Ethik im Fachunterricht Entwürfe, Konzepte, Materialien Für

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Ethik im Fachunterricht Entwürfe, Konzepte, Materialien Für
Ethik im Fachunterricht
Entwürfe, Konzepte, Materialien
Für allgemein bildende Gymnasien und
berufliche Schulen
IZEW Arbeitsbereich Ethik und Bildung
Ethisch-philosophische Grundlagen im Vorbereitungsdienst
Dieser Handreichung liegt eine CD-Rom mit weiteren Materialien bei.
Handreichung und Materialien finden Sie auch unter der Internetadresse:
http://www.izew.uni-tuebingen.de/epg/ref_doku.html
IMPRESSUM
Herausgeber
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg
Schlossplatz 4 (Neues Schloss), 70173 Stuttgart
in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg
und dem Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. (IZEW) der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen.
Autoren
Regina Ammicht-Quinn, Gisela Badura-Lotter, Margarete Knödler-Pasch, Georg Mildenberger,
Benjamin Rampp
mit Beiträgen von Michaela Banzhaf, Werner Bils, Rolf Dober, Manuela Droll, Sonja Emde, Francois
Förstel, Ulrike Köhle, Erik Müller, Christiane Peck, Karsten Rechentin, Peter Reichl, Barbara Scheu,
Gisela Schubert, Barbara Stewens, Andreas Vochezer, Hubert Wolf, Christian Wolff
Redaktion
Maria Berger-Senn
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Druck
Hausdruckerei
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Dieses Heft darf im Rahmen des Urheberrechts auszugsweise für unterrichtliche Zwecke kopiert werden. Jede darüber hinausgehende Vervielfältigung ist nur nach Absprache mit dem Herausgeber möglich.
Stuttgart – Tübingen, November 2005
Inhalt
INHALT:
1.
VORWORT................................................................................................................................1
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
1.5.
1.6.
1.7.
1.8.
2.
Bildung und Ethik .....................................................................................................................1
EPG in Baden-Württemberg ....................................................................................................2
Inhalte 3
Strukturen.................................................................................................................................4
Praxisfragen .............................................................................................................................4
Dank 5
Kurze Ethik-Handreichung zur Begleitung der Unterrichtsfächer ............................................6
Kleine Basisbibliothek zur Ethik in den Fächern ......................................................................7
DER BEITRAG DER FÄCHER RELIGION UND ETHIK FÜR EINE „ETHIK IM
FACHUNTERRICHT“ ...............................................................................................................8
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
3.
Religion und Ethik in der Schule ..............................................................................................8
Kompetenzen ...........................................................................................................................8
Religion und Ethik und die Frage nach der „Ethik im Fachunterricht“ .....................................9
Literatur ..................................................................................................................................10
PÄDAGOGIK UND ETHIK ......................................................................................................11
3.1. Ethische Fragen in der Pädagogik .........................................................................................11
3.2. Literatur ..................................................................................................................................12
3.3. Wie sollen Lehrer sein? Antworten von Hartmut von Hentig und Jurek Becker ....................13
3.3.1. Hartmut von Hentig: Der Sokratische Eid. ................................................................13
3.3.2. Jurek Becker: "Wunschbild vom guten Lehrer".........................................................14
3.4. Texte zur moralischen Erziehung: Piaget, Kohlberg, Oser, Lind ...........................................15
3.4.1. Jean Piaget ...............................................................................................................15
3.4.2. Kohlberg ....................................................................................................................18
3.4.3. Fritz Oser...................................................................................................................21
3.4.4. Georg Lind.................................................................................................................23
3.5. Lehrerbilder ............................................................................................................................25
4.
DEUTSCH UND ETHIK ..........................................................................................................26
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
4.5.
Ethische Fragen im Deutschunterricht ...................................................................................26
Zur ethischen Dimension von Literatur ..................................................................................26
Beispiele und Materialien .......................................................................................................28
Literatur ..................................................................................................................................31
Sprache und Ethik (Barbara Stewens)...................................................................................33
4.5.1. Sprechen heißt Handeln: Zur Begründung ethischer Sprachnormen.......................33
4.5.2. Themenvorschläge für den Unterricht.......................................................................34
4.5.3. Beispiele und Materialien ..........................................................................................35
4.5.3.1. Beispiel: Verlauf einer Fachsitzung am Seminar Karlsruhe zum Thema „Sprache
und Ethik“ mit Deutsch-Referendaren im zweiten Ausbildungsjahr..................................35
4.5.3.2.
Material: Euphemismen und Unwörter ..................................................................38
4.5.3.3.
Material: Political-Correctness–Debatte ................................................................38
4.5.3.4.
Material: Sprache und Manipulation ......................................................................38
4.5.3.5. Material: Sprachgeschichte....................................................................................38
4.6. Erörtern, sich bilden und den ‚Ausgang’ aus der ‚Unmündigkeit’ suchen - Über ethischphilosophische Aspekte der schulischen Schreibform Erörterung (Hubert Wolf) ..................38
5.
MATHEMATIK UND ETHIK ....................................................................................................40
Inhalt
5.1. Ethische Fragen im Mathematikunterricht............................................................................. 40
5.2. Literatur ................................................................................................................................. 42
5.3. Beispiele und Materialien ...................................................................................................... 43
5.3.1. Mathematik und Interkulturalität ............................................................................... 43
5.3.2. Wie Zahlen den Menschen bilden (Albrecht Beutelspacher) ................................... 47
6.
INTERKULTURALITÄT UND ETHIK ..................................................................................... 49
6.1. Ethische Fragen im Fremdsprachenunterricht (Barbara Scheu mit Regina Ammicht-Quinn)50
6.2. Literatur ................................................................................................................................. 54
6.3. Beispiele und Materialien ...................................................................................................... 56
6.3.1. Beispiel (1): Austin Clarke: The Discipline (Barbara Scheu).................................... 56
6.3.2. Beispiel (2): Interkulturelles Lernen im Rahmen der Didaktik des Übergangs (Barbara
Scheu) ...................................................................................................................... 62
6.3.3. Beispiel (3): Interkulturelles Lernen mithilfe von Literatur: Klasse 6 (Barbara Scheu)
67
6.3.4. Beispiel (4): Ferrudja Kessas, Beur’s Story (Michaela Banzhaf) ............................. 67
6.3.5. Beispiel (5): Der Film Real Women have curves (Las mujeres de verdad tienen
curvas) von Patricia Cardoso (2002) – interkulturelles Lernen im Englisch- oder
Spanischunterricht (Christiane Peck)....................................................................... 69
7.
ALTE SPRACHEN UND ETHIK............................................................................................. 71
8.
GESCHICHTE UND ETHIK ................................................................................................... 73
8.1. Ethische Fragen im Geschichtsunterricht ............................................................................. 73
8.2. Literatur ................................................................................................................................. 76
8.3. Unterrichtsbeispiele aus der Zeitschriftenliteratur ................................................................. 76
9.
BIOLOGIE UND ETHIK.......................................................................................................... 77
9.1.
9.2.
9.3.
9.4.
9.5.
9.6.
Ethische Fragen im Biologieunterricht .................................................................................. 77
Unterrichtsthemen Biologie ................................................................................................... 78
Literatur ................................................................................................................................. 82
Allgemeine Verfahrenshilfe zur ethischen Reflexion auf biologische Themen ..................... 84
Themenliste Biologie ............................................................................................................. 85
Fachsitzung zum Thema Sucht und Drogen im Fachbereich Biologie am Seminar für Didaktik
und Lehrerbildung Tübingen (Werner Bils, Gisela Badura-Lotter)........................................ 86
9.7. Biotechnologie und Ethik (Biologie- und Biotechnologieunterricht der Oberstufe) (Gisela
Badura-Lotter, Sonja Emde, Georg Mildenberger, Gisela Schubert, Christian Wolff) .......... 94
9.7.1. Ethikinhalte der Jahrgangsstufe 1 und 2 Biotechnologie ......................................... 95
9.7.2. Beispiele und Materialien ......................................................................................... 99
10.
9.7.2.1.
Unterrichtseinheit zur Somatischen Gentherapie ................................................. 99
9.7.2.2.
Unterrichtseinheit zu Stammzellen (2 Doppelstunden)....................................... 112
9.7.2.3.
Unterrichtseinheit zur genetischen Diagnostik.................................................... 118
9.7.2.4.
Unterrichtseinheit zur ‚Grünen Gentechnik’ ........................................................ 120
PHYSIK UND ETHIK............................................................................................................ 121
10.1. Ethische Fragen im Physikunterricht................................................................................... 121
10.2. Unterrichtsthemen Physik ................................................................................................... 122
10.3. Ethisch-philosophische Themen im Physikunterricht – exemplarische Entwürfe ............... 125
11.
CHEMIE UND ETHIK ........................................................................................................... 132
11.1. Ethische Fragen im Chemieunterricht................................................................................. 132
11.2. Unterrichtsthemen Chemie.................................................................................................. 132
Inhalt
12.
FÄCHERVERBUND GEOGRAFIE – WIRTSCHAFT – GEMEINSCHAFTSKUNDE UND
ETHIK...................................................................................................................................136
12.1. Einleitung..............................................................................................................................136
12.2. Geografie und Ethik .............................................................................................................137
12.2.1. Umweltaspekte - Ökologie ......................................................................................137
12.2.2. Gesellschaft.............................................................................................................138
12.2.3. Wirtschaft und Gerechtigkeit ...................................................................................138
12.2.4. Kartografie und Medienkompetenz .........................................................................140
12.2.5. Literatur ...................................................................................................................140
12.2.6. Beispiele und Materialien (Andreas Vochezer).......................................................142
12.2.6.1. Unterrichtsentwurf: „Menschenrechte am Beispiel Tibet“....................................142
12.2.6.2. Unterrichtsentwurf: „Der Kampf ums Trinkwasser“..............................................143
12.2.6.3. Unterrichtsentwurf: „Der Landwirt als Landschaftspfleger“..................................143
12.2.6.4. Unterrichtsentwurf: „Neue Verkehrswege erschließen den Raum“ .....................143
12.3. Wirtschaft und Ethik .............................................................................................................145
12.3.1. Wirtschaft und Bildung ............................................................................................145
12.3.2. Unterrichtsthemen Wirtschaft..................................................................................145
12.3.3. Querschnittsthema: Die ökologische Dimension der Wirtschaft .............................147
12.3.4. Literatur ...................................................................................................................148
12.3.5. Materialien zur Wirtschaftsethik ..............................................................................148
12.3.6. Wirtschaftsethik als Thema im Vorbereitungsdienst (Fachseminar VWL/BWL in
Zusammenarbeit mit dem IZEW Tübingen) ............................................................149
12.4. Gemeinschaftskunde und Ethik ...........................................................................................152
12.4.1. Werterziehung als Grundlage des Gemeinschaftskundeunterrichts.......................152
12.4.2. Unterrichtsthemen Gemeinschaftskunde................................................................152
12.4.3. Literatur ...................................................................................................................156
12.4.4. Handy Kids – Verankerung des politisch-moralisches Lernens in der Lebenswelt
Jugendlicher (Manuela Droll) ..................................................................................156
12.4.5. Politische Bildung und Ethik (Erik Müller) ...............................................................169
12.4.5.1. Politik und Ethik ...................................................................................................169
12.4.5.2. Kann die Schule diese gesellschaftliche Debatte widerspiegeln?.......................169
12.4.5.3. Methodisch-didaktische Anmerkungen................................................................169
12.4.5.4. Beispiele dialektischer Kategorienpaare..............................................................170
12.4.5.5. Materialien ...........................................................................................................171
13.
SPORT UND ETHIK .............................................................................................................172
13.1. Ethische Fragen im Sportunterricht......................................................................................172
13.2. Literatur ................................................................................................................................175
13.3. Beispiele und Materialien .....................................................................................................176
13.3.1. Keiner siegt und alle gewinnen! Prinzip der Ethik versus Primat der Leistung...
(Ulrike Köhle)...........................................................................................................176
13.3.2. Literatur und Internetadressen ................................................................................178
13.3.3. Fair Play im Sport. Unterrichtsmaterialien für die Klasse 5/6 (Rolf Dober).............179
13.4. Europarat: Code of Sports Ethics.........................................................................................184
13.5. Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen .........................................................................185
14.
BILDENDE KUNST, MUSIK UND ETHIK .............................................................................186
14.1. Ethische Fragen in den Fächern Bildende Kunst und Musik ...............................................186
14.2. Literatur zu Ethik und Ästhetik .............................................................................................187
14.3. Bildende Kunst und Ethik .....................................................................................................188
Inhalt
14.3.1. Ethische Fragen im Kunstunterricht ....................................................................... 188
14.3.2. Unterrichtsthemen .................................................................................................. 188
14.3.3. Beispiele und Materialien ....................................................................................... 188
14.3.3.1. Ethik und Architektur (Martin Bausch) ................................................................ 189
14.3.4. Literatur .................................................................................................................. 189
14.4. Musik und Ethik ................................................................................................................... 190
14.4.1. Ethische Fragen im Musikunterricht....................................................................... 190
14.4.2. Überlegungen und Anregungen für den Unterricht (Francois Förstel)................... 190
14.4.3. Literatur .................................................................................................................. 193
15.
ZUM SCHLUSS.................................................................................................................... 194
Vorwort
1
1. Vorwort
1.1.
Bildung und Ethik
Bildung ist etwas, das eine vorangehende Generation der nachfolgenden schuldet.
Bildung ist auf Zukunft gerichtet, daraufhin, dass Kinder und Jugendliche in der Welt von heute und in
der Welt von morgen – die wir nicht kennen – sinnvoll leben können.
Wie aber eine solche Bildung aussieht, was dazugehört und was nicht – darüber herrscht heute keine
selbstverständliche Einigkeit mehr.
In einer sich rapide verändernden Welt ermöglicht der allgemeine Rückzug naturbedingter und sozialer
Zwänge eine nie gekannte Freiheit. Diese Freiheit aber ist verbunden mit einer tiefgreifenden Verunsicherung in Bezug auf die Planung und Gestaltung von Biografien. Der drastisch erhöhte Deutungsbedarf, der damit entstanden ist, trifft zusammen mit einer sinkenden Fähigkeit aller erziehenden Instanzen, den Raum für Sinnfragen zu eröffnen.
In dieser Situation wird der Ruf nach Ethik laut – denn die Ethik ist es, die die Fragen nach dem guten
Leben und dem richtigen Handeln stellt; es sind Fragen, die gerade für die Schule notwendig erscheinen. In welcher Form diese Fragen aber in schulisches Lernen und schulisches Leben integriert werden
könnten, darüber herrscht Uneinigkeit. Manche setzen auf Benimm-Unterricht, viele auf eine Verstärkung der Moral- oder Werte-Erziehung.
Auf diese Situation des gestiegenen Ethik-Bedarfs reagiert das Konzept der „Ethik im Fachunterricht“.
Es ist verbunden mit den unterschiedlichen Entwürfen der Moralerziehung: Hier wie da ist der Ausgangspunkt ein handelndes Subjekt, hier wie da wird Raum für wertbezogene oder normative Reflexion
eingefordert.
Zugleich gibt es grundlegende Unterschiede: Das Konzept der „Ethik im Fachunterricht“ geht nicht,
wie einfache Entwürfe der Werte-Erziehung, davon aus, dass es einen festen Satz von Werten gibt, die
wir kennen, und auf die hin wir die nächste Generation erziehen. In rasant sich verändernden und pluralistischen Lebenskontexten wird diese Vorstellung problematisch. Zugleich bleibt das Konzept der „Ethik im Fachunterricht“ nicht wie manche Methoden der Moralerziehung auf der Kommunikationsebene
stehen: Man verständigt sich über die jeweils eignen Werte – aber die Frage nach deren Gewichtung
oder Richtigkeit spielt letztlich keine Rolle.
Das Konzept „Ethik im Fachunterricht“ behandelt die ethischen Fragen dort, wo sie entstehen – oder
entstehen sollten: in den Fächern selbst; dort, wo mit einer Fremdsprache das Fremde zur Sprache
kommt, dort, wo in der Biologie über Mensch und Natur reflektiert wird. Ethische Fragen sind damit
keine additiven Fragen, die man in einer Sonderstunde behandelt, oder dann, wenn vor der Pause noch
Zeit bleibt und man nichts Neues mehr anfangen will; es sind auch keine Fragen, die man schnell an die
„guten Menschen“ im Religions- oder Ethikunterricht abschieben kann; ethische Fragen sind integrative Fragen.
Das Erwerben und Beherrschen von Fähigkeiten und Fertigkeiten bestimmt noch nicht die Art und
Weise, wie, für welches Ziel und mit welchem Ergebnis diese Fähigkeiten eingesetzt werden. Der
Grund dafür ist die Tatsache, dass Wissen heute handlungsoffen ist. In ständisch strukturierten Gesellschaften der Antike und des Mittelalters wurde durch die Vermittlung eines bestimmten Wissens auch
ein bestimmter Handlungskontext für dieses Wissen vorbestimmt. Heute gibt es keine zwingende Brücke zwischen der Kenntnis eines Sachverhalts und den darauf bezogenen oder daraus resultierenden
Handlungen. Was Menschen tun (oder ob sie überhaupt etwas tun), was sie mit ihrem literarischen oder
naturwissenschaftlichen Wissen tun sollten, ist offen. Zugleicht ist deutlich, dass gerade im Bereich der
technischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse unerwünschte Nebenfolgen nicht nur zufällig,
sondern auch geradezu systematisch auftreten; dies lässt die Frage "dürfen wir alles tun, was wir kön-
2
Vorwort
nen?" unabweisbar werden. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung kann nicht unbewussten gesellschaftlichen Prozessen überlassen werden, sondern bedarf der bewussten Entscheidung der Gesellschaft.
Was aber können die Kriterien für solche Entscheidungen sein? Und wer kann sie verantwortlich treffen? In einem demokratischen Gemeinwesen ist es notwendig, dass die Debatten in den repräsentativen
Körperschaften von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet werden, die Einfluss auf die Art und Qualität der verwendeten Argumente nimmt. Eine solche Öffentlichkeit bedarf der Bildung, und zwar in
zweierlei Hinsichten. Zum einen müssen die zukünftigen Bürger und Bürgerinnen in die wissenschaftliche und technischen Grundlagen der modernen Gesellschaft Einblick erhalten, kompetente Laien werden, die den Äußerungen der Experten nicht völlig hilflos gegenüberstehen. Zum anderen müssen sie in
die normativen und argumentativen Grundlagen von Diskussionen über Zwecksetzungen und den Einsatz von Mitteln eingeführt sein und diese geübt haben. Diese Bildung muss in den Schulen grundgelegt
werden.
Wenn es das fundamentale schulische Interesse ist, junge Menschen so zu bilden, dass sie sinnvoll und
mündig in einer Welt von morgen leben können, scheint die Integration ethischer Fragen in das, was
man tut, womit man sich beschäftigt, wofür man lebt, womit man seine Qualifikation erwirbt und sein
Geld verdient, dringend nötig. Moral ist dann kein Thema von Sonntagsreden. Moralische Fragen sind
nicht die kleinen Sahnehäubchen auf dem Alltag: Sie sind die Körner im Schwarzbrot.
1.2.
EPG in Baden-Württemberg
Der Entwurf einer „Ethik im Fachunterricht“ hat seine eigene Geschichte:
Die Baden-Württembergische Landesregierung hat auf den gestiegenen Ethikbedarf mit der Einführung
eines Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums (EPG) reagiert.
Das EPG soll künftige Lehrerinnen und Lehrer für die ethischen Dimensionen und Fragestellungen ihrer Fächer sensibilisieren und grundlegende Begriffe und Ansätze der angewandten Ethik vermitteln.
Das Ziel ist dabei kein 'Ethikstudium im Schnelldurchgang', sondern eine ethische Grundbildung in engem interdisziplinären Fachbezug. Das EPG umfasst eine interdisziplinär ausgerichtete Lehrveranstaltung zu ethisch-philosophischen Grundlagen (2 Semesterwochenstunden) und eine Lehrveranstaltung
zu fach- bzw. berufsethischen Fragen (2 Semesterwochenstunden). Die Veranstaltungen werden von
Einrichtungen, die im Bereich Ethik forschen und lehren - z. B. den philosophischen und theologischen
Fakultäten - in Zusammenarbeit mit den Fachwissenschaften angeboten. Damit hat das EPG eine im
Kern interdisziplinäre und interfakultäre Struktur und Aufgabenstellung, die sowohl koordinatorische
als auch inhaltliche Herausforderungen beinhaltet. Der Aufbau des EPG Lehrangebots in den verschiedenen Fachbereichen setzt voraus, dass für alle Fächer bzw. Fachgruppen eine systematische Entfaltung
der Bezüge zur Ethik geleistet wird.
Von Herbst 2002 bis Sommer 2005 arbeitete das Projekt „Ethisch-philosophische Grundlagen im Vorbereitungsdienst“ am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität
Tübingen gemeinsam mit vielen Fachleitern, Fachleiterinnen und Lehrbeauftragten der Studienseminare
an der Frage, wie der Impuls des EPG in der zweiten Phase der Lehrerausbildung und damit letztlich in
den Schulen ankommen kann.
Das EPG an der Universität und die Frage nach einer „Ethik in den Fächern“ im Vorbereitungsdienst
verfolgen dabei ein gemeinsames Anliegen, setzen aber je andere Schwerpunkte. Während das EPG an
der Universität zunächst vor allem darauf ausgerichtet ist, die ethische Reflexion der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer selbst zu entwickeln, kommt es im Vorbereitungsdienst darauf an, die Möglichkeiten der Vermittlung vor allem von Sensibilität in ethischen Fragen und den grundlegenden Regeln konsistenter und kohärenter ethischer Argumentation angesichts konkreter Problemlagen im Unterricht zu
klären und einzuüben.
Vorwort
3
Ungeachtet der Unterschiede im inhaltlichen und methodischen Profil zwischen dem universitären EPG
und der ethisch-philosophischen Arbeit im Vorbereitungsdienst muss jedoch eine enge Kooperation sicherstellen, dass auch notwendige Impulse aus den Studienseminaren an die universitäre Ausbildung
zurückgeben werden.
1.3.
Inhalte
Im Laufe dieser Arbeit kristallisierten sich fünf Punkte heraus, die für eine sinnvolle inhaltliche Arbeit
der Ethik in den Fächern entscheidend sind:
•
In den naturwissenschaftlichen Fächern liegen die ethischen Themen wenn nicht immer auf
der Hand, so doch im Umkreis der Diskurse; sie werden ansatzweise auch in den Bildungsplänen genannt, immer wieder auch von den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen in die
Fächer hineingetragen. Schwieriger als die Themenfindung ist häufig das philosophische Instrumentarium, das nötig ist, um diese Themen sinnvoll und auf einem angemessenen Niveau
zu behandeln.
In den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern haben die Themen häufig klare ethische
Aspekte. Hier geht es darum, diese ethischen Gehalte als solche explizit zu machen, zu strukturieren und ethisch zu reflektieren.
•
Wenn ethische Fragen nicht additiv, sondern integrativ behandelt werden, dann geht es nicht
darum, erst das Fachliche, dann das Ethische zu behandeln oder das Fachliche zu verkürzen, um
Ethisches behandeln zu können. Der ethische Aspekt des ‚Fachlichen’ ist dann ein selbstverständlicher und zentraler Aspekt des Umgangs mit der ‚Sache’ (mit Sprache, mit Natur, mit
Menschen und Gesellschaften). Zugleich bleibt das Problem höherer Komplexität und damit
höherer Anforderungen an Vorbereitung, Durchführung und Zeit(management).
•
Die Authentizität der ethischen Fragen und deren Nähe zum Leben der Schüler und Schülerinnen sind ein wichtiges Kriterium für die positive Wahrnehmung des Unterrichts. Ethische
Fragen in den Fächern sind nur zu einem Teil planbar / inszenierbar. Ein anderer Teil entsteht
situativ und verlangt von den Lehrenden die Fähigkeit, die Relevanz dieser Fragen zu beurteilen und ethisch ‚sprachfähig’ zu sein. Zugleich kann und darf sich eine Ethik im Fachunterricht
nicht auf die Themen beschränken, die den Schülern und Schülerinnen von vornherein nahe
liegen. Es gibt Themen, für die sich Schüler nicht interessieren, für die sie sich aber (im Interesse ihrer Zukunft, des Gemeinwohls etc.) interessieren sollten. Hier ist eine reflektierte und begründbare Entscheidung der Lehrenden gefragt.
