Versorgung von Osteoporose

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Versorgung von Osteoporose
MEDIZIN
ORIGINALARBEIT
Versorgung von Osteoporose-Patienten
in Deutschland
Ergebnisse der BoneEVA-Studie
Bertram Häussler, Holger Gothe, Sandra Mangiapane,
Gerd Glaeske, Ludger Pientka, Dieter Felsenberg
Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH (Prof. Dr.
med. Häussler, Dr.
med. Gothe, Frau Mangiapane)
Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen
(Prof. Dr. rer. nat. Glaeske)
Marienhospital, Universitätsklinikum
Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. med.
Pientka)
Zentrum für Muskelund Knochenforschung, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin
Franklin (Prof. Dr. med.
Felsenberg)
A 2542
ZUSAMMENFASSUNG
SUMMARY
Einleitung: Osteoporose wird als Volkskrankheit angesehen, wenngleich es derzeit keine gesicherten Angaben zur
Häufigkeit und zur Versorgungsrealität der Erkrankung in
Deutschland gibt. Ziel dieser Studie war es zu untersuchen, wie häufig Osteoporose in Deutschland auftritt, wie
sie diagnostiziert und behandelt wird. Methoden: Es wurde
eine retrospektive Beobachtungsstudie auf Basis von Routinedaten einer gesetzlichen Krankenkasse und Abrechnungsdaten des Zentralinstituts für die Kassenärztliche
Versorgung (ZI) im Zeitraum von 2000 bis 2003 durchgeführt. Untersucht wurden alle Versicherten, die mindestens
50 Jahre alt waren, mindestens eine Osteoporose-Diagnose oder eine Fraktur-Diagnose im Zusammenhang mit
Osteoporose hatten oder eine Verordnung Osteoporose-typischer Arzneimittel erhielten. Ergebnisse: Nur 20 Prozent
der hochgerechnet insgesamt 7,8 Millionen OsteoporosePatienten wurde mit einem bei Osteoporose indizierten
Arzneimittel behandelt. Trotz steigender Erkrankungsprävalenz nahm die Behandlungsprävalenz mit zunehmendem Alter ab. Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass die
medikamentöse Versorgung von Osteoporose in Deutschland verbesserungsbedürftig ist. Insbesondere hinsichtlich
der großen Zahl an unbehandelten Patienten sowie einer
hohen Rate an Therapieabbrüchen ergeben sich wichtige
Ansatzpunkte für die Entwicklung optimierter Behandlungsstrategien.
Dtsch Arztebl 2006; 103(39): A 2542–8.
OUTPATIENT CARE FOR OSTEOPOROSIS
PATIENTS IN GERMANY – RESULTS FROM THE
BONEEVA STUDY
Introduction: In Germany, accurate data on prevalence and
treatment of osteoporosis are not available. The aim of this
study was to investigate how frequently osteoporosis occurs, who makes the diagnosis and how osteoporosis is
treated in the outpatient setting. Methods: A retrospective
cohort study was performed using routine data from a German health ínsurance company and billing data for outpatient visits for the years 2000 to 2003. Patients were included, if they were at least 50 years old and had at least one
mention of osteoporosis or an osteoporosis related fracture or of osteoporosis specific medication. Results: Only
20 per cent of the projected 7.8 million osteoporosis
patients were treated with osteoporosis specific drugs.
Although the prevalence of osteoporosis increases with
age, the treatment prevalence decreased in higher age
groups in this study. Discussion: The study shows that
osteoporosis treatment in Germany needs improvement.
The high rates of undertreatment and non-compliance
suggest a need for improved treatment strategies.
Dtsch Arztebl 2006; 103(39): A 2542–8.
Key words: osteoporosis, fracture, drug prescription,
diagnosis, health services research
Schlüsselwörter: Osteoporose, Fraktur, Arzneimittelverordnung, Diagnosestellung, Versorgungsforschung
0
steoporose ist eine chronische Skeletterkrankung, die durch Verminderung der Knochenmasse, eine Störung der Knochenmikroarchitektur
und ein erhöhtes Frakturrisiko charakterisiert ist.
Insbesondere postmenopausale Frauen unterliegen
einem hohen Risiko, an Osteoporose zu erkranken.
