Weiterleben oder sterben?

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Weiterleben oder sterben?
1
Einleitung
Es war ein sonniger Nachmittag im Jahre 2001, als ich einen Radiosprecher
hörte, der über die Neuregelung des Zutritts von Suizidbeihilfeorganisationen in
Stadtzürcher Alters- und Krankenheimen berichtete und mit Bewohnern1 eines
Altersheimes über diese Thematik sprach. Dieselbe Neuregelung wurde noch im
Jahre 2001 vom Zürcher Regierungsrat verabschiedet (Stadtrat Zürich, 2000).
Die eingespielten Äußerungen der Interviewten riefen Erinnerungen an Patienten in mir hervor, die mir gegenüber während meiner Berufstätigkeit als
Pflegende Gedanken äußerten, nicht mehr weiterleben zu wollen, und ihr Weiterleben infrage stellten. Ich fragte mich, woher das Interesse kommt, durch
Suizidbeihilfe sterben zu können, und was die Beweggründe von Menschen sind,
die in der Schweiz leben und erwägen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, und dies
auch tun. Diese Vorgeschichte gab den Anstoß für die vorliegende Forschung. Es
interessierte mich, was Leidende in der Schweiz dazu bringt, nicht länger am
Leben bleiben bzw. weiterleben zu wollen. Dabei ging es mir nicht um die Abwägung des Für und Wider der Suizidbeihilfe, sondern darum, das subjektive
Erleben solcher Menschen zu erschließen und ihre Entscheidungsprozesse zu
ergründen. Ich wollte die Stimmen dieser Menschen in den Mittelpunkt der
gesellschaftlichen Diskussion über die Suizidbeihilfe stellen.
Die vorliegende Untersuchung präsentiert die Ergebnisse bzw. eine substantive Theorie über die Prozesse physisch chronisch Kranker Menschen bei
ihrer Entscheidung darüber, weiterleben oder sterben zu wollen. Um dem Leser
einen Einblick in den Kontext der Untersuchung zu geben, wird zuerst auf
allgemeine Entwicklungen im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten
eingegangen. Daran anschließend werden untersuchungsrelevante Begrifflichkeiten wie die Sterbehilfe (Euthanasie), ärztlich assistierter Suizid (physician
assisted suicide/PAS) sowie die Beihilfe zum Suizid erläutert und aufgezeigt, in
1 Für alle Personen wird die männliche Form gewählt, die immer auch für weibliche Angehörige
der angesprochenen Population gilt, soweit nicht eine Spezifizierung der Geschlechter aus
sachlichen Gründen erforderlich ist.
28
Einleitung
welchen Ländern diese Formen der Lebensbeendigung gegenwärtig rechtlich
erlaubt sind. Mit Blick auf den Untersuchungskontext »Schweiz« wird dargelegt,
welche Suizidbeihilfeorganisationen existieren, welche Entwicklungen rund um
die Palliative Care und die Suizidbeihilfe laufen und was die Gründe dafür sind,
sich aus der Sicht der klinischen Pflege und der Pflegewissenschaft mit Leidenden zu befassen, die durch Suizidbeihilfe sterben wollen oder sich für das
Weiterzuleben entscheiden.
1.1
Allgemeine Entwicklungen im Zusammenhang mit
chronischen Krankheiten
Wie andere Gesundheitssysteme ist auch das Schweizerische Gesundheitswesen
mit der Hochaltrigkeit, der Zunahme chronisch Kranker, mit Multimorbidität
und neuen Krankheiten konfrontiert. Ab dem Jugendalter häufen sich chronische Gesundheitsprobleme, was Versorgungsbedürfnisse aufseiten Kranker
sowie deren Bezugspersonen auslöst, Fragen nach dem Umgang mit dem Umstand chronischen Krankseins aufwirft und die Gesundheitskosten steigen lässt
(Meyer, Kickbusch, Weiss et al., 2009). Unter dem Begriff chronische Krankheit
verstehen Curtin & Lubkin (2002: S. 26) »[…]das irreversible Vorhandensein
bzw. die Akkumulation oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder
Schädigungen […]«. Dieses Verständnis liegt auch der vorliegenden Arbeit
zugrunde, wenn die Rede von physisch chronisch Kranken ist. Zu den in Europa
häufig vorkommenden chronischen Krankheiten gehören Herz- und Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Krankheiten des Verdauungssystems
und der Atemwege, psychische entzündliche und degenerative Krankheiten
sowie Krankheiten der Sinnesorgane (Weltgesundheitsorganisation, 2010).
Chronisch Kranken erfahren diverse physische, emotionale und soziale Verluste.