•
Von den Lehrenden werden dabei fachethische, didaktisch-thematische, didaktischmethodische und personale Kompetenzen verlangt. Sie brauchen Sensibilität in ethischen Fragen; grundlegende Kenntnisse der Regeln ethischer Argumentation und der Dimension von Gerechtigkeits- und Verantwortungsbegriffen; und, vielleicht, den Mut, Stellung zu beziehen oder
‚Ich weiß nicht’ zu sagen.
•
Ethik ist zugleich der Subtext jeder sozialen Praxis im Lehr- und Lernvorgang. Dies bedeutet nicht, dass das Konzept der „Ethik im Fachunterricht“ sich in einer allgemeinen Sozial- und
Werte-Erziehung auflöst. Vielmehr geht es um eine Reflexion der Werte und Werthierarchien;
und es geht um eine Reflexion auf die Methoden, mit denen Inhalte und Werte transportiert
werden sollen. Zugleich stellt dieser ethische Subtext kritische Anfragen an den institutionellen
Kontext des Unterrichtens: Was ist die Gestalt, die Kommunikationsform, die Atmosphäre des
Ortes Schule?
•
Das größte und am wenigsten lösbare Problem ist das Problem mangelnder Zeit. Wenn die
Zeichen bildungspolitisch auf Beschleunigung gesetzt werden, brauchen ethische Fragen ein
Klima der Verlangsamung, um wahrgenommen werden zu können. Vielleicht aber mag eine
4
Vorwort
solche Verlangsamung, die über Sinn und Richtung der Beschleunigung reflektiert, am Ende
nicht nur hinderlich, sondern auch hilfreich gewesen sein.
1.4.
Strukturen
Für eine sinnvolle Struktur einer „Ethik im Fachunterricht“ im Rahmen der zweiten Phase der Lehrerausbildung zeigten sich die folgenden vier Punkte als bedeutsam:
•
Primärer Ort des EPG im Vorbereitungsdienst sind die Fachdidaktiken. Eine gemeinsame
Einführungsveranstaltung für den Jahrgang ist ein geeigneter Impuls zur Sensibilisierung der
Referendarinnen und Referendare– aber nicht der Ort, an dem das EPG ‚abgearbeitet’ und ‚erledigt’ wird. Da die Studienseminare unterschiedliche Schwerpunkte, Strukturen und Interessen
haben, kann nicht ein Weg als direktiver vorgegeben werden. Sinnvoll erscheint es, das EPG in
den jeweiligen Schwerpunkt zu integrieren und gezielt etwa eine reflektierte Praxis der MedienEthik oder der ethischen Fragen von Seminarentwicklung anzustreben. An verschiedenen Studienseminaren werden bereits mit großer Resonanz Einführungen in philosophische und ethische Grundansätze angeboten.
•
Eine Vernetzung der Seminare untereinander im Hinblick auf EPG-Fragen ist inzwischen etabliert worden. In gleicher Weise sinnvoll erscheint eine Vernetzung zwischen Studienseminaren
und den EPG-Koordinationsstellen an den Universitäten: Hier könnten von den Studienseminaren Wünsche und Probleme an die Universitäten rückgemeldet werden; hier können konkrete
Hilfestellungen vermittelt werden; die Teilnahme von Fachleitern und Lehrbeauftragten an
EPG-2-Seminaren – auch als Gäste, die über das jeweilige Fach im Vorbereitungsdienst und in
der Schule berichten – ist an den Universitäten möglich und erwünscht.
•
Fort- und Weiterbildungen sollten sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lehrenden
orientieren und für die Sozial- und Geisteswissenschaften eher in die allgemeinen Fortbildungen integriert sein, für die Naturwissenschaften eher eine Einführung in die jeweiligen Bereichsethiken (Begriffe, Argumentationen, aktuelle Probleme und Positionen) umfassen.
•
Die dritte Phase der Ausbildung könnte vor allem für die Reflexion berufsethischer Fragen
ein entscheidender Ort werden.
1.5.
Praxisfragen
Die vorliegende Handreichung ist in der gemeinsamen Arbeit mit Lehrenden an den Studienseminaren
entstanden. Sie ist kein Rezept- und kein Anleitungsbuch, sondern eine Sammlung von Anregungen und
Ideen; als solche ist sie heterogen und exemplarisch, nicht vollständig und dogmatisch.
Die unterschiedlichen Fächer werden in einem Einleitungstext auf ihre je eigenen ethischen Fragen hin
überprüft; in unterschiedlicher Weise werden dann Themen des Bildungsplans und Themen über den
Bildungsplan hinaus genannt; Beispiele für Fachsitzungen oder Schulunterricht werden knapp oder ausführlicher dargestellt; Literatur ist angefügt. Die Bearbeitungen der Fächer unterscheiden sich in Breite
und Tiefe, so dass Anregungen und Informationen auch in Nachbarfächern geholt werden können.
In vielen Fächern verweist die Frage nach deren Ethik auf eine Doppelstruktur:
Auf einer – thematischen – Oberflächenebene erscheinen die ethischen Themen, die im Fach verhandelt
werden – etwa die Frage nach Schuld in der Analyse einer Tragödie; „Widerstand“ als Thema des Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterrichts; ethische Konflikte, die in den Texten der Fremdsprachenlehrbücher erscheinen. Es ist wichtig, diese Themen als ethische zu identifizieren und nicht nur,
aber auch aus einer ethischen Perspektive zu reflektieren.
Auf einer – strukturellen – Tiefenebene verweist die Frage nach der „Ethik im Fachunterricht“ auf die
Struktur des Faches selbst zurück: Welche Denkformen gibt das Fach vor? Welche Annäherung an
‚Wirklichkeit’ findet statt? Auf welche Erfahrungen verweist es, welche Erfahrungen schließt es aus?
Vorwort
5
Wo liegt die Stärke dieser Perspektive, wo ist ihre Grenze? Die ethischen Fragen reflektieren hier beispielsweise die spezifischen Erfahrungen, die durch Literatur, Kunst und Musik vermittelt werden, und
deren Stellenwert für ein „gutes Leben“; die naturwissenschaftliche Weltsicht und deren Einfluss auf
unser Selbst- und Weltverständnis; das Problem der Modellierung in der Mathematik oder auch der
Geografie und die Differenz von Modell und Realität; den Fremdsprachenunterricht als Ort interkulturellen Lernens.
Die vorliegende Sammlung will bezüglich einer Arbeit an der „Ethik im Fachuntericht“ weniger zeigen
„wie das geht“ – dafür sind die Lehrbeauftragen, die Fachleiterinnen und Fachleiter in hoher Weise
selbst kompetent. Er will vielmehr zeigen, was geht, dass es geht und dass diese Arbeit sinnvoll und
durchaus auch vergnüglich sein kann.
1.6.
Dank
Wir danken dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport und dem Ministerium für Wissenschaft,
Forschung und Kunst für die Finanzierung und Begleitung dieses Projekts.
Wir danken allen Lehrbeauftragten, Fachleiterinnen und Fachleitern, die uns einen Einblick in ihre Arbeit gegeben, ihre Expertise mit uns geteilt haben und sowohl für Fragen als auch für Ideen offen waren.
Wir danken den Leiterinnen und Leitern der Staatlichen Seminare für Didaktik und Lehrerbildung, die
ihre Häuser für das Projekt geöffnet haben.
Wir danken denjenigen, die nun als EPG-Beauftragte an den Studienseminaren die Arbeit stimulieren
und koordinieren.
Wir danken in besonderer Weise all denjenigen, die für die vorliegende Sammlung ihre Ideen, Entwürfe, Materialien zur Verfügung gestellt haben:
Michaela Banzhaf, Werner Bils, Rolf Dober, Manuela Droll, Sonja Emde, Francois Förstel, Ulrike Köhle, Erik Müller, Christiane Peck, Karsten Rechentin, Peter Reichl, Barbara Scheu, Gisela Schubert, Barbara Stewens, Andreas Vochezer, Hubert Wolf, Christian Wolff.
Tübingen, Juli 2005
Regina Ammicht-Quinn
Gisela Badura-Lotter
Margarete Knödler-Pasch
Georg Mildenberger
Benjamin Rampp
6
1.7.
Vorwort
Kurze Ethik-Handreichung zur Begleitung der Unterrichtsfächer
1. Was ist Ethik, was ist Moral?
Moral (von lat. mos, moris: Sitte, Gewohnheit, Charakter) wird üblicherweise verstanden als die in einer Gemeinschaft vorhandenen Wertmaßstäbe und handlungsleitenden Normen (Prinzipien). Es handelt
sich, anders formuliert, um die individuelle und soziale Praxis einer Gemeinschaft im Hinblick auf ihre
Vorstellungen eines guten Lebens. Damit ist allerdings noch nichts über den Status eben jener Normen
und Werte ausgesagt. Die Frage nach dem Status bezieht sich hier auf zwei Aspekte: zum einen auf die
Geltung moralischer Normen (im Hinblick sowohl auf ihre Begründung als auch ihren Geltungsbereich), zum anderen auf ihren ‚ontologischen’ Status. Damit ist die Frage angesprochen, ob diesen Regeln und Werten eine von der konkret auf sie reflektierenden Person unabhängige Existenz zugebilligt
wird oder ob auch diese Werte selbst vom Menschen konstruiert werden.
Moral ist geschichtlich, d.h. in ihrer Ausprägung (ihren jeweils spezifischen Merkmalen und Inhalten)
abhängig von Zeit und Ort. Damit ist sie zugleich revisionsfähig, also vom Menschen gestaltbar.
Ethik (als Teil der wissenschaftlichen Philosophie) ist die Reflexionsdisziplin der Moral. Sie hat zunächst die Aufgabe, die in einer Moral implizit und explizit vorhandenen Wertungsgrundlagen und die
aus ihnen abgeleiteten normativen Forderungen methodisch zu analysieren, zu systematisieren und an
zuvor bestimmten Kriterien zu prüfen. Es geht also nicht primär darum zu bestimmen, was moralisch
gut ist, sondern nach allgemeinen Kriterien zu suchen, wie Handlungen oder Lebensformen beurteilt
oder gestaltet werden können. Ethik wird in dieser Bestimmung als wissenschaftliche Disziplin charakterisiert, d.h. ein rationaler Zugang zu den Phänomen der Moral wird als möglich erachtet. Ethik bringt
dann, wie andere wissenschaftliche Disziplinen auch, Überzeugungen in einen systematischen Zusammenhang und eröffnet dadurch neue Erkenntnis- und Begründungsmöglichkeiten.
2. Was heißt: Ethik in den Wissenschaften?
Die Bezeichnung ‚Ethik in den Wissenschaften' soll deutlich machen, dass die Reflexion auf die Bedingungen, die Methoden und die gesellschaftliche Relevanz wissenschaftlicher Forschung nicht allein
'von außen' erfolgen darf, soll das Potential für eine Orientierung in ethisch-normativen Fragen bestmöglich genutzt werden. Die Beteiligten am Forschungsprozess sind Handelnde, die ihr wissenschaftliches Handeln ebenso kritisch reflektieren müssen wir ihr sonstiges (soziales) Handeln. Sie sind, nicht
nur als Experten in politischen und gesellschaftlichen Debatten, maßgeblich an der Wahrnehmung und
damit auch der Bewertung ihres Forschungsbereichs beteiligt. Die Notwendigkeit, sich über die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltsicht für unsere Lebenswelt (u. a. für unsere Argumentationskultur)
bewusst zu sein, wird in diesem Ansatz hervorgehoben.
3. Ethik im Fachuntericht
Die oben skizzierte Fähigkeit, nämlich wissenschaftliche Erkenntnisse und wissenschaftliches Handeln
anhand verschiedener Kriterien zu beurteilen, an Schülerinnen und Schüler zu vermitteln, ist eine der
zentralen Aufgaben im Rahmen unserer Schulkultur. Es geht darum, die ethischen Fragen, die innerhalb
eines Faches entstehen, bewusst und mit angemessenen Instrumentarien zu behandeln; und es geht darum, den Stellenwert der jeweiligen Fächer sowohl in ihren erkenntnistheoretischen als auch ihren sozialen und ethischen Dimensionen zur Diskussion zu stellen – in den Fächern selbst und aus der Perspektive der anderen Fächer. Die Schülerinnern und Schüler sollen zu Möglichkeiten einer Reflexion hingeführt werden, die der Komplexität der behandelten Phänomene Rechnung trägt. Die Ausbildung einer
reflexiven Haltung ist das dabei verfolgte Erziehungsziel.
Vorwort
7
Ethische und erkenntnistheoretische Probleme liegen in den Wissenschaften bzw. in wissenschaftlichem
Handeln ebenso wie in der gesellschaftlichen Rezeption der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Daher
gehört die Reflexion auf wissenschaftsbezogene ethisch-normative Probleme auch in die Wissenschaften bzw. die Fächer. Dabei geht es nicht darum, die Fächer zu moralisieren. Vielmehr wird hier ein genuiner Beitrag zum Verständnis der Fächer als ganzer erbracht.
Zukunftsoffene und zukunftsgestaltende Bildung braucht eine solche auf Reflexion, Wertung und
Handlung zugespitzte Möglichkeit der Problembearbeitung.
4. Möglichkeiten ethischen Nachdenkens in den Fächern
Methoden dienen der Anleitung und Strukturierung. Das gilt für die Ethik in gleicher Weise wie für andere Disziplinen. Es geht nicht um letztgültige Antworten über das, was in einem Fall geboten oder
verboten ist, sondern darum, dass jede und jeder einzelne für sich selbst etwas mehr Klarheit bekommt,
Respekt vor anderen Meinungen entwickelt und bereit und in der Lage ist, sein eigenes Urteil öffentlich
so zu vertreten, dass es anderen nicht nur mitgeteilt wird, sondern auch die Gründe seines Zustandekommens klar werden.
Nötig dafür ist die Sensibilität für ethische Fragen und die Kenntnisse grundlegender Begriffe und
grundlegender Regeln ethischer Argumentation angesichts konkreter Problemlagen.
1.8.
Kleine Basisbibliothek zur Ethik in den Fächern
Birnbacher, Dieter (2003): Analytische Einführung in die Ethik. de Gruyter, New York.
Düwell, Marcus u.a. (2002): Handbuch Ethik. Metzler, Weimar.
Fellmann, Ferdinand (2000): Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse: Ist Moral lehrbar?. Reclam,
Stuttgart.
Fischer, Peter (2003): Einführung in die Ethik. Fink, München.
Frankena, William K. (1994): Analytische Ethik: eine Einführung. Dt. Taschenbuch-Verl., München.
Hastedt, Heiner; Martens, Ekkehard (Hg.) (1994): Ethik: ein Grundkurs. Rowohlt-Taschenbuch-Verl.,
Reinbek bei Hamburg.
Höffe, Otfried (2002): Lesebuch zur Ethik: philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart.
Beck, München.
Höffe, Otfried (2002): Lexikon der Ethik. Beck, München.
Maring, Matthias (2004): Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium: ein Studienbuch. Lit, Münster.
Maring, Matthias (Hg.) (2005): Ethisch-Philosophisches-Grundlagenstudium - Ein Projektbuch. Lit,
Münster.
Nida-Rümelin, Julian (1996): Angewandte Ethik: die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung.
Kröner, Stuttgart.
Pfeifer, Volker (1997): Ethisch argumentieren: „Was ist richtig, was ist falsch?“. Konkordia, Bühl.
Pfeifer, Volker (2003): Didaktik des Ethikunterrichts: Wie lässt sich Moral lehren und lernen?. Kohlhammer, Stuttgart.
Pieper, Annemarie; Thurnherr, Urs (Hg.) (1998): Angewandte Ethik: eine Einführung. Beck, München.
Pieper, Annemarie (2000): Einführung in die Ethik. Francke, Basel.
Ricken, Friedo (2003): Allgemeine Ethik. Kohlhammer, Stuttgart.
8
Der Beitrag der Fächer Religion und Ethik für eine „Ethik im Fachunterricht“
2. Der Beitrag der Fächer Religion und Ethik für eine „Ethik im
Fachunterricht“
2.1.
Religion und Ethik in der Schule
Evangelische, Katholische und Jüdische Religionslehre leisten einen eigenständigen Beitrag zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Sie fördern religiöse Bildung und zielen auf überprüfbare
Kompetenzen und Inhalte. Dabei werden religiöse Kompetenzen als Teil allgemeiner Bildung vermittelt, darüber hinaus hermeneutische und ästhetische, personale, soziale und kommunikative Kompetenzen.
In diesen Fächern wird der Erwerb religiöser Kompetenz als Teil allgemeiner Bildung gesehen. Neben
religionskundlichen Themen behandelt der Religionsunterricht die „großen“ Fragen, wie Leben und
Tod, Sterben und Auferstehung, Leid, Trost und Vergebung und versucht dem Anspruch gerecht zu
werden, Fragen nach Transzendenz zu beantworten. Das Fundament der Moralität im Religionsunterricht ist das je eigene religiöse Selbstverständnis. Dabei ist er im Ansatz erfahrungs- und projektorientiert, hat die Schülerinnen und Schüler als Personen im Blick und versteht Bildung und Erziehung
ganzheitlich.
Als Ersatzfach für Religionslehre hat sich Ethik inzwischen im Fächerkanon der Schule etabliert. Hier
sind Freiheit bzw. Autonomie ethische Letztprinzipien, nicht ein bestimmtes Verständnis der Gottesfrage. Das Fach Ethik soll seinem Bildungsauftrag nach die Schülerinnen und Schüler zu einem verantwortungs- und wertbewussten Verhalten erziehen. Dieses setzt sowohl theoretische Kenntnisse als auch
erfahrungsbezogene Bildung voraus. Es soll nicht nur lehr- und lernbares Wissen, sondern in besonderem Maße auch Haltungen und Einsichten vermitteln, die nicht unmittelbares und unmittelbar überprüfbares Ziel des Unterrichts sein können (vgl. Tichy 2004: 12).
Koexistenz und Differenz von Religionen, religiöser Respekt, religiöse Aufklärung und Toleranz, das
Verhältnis zwischen Vernunft und Religion und Freiheit und Glaube sind Fragen, die Religions- und
Ethiklehrerinnen und -lehrer miteinander und mit ihren Schülern diskutieren und klären können. Die
Religionsfreiheit der demokratischen Schulgemeinschaft ermöglicht Freiheit zur religiösen Bindung,
aber auch Freiheit von religiöser Bindung. „Religion kann sich nicht in Ethik erschöpfen, und Ethik ist
im Denken und Handeln etwas anderes als Religion. Aber beide beziehen sich aufeinander und ergänzen einander. Religion ohne Ethik verfällt leicht in Fanatismus und Unmenschlichkeit, Ethik ohne Religion verirrt sich leicht bei der Suche nach Maßstäben“ (Werner 2002, 92). Religion und Ethik stellen
komplementäre Fächer dar, die „von unterschiedlichen Voraussetzungen her der existentiellen Orientierung verpflichtet sind und daher beide ihren Platz in der Schule haben müssen, allerdings im komplementären Miteinander“1 (Günzler 2001: 75).
2.2.
Kompetenzen
Im Religions- und Ethikunterricht werden „Dialogtugenden“ (Bollnow 1991) vermittelt, zum Beispiel
Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Zuhören, Respekt vor Differenzen, Genauigkeit, intellektuelle Redlichkeit, die lehr- und lernbar und auch überprüfbar sind. Ohne „dass sich ein Schüler aus der ersten Person
outen muss (aber kann), wie er persönlich denkt und wie erleben möchte“ (Martens 2004: 3), kann er
1
Das Kombinationsfach LER in Berlin Brandenburg versucht einen anderen Ansatz, der die Komplementarität und Kooperation der eigenständigen Schulfächer zugunsten eines Einheitsfachkonzepts, einer Verschmelzung ihrer Inhalte und Methoden aufgibt. Die Problematik dieses Ansatzes soll an dieser Stelle nicht
diskutiert werden. (Zur Diskussion vgl. Ethik und Unterricht 2/05, 61 ff).
Der Beitrag der Fächer Religion und Ethik für eine „Ethik im Fachunterricht“
9
aus der distanzierten Perspektive der dritten Person argumentativ und diskursiv Dialogtugenden einüben.
Das Ethische Argumentieren ist die zentrale formale Kompetenz und Schlüsselqualifikation des Ethikunterrichts und eine der entscheidenden Qualifikationen des Religionsunterrichts. Elementare Formen
des Argumentierens lassen sich in allen Klassenstufen angemessen realisieren. Am Beispiel fiktiver Dilemma-Geschichten oder selbst erlebter Konfliktsituationen aus der Alltagserfahrung der Kinder und
Jugendlichen werden verschiedene Gesprächsformen, wie Rundgespräch und Debatte, eingeübt und gepflegt. Dabei wird auch darauf geachtet, welchen unterschiedlichen Typen von Argumenten in ethischen Diskussionen Anwendung finden.
Ausgangspunkt für das Ethische Argumentieren sollte ein moralisches Dilemma sein, das emotionale
Reaktionen (Interesse, Entrüstung, Zustimmung, Ärger, Freude) und kognitive Aktivitäten auslöst und
zum Nachdenken und Diskutieren anregt.
Eine ethische Urteilsfindung vollzieht sich in mehreren Schritten (vgl. Pfeifer 2003: 156ff):
In einem ersten Schritt wird die Situation analysiert, die Fakten festgestellt und die direkt und indirekt
Betroffenen ermittelt. Im zweiten Schritt, der Interessenanalyse, wird der Wert oder Normenkonflikt
genau bestimmt, indem Interessen, Machtverhältnisse und Rollenerwartungen geklärt werden. Im dritten Schritt erfolgt die Normanalyse, Reflexion der Maßstäbe, Feststellung und Gewichtung der Normen
und es wird die Frage der Verallgemeinerbarkeit gestellt. Im vierten und letzten Schritt erfolgt eine Güterabwägung und das Urteil wird gefällt.2
Das Verfahren der Wertklärung, zum Beispiel mittels Fragebogen oder Interview, hat zum Ziel, in einer
Situation der Orientierungslosigkeit einen Entscheidungsprozess zu ermöglichen, ohne das Ergebnis
vorweg zu bestimmen, um so zu einer möglichst autonomen Entscheidungsfindung anzuleiten.
Bei sozialen Interaktionen geht es vor allem darum, die Perspektive zu wechseln, einen anderen Standpunkt wahrzunehmen, zum Beispiel in Rollenspielen, sich in eine andere Person hineinzuversetzen3,
und so zu einem vertieften Verständnis von Toleranz zu kommen.
Aufmerksam zuhören, mit dem anderen achtsam und respektvoll umgehen, intellektuell redlich und begründet argumentieren, sind Kompetenzen, die im Religions- und Ethikunterricht geübt werden können
und die auch Fachunterricht zugute kommen.
2.3.
Religion und Ethik und die Frage nach der „Ethik im Fachunterricht“
Wenn in allen Fächern immer wieder auch ethische Fragen bearbeitet werden, geht es in keinem Fall
um eine Konkurrenz zu den Fächern Ethik und Religion. Fragen nach Treue und Schuld in einer Literaturinterpretation, nach Stammzellenforschung im Fach Biologie, nach weltweiter Gerechtigkeit in Geografie und Gemeinschaftskunde werden in anderer Perspektive auch in Religion und Ethik thematisiert.
Zugleich aber lässt sich die Bearbeitung ethischer Probleme abgestuft denken: Das Wahrnehmen eines
Problems (1) steht am Beginn und ist notwendig für (2) das Formulieren des Problems und schließlich
(3) dessen Durcharbeitung. In den Fachdidaktiken wird vorwiegend auf Stufe (1) und (2) gearbeitet
werden; das Durcharbeiten eines Problems wird entweder dort stattfinden, wo primär Wissen über Ethik
2
3
In Pfeifer (2003), S. 158-164, werden folgende für dieses Modell exemplarischen Fallbeispiele dargestellt:
„Musterung vor dem Leben“ (Präimplantationsdiagnostik PID), „Der Erlanger Fall“, Fallbeispiel zur Klonierung.