Gemäß Angaben der WHO von 1994 leiden weltweit
etwa 30 Prozent der postmenopausalen Frauen an
Osteoporose. In Deutschland wird angenommen, dass
vier bis sieben Millionen Menschen von dieser Erkrankung betroffen sind, die exakte Prävalenz ist allerdings nicht bekannt (1–5).
Die enormen sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Osteoporose werden in erster Linie durch
die durch Osteoporose bedingten Frakturen verursacht. So sind auf diese Komplikationen jährlich mehr
Krankenhaustage zurückzuführen als beispielsweise
auf Diabetes, Myokardinfarkt oder Brustkrebs (6–7).
Eine fraktursenkende Wirkung konnte für verschiedene Arzneimittel, darunter Bisphosphonate, Raloxifen und Östrogene vor allem bei Patienten nach einer
Fraktur und bei Patienten mit einem 10-Jahres-Frakturrisiko > 30 Prozent in zahlreichen Studien nachgewiesen werden. Die durchschnittliche „number needed
to treat“ (NNT) bei drei bis fünf Jahren Behandlungsdauer betrug 15 bis 30 (8–11). Inwieweit Calcium und
Vitamin D die Frakturanfälligkeit senken können, ist
derzeit noch unklar (12–13).
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Es ist von großer Bedeutung, Personen mit hohem
Erkrankungsrisiko frühzeitig zu identifiziert, über
Präventionsmaßnahmen aufzuklären und bereits Erkrankte rechtzeitig zu identifizieren und zu therapieren.
Fragestellung
Ziel der BoneEVA-Studie (Bone EVA, bone, epidemiology, validation of health care delivery) war, die
Versorgungsrealität bei Osteoporose-Kranken in
Deutschland zu untersuchen. Insbesondere sollten folgende Fragen beantwortet werden: Wie häufig tritt
Osteoporose in Deutschland auf? Wer stellt die Diagnose im ambulanten Bereich? In welchem Maß werden von welchen ärztlichen Fachgruppen welche
Wirkstoffe bei welchen Patienten eingesetzt?
Methoden
Studienpopulation
Die Studienpopulation, auf deren Grundlage die bundesweite Erkrankungs- und Behandlungsprävalenz
geschätzt wurde, setzte sich zum einen aus Versicherten der GEK zusammen, die im Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2003 mindestens
360 Tage durchgehend versichert waren und im Jahr
2000 mindestens 50 Jahre alt waren. Um einen Versicherten als Osteoporose-Patienten zu identifizieren,
zogen die Autoren außerdem folgende Kriterien heran:
> mindestens eine Osteoporose-Diagnose (Krankenhaus- oder Arbeitsunfähigkeitsdiagnose [AU]) in den
Jahren 2000 bis 2003 gemäß ICD-10 (M80/M81). Patienten mit den Diagnosen Morbus Paget (ICD-10 M88)
und/oder Hyperkalzämie (ICD-10 E83.5*) und/oder
Frakturen bei Neubildungen (ICD-10 M90.7*) wurden
von der Analyse ausgeschlossen.
> mindestens eine durch Osteoporose bedingten
Fraktur (Krankenhaus- oder AU-Diagnose) in den Jahren 2000 bis 2003 gemäß ICD-10 oder
> mindestens eine Verordnung eines bei Osteoporose
indizierten Arzneimittels zwischen 2000 und 2003.
Hierzu zählten Calcium/Vitamin D, bestimmte Hormonpräparate, Calcitonin, selektive ÖstrogenrezeptorModulatoren (SERM), Fluoride, Anabolika, Bisphosphonate, Raloxifen, Teriparatid und Nandrolon).
Des Weiteren enthielt die Studienpopulation Patienten aus dem ZI-Datensatz, die im Jahr 2003 folgende Kriterien erfüllten:
> mindestens eine ambulante Osteoporose-Diagnose gemäß ICD-10 (M80/M81). Patienten mit den Diagnosen Morbus Paget (ICD-10 M88) und/oder Hyperkalzämie (ICD-10 E83.5*) und/oder Frakturen bei
Neubildungen (ICD-10 M90.7*) wurden von der Analyse ausgeschlossen.
