Aitken über mehrere Räume verteilt, sodass man nicht bloß Filme sieht, sondern eine KörpererDOUG AITKEN fahrung macht, Oben: Migration (Empire), als liefe man durch 2008; Unten: Sunset ein Kaleidoskop. (Black and White), 2011 Bekannt wurde Aitken 1999 auf der Biennale von Venedig, als er für seine Arbeit Electric Earth, ein Porträt eines jungen Mannes im urbanen Niemandsland, den Goldenen Löwen erhielt. Traumartige Narrationen prägen seitdem seine Bildsprache, die immer wieder in neue, unbekannte Bereiche vordringt. Zuletzt schickte er einen Zug als mobiles Museum durch die USA, in dem Filme, Musik und Performances von Künstlerkollegen an jeder Station wechselten. Nun zeigt die Frankfurter Schirn Kunsthalle eine Überblicksschau. Auch sie wird sich nicht auf die Ausstellungsräume beschränken, sondern weit über sie hinausreichen. ENCORE 85 Menschliches, Allzumenschliches Lenbachhaus MÜNCHEN 22. JULI – 31. DEZEMBER NEUE SACHLICHKEIT: ES WAR DIE MODERNE DER 20ER-JAHRE IN DEUTSCHLAND. EINE MALEREI DER STÄDTE, DER BIZARREN LEBENSWIDERSPRÜCHE, DIE DIE EPOCHE NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG PRÄGTE. DIE AVANTGARDISTISCHEN EXPERIMENTE HATTEN IHRE FASZINATION VERLOREN, DIE MALER KEHRTEN ZUM GEGENSTAND ZURÜCK, DER UMSO VERWUNDERLICHER ERSCHIEN, JE SCHÄRFER MAN IHN ISOLIERTE, JE KONZENTRIERTER MAN AUF IHN BLICKTE. VOR ALLEM OTTO DIX HAT DIESE ART DER DINGBETRACHTUNG AUCH FÜR SEINE PORTRÄTS GENUTZT UND MIT IHNEN EINE HEISSKALTE TYPOLOGIE DER EPOCHE GELIEFERT. SEINE LEIDENSCHAFTLICHE NIETZSCHE-LEKTÜRE GIBT DER MÜNCHNER AUSSTELLUNG TITEL UND PROGRAMM. MENSCHLICHES ALLZUMENSCHLICHES PRÄSENTIERT DEN LANGE ZEIT NUR IN KLEINEN TRANCHEN GEZEIGTEN BESTAND AN NEUER SACHLICHKEIT, DEN DAS LENBACHHAUS BESITZT. ER GEHÖRT ZU DEN BESTEN IN DEUTSCHLAND. Oben: HERBERT PLOBERGER Selbstbildnis mit ophtalmologischen Lehrmodellen, um 1928 – 30 Unten: GEORGE GROSZ, Mann und Frau, 1926 ART SPACE PYTHAGORION Aleksandra Domanović 20.07. bis 10.10. Der Art Space im Hafen der griechischen Insel Samos: Jeden Sommer wird ein Künstler hierher eingeladen, sich mit dem Ort zu befassen. In diesem Jahr ist es die Künstlerin Aleksandra Domanović. Unter der Militärdiktatur in den 70er-Jahren war das Gebäude ein Hotel, das bald leer stand und verwahrloste Kriminelle anzog. Vor drei Jahren wurde ein White Cube daraus. Vom Art Space blickt man hinüber zur türkischen Küste. Immer wieder begeben sich von dort Menschen auf eine lange Reise: Sie flüchten in Booten in Richtung Europa, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aleksandra Domanović, 1981 in Serbien geboren, kennt das Thema Flucht. Sie lässt deswegen auf Samos das Marina Lučica in Split wieder aufleben, wo sie 1990 mit ihrer Familie den Sommer verbrachte. Einen Tag nach ihrer Abreise begannen die Unruhen, die zum Bürgerkrieg führten. Im Art Space wird Domanović in einer nachgebauten Empfangshalle Tito-Porträts, Videoarbeiten, Skulpturen und Recherchematerialien zeigen, die an Jugoslawien erinnern. KARL BLOSSFELDT Pinakothek der Moderne MÜNCHEN 24.07. BIS 25.10. — ERLING KAGGE — ERTSACHEN GRAND PRIX — W — BL AU K ALENDER A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK A D I L L Y PH