Weitere Beispiee zu Themen wie „Recht und Gerechtigkeit“ oder „Ethik technischen Handelns“ finden
sich in: Pfeifer V. (1997): Ethisch Argumentieren. Was ist richtig, was ist falsch? Konkordia, Bühl.
Das unter dem Titel „Lifeline“ bekannt gewordene englische Projekt moralischer Erziehung, das als Ziel
hatte, Jungen und Mädchen zu einem guten Leben zu verhelfen, gutes Leben in dem Sinn, dass sie lernen,
sich für und um ihr Handeln Gedanken zu machen, sowie wählen und entscheiden zu können, arbeitete u.a.
mit Bildkarten, zum Beispiel zu dem Thema „In other people‘s shoes“ (In anderer Leute Haut), zu denen
Rollenspiele und Gruppendiskussionen durchgeführt wurden. Vgl. Fellsches (1977), 205f.
10
Der Beitrag der Fächer Religion und Ethik für eine „Ethik im Fachunterricht“
gelehrt wird, in den Fächern Religion und Ethik – oder aber in der Zusammenarbeit mit diesen Fächern.
Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist wichtig; besonders deutlich wird dies nicht nur dort, wo in
Biologie ethische Fragen behandelt werden, sondern auch dort, wo Religion oder Ethik biologische
Probleme thematisieren.
Religions- und Ethiklehrer sind damit Ansprechpartner nicht nur für die Reflexion religiöser Fragen und
ethischer Orientierungsprobleme, sondern auch für Hilfen und Kooperationen in Bezug auf ethischphilosophische Grundlagen im Fachunterricht. Insbesondere dort, wo im Fachunterricht über ethische
Fragen offene Diskussionen geführt werden, die nicht von vornherein auf einen ‚richtigen’ Standpunkt
fokussiert werden können, die aber auch nicht in Beliebigkeit enden dürfen, ist die ModerationsKompetenz der Religions- und Ethik- (auch der Pädagogik-) Fachleiter und Fachleiterinnen gefragt. Es
ist eine gemeinsame Aufgabe, Schülerinnen und Schüler zu moralisch mündigen, selbstbestimmten Erwachsenen zu erziehen, die fähig sind zu sozialer und ökologischer Verantwortung (vgl. Scheilke 2001:
328ff).
Für die Ethik in den Fächern könnte damit gelten:
Bei Risiken und Nebenwirkungen, fragen Sie Ihren Religions- oder Ethiklehrer.
2.4.
Literatur
Bollnow, Otto Friedrich (1991): Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische
Übungen. Stäfa.
Fellmann, Ferdinand (2000): Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Moral lehrbar? Reclam,
Stuttgart.
Fellsches., Josef (1977): Moralische Erziehung als politische Bildung. Heidelberg.
Günzler, Claus (2002): Zwischen Modernität und Humanität – Der Ethikunterricht als Ort lebensweltlicher Orientierung, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 1/2002, S. 75-85.
Höffe, Otfried (1992): Lexikon der Ethik. Beck- Verlag, München 4. Aufl.
Hügli, Anton (1999): Philosophie und Pädagogik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Kliemann, Peter (1997): Impulse und Methoden. Anregungen für die Praxis des Religionsunterrichts.
Calwer Verlag, Stuttgart.
Lind, Georg (2003): Moral ist lehrbar. Oldenbourg-Verlag, München.
Maring, Matthias (Hrsg.) (2004): Ethisch- Philosophisches Grundlagenstudium. Lit-Verlag, Münster.
Martens, Ekkehard (2003): Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Siebert, Hannover.
Martens, Ekkehard (2004): Welchen Beitrag können der Philosophie- und der Ethikunterricht zur Lebenskunst leisten), in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 1/2004, S. 2-4.
Pfeifer V. (1997): Ethisch Argumentieren. Was ist richtig, was ist falsch? Konkordia, Bühl.
Ders. (2003): Didaktik des Ethikunterrichts: Wie lässt sich Moral lehren und lernen? Kohlhammer,
Stuttgart.
Scheilke, Christoph (2001): Religions- und Ethikunterricht – neue Diskussionen, neue Entwicklungen.
In: Recht der Jugend und des Bildungswesens Bd. 49, S. 314-330.
Tichy, Matthias (2004): Die Ansprüche der Ethikdidaktik und die Erwartungen der Praktiker. Ein Vermittlungsvorschlag, in: Breun, Richard/ Mahnke, Hans-Peter (Hrsg.): Ethik macht schule II. edition
ethik kontrovers. Jahrespublikation der Zeitschrift Ethik und Unterricht 2004, S. 11-17.
Werner, H.-J.(2002): Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Pädagogik und Ethik
11
3. Pädagogik und Ethik
3.1.
Ethische Fragen in der Pädagogik
„Ist Erziehung sittlich erlaubt?“ Der Titel eines Aufsatzes von Wilhelm Flitner weist auf einen Grundwiderspruch jeder aufgeklärten Erziehungspraxis hin: Ziel der Erziehung ist Freiheit und Selbstbestimmung der zu Erziehenden, der Weg zum Ziel besteht möglicherweise aus Regeln und Normen, die den
zu Erziehenden fremdbestimmen können. Dieser Grundwiderspruch zeigt, dass auch die liberalste und
aufgeklärteste Form der Pädagogik in einem Feld von Macht und Abhängigkeit angesiedelt ist und darum grundsätzlich ethisch reflektiert werden muss. (Vgl. Flitner 1979)
Pädagogik und Ethik stehen in einem engen komplexen Verhältnis. Für den Pädagogen Herbart (1808),
der als erster einen systematischen Abriss der Pädagogik auf der Basis eines ethischen Systems entwarf,
gilt Ethik als Grundwissenschaft der Pädagogik. Der Philosoph Hans Krämer (1991) stellt Pädagogik
als „Spezialfall der Strebensethik“ dar, als Grenzfall einer Angewandten Ethik (Krämer 1991: 210,
342). Er begründet diese These damit, dass das „einst patronale oder gar paternalistische, durch Imperative und Sanktionen gekennzeichnete Erziehungsverhalten mit wachsender Autonomisierung auch des
Jugendlichen in beratungsähnliche Formen der Anleitung übergegangen ist.“ ( Kraemer 1991,210) Ein
Minimalkonsens der Erziehung als Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ muss ergänzt werden mit
der Frage „Wie soll ich leben?“
Für ein Konzept der Ethik in den Fächern ist der Zusammenhang von Pädagogik und Ethik vielschichtig. Zum einen ist Pädagogik der Ort, an dem – inhaltlich - Erziehung auch als Werte- und Moralerziehung thematisiert und reflektiert wird. Zum anderen hat die Pädagogik selbst normative Ausgangsstrukturen, etwa dort, wo Erziehungsziele Werthierarchien darstellen oder wo Beziehungen als ‚gut’ oder
‚schlecht’ klassifiziert werden, wo Begriffe wir ‚Leistung’ oder ‚Störung’ eine Bedeutung zugewiesen
bekommen. Eine Ethik in der Pädagogik wird diese normativen Ausgangsstrukturen wahrnehmen und
als Grundfragen analysieren.
Ein Beispiel für eine solche Grundfrage ethischer Pädagogik oder pädagogischer Ethik ist die Asymmetrie. Pädagogische Beziehungen sind in fundamentaler Weise von Asymmetrie geprägt (Coleman
1986). Ausgehend von der gleichen Würde der Menschen entsteht der Impuls, gerade im pädagogischen
Bereich Asymmetrien abzubauen. Dies geschieht in einem grundlegenden Demokratisierungsprozess.
Die Entscheidung darüber, welche der bestehenden Asymmetrien nicht nötig oder nicht ‚richtig’ sind,
ist eine pädagogische, politische und ethische Entscheidung.
Zugleich ist es Kennzeichen pädagogischer Beziehungen, dass bestimmte Formen der Asymmetrie bestehen bleiben – Asymmetrien zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Wissenden und NochNicht-Wissenden, zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen, zwischen Beurteilenden und Beurteilten,
zwischen denen, die Einzelnes und denen, die Allgemeines im Blick haben. Asymmetrien bestehen damit nicht nur zwischen Lehrern/Lehrerinnen und Schülern/Schülerinnen, sondern auch zwischen Referendaren und ihren Fachleitern, zwischen Lehrenden und Schulleitung, zwischen Schulen und Schulverwaltung. Asymmetrische Beziehungen, die nicht abgebaut werden können und dürfen, müssen pädagogisch und ethisch legitimierbar sein. Es ist die grundlegende Aufgabe der Lehrenden, sich diesen Asymmetrien zu stellen und ihnen nicht auszuweichen – etwa, indem Gleichheit vorgespiegelt wird. Eine
solche Vorspiegelung von Gleichheit bewirkt zweierlei: Zum einen verweigern sich die Verantwortlichen tendenziell ihrer Verantwortung; zum anderen werden Machtprozesse, die dennoch ablaufen (wo
innerhalb des Gesamtsystems immer noch bewertet, belohnt und bestraft wird), versteckt und damit der
Kritik entzogen. Indem sich Lehrende bewusst als Handelnde in asymmetrischen Beziehungen sehen,
übernehmen sie Fürsorge und Verantwortung für diejenigen, die noch nicht alt genug, nicht wissend
genug, erfahren genug etc. sind. Diese Haltungen der Fürsorge und Verantwortung müssen pädagogisch
und ethisch reflektiert werden: Welche Formen der Fürsorge und Verantwortung entmächtigen („Ich
12
Pädagogik und Ethik
weiß, was gut für dich ist“), welche ermächtigen? Für die Lehrenden kann aus diesem Reflexionsvorgang (Welchen Asymmetrien muss ich mich stellen? In welcher Weise gestalte ich sie?) ein Zugewinn
an Handlungssicherheit und Handlungsqualität entstehen.
Sowohl auf der Ebene der Reflexion konkreter Werte- und Moralerziehung als auch auf der Ebene der
ethischen Reflexion pädagogischer Grundstrukturen und Begriffe sind Pädagogik und Ethik als Diskurs
und als Praxis eng verbunden. Es ist diese Verbindung, die das pädagogische Ziel eines autonomen
Subjekts aufrechterhalten kann, das zur Selbst- und Fremdverantwortung befähigt ist. In seiner Einführung in den Bildungsplan 2004 (Baden-Württemberg) schreibt Hartmut von Hentig, Schule und Unterricht solle junge Menschen „in der Entfaltung und Stärkung ihrer gesamten Person fördern – so, dass sie
am Ende das Subjekt dieses Vorgangs sind.“ (S. 9)
3.2.
Literatur
Baumgart, Franzjörg (Hrsg.) (2001): Erziehungs- und Bildungstheorien. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.
Coleman, J.S. (1986): Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen in unpersönlichen Systemen. BeltzVerlag, Weinheim/Basel.
Edelstein, Wolfgang / Oser, Fritz /Schuster, Peter (Hrsg.) (2001): Moralische Erziehung in der Schule. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
Fauser, Peter (1996): „Ist Erziehung sittlich erlaubt?“ In: Neue Sammlung 36, Heft 4, S. 517-530.
Fees, Konrad (1999): Nicht moralisieren, sondern Argumentieren. Moralerziehung im Fachunterricht. Unterrichtsbeispiele für die Sekundarstufe I. In: Pädagogik 7-8/99, 61-65.
Flitner, Andreas (2001): Reform der Erziehung. Beltz-Verlag, Weinheim und Basel.
Flitner, Wilhelm (1979): „Ist Erziehung sittlich erlaubt?“. In: Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), Heft 4, S. 500504.
Günzler, Claus, u.a.(1988): Ethik und Erziehung. Kohlhammer Verlag, Stuttgart.
Hentig, Hartmut von (2004): Einführung. Bildungsplan für Gymnasien Baden Württemberg, S. 9-24.
Herrmann, Ulrich (2002): Wie lernen Lehrer ihren Beruf? Empirische Befunde und praktische Vorschläge. Beltz
Verlag, Weinheim und Basel.
Horster, Detlev (2004): Was soll ich tun? Moral im 21.Jahrhundert. Reclam Verlag, Leipzig.
Hügli, Anton (1999): Philosophie und Pädagogik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Krämer, Hans (1991): Integrative Ethik. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Lind, Georg (2003): Moral ist lehrbar. Oldenbourg, München.
Luhmann, N. (2001): Das Erziehungssystem unserer Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Oelkers, Jürgen (1992): Pädagogische Ethik. Eine Einführung in Probleme, Paradoxien, Perspektiven. Juventa,
Weinheim/München.
Oser, Fritz & Althof, Wolfgang (42001): Moralische Selbstbestimmung. Klett-Cotta, Stuttgart.
Rekus, Jürgen (Hg.) (1998): Grundfragen des Unterrichts. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
Terhart, E. (Hg.) (2000): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der KMK eingesetzten Kommission. Weinheim/Basel.
Werner, H.-J.(2002): Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Lernen fürs Leben. Reformwerkstatt Schule. Spiegel Spezial 3/2004.
Bildung. Wie das Lernen wieder Spaß macht. GeoWissen 2003 Nr. 31.
Wertorientierung in der Lehrerbildung. Seminar Lehrerbildung und Schule 4/2002, hrsg. vom Bundesarbeitskreis
der Seminar- und Fachleiter/innen.
Orientierung – Aneignen von Wissen und Werten. Seminar Lehrerbildung und Schule 1/2004, hrsg. vom Bundesarbeitskreis der Seminar- und Fachleiter/innen.
Pädagogik und Ethik
3.3.
13
Wie sollen Lehrer sein? Antworten von Hartmut von Hentig und Jurek
Becker
3.3.1. Hartmut von Hentig: Der Sokratische Eid.
„Als Lehrer und Erzieher verpflichte ich mich,
-
die Eigenheit eines jeden Kindes zu achten und gegen jedermann zu verteidigen;
-
für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen;
-
auf seine Regungen zu achten, ihm zuzuhören, es ernst zu nehmen;
-
zu allem, was ich seiner Person antue, seine Zustimmung zu suchen, wie ich es bei einem Erwachsenen täte;
-
das Gesetz seiner Entwicklung, soweit es erkennbar ist, zum Guten auszulegen und dem Kind zu
ermöglichen, dieses Gesetz anzunehmen;
-
seine Anlagen herauszufordern und zu fördern,
-
seine Schwächen zu schützen, ihm bei der Überwindung von Angst und Schuld, Bosheit und Lüge,
Zweifel und Misstrauen, Wehleidigkeit und Selbstsucht beizustehen, wo es das braucht;
-
seinen Willen nicht zu brechen – auch nicht wo es unsinnig erscheint; ihm vielmehr dabei zu helfen, seinen Willen in die Herrschaft seiner Vernunft zu nehmen;
-
es also den mündigen Verstandsgebrauch zu lehren und die Kunst der Verständigung und des Verstehens;
-
es bereit zu machen, Verantwortung in der Gemeinschaft zu übernehmen und für diese;
-
es auf die Welt einzulassen, wie sie ist, ohne es der Welt zu unterwerfen, wie sie ist;
-
es erfahren zu lassen, was und wie das gemeinte gute Leben ist;
-
ihm eine Version von der besseren Welt zu geben und Zuversicht, dass sie erreichbar ist;
-
es Wahrhaftigkeit zu lehren, nicht die Wahrheit, denn ‚die ist bei Gott allein’.
Damit verpflichte ich mich,
-
so gut ich kann, selber vorzuleben, wie man mit den Schwierigkeiten, den Anfechtungen und Chancen unserer Welt und mit den eigenen immer begrenzten Gaben, mit der eigenen immer gegebenen
Schuld zurechtzukommen;
-
nach meinen Kräften dafür zu sorgen, dass die kommende Generation eine Welt vorfindet, in der es
sich zu leben lohnt und in der die ererbten Lasten und Schwierigkeiten nicht deren Ideen, Hoffnungen und Kräfte erdrücken;
-
meine Überzeugungen und Taten öffentlich zu begründen, mich der Kritik – insbesondere der Betroffenen und Sachkundigen – auszusetzen, meine Urteile gewissenhaft zu prüfen;
-
mich dann jedoch allen Personen und Verhältnissen zu widersetzen – dem Druck der öffentlichen
Meinung, dem Verbandsinteresse, dem Beamtenstatus, der Dienstvorschrift –, wenn sie meine hier
bekundeten Vorsätze behindern.
Ich bekräftige diese Verpflichtung durch die Bereitschaft, mich jederzeit an den ihr erhaltenen Maßstäben messen zu lassen.“ (von Hentig 1992: Sokratischer Eid für Lehrer. In: Verantwortung. Friedrich
Jahresheft X, 114-115, 1992)
14
Pädagogik und Ethik
3.3.2. Jurek Becker: "Wunschbild vom guten Lehrer"
In seinem Roman „Schlaflose Tage“ entwirft Jurek Becker in der konfliktreichen DDR-Gesellschaft ein
Wunschbild von einem „guten Lehrer“.
1.
Mein guter Lehrer muss ein Verbündeter der Kinder sein. Nicht in der Absicht, einen pädagogische Trick anzubringen, nicht wie ein Taschenspieler, der mit Hilfe seines Verbündeten-Tuns
andere Ziele verfolgt, sondern ohne Vorbehalt. Nur auf Grund der Überzeugung, dass die Kinder Verbündete brauchen.
2.
Verbündeter sein heißt, sich gegen jemanden zu verbünden bereit sein, und sei es die mächtige
Schule. Sich verbünden gegen sinnlose Bräuche und Anordnungen, von denen es die Fülle gibt.
Niederlagen nicht vor den Kindern verheimlichen, sondern offen mit ihnen darunter leiden.
Sich aber mit der Niederlage nicht zu früh abfinden, nicht kämpfen wie ein Fallsüchtiger.
Wie kannst du ruhig bleiben, wenn dem einen Kinde infolge von Offenheit Unannehmlichkeiten entstehen und dem anderen, das nach dem Munde redet, Vorteile.
3.
Im Extremfall bereit sein, Konsequenzen zu ziehen (denn es sind Niederlagen denkbar, die
nicht hingenommen werden dürfen). Bereit sein, nicht länger Lehrer zu sein, sich mit dieser Bereitschaft Bewegungsfreiheit verschaffen. Doch nicht eine zu kleine Währung daraus machen,
für jeden Tag.
4.
Er muss sich dem Kinde verantwortlich fühlen, mehr als der Schulbehörde. Über den vielgebrauchten Satz, die Schule sei dazu da, die Kinder aufs Leben vorzubereiten, darf er nicht vergessen, dass die Gegenwart ja schon das Leben der Kinder ist. Dass sie schließlich nicht Tote
sind, die erst zum Leben erweckt werden müssen.
5.
Gespielte Anteilnahme ist schlimmer als eingestandene Interessenlosigkeit, denn sie verführt
die Kinder zu Offenbarungen vor verschlossenen Ohren. Stell dir einen Blinden vor, dem weisgemacht wird, in einem in Wirklichkeit leeren Raum sitzen Zuhörer, die an seinem Schicksal
interessiert sind. Wie er anfängt zu erzählen, bis er durch das Ausbleiben von Reaktionen erkennt, dass er betrogen wurde.
6.
Der gute Lehrer muss gute Nerven haben. Die kann er sich nicht antrainieren, ebensowenig sie
erzwingen. Nur die Liebe kann sie ihm geben. (Aber wen lassen sie nicht alles Lehrer werden.)
7.
Er muss neugierig auf die verschiedenen Anlagen der Kinder sein, er muss sie erkennen wollen.
Er darf nicht ein fertiges Kind im Kopf haben, an das er alle anderen heranführen will, gebrochen und gleich.
8.
Es wird geschehen, dass seine Ansichten von denen abweichen, die er laut Lehrplan den Kindern vorzutragen hat. (Ihm, meinen guten Lehrer, wird das immer wieder geschehen.) Wie sich
verhalten? Nur die andere Ansicht sagen? Oder nur die eigene? Oder beide? Wahrscheinlich
gibt es keinen anderen Weg, als den Kindern zu erklären, wie Überzeugungen zustande kommen: nicht nur aus Urteilen, sondern auch aus Vorurteilen. Das ist ein abenteuerliches Thema.
Er darf die Kinder nicht lähmen mit Endgültigem, sondern er muss sie vergleichen lehren und
somit zweifeln.
9.
Sich selbst darf er über keine Auseinandersetzung stellen, also auch nicht über die Zweifel. Er
hat gewonnen. wenn die Kinder ihn akzeptieren, obwohl sie ihn ungestraft ablehnen könnten.
In: Schlaflose Tage. Frankfurt a. M., 1978, S. 57ff.
Pädagogik und Ethik
3.4.
15
Texte zur moralischen Erziehung: Piaget, Kohlberg, Oser, Lind
Das Feld von Pädagogik und Ethik ist komplex und umfangreich. Die folgenden vier Texte stellen eine
exemplarische Auswahl dar, zwei der Texte (Piaget und Kohlberg) zeigen Ansätze, die folgenreich waren für die weitere Entwicklung der Reflexion des Themas, zwei Texte (Oser und Lind) bieten Beispiele aktueller Entwürfe der Umsetzung.
3.4.1. Jean Piaget
Quelle 1: Piaget, Jean 21983: Das moralische Urteil beim Kinde. Klett-Cotta, Stuttgart. S. 370372.
VII. Schlußfolgerung: der Gerechtigkeitsbegriff
Zum Abschluß unserer Untersuchung wollen wir die Antworten auf eine alles Vorhergehende zusammenfassende Frage betrachten: zu Anfang oder am Ende unserer Befragung baten wir die Kinder, selbst
Beispiele für das, was sie als ungerecht betrachten, zu geben1.
Wir haben vier verschiedene Arten von Antworten erhalten: 1. das den vom Erwachsenen empfangenen
Anweisungen zuwiderlaufende Verhalten: lügen, stehlen, etwas zerbrechen usw. kurz alles, was verboten ist, 2. das den Spielregeln zuwiderlaufende Verhalten, 3. das der Gleichheit zuwiderlaufende Verhalten (Ungleichheit in den Strafen wie in der Behandlung), 4. die Ungerechtigkeiten in Bezug auf die
Gesellschaft der Erwachsenen (wirtschaftliche oder politische Ungerechtigkeit). Die Statistik gibt sehr
deutliche vom Alter bedingte Ergebnisse:
Verboten
Spiele
Ungleichheit
Gesellschaftliche
Ungerechtigkeit
6 bis 8 Jahre
64 %
9%
27 %
-
9 bis 12 Jahre
7%
9%
73 %
11 %
Folgende Beispiele setzen die Ungerechtigkeit mit dem, was verboten ist, gleich:
6 Jahre: „Ein kleines Mädchen hat einen Teller zerbrochen“, „einen Ballon platzen lassen“, „die Kinder
lärmen während des Gebetes mit den Füßen“, „lügen“, „etwas, was nicht wahr ist“, „es ist nicht recht zu
stehlen“, usw.
7 Jahre: „Sich schlagen“, „ungehorsam sein“, „sich ohne Grund schlagen“, „wegen nichts weinen“,
„Unsinn machen“, usw.
8 Jahre: „Sich streiten“, „Lügen sagen“, „stehlen“, usw.
Beispiele für Ungleichheiten:
6 Jahre: „Dem einen einen großen und dem anderen einen kleinen Kuchen geben“, „dem einen ein
Stück Schokolade und dem anderen zwei geben“.
7 Jahre: „Eine Mama, die einem unartigen Mädchen mehr gibt“, „einen (Kameraden) schlagen, der einem nichts getan hat“.
1
Allerdings wird dieser Ausdruck nicht von allen verstanden, doch kann man ihn durch „nicht recht“ ersetzen, wobei jedoch eine Verwechslung mit dem Sinn von „irrtümlich“ zu vermeiden ist.
16
Pädagogik und Ethik
8 Jahre: „Einer, der (zwei Brüder) zwei Rohre gibt, und eins ist größer als das andere“ (erlebt!), „zwei
Zwillingsschwestern, die nicht gleich viel Kirchen bekommen“ (idem!).