> Mindestens eine durch Osteoporose bedingte
Fraktur gemäß ICD-10.
Datenquellen
Es wurden Routinedaten der Gmünder Ersatzkasse
(GEK, circa 1,5 Millionen Versicherte) für die Jahre
2000 bis 2003 ausgewertet. Um zusätzlich Angaben
über die Leistungsinanspruchnahme im ambulanten
Sektor zu erhalten, wurden außerdem Abrechnungsdaten des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (ZI, circa 600 000 Patienten) aus dem Jahr
2003 analysiert. Alle mit dem operativen Datensatz
aus GEK- und ZI-Daten durchgeführten Analysen beziehen sich auf das Jahr 2003. Die verwendeten GEKDaten umfassen folgende Angaben:
> Alter und Geschlecht des Versicherten
> Versicherungsbeginn
> verordnete Arzneimittel
> Krankenhausaufenthalte (einschließlich Diagnosen gemäß ICD-10 sowie Aufnahme- und Entlassungsdatum),
> Arbeitsunfähigkeiten (einschließlich Diagnosen
gemäß ICD-10 sowie Anzahl an Tagen)
> Rehabilitation
> verordnete Heil- und HilfsTABELLE 1
mittel.
Anteil osteoporosebedingter Frakturen an allen Frakturen des jeweiligen
Die Daten des ZI entstammen
ICD-10-Codes nach Altersgruppen und Geschlecht
einer repräsentativen Stichprobe
ICD-10
Befund
Altersgruppe
Altersgruppe
Altersgruppe
niedergelassener Ärzte (Ärzte-Pa50–64
65–74
75+
nel) im KV-Bezirk Nordrhein. Das
(Prozent)
(Prozent)
(Prozent)
Panel enthält Angaben zu Patienm
w
m
w
m
w
ten von 7 911 Ärzten aus 14 FachS22
Fraktur an Rippe(n), Sternum
63
73
65
75
65
75
arztgruppen. Folgende Informatiound Brustwirbelsäule
nen wurden für das Jahr 2003 beS32
Fraktur der Lendenwirbelsäule
62
72
65
75
68
78
rücksichtigt:
und des Beckens
> Patienten-IdentifikationsnumS42
Fraktur im Bereich der Schulter
34
44
40
50
60
70
mer
und des Oberarms
> Geburtsdatum und Geschlecht
S52
Fraktur des Unterarms
63
73
68
78
74
84
des Versicherten
S72
Fraktur des Femurs
47
57
59
69
79
89
> Diagnose (ICD-10)
S82
Fraktur des Unterschenkels einschl.
10
12
11
14
14
17
> Facharztgruppe
des oberen Sprunggelenks
> abgerechnete Leistung
> Datum der LeistungsinanIn Anlehnung an Brecht und Schädlich (2000) m, männlich; w, weiblich
spruchnahme
aus: Häussler et al. Epidemiology, treatment and costs of osteoporosis in Germany – the BoneEVA study. Osteoporosis Int 2006 (im Druck).
> Anzahl der Arztkontakte.
Mit freundlicher Genehmigung: Springer Verlag Berlin, Heidelberg
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TABELLE 2
Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung, geschätzte Osteoporoseprävalenz
in Deutschland 2003 und abgerechnete Knochendichtemessungen im Jahr 2003
Geschlecht
Alter
Deutsche
Bevölkerung
(Anzahl)
Männer
50–64
65–74
75
7 658 928
3 928 276
2 043 080
Personen
mit Osteoporose
(Anzahl)
543 642
448 962
329 068
Prävalenz
(Prozent)
7,1
11,4
16,1
Knochendichtemessungen
(Anzahl)
8 641
5 487
718
90 Tagen nach dem Verbrauch der
rezeptierten Medikamente oder während der aktuellen Verordnung keine neue Bisphosphonat-Verordnung
eingelöst, galt die Therapie als abgebrochen. Therapiewechsler wurden von der Analyse ausgeschlossen.
Statistische Analyse
Viele Frakturen können eine andere Ursache als Osteoporose haben.
