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Sexueller Missbrauch – Möglichkeiten schulischer Prävention „ -2- Statt eines Vorworts... Sexueller Missbrauch ist für die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Menschen ein außerhalb ihrer Alltagswelt existierender Begriff, allenfalls stehen klischeeartige Vorstellungen davon im Raum. Eines der vielen Opfer sexuellen Missbrauchs soll darum zu Beginn dieser Arbeit Gelegenheit bekommen, sich in eigenen Worten, also ‚unredigiert’, über sein Schicksal zu äußern. „Ich bin heute 26 Jahre alt und Vertriebsassistentin in einem internationalen Unternehmen. Mein Beruf macht mir Spaß, mit meinen Kollegen versteh ich mich gut, und ich bin in einer glücklichen Beziehung. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Dabei war ich nie geplant... die Frau, die mich zur Welt brachte, hatte an dem Tag meiner Schöpfung einfach keine Lust zu verhüten. Ich kam in mehrere Pflegefamilien oder zu Tagesmüttern. Im Alter von 1 1/2 bis 3 Jahren war ich durchgängig in ein und derselben Pflegefamilie. Fast jedes Wochenende hat mich meine leibliche Mutter von dort abgeholt und so hatte ich nie ein wirkliches Zuhause. Die Pflegefamilie berichtet außerdem, dass ich jedes Mal verstört war, wenn ich von meiner leiblichen Mutter zurück gebracht wurde. Sie lernte einen neuen Mann kennen, den sie auch heiratete. Mit dem hatte sie dann ihr zweites Kind. Wir sind in eine andere Stadt gezogen und ich konnte wegen der Entfernung nicht mehr zu meiner Pflegefamilie. Ich weiß noch, dass ihr Mann mal meinen Schnuller und mein Kuscheltier ausm Fenster geworfen hat. Und ich weiß noch, dass wir eine Schaukel in der Wohnung (im Türrahmen) hatten… aber ansonsten fehlt es mir an Erinnerung. So weiß ich auch nur aus Erzählungen, dass ich nachts ans Bett gebunden wurde... und wenn ich in die Hose gemacht habe, bin ich damit eben bis morgens liegen geblieben. Ich hab im Alter von 4 Jahren nachts auf meine gerade geborene Schwester aufgepasst, weil die beiden Erwachsenen dann fast immer weg waren. Auch nur aus Erzählungen weiß ich, dass ich mit ca. 4 ½ Jahren für einen längeren Zeitraum aufgehört habe, zu sprechen, dass „ich das Leben verweigert“ habe. In ihrer Verzweiflung brachte mich meine leibliche Mutter dann zu meiner Oma, welche mich wiederum nach einiger Zeit zu meiner Tante und meinem Onkel gab. Sie hatten zwei Katzen und ein eigenes Haus… ich hatte ein eigenes Zimmer, viel Spielzeug, einen großen Garten, eine Schaukel. Meine Tante hatte ich schnell als Mutter akzeptiert. Nur vor Männern hatte ich Angst. Bald darauf wurde ich von Tante und Onkel adoptiert. Ich war sechs. Meine „neue Mutter“ war nicht da. Aber mein „neuer Vater“. Ich überraschte ihn… so wie man jemanden überraschen kann, der zufällig im gleichen Haus wohnt. Ich kam ins Wohnzimmer, als er sich selbst befriedigte. Er fragte, ob ich mal anfassen wolle, was ich verneinte... Er sagte, es sei nicht schlimm… ich solle es mal tun. So tat ich es. Meine Mutter fuhr mit ihrem roten Fahrrad wieder am Haus vorbei… man sah es vom Fenster aus... er wurde auf einmal hektisch - ich sollte nichts sagen – es sollte unser Geheimnis sein. Ich schwieg. Meiner Erinnerung nach war fast zwei Jahre Ruhe... dann sind wir in eine andere Stadt gezogen. Meine neue Schulklasse hasste mich von Anfang an. Ich war zurückhaltend und -3- anders. Meine Mutter hatte wieder angefangen zu arbeiten. Ich war Schlüsselkind geworden. Eines Tages, ich war acht, kam ich von der Schule. Mein Vater saß da, halb nackt... den Rest seines bulligen Körpers hatte er in Frauenunterwäsche gekleidet. Er guckte Pornos. Ich war stumm. Er war erschrocken, dass ich ihn "überrascht" hatte. Er sagte so etwas wie: ‚Du bist schon zurück?!’ Er befriedigte sich selbst. Der Porno lief im Hintergrund. Er tat so, als sei alles normal. Er zwang mir ein normales "von der Schule zurück"-Gespräch auf. Natürlich sollte ich Mutti nichts davon erzählen und ihn verraten. Sie fände das nicht so toll, wegen der Unterwäsche. Von nun an tat er das jeden Tag, an den ich mich erinnern kann. Jeden Tag, sobald meine Mutter nicht da war. Er kam über seine Mittagspause nach Hause oder arbeitete gleich von zu Hause aus. Die meiste Zeit meines Lebens sah ich ihn in Reizwäsche... es gab Pornos während des Mittagessens, Pornos nach der Schule, er machte es sich dabei. Ich wusste nicht, dass es nicht normal war. Ich dachte, es wäre in jeder Familie so. Ich wusste nicht, wie Familie funktioniert. Vielleicht war ich einfach nur verklemmt, das hatte meine Mutter schließlich schon ein paar Mal zu mir gesagt… ‚Warum gehst du nicht raus, mit den anderen spielen. Warum sitzt du lieber im Zimmer, spielst allein und schreibst traurige Gedichte und Lieder? Es muss wohl an deiner Vergangenheit liegen... die ersten vier Lebensjahre. Aber jetzt ist doch alles gut... ich bin doch Deine Mutter.’ In meinen Schrank im Kinderzimmer hatte ich eingeritzt, dass ich meinen Vater hasse. Ein Aufkleber war darüber, um es zu verstecken. Als ich mal in den Ferien weg war, haben meine Eltern das ganze Zimmer umgeräumt. Ich sollte ein größeres Zimmer bekommen. Meine Mutter hat das Eingeritzte gesehen, war sauer auf mich und enttäuscht von mir. Sie verstand nicht, wie ich so etwas tun konnte, wo mein Vater doch immer alles für mich tun würde und mich so sehr liebte... über alles... Sie wusste nicht, dass er mich so sehr liebte, dass er mir sogar in die Ferien einen Brief mit einem Bild von seinem Geschlechtsteil in Reizwäsche geschickt hatte... einen erotischen Liebesbrief... an seine Tochter. Jeden Tag, überall: im Wohnzimmer, im Esszimmer, im Kinderzimmer, im Auto, wenn er mich von irgendwo abholte (meine Mutter fuhr kein Auto), fing ich so mit ca.12 Jahren an, mich zu ritzen... mit einer Schere oder Nadel... in die Haut, die Arme, manchmal bis es blutete. Die Narben und Wunden bedeckte ich mit selbstgeknüpften Freundschaftsbändern. Mit der Polaroid oder Videokamera sollte ich Aufnahmen von ihm machen. Ganz nah ran an seinen Penis. Zeitgleich sah man das Aufgenommene auf dem Bildschirm des Fernsehers. Er sagte, das mache ihn an und ich sei gut. Je mehr Alkohol er getrunken hatte, desto hemmungsloser wurde er und ich bekam immer mehr Angst, dass er weiter gehen würde. Mutti darf nur nie davon erfahren, aber das wüsste ich ja - sie ist ohnehin schon nicht gut drauf und würde krank werden, wenn ich es sagen würde. Ich schwieg. Ich versank in meiner eigenen Welt, völlig isoliert vom realen Leben, mit meiner Musik und meinen imaginären Freunden. Meine Mutter zog mit der Zeit den Schluss, dass ich in Berlin unglücklich sei (womit sie Recht hatte). Ich war so dünn, dass mich Leute ansprachen, ob ich nichts zu essen bekäme. Ich empfand mich als hässlich und hatte keinen Bezug zu mir und meinem Körper. Ich war anders. Ich war ein unscheinbares Kind, freundlich, zurückhaltend. Wie es mir erging, bemerkte niemand. Es hatte auch niemand Augen dafür – nicht in meiner Schule, nicht im Orchester, wo ich mitspielte, nicht im Reitstall. Ich isolierte mich selbst von der Außenwelt – nie hätte ich jemandem davon von allein erzählt. -4- Als ich mit 14 wegen eines Umzugs in eine andere Stadt vorübergehend zu meiner Oma zog, kam alles eher durch einen Zufall raus. Meine Oma konnte es kaum glauben – ich zeigte ihr seine Briefe mit den Fotos, die mir später auch vor Gericht (das Jugendamt hatte ihn angezeigt) als Beweis dienten. Mein Vater wurde zu einer Bewährungs- und Geldstrafe verurteilt. Während einer Londonreise wurde ich dann im Alter von 16 Jahren von einer Bekanntschaft anal vergewaltigt. Der Typ musste nichts weiter sagen – ich schwieg von allein, das hatte ich ja gelernt. Ich bin 26 Jahre alt. Mein Beruf macht mir Spaß, und ich lebe in einer glücklichen Beziehung. Seit über einem Jahr mache ich Therapie. Ich habe Probleme mit meiner Sexualität und leider unter einigen Spätfolgen. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Einer von vielen, die in der Kindheit vernachlässigt und sexuell missbraucht wurden.“1 1 Mitteilung von ‚Sasita’ (Pseudonym), Opfer sexuellen Missbrauchs, Mitteilung in Form einer E-Mail am 01.12.2004. -5- Inhaltsverzeichnis 1.0. Einleitung 2.0. Sexueller Missbrauch - Überblick zum Forschungsgegenstand 2.1. ALLGEMEINE GRUNDLAGEN 2.1.1. Definitionsansätze und Kriterien 2.1.2 Formen des Missbrauchs 2.1.3. Dauer des Missbrauchs 2.1.4. Das Ausmaß des Missbrauchs 2.2. DIE TÄTER 2.2.1. Männliche Täter 2.2.2. Frauen als Täterinnen 2.2.3. Jugendliche und Kinder als Täter 2.2.4. Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer 2.2.5. Strategien der Täterinnen und Täter 2.2.5.1. Die Auswahl der Opfer und die Kontaktaufnahme 2.2.5.2 Beziehungsaufbau und Desensibilisierung 2.2.5.3 Das Schweigen der Opfer 2.3. DIE OPFER 2.3.1. Geschlecht 2.3.2. Alter der Opfer 2.3.3. Überlebens- und Abwehrstrategien 2.4. DIE FOLGEN DES MISSBRAUCHS 2.4.1. Methodische Probleme bei der Folgenforschung 2.4.2. Traumatisierungsfaktoren 2.4.3. Folgen des Missbrauchs 2.5. URSACHEN SEXUELLEN MISSBRAUCHS 2.5.1. Das Modell der vier Voraussetzungen 2.5.2. Das „Drei Perspektiven Modell: ein feministisches Ursachenmodell“ 2.6. ZWISCHENFAZIT 3.0. Präventionsmöglichkeiten in der Schule 3.1. BEGRIFFSBESTIMMUNGEN 3.1.1. Traditionelle Präventionsmaßnahmen 3.1.2. Moderne Ansätze der Präventionsarbeit 3.1.2.1. Die Verwendung von Präventionsprogrammen in der Schule 3.1.2.2. CAPP – Child Assault Prevention Project 3.1.2.3. Kritik am CAPP-Programm 3.2. PRÄVENTIONSARBEIT MIT KINDERN 3.2.1. Ziele der Prävention mit Kindern 3.2.2. Inhalte der Prävention 3.2.2.1. Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung 3.2.2.2. Das Recht auf die eigene Intuition 3.2.2.3. Berührungen 3.2.2.3. Das Recht auf Widerstand und Ungehorsam 3.2.2.4. Gute und Schlechte Geheimnisse 3.2.2.5. Das Recht auf Hilfe und Unterstützung 3.2.2.6. Erwachsene machen Fehler 3.2.2.7. Kein Erwachsener hat das Recht, Kindern Angst zu machen 3.2.2.8. Wer helfen kann 8 10 10 11 16 19 20 23 23 25 26 27 28 29 30 33 34 35 35 36 38 39 39 41 43 43 48 51 51 51 54 56 57 58 59 62 63 64 64 65 66 67 68 69 70 70 71 -6- 3.2.3. Strittige Inhalte 3.2.3.1. Aufklärung über Sexualität und sexuellen Missbrauch 3.2.4. Präventionsmaterialien 3.2.5. Wirkung der Prävention mit Kindern 3.2.5.1. Methodenkritik 3.2.5.2. Ergebnisse der Evaluation 3.2.5.3. Negative Effekte der Prävention 3.2.6. Kritik an der bisherigen Präventionsarbeit mit Kindern 3.2.7. Folgerungen 3.3. PRÄVENTION DURCH ELTERNBILDUNG 3.3.1. Die Situation der Eltern 3.3.2. Grundsätze der Elternbildung in der Prävention 3.3.3. Inhalte und Ziele der Elternbildung 3.4. PRÄVENTION DURCH LEHRKRÄFTE 3.4.1. LehrerInnen-Ausbildung 3.4.2. Fort- und Weiterbildung 3.4.2.1. SchiLF – eine landesweite Fortbildungsmaßnahme für LehrerInnen 3.4.2.2. Qualifikation der PädagogInnen am Beispiel von STROHHALM e.V. 3.5. MÖGLICHKEITEN DER ERGÄNZENDEN PRÄVENTIONSERZIEHUNG IN DER SCHULE 3.5.1. Sexualerziehung 3.5.2. Geschlechtsrollenerziehung 3.5.2.1. Forderungen an die Mädchenerziehung 3.5.2.2. Forderungen an die Jungenerziehung 3.5.3. Kulturelle Sensibilität 3.6. VORBEDINGUNG FÜR EINE INTERVENTION 3.6.1. Mögliche Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch 3.6.2. Sensibilität für Hinweise 3.6.3. Situation der LehrerInnen 3.7. DIE INTERVENTIONSSCHRITTE IM EINZELNEN 3.7.1. Ruhe bewahren 3.7.2. Sich selbst Hilfe holen 3.7.3. Kontaktaufnahme mit dem betroffenen Kind 3.7.4. Das soziale Umfeld 3.7.5. Zusammenarbeit mit den Institutionen 3.7.6. Fremdunterbringung 3.7.7. Strafanzeige 3.7.8. Sexuelle Übergriffe zwischen Kindern und Jugendlichen 3.8. MISSBRAUCH IN DER SCHULE 3.8.1. Reaktionsweisen bei vermutetem sexuellen Missbrauch 3.8.2. Reaktionsweisen bei erwiesenem Missbrauch 71 71 72 74 74 75 79 80 84 87 88 88 89 91 92 93 94 96 98 98 99 100 101 102 103 103 104 106 106 106 108 109 110 112 113 114 115 116 117 118 4.0. Schlussbetrachtung 119 5.0. Literatur- und Quellenverzeichnis 122 -7- 1.0. Einleitung Diese Biographie spricht für sich. Es handelt sich hier um eine Geschichte, die jederzeit überall geschehen kann und tatsächlich geschieht, ohne dass die Öffentlichkeit sie wahrnimmt. Erst durch die Berichterstattung über schreckliche Kindermorde in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch wird der Durchschnittsbürger aufmerksam und verurteilt voller Abscheu die ‚bestialischen Täter’. In seiner Alltagswelt gibt es den Fremden, den ohnehin psychisch gestörten, abartigen Kinderschänder nicht. Die häufig sensationslüsterne und voyeuristische Darstellung spektakulärer Missbrauchsfälle, wie sie die Medien präsentieren, lassen Klischees entstehen, die eine Wahrnehmung der Missbrauchsrealität erschweren oder gänzlich unmöglich machen. Solcherart vermittelte Vorstellungen sind nicht nur falsch, sondern vor allem gefährlich. Diesen Zustand gilt es zu ändern. Als Frauengruppen in den USA, später auch in der Bundesrepublik, Anfang der 80er Jahre ihre Missbrauchserfahrungen publizierten, regten sie damit eine breite fachliche Auseinandersetzung unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen zu dem Thema an. Die teilweise sehr kontrovers geführten Diskussionen dauern besonders in den Themenbereichen ‚ Ursachen und Ausmaß des Missbrauchs’ weiter an. Es besteht jedoch Konsens darüber, dass realitätsnahes Wissen über den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs in der Öffentlichkeit faktisch kaum festzustellen ist. Ebenso steht fest, dass sexueller Missbrauch ein alltägliches Phänomen ist. TäterInnen sind unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Position auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu finden, ebenso wie jedes Kind Opfer sexuellen Missbrauchs werden kann. Hieraus resultiert ein enormer präventiver Handlungsbedarf, der an der gesamtgesellschaftlichen Situation ansetzen und von Erwachsenen ausgehen sollte. Dem steht jedoch entgegen, dass die Gesamtproblematik kaum in vollem Umfang erkannt wird. Erst beim Vorliegen eines konkreten Falles kommt es zu Reaktionen, die aber eher als Versuch der Schadensbegrenzung denn als wirksame Prävention gelten können. Zudem löst allein der Begriff ‚sexueller Missbrauch’ eine Vielzahl an negativ befrachteten Gefühlen aus, die einen adäquaten Umgang mit der Situation erschweren. Daher richten sich die präventiven Bemühungen von Vereinen und Initiativen vorrangig an die potentiellen Opfer, nämlich die Kinder. Man will sie befähigen, einem Missbrauch möglichst von vornherein möglichst zu widerstehen oder ihn jedenfalls zu offenbaren. -8- Insgesamt wird die moderne Prävention mehrdimensional gesehen und schließt auch präventive Arbeit mit Erwachsenen als Zielgruppe ein. Der Schule als der wichtigsten gesellschaftlichen Institution und Sozialisationsinstanz kommt hier die wesentlichste Bedeutung zu, da sie einerseits das Begegnungsfeld mit Kindern und der präventiven Arbeit mit ihnen bietet und andererseits ein Bindeglied zur den Eltern darstellt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb das Thema dieser Arbeit, die Frage nach den präventiven Aufklärungsmöglichkeiten in der Schule, von hoher Relevanz ist. Es ist evident, dass weit über eine bloße Faktenvermittlung hinausgegangen werden muss. Dennoch bilden eben diese Fakten die Grundlage jeglicher präventiven Arbeit mit Kindern und Erwachsenen, da eine Prävention, die sich nicht konstant an den neugewonnenen Ergebnissen der Forschung orientiert und sie auf die Praxis transferiert, ihren Bezug zur Realität verliert und letztendlich inadäquat wird. Dieser Forderung kommt der erste Teil der Arbeit mit einem intensiven Überblick über Grundlagen und aktuellen Forschungsstand der Thematik nach, wobei als Schwerpunkt eine detaillierte Betrachtung der TäterInnen und ihren Strategien sowie der Opfer und ihren Hilfssignalen als unerlässlich erscheint. Nur so können alle in der Präventionsarbeit Engagierten nachhaltig sensibilisiert und damit effektiv werden. Die Darstellung der Folgen sexueller Gewalt verdeutlicht nochmals die Wichtigkeit präventiver Bemühungen. Nur die genaue Kenntnis darüber ermöglicht es, im schulischen Alltag Missbrauch erkennen und auf ihn hinweisen zu können. Der erste Teil schließt mit einer Betrachtung gängiger Modelle des Ursachenverständnisses ab und hält die gewonnenen Erkenntnisse in Form eines Zwischenfazits festgehalten. Der zweite Teil der Arbeit bezieht sich direkt auf die präventiven, oft mehrdimensionalen Aufklärungsmöglichkeiten in der Schule. Dabei wird präventive Aufklärung wird im Kontext neuerer Präventionsforschung als Handlungswissen gesehen, das Kinder stark machen soll; naturgemäß hat die Arbeit mit potentiellen Opfern hier Priorität. So werden Inhalte der Prävention mit Kindern sowie die ihnen zugrundeliegenden vorhandenen Materialien dargestellt und kritisch betrachtet. Ergänzend werden die Möglichkeiten zusätzlicher präventiver Erziehung angesprochen. Weiterhin werden die in die präventive Aufklärungs- und Interventionsarbeit der Schule eingebundenen Lehrkräfte sowohl in Bezug auf ihre Aus-, Fort- und Weiterbildung als auch auf ihre Qualifikation in diesem Bereich hin kritisch betrachtet und auch die Einbeziehung des Elternhauses in die o.g. schulische Arbeit berücksichtigt. Zusätzlich -9- bietet die Betrachtung des Missbrauchs innerhalb der Schule noch einmal realitätsbezogene Aspekte. Eine Schlussbetrachtung stellt die Ergebnisse, Forderung und Ansatzmöglichkeiten für thematische Vertiefungen zusammen. 2.0. Sexueller Missbrauch - Überblick zum Forschungsgegenstand Die Erforschung des Phänomens ‚sexueller Missbrauchs’ hat in der Bundesrepublik keine lange Tradition. Erst in den 80er Jahren wurde dem Thema von fachlicher Seite verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Deshalb sind die Ergebnisse „entsprechend im Fluß“.2 In vielen Stadien war im Verlauf der Forschungsgeschichte eine Revision der als sicher geglaubten Ergebnisse erforderlich, und in einigen Bereichen finden noch immer Auseinandersetzungen statt. Von daher soll dieser Teil lediglich als Ausschnitt des gegenwärtigen Forschungsstandes verstanden werden. Im Hinblick auf die Untersuchungsfrage dieser Arbeit, den präventiven Aufklärungsmöglichkeiten in der Schule, spielen diese Grundlagen eine bedeutende Rolle. Erstens, um den komplexen Vorgängen sexuellen Missbrauchs Rechnung zu tragen, zweitens, um Einblicke in die Strategien der TäterInnen zu geben, denn nur an ihnen kann Aufklärungsarbeit ansetzen. Drittens dürfen die Auswirkungen des Missbrauchs auf die Opfer nicht vernachlässigt werden, da gerade sie den Pädagoginnen vielfach als Hinweis auf das Erkennen eines eventuellen Missbrauchs dienen können. Letztlich sollen die angeführten Ergebnisse und Betrachtungen dazu beitragen, irrige oder gar konkret gefährliche Vorstellungen über das Missbrauchsgeschehen ausdrücklich zu eliminieren und die Realität wahrzunehmen: Missbrauch kann überall geschehen. Jedes Kind ist potentielles Opfer. 2.1. Allgemeine Grundlagen Die allgemeinen Grundlagen befassen sich vornehmlich mit noch strittigen Fragen in der Debatte über sexuellen Missbrauch. In diesem Kontext geht es zunächst darum, überhaupt eine Definition sexuellen Missbrauchs zu ermitteln, die den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt werden kann. 2 Koch, Helmut/ Kruck, Marlene: „Ich wird’s trotzdem weitersagen!“ Prävention gegen sexuellen Mißbrauch in der Schule (Klassen 1-10). Theorie, Praxisberichte, Literaturanalysen, Materialien. (Münster: LIT, 2000), S. 1 - 10 - Weiterhin werden Formen, Dauer und Ausmaß des Missbrauchs thematisiert, auf deren Basis die detaillierte Darstellung der Täter, der Opfer und der Folgen erfolgt. 2.1.1. Definitionsansätze und Kriterien Sowohl in der öffentlichen als auch in der fachlichen Debatte um den sexuellen Missbrauch an Kindern werden diverse Definitionen und Begrifflichkeiten verwendet, die „bei den Diskussionen zu Missverständnissen führen können, obwohl für Forschung, Diagnostik, Behandlung und den öffentlichen Diskurs möglichst exakte und vergleichbare Definitionen erforderlich wären“.3 Somit besteht in der Auseinandersetzung mit der Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs das Problem, dass nicht nur unterschiedliche Begrifflichkeiten häufig parallel und synonym verwandt werden oder nicht deutlich gegeneinander anzugrenzen sind (beispielsweise sexuelle Misshandlung, sexuelle Gewalt, realer Inzest oder sexualisierte Gewalt), sondern auch, dass über den eigentlichen Missbrauch an sich keine einheitliche und allgemein anerkannte Definition existiert. Insbesondere bei der Erfassung des Ausmaßes des Missbrauchs sowie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema stehen sich unterschiedliche Definitionen im Wege und machen eine Generalisierung ermittelter Ergebnisse nur schwer möglich. So sind Forschungsergebnisse über Ursachen, Umstände und Hintergründe sexueller Gewalt immer im Kontext ihrer jeweils zu Grunde liegenden Definition zu bewerten. Auch ist festzuhalten, dass trotz der häufig synonymen Verwendung der Begrifflichkeiten jeweils ein Aspekt besonders Betonung findet. Somit ist die Definitionsform nicht automatisch an eine Begrifflichkeit gebunden. An dieser Stelle sollen unterschiedliche Definitionsansätze dargestellt und betrachtet werden, um somit eine Definitionsform zu ermitteln, der sich diese Arbeit anschließen kann. Als grundsätzliche Beschreibung unterschiedlicher Definitionen dient die aktuelle der bereits zitierten Wissenschaftler Wilhelm Körner und Albert Lenz. Als Ergänzung werden zusätzlich Begriffsbestimmungen anderer Autoren dargestellt und erläutert. Zunächst wird zwischen der sog. „weiten“ und „engen“ Definition unterschieden. Die „weite“ Form der Erfassung bezieht alle für das Kind potentiell schädlichen Handlungen in das Missbrauchsmoment mit ein, d. h. auch solche Handlungen ohne direkten Körperkontakt, wie beispielsweise Exhibitionismus oder „... jede geschlechtliche Handlung, wie obszöne Anreden, Belästigung, [...], Anleitung zur Prostitution, die Herstellung von porno- 3 Bange, Dirk in: Körner, Wilhelm / Lenz Albert (Hrsg.): Sexueller Missbrauch. Band I: Grundlagen und Konzepte. (Göttingen: Hogrefe, 2004), 29 S. - 11 - graphischem Material usw.“4. Die „enge“ Definition schließt nur solche Handlungen ein, die „bereits als schädlich identifiziert bzw. nach einem sozialen Konsens normativ“ 5 als solche bewertet werden, also Handlungen mit Körperkontakt wie beispielsweise anale, orale oder vaginale Penetration oder Manipulation. Neben diesen beiden grundsätzlichen Formen der Definition existieren noch weitere Kategorisierungssysteme, namentlich normative, klinische und Forschungs-Definitionen. Die normativen Definitionen beinhalten eine von vornherein vorgenommene Bewertung von Handlungen oder Ergebnissen wie beispielsweise die feministische Definition, welche besonders die männliche Dominanz sowie die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen betont, so dass sexuelle Gewalt demnach nur zwischen Mädchen und Männern stattfindet.6 Bereits in den 80er Jahren lieferten die Autorinnen Kavemann und Lohstöter diesen feministischen Definitionsansatz, zu dem „...all das, was einem Mädchen vermittelt, dass es nicht als Mensch interessant und wichtig ist, sondern dass Männer frei über es verfügen dürfen...“ gezählt wird.7 Diese Definitionsform ist allerdings zu einseitig auf Mädchen als Opfer und Männer als Täter ausgerichtet, negiert somit die Existenz sowohl männlicher Opfer als auch weiblicher Täter und entspricht damit dem Zeitgeist ihres Ursprungs in den 80er Jahren, während derer das Thema des Missbrauchs vor allem durch feministische Selbsthilfegruppen in die Öffentlichkeit getragen wurde.8 Bei der klinischen Definition steht eindeutig im Vordergrund, ob sich eine Person geschädigt oder beeinträchtigt fühlt.9 Somit entscheidet letztlich nicht die objektive Gegebenheit, sondern das subjektive Erleben der Person über die Definition oder über eine eventuelle klinische Intervention. Problematisch hierbei ist das subjektive Empfinden der Person, die teilweise kaum in der Lage ist, die Folgen durch den Missbrauch sofort einzuschätzen oder sich gar nicht in der Rolle des Opfers erkennt. Insbesondere männlichen Opfern fällt es schwer, Schädigungen zuzugeben, auch wenn sie als negativ erlebt werden. Das Problem der Opferrolle bei männlichen Geschädigten hält Bange folgendermaßen fest: „...vor allem Männer begeben sich nicht gerne in eine Opferrolle. Das paßt einfach nicht 4 Amann, Gabriele/ Wipplinger, Rudolf (Hrsg.): Sexueller Mißbrauch – Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. (Tübingen: dgtv-Verl., 1997), S. 23 5 Bange, D.: 2004. In Körner/ Lenz: 2004, S. 30 6 Vgl.: Kavemann, Barbara/ Bundesverein zur Prävention von sexuellem Mißbrauch an Mädchen und Jungen e.V. (Hrsg.): Prävention. Eine Investition in die Zukunft. (Ruhnmark: Donna Vita, 1997), S. 49 7 Kavemann, Barbara/ Lohstöter, Ingrid: Väter als Täter. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen. (Reinbek: Rowohlt, 1984), S. 23 8 Vgl.: Enders, Ursula (Hrsg.): Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001), S. 15 f. 9 Vgl.: Bange, D.: 2004. In Körner/ Lenz: 2004, S. 30 - 12 - zum herrschenden Männerbild.“10 Somit besteht also eine Diskrepanz zwischen dem Gefühl und der Realität. Die Forschungs-Definitionen schließlich stellen eine Sondergruppe innerhalb der Definitionsformen dar. Als Beispiele für diese Form der Definition sind Julius und Böhme oder Wetzels zu nennen, die ausführen, dass vor allem Erkenntnisinteresse und Fragestellung der Untersuchung die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes an sich determinieren. Somit können sich Forschungs-Definitionen „...sowohl an klinischen Erkenntnissen über die Schädlichkeit als auch an normativen Bewertungen...“11 orientieren. Deutlich wird hierbei, dass die Wahl der Definition letztlich von dem Forschungsvorhaben abhängig ist und dazu führt, eine „enge“ oder „weite“ Definition zu wählen. Über die rein formale Wahl der Definitionsweise hinaus müssen zur Operationalisierung der Definition gewisse Kriterien angelegt werden. Über die Kriterien an sich besteht keine Einigkeit in der Forschungsdebatte, jedoch sind die WissenschaftlerInnen einhellig der Meinung, dass alle sexuellen Handlungen, die durch Drohungen oder körperliche Gewalt erzwungen werden, dem sexuellem Missbrauch zuzurechnen sind.12 Dagegen führt das Kriterium, wonach die sexuellen Handlungen gegen den Willen des Kindes geschehen, bereits zu Kontroversen, da Kinder in Einzelfällen die Schutzbehauptung aufstellen, dass sie „es“ gewollt hätten.13 Als eine Lösung dieses Dilemmas beschreiben unter anderem Bange und Lenz/Körner das Konzept des wissentlichen Einverständnisses. „Es geht davon aus, dass Kinder gegenüber Erwachsenen keine gleichberechtigten Partner sein können, weil sie ihnen körperlich, psychisch, kognitiv und sprachlich unterlegen und Erwachsenen rechtlich unterstellt sind. Daher können sie sexuelle Kontakte mit Erwachsenen nicht wissentlich ablehnen oder zustimmen. Aufgrund dieses strukturellen Machtgefälles ist jeder sexuelle Kontakt zwischen einem Kind und einem Erwachsenen sexueller Missbrauch.“14 10 Bange, Dirk: Die dunkle Seite der Kindheit. Sexueller Mißbrauch an Mädchen und Jungen. (Köln: Volksblatt, 1992), S. 53 11 Bange, D.: 2004. In Körner/ Lenz (Hrsg.): 2004, S. 30 12 Vgl.: Julius, Henri/ Boehme, Ulfert: Sexuelle Gewalt gegen Jungen. Eine kritische Analyse des Forschungstandes. (Göttingen: Verl. für Angewandte Psychologie, 2., überarb. und erw. Aufl., 1997). 13 Vgl.: Bange, D.: 2001. In Enders (Hrsg.): 2001, S. 21 14 Bange, D.: 2004. In Körner/ Lenz(Hrsg.): 2004, S. 30 - 13 - Dieses Konzept, welches sich weitgehend durchgesetzt hat15, ist insbesondere für die Opfer im Umgang und der Verarbeitung des Erlebten von hoher Bedeutung, da hier dem Täter die alleinige Schuld zugesprochen wird. Da das Kind nicht wissentlich seine Zustimmung zu sexuellen Kontakten geben kann, trägt die erwachsene Person die alleinige Verantwortung für die Tat. Das Opfer trägt weder Mitschuld an noch Verantwortung für den Missbrauch. Es ist an dem Geschehenen nicht Schuld. Partiell erfährt dieses Konzept eine Modifikation, indem als Definitionskriterium ein Altersunterschied zwischen dem Opfer und dem Täter festgemacht wird. So geht beispielsweise der amerikanische Forscher Finkelhor bei seinen Untersuchungen von einem Altersunterschied von mindestens 5 Jahren aus.16 Problematisch an dieser Aufweitung und einer damit zusammenhängenden Untersuchung des Ausmaßes sexuellen Missbrauchs ist die fehlende Berücksichtigung sexueller Gewalt sowohl unter Kindern und als auch unter Jugendlichen, die durchaus zu einem gewissen Prozentsatz vorkommt. Bange ergänzt hierzu, dass „...fünf Jahre Altersunterschied bei Kindern und Jugendlichen sehr große Entwicklungsunterschiede ausmachen...“ 17 können, weswegen WissenschaftlerInnen aufgrund der Unwägbarkeit zunehmend auf diese Einschränkung verzichten. Ein weiteres kontrovers diskutiertes Kriterium ist laut Bange das Argument der definitiv feststellbaren Schädigung des Opfers durch den Missbrauch. Amann und Wipplinger stellen dar, dass diese eine Schädigung als Kriterium für Missbrauch anzusehen einseitig sei, da es Kindern, die über ausreichende Bewältigungsmöglichkeiten verfügen und darum nicht unter negativen Folgen leiden, abspricht, einen Missbrauch erlebt zu haben. 18 Darüber hinaus zeigen sich Folgen des Missbrauchs häufig nicht unmittelbar nach dem Missbrauch, sondern erst im Laufe der Jahre. Wie die Autoren Bange/Deegener und Brockhaus/Kohlshorn beschreiben19, ist es auch problematisch, eine Altersgrenze festzulegen, um den sexuellen Kindesmissbrauch von der Gewalt gegen Frauen abgrenzen zu können. „In den meisten Studien werden nur sexuelle Missbrauchserlebnisse in den ersten 16 Lebensjahren berücksichtigt...“20, was dazu führt, dass individuelle Unterschiede in der Entwicklung unberücksichtigt bleiben. 15 Anm.: Dieses Konzept wird von Befürwortern der Pädosexualität bestritten (Vgl.: Lautmann 1994). Vgl.: Finkelhor (1979), zit. nach Brockhaus, Ulrike/ Kolshorn, Maren: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen. Mythen, Fakten, Theorien. Frankfurt a. M.: Campus, 1993), S. 42 17 Bange, D.: 1992, S. 25 18 Vgl.: Amann, G./ Wipplinger, R.: 1997, S. 31 19 Bange, Dirk/ Deegener, G.: Sexueller Mißbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen. (Weinheim: Psychologie Verlags Union, 1996 und Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993). 20 Bange, D.: 2001. In: Enders (Hrsg.): 2001, S. 22 16 - 14 - Neben den hier aufgeführten Kriterien existiert noch eine Fülle an weiteren Faktoren, die ja nach Standpunkt die Herangehensweise und Sicht auf das Thema determinieren. Zu der Frage des Alters der Opfer und des Missbrauchsgeschehens als solchem vertritt der Gesetzgeber eine klare Position, in dem er jeglichen Kontakt einer volljährigen Person mit Kindern unter 14 Jahren unter Strafe stellt. Der § 176 StGB „Sexueller Missbrauch von Kindern“ bezieht sich nicht nur auf Körperkontakt, sondern auch auf das Zeigen pornographischer Abbildungen sowie entsprechender verbaler Beeinflussung. Dieser Paragraph ist am 01.04.2004 dahingehend erweitert worden, dass auch unter Strafe gestellt ist, mit Schriften auf das Kind einzuwirken, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen.21 Der sexuelle Missbrauch Schutzbefohlener erweitert die Altersgrenze und wird von Bange wie folgt zusammengefasst: „Der § 174 „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ untersagt sexuelle Handlungen an einer Person unter 16 Jahren, die einem Erwachsenen zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut ist. Handelt es sich bei dem Opfer um ein eigenes oder Adoptivkind des Täters oder um ein Mädchen/ einen Jungen, die/ der dem Erwachsenen zur Ausbildung oder Erziehung anvertraut wurde, und nutzt der Missbraucher das durch das Obhutverhältnis bestehende Abhängigkeitsverhältnis aus, so erhöht sich die Altersgrenze auf 18 Jahre.“22 Darüber hinaus werden auch exhibitionistische Handlungen durch den § 184 unter Strafe gestellt. Deutlich angesprochen wird hier das Abhängigkeitsverhältnis des Kindes dem Täter gegenüber ebenso wie die „weite“ Form der Definition des Missbrauchs. Doch werden zugleich diverse Aspekte nicht berücksichtigt, wie beispielsweise Jugendliche, die häufig als Täter agieren und dem Gesetzestext entsprechend nicht Erwachsen sind. Um eine Definition des sexuellen Missbrauchs zu ermitteln, der sich diese Arbeit anschließen kann, wird weiterhin diejenige von Deegener wiedergegeben und analysiert: „Zusammenfassend wird unter sexuellem Missbrauch von Kindern jede Handlung verstanden, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die 21 22 Vgl.: http://www.gegen-missbrauch.de/new.php?link=recht/ref_2.htm Bange, D.: 2001. In: Enders (Hrsg.): 2001, S. 24 - 15 - Missbraucher nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen, die Kinder werden zu Sexualobjekten herabgewürdigt.“23 Diese Zusammenfassung Deegeners berücksichtigt die den Großteil der angesprochenen Faktoren und Kriterien. So wird unter anderem die „weite“ Form der Definition gewählt, die auch sexuelle Handlungen vor Kindern mit einschließt. Allerdings wird nicht auf verbale Belästigung eingegangen. Weiterhin ist das Konzept des wissentlichen Einverständnisses Bestandteil der Definition und unterstreicht die ungleiche Macht und Autoritätsperson. Ebenso wird hier kein Altersunterschied zwischen Täter und Opfer postuliert, so dass auch Fälle mit jugendlichen Tätern hinzu gezählt werden können. Allerdings ist festzuhalten, dass Deegener durch die Verwendung des Wortes „Kind“ keine Altersbeschränkung vorgibt, was jedoch in einer eher allgemein gehaltenen Definition legitim ist, da hier keinerlei individuellen Entwicklungsunterschiede berücksichtigt werden können. Insofern endet die Kindheit nicht zwangsläufig mit 14 Jahren, wie dieses in der juristischen Annährung der Fall ist. Auch das Geschlecht sowohl der Opfer als auch der Täter sind neutral gewählt, was also Mädchen wie Jungen als Betroffene ebenso wie Frauen und Männer als Täter einschließt. Besonderes Augenmerk soll auf den letzten Satz der Definition gelegt werden, da hier der Macht- und Autoritätsaspekt Beachtung findet und bei der Wahl der Begrifflichkeit eine zentrale Rolle spielt. Auf der Basis einer „weiten“ Definition sexuellen Missbrauchs in Kombination mit den von Deegener ergänzenden Kriterien wird sich diese Arbeit mit dem Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs auseinandersetzen. 