9 Jahre: „Die Mama gibt einem anderen ein größeres Stück Brot.“ „Die Mama gibt der einen Schwester
einen hübschen Hund und der anderen nicht.“ „Dem einen eine größere Strafe als dem anderen.“
10 Jahre: „Wenn man dasselbe gearbeitet und nicht die gleiche Belohnung hat.“ „Zwei Kinder sind gehorsam, und eins bekommt mehr als das andere.“ „Ein Kind schelten und das andere nicht, wenn beide
ungehorsam waren.“
11 Jahre: „Zwei Kinder, die Kirschen stehlen: nur eins wird bestraft, weil er schwarze Zähne hat.“ „Ein
Starker, den einen Schwachen schlägt.“ „Ein Lehrer, der einen mehr als den anderen mag, und ihm bessere Noten gibt.“
12 Jahre: „Ein Schiedsrichter, der es mit der einen Gruppe hält.“
Und Beispiele für gesellschaftlich bedingte Ungerechtigkeiten:
12 Jahre: „Die Lehrerein bevorzugt wegen der Kraft, Intelligenz und der Kleidung.“ „Oft wählen Menschen lieber reiche Freundinnen als arme, die besser wären.“ „Eine Mutter verbietet ihren Kindern, mit
solchen zu spielen, die nicht so gut angezogen sind.“ „Kinder, die spielen, und ein nicht so gut angezogenes Mädchen allein lassen.“
Diese Antworten, deren Spontaneität ersichtlich ist und welche wir zu der übrigen Untersuchung hinzufügen, ermöglichen es uns, in dem Maße, wie man im moralischen Leben von Stadien sprechen kann,
auf das Vorhandensein von drei großen Perioden in der Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs beim
Kinde zu schließen: eine Periode, die sich bis zu 7 bis 8 Jahren ausdehnt, während der die Gerechtigkeit
der Autorität der Erwachsenen unterstellt ist, eine etwa zwischen 8 und 11 Jahren liegende Periode,
welche diejenigen des fortschreitenden Gleichheitsbegriffs ist und schließlich eine Periode, die mit 11
bis 12 Jahren beginnt, während welcher die auf dem Begriff der Gleichheit beruhende Gerechtigkeit
durch Erwägung der Billigkeit gemildert wird.
Quelle 2: Piaget, Jean 21983: Das moralische Urteil beim Kinde. Klett-Cotta, Stuttgart.: 383-384.
Abschließend ist zu bemerken, daß wir so auf dem Gebiet der Gerechtigkeit wie auf den vorher behandelten Gebieten jenen von uns so oft hervorgehobenen Gegensatz zweier Moraltypen wiederfinden. Die
Autoritätsmoral, welche die Moral der Pflicht und des Gehorsams ist, führt auf dem Gebiet der Gerechtigkeit zur Verwechslung dessen, was gerecht ist, mit dem Inhalt des bestehenden Gesetzes, und zur
Anerkennung der Sühne. Die Moral der gegenseitigen Achtung, welche die des Guten (im Gegensatz
zur Pflicht) und der Autonomie ist, führt auf dem Gebiet der Gerechtigkeit zur Entwicklung der Gleichheit, welche der konstitutive Begriff der austeilenden Gerechtigkeit und der Gegenseitigkeit ist. Die Solidarität unter gleichen erscheint wiederum als der Ursprung einer Gesamtheit von komplementären und
zusammenhängenden moralischen Begriffen, welche die vernunftmäßige Einstellung charakterisieren.
Sicherlich kann man sich fragen, ob sich derartige Erscheinungen ohne eine vorhergehende Phase, in
deren Verlauf die einseitige Achtung des Kindes vor dem Erwachsenen das kindliche Bewußtsein
formt, entwickeln können. Da ein Versuch nicht möglich ist, ist eine Diskussion dieses Problems hier
nutzlos. Gewiß ist aber, daß durch die komplementären Begriffe der heteronomen Pflicht und der eigentlichen Strafe ein unstabiles Gleichgewicht hergestellt wird, in welchem die Persönlichkeit nicht zu
ihrer vollen Entfaltung gelangen kann. Je mehr das Kind heranwächst, desto weniger erscheint ihm die
Unterwerfung seines Bewußtseins unter dasjenige des Erwachsenen als berechtigt, und mit Ausnahme
der Fälle von richtigen moralischen Abweichungen, die aus einer endgültigen inneren Unterwerfung
(diese Erwachsenen bleiben ihr ganzes Leben lang Kinder) oder aus einer dauernden Auflehnung bestehen, strebt die einseitige Achtung von selbst zur gegenseitigen und zur Beziehung der Zusammenarbeit
hin, welche das normale Gleichgewicht bildet. Es ist klar, daß in unseren Gesellschaften, wo die Moral,
Pädagogik und Ethik
17
welche die Beziehungen der Erwachsenen untereinander beherrscht, gerade diejenige der Zusammenarbeit ist, die Beispiele der Umgebung diese Entwicklung der kindlichen Moral beschleunigen. Nur ist es
letzten Endes wahrscheinlich, daß wir es hier eher mit einer Konvergenz als mit einem einfachen sozialen Druck zu tun haben. Denn wenn sich die menschlichen Gesellschaften von der Heteronomie zur Autonomie entwickelt haben und von der gerontokratischen Theokratie in allen ihren Formen zu der auf
Gleichheit beruhenden Demokratie, so ist es sehr wohl möglich, daß die von Durkheim so gut beschriebenen Phänomene der sozialen Verdichtung vor allem die Emanzipation der Generationen voneinander
begünstigt und bei Kindern und Heranwachsenden die von uns hier beschriebene Entwicklung ermöglicht haben.
Dieses Zusammentreffen der soziologischen Probleme mit denjenigen der genetischen Psychologie stellt eine zu wichtige Frage, als daß wir uns mit diesen Hinweisen begnügen könnten und es ist
jetzt geboten, unsere Ergebnisse mit den Hauptthesen der Soziologen und Psychologen über die empirische Natur des moralischen Lebens zu vergleichen.
18
3.4.2. Kohlberg
Quelle: Kohlberg, Lawrence: Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz. (Erstv. 1976) In: Edelstein, Wolfgang; Oser, Fritz; Schuster, Peter (Hg.): In Moralische
Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologische und pädagogische Praxis. Weinheim/Basel, 2001, S. 35-61.
Inhalt der Stufe
Was rechtens ist
Soziale Perspektive der Stufe
Gründe, das Recht zu tun
Niveau I – Präkonventionell
Stufe 1 – Heteronome Moralität
Stufe 2 – Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch
Regeln zu befolgen, aber nur dann, wenn es
irgendjemandes
unmittelbaren
Interessen
dient; die eigenen Interessen und Bedürfnisse
zu befriedigen und andere dasselbe tun zu
lassen. Gerecht ist auch, was fair ist, was ein
gleichwertiger Austausch, ein Handel oder ein
Übereinkommen ist.
Um die eigenen Bedürfnisse und Inte- Konkret individualistische Perspektive. Einsicht, dass die verschiedenen inressen zu befriedigen, wobei aner- dividuellen Interessen miteinander im Konflikt liegen, sodass Gerechtigkeit
kannt wird, dass auch andere Men- (im konkret-individualistischen Sinne) relativ ist.
schen bestimmte Interessen haben.
Pädagogik und Ethik
Regeln einzuhalten, deren Übertretung mit Vermeiden von Bestrafung und die Egozentrischer Gesichtspunkt. Der Handelnde berücksichtigt die Interessen
Strafe bedroht ist. Gehorsam als Selbstwert. überlegene Macht der Autoritäten.
anderer nicht oder erkennt nicht, dass sie von den Seinen verschieden sind,
Personen oder Sachen keinen physischen
oder er setzt zwei verschiedene Gesichtspunkte nicht miteinander in BezieSchaden zuzufügen.
hung. Handlungen werden rein nach dem äußeren Erscheinungsbild beurteilt
und nicht nach den dahinter stehenden Intentionen. Die eigene und die Perspektive der Autorität werden miteinander verwechselt.
Niveau II – Konventionell
Stufe 3 – Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonelle Konformität
Den Erwartungen zu entsprechen, die nahe
stehende Menschen oder Menschen überhaupt an mich als Träger einer bestimmten
Rolle (Sohn, Bruder, Freund usw.) richten. ‚Gut
zu sein’ ist wichtig und bedeutet, ehrenwerte
Absichten zu haben und sich um andere zu
sorgen. Es bedeutet, dass man Beziehungen
pflegt und Vertrauen, Loyalität Wertschätzung
und Dankbarkeit empfindet.
Perspektive des Individuums, das in Beziehung zu anderen Individuen steht.
Der Handelnde ist sich gemeinsamer Gefühle, Übereinkünfte und Erwartungen bewusst, die den Vorrang vor individuellen Interessen erhalten. Mittels
der ‚konkreten goldenen Regel’ bringt er unterschiedliche Standpunkte miteinander in Beziehung, indem er sich in die Lage des jeweils anderen versetzt. Die verallgemeinerte ‚System’-Perspektive bleibt noch außer Betracht.
Um das Funktionieren der Institution
zu gewährleisten, um einen Zusammenbruch des Systems zu vermeiden,
‚wenn es jeder täte’, oder um dem
Gewissen Genüge zu tun, das an die
selbst übernommenen Verpflichtungen mahnt. Leicht zu verwechseln mit
dem für die Stufe 3 charakteristischen
Glauben an Regeln und Autorität.
Macht einen Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Standpunkt und
der interpersonalen Übereinkunft bzw. den auf einzelne Individuen gerichteten Motiven. Übernimmt den Standpunkt des Systems, das Rollen und Regeln festlegt. Betrachtet individuelle Beziehungen als Relation zwischen Systemteilen.
Stufe 4 – Soziales System und Gewissen
Die Pflichten zu erfüllen, die man übernommen
hat. Gesetze sind zu befolgen, ausgenommen
in jenen extremen Fällen, in denen sie anderen
festgelegten Verpflichtungen widersprechen.
Das Recht steht auch im Dienste der Gesellschaft, der Gruppe oder der Institution.
Pädagogik und Ethik
(1) Das Verlangen, in den eigenen
Augen und in denen anderer Menschen als ‚guter Kerl’ zu erscheinen;
(2) die Zuneigung zu anderen;
(3) der Glaube an die ‚Goldene Regel’;
(4) der Wunsch, die Regeln und die
Autorität zu erhalten, die ein stereotypes ‚gutes’ Verhalten rechtfertigen.
19
20
Niveau III – Postkonventionell oder prinzipiengeleitet
Stufe 5 – Die Stufe des sozialen Kontrakts bzw. der gesellschaftlichen Nützlichkeit, zugleich die Stufe individueller Rechte
Sich der Tatsache bewusst zu sein, dass unter
den Menschen eine Vielzahl von Werten und
Meinungen vertreten wird, und dass die meisten Werte und Normen gruppenspezifisch sind.
Diese ‚relativen’ Regeln sollten im Allgemeinen
jedoch befolgt werden, im Interesse der Gerechtigkeit und weil sie den sozialen Kontrakt
ausmachen. Doch gewisse absolute Werte und
Rechte wie Leben und Freiheit müssen in jeder
Gesellschaft und unabhängig von der Meinung
der Mehrheit respektiert werden.
Der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive. Perspektive eines rationalen Individuums, das sich der Existenz von Werten und Rechten bewusst ist, die
sozialen Bindungen und Verträgen vorgeordnet sind. Integriert unterschiedliche Perspektiven durch die formalen Mechanismen der Übereinkunft, des
Vertrags, der Unvoreingenommenheit und der angemessenen Veränderung.
Zieht sowohl moralische wie legale Gesichtspunkte in Betracht, anerkennt,
dass sie gelegentlich in Widerspruch geraten, und sieht Schwierigkeiten, sie
zu integrieren.
Stufe 6 – Die Stufe der universalen ethischen Prinzipien
Selbstgewählten ethischen Prinzipien zu folgen. Spezielle Gesetze oder gesellschaftliche
Übereinkünfte sind im Allgemeinen deshalb
gültig, weil sie auf diesen Prinzipien beruhen.
Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstoßen, dann handelt man in Übereinstimmung
mit dem Prinzip. Bei den erwähnten Prinzipien
handelt es sich um universale Prinzipien der
Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche
Rechte, und die Würde des Einzelwesens ist
zu achten.
Der Glaube einer rationalen Person
an die Gültigkeit universaler moralische Prinzipien und ein Gefühl persönlicher Verpflichtung ihnen gegenüber.
Perspektive eines ‚moralischen Standpunkts’, von dem sich gesellschaftliche
Ordnungen herleiten. Es ist dies die Perspektive eines jeden rationalen Individuums, das das Wesen der Moralität anerkannt bzw. anerkennt, dass jeder
Mensch seinen (End-)Zweck in sich selbst trägt und entsprechend behandelt
werden muss.
Pädagogik und Ethik
(1) Ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Gesetz aufgrund der im
Gesellschaftsvertrag niedergelegten
Vereinbarung, zum Wohle und zum
Schutz der Rechte aller Menschen
Gesetze zu schaffen und sich an sie
zu halten;
(2) Ein Gefühl der freiwilligen vertraglichen Bindung an Familie, Freundschaft, Vertrauen und Arbeitsverpflichtungen;
(3) Interesse daran, dass Rechte und
Pflichten gemäß der rationalen Kalkulation eines Gesamtnutzens verteilt
werden nach der Devise ‚Der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl’.
Pädagogik und Ethik
21
3.4.3. Fritz Oser
Oser, Fritz (2001): Acht Strategien der Wert und Moralerziehung. In: Edelstein, Wolfgang; Oser,
Fritz; Schuster, Peter: Moralische Erziehung in der Schule: Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis. Beltz, Weinheim [u.a.].S. 63-89; hier 84-87.
Achtes Modell: Der realistische Diskurs. Ein Basismodell für Just Community-Schulen
Der Diskursansatz (vgl. Oser, 1998) baut auf dem progressiven Ansatz Kohlbergs auf, beachtet aber
stärker die subjektiven, sozialen und kommunikativ-prozessualen Bedingungen für die Auseinandersetzung um eine moralisch begründete Problemlösung in konkreten Situationen. Er entstand in der Auseinandersetzung mit der Diskursethik von Apel (1988) und Habermas (1983, 1986), die neben den kompetenztheoretischen Voraussetzungen, die sie zu klären versuchen, auch eine im Prinzip unbegrenzte
„ideale Kommunikationsgemeinschaft“ postulieren, in der Handlungsprobleme einer Lösung zugeführt
werden können, die den die menschliche Gemeinschaft und die Autonomie des Einzelnen tragenden
Prinzipien entspricht. Die Unterschiede zwischen der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft
und der sozialpsychologischen Realität pädagogischer Interaktion sind allerdings zu gravierend, um
leicht eine Brücke zwischen der Theorie kompetenter Kommunikation in der idealen Situation und der
Realität pädagogischer Interventionen schlagen zu können. Während dort das letzte Ziel die Normbegründung an sich ist, geht es hier um Lernen in stets durch ungünstige Randbedingungen belasteten,
durch mancherlei Kommunikationsschranken begrenzten und durch die kognitiven Fähigkeiten und den
Stand der sozialen Entwicklung der Beteiligten begrenzten Problemlöseprozessen. Das Lösen solcher
Probleme hat hier Vorrang vor der grundsätzlichen Begründung der Norm. Entwickelt wurde der Ansatz, weil Lehrpersonen die Konfrontation mit Kohlbergs Entwicklungsmodell scheuten, dies weil sie –
oft auch unbewusst – sich einer „Schnell-Stufe“ zuordneten und dies verabscheuten oder als Bewertung
ihrer Person empfanden. Deshalb hielten sie Ausschau nach einem Verfahren, das ihnen helfen könnte,
moralisch förderliche Prozesse in Gang zu setzen, ohne Stufenreflexion vornehmen zu müssen.
Worin besteht die Diskurspädagogik?
Erstens muss der „realistische Diskurs“ seinen Platz bekommen. Eine Unterbrechung bisherigen Arbeitens ist gefordert. Das Forum der Aussprache, die Aula-Versammlung, der „runde Tisch“ müssen geschaffen werden. Dies erfordert, äußere Vorkehrungen zu treffen, aber auch innere Bereitschaft zu wecken, etwas einem Diskurs zu unterziehen. Denn Diskurse sind nur erfolgreich, wenn die Beteiligten sie
wollen und sich dem Prozess der autonomen Regelung öffnen.
Zweitens braucht dieser Prozess der Regelung wiederum seine Regeln, damit die Beteiligten, die sich,
wenn sie sich im Gespräch öffnen, immer auch in ihrer Verletzlichkeit zeigen, vor Bloßstellungen und
Nachteilen bewahrt werden. Dies ist eine komplizierte Aufgabe, die von der philosophischen Diskurstheorie nicht behandelt wird und in der einschlägigen wissenschaftlichen Diskussion unterschätzt wird.
Wie viel Aufwand und pädagogische Verantwortung die Einrichtung und Vorbereitung produktiver
Diskussionen zum Beispiel in der Just Community verlangt, ist nicht leicht abzuschätzen.
Der dritte Schritt betrifft die Kontroverse. Es nützt wenig, wenn konträre Argumente lediglich „aufgetischt“ werden. Es geht darum, die divergierenden Aussagen zu koordinieren, indem sie zu den Prinzipien der Gerechtigkeit (Gesinnung), Fürsorge (Konsequenzen), Wahrhaftigkeit (Redlichkeit) und Friedfertigkeit in ein Verhältnis gesetzt werden.
Schritt für Schritt nähert sich die Gruppe einer angesichts der Situation und im Hinblick auf die Betroffenen besterreichbaren Lösung. Es herrscht folglich eine Art eingeschränkter Universalismus vor, denn
zwar wird nach der Verallgemeinerbarkeit der Lösung gefragt, aber nicht deren Generalisierung ist das
Ziel, sondern eine Lösung für die jeweilige besondere Situation (vgl. Nunner-Winkler, 1986, S. 126144). Der unmittelbar drängende Konflikt soll befriedigt werden. Die Argumente, die vorgebracht werden, sind zwar stufenspezifisch zuzuordnen (im Falle von Adoleszenten meistens Stufe 3). Aber nicht
22
Pädagogik und Ethik
dies ist entscheidend, sondern die optimale Koordination und die Suche nach einer befriedigenden Lösung auf der Basis aktueller Denk- und Urteilsstrukturen, allerdings im Wissen, dass diese Strukturen
sich durch die hier geforderte Anwendung verändern werden.
Zum Vierten richtet dieser Ansatz das Augenmerk auf die Rolle der Lehrperson: Die Lehrerin oder der
Lehrer sind Beteiligte, nicht nur Beobachter. Sie sind Mitglieder der Diskussionsrunde, nicht Kontrolleure der jüngeren Beteiligten. Sie sagen ihre Meinung, die wichtig ist, weil sie Menschen mit Wissen,
mit Erfahrung und mit Können sind. Sie übermitteln auf diese Weise Inhalte. Diese Meinung kann zwar
ebenso wie die anderen Meinungen kritisiert werden, aber sie gibt auf diese Weise Richtungen und Versuche der Lösung an. Lehrpersonen können ihre Meinung auch ändern. Somit beteiligen sie sich nicht
nur an der Organisation des Prozesses, sondern sie melden auch Ansprüche an.
Fünftens erschöpft sich die Rolle der Lehrperson nicht in ihrer Beteiligung, sondern sie schafft auch
Vertrauen und praktiziert Vorschuss an „Zu-Mutungen“. Diese Haltung ist ein Wesenselement des realistischen Diskursansatzes. Lehrer und Erzieher müssen durch ihre Haltung den Glauben dokumentieren, dass sie die Schüler, die Jugendlichen, ob „fleißig“ oder „faul“, ob temperamentvoll oder zurückhaltend, ob Mädchen oder Knabe, ob Unter- oder Oberschicht, als fähig einschätzen, die Balance zwischen Dimensionen des Moralischen so herzustellen, dass eine gute, für die Situation moralisch beste
Lösung erreicht wird. Dieser reale Optimismus, diese diskursstiftende „Fiktion“ ist eine ureigene Art
der pädagogischen Unterstützung, die letztlich dem Lernen erst Sinn verleiht. (Nebenbei: Dieser Vorschuss an Vertrauen über die Diskursfähigkeit der Jugendlichen stellt ein Kennzeichen für das Ethos
des Lehrers dar [Oser, 1998].)
Wir unterscheiden nun fünf Typen der Bemühung, eine Balance zwischen verschiedenen Ansprüchen
(Gerechtigkeit, Fürsorglichkeit und Wahrhaftigkeit) auf unparteiische Art herstellen zu wollen: den
Vermeidungstyp (man weicht dem realistischen Diskurs aus und vermeidet die Unterbrechung), den
Delegierungstyp (man gibt die Verantwortung an jemand anders ab, z.B. an den Schulleiter), den Alleinentscheidungstyp (autoritär oder nicht autoritär), den unvollständigen Diskurstyp ( dem nur Einsichtsfähigkeit, aber nicht Entscheidungsfähigkeit zugetraut wird) und den vollständigen Diskurstyp
(bei dem alle Voraussetzungen für den realistischen Diskurs, die oben angesprochen worden sind, erfüllt werden). Untersuchungen zeigten, dass nur wenige Lehrpersonen in der Lage sind, echte realistische Diskurse zu erstellen und sinnvoll zu begleiten.
Die Grundannahme, dass Jugendliche in der beschriebenen Weise diskursfähig sind, ist auch auf Kritik
gestoßen: Jugendliche würden überfordert, auch dem Erzieher werde zuviel abverlangt, wenn er seine
positionale Autorität aufgeben und Autorität als Person erst im Diskurs neu gewinnen müsse. Das Gespenst von Kindertribunalen, von Schülermehrheiten, die Lehrer niederstimmen, vom Verlust der Würde und Integrität des Einzelnen wurde beschworen. Praxis und Forschung zeigen, dass Jugendliche mit
erstaunlich wenigen Ausnahmen in der Lage sind, sich an diesen Prozessen einer Suche nach guten Lösungen zu beteiligen und das in sie gesetzte Vertrauen fast immer rechtfertigen. Allerdings sind die
Schaffer guter Voraussetzungen dafür die Lehrpersonen selber.
Der Diskursansatz lässt sich mit dem progressiven Ansatz leicht verbinden. Der progressive Ansatz betont mehr die „vertikale“ Dimension der Entwicklung zu höheren Denk- und Urteilsstrukturen, der Diskursansatz mehr die Bedingungen moralisch begründeter und erfahrbarer Problemlösungen. Die intensiven Lernprozesse beim Diskursansatz können der Entwicklung des moralischen Urteils zugute kommen. Der realistische Diskurs ist somit auch immer eine unabdingbare Grundlage für eine Just Community-Schule (siehe weiter unten).
3.4.4. Georg Lind
Quelle: Lind, Georg 2003: Moral ist lehrbar. Oldenbourg Schulbuchverl., München.: 83-85.
7.5 Ablaufschema einer >Moralisches Dilemma<-Diskussion
Lernziele [Motivationsphase]
[Unterstützung]
Die Schüler werden mit den Fakten vertraut
gemacht und
lernen die Natur eines moralischen Dilemmas kennen
[Herausforderung]
Sich öffentlich mit einer Meinung zu einer
Kontroverse exponieren können
Lernen, den Unterschied zwischen Entscheidung unter Druck und druckfreier Meinungsbildung zu verstehen
Die Vielfalt von Meinungen zu einem moralischen Problem anerkennen lernen
[Unterstützung]
Andere Menschen (auch Nicht-Freunde) als
Quelle der Unterstützung sehen lernen
Begründungen als Quelle der Stärkung der
eigenen Position sehen lernen
Entdecken, dass Argumente eine unterschiedliche (moralische) Qualität haben können
Pädagogik und Ethik
Zeit
Aktivität
0 Min. Das Dilemma kennen lernen (vortragen, lesen und nacherzählen lassen) und den >Dilemma-Kern< herausarbeiten: Was ist hier das moralische Problem? Welche eigenen Prinzipien geraten hier miteinander in Konflikt? Bei Nachfragen betonen, wie gründlich andere
Verhaltensalternativen in dem jeweiligen Fall vorher geprüft und verworfen wurden und wie
drängend eine schnelle Entscheidung ist.