BARLOW KUNSTMUSEUM ST. GALLEN 22.08 BIS 08.11. K ARL BLOSSFELDT Blumenbachia hieronymi (1915 –26) Blütenformen entlangzufahren und dabei das Ornamentale zu entdecken, die ästhetische Regel. Großzügig sah Blossfeldt über launisches Wachstum hinweg und erkor die Natur zu einer Art Bauhaus-Lehrerin für Gestaltung, die mit ihren wieder kehrenden Geometrien „Urformen der Kunst“ liefert. Sein gleichnamiges Mappenwerk sollte bei seinem Erscheinen 1928 zu einem Grundbuch der Neuen Sachlichkeit werden. Der ART SPACE PYTHAGORION auf SAMOS ENCORE 86 PHYLLIDA BARLOW Oben: Untitled (Bound tubes), 2011 Unten: Untitled (Columns), 2010 Er war kein Naturschwärmer, der Pflanzenfotograf Karl Blossfeldt, und er machte sich mit seiner selbst gebauten Plattenkamera auch nicht noch einmal auf die Suche nach der blauen Blume der Romantik. Was ihn faszinierte, war weniger die plastische Fülle einer Duftrose. Sein starrer Kamerablick ruhte lieber auf den zu Voluten gebogenen Blattspitzen eines Rittersporns. Und seine konturenscharfen Nahaufnahmen wollten das Auge verleiten, in aller Geduld an den Silhouetten der Blatt- und Phyllida Barlow macht Sperrkunst. Raumbesetzungsskulptur. Hindernisbildhauerei. Das mag beim einen oder anderen den Verdacht nähren, die bunte Materialgewalt wolle bloß mundtot machen. Man kann sich aber auch auf die Großinszenierungen einlassen und um die aufgetürmten Gebilde aus besprayten und bemalten Metallteilen, Stoffresten und Holzpaletten herumturnen, die aussehen, als würden sie jeden Moment umfallen oder von der Decke stürzen. Was so monumental aussieht, sich mit Knallfarben und -formen erst einmal wichtig macht, wird von der britischen Künstlerin zum Großteil am Ende der Ausstellung wieder zerstört. Barlow, Jahrgang 1944, lebt in London. Studiert hat sie dort in den 60er-Jahren im Umfeld von Konzeptkunst und Performance. Doch damals wurde ihre Arbeit kaum wahrgenommen. Auch später in den 90er-Jahren, als es in der Kunst um private Erzählungen ging, fiel sie aus dem Rahmen. Denn ein persönliches Statement ist es gerade nicht, wie Phyllida Barlow mit Stahlstreben, Betonpollern, Eierkartons und Holzpaletten temporäre Skulpturen baut. Ihre Kunst zielt auf den starken sinnlichen Eindruck und passt vielleicht deshalb ganz gut in unsere und mehr noch zu unserer Zeit. Olafur Eliasson, Colour experiment no. 51, 2013, Photo: Jens Ziehe Olafur Eliasson Werke aus der Sammlung Boros 1994 – 2015 Langen Foundation 18. April – 18. Oktober 2015 Langen Foundation Raketenstation Hombroich 1 41472 Neuss art berlin contemporary 17–20 September 2015 Station-Berlin Luckenwalder Straße 4 – 6 10963 Berlin www.artberlincontemporary.com BILDNACHWEISE Nr. 3 / Juli – August 2015 TITEL Sammlung Robert Funcke Kunsthandel, Neu-Isenburg. Courtesy of Sprüth Magers. EDITORIAL S. 5: Yves Borgwardt für BLAU. INHALT S. 7 M. o.: © Estate of Joan Mitchell. Image Courtesy of the Joan Mitchell Foundation and Cheim & Read Gallery, New York. S. 7 l. u.: Foto: Keystone Schweiz/laif. S. 8 o.: Courtesy of the artist and Galerie Daniel Buchholz, Cologne/ Berlin. S. 8 l. u.: Foto: Peter Kaaden für BLAU. S. 8 r. u.: Foto: Massimo Listri. CONTRIBUTORS S. 10 o.: Foto: Manfred Witt/ Visum. S. 10 u.: Foto: Isolde Ohlbaum/laif. ESSAY Courtesy of Friedrich Christian Flick Collection. © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne. APÉRO S. 16 l. o., S. 16 l. u.: Courtesy of Fondation Cartier. S. 16 r. o.: Courtesy of the artist. S. 16 r. u.: Courtesy of the artist and Hauser & Wirth. S. 17 o.: Foto: Simeon Johnke. S. 17 u.: Courtesy of the artists and Fiorucci Trust. Foto: Anna Blessman. DICHTER DRAN Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel. Foto: Martin P. Bühler, Öffentliche Kunstsammlung Basel. O-TON Foto: Dominik Butzmann/laif. SCHNELLSTE SKULPTUREN Foto: Porsche. UM DIE ECKE Fotos: S. 20 bis 22: Vitus Saloshanka für BLAU. BLITZSCHLAG S. 24 o.: Markus Burke für BLAU. S. 24 u.: Foto: Archiv Roland Berger. INTERVIEW THOMAS SCHÜTTE S. 26, S. 28: Albrecht Fuchs für BLAU. S. 27: Foto: Nic Tenwiggenhorn. PORTRÄT JOAN MITCHELL S. 30/31: Private Collection. © Estate of Joan Mitchell. S. 32/33: Collection of the Joan Mitchell Foundation Archives. Photo by Barney Rosset. S. 34: Collection of the Joan Mitchell Foundation, New York. © Estate of Joan Mitchell. Images Courtesy of the Joan Mitchell Foundation and Cheim & Read Gallery, New York. S. 35: Collection of the Albright–Knox Art Gallery; Gift of Seymour H. Knox, Jr., 1958. © Estate of Joan Mitchell. Foto: Scala Archives, Firenze. S. 36 o.: Collection of the Museum of Modern Art, New York. © Estate of Joan Mitchell. Foto: Scala Archives, Firenze. S. 36 u.: Collection of the Museum of Modern Art, New York. Gift of the Estate of Joan Mitchell. © Estate of Joan Mitchell. Foto: Scala Archives, Firenze. S. 37: Foto: Rudy Burckhardt. Courtesy of Tibor de Nagy Gallery, New York. S. 38/39, S. 40, S. 42: © Estate of Joan Mitchell. Image Courtesy of the Joan Mitchell Foundation and Cheim & Read Gallery, New York. S. 43: © The Robert Mapplethorpe Foundation. Used by permission of Art + Commerce. KLEINE MUSEEN S. 44/45: Foto: Georg Fischer/Bilderberg/La Photothèque/Avenue Images. S. 46 l. o.: Foto: GAP/Charles Hawes. Construction design: Ian Hamilton Finlay. Garden design: Sue Finlay. S. 46 l. u.: pa picture alliance. S. 46 r. o.: © Museu Frederic Marès, Foto: Guillem F-H. S. 46 r. u.: Foto: Gaby Gerster. S. 47 l. o., S. 47 r. o.: Refik Anadol/Innocence Foundation. S. 47 u.: Foto: Peter Ross. S. 48 l.: Museum Gipsoteca Antonio Canova, Possagno (Treviso), Italy. S. 48 r. o.: Foto: Richard Bryant/Arcaid/laif. S. 48 M. r.: Foto: akg images/De Agostini Picture Lib. S. 48 r. u.: Foto: S. Drueen © Kunstsammlung NRW. S. 49 l., S. 49 r.: Foto: Peter Koijmann/ Museum Van Loon. S. 49 r. u.: News Pictures/all4prices. PORTRÄT ANDREAS SCHULZE S. 50/51: Courtesy of Sprüth Magers. S. 53: Foto: Peter Kaaden für BLAU. S. 54: Courtesy of Sprüth Magers. Foto: Jochen Arentzen. S. 55: Courtesy of Sprüth Magers. Foto: Mareike Tocha. S. 56/57: Courtesy of Sprüth Magers. S. 58: Fotos: Peter Kaaden für BLAU. S. 59: Courtesy of Sprüth Magers. PORTRÄT NAIRY BAGHRAMIAN S. 60: Foto: Olaf Jackel. S. 61: Courtesy of Art Institute of Chicago. S. 62 o.: © 2013 SculptureCenter, New York. Foto: Jason Mandella. Courtesy of Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. S. 62 M.: Courtesy