Neben Verlusten körperlicher Funktionen, Beziehungsverlusten, Verlusten der
autonomen Lebensführung oder Verlusten in Bezug auf den eigenen Lebensentwurf kommt es zu Rollen- und Identitätsverlusten, Aktivitätsverlusten oder
zu Einbußen an erfreulichen Emotionen (Ahlström, 2007). Die Erfahrung zeigt,
dass etliche chronisch Kranke weiterleben wollen und dass sie um ihr Weiterleben kämpfen. Gegensätzlich dazu zeigen Erfahrungen mit unheilbar Kranken
sowie wissenschaftliche Erkenntnisse, dass es allerdings auch chronisch Kranke
gibt, die Gedanken entwickeln, nicht mehr weiterleben zu wollen, und deshalb
suizidgefährdet sind (Robson, Scrutton, Wilkinson et al., 2010). Diverse Forschungen (siehe Kapitel 3) sowie die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung belegen darüber hinaus, dass sich unter physisch chronisch Kranken
Erklärungen zu untersuchungsrelevanten Begrifflichkeiten
29
auch solche finden, die sich dafür interessieren, ihr Leben durch Suizidbeihilfe,
ärztlich assistierten Suizid oder Sterbehilfe zu beenden.
1.2
Erklärungen zu untersuchungsrelevanten Begrifflichkeiten
Zum besseren Verständnis werden im Folgenden die Begriffe der Sterbehilfe, des
ärztlich assistierten Suizids und der Beihilfe zum Suizid erklärt. Da es in dieser
Untersuchung um die Beihilfe zum Suizid und nicht um die verschiedenen
Formen der Sterbehilfe geht, erfolgt zu Letzteren keine Begriffsklärung. Die
European Association for Palliative Care (EAPC) empfiehlt zur Klärung der
Begriffe Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid die in Abbildung 1 dargestellten Definitionen (Materstvedt, Clark, Ellershaw et al., 2003).
– »Euthanasia is killing on request and is defined as a doctor intentionally killing a
person by the administration of drugs, at that person’s voluntary and competent
request.« (Materstvedt et al., 2003, S. 98).
– »Physician-assisted suicide is defined as a doctor intentionally helping a person to
commit suicide by providing drugs for self-administration, at that person’s voluntary
and competent request.« (Materstvedt et al., 2003, S. 98).
Abbildung 1: Begriffsdefinitionen zur Sterbehilfe und zum ärztlich assistiertem Suizid
In der Literatur sind nicht nur die obigen Begriffsbestimmungen zu finden,
sondern weitere, sich voneinander unterscheidende Definitionen (siehe Abbildung 2).
– »Der Begriff der Sterbehilfe bezeichnet Handlungen und Unterlassungen, welche in
Kauf nehmen oder zum Ziel haben, möglicherweise oder sicher die Lebensspanne
eines auf den Tod kranken Menschen zu verkürzen bzw. den Tod herbeizuführen.«
(Bosshard, 2005, S.193).
– »Euthanasia is a deliberate intervention or omission with the express intention of
hastening or ending an individual’s life, to relieve intractable pain or suffering.«
(Sanders & Chaloner, 2007, S. 42).
Abbildung 2: Weitere Definitionen zur Sterbehilfe
Die obige Definition von Bosshard lässt die Interpretation zu, dass der Tod bei
der Sterbehilfe quasi die unbeabsichtigte Folge eines Behandlungsverzichts oder
eine Begleiterscheinung einer medizinisch palliativen Behandlung ist. In der
Definition der Euthanasie von Sanders & Chaloner wird hingegen nicht auf den
Tod eingegangen, sondern auf die beabsichtigte Lebensverkürzung im Kontext
der Leidensbeendigung. Was unter der in der Schweiz praktizierten Beihilfe zum
Suizid, auch Suizidbeihilfe genannt, verstanden wird und in der vorliegenden
Untersuchung von Relevanz ist, verdeutlichen die aus dem Schweizer Kontext
stammenden Begriffsdefinitionen in Abbildung 3.
30
Einleitung
– »Beihilfe zum Suizid heißt, einem urteilsfähigen Menschen, der seinem Leben ein
Ende setzen möchte, die dafür erforderlichen Mittel zu beschaffen. Bei Patienten in
der Terminalphase unterscheidet sich Beihilfe zum Suizid von der aktiven (vom
Patienten gewünschten) Sterbehilfe dadurch, dass der Patient fähig sein muss, sich
das todbringende Mittel selbst an den Mund zu führen und zu schlucken (oder zu
spritzen).« (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner
SBK, 2005, S. 1).