2.1.2 Formen des Missbrauchs Durch die Uneinigkeit in der (Fach-) Öffentlichkeit sowie die Vielzahl unterschiedlicher Definitionen und Zugängen zum Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs besteht die Gefahr, diejenigen Personen, die häufigen Kontakt mit Kindern haben (namentlich Erzieher, Lehrer und Eltern), in ihrem Umgang zu verunsichern. Auch die Literatur belegt, dass eine Grenzziehung zwischen Zärtlichkeit und sexuellem Missbrauch schwer zu ziehen ist.24 Im Allgemeinen spielen die in der jeweiligen Familie geltenden Regeln und 23 Deegener, Günther: Kindesmißbrauch – erkennen, helfen, vorbeugen. (Weinheim: Beltz, 1998), S. 24 Vgl.: Besten, Beate: Sexueller Mißbrauch und wie man Kinder davor schützt. (München: Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 3., neubearb. Aufl., 1995), S. 18 24 - 16 - Umgangsformen eine bedeutende Rolle, um einen beginnenden sexuellen Missbrauch als solchen erkennen zu können. „So kann man etwa bei einer ‚freien’ Familie, in der die Mitglieder es gewohnt sind, sich nackt voreinander zu bewegen, oder in der die Kinder beispielsweise zusammen mit ihren Eltern baden oder morgens in das elterliche Bett krabbeln dürfen um zu schmusen oder zu toben, sicherlich nicht von beginnender sexueller Ausbeutung reden; dagegen sind die gleichen oder ähnliche Verhaltensweisen in einer anderen Familie, in der sonst sehr strenge und rigide Verbote und Regeln herrschen, mögliche Hinweise auf den Beginn einer sexuellen Ausbeutung...“25 Die Schwierigkeit einer deutlichen und scharfen Abgrenzung des Tatbestandes wird noch durch die Vielzahl an Definitionen verstärkt, da je nach „weiter“ oder „enger“ Definition unterschiedliche Handlungen als sexueller Missbrauch einzustufen sind. Im Folgenden sollen anhand der Autoren Enders, Besten und Suer dargestellt werden, was im Einzelnen zu sexuellem Missbrauch an Kindern zu zählen ist. Diese Autoren verwenden die „weite“ Definition sexuellen Missbrauchs, die auch Handlungen ohne Körperkontakt mit einbeziehen. Enders zufolge beginnt sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen bereits „... bei heimlichen und vorsichtigen Berührungen, verletzenden Redensarten“26 und reicht hin bis hin zu oralen, vaginalen oder analen Vergewaltigungen oder sexuellen Foltertechniken. Dabei stellt sie klar, dass selbst „... Penetrationen von Säuglingen [...] keine Einzelfälle“27 sind. Zu den eindeutigen, letztgenannten Formen des Missbrauchs rechnet sie jedoch auch abschätzige oder wohlwollende Qualitätsurteile und das betasten der Brust oder des Penis. Auch Paul Suer identifiziert die Reichweite des sexuellen Missbrauchs von sexualisierter Sprache über scheinbar harmlose Berührungen bis hin zu sadistischen Quälereien. Darüber hinaus stellt er ein Kategorisierungssystem vor, welches an jenes der Autoren Bange und Deegener28 angelehnt ist, und vier Abstufungen beinhaltet. Zunächst wird der sexuelle Missbrauch ohne Körperkontakt genannt, zu dem alle Handlungen zu rechnen sind, bei denen der Täter (die Täterin) keine direkten körperlichen Übergriffe auf das Kind vornimmt. Dazu zählen unter anderem exhibitionistische Handlungen sowie das zeigen von pornographischen Abbildungen oder Filmen. 25 Loc. cit. Enders, U.: 2001, S. 29 27 Loc. cit. 28 Vgl.: Suer, Paul H.: Sexuelle Gewalt gegen Kinder. (Hamburg: Rasch und Röhring, 1998), S. 24 26 - 17 - Zum weniger intensiven Missbrauch zählen laut Suer sowohl der Versuch des Täters (der Täterin), das Kind an den Geschlechtsteilen zu berühren, sowie sexualisierte Küsse und Zungenküsse. Als intensiven Missbrauch gilt, dass das Kind seine Geschlechtsteile zeigen oder sich vor dem Täter (der Täterin) befriedigen muss oder der Täter (die Täterin) sich vor dem Kind sexuell befriedigt. Zu dem wird auch noch die Manipulation an den Genitalien des Kindes durch den Täter (die Täterin) oder Berührungen des Kindes an den Geschlechtsteilen des Täters (der Täterin) zum intensiven Missbrauch gerechnet. Als letzte Kategorie beschreibt Suer den „sehr intensiven Missbrauch“, namentlich die versuchte oder vollendete anale, vaginale oder orale Vergewaltigung des Kindes und die erzwungene Penetration des Täters durch das Opfer.29 Diese Klassifikation beschreibt einen Großteil der Missbrauchshandlungen, auch wenn nicht alle möglichen Tatbestände erfasst werden, wie Beispiele aus der Praxis in Enders Werk beschreiben.30 Dennoch dient sie dazu, den Missbrauch zu klassifizieren und somit zu benennen. Festzuhalten ist hierbei, dass die unterschiedlichen Kategorien kaum Auskunft über die Auswirkungen beim Opfer geben können.31 Um die Bandbreite sexuellen Missbrauchs zu verdeutlichen, werden in Enders’ Werk Beispiele gegeben, von denen an dieser Stelle eine Auswahl dargestellt werden soll, um zu zeigen, auf „welch grauenvolle und subtile Weise die Täter (Täterinnen) Kinder und Jugendliche demütigen und verletzen“.32 „Auf einer Familienfeier zieht Frau G. ihrer 11-jährigen Tochter das trägerlose TShirt runter und berührt die Brustwarzen des Mädchens mit dem Kommentar: ‚Guckt mal, sie hat schon richtige Knöspchen!’ Der 16-jährige F. penetriert seine drei Monate alte Stiefschwester mit dem Finger. Frau W. steckt ihren Finger in den Anus ihres 8-jährigen Sohnes und macht dabei abfällige Bemerkungen über die sexuelle Attraktivität des Jungen. Herr E. lädt die Jungen der Nachbarschaft regelmäßig ein und gibt ihnen Alkohol zu trinken. Als Gegenwert überredet er die Jungen, ihm Modell für pornographische Aufnahmen zu stehen. 29 Vgl.: Ebd., 1998, S. 24 f. Enders, U.: 2001, S. 82 31 Vgl.: Brockhaus, U. / Kolshorn, M.: 1993, S. 120 32 Enders, U.: 2001, S. 30 30 - 18 - Herr R. bietet seiner Stieftochter bei der ersten Menstruation an, ihr zu zeigen, wie man die Bauchschmerzen wegmacht – er vergewaltigt sie. Frau G. hält die 7 und 8 Jahre alten Töchter ihrer jüngeren Schwester fest, damit ihr Mann sie vergewaltigen kann.“33 Anhand dieser Auswahl lässt sich erkennen, welche Bandbreite die Missbrauchshandlungen haben und wie schwer eine genaue Klassifizierung erfolgen kann. Die ausgewählten Beispiele lassen kaum einen Zweifel an dem Missbrauchscharakter der Handlungen. Dennoch gibt es eine Fülle von Handlungen, die sich nur schwer einordnen lassen und die in der Fachöffentlichkeit für Kontroversen sorgen, da für Außenstehende die Motivation des Erwachsenen schwer zu beurteilen ist. 2.1.3. Dauer des Missbrauchs In unterschiedlichen Untersuchungen an der Allgemeinbevölkerung (vorwiegend durch die amerikanischen Wissenschaftler Finkelohr und Wyatt, aber auch durch den deutschen Forscher Bange) wird gezeigt, dass „... etwa 70% aller Ausbeutungsfälle von Mädchen und Jungen inner- und außerhalb der Familie einmalige Übergriffe...“34 sind. Weiterhin stellen Brockhaus und Kolshorn anhand von Studien der Wissenschaftler Russell und Draijer fest, dass bei sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie die befragten Mädchen die Handlungen zu 40% als mehrmalig angaben, womit die Dauer des Missbrauchs also ansteigt. Bange zeigt bei Befragungen von StudentInnen von 1992 ein ähnliches Ergebnis; bei 66% der betroffenen Frauen und 73% der Männer sind einmalige Übergriffe zu verzeichnen.35 Neben den Untersuchungen an der Allgemeinbevölkerung existieren klinische Studien, die ein anderes Bild der Dauer zeichnen. 36 Hier wird der Zusammenhang von innerfamiliären Handlungen und der Dauer des Missbrauchs aufgezeigt, wobei lediglich 17% einmaligen sexuellen Missbrauch erlebten. „In klinischen Stichproben schienen sich demnach überproportional viele Opfer wiederholter Übergriffe zu finden.“37 Diese Aussage wird durch 33 Enders, U.: 2001, S. 30 ff. Brockhaus, U. / Kolshorn, M.: 1993, S. 120 35 Bange, D.: 1992, S. 100 36 Vgl.: Gies, Heidi: Zur Prävention sexueller Gewalt. Strukturelle Grundlagen und pädagogische Handlungsmöglichkeiten. (Berlin: VWB, 1995), S. 29 und Brockhaus, U. / Kolshorn, M.: 1993, S. 121 37 Brockhaus, U. / Kolshorn, M.: 1993, S. 121 34 - 19 - Untersuchungen von Ritter und Koch bestätigt, die feststellen: „... je enger die Beziehung zwischen Täter und Opfer war, desto länger dauerte der Mißbrauch an.“38 Somit wird deutlich, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Bekanntheitsgrad des Opfers und des Täters und der Dauer des Missbrauchs gibt. „So kann man sagen, dass Mädchen und Jungen, die durch einen (oder mehrere) Täter aus dem familiären Bekanntenkreis sexuell ausgebeutet werden, am längsten sexuelle Gewalt erfahren.“39 Auf eine genau errechnete Durchschnittsdauer verweisen die Autoren Brockhaus und Kolshorn, wobei sie Studien der Wissenschaftler Finkelhor und Draijer anführen. Demnach beträgt der sexuelle Missbrauch – inklusive aller Einzelfälle - im Durchschnitt 31 Wochen, also ca. 7 Monate. Draijer errechnete eine durchschnittliche Dauer der Mehrfachtaten von 3,8 Jahren.40 Damit wird deutlich, dass insbesondere bei Mehrfachtaten innerhalb des familiären Nahbereichs der sexuelle Missbrauch sehr lange andauern kann, wohingegen der Missbrauch durch Fremdtäter überwiegend einmalig ist. 2.1.4. Das Ausmaß des Missbrauchs Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der Bundesrepublik ist aufgrund der hohen Dunkelziffer nur sehr schwer exakt zu benennen. Zur genauen Bestimmung müssen zwei Maße betrachtet werden: Zum einen die sog. Inzidenz, welche die Zahl der neu aufgetretenen ,Fälle’ innerhalb eines bestimmten Zeitraumes bei einer Population angibt, zum anderen die Prävalenz, mit der die Anzahl der ,Fälle’ innerhalb einer bestimmten Periode (bspw. in der Kindheit der Befragten) angegeben werden.41 Um also möglichst exakte Daten zu ermitteln, empfiehlt es sich, beide Möglichkeiten zu nutzen. Die Inzidenz ist von hoher Bedeutung, um ein angemessenes Hilfsangebot planen zu können. Da es jedoch aufgrund der „speziellen Dynamik des sexuellen Missbrauchs“42 nicht möglich ist, Kinder oder deren Eltern direkt zu befragen, muss auf aktenkundige Daten (z. B. polizeiliche Kriminalstatistik, Akten von Jugendämtern o. a.) zurückgegriffen werden. Laut Bange wurde in der Bundesrepublik bisher lediglich die polizeiliche Kriminalstatistik ausgewertet, die jedoch einige Einschränkungen mit sich bringt. Wie aus der Prävalenz hervorgeht, werden längst nicht alle Fälle angezeigt und demnach auch nicht 38 Ritter, Sabine/ Koch, Frederike: Lebenswut – Lebensmut. Sexuelle Gewalt in der Kindheit. Biographische Interviews. (Pfaffenheim: Centaurus-Verl.-Ges., 1995), S. 104 39 Gies, H. : 1995, S. 29 40 Brockhaus, U. / Kolshorn, M.: 1993, S. 121 41 Vgl.: Ernst, C.: In: Amann, G./ Wipplinger, R. (Hrsg.): 1997, S. 55 f. 42 Vgl.: Bange, Dirk/ Körner, Wilhelm (Hrsg.): Handwörterbuch Sexueller Missbrauch. (Göttingen: Hogrefe, 2002), S. 21 - 20 - polizeilich erfasst. Darüber hinaus weist die PKS weitere Schwächen aus, die Katja Klehm in ihrer „Evaluation eines Konzeptes der polizeilichen Kriminalprävention“ ausführlich darlegt, wie beispielsweise die uneinheitliche Datenaufbereitung oder die Einordnung von Delikten. 43 Somit ist bereits das sog. Hellfeld, welches die polizeilich erfassten Daten bilden, verzerrt. Auch eine weitere Beschäftigung mit der PKS zeigt, dass deren absolute Daten wenig aussagen, da sich durch demographische Verschiebungen die Zahl der Jugendlichen ständig verändert.44 Festzuhalten ist jedenfalls, dass es „ auf Grund der Unwägbarkeiten bezüglich der PKS und der Dunkelziffer [...] Ende der Achtzigerjahre in Deutschland eine heftige Kontroverse um die Inzidenz gegeben“45 hat. Ursprung dieser Kontroverse war eine Schätzung der Autorinnen Kavemann und Lohstöter, die auf Daten der PKS sowie einer aufgrund verschiedener Untersuchungen des Kriminologen Baurmann angenommenen Dunkelfeldschätzung von 1:18 bis 1:20 basierte. Daraus ergab sich, dass etwa 300.000 Kinder jährlich in Deutschland sexuell missbraucht werden. 46 Diese Debatte setzte sich bis in die 90er Jahre hinein fort, obwohl Baurmann selbst die Zahl 1991 als wesentlich zu hoch einschätzte, da bestimmte Daten fälschlicherweise mitberechnet und andere nicht berücksichtigt worden waren. Noch heute findet sich die Zahl in der Literatur und wird teilweise von Vereinen und Initiativen verwendet.47 Um verlässlichere Aussagen über die tatsächliche Zahl der Missbrauchsopfer machen zu können, sind daher Befragungen zur Prävalenz der zuverlässigere Weg. Einer solchen Untersuchung liegen mehrere Voraussetzungen zugrunde (beispielsweise eine Falldefinition, eine Stichprobe und ein Befragungsinstrument), auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden kann.48 Es muss jedoch betont werden, dass die Definition des sexuellen Missbrauchs bei der Befragung eine entscheidende Rolle spielt. Die weiter oben genannten Kriterien (z. B. ein Altersunterschied zwischen Täter und Opfer, eine „enge“ oder „weite“ Definition) sind häufig von Untersuchung zu Untersuchung unterschiedlich und die ermittelten Ergebnisse weichen somit teilweise stark voneinander ab. Die Situation, wonach bis Anfang der 90er Jahre „keine methodisch angemessene Untersuchung über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs an Kindern“49 in Deutschland vorlag, 43 Vgl.: Klehm, Katja: Sexualisierte Gewalt und ihre Prävention. Evaluation eines Konzepts der Polizeilichen Kriminalprävention. Selbstbehauptungskurse für Mädchen. ( Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2003), S. 57 44 Vgl.: Bange, D.: In Körner, W./ Lenz, A.: 2004, S. 32 45 Bange, D.: In Bange/ Körner.: 2002, S. 21 46 Vgl.: Kavemann, B. / Lohstöter, I.: 1984, S. 28 47 Besten, B.: 1995, S. 2 oder http://www.gegen-missbrauch.de/new.php?link=start_new.php 48 zu näheren Ausführungen zum Thema siehe Körner W./ Lenz, A.: 2004 49 Bange, D.: In Bange/ Körner.: 2002, S. 23 - 21 - hat sich gewandelt. Inzwischen liegen laut Bange50 sieben solcher Studien vor, die jedoch nicht im Einzelnen detailliert vorstellt werden können.51 Zusammenfassend soll aber gesagt werden, dass die Studien vorwiegend mit Studenten durchgeführt (siehe Bange 1992; Richter-Appelt 1995) und häufig unterschiedliche Kriterien angelegt wurden. Die einzige als repräsentativ geltende retrospektive Studie stammt vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen aus dem Jahre 1992. Wegen ihrer Repräsentativität soll sie an dieser Stelle kurz erläutert werden. 1661 Frauen und 1580 Männer wurden zu ihren sexuellen Erlebnissen in der Kindheit oder Jugend befragt, wobei als Kriterium angelegt war, dass der Täter mindestens fünf Jahre älter sein musste und die Betroffenen die Tat nicht wollten oder nicht verstanden. Zudem sollte die sexuelle Erregung des Täters als Ziel der Handlungen identifiziert werden. „Ohne definitorische Grenzen gaben 18,1 % der Frauen und 6,2 % der Männer an, sexuell missbraucht worden zu sein. Wurden beispielsweise Schutzaltersgrenzen festgelegt (z.B. das 14. Lebensjahr), sank die Zahl bei den Frauen auf 10,7 % und bei den Männern auf 3,4 %.“52 Dies verdeutlicht den Einfluss der Definition auf das Untersuchungsergebnis. Trotz der Uneinheitlichkeit der Definitionen der sieben großen in Deutschland durchgeführten Studien zeigt sich bei einer Angleichung der Ergebnisse ein eher einheitliches Bild mit hohen Übereinstimmungen, auch im Vergleich zu „... methodisch anspruchsvolleren Untersuchungen aus Europa und den Vereinigten Staaten (Finkelhor 1997).“53 Laut Bange „ kann davon ausgegangen werden, dass 10 – 15 % der Frauen und 5-10 % der Männer bis zum Alter von 14 bis 16 Jahren mindestens einmal einen sexuellen Kontakt erlebt haben, der unerwünscht war und durch die ‚moralische’ Übermacht einer deutlich älteren Person oder durch Gewalt erzwungen wurde.“54 Damit wird abermals deutlich, dass sexueller Missbrauch keine Rand- oder Ausnahmeerscheinung, sondern ein sehr ernstzunehmendes und weit verbreitetes gesellschaftliches Problem darstellt. Anhand dieser Angaben wird die Dringlichkeit einer flächendeckenden Präventionsarbeit an den Schulen -und hier wiederum insbesondere den Grundschulen - unterstrichen. 50 Bange, D.: In Körner, W./ Lenz, A.: 2004, S. 34 Näheres dazu in Körner, W/ Lenz, A.: S. 34 f. 52 Vgl.: Bange, D.: In Bange/ Körner.: 2002, S. 24 53 Bange, D.: In Bange/ Körner.: 2002, S. 35 54 Ebd., 2002, S. 25 51 - 22 - 2.2. Die Täter „Wissen ist Macht – realistisches Wissen über Täter (Täterinnen) erweitert die Handlungsspielräume in der parteilichen Arbeit für Opfer sexueller Gewalt.“55 Damit leitet Enders das Kapitel „Die zwei Gesichter der Täter und Täterinnen“ ein. Diese Einleitung kann auf die Prävention sexuellen Missbrauchs übertragen werden, da eine möglichst genaue Kenntnis über die soziodemographischen Merkmale der TäterInnen und deren Strategien eine wirksame Prävention erst ermöglicht. Vor diesem Hintergrund scheint es geboten, ein möglichst genaues Bild der Menschen zu zeichnen, die zu sexuellem Missbrauch in der Lage sind. Allerdings steht der benötigte Umfang, der erforderlich wäre, um dem Problem adäquat zu begegnen, nicht zur Verfügung. So kann an dieser Stelle nur eine Zusammenfassung der derzeitigen Erkenntnisse über die Täter und Täterinnen erfolgen. Neben den Erwachsenen sollen aufgrund der Zielsetzung dieser Arbeit hier auch Jugendliche und Kinder als TäterInnen analysiert werden, ohne dass jedoch auf Therapiemöglichkeiten und Rückfallwahrscheinlichkeiten der Sexualstraftäter eingegangen werden kann.56 2.2.1. Männliche Täter Bei der Beschäftigung mit dem männlichen Täter ist festzustellen, dass sich seit Jahrzehnten bestimmte Mythen und Vorstellungen hartnäckig in der Bevölkerung halten. Exemplarisch zu nennen ist hier der Gedanke, der Missbraucher sei, der fremde, böse Mann“, der im Gebüsch auf Kinder lauere’, oder sexuelle Straftaten an Kindern würden „nur durch abartige, triebhaft gestörte, asoziale Gewaltverbrecher“57 begangen. Diese Vorstellungen gehen auf die Zeit zurück, in denen sexueller Kindes-missbrauch ein absolutes gesellschaftliches Tabu war und es undenkbar schien, die Täter könnten aus dem sozialen Nahbereich, ja sogar aus der Familie des Opfers stammen und ganz „normale“, sozial unauffällige Menschen sein. Obwohl sexueller Missbrauch auch durch Frauen verübt wird, stellen Männer den weitaus überwiegenden Teil der Täter. Brockhaus und Kolshorn konstatieren anhand unterschiedlicher Studien, „daß bei Mädchen gut 98 % (Streubreite 94 – 100 %) und bei Jungen etwa 86 % (Streubreite 83 – 98 %) der TäterInnen männlichen Geschlechts sind.“58 Auch Deegener kommt in seinen Darstellungen zu einem ähnlichen Ergebnis, beziffert jedoch 55 Enders, U.: 2001, S. 53 Näheres zum Umgang mit Sexualstraftätern in: Körner, W./ Lenz, A.: 2004, S. 487 ff. 57 Besten, B.: 1995, S. 34 58 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 68 f. 56 - 23 - den Anteil der Täterinnen als höher.59 Fest steht aber, dass es weit überwiegend Männer sind, die Kinder sexuell missbrauchen. Diese Männer sind, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, sozial angepasst und unauffällig. Besten schreibt dazu: „Die Täter sind ganz ‚normal’, es sind Lehrer, Schulbusfahrer, Therapeuten, Verkäufer, Ärzte, Pfarrer, Pädagogen, Köche, Hundezüchter, Eltern, Onkel, Nachbarn, Brüder, Großväter...“60 Also ist die Annahme, Täter stammten vorwiegend aus dem sozial schwächeren Milieu, nicht haltbar. Im Gegenteil „wird sexueller Missbrauch heute allgemein als ein in allen sozialen Schichten gleichermaßen vorkommendes Phänomen betrachtet.“61 Mit Sicherheit wird auch ausgeschlossen, dass die Mehrzahl der Täter psychisch schwer gestört und/oder intellektuell minderbemittelt ist. Insofern ist eine Typologisierung der Täter beinahe unmöglich, da sie sich durch keinerlei eindeutigen Merkmale von der Gesellschaft, in der sie leben, abheben. Brockhaus und Kolshorn bemerken dazu: „Der Täter ist kein kranker Mann, zumindest nicht ‚kranker’ als die Gesellschaft, in der er lebt“62, und bestätigen damit die Unmöglichkeit der eindeutigen Typologisierung. Im Gegenteil finden sich Täter sogar häufig als „ehrenamtliche Mitarbeiter pädagogischer und psychosozialer Arbeitsfelder [und H.B.] gelten gemeinhin als rechtschaffene Bürger, die im Sinne des Kindeswohls tätig sind.“63 Auch von der Altersstruktur her finden sich keinerlei besondere Merkmale der Täter, womit auch der Mythos vom „dirty old man“64 oder dem „widerlichen, altersabgebauten Mann“65 widerlegt wird. Deegener zeigt anhand seiner Studien, dass lediglich etwa 10 % der Täter über 50 Jahre alt sind.66 Ebenso sprechen Brockhaus und Kolshorn von Tätern, die im Wesentlichen unter 40 Jahren und meist Anfang bis Mitte 30 sind.67 Problematisch bei der Erfassung des Alters sexueller Missbraucher ist, wie bereits beschrieben, die jeweilige Definition sexuellen Missbrauchs. Werden Altersgrenzen als Kriterium verwendet, so bleiben jene Taten unberücksichtigt, die von Gleichaltrigen begangen werden. Wird das genannte Kriterium nicht hinzugezogen, so zeigt sich ein recht hoher Prozentsatz, der zwischen 15 %68 und etwa 34 %69 liegt. 59 Vgl.: Deegener, G.: 1998, S. 39 Besten, B.: 1995, S. 35 61 Born, Monika: Sexueller Missbrauch – ein Thema für die Schule? Präventions und Interventionsmöglichkeiten aus schulischer Perspektive. (Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1994), S. 25 62 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 81 63 Enders, U.: 2002, S.58 64 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 69 65 Deegener, G.: 1998, S. 39 66 Loc. cit. 67 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 35 68 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 70 69 Vgl.: Deegener, G.: 1998, S. 40 60 - 24 - Festzuhalten bleibt die Schwierigkeit, Täter als solche zu identifizieren, da sie gewöhnlich sozial völlig unauffällig sind und sogar teilweise pädagogischen Berufsgruppen angehören. 2.2.2. Frauen als Täterinnen Frauen als aktive Täterinnen zu sehen, die aus eigenem Antrieb heraus Missbrauchshandlungen an Mädchen und Jungen vornehmen, scheint noch immer einem großen Tabu zu unterliegen. So wird in Teilen der Fachliteratur, die Anfang der 90er Jahre publiziert wurde, lediglich darauf hingewiesen, dass Missbrauch durch Frauen vorkomme und als genauso schädlich anzusehen sei wie derjenige durch Männer. 70 Wie Brockhaus und Kolshorn anführen, beläuft sich der Anteil der Täterinnen auf 4 %, was sie als realistisch betrachten. 71 Deegener hingegen beziffert den Anteil der Täterinnen Studien zufolge bei weiblichen Opfern als bis zu 10 %, bei männlichen Opfern sogar bis zu 25 %.72 Auch Bange vermutet, dass sich der ermittelte Anteil der Täterinnen noch erhöhen könnte, wenn in der Gesellschaft offen über Frauen als Täterinnen diskutiert würde.73 Es ist davon auszugehen, dass es beim sexuellen Missbrauch durch Frauen ein hohes Dunkelfeld gibt. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe; beispielsweise verschweigen insbesondere Jungen sexuelle Gewalterfahrungen, um ihr männliches Selbstverständnis zu wahren. Zweifellos ist der Anteil der Männer bei der Täterschaft ungleich höher als jener der Frauen. Vieles, was über die männlichen Täter gesagt wurde, gilt gleichermaßen für: die weiblichen: unspezifische Schichtenzugehörigkeit, die soziale Unauffälligkeit und keine abgrenzbare Altersgruppe. Dennoch soll hier explizit auf Frauen als Täterinnen eingegangen werden, da das tradierte gesellschaftliche Bild der Frau die Annahme, sie könne eine Missbraucherin sein, eigentlich ausschließt. Wenn es gelingen soll, effektive Prävention zu betreiben, muss diese Vorstellung aber korrigiert werden. Folglich sind bei der Behandlung des Themas weit mehr Vorurteile aufzudecken und zu beseitigen als bei Tätern männlichen Geschlechts. Kavemann und Braun setzen sich mit den diesbezüglichen Mythen und Vorurteilen kritisch auseinander.74 Hier soll nur eine knappe Übersicht über die am häufigsten vorkommenden falschen Annahmen gegeben werden: Zunächst halten Kavemann und Braun fest, dass Frauen über wesentlich mehr und bessere Möglichkeiten verfügen, den Missbrauch zu tarnen, da sie „ traditionell eher mit Kinderpflege und 70 Vgl.: Besten, B.: 1995; Suer, P.: 1998; Brockhaus, U./Kolshorn, M.: 1993 Brockhaus, U./Kolshorn, M.: 1993, S. 69 72 Deegener, G.: 1998, S. 38 73 Bange, D.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 37 74 Ebd., 2002, S. 122 71 - 25 - Versorgung betraut [sind H. B.], ja mehr noch, sie werden von ihnen erwartet“75. Darüber hinaus wird, wie bereits angesprochen, die Möglichkeit, eine Mutter missbrauche ihr Kind, fast gänzlich ausgeblendet „ und sogar offensichtliche, massive Grenzüberschreitungen wahlweise als Überfürsorglichkeit, mütterliche Strenge oder offenherzige Sexualaufklärung interpretiert.“76. Dies legt den Schluss nahe, dass der Missbrauch durch Frauen, sofern er in der Gesellschaft als überhaupt möglich angesehen wird, dennoch als weniger schädlich gilt, da Frauen der allgemeinen Annahme zufolge weniger zu körperlicher Gewalt greifen. Jedoch unterscheidet sich das sexuelle Missbrauchsgeschehen nur unwesentlich von dem männlicher Täter: der körperliche, psychische und emotionale Zwang ist ähnlich. 77, und die Missbrauchsfolgen sind ebenso gravierend, teilweise sogar mit schlimmeren Folgen, da das missbrauchte Vertrauensverhältnis zur Mutter von ganz eigener Wertigkeit ist. Generell ist festzuhalten, dass sexueller Missbrauch durch Frauen genauso brutal, sadistisch und folgenreich sein kann, wie der durch männliche Täter. Auch wenn das Bild der Gesellschaft eine Täterin kaum zulässt und sie eher als ,Verführerin’ verbrämt, muss klar sein, dass ein Missbrauch stattfindet, der häufig nur durch die Fassade der Fürsorge verdeckt wird. 2.2.3. Jugendliche und Kinder als Täter Ebenso bedeutend für die Prävention sexuellen Missbrauchs ist die Frage nach Kindern und Jugendlichen als Tätern, die zunächst befremdlich erscheint und laut Deegener nicht nur national, sondern auch international sehr vernachlässigt wird.78 Doch zeigen Untersuchungen einen hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen als Missbraucher, wie Werner Meyer-Deters im Kapitel: „Kindliche und jugendliche Täter – die Fakten“ in Enders „Zart war ich, bitter war’s“ darstellt. Demnach werden „etwa ein Drittel aller Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Jungen“ 79 von Kindern und Jugendlichen verübt. Deegener unterstützt diese Aussage, und auch andere Wissenschaftler kommen zu diesem Ergebnis (bspw. Waschlawski 1999 oder Howard/ Marschall/ Hudson 1993).80 Zugleich ist festzuhalten, dass sexuelle Übergriffe Heranwachsender keineswegs „harmlos“ sind und sie eben nicht bei „weitgehend ungestörter Persönlichkeit 75 Ebd., 2002, S. 123 Loc. cit. 77 Ebd.: 2002, S. 124 78 Vgl.: Deegener, G.: 1998, S. 59 79 Meyer-Deters, W.: In Enders, U. (Hrsg.): 2001, S. 371 80 Loc. cit. 76 - 26 - fast ‚naturgegeben’ in der Pubertätsphase“81 sozusagen automatisch vorkommen. Dennoch muss betont werden, dass „altersentsprechend normale sexuelle Verhaltensweisen von Kindern“ keinesfalls vorschnell „dem Bereich besorgniserregender Pathologie zugeordnet werden“82 dürfen. So sind sexuelle Neugier, „Doktorspiele“ oder ähnliches Verhalten von sexuellem Missbrauchsverhalten klar abzugrenzen. Entsprechende Kenntnis der normalen sexuellen Verhaltensweisen bei Heranwachsenden ist demnach zwingend erforderlich. Klaus Peter David stellt jedoch deutlich dar, dass retrospektiven Studien an erwachsenen Straftätern zufolge ein erheblicher Anteil dieser Straftäter bereits im Jugendalter deviante Interessen und Handlungen aufwies, wobei die Angaben „ je nach Deliktmuster zwischen 30 % und 50 % (Deegener, 1999) bis hin zu 80 % (Grothetal., 1995)“83 schwanken. Zum Abschluss dieses Themas und um eine weitere Bagatellisierung sexuellen Missbrauchs durch Kinder und Jugendliche zu verhindern, soll ein Zitat von Georg Romer angeführt werden: „Reale Handlungen sexuell aggressiver Kinder umfassen auch deutlich vor der Pubertät die meisten bei erwachsenen Tätern bekannten Formen sexueller Gewalt, einschließlich gewaltsam erzwungener penil-vaginaler, manuell-vaginaler und penil-rektaler Penetration sowie dem Gefügigmachen zu Oralverkehr oder manuellgenitaler Stimulation durch Einsatz von Drohungen.“84 2.2.4. Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten auf die Täter eingegangen wurde, soll nun der Blick auf das Verhältnis zwischen Opfer und Täter gelenkt werden. Um eine möglichst adäquate Prävention leisten zu können, bedarf es auch in diesem Bereich der Beschäftigung mit althergebrachten Annahmen und Vorurteilen. Die üblichen Warnungen: ,Geh nie mit Fremden mit’ oder ‚Nimm keine Schokolade von Fremden an’, sind „sicherlich gut gemeint – aber sie reichen keinesfalls aus, die Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen.“ 85 Bereits in der Literatur der späten 80er Jahre finden sich, mit Hinweis auf die Studie Baurmanns 1984, eindeutige Befunde, die verdeutlichen, dass der „böse fremde Mann“ lediglich einen geringen Prozentsatz ausmacht. So bezeichnet Monika Born in Anlehnung 81 Deegener, G.: 1999, S. 61 Romer, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 271 83 David, K-P.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 234 84 Romer, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 271 85 Besten, B.: 1995, S. 33 82 - 27 - an Baurmann den Anteil der Fremdtäter mit 6 % als sehr gering. Im Vergleich dazu werden 37 % der Täter als verwandt oder aus verwandtschaftsähnlichen Verhältnissen stammend angesehen, weitere 34 % seien nähere Bekannte und 23 % dem Opfer immerhin bekannt.86 Der geringe prozentuale Anteil, den Fremdtäter haben, wird in weiteren in Studien belegt.87 Bange differenziert in seinem Beitrag „Bekanntschaftsgrad zwischen Kindern und Tätern“ im „Handwörterbuch sexueller Missbrauch“ dahingehend, dass „... Mädchen [...] etwa zu einem Viertel bis einem Drittel durch Familienangehörige sexuell missbraucht werden. Bei Jungen kommen die Täter mit zehn bis zwanzig Prozent etwas seltener aus der Familie.“88 Bei diesem intrafamiliären Missbrauch treten keinesfalls lediglich Väter oder Stiefväter als Täter auf, sondern ebenso Großväter, Onkel, Brüder, Cousins und Mütter. Doch sind Täter auch nicht, entgegen einer oft geäußerten falschen Auffassung, überwiegend im familiären Bereich zu suchen, wie Deegener verdeutlicht.89 Bei männlichen Opfern dominieren Täter aus dem sozialen Nahraum mit einem Anteil von 50 % -60 % das Täterbild, bei Mädchen stammt etwa die Hälfte der Täter aus diesem Bereich, beispielsweise sind Täter: Nachbarn, Freunde der Familie, Lehrer, Erzieher, Jugendgruppenleiter oder Babysitter. Auch Wetzels hält fest, dass weniger als ein Fünftel der Täter völlig unbekannte Personen sind.90 Wie bereits angeführt, handelt es sich bei Missbrauch durch eine Person des sozialen Nahraums oder durch intrafamiliäre Täter häufig um mehrmaligen Missbrauch, wohingegen der Missbrauch durch einen gänzlich Fremden meist eine einmalige Tat darstellt. Demzufolge muss bei der Präventionsarbeit nicht nur auf den Fremdtäter, sondern auch auf die aus dem Nahbereich des potentiellen Opfers stammenden Personen und die Familienangehörigen eingegangen werden. 2.2.5. Strategien der Täterinnen und Täter Abschließend zu dem Kapitel über die Täter sollen deren unterschiedlichen Strategien de in den Blickpunkt gerückt werden, die zum Teil sehr subtil und schleichend und darum schwer zu enttarnen sind. Um sich der komplexen Thematik zu nähern, müssen die Strategien in mehrere Bereiche unterteilt und einzeln behandelt werden. Zunächst lässt sich sagen, dass es sich bei der Tat des sexuellen Missbrauchs keineswegs um das bei stereotypen „Vorstellungen von sexuellen Gewalttätern vermittelten Bild vom Mann als ‚Dampfkessel’, 86 Vgl.: Born, M.: 1994, S. 25 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 71, f. 88 Bange, D.: In: Handbuch, S. 679 89 Vgl.: Deegener, G.: 1998, S. 41 87 - 28 - der durch zu starke Erhitzung – sexuell stimulierende Reize, fehlende sexuelle Befriedigung oder mangelnde Impulskontrolle durch psychische Krankheit - unkontrollierbar wird und explodiert (Triebmodell)“ 91 handelt. Ganz im Gegenteil geschehen sexuelle Taten extrem selten im Affekt oder durch Zufall: meist werden sie vom Täter minutiös geplant.92 Je genauer diese Strategien und Vorgehensweisen bekannt sind, desto eher lässt sich eine Prävention vollziehen, die sich an der Realität orientiert und somit wirksam sein kann. 2.2.5.1. Die Auswahl der Opfer und die Kontaktaufnahme Bereits die Aufnahme der Beziehungen zu einem potentiellen Opfer ist lange vor der Tat sorgfältig und oft raffiniert geplant.93 Dabei unterscheiden sich männliche Missbraucher von weiblichen im Wesentlichen dadurch, dass Frauen ohnehin eher Kontakt zu Kindern haben und so ihre Opfer meist unter den Kindern suchen, die ihnen am nächsten sind. Männliche Täter nehmen hingegen gezielt Kontakt zu potentiellen Opfern auf, erkunden deren soziale Kontakte, Vorlieben, Gewohnheiten, Ängste und Wünsche und nutzen dieses Wissen, um die Opfer in den Missbrauch zu verwickeln und sie zum Schweigen zu zwingen. 94 Einer Studie von Michelle Elliot zufolge, die an 91 verurteilten Missbrauchern durchgeführt wurde, gaben 35 % derjenigen, die außerhalb von familiären Bezügen Kinder missbrauchten, an, sie suchten Orte auf, an denen Kinder sich oft aufhalten, beispielsweise Schulen, Einkaufzentren, Freizeitparks etc. Als nächster Schritt folgte in 38 % der Fälle der Versuch, mit der Familie des Opfers Kontakt aufzunehmen, um sich dann in irgendeiner Form der Einzelbetreuung des Kindes zu widmen, etwa als Babysitter, Sporttrainer oder Musiklehrer. 95 Enders verdeutlicht anhand der Beratungspraxis von „Zartbitter Köln“, dass einige Täter „ gezielt (z.T. wiederholt) Partnerinnen wählen, die aufgrund geringen Selbstwertgefühls, eines sehr traditionellen Weiblichkeitsbildes oder einer Minderbegabung wenig autonom ihre Interessen vertreten und/oder ihren Alltag gestalten“.96 Die Kontaktaufnahme zu den Opfern bzw. dann auch zu deren Familien kann generell in zahlreichen Formen stattfinden und extrem facettenreich sein: So werden beispielsweise auch allgemein zugängliche Medien benutzt, um mit Kindern in Kontakt zu kommen, unter anderem indem 90 Vgl.: Wetzels, P.: 1997, S. 122 f. Brockhaus, U/ Kolshorn, M.: 1993, S. 127 92 Vgl.: ebd.: 1993, S. 128 93 Vgl.: Heiliger, A.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 657 94 Vgl.: Enders, U.: 2001, S. 57 95 Vgl.: Elliot, M.: 1995, S. 56 96 Enders, U.: 2001, S. 59 f. 91 - 29 - sich die Täter auf Anzeigen melden, die Spielzeug, Kinderkleidung oder Fahrräder anbieten.97 Brockhaus und Kolshorn weisen darauf hin, dass Täter bei der Kontaktaufnahme und der Auswahl der Opfer vor allem solche Kinder in Betracht ziehen, „bei denen sie mit geringstem Aufwand und Entdeckungsrisiko rechnen müssen“98. Vornehmlich sind dies ihre eigenen Kinder oder solche aus ihrer Familie wie beispielsweise Nichten oder Enkelkinder. Bei den Taten extrafamiliärer Missbraucher werden „’passive, ruhige, verstörte, einsame Kinder aus gestörten Familienverhältnissen’“99 bevorzugt als Opfer ausgewählt. Heiliger merkt in diesem Zusammenhang an, dass ein Kind mit hohem Defizit in Bezug auf Sicherheit, Zuwendung, Anerkennung, Liebe und Wärme einer höheren Gefahr ausgesetzt ist, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden. Weiterhin wenden sich Täter denjenigen Kindern zu, die einen offenen und freundlichen Eindruck machen und vertrauensvoll auf Erwachsene zugehen, oder an diejenigen, die im Rahmen einer traditionellen Erziehung gelernt haben, Erwachsenen nicht zu widersprechen. Da Missbraucher ein sehr feines Gespür für sozial deprivierte Kinder haben,100 suchen sie häufig gezielt Kontakt zu Mädchen und Jungen, die bereits zuvor Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Schließlich bezeichnet Enders noch „Mädchen und Jungen, in deren Familien und Schulen das Thema Sexualität tabuisiert und Selbstbefriedigung als verboten dargestellt werden,“ 101 als besonders gefährdet, denn diese Kinder haben kaum eine Chance, den schleichenden Beginn des Missbrauchs zu erkennen und können sich demnach auch schlechter dagegen zur Wehr setzen. Die Kinder mit den genannten Defiziten können den Missbrauchern besonders wenig Widerstand entgegen stellen, was sie eher zu potentiellen Opfern macht. 