of Heins Schürmann Collection, Herzogenrath. Courtesy of the artist and Daniel Buchholz, Berlin/Cologne. S. 62 l. u.: © Nairy Baghramian. Fotos: Kunsthalle Mannheim, Cem Yücetas. S. 62 r. u.: Courtesy of the artist and Daniel Buchholz, Berlin/Cologne. S. 63: © 2013 SculptureCenter, New York. Foto: Jason Mandella. Courtesy of Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. S. 64: Courtesy of Galerie Buchholz, Berlin/ Cologne. S. 65: Courtesy of Punta della Dogana. Foto: Matteo de Fina. MARIO PRAZ S. 67: Foto: Getty Images. S. 68: Fotos: Lorenzo Pesce/laif. S. 69, 70, 73: Fotos: Massimo Listri. INTERVIEW ERLING KAGGE S. 75: Foto: Kristine Jakobsen für BLAU. S. 76: Erling Kagge Collection. S. 77: Erling Kagge Collection. Foto: Vegard Kleven. S. 78 o.: Erling Kagge Collection. Courtesy of the artist, Neugerriemschneider, Berlin, and Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. S. 78 u.: Erling Kagge Collection. Foto: Christian Øen. S. 79: Courtesy of Standard, Oslo. Foto: Vegard Kleven. KUNSTMARKTKOLUMNE S. 82: © Barbara Kruger. Courtesy of Mary Boone Gallery, New York. KALENDER S. 84 l.: Privatsammlung. © Estate Günther Förg. Foto: Wolfgang Günzel. S. 84 M.: Collection of Robert Lehman. Courtesy of Aimee and Robert Lehman. Foto: The Robert Lehman Trust. Courtesy of Aimee and Robert Lehman. Quicksilver Photographers, LLC. S. 84 r.: Courtesy of the artist. Co-comissioned by Chisenhale Gallery, London, and Artspace, Sydney. S. 85 l.: © Vladimir Markov. S. 85 M. o.: Courtesy of the artist. 303 Gallery, New York; Galerie Eva Presenhuber, Zürich; Victoria Miro Gallery, London; Regen Projects, Los Angeles. Film still: © Doug Aitken. S. 85 M. u.: Courtesy of the artist. 303 Gallery, New York; Galerie Eva Presenhuber, Zürich; Victoria Miro Gallery, London; Regen Projects, Los Angeles. Foto: Brian Forrest. S. 85 r. o.: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München. S. 85 r. u.: Privatsammlung. S. 86 l.: Foto: Costas Vergas, 2013. S. 86 M.: Stiftung Ann und Jürgen Wilde, Pinakothek der Moderne, München. S. 86 r. o.: Hauser & Wirth Collection, Switzerland. Foto: Mike Bruce. S. 86 r. u.: Hauser & Wirth Collection, Switzerland. Foto: Stefan Altenburger Photography, Zürich. DER AUGENBLICK © Stephen Gill, from the Hackney Flowers series. Courtesy of Christophe Guye Gallery. VG Bild-Kunst, Bonn, 2015 Hans Berg, Joseph Beuys, Joseph Cornell, Ceal Floyer, Stephen Gill, Ottmar Hörl, Robert Longo, Ann Cathrin November Høibo, Herbert Ploberger, Thomas Schütte, Andreas Schulze, Nic Tenwiggenhorn DER AUGENBLICK DIE BLÜTEN HACKNEYS Eine Fotografie und ihre Metapher I STEPHEN GILL Aus der Serie Hackney Flowers E DIE NÄCHSTE AUSGAB T IN HE VON BL AU ERSC DER WELT AM 29. AUGUST 2015 IN UND DA NACH IM EL ZEITSCHRIFTENHAND mmer wollen sie einem reinreden und stellen dumme Fragen, wenn man als Dokumentarfotograf unterwegs ist. Es sei denn, man zieht sich eine orange leuchtende Joppe an – Bauarbeitergarderobe –, dann denken sie: ‚Der ist vom Amt‘ und lassen einen in Frieden. Wenn du leuchtest, bist du unsichtbar. Diese Erfahrung hat Stephen Gill in Hackney gemacht, einem Bezirk im Nordosten Londons, der im 19. Jahrhundert als Gartenreich