Frauen
50–64
7 759 628
1 809 571
23,3
31 175
Deshalb wurden die im GEK- und
65–74
4 537 484
2 119 505
46,7
40 198
75
4 316 049
2 553 010
59,2
29 010
im ZI-Datensatz identifizierten
Frakturen entsprechend den von
Gesamt
16 613 161
6 482 086
39,0
100 383
(Frauen)
Brecht und Schädlich (14) abgeleiteten alters- und geschlechtsspeziGesamt (alle)
30 243 445
7 803 758
25,8
115 229
fischen Gewichtungen der Osteoporose zugeschrieben (Tabelle 1).
Eigene Berechnungen auf Grundlage von Abrechnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse der Jahre 2000 bis 2003 und
Daten des ZI-ADT-Panels aus dem Jahr 2003 (ZI-ADT, Zentralinstitut Abrechnungsdatenträger)
Die aus dem GEK-Datensatz
aus: Häussler et al. Epidemiology, treatment and costs of osteoporosis in Germany – the BoneEVA study. Osteoporosis Int 2006 (im Druck).
und
dem ZI-Datensatz ermittelten
Mit freundlicher Genehmigung: Springer Verlag Berlin, Heidelberg
Osteoporose-Prävalenzen wurden
gemäß der deutschen Alters- und
Geschlechtsverteilung (Statistisches Bundesamt 2004)
Diagnostik
Eine Möglichkeit, Patienten mit hohem Osteoporose- adjustiert, entsprechend der Verteilung der FacharztRisiko zu identifizieren, stellt die Osteodensitometrie gruppen (KBV 2004) auf die gesamte Bundesrepublik
dar. Auf Grundlage des ZI-Datensatzes wurde analy- Deutschland hochgerechnet und im Sinne einer ökolosiert, wie viele Patienten diese Leistung im Jahr 2003 in gischen Studie zusammengeführt. Die aus dem GEKAnspruch genommen haben. In Deutschland kann die- Datensatz ermittelte medikamentöse Behandlungsse Untersuchung derzeit nur nach einer Fraktur zu La- prävalenz und die auf Grundlage des ZI-Datensatzes
sten der Gesetzlichen Krankenversicherung abgerech- resultierende Anzahl durchgeführter Knochendichtenet werden. Es konnten somit nur die erstattungsfähi- messungen wurden ebenfalls gemäß der deutschen Algen und nicht die vom Patienten selbst getragenen Lei- ters- und Geschlechtsverteilung adjustiert und entsprechend der Verteilung der Facharztgruppen auf
stungen (IGeL-Leistungen) ermittelt werden.
Deutschland hochgerechnet. Der Einfluss des Bisphosphonat-Therapieregimes auf die Persistenz der
Arzneimittel
Es wurden sieben Kategorien von für die Behandlung Verordnungen wurde mithilfe einer Überlebenszeitvon Osteoporose relevanten Arzneimitteln definiert: analyse (Kaplan-Meier-Kurven) untersucht. Alle staBasistherapie (Calcium/Vitamin D), Hormonersatzthe- tistischen Analysen wurden mit dem Software-Paket
rapie (Östrogen-Monopräparate und Östrogen- SPSS, Version 12.0, durchgeführt.
Progesteron-Kombinationspräparate), Bisphosphonate,
Calcitonin, selektive Östrogenrezeptor-Modulatoren Ergebnisse
(SERM), Fluoride und Anabolika. Weil die alleinige Laut Hochrechnung litten im Jahr 2003 bundesweit
Nennung von Hormonpräparaten als Indikator für eine 7,8 Millionen Menschen im Alter von mindestens 50
Osteoporose zu unspezifisch ist, musste im Beobach- Jahren – und damit rund ein Viertel der Bevölkerung
tungszeitraum zusätzlich mindestens eine Verordnung dieser Altersgruppe – an Osteoporose. Die Prävalenz
aus der Kategorie „Basistherapie“ vorliegen, damit ein ist bei Frauen deutlich höher als bei Männern (6,5 verVersicherter als Osteoporose-Patient angesehen wer- sus 1,3 Millionen Betroffene) und steigt sowohl bei
den konnte.