2.2.5.2 Beziehungsaufbau und Desensibilisierung Die weitere Strategie beruht in der Mehrzahl der Fälle auf einer zunehmenden Sexualisierung der Beziehung zum Opfer und zielt auf dessen Desensibilisierung in Bezug auf körperliche Berührungen ab. Enders spricht in diesem Zusammenhang von immer wiederkehrenden Grenzüberschreitungen, um die potentielle Widerstandsfähigkeit der Opfer zu prüfen. „Schritt für Schritt überschreiten sie [die Täter, H.B.] dessen Grenzen und 97 Vgl.: Paulus, 1998, S. 50 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 128 99 Budin / Johnson: 1989, S. 79: zit. nach Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 129 100 Enders, U.: 2001, S. 63 101 Loc. cit. 98 - 30 - etikettieren diese Überschreitungen als normal.“102 Dabei hält sie fest, dass viele widerstandsfähige Opfer nach den ersten Überschreitungen den Kontakt zum Täter abbrechen und somit beispielsweise auf den Musikunterricht etc. verzichten. Besonders erwähnenswert ist, dass ein eventueller Protest des Opfers es aus Tätersicht oft als ,ungeeignet’ disqualifiziert. Oft wird eine Sexualisierung bzw. ein Übergriff in körperliche Aktivitäten integriert und somit getarnt, unter anderem beim Schmusen oder Toben mit dem Kind. Bullens und Mähne halten fest: „Eine genitale/vaginale Berührung, die dabei stattfindet, ist kein Versehen mehr, auch wenn sie zunächst als solches hingestellt wird.“ 103 Die Frage nach der körperlichen Gewalt, welche die Täter häufigen Vorurteilen zufolge ausüben, kann man in diesem Kontext nicht unbeantwortet lassen. So gehen Brockhaus und Kolshorn davon aus, dass „die Anwendung körperlicher Gewalt in den meisten Fällen gar nicht erforderlich ist“104. Lediglich bei einem Viertel der Fälle greifen Täter auf offene körperliche Gewalt zurück.105 Viel eher versuchen sie, manipulative Strategien einzusetzen, um die Opfer gefügig zu machen, was ihnen auch häufig gelingt. Die erwachsenen Täter verfügen gegenüber dem Kind über eine Reihe von Ressourcen, wobei der Vorsprung an Erfahrung und Wissen besonders häufig genutzt wird. Meist haben die Missbraucher bereits gute Kenntnis von ihrem Opfer und dessen Alltag. Zudem sind sie oft im Umgang mit Kindern erfahren und können so die sexuelle Ausbeutung ‚kindgerecht’ verpacken, sei es als „Spiel“ oder als „liebevoller Umgang“, um die Grenzen zwischen zärtlicher Zuwendung und Missbrauch verschwimmen zu lassen.106 Sie „umwerben“ häufig das Kind regelrecht, bedenken es mit Aufmerksamkeit und Zuwendung. Enders stellt dagegen dar, dass „missbrauchende (Stief-) Väter und Mütter [...] in vielen Fällen keine besonders aufwendigen Verführungstricks“107 anwenden müssen, da ihre Opfer ohnehin existenziell von ihnen abhängig sind. Besonders perfide ist die schleichende Sexualisierung der Beziehung zum Kind. Durch die Erklärung der Täter, Spiele zu spielen, die Kinder aufzuklären oder den beginnenden Missbrauch zu behandeln, als sei es etwas völlig Normales, sind die Opfer kaum in der Lage zu begreifen, was mit ihnen geschieht. Wenn sie jedoch erkennen, wodurch das „komische“ Gefühl hervorgerufen wird, fühlen sie sich oft mitschuldig am Geschehenen.108 102 Enders, U.: 2001, S. 68 Bullens/ Mähne, 1999, S. 187 104 Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 130 105 Vgl.: Bange, D.: 1992, S. 106 106 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 131 107 Enders, U.: 2001, S. 77 108 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 132 103 - 31 - Eine weitere Methode besteht darin, das Opfer von seiner Umwelt zu isolieren, beispielsweise indem ein Vater seine Tochter deutlich den anderen Familienangehörigen (auch der Mutter) vorzieht und damit entfremdet und die Abhängigkeit so erhöht. Zusammengefasst intensivieren die Täter also gezielt und systematisch die Beziehung durch materielle oder emotionale Zuwendungen, Anerkennung oder einfach dadurch, dass sie ein Gefühl der Geborgenheit erzeugen und das Opfer zunächst sehr gerne mit ihnen zusammen ist, sie also die Schwächen des Opfers ausnutzen. Nachdem eine gewisse Abhängigkeit entstanden ist, beginnt die schleichende und für das Opfer zunächst nicht wahrnehmbare Sexualisierung der Beziehung. Die Anzahl der Übergriffe und ihre Intensität werden ganz allmählich gesteigert, die Grenzübertritte als Spiel oder Aufklärung getarnt oder gar nicht erst erwähnt. Dabei ist häufig keine offene körperliche Gewalt vonnöten, da sich die Abhängigkeitsbeziehung bereits weit entwickelt hat und der Täter die Machtlosigkeit, die Unwissenheit und die Ohnmacht des Kindes ausnutzt. Abschließend sollen in Anlehnung an Brockhaus und Kolshorn109 in einem kurzen Überblick die am häufigsten genutzten Methoden genannt und anhand kurzer Beispiele verdeutlicht werden: Er/ sie nutzt die Rechte als Vater/ Mutter. Das Kind wird als Schuldigen für den Missbrauch hingestellt: „’Du sollst ihn doch nicht immer provozieren!’ ‚Wieso hörst du auch nicht auf!’ ‚Du bist doch wieso nur für eins gut und das ist für das Bett!’“ Dem Opfer wird eingeredet, es handle sich um etwas Positives: „Erzeuger: ‚Soll ich meiner Püppi zeigen, wie lieb ich sie habe?’“ Dem Opfer wird gedroht: „Wenn ich nicht wollte hieß es: ‚Du bist hysterisch, du weißt was dir dann passiert?’ (ich wurde dann von meinem Bruder ins Bad gezerrt und unter Wasser getaucht bis ich nicht mehr schrie oder mich nicht mehr wehrte).“ 109 Ebd.: 1993, S. 133 ff. - 32 - Das Opfer wird erpresst: „Er sagte, mir würde eh keiner glauben, da er der jüngere ist, wenn ich was sagen würde, würde er sagen ich habe ihn zu was gezwungen, was er nicht wollte.“ Kindliche Naivität und Unwissenheit wird ausgenutzt. „Normalität“ und „Herunterspielen“ des Missbrauchs: „’Stell dich nicht so an, es war doch nichts’, wurde zu einem oft gehörten Satz. Mein Bruder sagte einfach das ich meine Schnauze halten solle und wie ein Mann da durch müsse.“110 Diese Beispiele verdeutlichen die Perfidie und Subtilität der Täterstrategien. Ein Kind, welches von einer Person, der es dazu noch vertraut, über lange Zeit solche Aussagen zu hören bekommt, kann sich aus eigener Kraft kaum gegen den Missbrauch wehren. Daher besteht fast immer die einzige Möglichkeit für ein Opfer darin, sich Dritten zu offenbaren und Hilfe zu holen. Doch auch hier wenden die Täter erschreckend perfide Methoden an, um das kindliche Schweigen sicherzustellen. 2.2.5.3 Das Schweigen der Opfer Nachdem die Beziehung zum Opfer soweit sexualisiert und der erste deutliche Übergriff erfolgt ist, erklären die Täter den Missbrauch fast immer zum „gemeinsamen Geheimnis.“111 Ziel dessen ist es, das Kind nicht nur zum Schweigen zu bringen, sondern ihm auch eine Mitschuld und eine aktive Beteiligung zu suggerieren. Häufig schweigen die Opfer aus unterschiedlichen Gründen ohnehin, wie Bange ausführt: „Kleinen Kindern fehlt oft einfach das Vokabular, um zu benennen, was mit ihnen gemacht wird. [...] Ältere Kinder erzählen häufig nichts, weil sie Angst haben, daß ihnen entweder nicht geglaubt wird oder daß ihnen die Schuld gegeben wird. [...] 110 111 Mitteilungen von Opfern sexuellen Missbrauchs, Verein Gegen-Missbrauch. e.V. Vgl.: Enders, U.: 2001, S. 84 - 33 - Schamgefühle, Schuldgefühle und die emotionale Abhängigkeit der Kinder tun ihr übriges.“112 Dennoch wenden Täter auch hier diverse Formen von Druck an, um ihre Opfer zum Schweigen zu bringen. So bestehen beispielsweise Strategien der Täter darin, an das Mitgefühl des Kindes zu appellieren oder „ sie drohen mit körperlicher Gewalt gegen das Kind oder andere Personen, mit Heimeinweisung, Zusammenbruch der Familie, mit Gefängnis, mit Schande und Lächerlichkeit für sie bzw. ihn [das Opfer, H.B.]. Sie drehen den Spieß einfach um und deklarieren das Opfer zum Schuldigen“.113 Letzteres ist sehr typisch für die Täter. Dem Kind wird suggeriert, es sei nicht nur mitschuldig am Missbrauch, sondern vor allem an den Konsequenzen nach dessen Aufdeckung, wie Enders erläutert114 So behaupten sie zum Beispiel, ein Auseinanderbrechen der Familie sei die Schuld des Opfers. Diese Strategien der Täter verdeutlichen, wie viel kriminelle Energie hinter dem sexuellen Missbrauch steckt und wie gezielt Täter vorgehen, um ihre Opfer in eine Beziehung zu verwickeln, aus der sie ohne weiteres kaum wieder hinauskommen. So werden sie dazu gebracht, die sexuellen Handlungen über sich ergehen zu lassen und zu schweigen. In Einzelfällen sind die Strategien natürlich unterschiedlich, so zum Beispiel die Drohung, bei einem „Verrat“ das vom Kind geliebte Haustier einschläfern zu lassen.115 Generell ist noch einmal festzuhalten, dass die Täter ihre Opfer sehr genau kennen und ihre Schwächen gezielt ausnutzen. Wirksame Prävention muss also auch dahin gehen, einem Kind die Aufdeckung des Missbrauchs möglichst zu erleichtern. 2.3. Die Opfer Nachdem in Grundzügen die Täter, vor allem aber deren Strategien beleuchtet worden sind, sollen nun die Opfer in den Blickpunkt genommen werden. Auch dabei sind diverse Mythen und Vorurteile zu klären, weswegen schwerpunktmäßig auf das Geschlecht der Opfer, das Alter und nicht zuletzt auf Überlebensstrategien und Signale hingewiesen wird. Grade letzteren kommt eine hohe Bedeutung für die schulische Prävention zu, da sie als Indikatoren eines eventuellen Missbrauchs angesehen werden können. Darüber hinaus gilt selbstverständlich, dass die Prävention und die schulische Aufklärung um so eher gelingen 112 Bange, D.: 1992, S. 109 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 135 114 Enders, U.: 2001, S. 91 115 Bange, D.: 1992, S. 109 113 - 34 - kann, je mehr Informationen über diejenigen vorliegen, die sexuellen Missbrauch erleben mussten. So kann möglicherweise werden, weitere Opfer zu verhindern. 2.3.1. Geschlecht Wie bereits angesprochen, ist der überwiegende Teil der Opfer sexuellen Missbrauchs weiblichen Geschlechts. Brockhaus und Kolshorn stellten 1993 anhand unterschiedlicher Studien fest, dass der Anteil der missbrauchten Mädchen „etwa zwei- bis dreimal“ 116 so hoch ist wie jener der Jungen. Auch die angeführten Zufallsstichproben aus der Allgemeinbevölkerung haben einen Durchschnitt von etwa 70 % missbrauchter Mädchen und 30 % missbrauchter Jungen zum Ergebnis. Diese Daten werden durch Untersuchungen von Bange und Deegener gestützt. Dennoch findet sich eine Diskrepanz zwischen Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung und klinischen Stichproben. Bei letzteren sind die Jungen zu etwa 10 % unterrepräsentiert. 117 Die Schwankungen in der Prozentangabe bei Jungen als Opfer sind vornehmlich darauf zurückzuführen, dass Jungen seltener professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, da die traditionelle Männerrolle vorschreibt, Jungen hätten ihre Probleme selbst zu lösen. Auch das von den Opfern befürchtete Stigma der Homosexualität (bei einem Missbrauch durch männliche Täter) lässt sie verstummen.118 Bei einer verstärkten Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem sexuellen Missbrauch an Jungen mögen diese Barrieren überwunden werden und der Anteil der männlichen Opfer könnte in Untersuchungen weiter steigen. Insgesamt besteht jedoch Konsens darüber, dass Mädchen in einem höheren Maße als Jungen von sexuellem Missbrauch betroffen sind. 2.3.2. Alter der Opfer Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass Kinder jeden Alters das Opfer sexuellen Missbrauchs werden können, das heißt, es gibt keine Altersgrenze, die ein Kind davor schützen könnte.119 Tatsächlich ist es so, dass es nicht etwa Mädchen im ,Lolita’Alter, sprich die am Anfang der Pubertät Stehenden sind, welche die häufigste Altersgruppe unter den Opfern stellen.120 Vielmehr ist ein Grossteil der Opfer (60 %) deutlich vor der Pubertät. Brockhaus und Kolshorn stellen anhand von Untersuchungen dar, dass das 116 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 60 Loc. cit. 118 Vgl.: Born, M.: 1994, S. 38 f. 119 Kavemann, B.: In Walter, J.: 1989, S. 14 117 - 35 - Durchschnittsalter der missbrauchten Mädchen und Jungen zwischen zehn und elf Jahren liegt.121 Auch Wetzels kommt zu dem Ergebnis, das Durchschnittsalter liege bei 10-12 Jahren.122 Bange differenziert diese Angaben zusätzlich nach dem Bekanntschaftsgrad der Opfer mit den Tätern und kommt zu dem Fazit, dass intrafamiliärer Missbrauch „im Durchschnitt signifikant früher als der durch bekannte und unbekannte [Täter H.B.] “123 beginnt, allerdings macht er keinerlei nähere exakte Angaben. Brockhaus und Kolshorn stellen zudem die Vermutung an, dass „sexuelle Ausbeutung von Kleinkindern aufgrund fehlender Erinnerung der Betroffenen in Befragungen der Allgemeinbevölkerung insgesamt eher unterrepräsentiert ist“.124 Dem schließt sich Bange an, indem er dem bereits Ausgeführten hinzufügt, der für viele Opfer überlebensnotwendige Abwehrmachanimus der Verdrängung könne einen ähnlichen Effekt hervorrufen. 125 Deutlich wird, dass Kinder und Jugendliche jeden Alters Opfer sexuellen Missbrauchs werden können. „Das bedeutet, daß Personen, die Kontakte zu Kindern haben, bei jedem Alter wachsam für derartige Übergriffe sein müssen. Entsprechend sollte auch eine präventive Arbeit mit Kindern möglichst früh einsetzen“126. 2.3.3. Überlebens- und Abwehrstrategien Die Überlebens- und Abwehrstrategien, mit denen Kinder und Jugendliche versuchen, den Missbrauch zu beenden oder für sich in irgend einer Form ,überlebbar’ zu machen, sind für die Prävention und die Intervention sexuellen Missbrauchs von enormer Bedeutung, signalisieren sie doch zugleich der Außenwelt, dass das Opfer schwerwiegende Probleme hat. Diese oft verschlüsselten Signale zu erkennen, ist für Erzieher, Eltern und alle anderen, die mit Kindern umgehen, nicht immer leicht.127 Bei der Betrachtung der Strategien von Tätern ist deutlich geworden, wie versteckt und perfide, aber auch wie offen und brutal die Missbraucher vorgehen. Aufgrund des Schweigegebots kann sich ein Kind kaum offen über den Missbrauch äußern, so dass die Wahrnehmung des Umfelds in Bezug auf die versteckten Signale unbedingt geschult werden muss, um diese zu erkennen. Brockhaus 120 Vgl.: Deegener, G.: 1998, S. 39 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 63 122 Wetzels, P.: 1997, S. 122 123 Bange, D.: In Handbuch, S. 680 124 Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 64 125 Vgl.: Bange, D.: 1992, S. 111 126 Brockhaus, U./ Kolshorn. M.: 1993, S. 64 127 Vgl.: Besten. B.: 1995, S. 40 121 - 36 - und Kolshorn beschreiben, dass diese Signale zwar teilweise als Verhaltensauffälligkeiten bemerkt, aber nur selten als Hilferuf verstanden werden.128 Enders leitet in diese Problematik mit folgender Feststellung ein: „Es gibt kein Mädchen und keinen Jungen, der/ die sich nicht gegen sexuellen Missbrauch wehrt. Doch die wenigsten können sich später noch an ihre eigenen Widerstandsformen erinnern, denn ihre kindliche Gegenwehr war zwecklos: Der Täter (die Täterin) setzte sich über sie hinweg.“129 Die Formen des kindlichen Widerstandes sind sehr vielfältig. So versuchen die Opfer, möglichst Situationen zu vermeiden, in denen sie sich dem Täter allein gegenübersehen, indem sie zum Beispiel nicht mehr zu einem bestimmten Zahnarzt gehen, sich von ihren Lieblingssportarten zurückziehen oder sich in irgendeiner Form außerhäuslich engagieren, um so ihre Abwesenheit von daheim zu legitimieren. Dennoch ist besonders bei dem intrafamiliären Missbrauch festzuhalten, dass die Opfer dem Täter nicht dauerhaft entgehen können. Auch hier entwickeln die Betroffenen ihrerseits Strategien, um den Missbrauch, wenn möglich, zu vermeiden. Zum einen versuchen sie, den Missbrauch als solchen zu verhindern, indem sie beispielsweise bekleidet schlafen; Geschwister werden mit ins Bett genommen, Spielsachen und Möbel werden vor die Zimmertüre gestellt, um den Täter am Eindringen zu hindern oder ihn wenigstens Lärm verursachen lassen, in der Hoffnung, so werde jemand aus der Familie auf das Geschehen aufmerksam. 130 Zum anderen kommt es, je nach Alter des Kindes, vor, dass es sich sogar mit körperlichen Mitteln gegen den Täter zur Wehr setzt.131 Können die Opfer den Missbrauch nicht verhindern, müssen sie eine Möglichkeit finden, die Situation als solche psychisch irgendwie zu überleben. So geschieht es häufig, dass sie ihre Gefühle „abspalten“, um nicht unmittelbar anwesend zu sein (Dissoziation).132 „Sie sind bemüht, das Geschehen auszublenden, sie versuchen, sich aus der Realität wegzudenken und die Gefühle nicht wahrzunehmen.“133 Opfer, denen vermittelt wird, sie seien besonders attraktiv, versuchen häufig, diesen vermeintlichen Grund für den Missbrauch zu beseitigen. „Sie nehmen z.B. eine krumme Haltung an und bemühen sich, ihre Brüste zu verstecken [...], oder sie verweigern die 128 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 138 Enders, U.: 2001, S. 159 130 Vgl.: Besten, B.: 1995, S. 40 131 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 138 132 Vgl.: Braeker, S./ Wirtz-Weinrich, W.: 1994, S. 32 133 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 140 129 - 37 - Nahrung und werden sogar magersüchtig. Manche versuchen auch im Gegenteil sich dick und rund zu essen (Eßsucht)“134. Solche und ähnliche Verhaltensauffälligkeiten stellen ein deutliches Signal an die Außenwelt dar, das jedoch nur sehr selten verstanden wird. Kinder erfahren sogar in nicht unerheblichem Maße negative Reaktionen ihres Umfelds auf solche Hilferufe, beispielsweise werden sie aufgefordert, nicht so viel in sich hineinzustopfen.135 Selbst wenn Kinder von dem Missbrauch erzählen, wird dies von Außenstehenden nicht geglaubt, da der Missbrauch kaum beweisbar ist und Täter oft als sympathische und vertrauenswürdige Menschen erscheinen, denen eine solche Tat nicht zugetraut wird. Kinder senden auch oft Hilferufe ab, beispielsweise in Form von Weglaufen, miserablen schulischen Leistungen, sexualisiertem oder selbstverletzendem Verhalten oder Ähnlichem. Teilweise werden solche Hilferufe auch als Folgen des Missbrauchs gesehen, die im nachfolgenden Kapitel behandelt werden. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Opfer sich immer wehren, sie dies aber sehr viel Kraft kostet. Die Abwehrstrategien sind so unterschiedlich wie die Kinder und die Situation selbst. Da die Überlebens- und Abwehrstrategien häufig auch das „normale“ Leben tangieren (beispielsweise Esssucht), sind sie zugleich Hilferufe an die Umwelt. Eine Aufgabe der Prävention ist nun, die Wahrnehmung des Umfeldes auf solche Signale hin zu schärfen und Kinder in dem, was sie von sich geben, ernst zu nehmen. 2.4. Die Folgen des Missbrauchs Die Folgen sexuellen Missbrauchs, die sich aus dem bisher Dargestellten ergeben, sind Gegenstand unterschiedlicher Untersuchungen. Dabei zeigen sich diverse methodische Probleme und Unzulänglichkeiten, so dass zunächst kurz auf diese eingegangen werden soll. Die Herangehensweisen an die Missbrauchsfolgen und ihre Darstellung sind ebenso zahlreich. Meist werden Kurz- und Langzeitfolgen dargestellt, wobei die Zuordnung nicht immer einfach ist und sich Symptome finden, die in beiden Bereichen anzutreffen sind. So wird in dieser Arbeit nicht nach Kurz- und Langzeitfolgen differenziert, sondern die Folgen sollen in unterschiedlichen Bereichen aufgeführt werden, beispielsweise psychosomatische Folgen, Folgen für das Sozialverhalten oder ähnliches. Darüber hinaus sollen die Traumatisierungsfaktoren, die Bange in seiner Studie überprüft hat, erläutert werden. Auf eine Differenzierung nach geschlechtstypischen Unterschieden in Bezug auf die Folgen 134 135 Ebd., 1993, S. 141 Vgl.: Enders, U.: 2001, S. 159 - 38 - kann nicht eingegangen werden, da hierfür der Raum fehlt, ebenso wie nicht alle denkbar auftretenden Folgen hier ausführlich dargestellt werden können. 2.4.1. Methodische Probleme bei der Folgenforschung Die Ergebnisse der Studien über die Folgen sexuellen Missbrauchs sind, je nach zugrundeliegender Definition, sehr vielfältig und müssen an dieser Stelle kritisch betrachtet werden. So unterscheiden sich Untersuchungen je nach ,enger’ oder ,weiter ’Definition und kommen aufgrund dessen zu unterschiedlichen Ergebnissen, oder die Stichprobe ist so eingeschränkt, dass Ergebnisse eindeutig als nicht repräsentativ gelten können136, oder es ist keine Vergleichsgruppe zu den Gruppen der Untersuchten vorhanden.137 Insgesamt, so stellen Brockhaus und Kolshorn fest „ist es schwierig, Eigenschaften, Erfahrungen oder auch Störungen einer Person eindeutig auf bestimmte Ursachen zurückzuführen“138. Tatsächlich werden in den hauptsächlich retrospektiven Studien von den Betroffenen häufig keine Verbindungen zwischen dem Missbrauchsgeschehen und den Auswirkungen hergestellt, oder die Ergebnisse sind etwa durch Verdrängung oder Verleugnung verzerrt. So findet sich in allen Studien ein gewisser Prozentsatz der Befragten, die keine Symptome aufweisen. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass die Verdrängung sehr tief sitzt oder sich die Folgen erst geraume Zeit später zeigen.139 2.4.2. Traumatisierungsfaktoren Bange überprüft in seinen Untersuchungen aus dem Jahre 1992 unterschiedliche Hypothesen über Traumatisierungsfaktoren anhand eigener und in anderen Studien ermittelter Ergebnisse, wobei er zwischen primären und sekundären Traumatisierungsfaktoren unterschiedet. Erstere beziehen sich auf den Missbrauch als solchen, unter de letzteren werden die Reaktionen des Umfeldes, also der Eltern, Verwandten, Freunde etc. verstanden, die ebenfalls traumatisch wirken können. Er stellt dar, dass die Beziehung der Täter zu den Opfern auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt: Nicht der Grad der Verwandtschaft ist hier ausschlaggebend, sondern die Enge der Beziehung und der Vertrautheit. „Je mehr ein Kind einem Erwachsenen vertraut und auf dessen emotionale Unterstützung angewiesen ist, desto 136 Vgl.: Julius, H./ Boehme, U.: 1997, S. 126 f. Vgl.: Bange, D./ Deegener, G.: 1996, S. 62 138 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 146 139 Vgl.: Bange, D./ Deegener, G.: 1996, S. 76 137 - 39 - größer ist der Vertrauensverlust, der Verrat, die Enttäuschung, die gefühlsmäßige Zerrissenheit und die Verwirrung des Kindes über den sexuellen Missbrauch.“140 Weiterhin stellt er einen hohen Grad der Korrelation zwischen Anwendung von Zwang und Gewalt und Grad der Traumatisierung fest. Dies soll jedoch keinesfalls zum Schluss verleiten, sexueller Missbrauch ohne Anwendung von Zwang und Gewalt könne nicht ebenso traumatisierend sein. Die Frage nach der Intensität des Missbrauchs ist nicht eindeutig zu beantworten. Grundsätzlich wird eher davon ausgegangen, dass Frauen, die eine vaginale Vergewaltigung ertragen mussten, in höherer Prozentzahl traumatisiert wurden als diejenigen, die zu Küssen gezwungen oder an den Brüsten angefasst worden waren. Es steht jedoch steht, dass ,perverse’ Formen der sexuellen Gewalt sich äußerst traumatisch auswirken. Zu den sekundären Traumatisierungsfaktoren ist zunächst zu sagen, dass eine oft behauptete These lautet, der Missbrauch sei weniger traumatisierend, wenn sich das Opfer jemandem anvertraue, also über den Missbrauch spräche. Studien zufolge kann diese Einschätzung nicht bestätigt werden. Dafür mag es allerdings zahlreiche Gründe geben, beispielsweise, dass das Sprechen über den Missbrauch an sich bereits eine große Spannung erzeugt. So vermutet Bange, dass „ die Kinder, die über sexuellen Missbrauch reden, negative Reaktionen erfahren. Ihnen wird nicht zugehört, ihnen wird nicht geglaubt, sie werden beschuldigt, selbst schuld zu sein, mitgemacht zu haben, oder sie werden sogar bestraft“141. Ähnlich verhält es sich mit der Elternreaktion, die einen bedeutenden Einfluss auf das Ausmaß der Traumatisierung hat. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Traumatisierung bei einer Unterstützung durch die Eltern signifikant geringer ausfällt, wohingegen eine Traumatisierung um so stärker ist, wenn das Kind negative Reaktionen auf die Aufdeckung des Missbrauchs erfährt. Bange kommt zu folgendem Schluss: „Dieses Ergebnis rechtfertigt die Forderung nach vermehrter Elternarbeit, und zwar nicht nur mit Eltern, deren Kinder bereits Opfer sind, sondern mit allen Eltern, um so vorbeugend zu wirken“ 142.Auf die Forderung Banges wird bei der schulischen Präventionsarbeit einzugehen sein. Zusammenfassend ist zu sagen, dass diese Faktoren nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind, sondern im Zusammenspiel eine extreme Traumatisierung erwirken können, wie die eigentlichen Folgen zeigen. Abermals muss hier die Bedeutung der 140 Bange, D.: 1992, S. 139 Ebd., 1992, S. 142 142 Ebd., 1992, S. 143 141 - 40 - Reaktion seitens der Eltern betont werden, die den Untersuchungen zufolge den Grad der Traumatisierung signifikant verringern kann. 2.4.3. Folgen des Missbrauchs Die angesprochenen Verhaltens- und Überlebensstrategien, die sich die Opfer im Laufe des Missbrauchs aneignen, werden oft so tief verinnerlicht, dass sie zu einem Teil des Verhaltensrepertoires werden, obwohl sie als Schutz und Überlebenshilfe nicht länger vonnöten sind.143 Viele Folgen stehen in engem Zusammenhang mit den Gefühlen, die das Opfer während des Missbrauchs hatte. An dieser Stelle sollen nun diese Gefühle erläutert und mögliche Folgen dargestellt werden, die sich nicht nur auf einen spezifischen Bereich beziehen. Zunächst ist der Vertrauensverlust zu nennen, den die Kinder erleben. Dieser ist um so einschneidender, je enger und vertrauter der Kontakt zwischen dem Kind und dem Missbraucher ist. Beginnt der Missbrauch bereits in sehr frühem Alter, so hat das Kind nicht die Möglichkeit, Urvertrauen zu entwickeln. Nicht nur ist es dann für die Opfer in ihrem späteren Leben sehr schwer, vertrauensvolle Bindungen einzugehen, sondern sie haben auch sehr geringes Vertrauen in sich selbst.144 Durch die Unwissenheit der Missbrauchten und durch die Strategien der Täter erleben viele Kinder Scham- und Schuldgefühle. Sie schämen sich für den Missbrauch und suchen die Schuld bei sich selbst. Dies kann dazu führen, dass der Missbrauch lange verschwiegen oder verheimlicht wird und die Opfer auch in späteren schwierigen Lebenssituationen und Konflikten die Schuld ausschließlich bei sich suchen.145 Ebenso kann der Missbrauch zu generellen Unsicherheiten, Ohnmachtsund Hilflosigkeitsgefühlen führen, da Kinder konstant die Nichtbeachtung ihres Willens erleben mussten. Sie sind auch in der Folge selten in der Lage, sich und ihre Wünsche durchzusetzen. Weiterhin wird aufgrund der perfiden Strategien der Täter oft an der Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung gezweifelt. Im Folgenden sollen nun mögliche Konsequenzen des Missbrauchs erörtert werden, die auftreten können, aber nicht zwangsläufig müssen. Dabei kann im Rahmen der Arbeit lediglich stichpunktartig auf die einzelnen Kategorien eingegangen werden. Als Quellen sind unterschiedliche Autoren anzuführen.146 143 Ebd., 1992, S. 147 Vgl.: Bange, D.: In: Marquardt-Mau (Hrsg.), S. 39 145 Vgl.: Völkel, K.: In: Walter, J. (Hrsg.): 1989, S. 109 f. 146 Vgl.: Bange, D.: 1992, S. 147, ff.; Moggi, F.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 116 ff.; Enders, U.: 2001, S. 166 ff.; Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 151 ff.; Völkel, K.: In: Walter, J. (Hrsg.): 1989, S. 102 ff.; Suer, P.: 1998, S. 47 ff.; Braeker, S./ Wirtz-Weinrich, W.: 1994, S. 42 f. 144 - 41 - Psychosomatische Folgen: Hierzu zählen unter anderem: Schlaf- und Essstörungen, körperliche Symptome ohne organischen Befund wie bspw. Übelkeit, Bauchschmerzen, Brust- und Gliederschmerzen oder Schmerzen im Genitalbereich, Hautausschläge, Alpträume etc. Selbstschädigendes Verhalten: Unter anderem sich selbst mit Zigaretten verbrennen, Suizidgedanken oder suizidale Handlungen, sich selbst schneiden, sog. cutten etc. Folgen für die Sexualität: Sexuelle Funktionsstörungen, unbefriedigende Sexualität, Promiskuität, sexuelle Orientierungsstörungen, unangemessenes Sozialverhalten, sexuelle Aggressivität etc. Emotionale und kognitive Störungen sowie Bewusstseinsstörungen: Depressionen, Ängstlichkeit, Angst- und Zwangsstörungen, Schuld- und Schamgefühle, Einsamkeitsgefühle, negative Selbstwahrnehmung, Unsicherheit, niedriges Selbstwertgefühl, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle, posttraumatische Belastungsstörungen (bspw. Wiedererleben des Missbrauchs in Erinnerungen, sog. Flashbacks), dissoziative Störungen wie Erinnerungslücken bis hin zur dissoziativen Identitätsstörung, BorderlinePersönlichkeitsstörung etc. Folgen für das soziale Verhalten: Furcht oder Feindseligkeit gegenüber Männern, Misstrauen, Tendenz, wieder Opfer zu werden, Rückzug, Unfähigkeit, Distanz zu wahren, Verhaltensauffälligkeiten, Kontaktprobleme, Leistungsverweigerung oder Ähnliches. Deutlich wird, wie schwerwiegend die Folgen sein können. Dabei ist festzuhalten, dass durchaus nicht alle Opfer sexuellen Missbrauchs gravierende Folgen davontragen, je nach Möglichkeiten der Bewältigung, Schwere der Traumatisierung oder Unterstützung aus dem Elternhaus. Insgesamt unterstreichen die aufgeführten Folgen nochmals den präventiven Handlungsbedarf, der erforderlich ist, um potentielle Opfer zu schützen. - 42 - 2.5. Ursachen sexuellen Missbrauchs Die Erklärungsansätze zu den Uraschen sexuellen Missbrauchs sind zahlreich und höchst unterschiedlich, beispielsweise der familiendynamische Ansatz oder der gesellschaftlichfeministische Ansatz. Diese Modelle betonen oft nur einen Aspekt der Ursache, sei es die dysfunktionale Familienstruktur147, die Triebhaftigkeit des Täters148, die männliche und weibliche Sozialisation oder die patriarchalische Gesellschaftsstruktur. Alle diese Modelle verdeutlichen jedoch, dass ,die’ Ursache für sexuellen Missbrauch nicht existiert und sich die diversen Modelle vielmehr konkurrierend gegenüberstehen. Im Folgenden sollen zwei Modelle vorgestellt werden, die anhand mehrerer Faktoren den Missbrauch zu erklären suchen. Zunächst ist das sog. Modell der vier Voraussetzungen von Finkelhor zu nennen, welches anschließend durch das Drei-Perspektiven-Modell von Brockhaus und Kolshorn erweitert und ergänzt wird. Als Quelle dient hier hauptsächlich das „Handwörterbuch Sexueller Missbrauch“, in dem beide Autorinnen die Modelle vorstellen. 2.5.1. Das Modell der vier Voraussetzungen David Finkelhor kam 1984 bei der Betrachtung der bis dahin herrschenden Ursachenmodelle zu dem Schluss, dass keines von ihnen geeignet sei, den sexuellen Missbrauch zufriedenstellend zu erklären, da seiner Meinung nach soziale und kulturelle Faktoren nicht genügend Berücksichtigung fänden. Zudem galt und gilt es noch immer, „ein sehr breites Spektrum von Missbrauchsverhalten zu erklären: unterschiedliche Tätergruppen mit verschiedenen Opfergruppen, und einer Vielgestaltigkeit von Tatmustern“149. Nach der Erläuterung des Modells steht eine Tabelle, in der neben den Voraussetzungen an sich zwei Ebenen der Erklärung angegeben werden, namentlich die individuelle und die soziokulturelle. In seinem Modell stellt Finkelhor vier notwendige Voraussetzungen dar, die erfüllt sein müssen, damit es zu einem sexuellen Missbrauch kommt: 147 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: 1993, S. 211 Vgl.: loc. cit. 149 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 362 148 - 43 - Erste Voraussetzung: Motivation zu sexuellem Missbrauch Die Motivation, ein Kind sexuell zu missbrauchen, muss zunächst gegeben sein. Finkelhor unterscheidet dabei drei Motivationskomponenten: 1. Emotionale Kongruenz: eine sexuelle Beziehung zu einem Kind befriedigt ein wichtiges emotionales Bedürfnis. 2. Sexuelle Erregung: ein Kind ist eine mögliche Quelle sexueller Erregung und Befriedigung für die Person. 3. Blockierung: alternative Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung sind nicht verfügbar oder weniger befriedigend. Damit es zu einem Missbrauch kommt, muss wenigstens eine dieser Motivationskomponenten zwingend erfüllt sein. So ist die sexuelle Erregung nicht zwingend, sondern der Missbrauch kann auch aus dem Bedürfnis heraus entstehen, Macht oder Erniedrigung auszuüben. Zweite Voraussetzung: Überwindung innerer Hemmungen Finkelhor geht davon aus, dass die meisten Menschen innere Hemmungen vor sexuellem Kontakt mit einem Kind haben. Diese Hemmungen müssen vom Täter überwunden werden, beispielsweise durch Alkohol, Impulsstörungen oder ähnliches.. Dabei ist festzuhalten, dass Enthemmung an sich keine Motivationsquelle ist. Dritte Voraussetzung: Überwindung äußerer Hemmfaktoren Während sich die ersten beiden Faktoren auf den Täter beziehen, betrifft diese Voraussetzung Aspekte außerhalb der Person des Täters. Dabei stehen für Finkelhor neben den Möglichkeiten des Täters, mit einem Kind allein zu sein, vor allem die sozialen Bezüge des Kindes im Vordergrund. Insgesamt wird dargestellt, dass Kinder, die kaum gute und stabile Beziehungen zu anderen Menschen haben, vermehrt dem Risiko eines Missbrauchs unterliegen. Vierte Voraussetzung: Überwindung des kindlichen Widerstandes - 44 - „In der Dynamik sexuellen Missbrauchs kommt auch dem Verhalten des Kindes selbst eine bedeutsame Rolle zu.