– »Unter ärztlicher Beihilfe zum Suizid wird der Sachverhalt verstanden, dass ein Arzt
einem Patienten eine tödliche Substanz verschreibt oder anderweitig zur Verfügung
stellt mit dem Ziel, diesem die Selbsttötung zu ermöglichen.« (Bosshard, 2012,
S. 183).
Abbildung 3: Begriffsdefinitionen zur Beihilfe zum Suizid
Im Gegensatz zur Sterbehilfe ist den Definitionen zum ärztlich assistierten
Suizid oder der Beihilfe zum Suizid zu entnehmen, dass Sterbewilligen in solchen Fällen von Ärzten ein Rezept für ein tödliches Substrat ausgestellt wird und
Informationen zu dessen Verwendung bzw. über eine zum Tode führende
Handlung vermittelt werden. Die Verabreichung des tödlichen Substrates muss
durch den Sterbewilligen selbst erfolgen, das heißt, ohne Einwirkung von Außenstehenden. Im Unterschied zur Sterbehilfe führt beim ärztlich assistierten
Suizid oder bei der Beihilfe zum Suizid somit der Sterbewillige die lebensbeendende Handlung selbst aus.
1.3
Länder, in denen Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid und
(ärztliche) Beihilfe zum Suizid legal sind
Zu den Ländern, in denen die Sterbehilfe sowie ärztlich assistierter Suizid unter
Einhaltung bestimmter gesetzlicher Sorgfaltskriterien erlaubt sind und deshalb
keine Strafverfolgung nach sich ziehen, zählen seit 2001 die Niederlande, seit
2002 Belgien und seit 2009 Luxemburg (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦
& MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010). In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid unter Erfüllung
bestimmter Voraussetzungen straffrei (Schweizerisches Strafgesetzbuch, 1937).
In den Vereinigten Staaten von Amerika ist seit 1997 im Bundesstaat Oregon und
seit 2008 im Bundesstaat Washington unter bestimmten Bedingungen ausschließlich der ärztlich assistierte Suizid gesetzlich erlaubt (The Oregon Public
Health Division, 2013; Washington State Legislature, 2008). Im Bundesstaat
Montana gibt es weder verfassungsrechtlich ein Recht auf ärztlich assistierten
Suizid noch existiert ein Gesetz oder ein richterliches Urteil, welches ärztlich
assistierten Suizid verbietet. Es gibt allerdings den Fall Baxter vs. Montana aus
dem Jahr 2008, wo eine Richterin aufgrund des verfassungsrechtlich zugesicherten Rechts auf individuelle Würde und dem verfassungsrechtlich zugesi-
Länder, in denen Sterbehilfe legal ist
31
cherten Recht auf Schutz der Privatsphäre zu dem Schluss kommt, dass urteilsfähige terminal Kranke ein verfassungsrechtlich begründetes Recht besitzen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, und sich dabei der Hilfe
eines Arztes bedienen dürfen (Montana First Judicial District Court Lewis and
Clark County, 2008).
Die gesetzlichen Bestimmungen und Verfahren, unter denen die Sterbehilfe
und der ärztlich assistierte Suizid straffrei bleiben, sind in den zuvor genannten
Ländern und amerikanischen Bundesstaaten unterschiedlich geregelt. In Ländern, in denen die Sterbehilfe oder der ärztlich assistierte Suizid zugelassen sind,
zählt zu den rechtlichen Voraussetzungen häufig, dass der Patient volljährig oder
ein emanzipierter Minderjähriger sein muss und sie oder er urteilsfähig,
handlungsfähig und bei Bewusstsein ist (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦
& MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; The Oregon Public Health Division,
1994; Washington State Legislature, 2008). Die Gesuche müssen freiwillig sein,
ohne Druck von Außenstehenden zustande kommen, wohlüberlegt sein, wiederholt erfolgen und schriftlich formuliert werden (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre
de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige
Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington
State Legislature, 2008). Der Patient muss sich in einem medizinisch aussichtslosen Zustand befinden und ein durch eine ernsthafte, unheilbare
Krankheit oder einen Unfall verursachtes anhaltendes, unerträglich physisches
oder mentales Leiden aufweisen, welches nicht gelindert werden kann (Kidd &
Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; Washington State Legislature,
2008). In Oregon und Washington wird ausdrücklich eine terminale Krankheit
vorausgesetzt, worunter eine unheilbare, irreversible Krankheit verstanden
wird, die aller Voraussicht nach innerhalb von sechs Monaten zum Tode führt
(The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008).
Der Arzt muss den Patienten über den aktuellen medizinischen Gesundheitszustand, seine Prognose und Lebenserwartung informieren und mit dem Patienten über das Gesuch um Sterbehilfe, über therapeutische und palliative
Möglichkeiten und deren Konsequenzen sprechen (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre
de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009; Ministerium für auswärtige
Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington
State Legislature, 2008). Dies schließt auch Informationen über mögliche Risiken und das zu erwartende Ergebnis bei Einnahme des tödlichen Substrats ein
(The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008).