Frauen als auch bei Männern im Alter stark an (TabelStudien aus den USA (15) und den Niederlanden (16) le 2).
zeigen eine mangelnde Adhärenz hinsichtlich der Therapie mit Bisphosphonaten, wobei die Adhärenz mit Durch Osteoporose bedingte Frakturen
wöchentlich einzunehmenden besser als die mit täglich Gemäß den vorgenommenen Schätzungen erlitten im
verabreichten Bisphosphonaten ist. Dieser Aspekt wur- Jahr 2003 bundesweit 333 322 der circa 7,8 Millionen
de auch hier untersucht. Dazu wurde eine Stichprobe Osteoporose-Patienten (4,3 Prozent) eine Fraktur.
des Gesamtkollektivs betrachtet, die sechs Monate vor Hüftgelenknahe Frakturen (99 973 Patienten), Handder Indexverschreibung keine Bisphosphonat-Therapie gelenkfrakturen (42 242 Patienten) und Wirbelfraktuerhalten hatten. Die Verschreibungsdaten wurden für ren (40 741 Patienten) waren die häufigsten Frakturzwölf Monate nach der Indexverschreibung auf einen typen. Obwohl bereits aus früheren Schätzungen beTherapieabbruch hin analysiert. Wurde innerhalb von kannt ist, dass mindestens 60 Prozent aller WirbelGesamt
(Männer)
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13 630 284
1 321 672
9,7
14 846
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und Hüftfrakturen bei Personen ab
dem 45. Lebensjahr und 85 Prozent bei Personen ab dem 85. Lebensjahr auf Osteoporose zurückzuführen sind (17), stellte sich in
der Untersuchung heraus, dass bei
Frakturen im ambulanten Sektor
nur selten an Osteoporose gedacht
wird. So veranlassten die behandelnden Ärzte beispielsweise nur
bei 37 Prozent der Patienten mit einer Fraktur der Lendenwirbelsäule
oder des Beckens eine Osteoporose-Diagnose. Solche Frakturen
sind gemäß Brecht und Schädlich
(14) aber in 62 bis 78 Prozent der
Fälle auf Osteoporose zurückzuführen.
Prozentualer Anteil
von OsteoporosePatienten unter medikamentöser Therapie (ohne Analgetika-Medikation)
und unter Bisphosphonat-Therapie.
Berechnungen auf
Grundlage von Abrechnungsdaten der
Gmünder Ersatzkasse der Jahre
2000 bis 2003
GRAFIK 1
Diagnostik
Im Jahr 2003 wurden hochgerechnet insgesamt 115 229 Knochendichtemessungen abgerechnet. Im Hinblick auf die
geschätzte Anzahl von Patienten mit durch Osteoporose bedingten Frakturen (n = 333 322) erscheint
die Rate der Patienten, die adäquat diagnostiziert werden, niedrig. 87 Prozent dieser Leistungen entfielen
auf Frauen; mit zunehmendem Alter sinkt die Anzahl
der Osteodensitometrien deutlich, bei Männern stärker als bei Frauen (Tabelle 1).
Arzneimitteltherapie
Nur jeder fünfte Osteoporose-Patient (insgesamt rund
22 Prozent; 12 Prozent der männlichen und 24 Prozent
der weiblichen Osteoporose-Patienten; hochgerechnet n = 1 692 281) erhielt die bei Osteoporose typischerweise indizierten Arzneimittel (Grafik 1). Eine
Basistherapie, bestehend aus der Gabe von Calcium
und Vitamin D, und Bisphosphonate waren mit etwa
17 beziehungsweise 10 Prozent die häufigsten Therapieoptionen (Grafik 2). Diese Rangfolge stimmt mit
den zum Zeitpunkt der Studie gültigen deutschen Therapieleitlinien überein (18–19).
90 Prozent der Patienten nahmen Analgetika ein.
Im Vergleich zu gleichaltrigen und gleichgeschlechtlichen Patienten ohne Osteoporose, von denen 61 Prozent eine Schmerztherapie erhielten, wurden Osteoporose-Patienten dreimal so viele Analgetika-Verordnungen ausgestellt.