15
Probe-Abstimmung: War das Verhalten der zentralen Person eher richtig oder eher falsch?
Pro- und Kontra-Gruppen bilden; falls keine etwa gleich starken Gruppen zustande kommen. das Dilemma erneut darstellen und dabei die >schwache< Seite stärker berücksichtigen; evtl. das Dilemma etwas abändern, so dass einige Teilnehmer in das >schwache<
Lager wechseln können.
Keine Scheinkontroverse zulassen; Teilnehmer nicht auffordern, eine andere Rolle zu spielen oder eine andere Meinung zu übernehmen. Es ist wichtig, dass jeder seine eigene
Meinung vertritt und authentisch Argumente vorbringt.
30
In jedem Meinungslager werden kleine Gruppen von 3-4 TeilnehmerInnen gebildet, die ihre
Gründe für bzw. gegen das Verhalten der Person im Dilemma austauschen und weitere
Argumente suchen und diese nach ihrer Wichtigkeit und Bedeutung ordnen.
Nicht weniger als 3 und nicht mehr als 4 Teilnehmer in der Gruppe zulassen. Möglichst die
Gruppen nach räumlicher Nähe bilden und nicht dazu auffordern, nach eigenen Kriterien
zu bilden. Allerdings bei Weigerung flexibel auf Wünsche eingehen.
23
24
40
70
85
90
Schluss-Abstimmung: War das Verhalten der Person in dem Dilemma eher richtig oder eher falsch?
Nach der Diskussion die Qualität der Diskussion und der Argumente loben und Beispiele
geben für besonders schwierige Situationen, die von den Teilnehmern gut gemeistert wurden; die Bedeutung der Abstimmung relativieren (>Wenn Sie in eine solche Situation geraten würden, müssten Sie vermutlich ganz neu entscheiden<).
Nachfragen: Wie haben die Teilnehmer diese Diskussion empfunden? Was haben sie daraus gelernt? War es ein Gewinn? Was fanden sie störend?
Wer hat schon einmal über ein solches Thema mit anderen (Eltern, Lehrer, Mitschüler etc.)
diskutiert? Was sollte mit dieser Stunde bezweckt werden? Was habt Ihr gelernt?
Ende der Dilemma-Stunde
[Herausforderung]
Öffentliche Diskussionen über wirkliche moralische Probleme schätzen lernen
Sich Gehör verschaffen lernen; die eigenen
Argumente pointiert vortragen lernen; Argumente nach ihrer Wichtigkeit ordnen und
sich auf die wichtigsten konzentrieren lernen
Anderen genau zuhören lernen
Lernen, zwischen der Qualität von Argumenten (über die man heftig streiten kann) und
der Qualität von Menschen (die man immer
respektieren sollte) zu unterscheiden
[Unterstützung]
Entdecken, dass Argumente unterschiedliche moralische Qualität haben können
Entdecken, dass auch Gegner gute Argumente haben können. Gute Argumente auch
dann schätzen lernen, wenn sie von der
Gegenseite kommen
[Herausforderung]
Kritik der eigenen Position zu schätzen lernen
Lernen, dass auch die kontroverse Diskussion über ernsthafte Probleme zur Qualität
des Lebens beiträgt
[Unterstützung]
Sich der Entwicklung bewusst werden, die
man durch die Dilemma-Diskussion selbst
durchgemacht hat. Die Lernsituation >Dilemma-Diskussion< wertschätzen lernen.
Wozu kann sie mir und anderen helfen?
Pädagogik und Ethik
80
Diskussion von Pro und Kontra im Plenum: Die Lehrperson erläutert die Diskussionsregeln:
Jedes Argument ist zulässig, alles darf gesagt werden; aber keine Person darf angegriffen
oder bewertet werden – auch nicht positiv (oft beginnen Abwertungen mit einem ScheinLob), und
Die Teilnehmer rufen sich gegenseitig auf (Argumente-Ping-Pong); der Lehrer/die Lehrerin
achtet nur auf die Einhaltung der Spielregeln.
Danach beginnt ein Argumente-Ping-Pong: Aus einer Gruppe (die kleinere Gruppe fängt in
der Regel an) trägt ein Teilnehmer zunächst die eigene Meinung und die (wichtigsten)
Gründe hierfür vor. Nach seinem Beitrag folgt eine Entgegnung aus der anderen Gruppe.
Wer geantwortet hat, ruft aus der ersten Gruppe eine Person auf, die sich zu Wort meldet.
Und so weiter. Pro- und Contra-Argumente sollen an der Tafel verschriftlicht werden.
Die Lehrperson wirkt in dieser Phase fast ausschließlich als ModeratorIn und als Schiedsperson, wenn die Diskussionsregeln nicht eingehalten werden. Sie sollte aber eingreifen,
wenn z.B. zu leise gesprochen wird, oder wenn ein Teilnehmer zu viele Argumente aneinander reiht (>Argumente kommen umso besser zu Geltung, je weniger es sind und je kürzer sie sind<).
Jede Gruppe bringt die Argumente der anderen Gruppe in eine Rangreihe: Welches waren
die (zwei, drei oder vier) besten Argumente der Gegenseite? Welche Argumente haben
mich nachdenklich gemacht=
Pädagogik und Ethik
3.5.
Lehrerbilder
Zu den verschiedenen Vorstellungen der Lehrerrolle im Zeitverlauf vgl. auch die Bilder in Anhang
(AnhangPaedagogik01).
25
26
Deutsch und Ethik
4. Deutsch und Ethik
4.1.
Ethische Fragen im Deutschunterricht
Sprache und Literatur sind Mittel der Welterfassung, Wirklichkeitsvermittlung und der zwischenmenschlichen Verständigung; und sie sind vom Ansatz her mit ethischen Fragen verknüpft.
Als Leitfach ist das Fach Deutsch interdisziplinär und fächerverbindend und fördert vernetztes Denken
und Arbeiten. Der Deutschunterricht befasst sich mit ethischen Themen auf unterschiedlichen Ebenen:
Es geht um Sprache und Sprechen, um Kenntnisse über und Reflexion auf Sprache und ihre Wirkung,
um praktische Rhetorik als situations-, sach- und adressatenbezogenes Kommunizieren und Agieren.
Es geht um Lesen als kulturelle Schlüsselkompetenz; das Lesen von Literatur erscheint als Initiation in
einen narrativen kulturellen Zusammenhang und als Möglichkeit ästhetischer Reflexion und Erfahrung.
Und es geht um Schreiben, das Herstellen von Texten, die kreativ erzählen, Texten, die analytisch auf
andere Texte antworten und Texten, die argumentieren und werten.
Im Folgenden werden alle drei Ebenen auf ihre zugrunde liegenden ethischen Fragen geprüft.
4.2.
Zur ethischen Dimension von Literatur
Literaturethik bezieht sich nicht einfach auf die „Moral von der Geschicht“ (Literatur als Lehre), sondern stellt ein Medium dar für die Reflexion moralischen Handelns einerseits und für das Einüben von
Empathie andererseits.
Sich mit Literatur beschäftigen bedeutet Anteil nehmen am Leben anderer. In vielerlei Hinsicht wird
deutlich, dass das, was wir lesend erfahren, uns ähnlich verändern kann wie ‚wirkliche’ Erfahrung. Literatur als Darstellungsform von Erfahrungen verschiedenster Epochen, Lebensformen, kultureller Umgebungen, unterschiedlichster Lebensläufe und unterschiedlichster Welten ergänzt, spiegelt und schärft
unsere ‚wirkliche’ Erfahrung.
Für Ulf Abraham (1998) stellt der Literaturunterricht eine ganzheitliche pädagogische Aufgabe dar, der
kognitive, poetische, interaktive und moralische Kompetenzen fördern sollte - ganzheitliche Bildung
der Persönlichkeit im Literaturunterricht.
Im Mittelpunkt des Literaturunterrichts steht das literarische Werk, das sachlich-sprachlich auf Begriffe
gebracht werden muss. Der selbstbestimmte Umgang mit Texten erfordert eine Vielzahl von Kompetenzen: kognitive Kompetenzen, sachlich-sprachliche Kompetenzen, poetische Kompetenzen, interaktive Kompetenzen, und schließlich moralische Kompetenzen (z. B. Prinzipien bilden und diese auch auf
das Werk im Ganzen anwenden; Wertungen äußern, begründen; Einstellungen und Verhalten der Figuren der fiktionalen Welt ethisch bewerten). „Die entscheidende Frage, die sich der Literaturdidaktik
stellt, ist, was die Vermittlung von Literatur heute für die Lebensentwürfe der Individuen erbringt und
worin Literatur weiterhin unersetzbar ist.“ (Bogdal 2002, 29) Basiert der Literaturunterricht auf einer
solchen „entscheidenden Frage“, dann hat er sich selbst schon innerhalb des ethischen Diskurses, der
Fragen nach dem „guten Leben“ stellt, positioniert.
Eine Literaturanalyse wird zunächst meist auf der sachlich-diskursiven, kognitiven Ebene geführt, als
formale Analyse nach bekannten Kriterien: bei Erzähltexten z.B. Erzählperspektive, erzählte Zeit und
Erzählzeit, Darstellungsformen, Satzbau, Wortwahl, Metaphorik, etc. Diese formale Ebene mündet in
vertieftere Formen der Aneignung, die es ermöglichen, dass Erfahrungen in Kontakt miteinander treten
und miteinander konfrontiert werden.
Komplexe Literatur präsentiert in der Regel keine einfachen Vorbilder, erzieht also nicht notwendigerweise zu bestimmten Wertorientierungen. Zugleich ist sie in den meisten Fällen mit Norm- und Wertekonflikten befasst, wie es zum Beispiel Schwerpunktthemen im Deutschunterricht der Kollegstufe zei-
Deutsch und Ethik
27
gen: Schillers „Kabale und Liebe“ thematisiert einen Stände- und einen Vater-Sohn-Konflikt und stellt
die Frage nach Wahrheit, Lüge und Schuld, Macht und Ohnmacht. Fontanes „Effi Briest“ thematisiert
Treue und Liebesverrat, Schuld und Verzeihen, aber auch Freiheit und Determination. Literarische
Werke, vor allem Dramen und Romane, bieten Darstellung und Beschreibung problematischer Einzelfälle, deren Behandlung moralische Einstellungen und ethische Reflexionen vermitteln kann. Auf der
Themen-Ebene sind Denkbilder (Müller-Michaels 1996) wie Schuld (und Sühne), Mitleid, Treue und
Liebesverrat, Generationenkonflikt (Vater-Sohn, Mutter-Tochter) selbst ethisch bestimmt; deren Reflexion trägt so nicht ‚fremde Inhalte’ an die Literatur heran, sondern lediglich ein ethisches Begriffs- und
Argumentationsgerüst, das diese Inhalte klarer konturiert erscheinen lässt. Denkbilder bündeln den
Stoff und machen ihn anschaulich, sie fördern die Phantasie und regen zur Kreativität und Produktivität
an. Die subjektive Rezeption wird so zur Voraussetzung für produktive Verfahren im Umgang mit literarischen Texten. Der Umgang mit dem Text als Partitur nimmt die Schülerinnen und Schüler sowohl in
der Sinnkonstitution als auch in der Selbstkonstitution ernst.
„Nimmt man an, Literatur spiegle das Leben wieder, dient sie der pädagogischen Illustration klassischer
Fragen: wie man sich den Menschen gegenüber verhalten soll, was Tugend, bzw. Untugend sind, wie
Konflikte entstehen und wie sie zu lösen sind und welches die höchsten Güter im Leben sind. Die Ethik
selbst dient damit wiederum als Interpretament literarischer Fragen: Ob Antigone ihre Brüder zurecht
begraben wollte, ob Hamlet den König gleich hätte töten sollen, ob Effi Innstetten zurecht untreu wurde
etc. Literatur dient der Ethik, indem sie Handlungsmotive und Ziele wiedergibt, dem Leser und der Gesellschaft den Spiegel vorhält, so dass sie ihr eigenes Urteil bilden kann. Literatur bietet Erklärungsmodelle für die Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit des Lebens an und sie stellt die ersehnte Einigkeit
bzw. Uneinigkeit im Leben vor. Für diese Fragen interessiert sich zumindest eine Interpretation, die
sich eher an das „Was“ der Erzählung (story) als an das „Wie“ der Erzählstruktur (plot) hält.“ (Wägenbaur 1998, 248)
Auf dieser thematischen Ebene eröffnen Aspekte literarischer Erfahrung literaturethische Fragestellungen vielfältiger Art: Welche ethischen Themen und Moralentwürfe finden sich in der Literatur? Gibt es
ausdrücklich unmoralische, moralisch verwerfliche Literatur? Was darf Literatur nicht? Gibt es Literatur ohne jede ethische Relevanz? Ist die Frage nach literarischer Qualität, nach Kunst und Kitsch, nur
ästhetisch oder auch ethisch zu beantworten? Ist eine Zensur aus moralischen Gründen zu rechtfertigen?
Auf einer zweiten, strukturellen Ebene verläuft der Zugang zu ethischen Fragen nicht primär über die
Inhaltsebene, sondern über die Ebene der Darstellung von Inhalten und deren Rezeptionsmöglichkeiten.
Vor allem zeitgenössische Literatur spielt mit Illusion und Illusionsbrechung, mit Multiperspektivität
und Intertextualität. Das Wie des Erzählens drängt auf Fragen nach Fiktionalität und Wirklichkeit, nach
Wahrheit und Schein, ebenso wie Fragen nach ästhetischer Erfahrung und deren Stellenwert für
menschliches Leben und moralisches Urteilen.
Auf beiden Ebenen können ethische Instrumentarien für den Literaturunterricht klärend und strukturierend wirken. Zugleich können hier implizit oder explizit Fähigkeiten vermittelt werden, die grundlegend sind für jede ethische Bildung:
-
die Fähigkeit, sich in fremde Personen (auch fremde Zeiten) einzufühlen
-
die Fähigkeit des Perspektivenwechsels
-
die Fähigkeit der Narrativität als Fähigkeit, isolierte Ereignisse in einem Zusammenhang zu
verstehen
-
die Fähigkeit, einen Möglichkeitsraum für menschliches Handeln zu eröffnen und Handlungsalternativen durchzuspielen
-
die Fähigkeit, intuitive Urteile explizit zu machen und diskursiv zu begründen
-
die Fähigkeit, in Handlungskonflikten Wertkonflikte zu erkennen und diese Wertkonflikte zu
reflektieren
28
Deutsch und Ethik
-
die Fähigkeit, kreativ handeln zu lernen
-
die Fähigkeit, die unscharfe Grenze zwischen ‚Fiktionalität’ und ‚Wirklichkeit’ zu erkennen, zu
verstehen und zu bearbeiten.1
In Zukunft werden auf den Deutschunterricht neue Aufgabenfelder zukommen, die weitere ethische
Dimensionen betreffen: Die Medienpädagogik wird eine vergleichbare Bedeutung wie die Literaturdidaktik erhalten; Filme und andere visuellen Medien werden mit den literarischen Texten gleichrangig
sein. Pluralismus und kulturelle Globalisierung werden eine interkulturelle Neuorientierung des
Deutschunterrichts notwendig machen. (Bogdal 2002, 84ff; Kämper 2003, 60)
4.3.
Beispiele und Materialien
Versucht man komplexe Literatur in ethisch-moralische Kategorien einzuteilen im Hinblick auch auf
den Kanon der Schullektüre, könnte man drei Kategorien bilden:
Literatur als Lehre (z.B. Aesops Fabeln, Brechts Lehrstücke), Literatur als Aufschrei (z.B. Büchners
Woyzeck, Lyrik des Expressionismus), Literatur als Provokation (z.B. Schillers Räuber, Benns MorgueGedichte, Jelineks Lust). Diese Kategorien weisen Schnittmengen auf. Büchners Woyzeck lässt sich in
die Kategorie „Literatur als Aufschrei“ einordnen; zugleich war – und ist – der Text eine Provokation;
auch eine “Lehre“ kann man aus ihm ziehen, wenngleich diese „Lehre“ wenig eindeutig bleibt. Im Folgenden sollen an drei kurzen und einem ausführlicheren Beispiel ethisch-philosophische Fragestellungen im Deutschunterricht gezeigt werden.
Beispiel (1)
Anlässlich eines Unterrichtsgesprächs über Büchners Woyzeck, der arm und entrechtet, missbraucht
durch medizinische Versuche, in Verzweiflung seine Geliebte Marie tötet, stellt ein Schüler der
11.Klasse folgende Frage: Warum müssen wir uns mit so einem Versager wie Woyzeck beschäftigen?
Es ist eine Frage nach der Textauswahl, nach dem literarischen Kanon und eine Frage literarischer Ästhetik. Ein Lehrer können auf verschiedene Weise reagieren, abhängig auch davon, ob er sich die Zeit
nimmt, die Frage differenziert zu behandeln. Im folgenden sollen drei verschiedene Lehrerantworten
das Dilemma einer solchen Schülerfrage zeigen:
1. Es geht hier primär um die Frage des geschlossenen und offenen Dramas. Erarbeiten Sie bis
morgen Folgendes....
2. Da kann ich nichts dafür. Das gehört zum Kanon.
3. Wenn man sich nicht gewisse Bildungsgüter aneignet, wird man selbst zum Versager.
Welche Botschaften entnehmen Schüler aus diesen Antworten? Zwischen Sachorientiertheit, verengtem
Horizont und Zynismus zeigen diese Antworten mögliche Probleme der Kommunikation im Schulalltag.
1
Vgl. dazu auch die Einleitung Geschichte und Ethik, Kap 8.1.
Deutsch und Ethik
29
Beispiel (2)
Gottfried Benn
Kleine Aster
Im Deutschunterricht einer 12.Klasse wird
Benns Gedicht, Kleine Aster (1912) besprochen.
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch
gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
Eine Schülerin klagt:„Ich finde das Gedicht eklig. Muss ich das unbedingt interpretieren?“ Antworten der Lehrer könnten
so lauten:
1. Bestimme erst mal Metrum,
Rhythmus und Reim, dann reden
wir weiter!
2. Benn ist ein wichtiger Lyriker und
jeder Abiturient sollte Gedichte
aus der Sammlung „Morgue“
kennen.
3. Wir könnten doch gemeinsam überlegen, was dir an dem Gedicht
„eklig“ vorkommt und wieso
Benn es genauso geschrieben hat.
(1912)
Auch hier gibt es Sachorientierung und Sekundärmotivation, aber immerhin ist in der dritten
Antwortvariante das Ansinnen des Lehrers spürbar, dieser speziellen Schülerfrage gerecht zu werden.
Der Literaturunterricht wirft auf vielfältige Weise moralisch-ethische Fragen auf. Können „Woyzeck“
und „Kleine Aster“ als Zumutung bezeichnet werden? Wieviel Provokation, Trauer und Tragik vertragen unsere Schülerinnen und Schüler? Berücksichtigen wir beim Interpretieren in ausreichendem Maße
neben dem kognitiven auch den affektiven Wert eines Gedichts, eines Dramas, einer Geschichte?
30
Deutsch und Ethik
Beispiel (3)
Im dritten Beispiel soll an der Behandlung einer Kurzgeschichte im Deutschunterricht der Oberstufe
gezeigt werden, wie literaturtheoretische und produktive Textarbeit von ethisch-philosophischer Analyse ergänzt werden kann.
Johannes Bobrowski (1917-65) , Brief aus Amerika (1965), in: Johannes Bobrowski (1973): Lipmanns
Leib, Stuttgart (Reclam 9447) S. 27-29
Brief aus Amerika
Brenn mich, brenn mich, brenn mich, singt die alte
Frau und dreht sich dabei, hübsch langsam und be5 dächtig, und jetzt schleudert sie die Holzpantinen
von den Füßen, da fliegen sie im Bogen bis an den
Zaun, und sie dreht sich nun noch schneller unter
dem Apfelbäumchen. Brenn mich, liebe Sonne,
singt sie dazu. Sie hat die Ärmel ihrer Bluse hi10 naufgeschoben und schwenkt die bloßen Arme, und
von den Ästen des Bäumchens fallen kleine, dünne
Schatten herab, es ist heller Mittag, und die alte
Frau dreht sich mit kleinen Schritten. Brenn mich,
brenn mich, brenn mich.
weiß. An der Seite steht ein Stall. Auch der Stall ist
weiß. Und hier ist der Garten. Ein Stückchen den
Berg hinunter steht schon das nächste Gehöft, und
dann kommt das Dorf, am Fluß entlang, und die
45 Chaussee biegt heran und geht vorbei und noch
einmal auf den Fluß zu und wieder zurück und in
den Wald. Es ist schön. Und es ist heller Mittag.
Unter dem Apfelbäumchen dreht sich die alte Frau.
Sie schwenkt die bloßen Arme. Liebe Sonne, brenn
50 mich, brenn mich.
55
15 Im Haus auf dem Tisch liegt ein Brief. Aus Amerika. Da steht zu lesen:
20
25
30
35
Meine liebe Mutter. Teile dir mit, daß wir nicht zu
Dir reisen werden. Es sind nur ein paar Tage, sag
ich zu meiner Frau, dann sind wir dort, und es sind
ein paar Tage, sage ich, Alice, dann sind wir wieder
zurück. Und es heißt: ehre Vater und Mutter, und
wenn der Vater auch gestorben ist, das Grab ist da,
und die Mutter ist alt, sage ich, und wenn wir jetzt
nicht fahren, fahren wir niemals. Und meine Frau
sagt: hör mir zu, John, sie sagt John zu mir, dort ist
es schön, das hast du mir erzählt, aber das war früher. Der Mensch ist jung oder alt, sagt sie, und der
junge Mensch weiß nicht, wie es sein wird, wenn er
alt ist, und der alte Mensch weiß nicht, wie es in der
Jugend war. Du bist hier etwas geworden, und du
bist nicht mehr dort. Das sagt meine Frau. Sie hat
recht. Du weißt, ihr Vater hat uns das Geschäft überschrieben, es geht gut. Du kannst deine Mutter
herkommen lassen, sagt sie. Aber Du hast Ja geschrieben, Mutter, daß Du nicht kommen kannst,
weil einer schon dort bleiben muß, weil alle von
uns weg sind.
Der Brief ist noch länger. Er kommt aus Amerika.
Und wo er zu Ende ist, steht: Dein Sohn Jons.
40 Es ist heller Mittag, und es ist schön. Das Haus ist
60
65
70
In der Stube ist es kühl. Von der Decke baumelt ein
Beifußbusch und summt von Fliegen. Die alte Frau
nimmt den Brief vom Tisch, faltet ihn zusammen
und trägt ihn in .die Küche auf den Herd. Sie geht
wieder zurück in die Stube. Zwischen den beiden
Fenstern hängt der Spiegel, da steckt in der unteren
Ecke links, zwischen Rahmen und Glas, ein Bild.
Eine Photographie aus Amerika. Die alte Frau
nimmt das Bild heraus, sie setzt sich an den Tisch
und schreibt auf die Rückseite: Das ist mein Sohn
Jons. Und das ist meine Tochter Alice. Und darunter schreibt sie: Erdmuthe Gauptate geborene Attalle. Sie zupft sich die Blusenärmel herunter und
streicht sie glatt. Ein schöner weißer Stoff mit kleinen blauen Punkten. Aus Amerika. Sie steht auf,
und während sie zum Herd geht, schwenkt sie das
Bild ein bißchen durch die Luft. Als der Annus von
Tauroggen gekommen ist, damals, und hiergeblieben ist, damals: es ist wegen der Arme, hat er gesagt, solche weißen Arme gab es nicht, da oben, wo
er herkam, und hier nicht, wo er dann blieb. Und
dreißig Jahre hat er davon geredet. Der Annus.
Der Mensch ist jung oder alt. Was braucht der alte
Mensch denn schon? Das Tageslicht wird dunkler,
75 die Schatten werden heller, die Nacht ist nicht mehr
zum Schlafen, die Wege verkürzen sich. Nur noch
zwei, drei Wege, zuletzt einer.
Sie legt das Bild auf den Herd, neben den zusammengefalteten Brief. Dann holt sie die Streichholzer
80 aus dem Schaff und legt sie dazu. Werden wir die
Milch aufkochen, sagt sie und geht hinaus, Holz holen.