entworfen wurde und vor 20 Jahren ärmlich und verloren schien – bevor die Wiederentdeckung begann. Gill selbst, geboren 1971 in Bristol, fand die Peripherie Londons als junger Mann unwiderstehlich. Auf diese Stadtlandschaft hat er die erste Hälfte seiner Karriere gebaut (die zweite kommt noch). Hier fand er alles, wonach er sich sehnte: das Unfertige und das Unschöne, das technische Hybrid und den ökonomischen Kompromiss. Irgendwie hatte er begriffen (oder auch nur gespürt), dass es hier etwas gab, das man nicht erfassen konnte, das also in seiner wackligen Gestalt nicht typisch fotografisch war. Statt die urbane Landschaft als Fotograf zu verorten, zu kartografieren, ließ er sich hineinziehen in die ENCORE 90 sozialurbane Wüste, deren Flagge immer die blaue Plastikplane bleiben wird. Das ging so weit, dass Gill seine Fotos im Brachland vergrub und später nachsah, was aus ihnen geworden war. Was ihn mit den Dokumentarfotografen der alten Schule verbindet, sind eine gewisse Melancholie und eine entschiedene Aufmerksamkeit für das Übersehene. Da aber endet die gemeinsame Agenda. Je weniger nun Hackney – Olympia 2012! – dem ähnelt, was es noch vor Kurzem war, desto mehr nähern sich Stephen Gills Fotografien Visionen. Den Weg dorthin fand er über die Hackney Flowers, eine fotografische Sequenz, die halb draußen und halb im Atelier entstand. Eigene Fotografien, dekoriert und noch einmal fotografiert. Der Lastwagen, der getrocknete Blüten abwirft, ist, wie jede Collage, eine Metapher. Sie könnte buddhistisch codiert sein und in aller Bescheidenheit den Wunsch ausdrücken, dass nichts je verloren gehen darf. ULF ERDMANN ZIEGLER IST SCHRIFTSTELLER UND LEBT IN FRANKFURT AM MAIN. SEIN ROMAN UND JETZT DU, ORLANDO! (2014) WÄRE NICHT DENKBAR GEWESEN OHNE EINE RADTOUR MIT STEPHEN GILL IN DAS BRACHLAND JENSEITS VON HACKNEY S E I T 17 0 7 Enrico Castellani, Superficie, 1960, reliefierte Leinwand, 100 x 120 cm, Auktion 10. Juni 2015, erzielter Preis € 965.000 ERFOLGREICH VERKAUFEN IM FÜHRENDEN AUKTIONSHAUS MITTELEUROPAS Vereinbaren Sie einen Termin mit unseren Experten Düsseldorf, 27. Juni – 3. Juli Düsseldorf, Südstraße 5, Dr. Petra Schäpers, Tel. 0211-210 77-47, duesseldorf@dorotheum.de München, Nürnberg, Frankfurt, Stuttgart, 29. Juni – 7. Juli München, Galeriestraße 2, Franz Freiherr von Rassler, Tel. 089-244 434 73-0, muenchen@dorotheum.de Palais Dorotheum Wien, Tel. +43-1-515 60-570, www.dorotheum.com Stil kann man jetzt kaufen. Das neue Continental GT V8 S Convertible. Pure Energie und zeitlose Eleganz erfahren. Der stilvollste Grand Tourer der Welt. Mit neuem Anspruch. Neuem Design. Und neuem Charakter. Modell Continental GT V8 S Convertible, Verbrauchsangaben – EU-Fahrzyklus (l/100 km): innerorts 16,1; außerorts 8,1; kombiniert 11,1. CO2 Emissionen 258g/km. Effizienzklasse D. Weitere Informationen über unsere atemberaubenden neuen Modelle erhalten Sie unter www.BentleyMotors.com. Oder wenden Sie sich bitte an +49 30 224030231. #ContinentalGTV8SConvertible Der Name ‘Bentley’ und das geflügelte ‘B’ sind registrierte Warenzeichen. © 2015 Bentley Motors Limited. Gezeigtes Modell: Continental GT V8 S Convertible. APÉRO 92 Scannen und entdecken