“150 Wie dargestellt, wehren sich alle Kinder gegen den sexuellen Missbrauch auf unterschiedliche Weise. So kann der Täter mit eher passiven Widerstandsformen oder mit einem klaren „Nein“ bis hin zu körperlicher Gegenwehr konfrontiert sein. Daneben gibt es jedoch Aspekte, die eine Gegenwehr des Kindes schwächen, beispielsweise emotionale Bedürftigkeit, mangelnde Aufklärung über Sexualität oder sexuellen Missbrauch oder eine besonders vertrauensvolle und enge Beziehung zum Täter. Selbstverständlich gibt es auch häufig Situationen, in denen das Kind der Übermacht und der Gewalt des Täters nichts entgegenzusetzen hat.151 150 151 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 364 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 362 f. - 45 - Ebene der Erklärung Individuell Soziokulturell Voraussetzung 1: Faktoren, die mit einer Missbrauchsmotivation in Zusammenhang stehen Emotionale Kongruenz Sexuelle Erregung Blockierung Voraussetzung 2: Faktoren, die dazu beitragen, interanale Hemmungen zu überwinden • Stehensgebliebene emotionale Entwicklung • Bedürfnis, sich stark und kontrollierend zu fühlen • Reinszenierung eines Kindheitstraumas, um die Verletzung ungeschehen zu machen • Narzisstische Identifikation mit dem Selbst als kleinem Kind • Traumatische oder stark konditionierende sexuelle Erfahrung in der Kindheit • Jemand anderes lebt sexuelles Interesse an Kindern vor • Fehlattribution von Erregungsreizen • Biologische Abnormalität • Ödipaler Konflikt • Kastrationsangst • Angst vor erwachsenen Frauen • Traumatische sexuelle Erfahrung mit einer erwachsenen Person • Unzureichende soziale Fähigkeiten • Eheprobleme • Anforderung an Männer, in sexuellen Beziehungen dominant und mächtig zu sein • Kinderpornographie • Erotische Darstellung von Kindern in der Werbung • Männliche Tendenz, emotionale Bedürfnisse zu sexualisieren • Repressive Normen über Masturbation und außerehelichen Sex • Alkohol • Soziale Tolerierung von • Psychose sexuellem Interesse an Kindern • Impulsstörung • Schwache strafrechtliche • Senilität Sanktionierung der Täter • Versagen von Inzest-Hemm• Ideologie patriarchaler Mechanismen in der Vorrechte von Vätern Familiendynamik • Soziale Toleranz gegenüber Verbrechen, die im Rausch begangen werden • Kinderpornographie - 46 - • Männliche Unfähigkeit, sich mit kindlichen Bedürfnissen zu identifizieren Voraussetzung 3: Faktoren, die dazu beitragen, externale Hemmungen zu überwinden • Abwesende oder kranke • Fehlende soziale Mutter Unterstützung für Mütter • Mutter, die dem Kind nicht • Faktoren, die der nahe steht oder nicht Gleichstellung von Frauen beschützend ist entgegenwirken • Mutter, die vom Vater • Zerfall sozialer Netzwerke dominiert oder misshandelt • Ideologie der heilen Familie wird • Soziale Isolation der Familie • Ungewöhnliche Möglichkeiten, mit dem Kind allein zu sein • fehlende Beaufsichtigung des Kindes • Ungewöhnliche Schlaf- oder Wohnbedingungen Voraussetzung 4: • Kind ist emotional unsicher Faktoren, die dazu oder depriviert beitragen, den Widerstand • Dem Kind fehlt Wissen über eines Kindes zu sexuellen Missbrauch überwinden • Ungewöhnliche Vertrauenssituation zwischen Kind und Täter • Zwang • Mangelnde Sexualerziehung für Kinder • Soziale Machtlosigkeit von Kindern Quelle: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: Modell der vier Voraussetzungen - David Finkelhors Ursachenmodell. In: Bange, D. / Körner, W. (Hrsg.): 2002, S. 365 f. Bezeichnend ist hier, dass Finkelhor die bestehenden Modelle nicht etwa abwertet, sondern integriert. Einen Kritikpunkt an seinem Modell sehen Brockhaus und Kolshorn in der Begrenzung des Erklärungswertes auf die Fokussierung der Person des Täters und seiner psychischen Prozesse. „Das Opfer und Personen aus seinem Umfeld werden zwar betrachtet, jedoch nur sehr begrenzt und ohne in entsprechender Weise auf ihre psychischen - 47 - Prozesse einzugehen.“152 Dementsprechend erweitern sie dieses Modell im Sinne ihrer Kritik. 2.5.2. Das „Drei Perspektiven Modell: ein feministisches Ursachenmodell“ Dieses von Brockhaus und Kolshorn angelegte Modell stellt eine Weiterentwicklung des Modells der vier Voraussetzungen dar und bezieht als solches die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Bedingungen mit ein. Es werden die Perspektiven sowohl des Täters, des Opfers als auch des sozialen Umfeldes an vier Themen erläutert, wobei die Täterperspektive bereits in vorangegangenem Modell dargestellt wurde. Handlungsmotivation: Die Handlungsmotivation aus dem Blickwinkel des Täters ist in diesem Modell feministischer geprägt und soll daher kurze Erwähnung finden. Brockhaus und Kolshorn unterstellen dem Verhalten meist nicht-sexuelle Motive wie es etwa der Wunsch ist, die eigene Männlichkeit zu bestätigen und Macht auszuüben. Sie sehen die Sexualisierung solcher Motive zentral in der „... Kopplung von Männlichkeit mit Dominanz und Sexualität in der traditionellen Geschlechterrolle begründet [...]“153. Für die Handlungsmotivation aus der Opferperspektive ist zu sagen, dass sich missbrauchte Kinder häufig in einer ambivalenten Situation befinden. Zum einen wird der Missbrauch an sich als höchst unangenehm erlebt, doch die Beziehung zum Täter beinhaltet oft auch positive Aspekte, was eine Abwehrhandlung erschwert oder gar blockiert. Was Personen aus dem sozialen Umfeld anbelangt, so stellt sich die Frage nach der Motivation erst dann, wenn sie den Missbrauch als solchen erkennen und ihn negativ bewerten. Noch immer stehen falsche Vorstellungen und Mythen über sexuellen Missbrauch dem „Erkennen einer Interventionsnotwendigkeit und der Entwicklung einer entsprechenden Handlungsmotivation entgegen“154. Verhaltensfördernde und –hemmende Internalisierungen: „Eine Motivation führt nur denn zu einem entsprechenden Verhalten, wenn die zentralen Werte eines Individuums, seine Einstellungen und Vorstellungen von der 152 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 365 Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 57 154 Ebd., 2002, S. 58 153 - 48 - Welt sowie die verinnerlichten und von außen an es herangetragenen Verhaltenserwartungen das Verhalten insgesamt eher begünstigen als ihm entgegenstehen.“155 Dies bedeutet aus Opfersicht, dass es gewisse internalisierte Werte und Verhaltensweisen gibt, die ein ,Sich wehren’ eher begünstigen oder aber erschweren. Beispielsweise könnte erschwerend sein, wenn das Kind gelernt hat, Erwachsenen immer Folge zu leisten oder es den Missbrauch nicht einordnen und nicht erkennen kann, weil es keine Kenntnisse über solche Geschehen hat. Aus der Perspektive der Personen des sozialen Umfeldes ist Ähnliches zu sagen. So stehen hier vor allem die traditionellen Geschlechterrollen und die Mythen über sexuelle Gewalt einer Parteinahme für das Opfer und gegen den Täter im Weg, zum Beispiel durch Unterstellung einer Mitschuld oder Bagatellisierung. Dabei beeinflusst die Reaktion des Umfeldes auch die Reaktionsmöglichkeiten des Kindes: erlebt es eine negative Reaktion gegenüber seiner Person bei dem Versuch, den Missbrauch mitzuteilen, sinken die Chancen eines effektiven Widerstandes. Handlungsmöglichkeiten: Ist jemand zu einer bestimmten Handlung motiviert und wird das Verhalten durch die innere Vorstellungswelt eher gefördert als gehemmt, so erfolgt die Handlung nur, wenn auch entsprechende Handlungskompetenzen und Ressourcen zur Verfügung stehen. Dazu zählen sowohl immaterielle Ressourcen, wie beispielsweise Autorität, Wissen und Erfahrung, aber durchaus auch materielle Ressourcen wie Geld und Statussymbole. So ermöglicht der Vorsprung an Wissen und Erfahrung dem Täter, einem Kind „weiszumachen, es sei etwas ganz Normales, was sie tun, oder es handle sich um ein Spiel[...]“156. Dem Opfer hingegen fehlen in den meisten Fällen Ressourcen, wie das Wissen über das, was mit ihm geschieht, Kenntnisse über Hilfsangebote oder es mangelt ihm an realer sozialer Unterstützung. 155 156 Loc. cit. Ebd., 2002, S. 59 - 49 - Kosten-Nutzen Abwägung: „Die Verhaltensalternativen, die Tätern, Opfern und dem sozialen Umfeld zur Verfügung stehen, beinhalten nicht nur positive, sondern auch negative Aspekte.“157 Diese Aspekte werden gegeneinander abgewogen, wobei versucht wird, das Verhalten so zu organisieren, dass bei möglichst geringen Kosten ein maximaler Nutzen erzielt wird. Nutzen der Ausübung sexueller Gewalt: Bestätigung der Männlichkeit, Machterleben und –konsolidierung, Kontakt zu einem Kind etc. Kosten der Ausübung sexueller Gewalt: Aufwand (Herstellung der Situation etc.), Widerstand des Opfers, soziale Ächtung, Strafe u. Ä. Nutzen von Gegenwehr: Ende des sexuellen Missbrauchs oder zumindest weniger massive Handlungen, weniger Angst, Schmerz usw. Kosten der Gegenwehr: Verlust positiver Aspekte in der Beziehung zum Täter, massive Gewaltanwendung durch den Täter, Schuldzuschreibung vom anderen, Auseinanderbrechen der Familie o. Ä. Nutzen von Intervention: Befriedigung zu helfen, Handeln nach eigenen Wertmaßstäben, Erleben, Macht und Einfluss ausüben zu können, etc. Kosten von Intervention: Aufwand, gegebenenfalls hohe emotionale Belastung, Anschuldigungen durch andere, Zweifel und Unsicherheit, Rache des Täters u. Ä.158 Dieses Modell verdeutlicht die Wechselwirkungen von Täter, Opfer und sozialem Umfeld. Damit wird es in seiner Komplexität dem ebenfalls sehr komplexen Phänomen des sexuellen Kindesmissbrauchs am ehesten gerecht. Zusätzlich wird nochmals die Gefahr der Mythen über sexuelle Gewalt unterstrichen und aufgezeigt, wie sehr Unwissenheit des Kindes und des Umfeldes den Widerstand bzw. eine Intervention erschweren können. 157 158 Loc. cit. Vgl.: Ebd., 2002, S. 60 - 50 - Prinzipiell kann eine Gesellschaft den Missbrauch verringern, indem sie die Kosten für den Täter möglichst groß, für Opfer und Umfeld jedoch möglichst klein werden lässt. Als Kritikpunkt an diesem Modell ist die Fokussierung auf den männlichen Täter und die Schuldzuweisung an die patriarchalische Gesellschaft und damit ein ausschließlich feministischer Blickwinkel zu nennen. Allerdings entkräften die Autorinnen dieses, da ihrer Meinung nach noch nicht genügend empirisches Material zum Thema „Frauen als Täter“ vorliegt und das Modell somit bewusst feministischer Perspektive und feministischen Erkenntnissen entspricht.159 2.6. Zwischenfazit Im Hinblick auf die präventiven Aufklärungsmöglichkeiten in der Schule wurde vorausgehend großer Wert darauf gelegt, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse eingehend zu betrachten. Nur so kann das Spektrum der Präventivarbeit erfolgreich in allen denkbaren Fällen angewandt werden. Je profunder die Kenntnisse aller Erscheinungsformen der Täteraktionen und Opferreaktionen im Bewusstsein der PädagogInnen verankert sind, desto flexibler können sie hilfreich eingreifen. 3.0. Präventionsmöglichkeiten in der Schule Der zweite Teil dieser Arbeit will/soll ? auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Thematik der Prävention sexuellen Missbrauchs gezielt dazu beitragen, konkrete präventive Aufklärungsarbeit in der Schule, speziell in deren Primarbereich, leisten zu können. Dabei werden die diesem Anliegen entgegenstehenden Faktoren ebenso konkret angesprochen wie alle diejenigen Initiativen, die beim Versuch, dem Missbrauch möglichst schon präventiv zu begegnen, hilfreich und Erfolg versprechend eingesetzt werden können, von der sinnvollen Einbeziehung des Elternhauses bis hin zu praktischen Verhaltenshinweisen im Falle einer notwendigen Intervention durch die Schule. 3.1. Begriffsbestimmungen Um die Möglichkeiten der präventiven Aufklärung in der Schule im Einzelnen zu betrachten, erscheint zunächst eine inhaltliche Klärung der in der Folge verwendeten Begriffe „Prävention“ bzw. „Prophylaxe“ sowie „Intervention“ erforderlich, da diese keiner 159 Vgl.: Brockhaus, U./ Kolshorn, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 55 - 51 - einheitlichen Definition unterliegen, die Grenze zwischen den Termini im fachlichen Diskurs fließend ist und sich deshalb eine eindeutige Abgrenzung nur schwer vollziehen lässt. Von der reinen Etymologie des Wortes „Prävention“ her ist festzuhalten, dass sich der Begriff aus zwei Worten zusammensetzt, nämlich dem lateinischen ‚prae‘, welches ‚vorher‘ bedeutet und ‚venire‘, das für ‚kommen‘ steht. Somit bedeutet Prävention also soviel wie „strategische Vorbeugung“ oder „Zuvorkommen“160. „Prophylaxe“ setzt sich aus den griechischen Vokabeln ‚pro‘ für ‚vor‘ bzw. ‚voraus‘ und ‚phylax‘ für ‚Wächter, Beschützer‘ zusammen und meint „vorbeugende Maßnahme“ im Sinne von „Verhütung“.161 Beide Begriffe stehen in Bezug auf das Thema für jegliche gesamtgesellschaftlich relevante ( Schul- )Arbeit mit Erwachsenen und Kindern, die den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs aufklärend und vorbeugend zu verhindern sucht. „Intervention“ hingegen bezeichnet alle eingreifenden Maßnahmen, die bei bestehendem oder vermutetem sexuellen Missbrauch angewandt werden, beispielsweise die Enttarnung von Tätern, Opferberatung oder therapeutische Hilfe. Marquardt-Mau verdeutlicht die fließenden Grenzen zwischen den Phasen der Prävention und der Intervention anhand der Frage, ob eine Lehrkraft, die das Problem des sexuellen Missbrauchs in ihrer Klasse thematisiere, „Prävention oder Intervention im Hinblick auf möglicherweise betroffene Kinder in der Klasse“162 betreibe Angela May ergänzt hierzu: „Für gleiche Kontexte werden unterschiedliche Termini verwendet, wiederum werden für unterschiedliche Kontexte und Adressatengruppen gleiche Begriffe verwendet.“163 Die Autorin versucht diesem Dilemma entgegenzuwirken, indem sie eine Differenzierung der Begriffe „Prävention“ und „Prophylaxe“ anwendet. Jedoch hat sich im Laufe der Präventionsarbeit in der Bundesrepublik überwiegend das nachfolgend vorgestellte Modell der drei Präventionsbereiche eingebürgert, welches seinen Ursprung in der Sozialpsychiatrie sieht, dort 1964 von Caplan ,entwickelt wurde164 und die gängigste, zudem zeitbezogene Kategorisierung darstellt. 160 Vgl.: Hermann, U.: 1993, S. 390, zit. nach May, A.: 1997, S. 24 Vgl.: Hermann, U.: 1993, S. 394, zit. nach May, A.: 1997, S. 24 162 Marquardt-Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 438 163 May, A.: 1997, S. 25 164 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 161 - 52 - Dem Modell zufolge untergliedert sich die gesamte Präventionsarbeit in folgende Bereiche: Primärprävention: Die Primärprävention soll in einer möglichst frühen Lebensphase einsetzen und eine langfristig angelegte Erziehung zu vorbeugendem Handeln darstellen. Mit Hilfe von Aufklärung, Beratung und Anleitung ist es das Ziel der Primärprävention, das Auftreten sexuellen Missbrauchs von vornherein zu verhindern. Damit wendet sich diese Form der Prävention also an eine große Adressatengruppe.165 Wehnert-Franke u.a. zufolge wird sie hauptsächlich in Form von Programmen in Kindergärten und Grundschulen durchgeführt, wobei zu beachten ist, dass zu den präventiven Maßnahmen erster Ordnung sowohl die sog. Elternarbeit als auch die LehrerInnen - Fortund Weiterbildung gezählt werden muss. Insgesamt soll durch vorbeugende Strategien (Prävention) ebenso wie durch vorbeugende Maßnahmen (Prophylaxe) der Missbrauch im Vorhinein generell verhindert werden. Darum werden die Begriffe der Prävention und der Prophylaxe in dieser Arbeit synonym verwandt, wobei nach wie vor zwischen den Präventionsbereichen zu unterscheiden ist. Sekundärprävention: Die Sekundärprävention konzentriert sich in erster Linie darauf, „die Wiederholung des Missbrauchs [zu H.B.] verhindern,[...] und betrifft ausschließlich Risikogruppen“.166 Angela May erweitert dies mit der Aussage, die Sekundärprävention beziehe sich auf frühzeitiges Erkennen und Aufdeckung des Missbrauchs. „Mittels Fortbildungen sollen Erwachsene sensibilisiert werden und Signale und Symptome bei betroffenen Kindern erkennen und deuten können, um eine Frühintervention einzuleiten.“167 Auch hier hat die Sekundärprävention den Charakter der Intervention, jedoch wird nicht nur die Risikogruppe betrachtet, sondern Strategien zur Intervention mit einbezogen. Insofern fällt es mit in den Verantwortungsbereich der Schule, Sekundärprävention zu verwirklichen, wobei die Primärprävention das explizite Ziel, die Sekundärprävention nebst potentieller Intervention hingegen das implizite Ziel schulischer Bemühungen darstellt. Es ist allerdings fraglich, inwiefern Lehrerinnen und Lehrer zu einer adäquaten Intervention in 165 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439; Vgl.: May, A.: 1997, S. 25 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 167 May, A.: 1997, S. 25 166 - 53 - der Lage sind. Die Ausführungen zu dem Thema der Möglichkeiten und Grenzen schulischer Präventionsarbeit beleuchten diese Aspekte näher. Tertiärprävention: Die Tertiärprävention schließlich „stellt eine angemessene Betreuung von Kindern, die sexuelle Gewalt erfahren haben, dar“168; der Kreis der Adressanten ist demnach begrenzt. Ihr Ziel ist die Minimierung von Spätzeitfolgen und die Verhinderung einer Reviktimisierung, zumeist durch therapeutische Maßnahmen.169 Hier ist der Anteil der Schule als Institution sehr gering und muss sich aus Kompetenzgründen darin erschöpfen, Betroffenen den Kontakt zu einer entsprechenden Betreuungsstelle zu ermöglichen, denn tertiäre Prävention als solche kann verständlicher Weise nicht geleistet werden. Für die Schule ergibt sich hieraus ein Präventionsauftrag, der sowohl die Primär- als auch die Sekundärprävention beinhaltet. Zum einen ist sie in der Lage, den Missbrauch möglichst frühzeitig aufzudecken, indem LehrerInnen sowohl ihre Rolle im Helfersystem als auch die Signale von betroffenen Kindern verstehen lernen. Zum anderen muss sie durch „frühzeitige, langfristige und angemessene Erziehung – sowohl im Hinblick auf eine mögliche Opfer- als auch Täterrolle – vorbeugen.“ 170 Die so umrissenen Ziele schulischer Prävention beinhalten die präventiven Aufklärungsmöglichkeiten, die mit Hilfe unterschiedlicher Strategien und Methoden ihren Eingang in den schulischen Alltag, besonders den der Grundschule, finden müssen. Neben diesen Programmen und Maßnahmen sollte eine curriculare Einbettung der Prävention ebenso diskutiert werden wie eine grundlegend veränderte Erziehungshaltung und nicht zuletzt die Einbeziehung der Eltern in die Präventionsarbeit. 3.1.1. Traditionelle Präventionsmaßnahmen Wie bereits dargelegt wurde, existieren diverse Mythen und falsche Vorstellungen über sexuellen Missbrauch. Diese spiegeln sich besonders deutlich in der Prävention früherer Zeit wider, handelte es sich hierbei doch weitgehend um eher unspezifische Warnungen vor dem bösen Fremden, die vor allem an Mädchen gerichtet waren. Heidi Gies bestätigt das und führt weiter aus, dass präventive Bemühungen auch zum Teil heute noch lediglich 168 169 Gies, H.: 1995, S. 61 Vgl.: Sauder, 1994, S. 12 - 54 - darin bestehen, „... Kinder durch Verbote und angstmachende Hinweise zu schützen. Diese basieren auf der Vorstellung von einem einmaligen gewalttätigen Übergriff durch einen fremden, abartig veranlagten Täter“.171 Diese Form der „Angstprävention“172 erschöpft sich hauptsächlich darin, durch wohlgemeinte, aber ausweichende Ratschläge Erwachsener wie beispielsweise: ‚Nimm keine Süßigkeiten von Fremden an’ oder ‚Bleib in der Nähe des Hauses’ unkonkrete Furchtgefühle bei Kindern auszulösen. .Zusätzlich zu der Unklarheit dessen, was dieser Fremde den Kindern denn wohl antun könne, bleibt ein möglicher Ausweg aus einer solchen Situation für das Kind ausgeklammert.173 Derartige Botschaften suggerieren, dass Kinder im „Schoße der Familie“ geborgen oder beim Zusammensein mit Freunden oder Bekannten in Sicherheit seien. Aber wie bereits ausgeführt, bilden Fremdtäter bei sexuellem Missbrauch einen lediglich sehr geringen Teil der Gesamttäter. Als Beispiele für diese Art der Prävention, die vornehmlich auf den Fremdtäter fokussiert ist, nennt Gies Informationsmaterialien des Innenministeriums von Baden Württemberg, nach denen Eltern als mögliche Täter explizit ausgeschlossen werden: „In der Empfehlung aus den achtziger Jahren soll das Kind diesen ‚guten’ Menschen trauen, denn daß sie gut sind, siehst Du daran, daß man sogar Tage nach ihnen benannt hat: Muttertag und Vatertag’.“174 Zusammengefasst beinhalten die Formen der traditionellen Prävention die Warnung vor dem unheimlichen, abnormalen, fremden Triebtäter, wobei die Gefahr, die von diesem ausgeht, kaum näher erläutert wird. Zudem basieren sie auf Abschreckung und schaffen somit Verunsicherung und Verängstigung. Die Handlungsspielräume der Kinder, ihre Selbstständigkeit und ihre Unabhängigkeit werden durch die Verbote stark eingeschränkt und behindert. Sie werden angehalten, bestimmten Personen (bspw. den Eltern) unbedingt zu gehorchen und anderen Personen von vornherein nie.175 Zudem richten sich die meisten der traditionellen Warnungen an Mädchen, wohingegen bei der Jungenerziehung noch immer das Klischee des ;Indianers, der keinen Schmerz kennt’,dominiert. Die Versuche, durch Abschreckung Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen, wirken ihrer Intention genau entgegen: durch Angst werden Kinder gelähmt und handlungsunfähig. Es wird deutlich, dass die Strategien der Angstprävention nicht dazu geeignet sind, Kinder mit Handlungskompetenzen auszustatten, die ihnen in konkreten Gefahren170 Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 Gies, H.: 1995, S. 56 172 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 173 Vgl.: Kastner, H.: 1998, S. 30 174 Enders, U. zit. nach Gies, H.: 1995, S. 56 175 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 57 171 - 55 - situationen von Nutzen sein können. Darüber hinaus wird durch das Propagieren der Familie als ,schützender Ort’ ein wesentlicher Täterkreis nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie das Täterbild des abartigen Fremden dazu geeignet erscheint, Täter im sozialen Nahraum des Opfers zu vermuten.176 Insgesamt ist festzustellen, dass die traditionelle Prävention es versäumt, Hilfe und Handlungsmöglichkeiten effektiv an Kinder heranzutragen. Enders betont sogar, dass die Abhängigkeit der Kinder gegenüber Erwachsenen, ihre Rechtlosigkeit und Verletzbarkeit durch solche Maßnahmen noch gesteigert wird: „Verängstigte und abhängige Kinder, die über die hauptsächlichen Gefahrenorte nicht aufgeklärt wurden, haben weniger Chancen, sich gegen einen sexuellen Missbrauch zu wehren: sie werden zu Opfern erzogen.“ 177 Auch Gisela Braun schließt sich dem an, indem sie feststellt: Diese Form der Präventionsarbeit „... bereitet geradezu den Boden für Mißbrauch, denn fehlinformierte, unsichere, angepaßte und abhängige Kinder sind ideale Opfer.“178 Somit ist die Strategie der Angstprävention nicht nur in höchstem Maße ineffektiv, sondern sogar kontraproduktiv, da sie lediglich eine diffuse Furcht erzeugt und dadurch handlungsunfähig macht. 3.1.2. Moderne Ansätze der Präventionsarbeit Die eben skizzierte Haltung stand in der ohnehin spärlichen Präventionsarbeit bis Anfang der 80er Jahre im Vordergrund. Erst im Rahmen der „fortschrittlichen Sexualerziehung“ wurde begonnen,, den Blick nicht ausschließlich auf den „bösen Fremden“ , sondern auch auf Bekannte, Nachbarn und Verwandte zu richten. 179 Die Distanzierung von der Abschreckungsprävention setzte zuerst in den USA ein, wurde durch das Konzept der Aufklärung, Information und des „empowerment“ ersetzt und hatte zum Ziel, die Kinder „safe, strong und free“ werden zu lassen.180 Im Zuge der beginnenden Enttabuisierung sexuellen Missbrauchs wurden nun auch in Deutschland jene Programme angewandt, die potentielle Opfer stark machen und in die Lage versetzen sollten, „sexuelle Übergriffe zu erkennen und einzuordnen“ 181. Die Psychologin 176 Vgl.: Fey, E.: 1991, S. 46 Enders, U.: zit. nach Gies, H.: 1995, S. 58 178 Braun, G.: 1989, S. 18 179 Vgl.: May, A.: 1997, S. 22 180 Vgl.: Marquardt-Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 181 Vgl.: May, A.: 1997, S. 22 177 - 56 - Elisabeth Fey fasst entsprechend zusammen, dass Prävention nur dann Sinn habe, wenn sie aufklärend, stärkend und nicht angsterzeugend oder freiheitseinschränkend sei. Prävention muss also informieren, Handlungsmöglichkeiten vermitteln und sich auf die gesamte Erziehung auswirken, um die Entwicklung von Selbstbewusstsein und autonomem Verhalten zu ermöglichen.182 Zunächst soll nun ein Programm aus den USA, dem „Mutterland der Prävention“ 183, vorgestellt und an ihm exemplarisch die modernen Ansätze der Prävention verdeutlicht werden. Das bekannteste Programm der amerikanischen Prävention ist CAPP, das „Child Assault Prevention Project“, welches nahezu unverändert ab Mitte der 80er Jahre Eingang in die bundesrepublikanische Präventionsarbeit gefunden hat. Vorauszuschicken ist, dass es in damals eine Art „Präventionseuphorie“184 auslöste und nahezu unverändert in seiner angloamerikanischen Form einschließlich ihrer kulturellen Inhalte auf die Verhältnisse der Bundesrepublik projiziert wurde. Von daher soll neben der Konzeption des Projekts auch die Kritik daran vorgestellt werden, beides basierend auf der Arbeit von Gisela Braun über das CAPP-Programm, in der sie sich auf die wesentlichen Grundelemente beschränkt. 3.1.2.1. Die Verwendung von Präventionsprogrammen in der Schule Wie aus den Ausführungen deutlich wird, sind es vor allem Präventionsprogramme, die in begrenztem Umfang Eingang in die Schule gefunden haben. Von daher soll nun beleuchtet werden, inwiefern sie dort eine angemessene Verwendung finden können, wobei der schulische Rahmen hier zunächst im Vordergrund steht, während die Inhalte der Programme nachfolgend thematisiert werden. Die Autoren Berrik und Gilbert 185 gehen dieser Frage anhand von US-amerikanischen Untersuchungen nach. Ihre Ergebnisse können zwar nicht ohne Abstriche auf die Verhältnisse der Bundesrepublik übertragen lassen, bieten aber doch in ihren Grundstrukturen Parallelen zu den Programmen, die hierzulande Verwendung finden, und werden aus diesem Grund angeführt. Zunächst spricht für eine Verwendung der Programme in der (Grund -)Schule die intime Atmosphäre des Klassenraums und der geringe Aufwand in gestalterischer Hinsicht. Zudem können die Kinder in relativ kleinen Gruppen erreicht werden, und die Durchführung der Programme beeinträchtigt die Stundenplangestaltung nur unwesentlich. 182 Fey, E.: 1991, S. 47 Marquardt – Mau,B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 439 184 Vgl.: Ebd., S. 440 183 - 57 - Bei der präventiven Arbeit mit Kindern spielt die Beziehung zwischen ihnen und den Veranstaltern eine große Rolle, „da sie eng mit der Wirkung der Programme verknüpft ist“.186 Meist treten externe Gruppierungen wie Vereine und Initiativen an die Schulen der näheren Umgebung heran, womit dieser Präventionsansatz nur auf deren Mitglieder zurückgreifen kann. Sie sind den Kindern jedoch fremd, stehen ihnen lediglich für eine begrenzte Zeitspanne als Ansprechpartner zur Verfügung und können auftauchende Fragen im Hinblick auf eine eventuelle Aufdeckung des Missbrauchs nicht weiter begleiten. Gleichwohl halten Berrick und Gilbert fest: „Dennoch bilden die [...] Programme die Vorhut der Präventionsbewegung. Die MitarbeiterInnen glauben an ihre Arbeit und führen die Programme mit sehr viel Enthusiasmus durch.“187 Von daher ist der Forderung, Lehrerinnen und Lehrer dahingehend zu qualifizieren, dass sie schulinterne Präventionsmaßnahmen durchführen können, unbedingt Nachdruck zu verleihen, und es wird im Rahmen dieser Arbeit weiter darauf einzugehen sein. Berrick und Gilbert weisen jedoch darauf hin, dass schulinterne Maßnahmen dazu tendieren, Präventionsthemen losgelöst vom übrigen Fächerkanon zu behandeln, was einer grundlegenden Erziehungshaltung und einer fächerübergreifenden Einbettung der Thematik entgegensteht. Um die inhaltliche Orientierung der Programme zu analysieren, soll zunächst das angesprochene CAPP-Programm betrachtet werden. 3.1.2.2. CAPP – Child Assault Prevention Project Das CAPP-Programm wurde in den USA Ende der 70er Jahre von MitarbeiterInnen eines Zentrums für vergewaltigte Frauen entwickelt und bezieht sich in seinen Grundlagen auf sexuelle Gewalt durch Vergewaltigung.188 Mittlerweile haben sich unterschiedliche Formen, Erweiterungen und Variationen dieses Programms etabliert, so dass im Folgenden lediglich die Grundform dargestellt werden kann. Die Zielgruppe des Programms sind Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und achtzehn Jahren Es besteht nicht nur aus der eigentlichen Arbeit mit Kindern, sondern beinhaltet auch jeweils einen Workshop für LehrerInnen und für die Eltern der Kinder. Der Workshop für das Schulpersonal sieht eine zweistündige Schulveranstaltung vor, die grundlegende Kenntnisse über sexuellen Missbrauch, das Erkennen möglicher Signale und Aspekte der Intervention vermittelt. Der Elternworkshop ist ähnlich aufgebaut, jedoch ist 185 Vgl.: Berrick, J./ Gilbert, N.: In.: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 76 f. Ebd., S. 77 187 Loc. cit. 186 - 58 - die Gewichtung der Themen eine andere. In erster Linie sollen die Eltern hier sensibilisiert und ihre Ängste und Vorbehalte gegen den Kinderworkshop abgebaut werden. Kernstück des Programms ist der Kinderworkshop, in dem die Trainerinnen die Schulklassen über die Rechte von Kinder und Jugendlichen informieren, „die in dem Slogan ‚safe, strong and free’ zusammengeführt sind: Mädchen und Jungen haben das Recht, sicher, stark und frei zu sein“ 189. In Form von Rollenspielen werden diese Rechte nun konkret umgesetzt. Zunächst wird ein Rollenspiel vorgeführt, in welchem ein jüngeres Kind durch ein älteres erpresst wird. Hiernach erfolgt die Darstellung eines älteren Mannes, der einen Jungen unter einem Vorwand zum Mitgehen auffordert. Den Abschluss bildet ein Rollenspiel, indem ein Onkel seine Nichte zu küssen versucht und darüber Geheimhaltung fordert. Zunächst präsentiert man alle Szenen mit negativem Ausgang , sprich das Opfer unterliegt dem Täter. Anschließend werden gemeinsam Handlungsstrategien entwickelt und mit den Kindern erneut durchgespielt, diesmal jedoch mit positivem Ausgang. Zusätzlich wird eine weitere Szene gespielt, in der eine Schülerin eine Lehrerin um Hilfe bittet, - dies „...um die Mädchen und Jungen zu ermutigen, sich Unterstützung zu holen“190. Weiterhin lernen die Kinder im Rahmen des Workshops Selbstverteidigungsstrategien wie Treten und einen bestimmten lauten Hilfeschrei. Den Abschluss des Trainings bildet die Verteilung von Adressen der Beratungs- und Hilfseinrichtungen der jeweiligen Region.191 Die Grundform dieses Programms spiegelt, wie bereits erwähnt, die gegen Mitte der 80er Jahre erfolgte Wende in der Prävention wider und verdeutlicht die Kernpunkte moderner Prävention, welche die Rechte des Kindes betont und auf dessen Stärkung abzielt. 3.1.2.3. Kritik am CAPP-Programm Wurde das CAPP-Programm zunächst euphorisch aufgenommen, entstand in den folgenden Jahren eine zunehmend kritische Haltung, die erstmals der Deutsche Kinderschutzbund formulierte. 192 Zentrale Kritikpunkte beziehen sich sowohl auf Durchführung und Effektivität als auch auf die Konzeption an sich. Zunächst wird das Präventionsverständnis des CAPP-Programms kritisiert, da hier den Kindern die Verantwortung für ihren eigenen Schutz übertragen wird. Dies entspricht jedoch nicht der Realität, da anhand der im Programm beschriebenen Missbrauchs- 188 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 59 Ebd., 2002, S. 41 190 Loc. cit. 191 Vgl.: Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 41 192 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 59 189 - 59 - vorgänge ein Kind sich selbst durchaus nicht immer zu schützen vermag. Die Folge kann sein, dass Kinder, die sich nicht wehren können oder konnten, sich aber in der Verantwortung dafür sehen, enorme Schuldgefühle entwickeln, die zusätzlich zu bestehenden Schuldgefühlen erschwerend auf eine Aufdeckung des Missbrauchs wirken. Ein weiterer Kritikpunkt ist nach Gies die „ungeprüfte Übernahme impliziter USamerikanischer Moralvorstellungen und die Übernahme eines nicht unbedingt allgemeingültigen und akzeptierten Wertesystems“ 193. Was als normal oder deviant gilt, ist nur unter Berücksichtigung des soziokulturellen Umfeldes festzustellen, wohingegen das CAPPProgramm es selbst übernommen hat, „... die normativen Grenzen von Intimität und sozialen Beziehungen im Familienleben abzustecken“194. Weiterhin ist zu sagen, dass die TrainerInnen weitgehend zu Vertrauenspersonen für die Kinder werden, ihnen jedoch keine konkrete Hilfestellung anbieten, sondern auf kommunale Hilfsangebote verweisen. Dabei muss beachtet werden, dass zwar in den USA solche kommunale Hilfsangebote weit verbreitet sind, dies jedoch durchaus nicht in ebensolchem Ausmaß auf die Bundesrepublik zutrifft und also „eine unreflektierte Übernahme geradezu fahrlässig“195 ist. Auch die Definitionsgrundlage sexuellen Missbrauchs wird durch den Kinderschutzbund kritisiert, da deren Schwerpunkt, bedingt durch den Entstehungshintergrund des Programms, vornehmlich auf die Macht- und Gewaltstrukturen einer sexualisierten Beziehung gelegt wird. Dementsprechend werden Missbrauchserfahrungen, die vor allem auf ‚Verführung’ und Überredung basieren, nicht differenziert betrachtet. Zudem wird, wie Gies ausführt, in diesem Kontext, trotz gegenteiliger Beteuerungen, ,, nach wie vor eher der familienferne Täter thematisiert.196 Besondere Aufmerksamkeit soll hier abermals den betroffenen Kindern gewidmet werden, die an einem solchen Workshop teilnehmen. Sie machen hier zwangsläufig die Erfahrung, dass sie sich gegen den Missbrauch hätten zur Wehr setzen können und ‚safe, strong and free’ sein sollten. Damit werden Kinder dazu gebracht, sich die Schuld für den Missbrauch selbst aufzuladen. So bewirkt das CAPP-Programm womöglich das Gegenteil dessen, was es sich als Ziel gesetzt hat. Außerdem sind „die Auswirkungen im Sinne einer Verhaltensänderung eines zweistündigen Kinderworkshops, dessen Inhalte häufig den eigenen Lebenserfahrungen in der Familie widersprechen“ 197 als fragwürdig anzusehen. 193 Ebd., 1995, S. 60 Loc. cit. 195 Gies, H.: 1995, S. 60 196 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 60 197 Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 42 194 - 60 - Die wesentlichsten Kritikpunkte an CAPP betreffen den Umgang mit der Sexualität, wie Heidi Gies ausführt. Sie stellt fest, dass „Geschlechtsteile und sexuelle Handlungen [...] nicht konkret beim Namen genannt“198 werden; stattdessen ist die Rede von ,Intimbereich’ und ,den Stellen des Körpers, die üblicherweise mit einem Badeanzug bedeckt sind.’ In Bezug auf den sexuellen Missbrauch werden dabei ‚Berührungen im Intimbereich’ oder ‚überall berührt werden’ genannt. Diese Ausblendung entspricht zwar den Moralvorstellungen in den USA, wonach über Sexualität nicht explizit, insbesondere Kindern gegenüber, gesprochen wird, hat aber zugleich fatale Auswirkungen: Es ist ein Rückschritt zur traditionellen Prävention zu notieren, bei der sowohl sexuelle Handlungen wie auch Sexualität per se nicht konkret benannt worden waren.. Dies hat zur Folge, dass sich Kinder noch immer nicht genau vorstellen können, was mit ,sexuellem Missbrauch’ gemeint ist, und so der Verunsicherung ausgesetzt sind. Die verletzende Realität des Missbrauchs, die Hilflosigkeit, die Demütigungen und die Schamgefühle werden übergangen oder bestenfalls verharmlost und verschleiert. Diese Inhalte sind jedoch- das belegen die Strategien der Täter, die Folgen für die Opfer und deren ‚Überlebensversuche’ ein wichtiger Bestandteil der präventiven Aufklärung. „Durch die Vermeidung der konkreten Inhalte und Namen wird eine doppelte Botschaft vermittelt, nämlich: Ich will dich vor sexueller Gewalt warnen, aber ich sage dir nicht, was das ist.“199 Wie kindgerechte Darstellungen aussehen können, soll in den folgenden Kapiteln erörtert werden; sie auszublenden oder zu verschleiern wirkt einer Aufklärung jedenfalls massiv entgegen. Weitere kritische Anmerkungen stehen in engem Zusammenhang mit der eben genannten Doppeldeutigkeit. CAPP vermittelt kein angemessenes Vokabular, mit dem Kinder und Jugendliche einen eventuellen Missbrauch benennen könnten, obwohl sie explizit dazu aufgefordert werden. Anderson beschreibt die Doppeldeutigkeit folgendermaßen: „Du kannst mit mir über sexuelle Mißbrauchserfahrungen sprechen, es ist nicht deine Schuld, wenn dir so etwas passiert ist, du bist o.k. Aber dein Körper ist so schlecht, daß ich noch nicht einmal aussprechen kann, was unter deinem Badeanzug ist.