Eine Subanalyse ergab, dass Osteoporose-Patienten, die nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) einnahmen, häufiger mit einer Ulkus-Diagnose im Krankenhaus behandelt wurden als Patienten, die diese
nicht einnahmen (3,2 Prozent versus 2,3 Prozent;
p < 0,001). Durch die umfangreichen Verordnungen
von NSAID entstehen somit Kosten, die möglicherweise bei rationalem therapeutischen Vorgehen vermeidbar wären. Trotz steigender Erkrankungsprävalenz nahm die Behandlungsprävalenz mit zunehmendem Alter ab. Bei Frauen sank die Behandlungsquote
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von 31 Prozent in der Altersgruppe von 50 bis 64
Jahren auf 19 Prozent in der Altersgruppe der mindestens 75-Jährigen (Grafik 1). Nur jede elfte Patientin
im Alter von mindestens 75 Jahren wurde mit Bisphosphonaten behandelt (Grafik 1). Dieser Trend
zeigte sich auch bei Männern: Je älter die männlichen
Patienten waren, desto seltener erhielten sie Bisphosphonate.
Die hochgerechnet insgesamt 1 556 056 Bisphosphonat-Verordnungen stellten in 46 Prozent Allgemeinmediziner, in 29 Prozent Orthopäden, in 20 Prozent Internisten und in 5 Prozent andere Fachgruppen
aus.
Eine Therapie mit Bisphosphonaten zur täglichen
Einnahme brachen die Patienten im Laufe eines Jahres
häufiger ab (58 Prozent) als wenn ein wöchentliches
Dosisregime indiziert war (43 Prozent) (Grafik 3).
Diskussion
Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, die Prävalenz
der Osteoporose in Deutschland zu schätzen, die Versorgungssituation von Osteoporose-Patienten zu untersuchen und die Art der Diagnosestellung dieser Erkrankung zu analysieren.
Gemäß den durchgeführten Hochrechnungen leiden in Deutschland etwa 7,8 Millionen Menschen im
Alter ab 50 Jahren an Osteoporose, 83 Prozent davon
sind Frauen. Somit ist die Prävalenz etwas höher als
bisher angenommen (1–5). Im Jahr 2003 erlitten
hochgerechnet über 333 000 Patienten eine Fraktur.
Hiervon waren 100 000 Hüftfrakturen, die somit das
häufigste Ereignis darstellten.
Die Datengrundlage für die Berechnung bildeten
Routinedaten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) und
Daten des Zentralinstituts der KV (ADT-Panel Nordrhein). Dies hatte den Vorteil, dass zahlreiche Behandlungen, verteilt über ganz Deutschland, in die Berechnungen eingehen konnten. Von Nachteil ist hingegen,
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Prozentualer Anteil medikamentös behandelter Osteoporose-Patienten nach Wirkstoffgruppen (Mehrfachnennungen möglich).
Berechnungen auf Grundlage von Abrechnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse der
Jahre 2000 bis 2003.
* alle Pharmaka außer Analgetika, mindestens ein bei Osteoporose indiziertes Arzneimittel; SERM, selektiver ÖstrogenrezeptorModulator
Abnahme der therapierten Patienten
während der Beobachtungszeit. Berechnung
erfolgte auf Grundlage von Abrechnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse der Jahre
2000 bis 2003
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GRAFIK 2
GRAFIK 3
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dass keinerlei Möglichkeit bestand, kodierte Diagnosen zu verifizieren – beispielsweise anhand von Röntgenuntersuchungen oder sonstigen klinischen Parametern, wie dies zum Beispiel in der EPOS-Studie (3)
geschehen ist. Dies könnte der Grund dafür sein, dass
unter anderem der Anteil an Wirbelfrakturen in dieser
Studie geringer ausgefallen ist, als allgemein erwartet
wurde.
Auch ist darauf hinzuweisen, dass die für die Berechnungen verwendeten Stichproben nicht repräsentativ für Deutschland sind. Alters- und Geschlechtsunterschiede wurden bei den Hochrechnungen ausgeglichen, andere relevante Faktoren, wie der Wohnort
oder der sozioökonomische Status, konnten nicht
berücksichtigt werden, weil es hierzu keine Angaben
gab.
Grundsätzlich muss beachtet werden, dass es sich
bei der ermittelten Prävalenz um eine „Versorgungsprävalenz“ handelt, weil nur Patienten berücksichtigt
werden konnten, die ärztliche Leistungen in Anspruch
genommen hatten. Patienten ohne Arztkontakte sowie
nicht erkannte oder nicht therapierte Patienten ohne
kodierte Osteoporose-Diagnose wurden nicht erfasst.