Deutsch und Ethik
31
Aufgaben der drei Arbeitsgruppen
1. Analysieren Sie die Geschichte. Entwerfen Sie eine Strukturskizze, in der die zentralen Aspekte des
Textes sichtbar werden.
2. Nehmen Sie den Text als „Partitur“. Überlegen Sie sich einen kreativen oder produktiven Zugang
und stellen Sie diesen vor.
3. Bewerten Sie nach ethischen Gesichtspunkten Verhaltensweisen, Einstellungen und Äußerungen der
Personen dieser Kurzgeschichte. Überlegen Sie den thematischen Kontext einer Unterrichtseinheit, in
den man den Text stellen könnte.
Literaturtheoretische Analyse
Die Textanalyse und Interpretation der vorliegenden Kurzgeschichte kann nach folgenden Kriterien
durchgeführt werden: Textsorte, Erzählperspektive, Darbietungsformen (Bericht,
Beschreibung, direkte Rede, Monolog), Zeitgestaltung, Raumgestaltung,
Figurengestaltung, Sprache und Stil
Die produktive Textarbeit, die den literarischen Text als „Partitur“ sieht, könnte folgende Formen wählen: Szenische Präsentation, Tagebucheintrag, Antwortbrief, Fortsetzung oder Schluss finden.
Eine ethisch-philosophische Analyse wird sich zunächst auf die zentralen ethischen Begriffe konzentrieren und dann ethische Fragestellungen formulieren.
Bobrowskis Brief aus Amerika gibt Einblick in normativ strukturierte Lebenswelten und thematisiert
einen Generationenkonflikt. Ausgehend vom vierten Gebot des Dekalogs („Und es heißt: ehre Vater
und Mutter...“ Z.18) könnten Gewissensfragen thematisiert werden, Fragen der Verantwortung der Kinder für ihre Eltern, Fragen von Pflicht und Neigung. „Was braucht der alte Mensch denn
schon?“(Z. 68, 69) fragt sich die alte Frau und hier klingt die Frage an nach Glück und Sinn, nach dem
"guten Leben", aber auch nach Wert und Würde des alten Menschen.
Werke zum Kontext:
Brecht, Die unwürdige Greisin. In: Brecht, Bertold (2003): Kalendergeschichten. Rowohlt, Reinbek b.
Hamburg.
Hermann, Judith (1998): Ende von Etwas, in: Dies. (1998):Sommerhaus, später. Fischer, Frankfurt a.M.
4.4.
Literatur
Abraham Ulf u.a (2003) (Hrsg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach Pisa. Freiburg.
Bogdal, Klaus-Michael u.a. (2002) (Hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München.
Dahrendorf, Malte (1998): Überlegungen zur immanenten Didaktik und Pädagogik der kinder- und Jugendliteratur, in: Karin Richter /Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur
kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext. Weinheim, München, S.11-25.
Hurrelmann, Bettina (2000): Kinder- und Jugendliteratur in der literarischen Sozialisation, in: Lange, Günter
(Hrsg.) (2000): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 2, S. 901-920.
Kämper-van den Boogaart M. (2003) (Hrsg.): Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin.
Legutke, Michael (2002) (Hrsg.): Arbeitsfelder der Literaturdidaktik: Bilanz und Perspektiven. Tübingen.
Müller-Michaels (1996): Denkbilder – Zu Geschichte und didaktischem Nutzen einer literarischen Kategorie, in:
Deutschunterricht, Jg. 49, Heft 2, S.114-122.
32
Deutsch und Ethik
Paefgen, Elisabeth (1999): Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart.
Spinner, Kaspar (2000): Vielfältig wie nie zuvor. Stichworte zur aktuellen Kinder- und Jugendliteratur und ihrer
Didaktik, in: Praxis Deutsch 27, Heft 162 (2000), S.16-20.
Steitz-Kallenbach, Jörg (1999): „Müssen wir das lesen?“: Chancen und Grenzen schulischer Lese(r)förderung.
Oldenburg.
Wägenbaur, Thomas (1998): The Poetics of Memory. Stauffenburg-Verlag, Tübingen.
Unterrichtsmodelle:
Orientierungsstufe (Klasse 5/6)
Eichner, M./Luthringhausen,K.: „Gedenke, dass du ein Schüler bist!“ Otfried Preußlers Krabat –darstellend interpretiert. In: Praxis Deutsch Heft 154/1999 S.28.
Davideit, Annett / Hoffmann, Jeanette: „Was Menschen Menschen antun können. Ein Kind im Krieg ganz allein:
Malka Mai von Mirjam Pressler“, in: Praxis Deutsch Heft 188/2004, S.42-47.
Mutter, Claudia: „Was Spaß macht, ist verboten. Behütete und unbehütete Kindheit in Burkhard Spinnens Roman
Belgische Riesen“, in: Praxis Deutsch Heft 188/2004, S. 30-35
Sekundarstufe I (Klasse 7-10)
Horvath, Jugend ohne Gott (Szenische Interpretation) in: Praxis Deutsch Heft 136/1996, S.59.
Gross, Monika: „Diese ewige Ergebenheit ist doch widerlich!“ Streit thematisieren anhand von Birgit Vanderbekes Erzählung „Das Muschelessen“: In: Praxis Deutsch 4/02.
Matthias, Dieter: „Perspektiven durch Kontraste in einem Klassiker des Fremderlebens: Yasemin von Hark
Bohm“, in: Praxis Deutsch 175/2002, S.35-43.
Böhmann, Marc/Pangh, Claudia: “Von Außenseitern, Losern und Versagern. Identifikation und Distanzierung zu
einem (scheinbaren) Antihelden. In: Praxis Deutsch 01/03.
Rogge, Ina: „And don’t forget, the world is waiting for you!“ Jugendliche als Superstars und Marketingobjekte:
Lutz Hübners Jugendstück Creeps, in Praxis Deutsch 05/03.
Wilczek, Reinhard: Ein märchenhaftes Theaterstück über das Erwachsenwerden: Thomas Oberenders Nachtschwärmer, in: Praxis Deutsch 05/03.
Scherer, Gabriela: „Erwachsenwerden heute: Crazy und Relax. Adoleszenzromane im Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch 04/03.
Sekundarstufe II (Klasse 11-13)
Lessing, Emilia Galotti (Szenische Interpretation) in: Praxis Deutsch Heft 136/1996, S.67.
Willerich-Tocha, Margarete: „Je größer die Verzweiflung, um so weniger Sätze braucht es. Hörcollagen zu Hanna
Kralls Erzählung Liebe. In: Praxis Deutsch 3/2004.
Menzel, Wolfgang: Die Gestaltung der Zeit. Patrik Süskind: Ein Kampf. In: Praxis Deutsch 4/2004.
Rauch, Marja, „Kinderzone DDR?“ Kindheit und Autobiographie bei Jana Hensel, Kathrin Aenlich und Claudia
Rusch. In: Praxis Deutsch Nr.188/2004.
Hesse, Matthias/Krommer, Axel: „Vergangenheitsbewältigung im Krebsgang““. Das Spiel mit der Fiktionalität
als didaktische Strategie bei Günter Grass. In: Praxis Deutsch 04/03.
Themenhefte
Der Deutschunterricht 1 (2002) Tod und Literatur
Der Deutschunterricht 3 (2003) Kulturwissenschaft. Impulse für den Deutschunterricht
Der Deutschunterricht 5 (2003) Literatur – Medizin
Praxis Deutsch Nr. 188 ( 2004) Kindheitsbilder in der Gegenwartsliteratur
Deutsch und Ethik
4.5.
33
Sprache und Ethik (Barbara Stewens)
4.5.1. Sprechen heißt Handeln: Zur Begründung ethischer Sprachnormen
Wörter können persönlich verletzen, sie können Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, herabwürdigen, sie können den Status einer Person auf Dauer negativ festlegen. Diese sogenannten Sprechakte
greifen in das Leben anderer ebenso ein wie Handlungen, die mit physischer Gewalt verbunden sind,
und sollten ebenso wie diese vermieden werden.
Umgekehrt soll verbale Höflichkeit eine Atmosphäre der Achtung erzeugen. Mit verbaler Höflichkeit
kann der respektvolle Umgang mit anderen Personen eingeübt werden. Wir appellieren also an Kinder
und Jugendliche, einerseits etwas zu unterlassen und andererseits etwas aktiv zu habitualisieren. Diese
Appelle lassen sich begründen. Zuvor jedoch noch eine kurze historische Anmerkung zum Thema Höflichkeit.
Höflichkeit stand gerade in Deutschland immer wieder unter dem Verdacht, als leere Form lediglich
taktisch und damit nicht „wahrhaftig“ praktiziert zu werden. Dieses Misstrauen findet sich bereits in der
bürgerlichen Adelskritik des 18. Jh., auf die Kant mit einem „Vom erlaubten moralischen Scheine“ betitelten Paragraphen in seiner Anthropologie reagierte.2 Dort verteidigt er die Höflichkeit mit dem Argument, dass sie eine unabdingbare Vorstufe zur Moralität bilde, gewissermaßen den Übergang von der
„Rohigkeit“ zur Zivilisation markiere, die dann über die „Kultur“ eben zur Moralität führe. Dass hier
zunächst keine Autonomie, sondern „Nachahmung“ walte, sei selbstverständlich, da jede „innere Bildungsgeschichte“ mit Nachahmung beginnen müsse. Auch in jüngerer Zeit wächst wieder das Interesse
am Thema Höflichkeit. Ihre historische Diskreditierung wird reflektiert, ihren Erscheinungsformen im
Sprachunterricht nachgespürt.3 Auch außerhalb pädagogischer Kontexte findet man Beiträge: Eine
Journalistin kritisiert das ihrer Meinung nach „deutsche Dogma: Benimm muss von Herzen kommen –
sonst zählt es nicht“4 und plädiert für Höflichkeit als „Integrationsangebot“5 einer pluralistischen Gesellschaft.
Dass es trotz dieses wieder erwachten Interesses am Thema Höflichkeit in der Alltagspraxis oft an einem entsprechenden „Umgang mit Menschen“ mangelt, mag in erster Linie an fehlenden Vorbildern
und Routinen liegen. Aber sicher fehlt vielen auch die Einsicht in die Bedeutung eines solchen Umgangs, daher sollte man sich mit folgenden Begründungsversuchen auseinandersetzen:
Der „aufgeklärte“ Egoismus akzeptiert, dass es für den Menschen notwendig ist, in einer Gemeinschaft
mit anderen zu leben. Er akzeptiert, dass hierfür Regeln notwendig sind, die sich immer auf eine Basisregel, die sogenannte Goldene Regel, zurückführen lassen. Kein Kind möchte verbal verletzt werden,
also soll man selbst auch niemanden verletzen. Jeder fühlt sich besser, wenn er höflich und achtsam behandelt wird, also muss man selbst auch so handeln. Die Nützlichkeit für die Gemeinschaft und damit
auch für den einzelnen ist hier das tragende Argument.
Was aber, wenn einzelne recht gut damit fahren, dass fast alle sich an die Regeln halten, die Gemeinschaft also einigermaßen funktioniert, sie selbst aber diese Regeln verletzen, ohne dass gleich ein größerer allgemeiner Schaden erkennbar wird? Muss es dann nicht eine unbedingte Verpflichtung zur verbalen Achtung der Menschenwürde in Form einer umfassenden Höflichkeit geben? Es sind die grundlegenden Werte der Gleichheit aller Menschen, ihres Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit,
die unsere Verfassung tragen und aus denen sich die genannte Verpflichtung ableiten lassen. Diese
Werte wiederum lassen sich damit begründen, dass der Mensch als Vernunftwesen grundsätzlich erken2
3
4
5
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht BA 42; s. hierzu Thomas Hübel / Robert Pfaller
in: ZDPhE 4 / 95 (Höflichkeitsformen).
S. PD H. 178 (03/2003): Sprachliche Höflichkeit.
S. Cora Stephan: Die Wiederentdeckung der Höflichkeit. In: chrismon 01 / 2004.
Ebenda.
34
Deutsch und Ethik
nen, handeln und Verantwortung tragen kann. Sprachethik in der Schule legitimiert sich durch die Notwendigkeit, dass besonders der heranwachsende Mensch aber zunächst einer Aufklärung über diese Fähigkeiten, ihre Möglichkeiten und Grenzen, bedarf, um Potentialität ins gelebte Leben zu überführen.
Zu den Möglichkeiten folgen weiter unten im Praxisteil einige Anregungen, zu den Grenzen unseres autonomen Umgangs mit der Sprache folgen hier abschließend noch einige angedeutete Überlegungen.
Sprechen wir oder „werden wir gesprochen“, so lautet eine alte Frage sowohl der traditionellen Sprachphilosophie als auch der aktuellen Diskursanalyse.Die Psychoanalyse und alle sogenannten subjektkritischen Denkrichtungen stellen sie. Aber auch ganz alltägliche Erfahrungen können hier angeführt werden: Wer hat sich nicht schon dabei ertappt, einer Sprachmode, die man zunächst abgelehnt hat, der
man dann vielleicht nur ironisch folgte, irgendwann zu unterliegen? („Das hast du super gemacht!“)
Wer hat nicht schon mit Beschämung festgestellt, dass man völlig gedankenlos problematische Wörter
gebraucht hat? So hat z. B. der Begriff „ethnische Säuberungen“, der 1992 zum „Unwort des Jahres“
bestimmt wurde, inzwischen überall, sogar bei hochreflektierten Autoren, seine unbedingt notwendigen
Anführungszeichen verloren!
Fest steht: Wir wachsen in eine Sprache hinein, die bestimmte kulturabhängige Denkmuster vorgibt.
Ein einfaches und sehr populäres Beispiel aus dem Bereich Semantik: das deutsche Wort Unkraut, das
es in vielen Sprachen gar nicht gibt. Etwas komplizierter schon die Fragen der Syntax: Wie unterscheiden sich Kulturen, deren Sätze sich um Subjekt und Prädikat organisieren (indoeuropäische Sprachen),
von solchen, die vorwiegend Verbformen ohne Subjekt kennen (Japanisch)? Fest steht aber auch, dass
Sprechen keine Leistung des vegetativen Nervensystems ist, denn dann wäre sie unkontrollierbar. Es
mag etwas geben, was man etwas ungenau als Sprachreflexe bezeichnet, es mag Fehlleistungen wie
Versprecher geben, es mag unter Schock oder toxischen Einflüssen wie Fieber, Drogen oder Medikamenten „automatisches Sprechen“, d.h. verselbständigtes Sprechen, geben, aber im Allgemeinen können wir, wenn wir über das nötige Wissen verfügen, unsere Wörter wählen.
Dieses Wissen ist allerdings Voraussetzung für die Wahl. Nur wer eine große Aus-Wahl an Wörtern
hat, kann nuanciert sagen, was er wirklich meint. Nur wer sich der Nuancen bzw. der unterschiedlichen
Konnotationen bewusst ist, kann die richtige Wahl treffen. Man muss aber die richtige Wahl auch wollen bzw. wollen können, und hierzu sind Einübung, ethische Reflexion und natürlich Vorbilder notwendige Voraussetzungen.
Wie können solche Formen des „Einübens“ und des Reflektierens auf den verschiedenen Klassenstufen
gestaltet werden?
4.5.2. Themenvorschläge für den Unterricht
Für die Unterstufe könnten unter der Überschrift „Das habe ich so nicht gemeint“ Herkunft und Bedeutungsbandbreite von Schimpfwörtern und Spitznamen untersucht werden. Dabei ist es wahrscheinlich
sinnvoll, nicht –oder zumindest nicht sofort- Beispiele aus der Klasse zu untersuchen, sondern in Jugendbüchern, Lesebuchtexten etc. nach geeigneten Stellen zu suchen, die Fremdverstehen und Empathie fördern können. Hilfreich ist es wahrscheinlich auch, Formen des sprachlichen Umgangs bei Erwachsenen zu überprüfen. Wenn diese Kinder beschimpfen oder für sie negativ konnotierte Bezeichnungen benutzen, reagieren gerade jüngere Schüler sehr hellhörig und identifizieren sich mitfühlend
und empört mit den Opfern.
Auch Übungen zur Höflichkeit mit aktuellem Handlungsbezug sind denkbar, z. B. integriert in eine
Unterrichtseinheit „Klasse werden“6 oder als Vorbereitung auf Exkursionen und Landschulheimaufent-
6
„Blickfeld Deutsch“, Bd 1. Paderborn 2005, S. 35 ff. (Schöningh Verlag).
Deutsch und Ethik
35
halte7. Dabei ist durchaus auch mit Unterstufenschülern ein Gespräch über Höflichkeit, einerseits als
Geste der Achtung und andererseits als „Erfolgsstrategie“, möglich.
Die richtigen Worte für Anteilnahme zu finden, sollte ein weiteres Ziel sein. Wie drücke ich Mitgefühl
bei Trauer oder Mitfreude bei positiven Ereignissen sensibel aus? Hier könnten die gestaltenden
Schreibformen im Literaturunterricht genutzt werden, indem die Schüler Briefe an literarische Figuren
aus Jugendbüchern formulieren und dabei verschiedene Ausdrucksformen überprüfen.
Auf der Mittelstufe müsste das Konnotationsmodell8 eingeführt werden. Für dasselbe Denotat gibt es
verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten, wodurch unterscheiden sich diese? Welche Nebenbedeutungen schwingen mit, was löse ich damit in unterschiedlichen Kontexten aus? Dass hier mit semantischen
Nuancen Auf- und Abwertungsprozesse stattfinden, kann an literarischen Texten durch Ersatzproben
erfahren werden. Auch bei einer Untersuchung der Werbesprache oder bei der Beschäftigung mit
Gruppensprachen ist eine Konnotationsanalyse unerlässlich, um Manipulationsstrategien auf die Spur
zu kommen. Wenn die Schüler am Ende der Mittelstufe lernen, Bewerbungsschreiben zu formulieren,
ist es sinnvoll, solche Strategien mit Blick auf Textsortenspezifizierung zu untersuchen.
Der Oberstufenunterricht eröffnet die Möglichkeit, sich reflektiert mit dem öffentlichen Sprachgebrauch in Politik und Gesellschaft zu befassen. Euphemismen und Unwörter in politischen Reden
oder die jährlichen Listen mit Wörtern und Unwörtern des Jahres bieten hier reichlich Material. Besonders der aktuelle Bereich der Biotechnologie9 bietet im fächerübergreifenden Unterricht Anlass, über Sprache und Manipulation nachzudenken.
Weiterhin zeigen Einblicke in die Sprachgeschichte, welche Wörter durch bestimmte historische Veränderungen ihre ursprünglichen Konnotate verändern oder verschieben (s.u.).
Hier könnten auch die oben erwähnten Auszüge aus Orwells Roman „1984“ gelesen und analysiert
werden.
Diese Überlegungen wurden mit einer Gruppe von 18 Referendaren mit Blick auf schulpraktische Umsetzungsfragen diskutiert.
4.5.3. Beispiele und Materialien
4.5.3.1. Beispiel: Verlauf einer Fachsitzung am Seminar Karlsruhe zum Thema
„Sprache und Ethik“ mit Deutsch-Referendaren im zweiten Ausbildungsjahr
-
Beispiele für neue Sprachregelungen im Rahmen von Political Correctness aus Amerika und
Deutschland
-
Ergänzung durch weitere Beispiele der Referendare; Klärung der Entstehung, der Anliegen und
der Auswirkung der Political Correctness-Bewegung
7
8
9
Schulmagazin 5 – 10, 9 / 2003, S. 13 ff. (Oldenbourg Verlag).
s. z.B. „Verstehen und Gestalten“ A8. München 1997, S. 113 ff. (Oldenbourg Verlag) oder „Sprache. entdecken,
üben, nachschlagen. Gymnasium Kl.8“. Hannover 2001, S. 46 (Schroedel-Verlag).
Wer spricht vom Embryo, wer sagt Zellhaufen und wer totipotenter Achtzeller?
36
Deutsch und Ethik
-
Zitate aus dem „Wörterbuch des Gutmenschen“10 zur Bewertung von Political Correctness;
kurze Diskussion über Form und Inhalt dieser Polemik
-
Zitate aus der FR11; Hinweis auf Orwells Roman 198412
-
Resumee: Notwendigkeit des Themas in der Schule
-
Political Correctness in der Schule: Diskussion von Möglichkeiten und Gefahren
-
Beispiel für „heuristische Sprachkritik“ (vgl. Kilians „Zigeuner-Konzept“13)
-
Zusammenfassung / Information: Sprachethik als begründende Reflexion von Sprachnormen
mit dem Ziel eines verantwortungsvollen, selbstverantworteten Umgangs mit Sprache
-
Themenvorschläge für die einzelnen Klassenstufen / Sichtung und Prüfung folgender Materialien (Gruppenarbeit: eine Gruppe pro Klassenstufe):
1. Unterstufe: „Das habe ich so nicht gemeint.. “
Materialien: Sprach- und Lesebücher Kl.5/6; „Höflich um etwas bitten. Ein Trainingsbaustein zur Verbesserung der Umgangsformen“ (Schulmagazin 9/2003, Oldenbourg Verlag München)
2. Mittelstufe: „Zwischen den Zeilen“
Materialien: Sprachbücher Kl.814; Übung aus „Wortschatzspiele“ (Auer-Verlag)15
3. Oberstufe: Öffentlicher Sprachgebrauch: Politik und Gesellschaft
- Euphemismen und Unwörter: Material: Listen: Wörter des Jahres und Unwörter
- Political-Correctness–Debatte; Material: Auszug aus dem Wörterbuch des Gutmenschen
- Sprache und Manipulation; Material: Auszug aus G. Orwells 1984
- Sprachgeschichte: Material: Eberhard Jäckel: „Holokaust, sagte Herr K.“ (FAZ 18.8.2000)
10
11
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13
14
15
Klaus Bittermann/Gerhard Henschel (Hrsg.): Das Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch
korrekten Schaumsprache. Berlin 1994. Dieselben: Das Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik von
Plapperjargon und Gesinnungssprache. Berlin 1995. Vgl. Rainer Wimmer: Politische Korrektheit, DU 98,
H.3, S.47: „Manch guter Bürger glaubt, moralischer zu handeln, wenn er von jüdischer Abstammung sagt
statt Jude. Ehrt es die Verwaltung, wenn sie das pejorativ besetzte Wort Asylant durch Asylbewerber ersetzt? Moral ist das begleitende Genugtuungsgefühl beim Bezeichnungswandel.“
Berichte und Kommentare in der Frankfurter Rundschau vom 08. 08. 03. Im Polizeipräsidium Wiesbaden
wird im August 2003 in einer Täterbeschreibung von „Negern“ gesprochen.
George Orwell: 1984. Übersetzt v. Michael Walter. München, 23. Aufl. 2002, S. 371.
Jörg Kilian: Sprachpolitik im Alltag: „Political Correctness“. In: DU 2/2003.
s. z.B. „Verstehen und Gestalten“ A8. München 1997, S. 113 ff. (Oldenbourg Verlag) oder „Sprache. entdecken, üben, nachschlagen. Gymnasium Kl.8“. Hannover 2001, S. 46 (Schroedel-Verlag
Wortschatzspiele, Ausgabe B. Northeim 1999, S.33 ff.
Deutsch und Ethik
37
-
Auswertung / Diskussion der Ergebnisse der Gruppenarbeit
-
Hinweis auf Lawrence Kohlbergs Modell zu Moralentwicklung; Reflexion der Möglichkeiten
und Grenzen auf den einzelnen Klassenstufen
-
Ideensammlung für sprachethische Aspekte in anderen Fächern (zunächst Austausch in Kleingruppen mit identischem Zweit- oder Drittfach)
Insgesamt zeigten sich die Referendare sehr aufgeschlossen. Einige interessierten sich besonders für die
Frage des sprachlichen Umgangs mit Körperbehinderten und überlegten, ob es im Rahmen der Beschäftigung mit Sprachethik sinnvoll wäre, einen Betroffenen in den Unterricht einzuladen und über seine
Erfahrungen berichten zu lassen. Dabei wurde die Vermutung geäußert, dass ein „korrektes“ Vokabular
mit neutralem Tonfall u.U. verletzender wirken könnte als ein liebevoll-ironischer Gebrauch der angeblich diskriminierenden Ausdrücke. Hieraus ergab sich als weiterer Aspekt das Thema „Performanz“,
mit dem insgesamt das Wissen über Sprache und Kommunikation auch in der Schule erweitert werden
sollte.