“200 Wie im Kapitel über die Folgen des Missbrauchs beschrieben, wird der eigene Körper oft als negativ erlebt und die ,Schuld’ am Missbrauch auf ihn projiziert. Durch die doppelte Botschaft des Programms wird diese Einstellung verstärkt; es kann der Effekt eintreten, dass die Opfer ihren Körper noch negativer wahrnehmen 198 Gies, H.: 1995, S. 61 Ebd., 1995, S. 61 200 Anderson, C.: zit. nach Gies, H.: 1995, S. 61 199 - 61 - Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, gerade kleinen Kindern ein Vokabular zur Verfügung zu stellen, welches ihnen erlaubt, das Erlebte in Worte zu fassen und so das Schweigen zu brechen. Andererseits ist der Mangel an Bezugnahme auf lustvolle Erfahrungen durch Sexualität zu beklagen, „wie etwa positiv erlebte Doktorspiele oder Selbstbefriedigung“201. Damit besteht die Gefahr, dass Sexualität im Allgemeinen negativ besetzt wird und Angst verursacht. Auch diese Möglichkeit konterkariert die angestrebten Präventionsbemühungen. des „empowerment Zwar verhinderte die angesprochene Kritik, dass das Programm in seiner ursprünglichen Form in der BRD flächendeckend Anwendung fand, aber es bildet doch noch immer mit seiner Konzeption“ als Ausbau vorhandener Stärken sowie einer Steigerung der Autonomie die Grundlage der meisten gängigen Präventionsprogramme und muss in diesem Kontext besondere Würdigung finden.202 Der Perspektivenwechsel auf Basis der US-amerikanischen Programme hat in der heutigen Zeit zu einem veränderten Standort in der Präventionsarbeit geführt, der die „Blickrichtung weg von dem, was verhindert werden soll, hin zu dem, was angeregt und gestärkt werden soll...“203 lenkt. Zudem führte das CAPP-Programm erstmals eine Zusammenarbeit sowohl mit dem Elternhaus als auch mit dem schulischen Lehrpersonal ein. Von daher soll es als Basis der modernen Präventionsbemühungen gesehen und seine drei Bestandteile, namentlich die Prävention mit Kindern, Eltern und LehrerInnen, im Folgenden näher beleuchtet werden. 3.2. Präventionsarbeit mit Kindern Die Arbeit mit Kindern ist der Schwerpunkt der präventiven Aufklärungsmöglichkeiten der Schule, hier besonders der Grundschule, und sie bezieht sich sowohl auf die Primär- wie Sekundärprävention. Die Programme, die meist durch externe TrainerInnen durchgeführt werden, sind zahlreich und verfügen über eine Fülle von Materialien, Strategien und Methoden, Kindern die komplexe Problematik des sexuellen Missbrauchs näher zu bringen, wobei die Informationen und Methodik je nach Alter der eigentlichen Zielgruppe differieren. In Anbetracht dessen sollen also möglichst generell die Themen und Ziele, die Inhalte und Methoden der Prävention einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. 201 202 Gies, H.: 1995, S. 61 Vgl.: Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 42 - 62 - 3.2.1. Ziele der Prävention mit Kindern Es wurde bereits dargestellt, dass die modernen Programme nicht mehr das Ziel haben, durch pure Abschreckung den Missbrauch zu verhindern. Vielmehr steht die Prävention nun unter dem bereits zitierten Motto: ,sicher, stark und frei’. Heidi Gies nennt in Anlehnung an Zartbitter e.V. die folgenden Ziele:204 Als Basis der präventiven Bemühungen müssen Kinder gestärkt werden. Diese Stärkung muss sich sowohl auf das Selbstbewusstsein sowie auf die Rechte der Kinder beziehen und letztendlich dahin gehen, ihre Autonomie und ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zu steigern. Weiterhin ist es zentrales Anliegen, den potentiellen Opfern das Wissen zu vermitteln, dass sie sich wehren dürfen und können205, also Ohnmachtgefühle und Hilflosigkeit überwinden lernen. Anhand der bereits aufgeführten Kritik muss auch der Realismus in der Prävention stärkere Berücksichtung finden, vor allem realitätsgerechte Informationen über das Missbrauchsgeschehen. Neben der reinen Informationsvermittlung sollen Widerstandsstrategien und Formen erlernt werden, mit denen ein möglicher Missbrauch verhindert oder wenigstens aufgedeckt werden kann. Dabei darf das Kind jedoch aus bereits angesprochenen Gründen nicht die Verantwortung für die Beendigung des Missbrauchs zugesprochen bekommen. Insgesamt hält Gies fest: „Kindern sollte durch die neuen Präventionsansätze Kraft und Energie gegeben werden. Prävention sollte deshalb Lebensfreude ausdrücken und Kinder in ihren Rechten und Kompetenzen bestärken.“206 Diese Grobziele sind richtungweisend für den Perspektivenwechsel in der Präventionsarbeit und finden ihren Niederschlag in Form vieler Programme und Initiativen207. Da an dieser Stelle eine detaillierte Aufführung aller Programme nicht erfolgen kann, wird die größte gemeinsame Schnittmenge der Prävention betrachtet. 203 Marder, P./ Mebes, M: 1993, S. 9 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 67 205 Vgl.: Braun, G.: 1989, S. 18 206 Gies, H.: 1995, S. 68 207 beispielsweise Zartbitter e.V.; Verein zur Prävention sexueller Gewalt an Jungen und Mädchen e.V. 204 - 63 - 3.2.2. Inhalte der Prävention Den Zielen und der Präventionsphilosophie entsprechend, macht Bange acht Themenfelder aus, die „zentral für eine präventive Erziehung“208 sind und nun im Einzelnen dargestellt werden, um einen Einblick in konkrete Inhalte der Prävention zu ermöglichen. Da die Inhalte den Kindern meist in Form von Rechten209 nahe gebracht werden, ist diese Begrifflichkeit hier beibehalten worden, damit der Bezug zur Prävention deutlich wird. Es muss vorausgeschickt werden, dass die Inhalte zwei Dimensionen haben: Zum einen sollen die Kinder im Hinblick auf einen möglichen Missbrauch ebenso wie im Hinblick auf ihre Persönlichkeit „safe, strong and free“ gemacht werden, zum anderen muss sich jede Präventionsbemühung auf die Realität des Missbrauchs hin prüfen lassen, um eine im Ansatz wirkungslose oder gar kontraproduktive Prävention zu verhindern. Deshalb wird zu Beginn eines jeden Themenbereichs, wenn möglich, noch einmal Bezug auf die Grundlagen dieser Arbeit genommen, um darzustellen, inwiefern er jeweils auf das Missbrauchsgeschehen an sich einwirken kann. Selbstverständlich unterscheiden sich die potentiellen Opfer und die individuellen Umstände des Missbrauchs voneinander, so dass eine Verallgemeinerung kaum zulässig erscheint. Jedoch ist es legitim, die erarbeiteten Grundzüge insbesondere der Täterstrategien mit den vermittelten Rechten zu konfrontieren und dabei abzuwägen, inwieweit sie rein theoretisch in der Lage sind, als hilfreiche Handreichungen für das Opfer dienlich zu sein. 3.2.2.1. Das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung Wie im Kapitel über die Strategien der Täter –sofern sie Elternteil(e) sein sollten angeführt, vermitteln diese den Opfern häufig, sie hätten das Recht, das Kind zu benutzen. Auch Täter aus dem sozialen Nahfeld vermögen ihren Opfern einzuimpfen, sie hätten aus irgendeinem Grunde das Recht, sich körperlich des Kindes zu ,bedienen’, sei es durch vorangegangene Geschenke oder sonstige fadenscheinige Legitimationen. Dem soll entgegengewirkt werden, indem Kinder lernen, dass auch sie Rechte haben. Ein Slogan, welcher in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem vielleicht wichtigsten Grundsatz steht, ist: „Mein Körper gehört mir!“. Elisabeth Fey schreibt in Anlehnung an Gisela Braun, die selbst ein Präventionskonzept mit gleichem Titel erarbeitet hat: „Dein 208 209 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 447 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 69 - 64 - Körper gehört Dir. Du bist einzigartig und liebenswert. [...] Und Du hast das Recht zu bestimmen, was mit Deinem Körper geschieht.“210 Damit ist bereits deutlich ausgedrückt, was Kinder grundlegend lernen sollen: Niemand außer ihnen selbst kann über ihren Körper verfügen! Dieses Konzept beinhaltet weit mehr als das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und kann anhand unterschiedlicher Beispiele den Kindern erläutert werden. So hat das Kind das Recht, die Umarmung oder den Kuss eines Verwandten (auch der Eltern) abzulehnen und ihn dennoch zu mögen. Ebenso muss zum Beispiel dem Verlangen des Kindes, allein im Badezimmer zu sein, Rechnung getragen werden. Es hat insgesamt ein Recht darauf, dass „seine Bedürfnisse respektiert werden“211, auch wenn dies möglicherweise Unsicherheit oder Ärger bei den betroffenen Angehörigen hervorrufen mag. In Bezug auf den eigenen Körper Grenzen setzen und wahren zu können, ist elementarer Bestandteil eines jeden Programms und verhilft Kindern so zu einem gesunden Selbstbewusstsein und außerdem noch zu dem Verständnis dafür, dass auch andere Kinder sowie die Erwachsenen ihre Grenzen haben. Damit wirkt dieser Themenbereich in doppelter Hinsicht: Zum einen werden die Opfer gestärkt, zum anderen wird Grenzübertritten der Kinder in ihrem späteren Leben vorgebeugt. 3.2.2.2. Das Recht auf die eigene Intuition Auch hier muss auf die Strategien der Täter hingewiesen werden, bei der die Wahrnehmung des Opfers systematisch vernebelt wird und es überzeugt werden soll, dass es sich das ,schlechte Gefühl’ nur einbilde oder in Wirklichkeit positive Gefühle erlebe. So zweifeln Kinder oft an ihrer eigenen Intuition und Wahrnehmung, bis hin zu dem Grad, dass ihnen eingeredet werden kann, sie hätten „es“ selbst gewollt. Diesem Zustand soll hier vorgebeugt werden, indem vermittelt wird, dass sich das Kind , auf seine Gefühle verlassen und ihnen trauen kann.. „Vertraue deinem Gefühl. Wenn sich etwas seltsam, blöd, komisch oder unangenehm anfühlt, hast du das Recht, so zu fühlen.“212 Damit werden Kinder ermutigt, ihre Gefühle wahrzunehmen und sie nicht umdeuten zu lassen. Dennoch besteht die Gefahr, dass potentielle Opfer aufgrund der schleichenden Sexualisierung einer Missbrauchsbeziehung Unsicherheiten in Bezug auf ihre Gefühle verspüren können. Auch dieser Gefahr wird Rechnung getragen: „Manchmal werden Gefühle, die zuerst schön sind, mit der Zeit komisch oder merkwürdig. Du kannst dich auf 210 Fey, E.: 1991, S. 56 Gies, H.: 1995, S. 69 212 Zartbitter e.V.: 1993, S.16, zit. nach Gies, H.: 1995, S. 70 211 - 65 - deine Gefühle verlassen, auch wenn ein anderer noch so sehr das Gegenteil behauptet.“213 In Addition hierzu sollen Kinder ermutigt werden, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.214 Insgesamt muss gesagt werden, dass Kinder, die ihren Gefühlen trauen und vertrauen, wesentlich schwerer manipulierbar sind und ein eher ,ungeeignetes’ Opfer darstellen. Wichtig ist es, den Kindern nahe zu bringen, dass es völlig berechtigt ist, anders zu fühlen als andere und keine Angst vor ihren Gefühlen zu haben. Damit wird ebenfalls sowohl das Selbstvertrauen als auch das Empathieempfinden gestärkt. 3.2.2.3. Berührungen Eine weitere wichtige Bedeutung innerhalb der Prävention nimmt der Umgang mit Berührungen ein. Häufig beginnt sexueller Missbrauch mit Berührungen, die das Kind zunächst als angenehm empfindet, die sich aber graduell ins Unerträgliche steigern können. Da viele Täter sozial deprivierte Kinder als Opfer wählen, die sowohl emotional als auch körperlich vernachlässigt sind, ist die Gefahr besonders hoch, dass das Defizit an Körperkontakt allgemein ein Kind dazu bringt, sich gegen Berührungen, die es eigentlich als unangenehm empfindet, nicht zu wehren. An dieser Stelle soll ein längeres Zitat von Elisabeth Fey die inhaltliche Konzeption der Prävention verdeutlicht: „Es gibt verschiedene Berührungen. Berührungen sind für jeden Menschen wichtig. Liebevolle, angenehme und zärtliche Berührungen fühlen sich gut an. Wir alle brauchen Umarmungen, wollen gestreichelt und gedrückt werden und sind glücklich, wenn wir dies alles bekommen. Aber nicht alle Berührungen sind angenehm. Einige verwirren uns, wie z.B. zu lange und zu feste Umarmungen. Einige sind einfach komisch, und Du weißt gar nicht genau, warum. Gekitzelt zu werden kann am Anfang lustig sein, aber es wird dann unangenehm, wenn die Person nicht mehr aufhört, obwohl Du es willst.“215 Der hier ersichtliche exemplarische Umgang mit dem Thema der Berührung verdeutlicht, dass die Realität des Missbrauchs durchaus erkannt wird. Häufig beginnen Berührungen mit „Kitzelspielen“, um dann in Grenzverletzungen ausgeweitet zu werden. 213 Ebd., S. 70 Vgl.: Fey, E.: 1991, S. 57 215 Fey, E.: 1991, S. 57 f. 214 - 66 - Es ist bemerkenswert, dass im Text nicht die negativen Berührungen im Vordergrund stehen, sondern dass auch ein positives Bild von Berührungen gezeichnet und somit auf die unterschiedliche Qualität der Berührungen eingegangen wird. Dieser Punkt baut auf dem Vertrauen in die eigenen Gefühle auf, denn Berührungen erzeugen Gefühle, die es zu deuten gilt. In jedem Fall kann das Fazit gezogen werden: „Was für Dich [...] unangenehm ist, ist nicht o.k., ganz einerlei, was der andere denkt oder will.“216 3.2.2.3. Das Recht auf Widerstand und Ungehorsam Bei den Strategien der Täter, vor allem bei denjenigen, die aus dem sozialen Nahraum der Kindes stammen, finden sog. ,Testrituale’ statt, mittels derer ergründet werden soll, wie selbstsicher ein Kind ist und wie weit der Täter gehen kann. Aufbauend auf bereits angesprochenen Inhalte findet das Recht, Widerstand und Ungehorsam zu leisten, seinen Ausdruck in einem klaren ‚NEIN’ von Seiten des Kindes. Häufig verlangen die Täter von ihm Gehorsam, sie nutzen ihre überlegene Stellung als Erwachsene und bauen auf die in der traditionellen Erziehung des Kindes begründete Unterordnung und Anerkennung von Autorität. Genau hier setzt das Recht auf Ungehorsam an und vermittelt Kindern, dass sie das Recht haben, ‚Nein’ zu sagen: „Es ist ganz wichtig für Kinder, ‚NEIN’ sagen zu dürfen und das auch zu lernen. Mädchen und Jungen können sexuellen Missbrauch manchmal unterbinden, indem sie ‚NEIN’ sagen und sich selbstbewusst abgrenzen.“217 Die Realisierung dieses Anspruchs in der alltäglichen Erziehungswirklichkeit stellt für Eltern oder LehrerInnen häufig eine Herausforderung dar.218 Dennoch darf bei allen möglichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung nicht aus den Augen verloren werden, dass es gilt, selbstbewusste Kinder heranzubilden, die Grenzen abstecken und sich durchsetzen können und „erfahren, daß sie keine Angst zu haben brauchen, daß ein ‚Nein’ Ärger, Trennung oder Ablehnung bedeutet“219. Hier kann die am CAPP-Programm geübte Kritik einfließen, die besagt, dass parallel zu diesen Bemühungen auch deutlich werden muss, dass das Kind nicht die Verantwortung für den Missbrauch trägt und es auch und grade dann, wenn das ‚Nein’ übergangen wurde, nicht schuld am Geschehen ist. Ebenso soll aber der Eindruck dringend vermieden werden, dass ein ‚Nein’ zwangsläufig das Ende des Missbrauchs zur Folge haben wird. Insofern ist 216 Gies, H.: 1995, S. 71 Fey, E.: 1991, S. 58 218 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 71 219 Gies, H.: 1995, S. 72 217 - 67 - besonders in diesem Punkt ein hohes Maß an Sensibilität nötig, um keine Erwartungen zu wecken, die einer Konfrontation mit der Realität nicht standhalten können. 3.2.2.4. Gute und Schlechte Geheimnisse Die zentrale Bedeutung im Missbrauchsgeschehen liegt in dem Schweigegebot, welches hauptsächlich durch Drohungen von Seiten der Täter und durch die Scham- und Ohnmachtsgefühle der Opfer manifestiert wird. Nach den ersten Grenzverletzungen erklärt der Täter den Missbrauch zum ,gemeinsamen Geheimnis’ und nutzt das kindliche Verständnis der Geheimnisbewahrung und den negativ besetzten Begriff des ;Petzens’ für seine Zwecke aus. Dieser Themenbereich der Prävention hat zum Ziel, Kindern den Unterschied zwischen sog. ,guten’ und ,schlechten’ Geheimnissen zu verdeutlichen. So sind Geheimnisse, die positive Gefühle auslösen, wie beispielsweise eine Überraschung für jemanden oder ein Geschenk ,gute’ Geheimnisse, die man für sich behalten darf. Sobald jedoch Drohungen und negative Gefühle im Spiel sind, die Geheimnisse also ,Bauchschmerzen’ verursachen, gehören sie zu den ,schlechten’ Geheimnissen, die man weitererzählen darf und soll.220 „Wenn jemand zu Dir sagt: ‚Erzähle niemand davon!’ oder Dir Angst machen will, damit Du niemand davon erzählst, dann möchte ich, daß Du es erzählst. Du musst dem anderen nicht gehorchen, selbst wenn Du es versprochen hast. Das ist auch kein Petzen, denn Du erzählst es ja nicht, weil Du den anderen hereinlegen möchtest, sondern weil Du Dich unwohl fühlst.“221 Diesen Ausführungen liegt der Gedanke zugrunde, Kinder von ihrem eventuell gegebenen Versprechen zu entbinden und ihnen die Offenbarung des Missbrauchs zu ermöglichen. Sie sollen lernen, dass jedes Geheimnis, das auf ihnen lastet, sie also im Wortsinne belastet, kein Geheimnis ist, welches sie zu hüten haben. Wieder wird der Sinn für den eigenen Blickwinkel und die mit dem Geheimnis assoziierten Gefühle geschärft. Zugleich bezieht sich dieser Themenbereich nicht ausschließlich auf Situationen des Missbrauchs, sondern kann auf viele Situationen übertragen werden. Zudem ist der Anspruch klar, Kindern ihre Geheimnisse zu lassen und sie nicht zu zwingen, sich in jedem Fall unmittelbar zu offenbaren. Dennoch wird der kindlichen Entwicklung Rechnung getragen, indem ein schlechtes Geheimnis direkt mit schlechten Gefühlen gekoppelt wird. 220 221 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 72 Fey, E.: 1991, S: 57 - 68 - Fey bringt es auf den Punkt: „Du hast das Recht, so etwas zu erzählen, damit es Dir dann besser geht.“222 3.2.2.5. Das Recht auf Hilfe und Unterstützung Ein Kind, das in der Situation des Missbrauchs den Mut findet, sich einem Erwachsenen oder seinem Umfeld gegenüber zu offenbaren, erfährt häufig negative Reaktionen, zum Teil in Form von Schuldzuweisungen, vor allem aber in Form von Unglauben. Deshalb ist es besonders wichtig, Kinder auf diese Tatsache aufmerksam zu machen und ihnen nicht das Gefühl zu geben, sie brauchten sich nur einem Erwachsenen anzuvertrauen und schon würde der Missbrauch aufhören. Vor diesem Hintergrund stellt beispielsweise Zartbitter e.V. dar: „Wenn du ein Problem hast, wenn dich ein blödes Geheimnis bedrückt oder du nicht mehr weiter weißt, sprich mit jemandem und hol’ dir Hilfe. Es kann sein, daß der Mensch, dem du dich anvertraust, dir nicht glaubt oder sogar böse wird. Gib’ nicht auf und suche dir einen anderen, der dir zuhört und hilft. Du hast ein Recht auf Hilfe und Unterstützung.“223 Die Darstellung, dass ein Kind möglicherweise mehrere Erwachsene um Hilfe bitten muss, bevor ihm geglaubt wird, spiegelt in der Tat die Realität dessen wider, was die Opfer sexuellen Missbrauchs häufig erleben. Von daher ist es von hoher Bedeutung, in der Präventionsarbeit mit Kindern darauf explizit hinzuweisen. Selbstverständlich ist es von mindestens ebenso großer Bedeutung, den Kindern überhaupt das Recht auf Hilfe und Unterstützung nahe zu bringen, also die Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht wahrzunehmen und zugleich deutlich zu machen, dass das Kind nicht allein ist und sich Hilfe holen kann, darf und soll. In diesem Zusammenhang hat auch die Präventionsarbeit mit Erwachsenen, insbesondere den Eltern und den LehrerInnen, ein besonderes Gewicht, wie in den entsprechenden Kapiteln erörtert wird. 222 223 Ebd., 1991, S. 57 Zartbitter e.V.: 1993, zit. nach Gies, H.: 1995, S. 73 - 69 - 3.2.2.6. Erwachsene machen Fehler Dieser Themenkomplex dient dazu, Kindern zu vermitteln, dass auch Erwachsene Fehler machen und durchaus nicht immer korrekt handeln. Hier wird einer Erziehung entgegengewirkt, die Kinder dazu anleitet, grundsätzlich in Erwachsenen Autoritätspersonen zu sehen, welche stets richtig handeln und deren Anweisungen unbedingt Folge zu leisten ist – denn autoritätsgläubige Kinder sind willfährige Opfer. Zudem wird deutlich, dass auch Erwachsene gewissen Geboten und Regelungen unterliegen und eben nicht ,alles dürfen’. „Sie machen Dinge, die Dir wehtun, und das dürfen sie nicht. Sie haben nicht das Recht dazu.“ 224 Zusätzlich bietet es sich hier an, abermals darzustellen, dass sich Kinder gegen ,Fehler’ der Erwachsenen zur Wehr setzen dürfen, dass sie sich und ihre Gefühle ernst nehmen und dass sie sich jederzeit Hilfe und Unterstützung holen können, auch wenn es sein kann, dass Erwachsene den ,Fehler’ begehen, nicht auf die Kinder zu hören und sie nicht ernst zu nehmen. 3.2.2.7. Kein Erwachsener hat das Recht, Kindern Angst zu machen Neben den Rechten, die Kindern zugestanden werden, muss zugleich thematisiert werden, dass die Rechte der Erwachsenen nicht unbeschränkt sind. Dieser Themenbereich schließt sich unmittelbar an den vorhergehenden an und ist als Ergänzung zu sehen. Hier werden die Methoden angesprochen, die ein Täter häufig verwendet, um ein Kind unter Druck zu setzen, es zum Missbrauchsobjekt zu machen und es anschließend zum Schweigen darüber zu bringen. Es gibt viele, sehr unterschiedliche Formen, mittels derer Täter die Angst der Opfer schüren, um ihr Schweigen zu sichern. Da darauf nicht einzeln eingegangen werden kann, orientiert sich dieser Themenbereich daran, dass Erwachsene nicht das Recht haben, Kindern Angst zu machen. Im Gegenteil werden Kinder ermutigt, sich Hilfe zu holen, wenn ihnen gedroht wird: „Gerade wenn jemand zu Dir sagt, daß etwas Schreckliches passiert, falls Du einem anderen Menschen von den unangenehmen Berührungen oder Gefühlen erzählst, darfst Du andere um Hilfe bitten.“225 Die Vermittlung dieses Wissens ist für die Kinder von hoher Bedeutung und kann zu dem Ziel, sie zu selbstsicheren und selbstbewussten Menschen zu erziehen, einen Beitrag leisten, indem ihnen eingeprägt wird, dass auch Erwachsene an Regeln gebunden sind. 224 225 Fey, E.: 1991, S. 54 Fey, E.: 1991, S. 17 - 70 - 3.2.2.8. Wer helfen kann Dieser Punkt behandelt abschließend noch einmal die Thematik des ,Sich-Hilfe-holens’, da ein Kind „ohne Hilfe sexuelle Gewalt kaum abwehren oder aufdecken“ 226 kann. Von daher ist auch diesem Aspekt eine hohe Bedeutung beizumessen. Gemeinsam wird überlegt, an wen sich Kinder bei ihrer Suche nach Hilfe wenden können. Die Ergebnisse sind je nach Region unterschiedlich, sollten aber die Eltern (sofern möglich) und/oder die LehrerInnen einbeziehen. 3.2.3. Strittige Inhalte Die oben beschriebenen Inhalte der Prävention mit Kindern bilden die Grundlage, auf der potentielle Opfer durch „empowerment“ gestärkt werden sollen. In beinahe allen Präventionsprogrammen sind sie als zentrale Themen vorhanden, zwar mit unterschiedlicher Gewichtung und Intensität, doch besteht im Wesentlichen Konsens darüber. Anders verhält es sich mit der Thematisierung von ,Sexualität’ und ,sexuellem Missbrauch’, die, direkt angesprochen, eher nicht dazu geeignet scheint, sie mit Kindern zu erörtern. Da sie in Programmen und Präventionskonzepten in recht unterschiedlicher Weise abgehandelt wird, soll sie im Folgenden beleuchtet werden. 3.2.3.1. Aufklärung über Sexualität und sexuellen Missbrauch Bei der Betrachtung dieses Thematik stellt Bange fest: „Die wenigsten Präventionsprogramme sprechen Fragen der Sexualität offen an. Auch wird den Kindern selten eine klare Definition sexuellen Missbrauchs vermittelt.“ 227 Selbstverständlich spielt hier das Alter der Zielgruppe, für die das jeweilige Programm konzipiert wurde, eine große Rolle. Da eine frühe Prävention am wirkungsvollsten ist, sind hier hauptsächlich Kinder im Grundschulalter angesprochen. Der genannte Themenbereich wird häufig nur am Rande gestreift und nicht in der Form behandelt, die nötig wäre, um aufklärende Arbeit zu leisten. Begründet wird dieser Mangel damit, dass die Kinder „nicht mit dem Gefühl aufwachsen sollen, Gewalt und Sexualität seien eins“228. Zudem wird häufig angeführt, jüngere Kinder hätten ein nur unzureichendes Verständnis von Sexualität. 226 Gies, H.: 1995, S. 73 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 448 228 Loc. cit. 227 - 71 - Bei derartiger Sichtweise der Sexualität sowie fehlender klarer Definition sexuellen Missbrauchs können die bereits angesprochenen ,Double-bind-Situationen’ entstehen, da die Kinder durch widersprüchliche Botschaften verwirrt werden“229. Hier ist wieder jene Ausblendung konkreter Informationen zu beobachten, die an das traditionelle Präventionsverständnis erinnert. Grundsätzlich gilt jedoch, dass es den Kindern um so leichter fällt, Missbrauchsituationen zu erkennen, je mehr sie über die Thematik wissen. Das Argument, es bestehe die Gefahr, dass Sexualität und Gewalt in der frühkindlichen Vorstellung miteinander verknüpft würden und so ein negatives Bild der Sexualität entstehe, kann gleichfalls entkräftet werden, sobald Prävention in eine umfassende Sexualerziehung eingebettet wird. 230 Die ,Bausteine’, die als Ergänzung der Präventionsarbeit oder sogar als ihre Voraussetzung zu sehen sind, werden nachfolgend näher betrachtet, da die präventiven Aspekte nicht nur punktuell angesetzt werden können. Wie Bange schreibt, ist ein solcher Rahmen notwendig, „weil Kinder ihr Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und ihre Sexualität nur ausüben können, wenn sie ihren Körper kennen und ein positives Gefühl zu ihm entwickelt haben. Erst eine bejahende und lustvolle Einstellung zur Sexualität ermöglicht es, ‚Nein’ zu sagen, wenn die Grenzen überschritten werden.“231 Grundsätzlich ist zu dieser strittigen Thematik zu sagen, dass erst durch sie eine wirkungsvolle Prävention ermöglicht wird. Dennoch ist die Akzeptanz bei Erwachsenen und Lehrkräften höher, wenn nicht explizit auf sexuelle Inhalte eingegangen wird, 232 was häufig dazu animiert, auf diese Inhalte lieber ganz zu verzichten Damit wird eine beträchtlich ineffektivere Prävention in Kauf genommen, die aber wohl kaum im Sinne des angestrebten Zieles sein dürfte. 3.2.4. Präventionsmaterialien Nachdem die Inhalte der Prävention thematisiert worden sind, sollen nun die Materialien kurz dargestellt werden. Vorauszuschicken ist, dass es eine Fülle an Materialien gibt, die sich mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in sehr unterschiedlichen Formen beschäftigt. Welche Materialien zum Einsatz kommen, hängt von Faktoren wie der Zielgruppe, dem jeweiligen Programm oder der durchführenden Institution ab. 229 Gies, H.: 1995, S. 68 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 448 231 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 448 232 Vgl.: Lohaus, A./ Schorsch, S.: 1997, S. 668 f. 230 - 72 - Nach Marquardt-Mau liegen in der Bundesrepublik „Präventionsmaterialien für unterschiedliche Adressatengruppen vor: Handbücher, Unterrichtsvorschläge, Unterrichtseinheiten für Lehrkräfte und Dokumentationen über Unterrichtsversuche“ 233. Seligmann führt weiterhin aus, dass geeignete Materialien in der Prävention nicht die Angst, sondern vielmehr das Selbstbewusstsein der Kinder schüren.234 Die Geschichten, Bücher, Bilderbücher, Theaterstücke, Spiele und Lieder, die in denen Prävention verwendet werden kann, dienen dazu, „mit Spiel und Spaß, Lust und Laune Erfahrungen [zu, H.B.] machen, das ist kindgerecht und wirkungsvoll“235. Weiterhin führt Seligmann als positiv an, dass sexuelle Gewalt so angesprochen werden könne, ohne direkt gewaltsame Übergriffe benennen zu müssen.236 Wie oben erwähnt, ist dieser Punkt besonders kritisch zu betrachten, da es hier zu einer verzerrten Darstellung der Missbrauchsrealität kommen kann. Insgesamt sind bei der Auswahl des Materials folgende Aspekte besonders zu berücksichtigen: - Text und Bilder sollen nicht verängstigen, sondern durch Vorbildfunktion der handelnden Charaktere die Kinder in ihrem Selbstbewusstsein stärken. - Darstellungen von geschlechtsstereotypischen Rollen, bei denen beispielsweise Mädchen als sehr passiv gelten, sollten vermieden werden. - Generell sollten die Inhalte der Materialien den Inhalten der Prävention entsprechen. - Gängige Vorurteile, wonach Kindern eine Mitschuld zugesprochen wird, sind auf jeden Fall zu vermeiden. - Materialien, welche zur Vermeidung von Situationen raten, entsprechen nicht mehr den Anforderungen einer modernen Prävention. - Es sind in jedem Falle altersangemessene Materialien zu wählen.237 Insgesamt muss gesagt werden, dass zwar ein großes Angebot an Unterlagen zur Verfügung steht, jedoch nicht immer eine Evaluation dieser Materialien stattgefunden hat und sich so Eltern, Lehrkräfte und Kinder in falscher Sicherheit wiegen könnten. 233 Marquardt-Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 440 Vgl.: Seligmann, S.: 1996, S. 68 235 Braun, G.: zit. nach Seligmann, S.: 1996, S. 68 236 Loc. cit. 237 Vgl.: Seligmann, S.: 1996, S. 69 234 - 73 - 3.2.5. Wirkung der Prävention mit Kindern Wie ausgeführt, ist die Zielsetzung der Prävention unter anderem, das Auftreten neuer Missbrauchsfälle zu reduzieren. Dieser Bereich ist besonders schwer zu evaluieren, 238 da eine Überprüfung des Erlernten zwar möglich ist, doch nach wie vor unklar bleibt, ob Kinder tatsächlich in der Lage sind, die vermittelten Strategien und ihr Wissen in einer Missbrauchssituation effektiv anzubringen. Zudem muss bei der Entwicklung neuer Projekte, Programme und Materialien eine Evaluation stattfinden, um die Tauglichkeit solcher Maßnahmen festzustellen. Besonders in den USA liegen aufgrund der wesentlich längeren Präventionstradition diverse Studien vor, die sich mit der Wirksamkeit der Präventionsprogramme befassen. In der BRD hingegen, „klafft hier eine große Forschungslücke. Es liegen bisher nur wenige Evaluationsstudien vor (Eck & Lohaus 1993; Knappe & Selg 1993; Leppich 2000)“239. Da eine Evaluation präventiver Bemühungen zentral ist, um Helfern, Kindern, Eltern und Pädagogen keine falschen und unrealistischen Hoffnungen zu machen, sollen an dieser Stelle auch die US-amerikanischen Studien zur Verdeutlichung der sich bisher abzeichnenden Ergebnisse herangezogen werden. Basis der Ausführungen bildet die zusammenfassende Übersicht von Amann und Wipplinger.240 Bevor die Leitfragen und die ermittelten Ergebnisse dargestellt werden, muss eine knappe Methodenkritik vorausgeschickt werden, um die auftretenden Schwierigkeiten zu beleuchten. 3.2.5.1. Methodenkritik Wie bereits angeführt, ist der Bereich der Prävention nicht einfach zu evaluieren. Die Messungen können sich natürlich nicht an einer konkreten Missbrauchssituation orientieren. Von daher liegt die Konzentration „vielmehr auf indirekten Messungen“ der Effektivität „und ist an der Frage orientiert, ob durch Präventionsprogramme Faktoren beeinflusst werden, von welchen man glaubt, daß sie die Fähigkeit der Kinder beeinflussen, sich vor einem sexuellen Mißbrauch schützen zu können“ 241. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten liegen also bereits darin, keine direkten Messungen durchführen zu können. 238 Vgl.: Amann & Wipplinger, S. 663 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 449 240 Amann, G./ Wipplinger, R.: 1997, S. 663. ff. 241 Ebd., 1997, S. 663 239 - 74 - Hinzu kommt, dass laut Bange nur ein geringer Teil der Studien in ihren Ergebnissen tatsächlich aussagekräftig ist. Auch hier, wie bereits bei dem Problem der Erfassung des Ausmaßes des Missbrauchs, sind die verwendeten Stichproben zum Teil zu gering, um Ergebnisse generalisieren zu können. In Addition hierzu kommt es vor, dass entweder keine Kontrollgruppe vorliegt oder die Ergebnisse nicht altersspezifisch differenziert werden.242 Hauptproblem bleibt jedoch, konkrete Messinstrumente zu entwickeln, die dem Evaluationsvorhaben angemessen sind. Bisher wurden in erster Linie Fragen gestellt, wie beispielsweise: „Würdest du es einem Erwachsenen erzählen, wenn dich einer an den Genitalen anfasst?“, um daran zu überprüfen, ob Kinder den Inhalt der Programme verstanden und behalten haben. Kritisch daran ist, dass damit keinesfalls gewährleistet wird, dass ein Kind das erworbene Wissen in einer konkreten Missbrauchssituation auch in Handeln umzusetzen weiß. Zudem, so führt Bange aus, seien die Fragen und Situationsbeschreibungen zum Teil bereits beim Vortest so ‚kinderleicht’, dass fast alle Kinder sie bestünden und also ein möglicher Effekt des Programms nicht mehr zu messen se.243. Als weitere Schwierigkeit ist festzustellen, dass sich die Programme in diverser Hinsicht unterscheiden, beispielsweise in Länge, Wahl der Begrifflichkeiten, dem Ort der Durchführung, der durchführenden Person, den verwendeten Materialien und den Methoden oder auch darin, ob die Eltern mit einbezogen werden oder nicht. All diese Umstände machen eine Evaluation, vor allem die Vergleichbarkeit der ermittelten Ergebnisse, äußerst schwierig. Dennoch ist die Evaluation der präventiven Bemühungen von zentraler Bedeutung und darf nicht an äußeren Bedingungen scheitern. 3.2.5.2. Ergebnisse der Evaluation Amann und Wipplinger stellen eine Zusammenfassung diverser Studien, sowohl USamerikanischer wie auch deutscher, anhand von vier Leitfragen dar, die im folgenden die Basis dieser Ausführungen bilden: - Nimmt das Wissen über den Missbrauch zu? - Nehmen die Fähigkeiten zu, angemessen in Missbrauchssituationen reagieren zu können? - Können Kinder dieses Wissen bzw. ihre Fähigkeiten in realen, alltäglichen Situationen adäquat einsetzen? 242 243 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 449 Vgl.: Bande, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 449 - 75 - - Nimmt die Rate zu, in der Kinder Erlebnisse eines sexuellen Missbrauchs aufdecken? Neben diesen Fragen sollen auch eventuelle unerwünschte negative Effekte Berücksichtigung finden. Die reine Wissensvermittlung durch den Einsatz von Präventionsprogrammen wird in zahlreichen Studien empirisch belegt, sei es im sog. Prä-post-Vergleich244 oder im Vergleich mit einer unbehandelten Kontrollgruppe245. Die Untersuchung von Leppich (2000) an einer relativ kleinen Stichprobe stellt einen Wissenszuwachs in sechs der acht Themenfeldern fest. Bemerkenswert hierbei ist, dass besonders ältere Kinder ein größeres Wissen zeigen als jüngere. Doch obwohl deutliche Lerneffekt verzeichnet werden, sind manche Programminhalte von Kindern leichter zu replizieren als andere. Leppichs Untersuchung zufolge betreffen die Inhalte, die Kindern besondere Schwierigkeiten bereiten, das Recht auf Hilfe und das Recht, ‚Nein’ zu sagen. Eck und Lohaus stellten den Bereich der Berührungen als problematisch dar. Diese Befunde decken sich weitgehend mit denen US-amerikanischer Forscher. Besonders jüngere Kinder hatten mit dem Konzept der Berührungen große Schwierigkeiten. Allerdings wird dargestellt, dass Kinder aller Altersstufen den geringsten Lernerfolg im Bezug auf Missbrauch durch Erwachsene, die sie gut kennen, hatten. Ebenso hält Bange fest, dass nicht alle Kinder gleichermaßen von den Programmen profitieren und bei einigen Untersuchungen sogar weniger als die Hälfte der Kinder einen Wissenszuwachs zu verzeichnen hatte. Während der Wissenszuwachs direkt nach dem Training deutlich messbar war, verblasste er in Follow-up-Messungen246 langsam. Besonders betroffen waren jene Themenbereiche, „die ihren Einstellungen und Erwartungen am stärksten Widersprachen“247. Finkelhor und Dziuba-Leatherman fassen zusammen: „Mit der Zeit tritt ein gewisser ‚Schwund’ ein.