Dies kann zu einer Unterschätzung der tatsächlichen
Osteoporose-Prävalenz geführt haben. Auf der anderen Seite enthalten die verwendeten Datensätze möglicherweise Fehldiagnosen und somit falschpositive
Fälle. Darüber hinaus sind Calcium, Vitamin D und
Hormonpräparate als Osteoporose-Indikatoren wenig
spezifisch, sodass es auch auf diesem Weg zu einer
Überschätzung der Osteoporose-Prävalenz gekommen sein kann.
Die Wahrnehmung der Erkrankung Osteoporose ist
in Deutschland sehr gering. So wurde die Diagnose,
vor allem auch im Zusammenhang mit Frakturen, wesentlich seltener gestellt als erwartet. Auch Knochendichtemessungen, die bei vorhandener Fraktur zu diagnostischen Zwecken von der Gesetzlichen Krankenkasse erstattet werden, wurden nur in geringem Maße
veranlasst.
Das Verordnungsverhalten der Ärzte erwies sich als
überaus zurückhaltend. So erhielten im Beobachtungszeitraum nur etwa 22 Prozent der OsteoporosePatienten eine spezifische Therapie. Selbst wenn man
bedenkt, dass eine entsprechende Medikation nur bei
Patienten mit einem 10-Jahres-Frakturrisiko von mehr
als 30 Prozent beziehungsweise bei Patienten nach einer Fraktur indiziert ist, so wurden die Patienten immer noch zu selten medikamentös versorgt. Die Behandlungsprävalenz sank darüber hinaus mit dem Alter weiter ab, sodass diese Ergebnisse auf eine Unterversorgung insbesondere der älteren Osteoporose-Patienten hindeuten. Dies ist umso erstaunlicher, als die
Prävalenz von Hüftfrakturen im Alter stark ansteigt.
Zudem ist bekannt, dass die medikamentöse Therapie
die Lebensqualität deutlich verbessert und so zu einer
Kostenreduktion führt (20, 21).
Hinsichtlich der Adhärenz gegenüber der Bisphosphonat-Therapie zeigte sich zwar eine Überlegenheit
des wöchentlichen Dosisregimes gegenüber der tägli⏐ Jg. 103⏐
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chen Einnahme, jedoch ist die Therapietreue der Patienten unter Bisphosphonat-Therapie verbesserungsbedürftig. Dieses Ergebnis fügt sich in internationale
Untersuchungen ein (15–16). Mögliche Gründe dafür
sind der schleichende Verlauf der Erkrankung, der die
Notwendigkeit einer Arzneimitteltherapie für den Patienten nicht erkennbar werden lässt, und die Tatsache, dass Therapieeffekte nicht unmittelbar bemerkt
werden. Darüber hinaus stellen die spezifischen Einnahmemodalitäten und die mit der BisphosphonatTherapie verbundenen Nebenwirkungen ein Problem
für die Persistenz dar (22–24). In der Konsequenz
führt dies häufig zu einem unbefriedigenden Therapieerfolg. Deshalb sind Arzneimittelentwicklungen zu
begrüßen, die eine Verringerung der Einnahmefrequenz im Sinne einer monatlichen oder quartalsweisen Applikation ermöglichen, sodass sich eine bessere
Adhärenz der Patienten an die medikamentöse Therapie erreichen lässt.
Es ist aber auch die Aufgabe von Ärzten und Apothekern, Patienten, die medikamentös therapiert werden, besser über die Notwendigkeit der kontinuierlichen medikamentösen Therapie aufzuklären und auf
diese Weise die Adhärenz der Patienten zu verbessern.
Darüber hinaus müssen Patienten stärker auf Präventionsmaßnahmen, wie calciumreiche Ernährung und
Bewegung hingewiesen werden.
Diese Studie wurde mit freundlicher Unterstützung von Hoffmann-La Roche
und GlaxoSmithKline durchgeführt.