Der involvierte Arzt muss mit dem Patienten zum Schluss kommen, dass für die
Situation des Patienten keine annehmbare Alternative existiert, das Gesuch
freiwillig erfolgt und dass das physische oder psychische Leiden beständig andauert (Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦
32
Einleitung
sociale, 2009; Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon
Public Health Division, 1994). Zudem muss der behandelnde Arzt einen anderen
Arzt hinsichtlich der Feststellung der Unheilbarkeit der Krankheit seines Patienten und dessen Beweggründen für das Gesuch nach Sterbehilfe konsultieren
(Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009;
Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010; The Oregon Public Health
Division, 1994; Washington State Legislature, 2008), wobei der konsultierte Arzt
den Patienten ebenfalls untersuchen und von der Dauerhaftigkeit, Unveränderlichkeit und Unerträglichkeit des Leidens überzeugt sein muss. Auch das
involvierte Pflegepersonal und die Vertrauenspersonen sind bei Einverständnis
des Sterbewilligen über dessen Gesuch nach Lebensbeendigung zu informieren
(Kidd & Nys, 2002; MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale,
2009). In Oregon und Washington muss sich der Sterbewillige die tödliche
Substanz selbst verabreichen (The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). Gegensätzlich dazu kann in Belgien und in den
Niederlanden der Arzt die tödliche Substanz verabreichen (Kidd & Nys, 2002;
Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, 2010). Nach der Durchführung
der Suizidbeihilfe ist der jeweils involvierte Arzt dazu verpflichtet, einer Kontrollkommission bestimmte Dokumente vorzulegen, die der Prüfung der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der vorgeschriebenen Prozesse
dienen (Kidd & Nys, 2002; The Oregon Public Health Division, 1994; Washington State Legislature, 2008). In Luxemburg kann im Voraus schriftlich
verfügt werden, unter welchen Gegebenheiten ein Mensch Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte (MinistÀre de la Sant¦ & MinistÀre de la S¦curit¦ sociale,
2009). Weiterführende Informationen zu landesspezifischen gesetzlichen Bestimmungen rund um die Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid sind
auf diesbezüglichen Webseiten zu finden.2
Die Bundesstaaten Oregon und Washington erfassen jährlich die Todesfälle,
welche durch Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid erfolgten (siehe Abbildung 4). Die Analyse der aus den Jahresberichten stammenden Zahlen aus
Oregon und Washington (siehe deathwithdignity.org, doh.wa.gov/dwda) zeigt
hinsichtlich der Fälle ärztlich assistierten Suizids einen ansteigenden Trend.
2 Z. B. Oregon und Washington: deathwithdignity.org, doh.wa.gov/dwda/, Niederlande: government.nl, nvve.nl, Belgien: kuleuven.be, Luxemburg: sante.public.lu.
Länder, in denen Sterbehilfe legal ist
33
Abbildung 4: Jährliche Todesfälle durch ärztlich assistierten Suizid in amerikanischen
Bundesstaaten
Zu vergleichbaren Fällen in Montana, den Niederlanden und Belgien wurden
bislang keine jährlichen fortlaufenden Verlaufsstatistiken publiziert. Zu Menschen, die in Luxemburg Sterbehilfe oder assistierten Suizid erwägen, darum
ersuchen und ihn realisieren, wurden ebenfalls keine Statistiken gefunden, was
vermutlich damit zusammenhängt, dass assistierter Suizid und Sterbehilfe in
Luxemburg erst seit dem Jahr 2009 legalisiert sind (MinistÀre de la Sant¦ &
MinistÀre de la S¦curit¦ sociale, 2009). Allerdings geht aus dem ersten Bericht
der zuständigen nationalen Kommission für Kontrolle und Evaluation des luxemburgischen Gesetzes über Euthanasie und assistierten Suizid hervor, dass
zwischen den Jahren 2009 und 2010 fünf Menschen durch Sterbehilfe starben
(Commission Nationale de Contrúle et d‹Evaluation de la loi du 16 mars 2009 sur
l‹euthanasie et l‹assistance au suicide, 2011). Nicht zu erkennen ist, ob die
Verstorbenen ausschließlich durch Euthanasie oder assistierten Suizid gestorben sind, da eine diesbezügliche Unterscheidung im entsprechenden Bericht
nicht vorgenommen wurde. Bei den Verstorbenen handelt es sich um drei
Frauen und zwei Männer, die unheilbar an Krebs litten, älter als 60 Jahre waren
und im Krankenhaus oder zu Hause durch Euthanasie starben (Commission
Nationale de Contrúle et d‹Evaluation de la loi du 16 mars 2009 sur l’euthanasie
et l’assistance au suicide, 2011). Aus belgischen und niederländischen Forschungspublikationen, wie beispielsweise Smets, Bilsen, Cohen et al. (2010) oder
Buiting, Van Delden, Onwuteaka-Philipsen et al. (2009), können zwar zu bestimmten Jahren statistische Angaben abgeleitet werden, die Daten erschweren
aber aufgrund unterschiedlicher landesspezifischer Regelungen einen internationalen Vergleich und in manchen Publikationen ist nicht erkennbar, ob Fälle
von Sterbehilfe und ärztlich assistiertem Suizid unterschieden wurden.