“248 Insgesamt legen diese Befunde die Frage nahe, ob das Wissen bei späteren Follow-upMessungen noch einen befriedigenden Stand erreichen würde. Von daher fordern Amann und Wipplinger die Abhaltung von sog. Booster-Sitzungen, bei denen „die Inhalte des Trainings zu einem späteren Zeitpunkt erneut vertieft werden und so einen dauerhaften 244 Vgl.: Kraizer, Witte, Fryer 1989 Vgl.: Tutty, 1992 246 Nach 2 bzw. 8 Monaten 247 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 664 248 Finkelhor, D./ Dziuba-Leatherman, J.: In: Marquardt-Mau, B.: 1995, S. 88 245 - 76 - Erfolg garantieren“ 249. Belege hierfür finden sich in der Studie von Hazzard et al. aus dem Jahre 1991, wo die Kinder nach einer Booster-Sitzung bei einer Follow-up-Messung auch nach einem Jahr keinerlei Wissenseinbußen, sondern sogar leichte Wissensverbesserungen aufweisen konnten. Festzustellen ist nun, dass der Wissensstand verbessert worden ist, wenn es auch einige Problemfelder gibt, die Kindern schwerer zu vermitteln sind. Das Wissen geht mit der Zeit jedoch wieder verloren, wenn es nicht in regelmäßigen Abständen aufgefrischt wird. Die Prävention darf nicht bei der reinen Wissensvermittlung stehen bleiben, obwohl adäquates Wissen über die Verhinderung von Missbrauch als zentrale Grundvoraussetzung anzusehen ist. Doch neben dem reinen Wissen muss das Kind in der Lage sein, dieses Wissen in entsprechende Handlungen und Verhalten umzusetzen. Amann und Wipplinger verwenden hierfür den Begriff „Skills“250. Das Erarbeiten adäquater Verhaltensweisen nimmt daher in vielen Programmen eine besondere Bedeutung ein, wobei die Methoden hier sehr differieren. Die Ergebnisse der Evaluationsbemühungen in diesem Bereich können als Indikatoren für die Verwendung der Methoden im Zusammenhang mit dem gemessenen Erfolg gelten. So sind jene Projekte am effektivsten, die handlungsorientiert sind und die Kinder zur aktiven Teilnahme auffordern. Diejenigen Programme, die auf Rollenspielen basieren oder diese integriert haben, sind solchen Projekten überlegen, in denen den Kindern das richtige Verhalten lediglich vorgespielt wird. 251 Auch Amann und Wipplinger bestätigen diese Auffassung und stellen dar, dass Modelllernen und Rollenspiele effektiver sind als jene Programme, „die sich auf Einzellernen, wie dem Lesen von Büchern, oder passives Lernen wie Theateraufführungen und Filme mit anschließender Diskussion, stützen“252. Die Evaluation dieser Handlungsstrategien erfolgt häufig, indem Kinder befragt werden, wie sie in einer Missbrauchssituation reagieren würden, wobei hauptsächlich verbale Daten erhoben werden. Daneben gibt es auch Versuche, das konkrete Verhalten zu messen, wie beispielsweise die Forschungsgruppe um Fryer und Kraizer. Nach Beendigung eines acht Einheiten à 20 Minuten umfassenden Projekts wurde eine Situation simuliert, in der ein unbekannter Mann „das jeweilige Kind im Treppenhaus der Schule bat, mit ihm zum Auto zu kommen, da er Puppen für ein in der Schule stattfindendes Puppenspiel holen müsse. Wenn das Kind zustimmte, sagte der Fremde, er 249 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 665 Ebd., S. 665 251 Bange, D.: HB, S. 450 252 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 666 250 - 77 - würde später auf das Angebot des Kindes zurückkommen“253. Somit sollte verhindert werden, dass die Kinder Angst bekämen. Dennoch gibt es Zweifel daran, ob solche Studien ethisch vertretbar sind254. Festzustellen ist jedoch, dass sich 78 % der Kinder der Experimentalgruppe im Gegensatz zu 52 % der Kinder der Kontrollgruppe weigerten, dem Fremden zu folgen. Nach einem halben Jahr wurde auch die Kontrollgruppe mit Hilfe des Programms geschult und die Situation erneut simuliert. Dieses Mal lehnten es alle Kinder der vormaligen Kontrollgruppe ab, mitzugehen, ebenso leisteten die Kinder der ersten Experimentalgruppe, mit zwei Ausnahmen, der Aufforderung nicht Folge. Es wurde festgestellt, dass die Kinder „mit einem hohen Selbstwertgefühl erfolgreicher waren als jene mit einem niedrigen und dass alle Kinder durch das Programm selbstbewusster wurden“ 255. Zudem stuft es Bange als bedenklich ein, dass zwei Kinder auch nach zweimaliger Teilnehme an dem Programm noch immer der Aufforderung des Fremden gefolgt wären. Insgesamt muss hier gesagt werden, dass es besonders schwer ist, konkretes Verhalten zu überprüfen. Wie der Versuch von Fryer und Kraizer zeigt, ist ein gewisser Erfolg in Bezug auf die erlernten Handlungsstrategien zu verzeichnen, jedoch ist nicht zu belegen, ob derselbe Effekt zu erzielen gewesen wäre, wenn es sich um den Kindern bekannte Personen gehandelt hätte. Zudem stehen ethische Bedenken solchen ,gestellten’Überprüfungen entgegen. Die Frage nach der Umsetzung im Alltag korrespondiert mit dem eben beschriebenen Versuch von Fryer und Kraizer. Doch ist festzuhalten, dass ein Großteil der Studien nicht überprüft, ob Kinder das in den Programmen Gelernte auch tatsächlich in ihrem alltäglichen Leben umsetzen.256 Hier ist ein Defizit festzustellen, das hauptsächlich seine Wurzeln in der äußerst schweren Überprüfbarkeit der Anwendung hat. Dennoch ist es von hoher Bedeutung, diesem Bereich der Evaluation besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wie die Ergebnisse von Downer zeigen. In seiner Studie „konnten 94 % der Kinder zwar sagen, was selbstsicheres Verhalten wäre, aber nur 47 % konnten auf eine Mißbrauchssituation adäquat reagieren“257. Die Erfolge der Sekundärprävention, wonach die Präventionsprogramme eine aufklärende Wirkung haben sollen, konnte ebenfalls in Studien bestätigt werden. Anhand der Studien von Kolko et al. (1987, 1989) und Hazzard et al. (1991) stellen Anmann und Wipplinger 253 Bange, D.: HB, S. 451 Vgl.: Koch, H./ Kruck, M.: 2000, S. 49 255 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 451 256 Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 665 254 - 78 - dar, dass Kinder, die an einem Präventionsprogramm teilgenommen haben, im Anschluss häufiger über einen sexuellen Missbrauch berichten. Einer Studie von Beland (1986) zufolge konnte sogar eine Verdopplung der Aufdeckungen sexuellen Missbrauchs an denjenigen Schulen festgestellt werden, in denen Präventionsprogramme durchgeführt wurden.258 Somit kann den Präventionsprogrammen eindeutig eine aufdeckende Wirkung zugesprochen werden, obwohl „dieser wichtige Effekt [...] in der Literatur häufig nur am Rande erwähnt“259 wird. Zudem ist festzustellen, dass Kinder nach Abschluss des Trainings häufiger mit ihren Eltern über das Thema sprechen. Einen weiteren beachtenswerten Punkt bei der Evaluation bilden die bereits kurz angesprochenen altersspezifischen Unterschiede in der Effektivität des Trainings. Nach Amann und Wipplinger wird dargestellt, dass bei dreijährigen Kindern bereits eine Woche nach Durchführung des Programms nichts mehr von den vermittelten Inhalten festgestellt werden konnte. Auch bei den 4-5jährigen „waren es mehr als 55 %, die keine der vermittelten Skills reproduzieren konnten“260. Jüngere Kinder scheinen besonders mit komplexer und abstrakter Thematik, wie beispielsweise der Konzeption der ,Berührungen’, Schwierigkeiten zu haben. 3.2.5.3. Negative Effekte der Prävention In unterschiedlichen Studien wurden die weiter oben angeführten befürchteten negativen Effekte, wie beispielsweise das Auslösen von Ängsten, beleuchtet. Die meisten der Studien erbrachten keinerlei Hinweise auf negative Effekte, eher im Gegenteil weisen manche auf „eine Verminderung von Ängsten oder eine Abnahme von Verhaltensproblemen hin“ 261. Lediglich in vereinzelten Studien lassen sich negative Reaktionen auf Programme finden262, jedoch werden diese Befunde von Haugaard und Reppucci dahingehend als positiv gewertet, dass ein längerandauernder Effekt dann eintritt, wenn eine emotionale Berührung hervorgerufen wird. Zudem gibt der überwiegende Teil der Kinder an, dass sie die Präventionsprogramme als hilfreich empfunden und Spaß daran gehabt hätten263.Bange stellt zusammenfassend fest: 257 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 665 Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 666 259 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 451 260 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 667 261 Ebd., 1997, S. 666 262 Beispielsweise 5% in der Studie von Swan et al. (1985). 263 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 450 258 - 79 - „Die Prävention wirkt sich offenbar nicht negativ auf die Einstellung der Kinder zur Sexualität aus. Im Gegenteil zeigen mehrere Studien, dass die Kinder im Anschluss an ein Projekt Berührungen positiver werten, ihren Körper besser kennen und offener mit Sexualität umgehen.“264 Somit können die Bedenken gegenüber einer negativen Auswirkung der Prävention nach derzeitigem Forschungsstand weitgehend ausgeräumt werden, doch muss nochmals auf die Wichtigkeit der Einbettung in eine allgemeine Sexualkunde hingewiesen werden, um mögliche negative Effekte so weit wie möglich ausschließen zu können. Zusammenfassend ist zu sagen, dass es bisher durch keine Studie nachgewiesen werden konnte, dass „Programme zur Prävention von sexuellem Mißbrauch tatsächlich die Häufigkeit von sexuellem Mißbrauch reduziert haben“265. Dennoch weisen die Ergebnisse der Evaluation darauf hin, dass die Programme durch eine Verbesserung des Wissens und die Vermittlung von Handlungsstrategien und Fertigkeiten geeignet sind, Kinder darin zu unterstützen, sich vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Allerdings bieten sie, wie angesprochen, keine Garantie. Darüber hinaus bleibt unklar, ob es Kindern gelingt, die erlernten Fähigkeiten in alltägliche Situationen umzusetzen, ebenso wie es unklar bleibt, „ob die in den Programmen enthaltenen Bausteine zur Prävention von sexuellen Mißbrauch notwendig oder hinreichend sind, auch wenn es aufgrund von theoretischen Überlegungen so scheint“266. Was die Sekundärprävention anbelangt, bietet sich ein deutlicheres Bild: Präventionsprogramme sind durchaus dazu geeignet, Kinder zu befähigen und ermutigen, über einen Missbrauch zu sprechen und diesen sogar ggf. aufzudecken. Bereits damit erfüllen sie eine Funktion von enormer Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf die teilweise jahrelang andauernden Missbrauchssituationen. 3.2.6. Kritik an der bisherigen Präventionsarbeit mit Kindern Anhand der aufgezeigten Inhalte, den Methoden und Materialien, vor allem aber aufgrund der Ergebnisse sind zahlreiche Bedenken gegenüber der Prävention mit Kindern bzw. den Präventionsprogrammen laut geworden.267 Im Folgenden soll diese Kritik, die teilweise an 264 Loc. cit. Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 668 266 Loc. cit. 267 Vgl.: Koch und Kruck 2000, Amann und Wipplinger 1997, Lohaus und Schorsch 1997, WehnertFranke, Richter-Appelt, Gaenslen-Jordan 1992. 265 - 80 - anderer Stelle bereits angeklungen ist, dargestellt und in einer abschießenden Schlussbetrachtung zusammengefasst werden. Amann und Wipplinger führen als grundlegende Kritik an den Präventionsprogrammen aus, dass „sie beim schwächsten Glied in der Kette des sexuellen Mißbrauchs - bei den Opfern – ansetzen und damit eigentlich diesen Opfern die Verantwortung für die Beendigung des sexuellen Mißbrauchs aufbürden“268. Kinder, die trotz der erlernten Präventionsregeln den Missbrauch weder beenden noch aufdecken können, laufen leicht Gefahr, sich noch schuldiger zu fühlen und werden so noch weiter in die Isolation getrieben. Doch bietet diese Gruppe den Vorteil der leichten Verfügbarkeit und kann leichter „zu pädagogisieren“ 269 sein. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich vor allem auf die Durchführung der Programme, mit der meist externe Personen betraut sind. Diese entstammen meist nicht dem direkten Umfeld bzw. dem persönlichen Bereich der Kinder und haben daher keinen Einblick in den allgemeinen Erzeigungsstil, dem die Kinder üblicherweise ausgesetzt sind. Hierbei ist besonders problematisch, dass die vermittelten Handlungsweisen nicht denen des Elternhauses oder der ErzieherInnen bzw. LehrerInnen entsprechen oder ihnen gar entgegenstehen können. Entsprechend kann ein verändertes Verhalten des Kindes von seiner Umwelt negativ bewertet werden, was sich zum Teil durch mangelndes Verständnis und Unterstützung ausdrückt, ganz im Gegensatz zu dem im Programm gelernten. Dies kann die Hilflosigkeit der Kinder weiter verstärken. Eine von Amann und Wipplinger zitierten Studie von Briggs (1991) zufolge erleben Kinder sehr häufig, dass sie selbst dann keine Unterstützung erfahren, wenn sie Eltern oder LehrerInnen von „beunruhigenden Geheimnissen“270 berichten. Vielmehr machen Kinder die Erfahrung, dass Erwachsene ihren Widerstand amüsant finden. Diesen Ergebnissen zufolge ist es kontraproduktiv, Kindern zu vermitteln, dass sie sich Hilfe holen und sich gegen unangenehme Berührungen zur Wehr setzen dürfen, wenn nicht auch Eltern und LehrerInnen lernen, Kinder mit ihren Problemen ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören und ihre Rechte wahrzunehmen. Wie bereits angesprochen, besteht ein wesentlicher Kritikpunkt darin, dass die meisten Programme einen Bezug auf Sexualität möglichst zu vermeiden suchen. Zum einen wird dadurch zwar die Akzeptanz der Programme bei LeherInnen und Eltern erhöht und der Eingang in die Unterrichtscurricula erleichtert, zum anderen wird aber die Atmosphäre der Heimlichkeit und des Unaussprechlichen verstärkt, was eine Aufdeckung des Missbrauchs 268 269 270 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 668 Loc. cit. Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 669 - 81 - erschwert. So entsteht die bereits erwähnte Double-bind-Situation, bei denen das Kind einerseits ermutigt wird, über einen eventuellen Missbrauch zu sprechen, aber andererseits wird impliziert, Sexualität sei etwas, worüber man nicht spreche. Sehr häufig werden vor diesem Hintergrund weder Geschlechtsteile noch sexuelle Handlungen klar benannt, sondern im Sinne „Der Bereich, der durch die Badehose bedeckt wird“, umschrieben. An die Stelle klarer Worte treten abstrakte Konzepte, wie das der guten und der schlechten Berührungen. Dadurch werden Kinder jedoch eher verwirrt und „können nicht begreifen, um was es dabei geht – was die Ängste verstärkt“271. Da den Kindern somit kein geeignetes Vokabular zu Thema Sexualität an die Hand gegeben wird, ist es für sie schwieriger, über sexuellen Missbrauch zu sprechen, was in Anbetracht der grundsätzlichen seelischen Überwindung ein zusätzliches Problem darstellt. Kinder sind hingegen eher in der Lage, einen sexuellen Missbrauch aufzudecken, wenn sie über ein adäquates Vokabular verfügen, was demzufolge ein zentrales Anliegen der Präventionsprogramme sein sollte. Stattdessen wird implizit ein „diffuses, geheimnisvolles und überwiegend negatives Bild von Sexualität gezeichnet“272. So scheinen die Programme eher den Bedürfnissen der Erwachsenen als denen der Kinder zu entsprechen und verurteilen Programme, die Kinder als asexuelle Wesen begreifen, zum scheitern. Auch die in den Programmen dargestellten Situationen sind nicht als repräsentativ für das tatsächliche Missbrauchsgeschehen anzusehen, da sie wesentliche Aspekte ausblenden. Hier ist wieder auf die Definition von sexuellem Missbrauch zu verweisen, die auch Handlungen ohne Körperkontakt mit einschließen. So werden in beinahe allen Programmen „sexuelle Nicht-Körperhandlungen, wie Exhibitionismus, das Betrachten des nackten Körpers des Kindes oder das Anfertigen von pornographischem Material“ 273 nicht beachtet. Eng mit dieser Problematik zusammenhängend ist die Frage, inwieweit die subtilen Strategien der Täter und ihr tatsächliches Vorgehen explizit thematisiert werden. So bauen die Täter eine Beziehung zum Kind häufig sehr langsam und mit Bedacht auf, nutzen die emotionalen Bedürfnisse der Opfer aus und versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dementsprechend sind die Gefühle des Opfers nicht selten ambivalent und die Beziehung wird häufig als positiv beschrieben. Die sexuellen Annährungen finden schleichend statt, so dass die Kinder diesen erst sehr spät wahrnehmen und dann bereits soweit darin verstrickt sind, dass die Anwendung der erlernten Strategien fraglich erscheint. Dabei ist die Konzentration besonders der älteren Programme auf den Fremdtäter hinderlich, jedoch noch immer Hauptgegenstand vieler Präventionsprogramme. 271 272 273 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 669 Loc. cit. Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 670 - 82 - Den Kindern werden in den meisten Programmen Strategien vermittelt, wie sie sich gegen einen möglichen Missbrauch zur Wehr setzen können. Doch bleibt fraglich, ob sie diese Strategien im Falle eines tatsächlichen Übergriffs erfolgreich einsetzen können, sprich ob sie sich überhaupt erfolgreich wehren können. „Kinder werden der Autorität und der körperlichen, kognitiven und materiellen Übermacht der Erwachsenen immer unterlegen sein.“274 Zudem muss bezweifelt werden, dass Kinder in der Lage sind, die häufig emotional sehr berührenden Missbrauchssituationen, insbesondere wenn der Täter aus dem persönlichen Nahbereich des Opfers stammt, mit Hilfe der erlernten Strategien zu beenden. Denn der „empowerment“-Ansatz negiert zumeist, dass der Missbrauch meist vor dem Hintergrund des Vertrauens, der Nähe und der Abhängigkeit geschieht, was es dem Kind besonders schwer macht, sich dem Missbrauch zu widersetzen. Insgesamt werden die Nöte der Kinder, ihre Schuldgefühle, Verleugnungen und ihre Sprachlosigkeit in den vorliegenden Programmen zu wenig thematisiert. Ein weiterer Kritikpunkt von großer Bedeutung ist die kaum vorhandene entwicklungspsychologische und lerntheoretische Konzeption der Programme. Tharinger et al. (1998) bemerken in ihren Studien, dass lediglich 2 % der Programme diese Aspekte in ihren Konzeptionen berücksichtigen, was sich heute wenig geändert hat. Dementsprechend weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die Programme bei jüngeren Kindern einen eher geringen Effekt haben. Nach Piaget sind Kinder im Alter von 2 - 6 Jahren nicht in der Lage, unklare abstrakte Konzepte wie Geheimnisse, Kinderrechte oder Intuition zu verstehen Ebenso ist es ihnen unmöglich, mehrdimensionale Konzepte, wie beispielsweise das der Berührungen, zu erfassen. Damit ist fraglich, ob Programme in ihrer jetzigen Form geeignet sind, auch kleinen Kindern zu nutzen. Dennoch propagieren einige Autoren diese Durchführung bei jüngeren Kindern, wobei sie auf einen sog. „Sleeper“-Effekt hoffen, der die Kinder befähigt, trotz fehlenden Verständnisses die Inhalte zu verarbeiten und die Effektivität eines späteren Trainings zu erhöhen.275 Auch die Erwartung der Programme, Kinder könnten angeben, wie sie in bestimmten Situationen handeln würden, ist unrealistisch, da Kinder unter sechs Jahren noch nicht das Denken auf dieser Metaebene erlernt haben. An diesen Ausführungen wird deutlich, wie zentral die möglichst genaue Abstimmung der Programme auf die Zielgruppe ist. 274 275 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 670 f. Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 671 - 83 - Neben der kognitiven Entwicklung ist auch der moralische Entwicklungsstand von großer Bedeutung, wie Amann und Wipplinger ausführen: „Da es nach der Entwicklungstheorie von Piaget (1983, 1992) für Vorschulkinder unmöglich ist, zwischen intern und extern zu unterscheiden, fühlen sich Kinder für alles, was mit ihnen bzw. um sie herum geschieht, verantwortlich, auch wenn dies nicht real der Fall ist. Entsprechend wird sich ein Kind bei einem sexuellen Mißbrauch immer schuldig fühlen.“ 276 Ähnliches gilt auch für den Schwerpunkt der Programme, die dem Kind vermitteln sollen, sich gegen den Täter zur Wehr zu setzen. Diese Forderung kollidiert mit der moralischen Entwicklung jüngerer Kinder, deren Handlungsmöglichkeiten vor allem durch Belohnung, Gehorsam und Bestrafung geprägt sind. Daher werden sich Kinder in erster Linie gehorsam verhalten, und kaum in der Lage sein, ein vom Täter ausgehendes Schweigegebot zu brechen. Insgesamt entsteht bei der Betrachtung der Programme eher der Eindruck, die Konzeption der Programme und die Inhaltsvermittlung folgt den Ansprüchen der Erwachsenen als denen der Kinder, für die sie ja eigentlich konzipiert sein sollten. Um dies zu illustrieren, werden von Amann und Wipplinger erneut die Studie von Briggs (1991) angeführt, die diese Ansicht sehr anschaulich illustriert. Hier wird die Betrachtungsweise des Konzepts des Fremden bei 5-jährigen Kindern näher betrachtet, wobei die zumeist kaum befriedigenden Ergebnisse der Verhaltenstests ihre Erklärung finden. Demnach sind für Kinder Fremde sofort erkennbar, „sie sehen böse aus, sind haarig und gleichen den Monstern, vor welchen sie sich fürchten. Diese Fremden brechen in Häuser ein und entführen Kinder. Es ist nicht überraschend, daß alle Kinder angeben, noch nie einen Fremden gesehen zu haben.“277 Der Bedarf, die Programme in vielerlei Hinsicht neu und nach entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten wenigstens zu überarbeiten, wird hier offensichtlich. 3.2.7. Folgerungen Die angeführte Kritik gegenüber der gängigen Präventionspraxis legt nahe, gewisse Aspekte grundlegend zu überdenken. Ebenso muss im Bezug auf die Sekundärprävention vor dem Durchführen der Programme klar sein, wie im Falle einer Aufdeckung von sexuellem Missbrauch zu verfahren ist. 276 277 Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 672 Ebd., S. 673 - 84 - Zu der Verbesserung der Programme und den Materialien ist in erster Linie anzuführen, dass diese in entwicklungspsychologischer Hinsicht zu überprüfen sind, da sie sich oft eher an den Bedürfnissen der Erwachsenen statt an denen der Kinder orientieren. Vor allem müssen „abstrakte, diffuse und mehrdimensionale Konzepte vermieden“278 werden, die vor allem jüngere Kinder überfordern. Es erscheint im Hinblick auf diese Zielgruppe sinnvoller, eher einfache und konkrete Regeln vorzugeben, wie etwa, welche Berührungen ,o.k.’ sind und welche nicht. Grundsätzlich sollten alle Programme und Materialien vor ihrem Erscheinen ausgiebig getestet werden, um zum einen keine falschen Erwartungen zu wecken und zum anderen ihre Wirksamkeit in Bezug auf die Zielgruppe festzustellen. Dabei ist ebenso die Sichtweise der Kinder in der Bearbeitung der Themen zu beachten.279 Bange führt zudem an, dass vor allem ältere Kinder in stärkerem Maße auf das subtile und raffinierte Vorgehen der Täter vorzubereiten280 sind, um ihnen so einen möglichst realistischen Einblick in das Missbrauchsgeschehen vermitteln zu können. Je genauer ein Kind weiß, worin die Strategien der Täter bestehen, desto eher kann es in die Lage versetzt werden, diese zu durchschauen und wahrzunehmen. Auch im Bereich der Methodenauswahl sind einige Verbesserungen erstrebenswert. So sollten unterschiedliche Methoden bei der Vermittlung der Präventionsinhalte eingesetzt werden, wobei die Kinder grundsätzlich mehr erinnern, wenn sie sich aktiv an der Gestaltung und Erarbeitung beteiligen können. Am besten sollten die Kinder in Form von Rollenspielen ihr erworbenes Wissen in Handlungen umsetzen können. Ebenso muss genügend Zeit für Gespräche eingerechnet werden, da, wie festgestellt, Präventionsprogramme eine hohe aufdeckende Wirkung haben. Der Zeitrahmen, der bei vielen Programmen etwa zwei Stunden beträgt, ist also viel zu eng. Auch sollte Prävention in gewissen Zeitabständen wiederholt und fortgeführt werden, wenn eine curriculare Einbindung schon nicht möglich ist. Zudem bilden die Eltern einen unverzichtbaren Bestandteil der Prävention, da sie wesentlichen Anteil an der Erziehung des Kindes haben und ihre Teilnahme die Wirkung des Programms erhöht. Weiterhin sieht Bange als zentrale Forderung, dass „einer kindgerechten Prävention [...] Sexualerziehung vorausgehen“ müsse. „Denn Mädchen und Jungen können sich besser schützen, wenn sie einen positiven Zusammenhang von Sexualität, Freude, Zuneigung und Lust erleben.“281 Diese Aufgabe fällt klar in den Bereich der schulischen 278 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 453 Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 673 280 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 453 281 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 453 279 - 85 - Präventionsmöglichkeiten. Darum muss das Gespräch über die eigene Sexualität und das eigene Zärtlichkeitsbedürfnis einen mindestens ebenso großen Raum einnehmen wie er für die Prävention an sich aufgewendet wird. Auch sollte im Rahmen der Sexualerziehung eine gemeinsame Sprache für die Sexualität erarbeitet werden, was den Kindern ein angemessenes Vokabular ermöglicht, um einen Missbrauch aufzudecken. 282 Zudem darf Sexualität nicht als etwas ,Schmutziges, Heimliches’ dargestellt werden, damit die angesprochenen Double-bind-Situationen verhindert werden kann. Vor diesem Hintergrund muss es Aufgabe eines jeden Präventionsprogramms sein, eine kindgerechte Definition sexuellen Missbrauchs zu liefern. Die Feststellung, dass einige Kinder trotz mehrmaliger Schulung durch Präventionsprogramme kaum von ihnen profitieren, muss größere Berücksichtigung finden, daher sind die Angebote stärker zu differenzieren. Da vor allem unsichere Kinder zu dieser Gruppe gehören, ist es besonders wichtig, deren Selbstbewusstsein zu fördern. Insbesondere fällt auf, dass es für Kinder in sonderpädagogischen Einrichtungen kein entsprechendes Material zur Prävention gibt, allerdings widmet sich Seligmann der Problematik der Prävention mit behinderten Kindern283. Auch für Kinder mit Migrantenhintergrund wurde bisher kein entsprechendes Präventionsmaterial vorgelegt. Generell fasst Bange zusammen: „Hinsichtlich der Prävention mit Kindern ist abschließend festzustellen, dass Kinder sich letztlich gegen einen überlegenen Menschen nicht wehren können, wenn der Täter das Kind wirklich missbrauchen will. [...] Doch viele Kinder werden durch die Prävention in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und lernen es auch, gefährliche Situationen besser zu erkennen und eventuell zu vermeiden. Da selbstbewusste und informierte Kinder Täter abschrecken, ist dies eine wichtige und lohnende Aufgabe der Prävention!“284 Dennoch darf nicht die Illusion aufkommen, sexueller Missbrauch ließe sich durch Prävention, insbesondere durch den Schwerpunkt der Prävention mit Kindern, völlig aus der Welt schaffen. Für die Lösung dieses gesellschaftlichen Problems, denn anhand der Ausmaße muss es als solches gesehen werden, sind allein und ausschließlich Erwachsene verantwortlich, was sich in der Aussage von Koch und Kruck widerspiegelt: 282 283 Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 673 Vgl.: Seligmann, S.: 1996, S. 71 ff. - 86 - „Die Prävention mit Kindern sollte in Zukunft nicht als Hauptaspekt der gesamten Prävention, sondern als ein Teil von dieser gesehen werden – als ein Präventionselement, das wichtig ist, da es helfen kann, die Not der Kinder zu mindern, das jedoch alleine nicht ausreicht, um gegen sexuellen Missbrauch wirksam zu werden.“285 Amann und Wipplinger verweisen zudem auf Finkelhor, der die Aufgabe der Präventionsprogramme dahingehend erweiternd definiert, dass sie auch gesellschaftliche Maßnahmen, wie beispielsweise eine Veränderung des männlichen Rollenverständnisses, umfassen sollten, um so den Bedingungen und Ursachen von sexuellem Missbrauch entgegenzuwirken. 286 Anzumerken ist hierbei, dass es eine Fülle unterschiedlicher Ursachenverständnisse gibt und aller Voraussicht nach kaum eine allgemeine Übereinstimmung zwischen den diversen Programmen an sich auftreten wird. Insgesamt ist festzuhalten, dass es nach wie vor einer großen Anstrengung bedarf, um allein die Prävention mit Kindern wirksamer zu gestalten. Die aufgezeigten Kritikpunkte werden im Folgenden in Form einzelner „Präventionsbausteine“ betrachtet und in den Präventionskontext vor dem Hintergrund schulischer Aufklärungsmöglichkeiten eingeordnet. Da deutlich geworden ist, dass sowohl Eltern als auch LehrerInnen eine bedeutende Funktion in der Präventionsarbeit übernehmen können, soll zunächst ihre Rolle genauer betrachtet werden um anschließend die erarbeiteten Präventionsbemühungen vor dem Hintergrund der schulischen Rahmenbedingungen zu betrachten. 3.3. Prävention durch Elternbildung ,Kinder an sich auch eine „Elternbildung“ stattfinden, um eine eventuelle Skepsis den Programmen gegenüber gar nicht erst aufkommen zu lassen. Durch die Einbeziehung wird es Müttern und Vätern ermöglicht, an der Prävention teilzunehmen, sie zu verstehen und zu unterstützen und auf diese Weise einen Bezugspunkt zu haben, wenn ihre Kinder nach Absolvierung eines Workshops Veränderungen zeigen. Den Eltern kommt also bei allen Präventionsmaßnahmen eine enorme Bedeutung zu, denn sie als Repräsentanten des engsten Umfeldes sind auch die ersten Adressaten dieser Veränderungen und können sie 284 285 Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 454 Koch, H./ Kruck, M.: 2000, S. 34 - 87 - entsprechend fördern. Unterstrichen wird dies durch die Tatsache, dass die Familie ein potentiell gewaltträchtiges Umfeld für die Kinder darstellen kann. Vor diesem Hintergrund soll nun, nachdem die Präventionsarbeit mit Kindern betrachtet wurde, auch eine mögliche Prävention mit den Eltern erörtert werden, wobei die Situation der Eltern betrachtet und darauf aufbauend gewisse Grundsätze der Elternbildung mit ihren Inhalten und Zielen verdeutlicht werden. 3.3.1. Die Situation der Eltern Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Eltern eher verunsichert sind, wenn es um den Bereich des sexuellen Missbrauchs geht. Wie Kirchhoff ausführt, tragen vor allem die Medien durch ein Überangebot an Informationen und häufig skandalisierende Präsentation des Themas eher zur Desinformation bei.287und heizen die ohnehin emotionsgeladene Situation noch weiter an. Die Gefühlsbreite umfasst Wut, Trauer, Rache, Angst, Zorn, Verleumdung und Neugier, Bedrohung, sexuelle Erregung, Faszination oder Abwehr.288 Vor allem aber haben die Eltern Angst um ihre Kinder und wollen sie schützen. Dazu fehlt es ihnen aber an Vorbildern und Kenntnissen präventiver Erziehung; ebenso herrscht ein Mangel an seriösen Informationen.289 Die Elternbildung spricht die Eltern daher in ihrer jeweiligen Situation von Problemen, Kompetenzen und Defiziten an, „d.h. sie mischt sich in die Privatsphäre von (unbekannten) Menschen ein“290. Von daher sind belehrende oder vorwurfsvolle Untertöne ebenso zu vermeiden wie Forderungen und Überforderungen. „Dagegen sollte sie eine Entlastungsfunktion haben, unterstützen und Mut machen. Kooperation, Dialog und Austausch sind zentrale Stichworte.“291 3.3.2. Grundsätze der Elternbildung in der Prävention Die Bildung der Eltern ist ein sehr diffiziles Thema, ausgehend von der eben dargestellten Situation, in der sie sich befinden. Von daher liegen ihr gewisse Prämissen zugrunde, die im Folgenden erläutert werden sollen. 286 Vgl.: Amann, G./Wipplinger, R.: 1997, S. 674 Vgl.: Kirchhoff in Enders 288 Vgl.: Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 420 289 Vgl.: Knappe, A.: S. 243 ff. 290 Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 420 291 Ebd., 2001, S. 421 287 - 88 - „Eltern“ sind Frauen und Männer und agieren als solche. Es ist erwiesen, dass besonders Väter bei der Elternbildung unterrepräsentiert sind. Braun führt hierzu aus: „Wenn der Elternabend unbeabsichtigt mit einem Fußballspiel zusammenfällt, kommt es schon mal zu ‚Mütterbildung’.“292 Daher ist ein solcher Abend unter geschlechtsspezifischen Aspekten zu planen, wobei es auch sinnvoll sein kann, reine Väter- bzw. Mütterabende zu veranstalten. Lercher, Derler und Höbel führen jedoch an, es sei bei Väterabenden zu berücksichtigen, dass es kaum versierte Fachleute gebe, Väter schwer zur Teilnahme zu motivieren seien und letztlich keine Konzepte für solche Abende vorlägen.293 Weiterhin muss die hohe Heterogenität berücksichtigt werden, was beispielsweise Bildungsgrad, Interesse, Vorwissen oder auch Geschlecht angeht. Von daher sollte sich die Veranstaltung in einem Rahmen bewegen, dessen Niveau möglichst viele Teilnehmer anzusprechen vermag. Zudem könnte überlegt werden, die Zielgruppe „Eltern“ um weitere Bezugspersonen wie Großeltern, Onkel, Tanten, Mitbewohner, Nachbarn etc. zu erweitern, da auch sie einen großen Anteil an der Erziehung der Kinder haben. Zusätzlich ist zu bedenken, dass möglicherweise unter den Anwesenden sowohl von sexueller Gewalt Betroffene (entweder in eigener Person oder als Eltern eines solchen Kindes) als auch Ausübende sexuellen Missbrauchs befinden könnten. Diese Voraussetzungen und Überlegungen machen die Schwierigkeiten der Elternbildung als solche deutlich und erfordern Inhalte, die dieser Erkenntnis Rechnung tragen. 3.3.3. Inhalte und Ziele der Elternbildung Nach wie vor bilden Informationen über Hintergründe und Fakten sexuellen Missbrauchs die Grundlage jeglicher Präventionsarbeit. So steht hier auch zunächst die Vermittlung von Wissen im Vordergrund, um eventuell bestehende extreme Auffassungen zu relativieren und falsche Vorstellungen und Klischees zu eliminieren. Braun stellt in ihrem Beitrag die Themen dar, die erörtert werden sollten294: 292 293 - Was ist sexueller Missbrauch? - Wie verbreitet ist er? - Wer ist betroffen oder gefährdet? - Wie erleben betroffene Kinder die sexuelle Gewalt? - Was sind die Ursachen? Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 421 Vgl.: Lercher, L./ Derler, B./ Höbel, U.: 1995, S. 146 f. - 89 - - Was wissen wir über die Täter und Täterinnen? Darüber hinaus muss ein Basiswissen über Prävention und die Umsetzung einer präventiven Erziehungshaltung vermittelt werden. Insbesondere dem Erziehungsverhalten kommt besondere Aufmerksamkeit zu , um zu vermeiden, dass die elterlichen Erziehungskonzepte den in der Prävention mit Kindern erarbeiteten nicht zuwider laufen. Vielmehr sollen neue „Sichtweisen von kindlicher Entwicklung, kindlichem Verhalten und vom Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern“ 295 entwickelt und so Erziehungskompetenzen gestärkt oder ggf. modifiziert werden. Bei der Konfrontation mit dem Konzept des ,empowerment’ ist es möglich, dass Eltern durch das gewonnene Selbstvertrauen ihrer Kinder in der weiteren Erziehung verunsichert werden. Diese Verunsicherung gilt es abzubauen, indem vermittelt wird, dass selbstsichere Kinder durchaus nicht anstrengender und schwieriger sind, sondern eher entlastend wirken können.296 Ganz allgemein geht es darum, Reflexion über das eigene Erziehungsverhalten anzuregen, wobei nicht nur Einzelfragen wie etwa ,Nein-sagen’ erörtert werden, sondern das Erziehungsverhalten in seiner Gesamtheit zur Debatte steht. Ein weiterer wesentlicher Aspekt bezieht sich nach Lohaus und Schorsch auf die Sekundärprävention und vermittelt Wissen über mögliche Anzeichen sexuellen Missbrauchs sowie über den Umgang mit einer eventuellen Aufdeckung. Hierbei ist jedoch mit besonderem Bedacht vorzugehen, um einerseits übertriebene Reaktionen und fälschliche Anschuldigungen zu vermeiden; andererseits gilt es jedoch, die Möglichkeit des Übersehens einer tatsächlichen Missbrauchssituation zu minimieren.297 Da beide Verhaltensweisen zum Teil schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben können, müssen unter anderem Handlungsanweisungen für einen solchen Fall gegeben werden. Generell darf die Elternbildung keinesfalls belehrend, überheblich oder „entsetzlich“ und energieraubend sein, sondern sie soll viel eher „Energie für eine präventive Erziehung schaffen, sie soll Kraft geben und nicht Verzweiflung erzeugen“.298 294 Vgl.: Braun, G.: In: Kavemann, B.: 1997, S. 162 Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 422 296 Loc. cit. 297 Vgl.: Lohaus, A./ Schorsch, S.: In: Amann, G./ Wipplinger, R.: 1997, S. 684 298 Braun, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 423 295 - 90 - 3.4. Prävention durch Lehrkräfte Im Rahmen der Präventionsarbeit nehmen die Pädagoginnen und Pädagogen eine Schlüsselrolle ein. Wie die Studie des Niederländers Hoefnagels zeigt299, haben vor allem Grundschulkinder zu dem Vertrauenslehrer oder der Vertrauenslehrerin eine besonders intensive und persönliche Beziehung und bringen ihnen sehr viel Vertrauen entgegen. Neben dieser besonderen Vertrauensstellung, welche die Lehrkräfte genießen, ermöglicht ihnen vor allem der tägliche Kontakt mit den Kindern, deren kurz- und langfristige Verhaltensänderungen zu erkennen, sei es im Umgang mit anderen Kindern oder Erwachsenen, den Leistungen oder im allgemeinen Verhalten. Damit sind die Pädagogen förmlich dazu prädestiniert, „daß ein sexuell mißhandeltes Kind frühzeitig Hilfe erfährt“300. Doch hier treten massive Defizite auf, und zwar nicht nur im Bereich des Erkennens von sexuellem Missbrauch, sondern sogar mit der Thematik im allgemeinen, wie Schele ausführt: „Lehrkräfte, die sich zur Zeit in der Schulpraxis befinden, haben in aller Regel im Laufe von Studium und Referendariat keinerlei Wissen über sexuelle Gewalt und ihre Prävention vermittelt bekommen.“301 Zudem ist selbst der Basisbereich der Sexualpädagogik entweder gar nicht oder lediglich als fakultativer Bestandteil der Ausbildung absolviert worden. Die Lehrkräfte sind zwar kompetent in der fachlichen Qualifikation, häufig fehlt ihnen aber das Wissen um psychologisch–pädagogische Themenfelder. Die Schule als bildende und selektierende Institution, in der Benotung und Leistung die Basis des Schulsystems bilden, verdrängt zunehmend die Wahrnehmung psychosozialer Auffälligkeiten und Befindlichkeiten der SchülerInnen. 302 Tatsächlich gehen LehrerInnen gemeinhin davon aus, dass sexueller Missbrauch in ihrer Klasse oder Schule nicht vorkommt, „beziehungsweise daß sie es merken würden, wenn ein Kind sexuell mißbraucht würde“ 303. Aufgrund der hohen Dunkelziffer ist jedoch davon auszugehen, dass jeder Lehrer und jede Lehrerin im Laufe der schulischen Tätigkeit mit Betroffenen zu tun haben wird. Von daher ist es dringend erforderlich, sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärprävention den LehrerInnen die Möglichkeit zur Qualifikation zu geben, wenn nicht gar sie obligatorisch in Aus- und Weiterbildung zu verankern. 299 Hoefnagels, C.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 151 Johns, I/ Marquardt – Mau, B.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 265 301 Schele, U.: In.: Petze, 1996, S. 93 f. 302 Ebd., 1996, S. 95 303 Seligmann, S.: 1996, S. 57 300 - 91 - Im folgenden wird es daher um die Aus- und Weiterbildung sowie die externen Qualifikationsmöglichkeiten von Lehrkräften gehen Zudem werden einige Punkte beleuchtet, die es ihnen ermöglichen, präventive Erziehung in „ihrer“ Schule zu verwirklichen. 3.4.1. LehrerInnen-Ausbildung In der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer sind, wie angemerkt, gravierende Defizite zu konstatieren. Gies stellt fest, dass es erst in jüngster Zeit an einigen Hochschulen, insbesondere im Bereich der Frauenforschung, Seminarangebote zum Thema ‚Prävention von sexueller Gewalt an Kindern’ gab. 304 Lappe ergänzt: „Die Regel ist dies nicht.“305 Es bleibt nach wie vor der Eigeninitiative der zukünftigen PädagogInnen überlassen, das nötige Fachwissen und die entsprechende Handlungskompetenz zu erwerben. Ein zweites ernsthaftes Manko der LehrerInnen-Ausbildung sieht Lappe in Bezug auf die Präventionsarbeit darin, dass eine verantwortungsvolle und sinnvolle Arbeit nur langfristig möglich ist. „StudentInnen können nicht im Rahmen eines zwei- bis sechswöchigen Schulpraktikums ein ‚bißchen Prävention machen’ und danach wieder aus der Klasse verschwinden.“306 Solange die Kompetenz in diesem Themenbereich bei den Lehrenden noch gering ist, sollten verstärkt MitarbeiterInnen aus Beratungsstellen und Präventionsvereinen entweder in die Lehrveranstaltungen als Gastreferenten eingeladen werden oder einen eigenen Lehrauftrag erhalten.307 Der Forderung von Koch und Kruck, bereits während des Studiums auf die Problematik sexuellen Missbrauchs hinzuweisen und sie zum integralen Bestandteil der LehrerInnenAusbildung zu machen, kann nur unterstrichen werden. Sie fordern weiterhin, dass PädagogInnen „... für diese [Problematik H.B.] sensibilisiert werden, und daß sie ein fundiertes Grundlagenwissen erlangen, Möglichkeiten der präventiven Arbeit im schulischen Bereich kennen lernen und Qualifikationen für eine Präventionsarbeit erwerben“.308 Natürlich darf kein Lehrer und keine Lehrerin zur Prävention gezwungen werden, doch müssen ihnen Hilfe, Unterstützung und, so weit wie irgend möglich, entsprechende Rahmenbedingungen für eine präventive Arbeit zuteil werden. 304 Vgl.: Gies, H. : 1995, S. 79 Lappe, K.: 1993, S. 34 306 Ebd., 1993, S. 35 307 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 79 308 Koch, H./ Kruck, M.: 2000, S. 67 305 - 92 - Vor diesem Hintergrund wird deutlich, aus welchen Gründen die wenigsten Lehrkräfte sich dazu in der Lage fühlen, von sich aus präventive Arbeit in den Unterricht zu integrieren. Im Hinblick auf eine derart mangelhafte Ausbildung im Bereich der Thematik „Prävention sexuellen Missbrauchs“ stehen einer wirksamen Präventionsarbeit massive Unsicherheiten im Hinblick auf diverse Tatbestände im Wege. Auf dieses Thema wird noch gesondert eingegangen. 3.4.2. Fort- und Weiterbildung Eine differenzierte und berufsbegleitende Fort- und Weiterbildung sollte nicht nur die Aufgabe des Sozialstaates sondern auch die der Schulträger sein. 309 Obwohl einige Angebote zur Fort- und Weiterbildung im Bereich der Prävention sexuellen Missbrauchs existieren, sind auch hier Defizite anzumerken.310 Wie in der Vergangenheit wird der Hauptteil der Fort- und Weiterbildung von Vereinen, Initiativen, Arbeitskreisen oder örtlichen Berufsgruppen getragen, die bereits seit Jahren Seminare und Tagungen zu diesem Themenbereich anbieten.311 Insgesamt ist festzuhalten, dass nach wie vor die Eigeninitiative der LehrerInnen gefordert ist, sich in diesem Themenkomplex fortzubilden. Darüber hinaus stehen der Einzelperson, die ja nicht losgelöst von der Institution Schule agieren kann, diverse Hemmnisse entgegen. Neben dem hohen Maß interner Bereitschaft, dem Zeitaufwand und eventuellen Widerständen und Unsicherheiten im Kollegium schränken auch die „Komplexität der Anforderungen, mit denen LehrerInnen im Schulalltag ohnehin konfrontiert sind“,312 die Handlungskompetenz ein. Hieraus ergeben sich unterschiedliche, durchaus nicht unproblematische Voraussetzungen, mit denen sich die Lehrkraft befassen muss, um die vielgeforderte „präventive Erziehungshaltung“ einnehmen zu können. Anhand zweier Beispiele werden nun sowohl schulinterne als auch -externe Formen der Fort- und Weiterbildung dargestellt. 309 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 79 Vgl.: Koch, H./ Kruck, M.: 2000, S. 66 311 Anm.: Angesichts fehlender öffentlicher Zuschüsse musste bspw. Zartbitter e.V. in Köln Seminare zum Thema einstellen. 312 Schele, U.: In.: Petze, 1996, S. 96 310 - 93 - 3.4.2.1. SchiLF – eine landesweite Fortbildungsmaßnahme für LehrerInnen Die folgenden Ausführungen über Schulinterne Lehrerfortbildungen (SchiLF) beziehen sich auf die ausführlichen Darstellungen von Wanzeck-Sielert und werden hier in den Grundzügen wiedergegeben.313 Bereits seit Ende 1993 bietet das Land Nordrhein-Westfalen für ganze Lehrerkollegien schulinterne Orientierungsveranstaltungen sowie schulexterne Erweiterungs- bzw. Vertiefungsseminare für einzelne Lehrerinnen und Lehrer an. Demnach ist SchiLF in zwei Teile untergliedert: es offeriert Orientierung für ein gesamtes Kollegium einerseits und Vertiefung für einzelne Lehrkräfte andererseits. Zunächst wird eine eineinhalbtägige schulinterne Lehrerfortbildung durchgeführt; dies mit dem Ziel, „einführendes Orientierungswissen über sexuelle Gewalt und sexuellen Mißbrauch an Mädchen und Jungen zu erlangen, sowie für auffällige Kinder und deren Schwierigkeiten sensibler zu werden im Hinblick auf Wahrnehmung und pädagogisches Verhalten“.314 Dazu werden Konzepte der Persönlichkeitsbildung erarbeitet und ein eigenes Kooperationsnetz erschlossen, um die Möglichkeit zu gewährleisten, im Falle einer Intervention kompetente Fachleute zur Verfügung zu haben. Die Maßnahmen an sich finden in enger Abstimmung mit den Kollegien statt und werden durch externe Moderatorinnen und Moderatoren unterstützt und begleitet. Das Projekt gliedert sich in fünf Phasen: Vorlaufphase: Zunächst nimmt die Schule Kontakt zum Aus- und Fortbildungsdezernat der Bezirksregierung auf. Daraufhin wird ein externes Moderatorenteam beauftragt, das Projekt zu begleiten. Einstiegsphase: Das externe Moderatorenteam kontaktiert seinerseits die Schule und vereinbart ein Vorgespräch. Kollegium und Moderatorenteam lernen sich kennen und konkretisieren 313 314 Wanzeck-Sielert, C.: In.: Marquardt-Mau, B.: 1995, S. 290 ff. Ebd., 1995, S. 290 f. - 94 - Wünsche und Interessen für die Fortbildung. In diese Phase fällt auch die Klärung der Rolle der ModeratorInnen, der Schulleitung und des Kollegiums. Planungsphase: Auf den jeweiligen Vorgesprächsergebnissen basierend, plant das Moderatorenteam die Fortbildungsmaßnahme in Bezug auf Arbeitswege, inhaltliche Schwerpunkte, Materialien und Methoden. Durchführungsphase: Das Team regt Prozesse für die Erarbeitung des Themas im Kollegium an, wobei es in der Regel inhaltliche und methodische Unterstützung gibt. Weiterhin werden erste Informationen zur Thematik gegeben und wichtige Arbeitsstrukturen für die Arbeit im Kollegium festgesetzt. Die ModeratorInnen verstehen sich eher als Prozessbegleiter, „leisten aber auch inhaltliche und methodische Anregungen für die Formulierung von Handlungsplänen wie Kooperationsideen oder konkrete Unterrichtsvorhaben“.315 Abschlussphase: Hier werden die erarbeiteten Ideen konkretisiert, Vereinbarungen zur selbstständigen Weiterarbeit im Kollegium getroffen und ein Feedback zur stattgefundenen Fortbildung gegeben. Neben dieser für gesamte Kollegien konzipierten Fortbildung besteht auch die Möglichkeit für einzelne Lehrkräfte, ein vertiefendes Fortbildungsangebot wahrzunehmen. Dieses erstreckt sich über ein halbes Jahr, mit neun eintägigen und einer zweieinhalbtägigen Veranstaltung, wobei maximal 20 Personen teilnehmen können. Ziel ist es, die Möglichkeit einer Spezialisierung, Konkretisierung und Differenzierung im Hinblick auf die besonderen Aufgabenfelder der Lehrkräfte zu eröffnen. Für diese erweiterte Fortbildung ist das Aus- und Fortbildungsdezernat der jeweiligen Bezirksregierung des Landes verantwortlich. Die Durchführung obliegt gleichfalls einem Moderatorenteam und „sollte nach Möglichkeit außerhalb der Schule stattfinden“.316 315 316 Ebd., 1995, S. 293 Loc. cit. - 95 - Auch hier wird deutlich, dass die Schule sich in der Verantwortung sieht, aktiv zu werden und sich um Fortbildungsangebote zu bemühen. Positiv ist zu werten, dass bei der erstgenannten Maßnahme das gesamte Kollegium einbezogen und so eine eventuelle Stigmatisierung einer einzelnen Lehrkraft verhindert wird. Die erweiterte Fortbildung ist in ihrem Ansatz als sinnvoll zu bewerten, aber der zeitliche Abstand der einzelnen Veranstaltungen kann den Lernerfolg doch erheblich beeinträchtigen. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern der Wissenstransfer der außerschulischen Veranstaltungsstätte in das gewohnte Klassenzimmer gelingt. 3.4.2.2. Qualifikation der PädagogInnen am Beispiel von STROHHALM e.V. Eine weitere Möglichkeit, LehrerInnen in der Prävention sexuellen Missbrauchs zu schulen, besteht in der Anwendung von vorliegenden Präventionsprogrammen. Absatz Exemplarisch soll hier die Qualifikationsvermittlung für Pädagogen anhand des Präventionsprogramms von STROHHALM e.V. dargestellt werden, deren Präventionsarbeit sich „in erster Linie an professionelle PädagogInnen“ 317 richtet. Das Programm sieht sechs Phasen vor, von denen sich vier direkt auf die Arbeit mit den Pädagogen beziehen. Dabei wird Wert darauf gelegt, dass sich immer mindestens ,zwei Personen an dem Programm beteiligen, um die eventuelle Isolation einer einzelnen Lehrkraft innerhalb des Kollegiums zu verhindern. Ausgangsbasis ist hierbei das erste Vorbereitungstreffen. Zunächst geht es um eine grundsätzliche Einführung in die Thematik des sexuellen Missbrauchs, wobei die Unverzichtbarkeit vertiefender Lektüre unterstrichen wird. Besonders nachdrücklich betont STROHHALM e.V., „dass der geplante Workshop mit den Jungen und Mädchen nur ein emotionaler und klarer Einstieg für eine längerfristige Arbeit der LehrerInnen zur Präventionsarbeit sein kann“318. Insofern hat der Workshop die vorrangige Funktion, die Erziehungshaltung der PädagogInnen um Aspekte der Prävention zu erweitern und diese in verschiedene Bereiche des Schulalltags einfließen zu lassen. Die Themen beziehen sich nicht nur auf konkrete Präventionsaspekte, die im Kinderworkshop vermittelt werden sollen, sondern gehen weit darüber hinaus. So werden unter anderem die Sexualerziehung, geschlechtsbewusste Erziehung, die Rechte der Kinder sowie eine Auswahl an Präventionsmaterialien angesprochen. Zur Ergänzung wird Grundlagenliteratur zum Thema des sexuellen Missbrauchs empfohlen. 317 318 STROHHALM e.V.: 2001, S. 54 Ebd., S. 55 - 96 - Dem Vorbereitungstreffen schließt sich die Phase der Eigenarbeit an, in der die PädagogInnen Gelegenheit haben, sich mit der Literatur sowie den angesprochenen Themen in vertiefenden Gesprächen auseinander zu setzen. Im zweiten Vorbereitungstermin findet zunächst ein Austausch über die Eindrücke statt, welche die Lektüre bei den LehrerInnen hinterlassen hat. „Gefühle wie Fassungslosigkeit, Unglaube, Wut, Angst, und Überforderung angesichts von Fakten, Ausmaß und Folgen von sexuellem Missbrauch finden einen angemessenen Raum.“ 319 Erst diese Auseinandersetzung ermöglicht es den PädagogInnen , das eigene Verhältnis zu der Thematik zu klären und sowohl eine persönliche als auch eine fachliche Haltung zu entwickeln. Damit sind die Lehrkräfte auf die folgenden Phasen, den Elternabend und den Workshop, hinreichend vorbereitet. Bei diesen Phasen agieren sie nun eher als Beobachter und stellen das Bindeglied zwischen Eltern und STROHHALM e.V. dar. Elternarbeit und Workshop entsprechen, mit geringfügigen Abweichungen, den bereits dargestellten Komplexen. Am Ende der Präventionsarbeit steht das Nachbereitungstreffen. Dieser Termin ist etwa zwei Wochen nach dem eigentlichen Workshop angesetzt, um den TeilnehmerInnen die Chance zu geben, die Inhalte des Workshops mit der Klasse nachzubereiten und zu vertiefen. Da Prävention auch immer eine aufdeckende Wirkung hat und die TrainerInnen von Strohhalm im Anschluss an den Workshop Einzelgesprächstermine mit dem Kindern anbieten, steht besonders ein Thema im Vordergrund: Wie ist bei einem möglicherweise bekannt werdenden Missbrauchsfall eine Intervention aus Sicht der PädagogInnen zu gestalten? , Da diese Frage in allen Bereichen präventiven Wirkens von höchster Bedeutung ist , wird dieses Thema im weiteren Verlauf der Arbeit gesondert behandelt. Insgesamt ist hier abermals anzumerken, dass die Initiative für eine Prävention von der einzelnen Schule, respektive der einzelnen Lehrkraft ,ausgehen muss... Koch und Kruck fassen zusammen: „Eine gewisse Zahl von LehrerInnen ist wohl interessiert, reagiert aber aus persönlicher Unsicherheit sehr zögerlich. Es gibt auch Schulen, an denen gezielt abgeblockt wird: ‚Bei uns gibt es keinen sexuellen Mißbrauch!’“320 319 320 Ebd., 57 Koch, H./ Kruck, M.: 2000, S. 66 - 97 - 3.5. Möglichkeiten der ergänzenden Präventionserziehung in der Schule Wie mehrfach festgestellt wurde, bilden die von externen Fachleuten an die Schule heran getragenen Präventionsprogramme bereits den Weg für eine langfristige präventive Erziehungshaltung. Um eine solche zu erlangen, muss das Thema „sexueller Missbrauch“ nicht immer direkt angesprochen werden. Es geht vielmehr um die Vermittlung einer präventiven gesamtgesellschaftlichen Grundhaltung, und darum sollte Prävention bereits bei der Persönlichkeitsbildung des Kindes ansetzen. Nachfolgend werden Bausteine vorgestellt, die elementar zur Prävention in diesem Rahmen beitragen können und sich in den schulischen Alltag integrieren lassen. 3.5.1. Sexualerziehung Natürlich muss in der Schule die Sexualerziehung der Thematisierung sexuellen Missbrauchs vorausgehen. Dabei soll die emanzipatorische Sexualpädagogik, bei der Selbstbestimmung von Mädchen und Jungen ansetzend, zur Lebenskompetenzförderung beitragen und die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Ihr Ziel ist die Stärkung der Kinder, wobei sowohl „Körperlichkeit, positive Körpergefühle, Bedürfnisse und Gefühle für eigene Grenzen, die positiven, lebensbejahenden Aspekte als auch die unterschiedlichen Schattierungen von Aggression und Gewalt“321 angesprochen werden müssen. Grundlegende Aufgaben der Sexualerziehung als Primärprävention sind Thematisierung der psychosexuellen Entwicklungsphasen des Kindes und Aufklärung über kindliche Sexualität in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen. „Dies bedeutet Stärke, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Autonomie zu gewinnen.“322 Darauf aufbauend wird der Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen erschlossen. Das Wissen um die eigene Körperlichkeit macht Jungen und Mädchen stark, sich bei sexuellen Grenzverletzungen nicht alles gefallen zu lassen und sich eher zur Wehr zu setzen. Weiteres Ziel der Sexualpädagogik muss im Kontext der Prävention die Vermittlung angemessenen Vokabulars sein, um den Kindern ein Sprechen über Sexualität und damit eine Aufdeckung sexuellen Missbrauchs zu ermöglichen. 321 322 Wanzek-Sielert, C.: In: Handbuch, S. 541 Loc. cit. - 98 - Grundsätzlich gilt es, das Thema Sexualität so wenig wie möglich zu tabuisieren oder gar als etwas „Heimliches, Negatives und Gefährliches“323 erscheinen zu lassen. 3.5.2. Geschlechtsrollenerziehung Der Geschlechtsrollenerziehung kommt in der Schule, was die Prävention sexuellen Missbrauchs angeht, eine zentrale Bedeutung zu, denn die geschlechtsstereotype Sozialisation wird vornehmlich durch die Schule vermittelt und trägt so dazu bei, das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft zu bewahren.. Diese Struktur wird als ein wesentlicher Faktor für die Entstehung sexueller Gewalt angesehen. 324 Männer tendieren durch Sozialisation zu Dominanz und Aggression, Frauen zu Fürsorge und Unterordnung. Gies führt aus: „In einer patriarchalischen Gesellschaft werden Mädchen und Jungen im Sozialisationsprozeß immer wieder schmerzhaft sanktioniert, wenn sie Eigenschaften und Empfindungen des anderen Geschlechts aufweisen und äußern.“325 In Bezug auf sexuellen Missbrauch ist festzustellen, dass die Täter häufig die Rollenmuster der Opfer in den Missbrauch einbinden und ausnutzen, beispielsweise indem sie an die internalisierte Hilfsbereitschaft und Fürsorge der Mädchen appellieren. Auch der Umgang mit dem Missbrauch wird häufig geschlechtsstereotyp ausgelebt, wie Marquardt – Mau darstellt: „Anders als mißhandelte Mädchen, die ihre Ohnmachtgefühle und ihren Selbsthaß häufig mit selbstschädigendem Verhalten unter Kontrolle bekommen möchten, reagieren die Jungen oft mit Aggressionen insbesondere anderen Kindern gegenüber, die auch in sexueller Gewalt ihren Ausdruck finden können.“326 Die Schule muss also schon im Primarbereich als dem Vorfeld der Geschlechtsstereotypisierung ansetzen, um die Bildung von klassischen Rollenmustern und deren Übernahme zu verhindern. Damit wirkt sie in zwei Dimensionen präventiv: Allgemein lernen die Kinder, sich von vorgegebenen Rollenmustern zu lösen; Mädchen erlangen ein verstärktes Selbstbewusstsein, Jungen hingegen Empathievermögen und die 323 Marquardt – Mau, B.: In: HB, S. 439 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 99 f. 325 Gies, H.: 1995, S. 90 326 Marquardt – Mau, B.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 99 324 - 99 - Fähigkeit, Schwäche zu zeigen, wodurch es ihnen leichter fällt, einem Missbrauch adäquater zu begegnen oder darüber zu sprechen. Zum anderen beugt sie der Gefahr vor, dass Mädchen die Opfer und „Jungen die Täter von heute und morgen“327 werden könnten. Wegen der großen Relevanz dieses Punktes werden im Folgenden die Forderungen an die Mädchen- und Jungenerziehung thematisiert. 3.5.2.1. Forderungen an die Mädchenerziehung In der traditionellen Erziehung zur späteren Frauenrolle werden den Mädchen vor allem Verhaltensweisen wie Zurückhaltung, Anpassung, Mitgefühl und Verantwortung für ihre Mitmenschen vermittelt.328 Darüber hinaus sollen sie lieb, höflich und fürsorglich sein. Zeigen sie diese Verhaltensweisen, erhalten sie Lob, Anerkennung und Zuwendung von Erwachsenen und entfernen sich dadurch von Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen. Sie lernen schnell, dass die Erfüllung der klassischen Frauenrolle eine positive gesellschaftliche Verstärkung erfährt. Bei Jungen sind es hingegen die „typisch männlichen Eigenschaften“329, welche durch die Sozialisation positiv verstärkt werden: Macht, Unerschütterlichkeit, Durchsetzungsvermögen etc. Im Schulalltag wird dies besonders deutlich. Überlegenheitsgebaren der Jungen gegenüber Mädchen findet Toleranz, und nur selten schreiten Erwachsene ein, „wenn Jungen physische Übergriffe auf Mädchen tätigen, wenn sie Röcke hochheben, an langen Haaren ziehen, in den Po kneifen oder Mädchen an die Brust fassen“.330 Dieses Verhalten fördert bei den Mädchen Minderwertigkeitsgefühle und bestärkt ein Opfer- und nicht und Duldungsverhalten. Es wird deutlich, dass die Schule hier eingreifen muss länger geschlechtsstereotype Rollenmuster vermitteln darf. Diese veränderte Erziehungshaltung soll mit Inhalten der Präventionsarbeit gekoppelt werden, um Mädchen zu stärken, wenn sie Grenzen ziehen, ‚Nein’ sagen und sich wehren. Der Aufbau von Durchsetzungsvermögen und Unabhängigkeit muss ebenso wie Kritikfähigkeit und Selbstwertgefühl gefördert und unterstützt werden. Eine besondere Anforderung an die LehrerInnen stellt hier die Präsentation von Vorbildern dar, die, losgelöst vom gängigen Rollenverhalten, ein positives und starkes Selbstbild sowie 327 Gies, H.: 1995, S. 89 Vgl.: Gies, H.: 1995, S. 90 329 Loc. cit. 328 - 100 - Engagement und Solidarität unter Frauen vermitteln.331 Ebenso sind männliche Vorbilder vonnöten, die nicht nach tradierten Rollenmustern leben und Übergriffe auf Mädchen nicht als bloßes Kavaliersdelikt werten. 3.5.2.2. Forderungen an die Jungenerziehung Im Gegensatz zu Mädchen erleben Jungen schon von frühester Kindheit an „die Position eines überlegenen Eroberers [...], der Macht und Kontrolle (insbesondere gegen Mädchen und Frauen), aber auch gegenüber seinen eigenen Ängsten und Gefühlen hat“.332 Dadurch internalisieren sie, dass die weibliche Rolle, bei der Gefühle eine hohe Bedeutung haben, weniger wertvoll ist und lehnen entsprechende Gefühlsempfindungen bei sich selbst ab. In der Schule kommt es häufig zu herablassenden oder aggressiven Verhaltensweisen gegenüber Mädchen, die sich nicht selten zu Grenzverletzungen oder –übertretungen auswachsen. Um diesem Prozess entgegenzuwirken, kommt dem positiven Vorbild eine hohe Bedeutung zu. Ein männliches Vorbild muss vorleben, dass auch Männer „die gesamte Bandbreite an Gefühlen zeigen, daß sie hilfsbereit, einfühlsam und fürsorglich sind, daß auch sie Hilfe suchen, annehmen können und fähig sind, Konflikte ohne Überlegenheitsanspruch und körperliche Gewalt zu lösen“.333 Dennoch bleibt das Vorbild ein „ganzer Mann“ im tradierten Sinne. Dies fordert von der Schule, für die Jungen eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie nicht befürchten müssen, als unmännlich zu gelten, wenn sie Gefühle und Empfindungen zulassen. Marquardt – Mau führt in Ergänzung dazu aus, dass in der Schule durchaus auch „Lernen und Zusammensein in (phasenweise) geschlechtshomogenen Gruppen“ 334 denkbar ist, um sowohl für Jungen als auch Mädchen die angesprochene Atmosphäre zu schaffen, in denen sie alternative Rollenmuster anwenden dürfen, ohne „ihr Gesicht zu verlieren“.335 Insgesamt geht es bei der Geschlechtsrollenerziehung darum, „Einblicke in die jeweils weiblich oder männlich bestimmte Lebenswelt zu ermöglichen, wie auch Alternativen zu den herkömmlichen ‚Geschlechtsrollenmustern’ vorzustellen“336 und diese auch vorzuleben. 330 Gies, H.: 1995, S. 91 Vgl.: Ebd., S. 91 332 Gies, H.: 1995, S. 91 333 Ebd., 1995, S. 92 334 Marquardt – Mau, B.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 100 335 Ebd., 1998, S. 100 336 Gies. H.: 1995, S. 100 331 - 101 - 3.5.3. Kulturelle Sensibilität Einleitend ist zu betonen, dass es in der Schule um multikulturell heterogen zusammengesetzte Klassen geht. Von daher ist der kulturellen Sensibilität im Hinblick auf die Präventionselemente besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nach Marquardt–Mau liegen zwar unterschiedliche Befunde über die kulturelle Angemessenheit von Präventionsmaterialien vor337, doch wird die eigentliche Vermittlung der Inhalte für dieses Umfeld kaum thematisiert. Lediglich bei der Übertragung US-amerikanischer Programme auf bundesdeutsche Verhältnisse ist Kritik geübt worden, jedoch nicht an der uneingeschränkten Anwendung bereits modifizierter Programme auf die heterogene Situation an den Schulen. Zudem moniert Finkel „Forschungsdefizite zur Problematik sexueller Gewalt bei Migrantinnen und Migranten“338 und weist auf die Gefahr einer verkürzten Zuschreibung auf den insgesamt fremdkulturellen Hintergrund hin. In diesem Bereich ist also eine differenzierte Forschungsarbeit unbedingt erforderlich. Die an US-amerikanischen Kindern und Jugendlichen durchgeführte Studie von Finkelhor und Dziuba–Leatherman weist insgesamt darauf hin, dass Präventionsprogramme für Kinder aus Minderheiten und statusbenachteiligten Gruppen offenbar besonders attraktiv sind.339 Als Begründung hierfür vermuten die Autoren, dass „die praxis- und medienorientierten Präventionsprogramme auch den oftmals in den übrigen Schulfächern weniger erfolgreichen Kindern einen positiven Gegenpol böten“.340 Eine bundesdeutsche Untersuchung zu diesem Thema liegt jedoch bisher nicht vor; die Evaluation der Präventionsinhalte im Hinblick auf die bundesdeutsche Situation ist also dringend zu fordern. Bis zur Ermittlung solcher Ergebnisse ist, generell gesehen, eine erhöhte Sensibilität für die Traditionen und kulturellen Eigenheiten der Kinder aller Gesellschaftsgruppen von hoher Bedeutung, da in den Programmen häufig „... allgemeine Vorschriften für Familienbeziehungen aufgestellt werden“ 341, die teilweise den Wertevorstellungen unterschiedlicher kultureller Gruppen widersprechen und Kinder so in einen schweren Konflikt stürzen können. 337 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 101 Finkel, M.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 346 339 Vgl.: Finkelhor, D./ Dziuba-Leatherman, J.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 98 ff. 340 Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 443 341 Ahn, H./ Gilbert, N.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 173 338 - 102 - Insgesamt ist festzuhalten, dass die bisher in Deutschland vorgelegten Materialien die Anforderungen interkulturellen Lernens bisher weitgehend außer Acht lassen. 342 Ahn und Gilbert halten ergänzend fest: „Angesichts der Vielfalt von Normen der Eltern-KindBeziehung in den verschiedenen Kulturen erweist sich jedes Präventionsprogramm für Kinder, speziell aber hinsichtlich der kulturellen Feinfühligkeit, als verbesserungsbedürftig.“343 3.6. Vorbedingung für eine Intervention Das enorme Ausmaß sexuellen Missbrauchs belegt, dass es sich hier um ein gesellschaftliches Phänomen handelt. Von daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Lehrkräfte im Laufe ihrer Tätigkeit mit Opfern und/oder Tätern konfrontiert werden. Diese Wahrscheinlichkeit steigert sich, wenn in der jeweiligen Schule präventive Arbeit, in welcher Form auch immer, stattfindet. Grundsätzlich gilt: Prävention hat eine aufdeckende Wirkung!344 Während der Umgang mit dem Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs an sich bereits Unsicherheiten und Ängste verursacht, ist eine mögliche Intervention für die Lehrkräfte von enormer Problematik und führt deshalb oft zum Ignorieren der kindlichen Notlage. In den folgenden Abschnitten werden Richtlinien für einen solchen Fall dargestellt, um eine angemessene Intervention im Sinne des Opfers zu gewährleisten und sich selbst nicht emotional zu überfordern. 3.6.1. Mögliche Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch Wirtz-Weinrich macht grundsätzlich fünf Möglichkeiten aus, wie Lehrkräfte von einem Missbrauch direkt oder indirekt erfahren können: 1. Mitteilungen von anderen Institutionen (beispielsweise dem Jugendamt oder einer Beratungsstelle), dass ein Kind sexuell missbraucht wird, 2. Informationen der Eltern oder anderer Angehöriger des sozialen Umfeldes, 3. eine Schülerin oder ein Schüler erzählt davon, dass er oder sie sexuell missbraucht wird, 4. sexuelle Übergriffe zwischen SchülerInnen, 342 343 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 443 Ahn, H./ Gilbert, N.: In: Marquardt – Mau, B.: 1995, S. 173 - 103 - 5. die Lehrkraft beobachtet Verhaltensauffälligkeiten bei einem bestimmten Schüler/ einer bestimmten Schülerin, die dazu führen, dass sexueller Missbrauch vermutet wird.345 Durch die beginnende Enttabuisierung des Themas ist es heutzutage wahrscheinlicher geworden, von Institutionen oder Bezugspersonen konkrete Informationen über den Verdacht sexuellen Missbrauchs an einem Kind zu erhalten. Werden Präventionsmaßnahmen an der Schule durchgeführt, kann es durchaus sein, dass sich ein Kind offenbart, auch wenn dies aus den angesprochenen Gründen eher selten geschieht. Sexuelle Übergriffe oder Grenzverletzungen treten zwischen SchülerInnen häufiger auf, werden von Lehrkräften jedoch selten als solche wahrgenommen oder als ,vorpubertäre Spiele’ abgetan.346 In der Praxis ist es wahrscheinlicher, dass die fünfte der obengenannten Möglichkeiten zum Tragen kommt: Verhaltensauffälligkeiten einzelner Kinder lassen die Vermutung des sexuellen Missbrauchs aufkommen. Allerdings müssen Lehrkräfte für die Anzeichen eines potentiellen sexuellen Missbrauchs sensibilisiert werden, um nicht falsche Vermutungen anzustellen oder ein eventuelles Missbrauchsgeschehen zu übersehen. Gleiches gilt auch für sexuelle Grenzverletzungen zwischen SchülerInnen, denn auch diese Übergriffe haben häufig schwerwiegende Folgen. Von daher widmet sich der folgende Abschnitt der Sensibilisierung der PädagogInnen für die Hinweise, die im Schulalltag auftreten können. 3.6.2. Sensibilität für Hinweise Neben den in Kapitel 2.4.3. thematisierten Folgen des Missbrauchs, die als Indikator dienen können (beispielsweise selbstverletzendes oder sexualisiertes Verhalten) gibt es weitere Auffälligkeiten, die zum Teil schwer zu erkennen sind. Daher soll exemplarisch auf sie eingegangen werden. Eine plötzlich auftretende Veränderung der Schulleistungen, egal ob positiv oder negativ, ist in jedem Fall Anlass zur Aufmerksamkeit. Born hält fest, LehrerInnen bemerkten häufig im Nachhinein, „daß SchülerInnen, die sexuell mißbraucht wurden, sogar mit Leistungsverbesserungen auf die einsetzenden Übergriffe reagierten“.347 Es kann gut sein, 344 Vgl.: Marquardt – Mau, B.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 442 Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 113 346 Vgl.: Ebd., 1998, S. 113 347 Born, M.: 1994, S. 55 345 - 104 - dass ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch aus diesem Grunde wieder aufgegeben wird, da das Bild des Opfers nicht mit einer Leistungssteigerung einhergeht. Doch für manche Betroffenen kann dies eine Überlebensstrategie sein, „um sich selbst aus der ‚Nur-OpferRolle’ zu befreien“.348 Auch spielen Zeitpunkt und Zusammenhang von gezeigtem auffälligem Verhalten eine bedeutende Rolle. Ist beispielsweise eine Schülerin oder ein Schüler nach dem Wochenende besonders unkonzentriert oder übermüdet und erklärt auf Nachfrage, „am Wochenende sei häufig der geschiedene Vater zu Besuch und man schaue dann immer ‚so komische Filme’ an“349, muss dies natürlich kein Indiz für einen sexuellen Missbrauch sein, doch sollte es zur Wachsamkeit aufrufen. Hinter der vagen Andeutung des Kindes könnte ein versteckter Hilferuf stehen. Weiterhin muss die Lehrkraft hellhörig werden, wenn ein Kind nach dem Unterricht nicht nach Hause möchte oder sich strikt weigert, am Schwimm- und Sportunterricht teilzunehmen, denn dieses Verhalten gehört zu den häufigen Auffälligkeiten sexuell missbrauchter Kinder.350 Ebenso ist es ungewöhnlich, wenn ein Vater unter dem Vorwand besonderer Besorgnis dem Kind die Teilnahme an außerschulischen Veranstaltungen wie beispielsweise Klassenfahrten untersagt sowie Freundschaften mit KlassenkameradInnen verbietet. Hier kann es sich möglicherweise um den Versuch eines Täters handeln, das Opfer aus Angst vor dem Entdecktwerden gezielt zu isolieren.351 Anhand dieser exemplarischen Beispiele aus dem Schulalltag wird die besondere Stellung deutlich, die Lehrkräfte im Gegensatz zu anderen Berufsgruppenangehörigen innehaben. Durch die Kontinuität der LehrerInnen-SchülerInnen-Beziehung könnte es möglich sein, Verhaltensänderungen schnell zu bemerken und angemessen zu reagieren. Grundsätzlich steht fest, dass es keine „Checkliste“ gibt, anhand derer eindeutig festzumachen ist, ob sexueller Missbrauch vorliegt. Eine vorschnelle, offen an den Täter gerichtete Verdachtsäußerung ist in keinem Fall dienlich, in manchen Fällen sogar verheerend. Darum gilt die Regel, wachsam im Hinblick auf Verhaltensänderungen oder -auffälligkeiten der SchülerInnen zu sein und mit Bedacht zu reagieren, wie im Folgenden erörtert wird. 348 Ebd., 1994, S. 55 Loc. cit. 350 Fegert, J.: 1990, S, 127 ff. 351 Vgl.: Born, M.: 1994, S. 56 349 - 105 - 3.6.3. Situation der LehrerInnen Werden LehrerInnen mit der Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs in ihrem schulischen Umfeld konfrontiert, „löst dies zunächst als spontane Reaktion eine Mischung aus Bestürzung und Unglaube aus“.352 Trotz eventuell erfolgter Fortbildung und Beschäftigung mit dem Thema erscheint alles in einem konkreten Fall doch häufig unvorstellbar. Oft haben die Täter eine gesellschaftlich angesehene Stellung inne und wirken auf Außenstehende sehr sympathisch. Hinzu kommen Ängste bezüglich rechtlicher Konsequenzen: Ist das Jugendamt einzuschalten? Muss eine Anzeige erstattet werden? Auch ist die persönliche Betroffenheit, die dieses Thema auslöst, vielleicht überfordernd und lähmend, so dass keine Intervention zustande kommt. Aus diesen Gründen werden im Folgenden die einzelnen Interventionsschritte vorgestellt. 