Ebenso wurde der Aspekt „Höflichkeit“ als ein wichtiger Teil des „erziehenden Unterrichts“ empfunden, von dessen Bedeutung die Referendare überzeugt waren. Kritisch wurde jedoch in diesem Rahmen
später das Material „Trainingsbaustein zur Verbesserung der Umgangsformen“ (s.o.) bewertet, da es
hier ausschließlich um Höflichkeit im Umgang mit Erwachsenen gehe. Mehr im Mittelpunkt solle aber
der höflich-respektvolle Umgang unter Kindern und Jugendlichen stehen.
Bei der abschließenden „Ideensammlung“ entstanden folgende Überlegungen zum Thema Sprachethik
in anderen Unterrichtsfächern:
Geschichte: Sprachentwicklung; Sprache in totalitären Systemen
Geographie: Sprachethik und Interkulturalität
Moderne Fremdsprachen: Sprachethik und Minoritäten in franko- und in anglophonen Sprachräumen
Latein: Gebrauch des Neutrums bei den Römern und dessen Folgen für die europäische Sprachentwicklung
Naturwissenschaften: Euphemismen bei ökologischen und bioethischen Fragen
Politik: Sprachgebrauch in Debatten und im Wahlkampf; juristischer Sprachgebrauch
Sport: Reflexion der Notwendigkeit einer „Kommandosprache“; Umgang mit Beschimpfungen bei
Wettkämpfen
Damit wurde der interdisziplinäre Aspekt des Themas deutlich, verbunden mit dem Appell, die Umsetzung sprachethischer Aspekte in allen Unterrichtsfächern zu erproben.
38
Deutsch und Ethik
4.5.3.2. Material: Euphemismen und Unwörter
Zum Material „Euphemismen und Unwörter“ siehe Anhang Deutsch01.
4.5.3.3. Material: Political-Correctness–Debatte
Zum Material „Political-Correctness–Debatte“ siehe Anhang Deutsch02.
4.5.3.4. Material: Sprache und Manipulation
Zum Material „Sprache und Manipulation“ siehe Anhang Deutsch03.
4.5.3.5. Material: Sprachgeschichte
Zum Material „Sprachgeschichte“ siehe Anhang Deutsch04.
4.6.
Erörtern, sich bilden und den ‚Ausgang’ aus der ‚Unmündigkeit’ suchen Über ethisch-philosophische Aspekte der schulischen Schreibform Erörterung (Hubert Wolf)
Gebildet ist jener, der soviel Welt als möglich ergreift, und so eng, als er kann, mit sich zu verbinden
sucht. (Wilhelm von Humboldt)
„Standards“ und „Niveaukonkretisierungen“, so lauten Leitetiketten, die zusammen mit dem gymnasialen Bildungsplan 2004 die Unterrichtswirklichkeit prägen sollen. Der Evaluierbarkeit unterworfen, muten nicht wenige „Kompetenzen und Inhalte“ der Bildungsstandards Deutsch im Arbeitsbereich Schreiben fast wie überkommene Oberflächlichkeiten an. (Bildungsplan 2004: 85, rechte Spalte) Im Folgenden wird versucht, für die schulische Schreibform dialektische Erörterung Begründungen zu entwerfen
– jenseits von Evaluationsprozeduren.
Kognitive und sprachliche Prozesse beim schulischen Erörtern folgen einem Prinzip, das man den kategorischen Imperativ des Pluralismus nennen könnte:
Wisse, dass du irren könntest. Wisse, dass der andere Recht haben könnte.
Dieses Prinzip soll pazifierend und stimulierend zugleich wirken. Meinungsverschiedenheiten - oder
wenn man so will: Kampfhandlungen im „Bewusstseinskrieg“16 - sollen nur verbal ausgetragen werden,
man soll sich aber auch in gespannter Neugier auf andere Positionen einlassen.
Dieses Prinzip hat etwas mit den Kompetenzen im Fach Ethik zu tun, und zwar in den Teilbereichen
„Individualität“, „Sozialität“, „Konflikte“ und „Hermeneutische und kommunikative Dimension“. (Bildungsplan 2004, Bildungsstandards Ethik: 67)
Konkret bedeutet dies im real existierenden Aufsatzunterricht, dass junge Menschen immer wieder in
dialektischen oder antithetischen Erörterungsaufgaben einen `zwar-aber-also´- Aufbau üben sollen.
Im `Zwar-Teil´ sind die sich entwickelnden jugendlichen Subjekte gehalten, von einer bornierten Subjektivität mit eingefahrenen Meinungsgewohnheiten abzusehen. Eine Gegenposition soll in ihrer inhaltlichen Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit nachgezeichnet werden. Das fordert Hintergrundswissen, das
nicht nur nach einer selektiven Selbstbestätigung gespeichert wurde, für Alterität offenes Textverständnis (bei der Variante Texterörterung) und faire, nicht entstellende oder abwertende Darstellungsformen.
Ausgeschlossen ist also z.B. der sogenannte `Sanduhrenaufbau´, der die Gegenposition schon bei deren
Wiedergabe allmählich entwertet, indem nacheinander immer weniger überzeugende Argumente zitiert
werden. Im Idealfall relativieren oder bereichern die kognitiven und empathischen Anforderungen im
`Zwar-Teil´ den Normen- und Werte-status-quo der Jugendlichen.
16
Peter Sloterdijk (1983): Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1983.
Deutsch und Ethik
39
Weil auch eine kritische Distanz zu individuellen Glücks- und Nutzenerwartungen angeregt wird, entspricht dieser Aufbauteil Forderungen der sogenannten Diskursethik.17
Im `Aber-Teil´ soll die eigene Meinungsposition entwickelt werden – in Konkurrenz zu einer zuvor
explizierten und nicht nur totgeschwiegenen oder verächtlich gemachten Gegenposition. Eigene Wertentscheidungen können dabei nicht bloß behauptet werden, sie bedürfen der Begründung, und es muss
für sie argumentativ geworben werden. Im `Aber-Teil´ ist damit ein dialogischer Ansatz enthalten (Ich
erörtere etwas mit jemandem). Als Prüfinstanz für den Geltungsanspruch der Ausführungen wirkt sozusagen die unsichtbare Gemeinschaft der Argumentierenden. Das unterscheidet den Erörterungsaufsatz
vom herkömmlichen Besinnungsaufsatz (Ich besinne mich), in dem egozentrisch die eigene Erfahrung
oder bestenfalls das eigene Gewissen als Prüfinstanz gelten konnten.
Im `Also-Teil´ üben die Jugendlichen eine abstrahierende Schlusssätzigkeit oder eine zusammenfassende Pointierung. Sie formulieren gleichsam vorläufige Maximen für ihre „Lebensgestaltung“. ((Bildungsplan 2004, Bildungsstandards Ethik: 67)
Von Belang ist dabei die oft als paukerhaft verlästerte Schreibhilfe für den Schluss einer Erörterung:
Welche neuen Fragen tauchen auf?
Hiermit wird auf eine skeptizistische Grundhaltung hingewirkt. Schülerinnen und Schüler könn(t)en
lernen, dass vermutete Wahrheiten weiterer Überprüfung bedürfen.
Grob skizziert, verläuft die psychomotorische Bewegung der Erörternden so, dass sie zunächst von Ichnahen Gewissheiten absehen müssen, sich dann aber um eine Ich-Entfaltung bemühen sollen und sich
schließlich ihrer perspektivischen Eingegrenzheit bewusst werden können.
Proklamierte Zielsetzungen können auch beim Erörtern nur teilweise von der Unterrichtswirklichkeit
eingelöst werden. Im Schulgehege tummelt sich Problematisches:
-
Die erhoffte Ermutigung zur Ich-Entfaltung missrät mitunter zur Anlehnung an vermutete Meinungsvorlieben der Lehrpersonen.
-
Die oft beschworene Gegenwartsbedeutung für die jungen Menschen zeitigt nicht selten eine
Tendenz zur thematischen Stagnation. Aufgabenstellungen und Textvorlagen wirken zu oft und
immer wieder nur jugend- oder gar schulfixiert.
-
Die schulische Schreib- und Denkform – wie oben idealiter dargestellt – hat realiter wohl keinen Sitz im Leben. Sie kommt in den außerschulischen Kommunikationserfahrungen der jungen Menschen fast nicht vor.
Gleichwohl fühlen sich heute sehr viele Deutschlehrer dem mühseligen Unterfangen verpflichtet, eine
demokratische Streitkultur aufscheinen zu lassen. Dies mag ein kontrastierender Hinweis auf Aufsatzthemen aus abgelebten Zeiten erhellen:
"Mit welchem Recht verdient König Friedrich II. den Beinamen des Großen? (1905)
Wo viel Freiheit ist, ist viel Irrtum, doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht. (1915)
Der nationale Gedanke in der deutschen Dichtung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Tode
Heinrich von Kleists (1925)"18
17
18
Otfried Höffe. Lexikon der Ethik. Beck 51997. S.46f.
Aus dem Archiv der ehemaligen Herzog-Johann-Albrecht-Oberrealschule in Braunschweig.
Mathematik und Ethik
40
5. Mathematik und Ethik
5.1.
Ethische Fragen im Mathematikunterricht
Zunächst scheint Mathematik im besonderen Maße noch dem traditionellen Modell von Wissenschaft
zu entsprechen. Zwar verstehen die Mathematiker ihre Tätigkeit nicht mehr als Ideenschau wie zu Platons Zeiten –, wenn auch viele Mathematiker wohl heimlich Platoniker sind – sondern sehen ihre Tätigkeit eher als Konstruktion an. Aber diese Konstruktion ist ein Spiel des Denkens mit sich selbst. Hat die
Mathematik dann überhaupt ethische Probleme?
Klar ist auf jeden Fall, dass in ihrem Forschungsprozess selbst die Mathematik kaum ethische Probleme
haben wird. Mathematik unternimmt keine gefährlichen Experimente, nichts kann hier explodieren,
keine gefährlichen Substanzen werden freigesetzt. Es werden auch keine Tiere oder gar Menschen im
Rahmen ihres Erkenntnisprozesses benutzt oder gar getötet. Selbst ihr Ressourcenverbrauch ist geringfügig. Zwar spielen Hochleistungsrechner eine zunehmende Rolle in verschiedenen Bereichen der Mathematik, aber nach wie vor sind für viele Forscherinnen und Forscher Bleistift und Papier, vielleicht
eine Tafel und etwas Kreide die meistgenutzten Instrumente.
Mathematik ist in Wissenschaft und Technik und vor allem auch in den Medien allgegenwärtig. Diese
Omnipräsenz bietet vielfältige Möglichkeiten für den Unterricht. Durch die geschickte Wahl von Aufgaben können die Schüler damit vertraut gemacht werden, in welchen Lebensbereichen Mathematik
verwendet wird.
Mathematik wird in solchen anwendungsbezogenen Aufgaben als Werkzeug der Problemlösung oder
als Medium der Vermittlung von Informationen verwendet. (Vgl. dazu Heymann 1996:131ff).
Wenn man sich allerdings mit Modellen und Modellierung beschäftigt, wird das Bild vielschichtiger.
Hier rücken die notwendige Bedingungen in den Blick, die erfüllt sein müssen, damit eine Lösung mit
den Mitteln der Mathematik gefunden werden kann; diese Bedingungen verweisen auf die Grenzen der
Mathematik. Genau diese Bedingungen sind es auch, die auf die ethischen Fragen innerhalb der Mathematik verweisen.
Das beginnt bereits ganz harmlos. Die klassische Textaufgabe aus dem Bereich des Sachrechnens muss
ja in einer Art Modellierung gelöst werden. Der in der Aufgabe geschilderte Sachverhalt muss in die
Sprache der Mathematik übersetzt werden, dort nach den Regeln der Mathematik bearbeitet und
schließlich das Ergebnis wieder so interpretiert werden, dass das Alltagsproblem gelöst werden kann.
Solche Aufgaben ermöglichen einen mehrfachen Nutzen und Erkenntnisgewinn für den sie Lösenden.
Auf der einfachsten Ebene gelangt er oder sie in einem konkreten Fall zu einer konkreten Lösung. Auf
einer zweiten, etwas komplexeren Ebene, gewinnt er eine Fertigkeit, die in vielen ähnlichen Situationen
nützlich ist. Auf einer grundsätzlichen Ebene schließlich könnte er den Vorgang als solchen erfassen:
Die bunte, vielfältige und komplexe Wirklichkeit wird auf die abstrakte, mathematische Darstellung reduziert; Probleme, die dabei auftreten, sind der Ausgangspunkt für die Frage, in welchen Hinsichten die
Mathematik nützlich ist, ja den Königsweg der Lösung darstellt, und welche Verluste und Verzerrungen
damit einhergehen (Vgl. Böer 2000).
Die Textaufgaben müssen dabei aber tatsächlich als offene Aufgaben gestellt werden. Der Reflexionsprozess wird nicht in Gang kommen, wenn lediglich der formale Ansatz, den die Schülerinnen und
Schüler erlernen sollen, in eine Geschichte übersetzt wird und Zahlenwerte für Variablen eingesetzt
werden. Solche Aufgaben müssen zum einen wenigstens ansatzweise Anliegen und Fragen der Schülerinnen und Schüler aufnehmen und ihnen zeigen, dass der Einsatz von Mathematik hilfreich oder zumindest klärend ist. Und nur wenn die Schülerinnen und Schüler eine eigene, hinreichend gesättigte Erfahrung der jeweiligen Gegenstände haben, können sie auch die Diskrepanz zwischen dieser und der
mathematischen Formulierung ermessen. Zudem wird es einige Gewöhnung brauchen, um die weit ver-
Mathematik und Ethik
41
breitete Erwartungshaltung der Schülerinnen und Schüler zu ändern, die meist davon ausgehen, der
Weg zur Lösung der Aufgabe wird wohl vom zuletzt behandelten Stoff gewiesen.
Gewiss, der Anspruch ist hoch gelegt, und es wird nicht immer dazu kommen, dass die Schülerinnen
und Schüler alle drei Ebenen betreten; das muss auch gar nicht sein. Dennoch: ein gewisser Anteil des
Unterrichts sollte solchen Aufgaben gewidmet werden. Beispiele dafür finden sich in großer Zahl etwa
in den Materialien und Entwürfen, die der MUED e.V. bereitstellt.1
Der Anspruch, Mathematik befähige zum Lernen, Begründen, Problemlösen und bilde ein wirksames
Medium der Kommunikation, kann glaubwürdig nur eingelöst werden, wenn die Schülerinnen und
Schüler erleben, dass Mathematik nicht ausschließlich Selbstzweck ist. Gewiss, auch diese Dimension
der Mathematik gehört dazu und muss zu ihrem Recht kommen, aber sie darf nicht dominieren.
Für die Frage nach dem Zusammenhang von Mathematik und Ethik ist die dreifache Bearbeitung einfacher Textaufgaben allerdings nur der Anfang.
Eine ergiebige Quelle für Aufgaben, die in diesen dritten Bereich reichen, können etwa Meldungen in
Tageszeitungen sein, die in irgendeiner Weise auf Statistiken oder andere Zahlenwerke Bezug nehmen.
Es lässt sich dann fragen, ob überhaupt richtig gerechnet wurde, ob zu Recht aus den Zahlen Behauptungen abgeleitet werden, ob die Präsentation der Zahlen korrekt ist, und schließlich, ob überhaupt der
interessierende Zusammenhang angemessen in den Zahlen ausgedrückt ist. Bei Themen mit ethischer
Relevanz wird sichtbar, in welcher Hinsicht Mathematik eine Rolle für den gesellschaftlichen und ethischen Diskurs spielt. Diesen Weg geht etwa der Entwurf zur Analyse der Kriminalstatistik von Heinz
Bröer, der in verschiedenen Schritten zu überprüfen versucht, ob Ausländer tatsächlich überproportional
häufig Straftaten begehen.2
Einen anderen Weg geht Peter Reichel.3 Er bezieht sich auf eine Tradition ethischen Argumentierens,
die Utilitarismus genannt wird und die eine moderne Spielart des Eudaimonismus darstellt. Zentral ist
hier der Begriff des Glücks, genauer gefasst als Nutzen. Der Utilitarismus nennt solche Handlungen gut,
die dazu geeignet sind, den Nutzen möglichst groß werden zu lassen. Dabei ist er beileibe kein schlichter Egoismus; in der Regel wird verlangt, nicht der je individuelle Nutzen solle maximal werden, sondern die Nutzensumme über alle Individuen. Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl soll
bewirkt werden. Damit mag eine Handlung zu unterlassen sein, die zwar geeignet ist, den eigenen Nutzen deutlich zu befördern, die zugleich aber Folgen für andere Menschen hat und deren Nutzen verringert, so dass der Gesamtnutzen eben nicht wächst, unter Umständen sogar sich verringert. (Vgl.
Bentham 1992:85-89) In dieser kruden Skizze wird bereits deutlich, dass für den Utilitaristen zwei Dinge von Bedeutung sind: Zum einen müssen Mittel gefunden werden, die die Nutzenerfüllung (Nutzenfunktion heißt das dann auch) verschiedener Individuen in Beziehung setzen. Es ist einleuchtend, dass
sich die verschiednen Denker dabei der Mathematik bedienen. Zum Anderen muss die Antwort auf die
Frage gefunden werden, wie überhaupt der Nutzen quantitativ bestimmbar ist, und zwar möglichst auf
kardinalem Niveau, so dass "ordentlich" damit gerechnet werden kann. Diese Frage ist natürlich nicht
im Rahmen der Mathematik lösbar. Der Entwurf von Reichel zeigt, wie im Rahmen von zwei Stunden
einerseits ordentliche Mathematik gemacht und andererseits Ethik getrieben werden kann. Und dies im
doppelten Sinne: denn nicht nur wird hierbei der Utilitarismus betrachtet, sondern die Leistungsfähigkeit der Mathematik selbst wird in dieser Unterrichtseinheit reflektiert. Solange der Nutzen nicht sauber
gemessen werden kann, nützen noch so raffinierte Funktionen etc. nichts.
Ähnliche, wenn auch anspruchsvollere Überlegungen lassen sich im Kontext betriebs- und volkswirtschaftlicher Modellbildung anstellen. Auch hier finden wir teils sehr anspruchsvolle Formalismen, wobei zentrale Begriffe, wie "Wert" oder "Nutzen" unterbestimmt sind.
1
2
3
Reiches Material findet sich bei der URL: http://www.mued.de.
Der Entwurf von Heinz Bröer ist in einer Kurzfassung in der Handreichung dokumentiert. Der vollständige
Entwurf kann beim MUED e.v. angefordert werden.
Der Entwurf von Peter Reichel ist in der Handreichung dokumentiert.
Mathematik und Ethik
42
Um dieses Feld des Zusammenhangs von Mathematik und Ethik zu klären, bieten sich auch Aufgaben
zum Unterschied von linearen und exponentielle Entwicklungen an, die etwa im Rahmen von Überlegungen zur Ökologie oder Nachhaltigkeit (etwa Klimamodelle, Bevölkerungsentwicklung) eine große
Rolle spielen.
Weitere Aufgabenstellungen lassen sich etwa an Tarifverträgen oder Steuermodellen entwickeln. Hier
spielt dann eine große Rolle, wie sich etwa Fixbeträge gegenüber prozentualen Steigerungen auswirken.
Man könnte etwa die Tarifgruppen nach BAT vergleichen, die unterschiedlichen Stufungen von Ortszuschlägen und die Auswirkungen von Tarifänderungen auf die verschiedenen Gruppen.
-
Was bedeutet eine prozentuale Steigerung?
-
Wie wirkt sie sich auf die gesamte Lohnsumme aus?
-
Was passiert, wenn die gleiche Summe, die die prozentuale Steigerung über alle Beschäftigten
kostet, gleichmäßig aufgeteilt wird?
-
Was spricht aus ökonomischen, sozialen und ethischen Gründen für eine prozentuale, was für
eine fixe Steigerung?
Mathematikunterricht, der sich solchen Fragen öffnet, findet dann auch zwanglos Anschluss an andere
Fächer. Nicht nur Gemeinschaftskunde, Geografie und Wirtschaft sind dabei mögliche Partner, auch
etwa die Geschichte findet Berührungspunkte mit der Mathematik.4 Zugleich wird eine Reflexion der
Mathematik über Mathematik angeregt: über Verfahrensweise, über Grenzen und über (häufig verdeckte) gesellschaftliche Einflüsse.
Diese Selbstreflexion von Mathematik lässt dann deutlich werden, das sie nicht nur ein mächtiges Instrument bei der Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist. Vermittelt über ihre Anwendungen,
prägt sie Kultur und Gesellschaft. Dementsprechend finden sich ihre Spuren in der Literatur, der Musik
und in den Werken der bildenden Kunst. Im Rahmen des interkulturellen Lernens etwa können die unterschiedlichen Kalender der Völker, oder die unterschiedlichen Tonsysteme als Ausgangspunkt von
Unterrichtseinheiten dienen.
Nicht zuletzt wird in der Literatur Mathematik reflektiert. Berühmt ist Musils Törleß, der erfolglos versucht, hinter das Geheimnis der "Quadratwurzel aus negativ Eins" zu kommen. Dies mag den Schülern
Trost bringen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, und zugleich eine Verbindung zwischen den
so unterschiedlichen und doch so fundamentalen Fächern Deutsch und Mathematik schlagen (Vgl. Radbruch 1997:145).
5.2.
Literatur
Baptist, Peter; Schanz, Rainer [Red.] 1997: Mathematik im Spektrum der Geisteswissenschaften. ILF,
Mainz.
Bentham, Jeremy (1992): Utilitarismus. In: Höffe, Otfried: Einführung in die utilitaristische Ethik. Tübingen, S. 55-59; 79-81.
Böer, Heinz (2000): Offene und lebensrelevante Aufgaben - nach und trotz TIMSS! In: mathematik lehren. 100.
Heymann, Hans Werner (1996): Allgemeinbildung und Mathematik. Beltz, Weinheim [u.a.].
Kambartel, Friedrich (1972): Ethik und Mathematik. In: Riedel, Manfred (Hg.): In Rehabilitierung der
praktischen Philosophie Band I. Geschichte, Probleme, Aufgaben. Rombach. Freiburg.
Radbruch, Knut (1997): Mathematische Spuren in der Literatur. Wiss. Buchges., Darmstadt.
4
Vgl. etwa den Entwurf von Schröder 2001, der das mühsame Rechnen mit dem römischen Zahlensystem
vorführt.
Mathematik und Ethik
43
Schröder, Helge (2001): Mathematik vor dem Aufbruch. Die Buchhaltung eines Hansekaufmanns. In:
Geschichte lernen. 79, S. 27-31.
Mehrtens, Herbert 1990: Verantwortungslose Reinheit. In: Falter, Anngret; Füllgraf, Georges (Hg.): In
Wissenschaft in der Verantwortung. Möglichkeiten der institutionellen Steuerung. Frankfurt, New
York.
Nickel, Gregor 2005: Zwingende Beweise - zur subversiven Despotie der Mathematik. In: Dietrich, Julia; Müller-Koch, Uta (Hg.): Ethik und Ästhetik der Gewalt. Mentis, Paderborn.
Zentralblatt für Didaktik der Mathematik / International Reviews on Mathematical Education 2005:
Schwerpunktheft "Mathematik, Frieden, Ethik" Volume 30 (June 1998) Number 3. http://www.fizkarlsruhe.de/fiz/publications/zdm/zdm983a.html#scar.
5.3.
Beispiele und Materialien
5.3.1. Mathematik und Interkulturalität
Im Folgenden findet sich ein Beitrag aus der Zeitschrift forum, die vom unesco-projekt-schulen
(http://www.ups-schulen.de/) herausgegeben wird. Das Heft 1-2001 war dem Thema „Verständigung
zwischen den Kulturen“ gewidmet.