34
1.4
Einleitung
Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid und
Berichterstattungen im Zusammenhang mit der
Suizidbeihilfe in der Schweiz
Im Folgenden werden vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes,
der Untersuchungspopulation und der landesspezifischen Eigenheiten der hier
vorliegenden Untersuchung die gesetzliche Lage und die einzuhaltenden Bestimmungen bezüglich der Beihilfe zum Suizid in der Schweiz erläutert. Die
Möglichkeit zur Beihilfe zum Suizid besteht in der Schweiz seit 1941 (Nationale
Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2005) und resultiert aus Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (o. V., 2013, S. 50), welcher die
Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord wie folgt regelt: »Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe
leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.« Diese Rechtslage ermöglicht Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen, in den Grenzen des Artikels
115 Beihilfe zum Suizid straffrei anzubieten. Die in der Deutschschweiz bekanntesten Suizidbeihilfeorganisationen sind Exit und Dignitas. Der Verein Exit
Deutsche Schweiz existiert seit dem Jahr 1982 und setzt sich für ein selbstbestimmtes Leben und Sterben ein (Exit, 2010). Neben der Mitgliedschaft bietet
Exit ihren ca. 65.000 Mitgliedern eine Exit-Patientenverfügung an und berät
Interessierte diesbezüglich (Exit, 2010). Die Organisation bietet auch Rechtsschutzleistungen zur Durchsetzung von Patientenverfügungen sowie Beratung
und Begleitung bei der Ausführung der Beihilfe zum Suizid durch Freitodbegleiter, auch Sterbehelfer genannt, an (siehe www.exit.ch). Neben Exit existiert
seit dem Jahr 1998 der Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben mit zirka 6500 Mitgliedern (siehe www.dignitas.ch). Dignitas
bietet seinen Mitgliedern Begleitung, Unterstützung und Beratung rund um das
Lebensende, wie zum Beispiel zur Dignitas-Patientenverfügung, zu den Rechten
als Patient und zur Suizidbeihilfe, an (Dignitas, 2010). Dass die Suizidbeihilfe in
der Schweiz nicht durch einen Arzt erfolgt, sondern durch private Suizidbeihilfeorganisationen, ist im Vergleich zu anderen Ländern einmalig. Dieser
Umstand hängt damit zusammen, dass Beihilfe zum Suizid zu leisten nach
Ansicht der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte sowie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften nicht zum ärztlichen
Auftrag gehört (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
(SAMW), 2013; Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, 2008).
Entscheidet ein Arzt dennoch, einem solchen Gesuch nachzukommen und
Suizidbeihilfe zu leisten, ist er für die Prüfung und Einhaltung der ihn betref-
Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid
35
fenden und in Abbildung 5 dargestellten Voraussetzungen und Sorgfaltskriterien verantwortlich.
– Der Sterbewillige ist urteilsfähig in Bezug auf seinen Entscheid, sein Leben durch
Suizidbeihilfe zu beenden.
– Der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, resultiert aus krankheitsbedingtem
unerträglichem Leiden und nicht aus einer vorübergehenden Krise oder einer psychischen Erkrankung oder Störung.
– Der Entscheid, durch Suizidbeihilfe zu sterben, erfolgt mit Bedacht, ohne Druck von
Außenstehenden und ist dauerhaft (Bilanzsuizid).
– Der krankheitsbedingte Zustand des Sterbewilligen begründet die Annahme, dass
das Lebensende des Sterbewilligen nahe ist.
– Eine unabhängige Drittperson kommt zum gleichen Schluss.
– Der Arzt hat alternative Optionen abgeklärt, diese mit dem Sterbewilligen besprochen und auf dessen Wunsch getestet.
– Der Arzt und der Sterbewillige haben miteinander diverse persönliche Gespräche
geführt.
– Bei Sterbewilligen, die eine psychische Erkrankung oder Störung aufweisen, sind
hinsichtlich der Suizidbeihilfe Zurückhaltung sowie ein psychiatrisches Gutachten
durch einen diesbezüglich fachkompetenten konsiliarischen Arzt gefragt.
– Es ist erwünscht, dass der behandelnde Arzt sowie Familienangehörige des Sterbewilligen in das Prozedere rund um die Suizidbeihilfe einbezogen werden.
– Für die Abgabe des tödlichen Substrates (Natrium-Pentobarbital) sind eine exakte
medizinische Diagnose, eine Indikation, ein Aufklärungsgespräch sowie ein vom
Arzt ausgestelltes Rezept erforderlich.
– Der Arzt, der das Rezept für das tödliche Substrat ausstellt, ist nicht der gleiche
behandelnde Arzt, der auch die Urteilsfähigkeit feststellt.
– Der Sterbewillige führt die zum Tode führende »letzte« Handlung selbst aus.
– Der Tod durch Suizidbeihilfe gilt als außergewöhnlicher Todesfall und ist der Polizei
zu melden.