3.7. Die Interventionsschritte im Einzelnen Die Intervention ist dem Bereich der Sekundärprävention zuzuordnen und fällt damit auch in den Verantwortungsbereich der Schule. Professionelle HelferInnen sollen in ein bestehendes Missbrauchsverhältnis eingreifen.353 Ihr primäres Ziel ist der Schutz des betroffenen Kindes vor weiteren sexuellen Übergriffen und damit die Aufdeckung des Missbrauchs. Bereits hier wird deutlich, dass dies die Fähigkeiten und Kompetenzen der LehrerInnen ohne fachliche Hilfe bei weitem übersteigt. Erhärtet sich ein Verdacht sexuellen Missbrauchs, gilt zunächst: Keine voreiligen Entscheidungen treffen! 3.7.1. Ruhe bewahren Wird eine Lehrkraft mit dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch konfrontiert, muss sie sich zunächst Zeit und Ruhe nehmen, um zu entscheiden, ob sie sich grundsätzlich dazu in der Lage fühlt, eine Schülerin oder einen Schüler in dieser Situation zu begleiten und zu unterstützen. 354 Fürniss bemerkt hierzu: 352 353 Born, M.: 1994, S. 57 Ebd., 1994, S. 58 - 106 - „Bei der Planung der Krisenintervention müssen wir zwischen zwei verschiedenen Krisen unterscheiden. Die erste Krise ist die Krise der mit sexueller Kindesmißhandlung konfrontierten Professionellen. Eine unbewältigte Krise der beteiligten Professionellen trägt vielfach dazu bei, überhastet einzugreifen oder wegen ‚Fehlens von Beweisen’ die Intervention zu unterlassen.“355 Eng mit diesen Überlegungen verbunden ist die Frage nach der „eigenen Informiertheit über das Thema“ 356 und inwiefern die notwendige Handlungskompetenz für den Umgang mit dieser Problematik gegeben ist. Besonderen Stellenwert nimmt eine realistische Einschätzung der eigenen Zeit- und Kraftressourcen ein, da eine Begleitung des Opfers teilweise extrem fordernd sein kann. Zieht sich die Lehrkraft nach beginnender Unterstützung des Opfers wieder zurück, wird dies äußerst belastend für das Kind sein. Zudem muss das Verhältnis zwischen LehrerIn und Kind ehrlich reflektiert werden, da fehlende Sympathie einen wirkungsvollen Begleitungsprozess unmöglich macht. Der Titel dieses ersten Interventionsschrittes, ‚Ruhe bewahren’, ist womöglich sehr schwer zu realisieren.357 Hat sich ein Verdacht erst einmal erhärtet, so fällt es aufgrund der hohen emotionalen Beteiligung und Anteilnahme schwer, nicht überstürzt zu reagieren und das Kind ,retten’ zu wollen. Born stellt dar: „Man möchte so schnell wie möglich helfen, weil man die Vorstellung unerträglich findet, zu wissen (oder zu ahnen), was mit der Betroffenen passiert, ohne sofortige Abhilfe schaffen zu können.“358 Dies ist verständlich, doch können übereilte, unbedachte Verhaltensweisen - womöglich noch ohne vorherige Absprache mit dem Opfer- dazu führen, dass sich der Missbrauch intensiviert oder sich Sekundärschädigungen ergeben.359 In diesem Zusammenhang zitiert Born Ursula Enders, die im Falle eines intrafamiliären Missbrauchs davon spricht, dass eine gut geplante Interventionsarbeit durchschnittlich sieben Monate dauert.360 Entscheidet sich die Lehrkraft nach gründlicher Reflexion der genannten Phasen dazu, das Opfer zu begleiten und zu unterstützen, besteht der folgende Schritt darin, sich selbst Hilfe und Unterstützung zu holen. 354 Ebd., 1994, S. 59 Fürniss, T: 1989, S. 83 356 Born, M.: 1994, S. 59 357 Besten, B.: 1995, S. 83 358 Born, M.: 1994, S. 59 359 Vgl.: Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 116 360 Vgl.: Born, M.: 1995, S. 60 355 - 107 - 3.7.2. Sich selbst Hilfe holen Da der Begleitungsprozess äußerst kräftezehrend ist und meist weiterhin Unsicherheiten bestehen, ist es unerlässlich, Hilfe für sich selbst zu suchen. In jedem Fall empfiehlt es sich, mit einer der Beratungsstellen oder entsprechenden Berufsgruppen Kontakt aufzunehmen, welche die Lehrkraft „beraten und zusätzlich bei weiteren notwendigen Interventionsschritten unterstützen können“.361 Hiermit ist auch sichergestellt, dass der Verdacht ernst genommen und mit Besonnenheit und Erfahrung reagiert wird. Beratungsstellen existieren in beinahe allen größeren Städten. Sollte aber keine solche Stelle zur Verfügung stehen, kann sich die Lehrkraft beispielsweise an ProFamilia, den Kinderschutzbund oder auch das Jugendamt wenden. Dabei ist jedoch teilweise Vorsicht geboten, „da es u.U. eine amtsinterne Abmachung des betreffenden Amtes geben kann, bei sexuellem Mißrauch Anzeige zu erstatten“.362 Da die Erstattung einer Anzeige aber reiflicher Überlegung bedarf, sollte der Fall des betroffenen Kindes anfänglich anonym behandelt werden. Mit der Beratungsstelle sollte zunächst ein ausführliches Beratungsgespräch stattfinden, um alle Informationen, die bis dato vorliegen, zu sammeln und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Es ist hilfreich, wenn die Lehrkraft Verhaltensauffälligkeiten oder Aussagen des Opfers schriftlich dokumentiert, da sie gegebenenfalls vor Gericht eine Rolle spielen können.363 Neben dieser eher formalen Unterstützung sollte sich die Lehrperson, wenn möglich, den Kontakt zu weiteren Vertrauenspersonen im Kollegium oder im Bekanntenkreis zu suchen, um in emotionaler Hinsicht nicht allein dazustehen. Born empfiehlt hier, auch einen Schulpsychologen /eine Schulpsychologin hinzuzuziehen. 364 In jedem Fall ist darauf zu achten, nicht auf sich allein gestellt einen Interventionsversuch zu unternehmen, da dieser fast immer scheitert und eher Schaden anrichtet als dem Opfer zu nutzen. Von daher ist hier nochmals dringend die Kooperation mit einer oder mehreren Beratungsstellen anzuraten. Bange ergänzt, dass die beste Vorgehensweise in Form von Teamarbeit erfolgen kann.365 Da dies nicht immer zu verwirklichen ist, wird im Verlauf der Betrachtung weiter von einer einzelnen Lehrkraft als Hauptakteur ausgegangen. 361 Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 115 Born, M.: 1994, S. 61 363 Loc. cit. 364 Born, M.: 1994, S. 61 f. 365 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 218 362 - 108 - Wirtz-Weinrich hält dazu fest: „Letztendlich müssen Sie [die Lehrkraft H.B.] jedoch für sich selbst entscheiden, welche Ratschläge, Informationen und Interventionsschritte für Sie und ihre Situation und die des Kindes sinnvoll und akzeptabel sind.“366 Hier wird die Verantwortung und die besondere Stellung der Lehrkraft deutlich, da sie den besten Einblick in die Situation des Kindes hat und die Verantwortung für den weiteren Interventionsweg trägt. „Alle Schritte, zu denen Sie [die Lehrkraft H.B.] sich entscheiden, [...], sollten in vollem Umfang von Ihnen getragen werden können.“367 3.7.3. Kontaktaufnahme mit dem betroffenen Kind Nachdem die entscheidenden Vorbedingungen zu einer aktiven Intervention der Lehrkraft erfüllt sind, muss der Kontakt zu dem Kind hergestellt werden. Grundlage jeder Intervention ist, „den Kontakt zum Kind zu halten und es wertzuschätzen. Nur das Kind kann Auskunft über den sexuellen Mißbrauch geben.“368 Vor diesem Hintergrund sollte das Vertrauensverhältnis intensiviert und ausgebaut werden. Hierfür gilt nach Born, dass die „Frage nicht lauten darf, inwieweit die Lehrperson es schafft, an die betroffene Schülerin [den betroffenen Schüler H.B.] heranzukommen, sondern inwieweit die Lehrperson sich für die Betroffene [den Betroffenen H.B.] zugänglich machen kann“.369 Der Satz ist zentral und spielt beim weiteren Vorgehen eine große Rolle. Auf dieser Basis kann ein Rahmen geschaffen werden, in dem das Kind von dem sexuellen Missbrauch zu berichten wagt.370 Wenn das Kind in den Gesprächen genügend Vertrauen entwickelt, sich der Lehrkraft gegenüber mitzuteilen, kann es unter Umständen geschehen, dass diese von Dingen erfährt, die „sie lieber nicht wahrhaben würde“.371 Es ist möglich, dass bestimmte Äußerungen des Kindes Abwehrmechanismen bei der Lehrperson auslösen, die von einem Nichtwahrnehmen bestimmter Äußerungen bis hin zu Unglauben reichen können. Von daher führt Born „Botschaften“ auf, die den Betroffenen bei der Kontaktaufnahme vermittelt werden sollen: 366 Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 115 Ebd., 1998, S. 116 368 Ebd., 1998, S. 118 369 Born, M.: 1994, S. 63 370 Besten, B.: 1995, S. 85 371 Born, M.: 1994, S. 62 367 - 109 - - Du darfst darüber reden, - ich kenne das Problem, - ich kann dieses Problem benennen, - ich glaube Dir, was Du mir erzählst, - ich kann es ertragen zu hören, was Du erfahren hast, - du hast keine Schuld, die Verantwortung für das, was passiert ist, liegt allein beim Täter und - wir werden zusammen eine Lösung finden. 372 In Addition hierzu muss die Lehrkraft dem Kind verdeutlichen, dass keine Interventionsschritte ohne sein Wissen vollzogen werden.373 Nach Abschluss des Gesprächs, in dem das Opfer den Missbrauch offenbart hat, sollte die Lehrkraft es in jedem Fall ausdrücklich darin bestärkten, dass „es richtig war, sich ihr anzuvertrauen, daß sie froh darüber ist, daß die Betreffende [der Betreffende H.B.] soviel Mut aufgebracht hat, mit ihr so offen darüber zu sprechen“. 374 Vor dem Hintergrund des Geheimhaltungsdrucks haben die Opfer nach einem solchen Gespräch häufig Zweifel, ob sie tatsächlich das Richtige getan haben. Von daher ist die positive Bestätigung von hoher Relevanz. In der Folgezeit darf der Kontakt zu dem Kind nicht vernachlässigt werden, da sonst leicht das Gefühl aufkommen kann, die Lehrkraft meide aus Unsicherheit oder Ekel den Umgang mit dem Opfer. Born führt zudem an, dass eine weitere positive Bestätigung auch im Unterricht durch eine behutsame Thematisierung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts von Kindern möglich ist, um so nochmals zu unterstreichen, dass der Missbrauch Unrecht und das Aussprechen des Geheimnisses richtig ist.375 3.7.4. Das soziale Umfeld Bei einer Intervention und der Bewältigung des erlebten Missbrauchs kann das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle spielen. Die meisten Kinder wünschen, dass der Missbrauch beendet wird, sie aber in ihrer sozialen Umgebung verbleiben.376 372 Ebd., 1994, S. 63 Vgl.: Besten, B.: 1995, S. 84 374 Born, M.: 1994, S. 68 375 Bron, M.: 1994, S. 68 376 Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 119 373 - 110 - Im Gespräch mit dem Kind gilt es daher zu klären, zu welcher Person es ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt hat und von wem es Wertschätzung und Unterstützung erfährt. Diese Person ist, wenn möglich, in die Intervention einzubinden. So hat das Kind zusätzlich Rückhalt aus dem ihm vertrauten sozialen Umfeld. Die konkreten „Interventionsschritte stehen immer in Abhängigkeit zu der Person und der sozialen Stellung des Täters auf der einen Seite sowie der sozialen Integration des Kindes im unmittelbaren sozialen Umfeld auf der anderen Seite“.377 Von daher ist ein genaues Abwägen der Sachlage wichtig. Keinesfalls ist voreilig die Mutter oder der Vater auf den Missbrauch anzusprechen. Entstammt der Täter (wie in den überwiegenden Fällen) dem sozialen Umfeld, wird eine frühe Offenbarung des Missbrauchs den Druck auf das Kind wesentlich verstärken. 378 Zudem ist die wünschenswerte Solidarisierung der Eltern mit dem Kind häufig nicht der Fall. Die Unterstützung des Kindes durch die Mutter kann „nicht nur dann fehlen oder unzureichend sein, wenn der Vater/ Stiefvater der Täter ist, sondern auch, wenn es ein anderes Mitglied der Familie, ein Nachbar oder eine andere Person mit sozial hohem Rang ist“.379 Von einer frühen Offenbarung des Missbrauchs ist also eher abzuraten, es sei denn, die besondere Vertrauensbeziehung zwischen dem Kind und einem Erwachsenen gewährleistet dessen sinnvolle Integration in die Interventionsbemühungen. Dennoch kann ein Gespräch mit den Eltern sinnvoll sein, allerdings ohne den Missbrauch als solchen zu erwähnen. Über das Thematisieren von Lernschwächen oder Verhaltensauffälligkeiten kann auch eine „faktische Unterstützung durch die Eltern“380 erlangt werden. So sind sie aufgrund der angesprochenen Auffälligkeiten möglicherweise davon zu überzeugen, einer beraterischen oder therapeutischen Betreuung des Kindes zuzustimmen. Wirtz-Weinrich führt an, dass auch aus rechtlicher Sicht ein Eltergespräch sinnvoll sein kann, da über Verhaltensauffälligkeiten informiert und Hilfseinrichtungen benannt werden müssen, ehe eventuell weitere Interventionsschritte eingeleitet werden können. 381 Im günstigsten Fall findet sich im sozialen Nahbereich des Opfers eine Person, welche die weiteren Interventionsschritte übernimmt und für den Schutz des Kindes einsteht. In diesem Fall sollte sie über die bestehenden Hilfsangebote vor Ort informiert und an eine entsprechende Beratungsstelle verwiesen werden, die über weitere 377 Loc. cit. Vgl.: Bange, D, In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 220 379 Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 119 380 Ebd., 1998, S. 120 378 - 111 - Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen für das Kind aufklärt. Selbstverständlich sollte die Lehrkraft weiterhin als Ansprechpartner sowohl für das Kind als auch für die Eltern bzw. die Vertrauensperson zur Verfügung stehen und den Prozess weiter begleiten. 3.7.5. Zusammenarbeit mit den Institutionen Der ungünstige aber häufige Fall ist der, dass keine Unterstützung aus dem sozialen Umfeld des Kindes zu erwarten ist. Hier muss die Lehrkraft alle weiteren Interventionsschritte in Absprache mit dem Kind und in enger Kooperation mit der Beratungsstelle sowie anderen Institutionen aus dem psychosozialen Bereich einleiten. Wirtz-Weinrich gibt die Empfehlung, den „Namen des Kindes bei den verschiedenen Einrichtungen zunächst nicht zu nennen und sich anonym Hilfe und Rat“382 zu suchen, damit das weitere Vorgehen der Kontrolle der Lehrkraft unterliegt. „Nur so ist es möglich, das Kind vor inadäquaten Interventionsschritten zu schützen, sich selber keinen sozialen Sanktionen auszuliefern (z.B. Schulleitung) und/ oder einer Verleumdungsklage auszusetzen.“383 Hier wird abermals deutlich, welch hohen Grad an Sensibilität dieses Thema erfordert und wie viel Vertrauen zwischen den Beteiligten herrschen muss, um eine angemessene Intervention leisten zu können. Besonders hinzuweisen ist hier auf die enorme Verantwortung, die auf der Lehrkraft lastet. Zwar erfährt sie vor allem durch Beratungsstellen Rat und Hilfe, dennoch ist die emotionale Belastung extrem hoch. Vor diesem Hintergrund sollte auch die Arbeit mit den Institutionen immer mit Blick auf das Kindeswohl gestaltet werden. Grundsätzlich stehen folgende Institutionen zur Verfügung: - spezialisierte Beratungsstellen - Kinderschutzbund - Erziehungsberatungsstellen - Schulpsychologischer Dienst - Jugendamt 381 Ebd., 1998, S. 120 Ebd., 1998, S. 121 383 Loc. cit. 382 - 112 - Beim Erstkontakt ist zunächst zu erfragen, ob die jeweilige Institution Erfahrung im Umgang mit Opfern sexuellen Missbrauchs hat und sie einer freiwilligen oder gesetzlichen Schweigepflicht unterliegt. Erst wenn der Eindruck besteht, dem Kind könne adäquat geholfen werden, ist ein Termin zu vereinbaren.384 Ein Kontakt zum Jugendamt kann in Kooperation mit der Beratungsstelle erfolgen, da diese ohnehin meist mit der Behörde zusammenarbeitet. Mit dem Jugendamt wird dann erörtert, ob eventuell gegen die Familie bereits Hinweise auf eine Missbrauchsvermutung vorliegen. Dennoch ist auch der Behörde gegenüber Vorsicht geboten385, da sie „nicht nur eine Beratungseinrichtung ist, sondern auch eine Eingriffsinstitution, die bei mangelnder Erfahrung und Kenntnis auch verfrüht bzw. falsche Interventionsmaßnahmen einleiten könnte“.386 Grundsätzlich macht das Jugendamt folgende Angebote387: - informell, indem der/die zuständige Sozialarbeiter(in) die Familie unterstützen bzw. die Unterstützung durch andere Institutionen und Organisationen vermitteln und koordinieren kann, - formell, indem eine allgemeine Erziehungsbeistandsschaft zugeordnet werden kann, - durch Herausnahme des Kindes aus der Familie und Unterbringung im Heim bzw. bei Pflegeeltern. In extremen Fällen kann auch eine Kinder- oder Jugendpsychiatrie kontaktiert werden. Dabei gilt immer, das Kind über die Schritte altersgerecht zu informieren, seine Bedenken ernstzunehmen und die getroffenen Entscheidungen zu begründen. 3.7.6. Fremdunterbringung Die Frage nach einer Fremdunterbringung des Kindes stellt sich laut Wirtz-Weinrich erst, sobald sich das Kind konkret über einen intrafamiliären Missbrauch geäußert hat oder andere massive Gründe eine Herausnahme aus der Familie erforderlich machen.388 Diese Maßnahme sollte jedoch erst dann erfolgen, wenn einer der beiden Gründe zutrifft und es 384 Vgl.: Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 121 Vgl.: Bange, D.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 219 386 Ebd., 1998, S. 122 387 Loc. cit. 385 - 113 - für den weiteren Lebensweg des Kindes unverantwortlich wäre, es in der Familie zu belassen. Zudem müssen mit Jugendamt und Beratungsstellen die formalen Voraussetzungen für eine Fremdunterbringung geklärt sein. Für das Kind stellt ein solches Vorgehen meist eine Situation dar, mit der es kaum umgehen kann. Die Gründe für die Entscheidung sind dem Kind darzulegen und genau zu erklären. Zusätzlich bedarf es der Betreuung durch gut ausgebildetes Fachpersonal. Die Herausnahme aus der Familie kann auch temporär begrenzt erfolgen, um das Kind zu schützen und/oder therapeutische Maßnahmen zu ermöglichen. Familientherapeutische Hilfsangebote werden jedoch kaum realisiert, „da die wenigsten Täter/ Täterinnen bereit sind, diese anzunehmen“.389 Es ist am günstigsten, wenn bereits im Vorfeld eine Vertrauensperson des Kindes aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld (bspw. die Tante, Großmutter) in die Intervention einbezogen werden kann und die Möglichkeit einer Unterbringung eröffnet. Hier muss jedoch der Schutz vor dem Täter sichergestellt sein.390 3.7.7. Strafanzeige Grundsätzlich gilt, dass sexueller Missbrauch ein Offizialdelikt ist und nicht der Anzeigepflicht unterliegt. Dennoch kann eine einmal erstattete Anzeige nicht mehr zurückgezogen werden. Von daher sollte eine Anzeige nur dann erfolgen, wenn gesichert ist, dass dies im Interesse des Kindes liegt. Um zu klären, inwiefern die Beweislage ausreicht, um den Täter eindeutig zu überführen, ist die vorhergehende Absprache mit einer erfahrenen Rechtsanwältin/ einem erfahrenen Rechtsanwalt unabdingbar.391 „Ein Verfahren, das wegen Mangels an Beweisen eingestellt wird, ist nicht nur für das Kind belastend, sondern bietet evtl. auch dem Täter die Chance, das Kind weiter ungehindert zu mißbrauchen.“392 Insgesamt sollte das Opfer bei entsprechendem Reifegrad selbst über eine Anzeige entscheiden können. Wenn dies nicht der Fall ist, muss dringend bedacht werden, dass eine Zeugenaussage vor Gericht, wie sie noch immer gang und gäbe ist, eine extrem hohe Belastung für das Opfer darstellt und zu schweren Sekundärschädigungen führen kann. 388 Vgl.: Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 121 Ebd., 1998, S. 123 390 Loc. cit. 391 Vgl.: Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 123 392 Ebd., 1998, S. 124 389 - 114 - 3.7.8. Sexuelle Übergriffe zwischen Kindern und Jugendlichen In den Grundlagen dieser Arbeit wurde in Kapitel 2.2.3. ausgeführt, dass auch sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen vorkommt, und dies sogar in einem sehr ernstzunehmenden Ausmaß. Daher ist es gut möglich, dass sich im Schulalltag Situationen ergeben, in denen ein solcher Missbrauch deutlich wird. Zum einen kann dies, wie bereits ausgeführt, durch Übergriffe in der ,Schulöffentlichkeit’ geschehen, zum anderen eher versteckt und heimlich. Zum ersten Fall zählen typische Überlegenheitsdemonstrationen der Jungen, wie beispielsweise eine vulgarisierte Sprache oder „Mädchenfangen“. Diese Verhaltensweisen werden von den Lehrkräften häufig nicht wahr- oder ernstgenommen, auch wenn sie sich für „Mädchen als Übergriffe“393 darstellen können. Von daher ist es wichtig, genau hinzusehen, da die Grenzen zwischen „Spiel“ und Übergriff fließend sind und je nach Persönlichkeitsstruktur anders erlebt werden. Wie in Kapitel 3.5.2. angesprochen, kann dem eine adäquate Geschlechtsrollenerziehung entgegenwirken. Anders verhält es sich mit der zweiten Form sexualisierter Gewalt, die heimlich geschieht. Diese gleicht in ihrer Dynamik häufig der des Missbrauchs durch Erwachsene und die Folgen stehen dem in nichts nach. Auch die Strategien sind oft vom Prinzip her gleich.394 Die Intervention ist hier allerdings eine gänzlich andere. Wirtz-Weinrich geht davon aus, dass es sich bei Missbrauchshandlungen unter Kindern und Jugendlichen nicht um Täter und Opfer, sondern um zwei Opfer handelt.395 Das Kind, das missbraucht wird, erlebt diesen Missbrauch ähnlich dem durch eine erwachsene Person. Ihm sollte in jedem Fall größtmögliche Unterstützung zuteil werden. Der vermeintliche Täter bzw. die Täterin ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst Opfer einer Missbrauchshandlung oder hat Traumata während der Primärsozialisation erlebt. Wenn der Verdacht besteht, dass die Eltern ihr (Täter-)Kind missbrauchen, gilt auch hier, dass sie keinesfalls mit dem Verdacht konfrontiert werden sollten. Ein solches Kind braucht statt einer Strafe viel eher die Hilfe einer spezialisierten Beratungsstelle.396 393 Loc. cit Vgl.: Romer, G.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 271 395 Vgl.: Wirtz-Weinrich, W.: In: Ulonska, H./ Koch, H.: 1998, S. 125 396 Loc. cit. 394 - 115 - 3.8. Missbrauch in der Schule Die Betrachtungen zum Verhalten der TäterInnen in Kapitel 2.2.5. verdeutlichen, dass eine ihrer Strategien beispielsweise darin bestehen kann, sich gezielt in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern zu betätigen, um an Kinder ,heranzukommen’. Vor diesem Hintergrund wäre die bisherige Thematisierung des sexuellen Missbrauchs, der präventiven Inhalte, der Erziehungshaltungen und der Interventionsschritte unvollständig, würde die Schule als Ort, an dem sexueller Missbrauch stattfinden kann, ausgeklammert. Um sich diesem sensiblen Bereich zu nähern, werden die Ausführungen von Enders zugrunde gelegt, die sich allgemein auf den Missbrauch in Institutionen beziehen. 397 Die Autorin legt dar, dass die sexuelle Ausbeutung in Institutionen kein ,zufälliges’ Geschehen, sondern das Resultat eines strategischen Vorgehens ist. Um leichter mit potentiellen Opfern in Kontakt zu kommen, engagieren sich die TäterInnen häufig haupt- oder nebenberuflich in pädagogischen Handlungsfeldern, so beispielsweise auch als LehrerInnen. Dabei nutzen sie gezielt die institutionellen Strukturen, um sich ein Umfeld zu schaffen, das den Missbrauch denkbar gut verdeckt. Dazu eignen sich besonders jene Institutionen, „deren institutionelle Identitäten sich stark von denen vergleichbarer Einrichtungen abgrenzen, und die sich im besonderen Maße um ihren guten Ruf sorgen“.398 Ebenso eignen sich aus Sicht der TäterInnen jene Institutionen, in denen besonders autoritäre Strukturen herrschen und starke persönliche Abhängigkeiten bestehen. Solche Abhängigkeitsstrukturen wissen TäterInnen für sich zu nutzen. Andererseits führen gerade auch diffuse Strukturen mit einer unzureichenden Trennung zwischen fachlichem und persönlichem Kontakt zu einer erschwerte Aufdeckung des verübten Missbrauchs. Je klarer und transparenter die Strukturen sind, desto eher wird ein sexueller Übergriff aufgedeckt. Bei ihrem Vorgehen verfügen die TäterInnen über ein breites Repertoire an Möglichkeiten, die Wahrnehmung ihrer Umwelt zu vernebeln. Diese decken sich im Wesentlichen mit den in Kapitel 2.5.5.1 genannten, doch sollen einige hier exemplarisch angeführt werden: - Nicht selten stellen sich MissbraucherInnen als Kinderschützer dar und empören sich in Gesprächen und Fachdiskussionen über sexuellen Missbrauch an Kindern. - Missbrauchshandlungen werden in alltägliche Abläufe integriert (bspw. Hilfestellung beim Sportunterricht). 397 398 Vgl.: Enders, U.: In: Bange, D./ Körner, W.: 2002, S. 202 Ebd., 2002, S. 203 - 116 - - Sie bieten nichtsahnenden Eltern, Kolleginnen und Kollegen eine besondere Förderung der Kinder an. - Es werden persönliche Abhängigkeiten geschaffen, zum Beispiel, indem fachliche Fehler der KollegInnen gedeckt werden oder den Eltern Sonderrechte eingeräumt werden. Dies sind nur einige der Möglichkeiten, mittels derer Verdachtsmomente des Umfeldes minimiert werden. In jedem Fall sind sie häufig von enormer Wirkung und lassen den Täter als sozial engagierten Menschen erscheinen. Schafft ein Kind es tatsächlich, das Schweigen zu brechen und den Missbrauch auszusprechen, so bietet die „vernebelte“ Wahrnehmung des Umfeldes den TäterInnen einen guten Schutz, denn dem Opfer wird in den meisten Fällen nicht geglaubt. Die Auswahl und die Kontaktaufnahme mit den potentiellen Opfern verläuft generell wie im Kapiteln 2.2.5.1. beschrieben, allerdings sind auch hier Auffälligkeiten und Besonderheiten hervorzuheben. Zunächst sind TäterInnen in aller Regel über den genauen Tagesablauf der potentiellen Opfer informiert, und es kostet sie nur geringe Mühe, Situationen zu schaffen, in denen sie mit dem jeweiligen Kind allein sein können. „Sie bieten z.B. Kolleginnen und Kollegen an, entgegen den Dienstvorschriften Dienst alleine zu übernehmen (‚Du kannst doch schon früher Feierabend machen.’).“399 Zudem werden PädagogInnen im Rahmen ihrer Ausbildung darin geschult, Kinder zur Durchführung bestimmter Tätigkeiten zu motivieren. Täter nutzen diese Handlungskompetenz systematisch zur Durchsetzung ihrer Interessen aus. Vor diesem Hintergrund sollen nun die Reaktionsweisen der Institution bei einem vermuteten Missbrauch und bei einem erwiesenen Missbrauch beleuchtet werden. 3.8.1. Reaktionsweisen bei vermutetem sexuellen Missbrauch In der Reaktionsweise der Institutionsmitglieder auf einen Verdacht des sexuellen Missbrauchs durch KollegInnen spiegeln sich häufig falsche Vorstellungen über die Fakten des Tatbestandes wider. So erscheint es abwegig, einen engagierten und kinderlieben Pädagogen zu verdächtigen, ebenso wie das Täterbild „Frau“ noch immer kaum wahrgenommen wird. 399 Ebd., 2002, S. 205 - 117 - Den Mitgliedern fällt es „ungleich schwerer, sexuelle Gewalt im eigenen Rahmen wahrzunehmen als außerhalb der eigenen unmittelbaren Lebenswelt“.400 TäterInnen verstärken dies noch durch strategisch gestreute Alternativerklärungen für missbräuchliche Situationen oder Auffälligkeiten der betroffenen Kinder. Insgesamt haben Institutionen nur eine geringe Chance, einen Missbrauchsfall in den eigenen Reihen ohne professionelle Hilfe von außen aufzuklären. Wird dennoch ein Verdacht geäußert, ist unter Kolleginnen und Kollegen oftmals eine Spaltung zu beobachten: „Einige nehmen die Vermutung ernst und fordern eine Abklärung der Verdachtsmomente, andere bewerten die Vermutung von vorn herein als den Versuch einer ‚Rufmordkampagne’ und versuchen diese sofort ‚im Keime zu ersticken’. Sie legen für die verdächtige Person ‚die Hand ins Feuer’ und sind um den Ruf der Institution besorgt und erleben die Vorstellung, selbst einmal des Missbrauchs beschuldigt zu werden, als sehr beängstigend.“401 Nicht selten wird der Person, die den Verdacht geäußert hat, versuchte Verleumdung vorgeworfen und nicht nur sie, sondern auch das Kind gemobbt. Häufig verlassen diese in den Focus geratenen Personen die Institution. So ist es nicht verwunderlich, dass institutionsinterner Missbrauch, wenn überhaupt, so von denjenigen aufgedeckt wird, die entweder nicht mehr oder noch nicht fest in die Strukturen eingebunden sind. 3.8.2. Reaktionsweisen bei erwiesenem Missbrauch Bisher war festzustellen, dass sich Institutionen bei erwiesenem Missbrauch meist eher ihrem Ruf als dem Kindeswohl verpflichtet fühlen. „Nach dem Motto ‚Das darf doch nicht wahr sein!’ versuchen sie, ‚die Angelegenheit diskret zu lösen’, - z.B. durch ‚ein klärendes Gespräch’ zwischen Täter und Opfer.“402 Bestenfalls werden die TäterInnen aus krankheitsbedingten Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Häufig findet jedoch nur eine Versetzung an einen anderen Standort statt. In konkreten Einzelfällen bemühen sich die Institutionen zunehmend um eine offensive Aufdeckung des Geschehens, doch werden dabei schwerwiegende Auswirkungen der Aufklärungsversuche auf die Teamdynamik deutlich. 400 401 Ebd., 2002, S. 206 Ebd., S. 206 f. - 118 - Charakteristisch für diese Dynamik sind beispielsweise nach Enders: - eine Spaltung des Teams, da einige Mitglieder den Missbrauch glauben, andere ihn sich jedoch nicht vorstellen können, - die Resignation einiger KollegInnen im Hinblick auf den Umgang mit dem Thema sexuellen Missbrauchs, da es ihre persönlichen Grenzen übersteigt, - der Verlust des Vertrauens in die eigene professionelle Kompetenz und in die Institution, - das Bemühen, die Krise begrenzt und möglichst institutionsintern zu behandeln, - die Vernachlässigung der Hilfe für das Opfer, die Kindergruppe, die Eltern etc. Insgesamt wird hier offenbar, wie diffizil der Umgang mit sexuellem Missbrauch in Institutionen ist und wie sehr ein solches Ereignis das Selbst- und Weltbild zu zerstören vermag. Dies gilt auch und besonders für die in jüngster Zeit bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern in Kirchenkreisen und karitativen Einrichtungen, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann. In jedem Falle ist professionelle, institutionsferne Hilfe im Umgang mit Verdacht und eventueller Aufdeckung zu fordern. Zudem haben besonders die Eltern einen hohen Bedarf an Information. Geschieht dies nicht, kann es leicht zu einer öffentlichen Skandalisierung kommen, da Eltern immer wieder versuchen, ‚durch die Einschaltung von Presse Druck zu machen, damit endlich mal was passiert’. 4.0. Schlussbetrachtung Grundsätzlich muss konstatiert werden, dass es bei allem Bemühen um eine erfolgreiche präventive Aufklärungsarbeit in der Schule nie gelingen wird, den Tatbestand sexuellen Missbrauchs völlig zu eliminieren. Zum einen sind die Strategien der MissbraucherInnen sind zu komplex, als dass Kinder sie durchschauen und aktiv dagegen vorgehen könnten, zum anderen ist die emotionale - bei intrafamiliärem Missbrauch auch die materielle - Abhängigkeit oft so groß, dass ein Kind kaum die Chance hat, seine Opfersituation von sich aus zu beenden. Hinzu kommt die gesellschaftliche Situation, die durch Ignoranz gegenüber der Thematik sexuellen Missbrauchs dazu beiträgt, TäterInnen eher zu decken als zu ächten. Zudem 402 Ebd., 2002, S. 207 - 119 - bildet die Sozialisation in der Schule und in der Gesellschaft leider noch immer den Nährboden einer geschlechtsstereotypen Entwicklung des Kindes. Allerdings wecken die Präventionsbemühungen auch begründete Hoffnungen, sofern sie kontinuierlich und unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten angewandt werden. Bei Kindern bewirkt die präventive Aufklärung in der Schule eine Wissenssteigerung präventionsrelevantenrelevanter Inhalte und kann das Selbstbewusstsein stärken. Ob Präventionsprogramme tatsächlich je einen Missbrauch verhindert haben, kann nicht ermessen werden. Dennoch ist ein selbstsicheres Kind, das sich nicht bedingungslos Anweisungen Erwachsener fügt, ein weiniger geeignetes Opfer. Ein weiteres wichtiges Ergebnis präventiver Aufklärung ist die aufdeckende Wirkung, die sie erzielt. Dennoch sind viele Anforderungen und Voraussetzungen größtenteils noch nicht erfüllt. So ist vor allem die Aus-, Fort- und Weiterbildung von PädagogInnen zu nennen, die noch immer nicht auf das tatsächliche Ausmaß des Missbrauchs und die Verantwortung der Schule abgestimmt ist. Eine feste Verankerung präventiver Inhalte ist bislang leider kaum auszumachen. Noch immer liegt es in der Eigeninitiative einzelner Lehrkräfte als Helfer aktiv zu werden. Hier ist die Sozial- und Bildungspolitik gefordert, um eine flächendeckende Auseinandersetzung mit diesem Thema zu ermöglichen und es in die Curricula der Schulen einzubinden. Ein weiterer Punkt, der unbedingt erwähnt werden muss, ist die Tatsache, dass Missbrauch durchaus in pädagogischen Arbeitsfeldern, also auch der Schule geschieht. Durch möglichst transparente Strukturen und Aufklärung über dieses Thema kann der Umgang mit dieser Gefahr erleichtert werden. Grundsätzlich gilt für jeden sexuellen Missbrauchsfall: Je genauer die Fakten und Forschungsergebnisse über den Tatbestand der Gesellschaft bekannt sind, desto eher kann eine wirkungsvolle Prävention gelingen. - 120 - Zum Schluss aller Ausführungen soll hier noch einmal das Opfer, das eingangs zu Worte kam, zitiert werden: „Als ich mich mit 14 Jahren in meiner Notlage meiner Oma anvertraute, hat sie mich zu einer Beratungsstelle gebracht und damit wohl instinktiv richtig gehandelt, da die Helfer dort sehr behutsam und geschult mit mir umgegangen sind. In meiner Schule hätte keiner so recht gewusst, wie er mit der Thematik umgehen soll. Ich hätte da auch nie mit jemandem gesprochen. In meinem Fall hätte Prävention wohl schon sehr früh stattfinden müssen – und unter den Umständen meiner ersten Lebensjahre bezweifle ich, dass sie den Missbrauch verhindert hätte. Ich weiß nicht, ob ich mein Schweigen gebrochen hätte, wenn ich überhaupt z. B. im schulischen Rahmen über sexuellen Missbrauch aufgeklärt worden wäre, gewusst hätte, dass ich nicht die Einzige bin, gewusst hätte, dass es Hilfe gibt. Aber ich weiß, dass es mir sehr geholfen hätte, wenn zumindest die Lehrer Wissen im Umgang mit Opfern sexuellen Missbrauchs gehabt hätten. Das alles ist jetzt über 10 Jahre her – und daher ist es für mich absolut unverständlich, dass sich die Situation an unseren Schulen nicht im Geringsten verändert hat.“403 403 Mitteilung von ‚Sasita’ (Pseudonym), Opfer sexuellen Missbrauchs, Mitteilung in Form einer E-Mail am 01.12.2004. - 121 - 5.0. Literatur- und Quellenverzeichnis Ahn, Helen/ Gilbert, Neil: Kulturelle und ethnische Faktoren bei der Prävention sexueller Kindesmißhandlung. In: Marquardt-Mau, Brunhilde (Hrsg.): Schulische Prävention gegen sexuelle Kindesmisshandlung. Grundlagen, Rahmenbedingungen, Bausteine und Modelle. (München: Juventa, 1995). 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