Interessenkonflikt
Prof. Häussler, Dr. Gothe und Frau Mangiapane beraten unter anderem die
Firmen Grünenthal, MSD Sharp & Dohme, Lilly Deutschland, Pfizer, Wyeth,
Hoffmann-LaRoche und GlaxoSmithKline. Prof. Glaeske erhält Drittmittel von
der Gmünder Ersatzkasse. Prof. Pientka hat Honorare für Vorträge und beratende Tätigkeiten von MSD Sharp & Dohme, Lilly Deutschland, Proctor &
Gamble, Servier Deutschland, Nycomed Pharma GmbH erhalten. Prof. Felsenberg hat für Beratung und/oder Vorträge und/oder Studien Gelder erhalten von MSD Sharp & Dohme, Sanofi-Aventis, Proctor & Gamble, HoffmannLaRoche,GlaxoSmithKline, Lilly Deutschland, Nycomed, Otto Bock, Novartis,
Servier, GE Healthcare, Wyeth, Schering, Organon und Pfizer.
Manuskriptdaten
eingereicht: 22. 5. 2006, revidierte Fassung angenommen: 21. 8. 2006
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Bertram Häussler
Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH
Wichmannstraße 5, 10787 Berlin
E-Mail: iges@iges.de
REFERIERT
Imatinib und Knochenstoffwechsel
Imatinibmesylat hemmt die Tyrosinkinasen und wird als Standardtherapie bei der chronischen myeloischen Leukämie sowie bei gastrointestinalen Stromatumoren eingesetzt. Die Autoren berichten über eine
unerwünschte Wirkung des Medikaments, die bislang in der Gebrauchsinformation nicht erwähnt wird, nämlich eine Hypophosphatämie als Ausdruck einer Störung im Knochenstoffwechsel. Von 63 retrospektiv und 14 prospektiv evaluierten Patienten wiesen zeitweise
51 Prozent erniedrigte Serumphosphatwerte auf. Erhöhte Parathormonspiegel und ein erniedrigtes Serumkalzium sprechen für eine
durch Imatinib induzierte Knochenbildungs- und resorptionsstörung,
wahrscheinlich infolge einer Hemmung des PDGF-Rezeptors. Sollten
sich die Ergebnisse der Autoren in weiteren Studien bestätigen, so
empfehlen sie, bei Patienten unter einer Imatinibtherapie die Serumphosphat- und Vitamin-D-Spiegel zu kontrollieren, um durch eine
Phosphatsubstitution einer Osteoporose beziehungsweise Osteomalazie vorzubeugen
w
Berman E, Nicolaides M, Maki RG et al.: Altered bone and mineral metabolism in patients receiving imatinib therapy. N Engl J Med 2006; 354: 2006–13.
E-Mail: berman@mskcc.org
Melatonin: kein Effekt bei Schlafstörungen
Viele Flugreisende nehmen vor Transatlantikflügen zur Vermeidung des
Jetlag Melatonin, ein Hormon der Zirbeldrüse, ein. Oft werden Flugreisende auch von Bekannten aufgefordert, entsprechende Präparate aus
amerikanischen Drugstores zur Behandlung von Schlafstörungen mitzubringen. Überprüft man anhand kontrollierter und nichtkontrollierter Studien die Effektivität von Melatonin bezüglich der Behandlung von Schlaf-
störungen, so ist die Datenlage eindeutig: weder in sechs randomisierten und kontrollierten Studien mit 97 Teilnehmern zeigte sich ein günstiger Effekt auf die Schlafinduktion bei sekundären Schlafstörungen noch
in neun Studien mit 427 Teilnehmern mit systemischem Schlafentzug
(Schichtarbeiter, Langstreckenflieger). Positiv zu vermelden: in 17 Studien mit 651 Teilnehmern waren bei einer Behandlungsdauer von bis zu
drei Monaten keine unerwünschten Wirkungen von Melatonin festgestellt worden.
w
Buscami N et al.: Efficacy and safety of exogenous melatonin for secondary sleep disorders accompanying sleep restriction: meta-analysis.BMJ 2006; 332: 385–8.
E-Mail: nina.buscemi@ualberta.ca
A 2548
⏐ Jg. 103⏐
⏐ Heft 39⏐
⏐ 29. September 2006
Deutsches Ärzteblatt⏐