– Personen, die Beihilfe zum Suizid leisten, kann nicht nachgewiesen werden, dass sie
aus selbstsüchtigen Beweggründen handeln.
– (Bosshard, 2012; Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006;
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, 2008;
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW, 2012;
Schweizerisches Bundesgericht, 2006; Verbindung der Schweizer Ärztinnen und
Ärzte FMH, 2008)
Abbildung 5: Zu prüfende und zu erfüllende Kriterien betreffend die Suizidbeihilfe in der
Schweiz
Das Erfordernis, dass der Sterbewillige den letzten lebensbeendenden Schritt
ohne Einwirken eines anderen praktisch selbst vollziehen muss, bedingt von
Sterbewilligen zwingend gewisse physische Funktionen und Fähigkeiten (z. B.
gewisse Grob- oder Feinmotorik). Eine weitere Besonderheit in der Schweiz ist,
dass Artikel 115 des Strafgesetzbuches (o. V., 2013) sowie die Rechtsprechung
des Bundesgerichtes bezüglich der Beihilfe zum Suizid laut Urteil vom 23. 11.
2006 (Schweizerisches Bundesgericht, 2006) hinsichtlich der Art der Krankheit
(z. B. physisch oder psychisch), der Krankheitsphase (z. B. präterminal, terminal) und des Zeitpunktes (z. B. eine voraussichtliche verbleibende Lebensdauer
36
Einleitung
von < 6 Monaten) keine Vorgaben macht. Das Bundesgericht reagiert aber
bezüglich der Abgabe des tödlichen Substrates an psychisch kranke Sterbewillige mit Zurückhaltung und fordert ein fundiertes psychiatrisches Fachgutachten (Schweizerisches Bundesgericht, 2006). Gemäß dem erwähnten Urteil des
Schweizerischen Bundesgerichts hat jeder Mensch, gestützt auf die Bundesverfassung und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, grundsätzlich das Recht, über die Art und den Zeitpunkt der Beendigung seines Lebens
selbst zu entscheiden, vorausgesetzt, er ist urteilsfähig (Schweizerisches Bundesgericht, 2006). Vor diesem Hintergrund wird Sterbewilligen, die eine physisch chronische Krankheit aufweisen, sich aber nicht zwingend am Lebensende
befinden, oder solchen, die eine unheilbare schwere psychische Störung aufweisen, unter bestimmten Voraussetzungen Beihilfe zum Suizid gewährt.
Zahlen aus den Jahresberichten der Suizidbeihilfeorganisationen Exit und
Dignitas (siehe exit.ch, dignitas.ch) sowie Zahlen des Bundesamtes für Statistik
(siehe bfs.admin) belegen einen Anstieg der Fälle, die in der Schweiz zwischen
1996 und 2011 durch Suizidbeihilfe gestorben sind, und eine tendenzielle Abnahme solcher, die jährlich durch Suizid gestorben sind (siehe Abbildung 6).
Abbildung 6: Anzahl Menschen, die in der Schweiz pro Jahr zwischen 1996 und 2011 durch
Suizidbeihilfe bzw. Suizid gestorben sind
Schweizerische Bestimmungen zur Beihilfe zum Suizid
37
Weitere Daten des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (2012) zu
vorkommenden Krankheiten bei der Suizidbeihilfe belegen, dass mehr als 69 %
der durch Suizidbeihilfe Verstorbenen eine oder mehrere physische Grunderkrankungen (z. B. Krebs, neurodegenerative Krankheiten, Herzkreislauf- und
Lungenerkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates) aufwiesen, bei
weiteren 3 % eine Depression vorlag, zunehmend Frauen durch assistierten
Suizid sterben und zirka 75 % der Verstorbenen 65 Jahre oder älter waren
(Bundesamt für Statistik, 2012).
Betrachtet man zur Ergänzung solcher Statistiken den Informationsgehalt
von Deutschschweizer Presseberichten über die Suizidbeihilfe zwischen den
Jahren 2001 bis 2012, entsteht der Eindruck, dass manche Darstellungen (siehe
Waldmann, 2012) polemisch oder oberflächlich verfasst sind. Neben dem Angebot von Schweizer Suizidbeihilfeorganisationen und dem praktischen Prozedere wird in der Tagespresse (siehe Hofmann, 2009; Maurer, 2002; Meier, 2001;
Paone, 2012; Puntas Bernet, 2006; Steudler, 2003; Steudler, 2005; Stoll, 2005;
Vögeli, 2009; Vögeli, 2010; Willmann, 2001) über die Tätigkeiten von Suizidbeihilfeorganisationen und Interviews mit Theologen, Ethikern, Ärzten, Juristen
oder Politikern berichtet. In Reportagen (siehe Heusser-Markun, 2003; Müller,
2003; Steudler, 2004) wurde dargestellt, wie die Schweizer Suizidbeihilfe im
Ausland wahrgenommen wird, wie der »Sterbetourismus« und damit anfallende
Kosten zu Lasten der öffentlichen Hand gehen sowie Ermittlungen zur Suizidbeihilfe aufgenommen wurden. Meldungen über den Umgang von Politikern mit
der Thematik der Suizidbeihilfe und mit bestimmten Patientenpopulationen, die
Suizidbeihilfe für sich erwägen (siehe Holenstein, 2004; Hürlimann, 2010; Vonarburg, 2004), ergänzen die Berichterstattung. Insbesondere in Zeiten, in
denen einschränkende Regelungen der Suizidbeihilfe oder die Revision des
Artikel 115 im Strafgesetzbuch erwogen werden, diesbezüglich Volksabstimmungen anstehen oder das Schweizerische Bundesgericht Suizidbeihilfefälle
beurteilt, streifen Presseberichte (siehe Hofmann, 2010a; Kiener, 2010; Petermann, 2011; Vögeli, 2011; Wehrli, 2010) Themen wie die Willensfreiheit sowie
das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Im Zentrum des Interesses mancher
Berichte (siehe Hofmann, 2010b; Staubli, 2007; Tommer, 2008) stehen die Haltung von Ärzten gegenüber der Beihilfe zum Suizid, die Orte, wo die Suizidbeihilfe stattfand, die in die Suizidbeihilfe Involvierten oder die tödlichen Mittel.
Auch die Anzahl, das Geschlecht, das Alter, die Religion und die Krankheitsart
der durch Suizidbeihilfe Verstorbenen (siehe Hofmann, 2008; Von Lutterotti,
2010) finden Erwähnung. Berichte über das Dasein von Menschen, die durch
Suizidbeihilfe in der Schweiz sterben wollen oder gestorben sind, wurden nicht
in der Deutschschweizer Tagespresse, sondern in der Deutschen Presse (siehe
Grill, 2005) gefunden. Es ist auffallend, dass zu den Entwicklungen und Faktoren, welche Menschen dazu veranlassen, durch Suizidbeihilfe zu sterben, zu
38
Einleitung
ihrem sozialen Umfeld, den involvierten Hausärzten und Pflegefachpersonen,
die solchen Menschen begegnen, in Schweizer Printmedien nichts geschrieben
steht. Betrachtet man den thematischen Verlauf der Pressemitteilungen zur
Beihilfe zum Suizid, entsteht der Eindruck, dass die Inhalte der Berichte durch
politische Debatten um die Suizidbeihilfe und von involvierten Experten geprägt
sind. Politische und öffentliche Diskussionen über den Umgang mit den Betroffenen und die Gestaltung des Lebensendes setzen sich somit fort, ohne dass
das subjektive Erleben der Betroffenen und die Bedeutung ihrer Situation umfassend ermittelt und einbezogen werden. Wo sind die Stimmen der Betroffenen?
Sie selbst haben in solchen Diskussionen überwiegend keine Stimme, weshalb
unklar ist, was sie erleben und was sie zu ihren Überlegungen, durch Suizidbeihilfe sterben zu wollen, veranlasst. Das kann dazu führen, dass innerhalb
einer Gesellschaft Entscheidungen zur Suizidbeihilfe getroffen werden, welche
die Bedürfnisse Leidender nicht ausreichend berücksichtigen.
1.5
Entwicklungen rund um Palliative Care und die Suizidbeihilfe
in der Schweiz
Bei unheilbar physisch chronisch Kranken findet eine Verlagerung der Versorgung von der Heilung (Cure) hin zur Linderung von Leiden (Care) statt. Dabei ist
das Ziel, den Kranken zu helfen und ihr Dasein im Kontext ihrer Krankheit aus
ihrem eigenen Verständnis heraus sinnvoll und mit der von ihnen angestrebten
Lebensqualität zu gestalten. Die Realität sieht zum Teil anders aus. Die finanziellen Mittel für eine palliative Versorgung, die unabhängig von der Diagnose
und grundsätzlich für Leidende existentiell und bedeutsam sind, fehlen weitgehend. Die zunehmenden Kürzungen finanzieller Mittel ziehen Veränderungen
des Gesundheitswesens nach sich, welche mit Qualitätsverlusten in der pflegerischen Versorgung einhergehen können. Die sich so entwickelnde, sich auf das
Dringendste beschränkende pflegerische Versorgungsqualität bewirkt, dass eine
erstrebenswerte, bedürfnis- und menschenwürdige Versorgung von Kranken
und ihren Angehörigen zunehmend verunmöglicht wird. Dies gilt insbesondere
für chronisch Kranke, die in ihrer häuslichen Umgebung leben. Auch bestehen
offene Fragen über das Verständnis von Palliative Care in der Gesellschaft, über
die Lücken in der Palliative-Care-Versorgung Kranker, die Bekanntheit von
Palliative-Care-Leistungen, über Defizite in der Bildungs- und Forschungslandschaft rund um Palliative Care und über die Finanzierungsschwierigkeiten
palliativer Leistungen (Bundesamt für Gesundheit (BAG) & Schweizerische
Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK),
2009), welche Institutionen in einen Überlebenskampf zwingen (Holthuizen,
Entwicklungen rund um Palliative Care und die Suizidbeihilfe in der Schweiz
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2010; Portmann, 2008). Zur Entwicklung, Etablierung und Stärkung der End-ofLife-Care wurde im Jahr 2009 von der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
den Kantonen die Nationale Strategie Palliative Care 2010 bis 2012 ins Leben
gerufen. Die Strategie umfasst die Entwicklung nationaler Leitlinien zu Palliative
Care, diesbezügliche Indikationskriterien, gesellschaftliche Aufklärung, Finanzierung und Kosteneffizienz der Palliative Care, Nachforschungen zu bestehenden Palliative-Care-Angeboten in der Schweiz, Bevölkerungsbefragungen
und Maßnahmen in den Bereichen Forschung und Bildung (Bundesamt für
Gesundheit (BAG) & Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), 2009). Eine wesentliche Folge der Schritte
im Bereich Forschung ist das im Jahr 2011 ausgeschriebene nationale Forschungsprogramm Lebensende (NFP 67) des Schweizerischen Nationalfonds,
welches die Erforschung von End-of-Life-Versorgung, -Handlungen, -Verläufe,
-Entscheidungen sowie der gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte im Zusammenhang mit dem Sterben und Tod in der Schweizerischen Gesellschaft zum
Ziel hat (Schweizerischer Nationalfonds, 2011).
Mit Blick auf die Entwicklungen der Suizidbeihilfe in der Schweiz ist festzuhalten, dass der Zürcher Stadtrat im Jahr 2000 beschloss, das Verbot der
Beihilfe zum Selbstmord in Kranken- und Altersheimen3 aufzuheben (Stadtrat
Zürich, 2000). Seitdem haben Suizidbeihilfeorganisationen Zutritt zu Altersund Pflegeheimen im Kanton Zürich, und bei Erfüllung der erforderlichen Bedingungen ist es Bewohnern erlaubt, unter Zuhilfenahme einer Suizidbeihilfeorganisation durch Suizidbeihilfe zu sterben. Auch im Kanton Bern ist die
Beihilfe zum Suizid in Langzeitpflegeinstitutionen grundsätzlich nicht verboten
(Verband Berner Pflege- & Betreuungszentren, 2006). Die Universitätsklinik
Lausanne (CHUV) und die Genfer Universitätsklinik (HUG) entschieden im Jahr
2007, die Durchführung der Suizidbeihilfe unter bestimmten Gegebenheiten
innerhalb der Akutkliniken zuzulassen, während die Universitätsklinik Zürich
und die Universitätsklinik Basel dies ablehnen (Foppa, 2007; Gruson & Dayer,
2007; Meier, 2001; Müller, 2007; UniversitätsSpital Zürich, 2007). Aus einer im
Jahr 2010 durchgeführten Befragung der Schweizer Bevölkerung zum Thema
Sterbehilfe und Suizidbeihilfe resultiert, dass 36 % sich vorstellen können, im
Laufe ihres Lebens auf eine Suizidbeihilfeorganisation zurückzugreifen
(Schwarzenegger, Manzoni, Studer et al., 2010). Gleich wie zuvor in Zürich und
Bern, trat auch in der Stadt Luzern im Juni 2012 eine Regelung zur Beihilfe zum
Suizid in städtischen Betagtenzentren in Kraft, welche Institutionen die
Durchführung der Suizidbeihilfe bei Erfüllung bestimmter Kriterien grundsätzlich erlaubt (Stadt Luzern, 2011). Das Stimmvolk des Kantons Waadt hat am
17. Juni 2012 einer Volksinitiative zugestimmt, welche erstmalig die Entwick3 Davon ausgenommen sind Krankenhäuser.
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Einleitung
lung einer gesetzlichen Regelung der Suizidbeihilfe in einem Schweizer Kanton
zur Folge hat und die Durchführung der Suizidbeihilfe in öffentlichen Institutionen des Gesundheitswesens im Kanton Waadt gestattet (Schweizerische Depeschenagentur (SDA), 2012). Neu für Pflegende an den zuvor geschilderten
Entwicklungen ist die mit der Suizidbeihilfe einhergehende unübliche pflegerische Begleitung der Betroffenen, welche bei Pflegenden berechtigte Vorbehalte
hervorrufen kann.
Im anschließenden Kapitel 2 werden die Gründe, sich aus der Sicht der Pflege
und der Pflegewissenschaft mit der Thematik zu befassen, das Forschungsziel
und die Forschungsfrage der hier vorliegenden Untersuchung sowie der
Standpunkt der Forscherin gegenüber dem Forschungsgegenstand erläutert.