Dort wurde eine Materialreihe beschrieben, die im Auftrag des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung Nordrhein-Westfalen erstellt wurde und die Anregungen und Hilfen
zum interkulturellen Lernen in einzelnen Fächern gibt. Diese Reihe „Impulse für das Interkulturelle
Lernen“ wurde finanziert durch die EU als Sokrates-Comenius-Projekt und entwickelt bei der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien in Gelsenkirchen. In dem hier dokumentierten Artikel findet sich eine Übersicht über die 12 Hefte. Zwei der Broschüren für den Mathematikunterricht werden genauer vorgestellt: „Tonleitern der Weltkulturen für
Auge und Ohr“ und „Kriminelle“ „Ausländer“.
Interessant ist, wie überzeugend die Autoren der Hefte zur Mathematik zeigen, dass durch die Verknüpfung von Mathematik und Musik bzw. Mathematik und Politik/Sozialwissenschaften neue Perspektiven
für den Mathematikunterricht eröffnet werden und möglicherweise Jugendliche, die bisher keinen Sinn
in der Mathematik sehen konnten, einen Zugang zu dem Fach finden können. Besonders die Untersuchung der Kriminalstatistik zeigt, dass eine intensive Beschäftigung mit einzelnen Anwendungen der
Mathematik sehr deutlich auf die Grenzen mathematischer Beschreibung und Modellierung verweist
und zugleich die Schülerinnen und Schüler darauf verweist, dass die bloße Verwendung mathematischer Instrumente noch lange nicht Gewissheit und Objektivität garantiert. Oftmals muss man eben
doch nachrechnen, und das wiederum will gelernt sein.
(vgl. http://mued-bb.shop.t-online.de)
Zu den Materialien hierzu vgl. Anhang Mathematik01.
Zu weiteren Beiträgen zum Thema vgl. auch:
Delle, Ernst (2003): Andere Länder – andere Töne, in: Mathematik lernen, H. 116, Februar 2003; S. 2330 (enthält vier Arbeitsblätter mit Lösungen sowie Literaturhinweise und Diskographie).
Delle, Ernst/Nessel, I./ Stoll, A. (2004): Musik ist nicht nur Geschmackssache. Von den Tonleitern zur
Weltmusik, in: Friedrich Jahresheft XXII 2004, S. 102-104.
Mathematik und Ethik
44
„Wenn’s ans Teilen geht, geht's ans Raufen“- kann Mathematik hier helfen? (Peter Reichl)
Zusammenfassung
Fächerübergreifendes Vorgehen lässt Charakteristika und Gültigkeitsgrenzen der beteiligten Wissenschaften besonders deutlich hervortreten. Für den mathematischen Beitrag zur Präzisierung und Lösung von Problemen der praktischen Philosophie gibt es mittlerweile überzeugende Belege.
Hier soll an einfachen Beispielen gezeigt werden, wie man mit Mitteln der Analysis Nutzenfunktionen
untersuchen und Verteilungsprobleme behandeln kann. Dabei soll eine mögliche Schnittstelle von Mathematik und praktischer Ethik deutlich werden und ein Antwortversuch auf die berechtigte Schülerfrage „wozu“ skizziert werden..
Das Thema lässt sich je nach Ausweitung und Bedarf innerhalb von zwei bis vier Stunden ab Klasse 11
abhandeln.
1. Stunde
Ein Apfel nutzt mir erheblich mehr als keiner und zwei mehr als einer, aber wenn ich bereits zehn Äpfel
habe, ist der Nutzenzuwachs bei Erwerb eines elften gering. Eine rege Diskussion dieses Sachverhalts
ist bei Betrachtung unterschiedlicher Güter gesichert.
Die Erfahrung lehrt, dass der Nutzen eines Gutes beim Gebrauch im Allgemeinen nicht linear anwächst,
sondern eher in der Form wie Abb.1 zeigt. Der Nutzenzuwachs sinkt also, was die Wirtschaftswissenschaftler fallenden Grenznutzen nennen.
Aufgabe 1: Geben Sie Funktionen an, die diesen Sachverhalt wiedergeben.
Hierzu eignen sich z.B. y = ln x und y =
x.
Mathematisch kann die aus der Empirie sich
ergebende Forderung an die Nutzenfunktion
durch Monotonie und Konvexität51) beschrieben werden.
Abb.1
Aufgabe 2: Zeigen Sie, dass u(x)= ln(x+1), x
> 0 monoton und konvex ist und skizzieren
Sie den Graphen.
Lösung: u'(x) = 1/(x+1) > 0 für alle x>0, also
monoton steigend
u''(x) = -1/(x+1)2 < 0 für alle x>0, also konvex,
Graph siehe Abb.1
Abbildung 1
5
Die Definitionen von konvex bzw. konkav sind nicht einheitlich. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird im Fall wie oben von konkaven Funktionen gesprochen.
Mathematik und Ethik
45
Fallbeispiel 1:
Zwei Personen A1 und B1 haben bezüglich eines bestimmten Gutes x identische Nutzenfunktionen (man
könnte auch Wurzelfunktionen wählen bzw. den Funktionsarten entsprechend arbeitsteilig vorgehen):
uA1 = ln(x+1), x>0 und uB1 = ln(x+1), x>0
Die Ressourcen seien begrenzt, von dem Gut sind nur 5 ME (Mengeneinheiten) vorhanden. Wenn der
eine x bekommt, bleiben für den anderen 5-x. Üblicherweise ist im Fall identischer Nutzenfunktionen
eine Halbierungsteilung die gerechte Lösung.
Im Utilitarismus vermeidet den Egoismus, indem er fordert, bei seinen Handlungen das Gesamtwohl zu
mehren. Der jeweilige Nutzen des einen uA1 und des anderen uB1 werden also zum Gesamtnutzen uG1
addiert.
Aufgabe 3: Zeigen Sie, dass der Gesamtnutzen uG1(x) = uA1(x) + uB1(5-x) bei Halbierungsteilung maximal ist.
Lösung: Dies zeigen die Schüler zunächst für die gegebenen Funktionen, bevor man den allgemeinen
Beweis verlangt.
uG1(x) = ln(x+1) + ln(5-x+1)
uG1'(x) = 1/(x+1) - 1/(6-x) => 0 = 1/(x+1) - 1/(6-x) => x = 5/2, also jeder die Hälfte
Die utilitaristische Regel "Teile so, dass der Gesamtnutzen maximiert wird", führt hier also auch mathematisch zu einer unserer Gerechtigkeitsintuition nicht entgegenlaufenden Lösung.
Den Vorzug, dass Ableitungen vermieden
werden können, hat eine Darstellung der Nutzenfunktionen, wie sie Abbildung 2 zeigt. Aus
ihr lässt sich die Maximumkurve additiv konstruieren und das gesuchte Maximum ablesen.
Dies wäre eine weitere Übungsaufgabe. Die
genannte Darstellung hat überdies den lernpsychologischen Vorzug, dass sie die "Gegenläufigkeit" der Interessen beider Personen
veranschaulicht.
Abbildung 2
2. Stunde
Fallbeispiel 2:
Wie liegt der Fall bei unterschiedlichem Nutzenfunktionen der Handelnden? Wie kann man dies mathematisch „modellieren“?
Die Schüler finden schnell heraus, wie das zu machen ist,
z.B. uA2 = 2ln(x+1), x>0 und uB2 = ln(x+1), x>0 (oder entsprechend mit den Wurzelfunktionen).
Es seien wieder nur 5 ME des begehrten Gutes vorhanden.
Mathematik und Ethik
46
Aufgabe 4: Zeichne beide Graphen in dasselbe Koordinatensystem und interpretiere. (Abb.2)
Abb.2
A2 ist offenbar "bedürftiger", da er bei gleicher
Gutmenge mehr Nutzen als B2 hat. Man kann
ihn auch als "glücksfähiger" bezeichnen, weil
er für den gleichen Nutzenwert weniger Gutmenge benötigt als B. Wie auch immer, beide
kennen den Spruch "Geben ist seliger denn
nehmen ", warten aber dennoch auf einen
konkreteren Teilungsvorschlag. Was liegt näher als die Anwendung obigen Prinzips zu
verabreden: "Teile so, dass der Gesamtnutzen
maximiert wird."
Abbildung 3
Aufgabe 5: Bei welcher Teilung wird der Gesamtnutzen uG2 = uA2 + uB2 maximal?
Lösung:
uG2(x) = 2ln(x+1)+ln(5-x+1)
uG2'(x) = 2/(x+1) - 1/(6-x)
=> 2/(x+1) - 1/(6-x) = 0 =>
x = 11/3
Der Gesamtnutzen uG2 ist also maximal für x = 11/3, d.h. uG2 max = uG2 (11/3) = uA11(11/3) + uB21(511/3).
Offenbar wird nicht gleich verteilt, die "glücksfähigere" Person A erhält mehr. Ob das "gerecht" ist?
Hier endet zunächst die Mathematik und die ethische Diskussion beginnt. Dabei geht es dann u.a. um
die Begründung von Prinzipien wie "ausgleichende Gerechtigkeit", "Verteilungseffizienz" usw. Eine interessante Weiterführung wäre z.B. die Frage wie etwa bereits vorliegende moralische „Verdienste“ der
beteiligten Personen bei der Verteilung berücksichtigt werden könnten. Dies wäre dann auch wieder eine mathematische Herausforderung.
Literatur:
Trapp, R.. W.: "Nicht-klassischer" Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1988
Mathematik und Ethik
47
5.3.2. Wie Zahlen den Menschen bilden (Albrecht Beutelspacher)
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 5. April 2002.
Mathematik als Abenteuer
Wie Zahlen den Menschen bilden / Von Albrecht Beutelspacher
Mal ehrlich: Was wissen Sie noch aus Ihrem
Mathematikunterricht? Gut, das Rechnen aus
der Grundschule geht noch einigermaßen. Aber
schon bei der Bruchrechnung wird’s schwierig:
Was ist 1/2 mal 1/3, und was ist 1/2 plus 1/3?
Satz des Pythagoras? Die binomische Formel?
Quadratische Gleichungen? Ich vermute: Fehlanzeige!
In unserer Reihe zur Zukunft der Schule
schreibt heute Alfred Beutelspacher, Professor
für Mathematik an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Er organisiert seit Jahren
die Wanderausstellung „Mathematik zum Anfassen“, die ab Oktober im hierfür gegründeten
Gießender Mathematikmuseum eine feste
Bleibe findet. Für „herausragende Leistungen
in der Vermittlung seiner Wissenschaft in der
Öffentlichkeit“ erhielt Beutelspacher 2000 den
Communicator Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Aber vielleicht soll der Mathematikunterricht
gar nicht primär Tatsachen vermitteln. Besser
wäre es, Methoden zu kennen: Logisches
Schließen und konsequentes Argumentieren.
Aber auch hier muss man fragen: Nützt Mathematik beim Aufstellen der Einkommenssteuererklärung? Hilft Logik bei den Konflikten in der Familie? Oder wenigstens bei den
Denksportaufgaben in der Zeitung?
Vermutlich geht es Ihnen wie den meisten:
Unsere Vorstellung von Mathematik ist untrennbar verbunden mit formalen Sekundärtugenden, mit präzisem Ausrechnen, korrektem
Einsetzen und der Verwendung standardisierter
Schreibweisen. Dieser Eindruck sitzt fest, obwohl viele Lehrerinnen und Lehrer einen engagierten Unterricht machen. Vergebliche Liebesmüh! Bei allen anderen Fächern hat man
das Gefühl, man wisse, was da geschehe. In
der Mathematik bleibt das blanke Unverständnis zurück.
Mathematik ist nicht durch die Fakten gekennzeichnet, sondern durch die Methoden. Man
soll in der Schule nicht lernen, wie die Lösung
einer bestimmten Gleichung lautet, sondern
wie man Gleichungen löst. Die spezifische
Methode der Mathematik ist das Beweisen. Ein
Beweis ist nicht etwa eine gemeine Schikane,
um Schüler zu ärgern, sondern er ist jene Methode, mit der durch rein logische Schlüsse Erkenntnisse gesichert werden. Deswegen haben
die Erkenntnisse der Mathematik, die „Sätze“,
eine ungleich höhere Sicherheit als die Erkenntnisse in allen anderen Wissenschaften.
Die grundlegende Erkenntnis, die der Mathematikunterricht vermitteln soll, muss nicht nur
„Es gibt ein Leben außerhalb der Schule“ heißen, sondern: „Es gibt Mathematik außerhalb
der Schule“. Wo genau kann einem die Mathematik begegnen? Ich sehe drei Bereiche: in
der Kulturgeschichte, in der Lebensumwelt
und in den Anwendungen.
Die kulturelle Leistung der Mathematik zeigt
sich in den großen Ideen, die die Mathematik
hervorgebracht hat – zum Beispiel die Idee der
Unendlichkeit, die Primzahlen, die Einführung
von Zahlen in die Geometrie, die Möglichkeit,
den Zufall mathematisch zu behandeln. Deshalb darf der Mathematikunterricht nicht dabei
stehen bleiben, Rezepte einzuüben, sondern er
muss zu dem geistigen, wissenschaftlichen und
historischen Hintergrund vordringen. Die Mathematik bietet die unglaublichsten geistigen
Abenteuer, und diese Abenteuer können in der
Schule erlebt werden.
Das zweite Ziel lautet schlicht: Mathematik
muss mit mir zu tun haben. Sie öffnet mir die
Augen für die Welt. Das klingt unglaublich,
aber hier steckt die wahre Kraft der Mathema-
48
Mathematik und Ethik
tik. Die Begriffe und die Ergebnisse der Mathematik müssen mir nützen, um die Welt besser zu begreifen. Wenn im Unterricht zum Beispiel der Begriff der Symmetrie behandelt wurde – Achsensymmetrie, Punktsymmetrie,
Drehsymmetrie – dann werden mir die Augen
geöffnet: ich sehe plötzlich symmetrische, fast
symmetrische und total unsymmetrische Objekte, ich frage mich: Warum sind Tiere, Autos, Bahnhöfe symmetrisch, was zeigt uns ein
symmetrisches Bild, was ein unsymmetrisches? Darum muss der Mathematikunterricht
mit Leben gefüllt werden – nicht mit Witzchen
und Gags vom berüchtigten „lockeren Lehrer“.
Es muss vielmehr deutlich werden, dass Mathematik selbst lebendig ist.
Schließlich geht es um Mathematik als Anwendungswissenschaft. Es gibt kaum ein modernes Produkt, das ohne substanzielle Mathematik auskäme. Ohne Mathematik gäbe es
keine CD, kein Handy, keine Wettervorhersage. Die meisten dieser Anwendungen sind
technisch zu aufwendig für den Unterricht, aber es muss die Information ankommen, dass
Mathematik sinnvoll und beständig angewendet wird. Man kann auch gewisse Anwendungen in der Schule zeigen, und zwar schon in
den unteren Schulklassen. Zum Beispiel könnten Schülerinnen und Schüler herausfinden,
was es mit dem Strichcode auf Lebensmitteln
auf sich hat. Außerdem zeigt sich gerade beim
Anwenden von Mathematik etwas für diese
Wissenschaft Typisches: Um ein konkretes
Problem mathematisch behandeln zu können,
muss man ein mathematisches Modell aufstellen. Man muss also abstrahieren, was nichts
anders bedeutet, als das Problem auf die richtige Art und Weise vereinfachen.
Das große Fünfmaleins
Offenbar prallen hier die Visionen der Mathematik-Begeisterten und die Erfahrungen der
Mathe-Hasser unvermittelt aufeinander. Was
für die einen Klarheit der Gedanken zum Ausdruck bringt, ist für andere der reine Formelwust. Was die Fans logische Stringenz nennen,
erfahren die draußen vor der Tür als Sinnleere.
Eigentlich, sagen die einen, ist Mathematik die
emanzipatorische Wissenschaft schlechthin,
weil es nur auf Logik ankommt, und weil diese
schließlich jeder beherrscht. Im realen Unterricht wird Mathematik dagegen als sklavische
Erfüllung von Vorschriften erlebt. Wo die einen die Freiheit des Geistes verwirklicht sehen,
empfinden andere die Unterdrückung ihrer eigenen Gedanken. Nirgends ist der Grat zwischen Ermutigung und Entmutigung so schmal
wie im Mathematikunterricht.
Allen, die auf diesem Grat allein oder grüppchenweise balancieren, rate ich deshalb: Ihr
Lehrplaner, befreit Euch vom Diktat der Physik! Große Teile der Mathematik der Oberstufe
werden gemacht, „weil man das in der Physik
braucht“. Aber fragen Sie mal den Physiklehrer: Sind die Kenntnisse wirklich vorhanden,
wenn er sie braucht? Ihr Kultusminister, gebt
den Lehrerinnen und Lehrern mehr Freiheit.
Ich könnte auch sagen: mehr Verantwortung
für den Lernprozess. Ihr Lehrerinnen und Lehrer, versucht, dem Formalisierungsterror zu
entkommen! Mathematik heißt: Durch reines
Nachdenken, durch Logik, etwas herausbekommen. Das sollten die Schülerinnen und
Schüler erfahren. Wie sie diese Erkenntnisse
aufschreiben, ist zunächst sekundär.
Ihr Schülerinnen und Schüler, stellt euch mal
eine ganz andere Mathematik vor. Sucht Mathematik im Alltag; sie ist überall: vom Fußball bis zu den Autofelgen. Stellt euch vor,
Mathematik hat mit Phantasie zu tun. Versucht
euch an Knobelaufgaben, die nicht nach
Schema F funktionieren; diese selbständig lösen zu können, schafft ein echt gutes Gefühl.
Ihr Professorinnen und Professoren, die weit
überwiegende Zahl der Lehrerinnen und Lehrer macht die Erfahrung, dass sie das Studium
inhaltlich nur sehr unvollkommen auf ihren
Beruf vorbereitet hat. Also bringt den Studierenden standardmäßig bei, was sie in ihrem
späteren Beruf regelmäßig brauchen. Und dann
sollten alle noch ein paar Kenntnisse haben,
die darüber hinausgehen. Aber das wichtigste,
was Sie den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern mitgeben können, ist die Begeisterung für
ihr Fach.
Interkulturalität und Ethik
6. Interkulturalität und Ethik
“Wenn die Sprache nicht stimmt,
dann ist das, was gesagt wird,
nicht das, was gemeint ist.
Ist das, was gesagt wird,
nicht das, was gemeint ist,
so kommen keine guten Werke zustande.
Kommen keine guten Werke zustande,
so gedeihen Kunst und Moral nicht.
Gedeihen Kunst und Moral nicht,
so trifft die Justiz nicht.
Trifft die Justiz nicht,
so weiß das Volk nicht,
wohin Hand und Fuß setzen.
Also dulde man keine Willkürlichkeit
in den Worten.
Das ist es, worauf es ankommt.“
Konfuzius
49
50
6.1.
Interkulturalität und Ethik
Ethische Fragen im Fremdsprachenunterricht (Barbara Scheu mit Regina
Ammicht-Quinn)
“Why are we taking the trouble to do all this? To teach…to learn and speak in another language is to
change one’s mind forever, forever to make it impossible to be locked into a single perspective or a single way to hear speech, music or meaning. It is to be made forever aware that one is not alone, that
one’s way is not the only way; but also that one’s way has depths and riches and ties to one’s identity
that might never have appeared if they had not been illuminated by the prism of another language. “1
Fremdsprachenlernen ist nicht „neutral“. In vielfältiger Weise werden hier Perspektiven auf ‚Eigenes’
und ‚Fremdes’ geschaffen, neue Weltsichten eröffnet und ein stark oder weniger stark klischeehaft belastetes Bild von ‚Anderen’ entworfen. Fremdsprachenunterricht vermittelt nicht nur eine instrumentelle
Fertigkeit.
Damit ist der Fremdsprachenunterricht als Ort der Kulturbegegnung und als Ort interkultureller Erziehung auch einer der Orte, an dem aktuelle und drängende ethische Fragen implizit oder explizit ihren
Ort haben: Fragen nach nationalen Selbstverständnissen und Migration, Fragen nach Gemeinsamkeiten
und Differenzen und den Wert, den man ihnen beimisst, Fragen nach der Möglichkeit einer „Weltbürgerschaft“2.
1. Fremdsprachenunterricht und interkulturelles Lernen
Sprachenlernen bezieht sich auf konkrete Anforderungen an Wortschatz und Grammatik und auf eine
Welt, in der Fremdsprachen einfach praktisch nutzbar sind. Ist dies aber der ausschließliche Horizont
des Fremdsprachenunterrichts, dann wird eine große Chance verpasst: die Chance, nicht nur implizit
und unkontrolliert, sondern auch gezielt, explizit und reflektiert interkulturelles Lernen zu ermöglichen.
Der Fremdsprachenunterricht ist der Ort der systematischen Begegnung mit einer Fremdkultur. Wenn
die Begegnung mit einer anderen Sicht auf Welt mit Wörtern beginnt, dann ist der Fremdsprachenunterricht in allen seinen Dimensionen interkulturell. Der Fremdsprachenunterricht ist dann zentral für die
Entwicklung von Selbst- und Fremdbildern, für die Frage nach Fremdem und Eigenem, für Probleme
von Toleranz, Empathie und Konfliktbewältigung. Oder könnte es sein. Diese interkulturelle Dimension, in der ein ‚Zwischen’ entsteht, ein dritter Ort zwischen Ursprungskulturen und Begegnungskulturen
ist keine zusätzliche, sondern ein inhärente und begleitende Dimension; zugleich ist sie nicht naturwüchsig, sondern muss reflektiert werden.
Mit einer solchen Verortung aber sind nicht schon die Weltprobleme gelöst; es entstehen hier neue
Probleme:
Das erste ist die Frage der Klischeebildung: Wie kann der Fremdsprachenunterricht zur Relativierung
von Klischees beitragen und nicht zur erneuten und stetigen Klischeebildung? Das zweite ist die Frage
des Kulturrelativismus: Wie kann der Fremdsprachenunterricht der Problematik entgehen, dass alle kulturellen Positionen, Werte, Tatsachen und Handlungen gleich und gleich-gültig sind?
Als Gegenteil des Kulturrelativismus zeigt sich die dritte Frage des Kulturchauvinismus / der Fremdenobsession: Wie kann ich vermeiden, von der eigenen Kultur als absolutem normativem Standpunkt aus1
2
Donald Friedman zitiert in: The New Summit, Schöningh 2003, S. 7.
Vgl. Martha Nussbaum: Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education, Cambridge, Mass. 1997.
Interkulturalität und Ethik
51
zugehen und alles andere nur in der (negativen) Differenz zu beurteilen? Wie kann ich vermeiden, dass
die Zielkultur zum normativen Ort wird, einem Ort, an dem per se alles besser ist als in der Herkunftskultur?
2. Ethische Fragen der Interkulturalität
Die Globalisierung hat sich im Vergleich zur Wende zum 20. Jahrhundert qualitativ und quantitativ
verändert. Deutlichstes Kennzeichen dafür ist, dass Begegnungen mit dem Fremden nicht nur dort geschehen, wo man sich in die Fremde begibt, sondern zu Hause, im alltäglichen Leben. Dies bedeutet
nun, dass der Gedanke der Toleranz, der mit der europäischen Aufklärung ins allgemeine Bewusstsein
rückt, der ethische Grundgedanke jeder interkulturellen Begegnung ist.
Toleranz bedeutet die Fähigkeit, andersartige oder neuartige Auffassungen, Werte oder Verhaltensweisen zu respektieren. Toleranz ist der Schutzraum, der um Andere errichtet wird. Diejenigen, die anders
denken oder anders leben oder anders aussehen werden als Menschen anerkannt, deren Existenzrecht
nicht durch ihr Anderssein in Frage gestellt wird. Hier herrscht zumindest theoretisch eine gewisse Einigkeit. Die problematische Frage ist: Wo ist die Grenze von Toleranz? Sie ist gleichzeitig eine notwendige Frage, denn unbegrenzte Toleranz, verbunden mit einem moralischen Skeptizismus – ‚das
muss jeder selber wissen’ – beendet zwar die Glaubenskriege, trägt aber keineswegs bei zu einer besseren oder gerechteren Welt. Herbert Marcuse hat diese Problematik des Toleranzbegriffs herausgearbeitet: Toleranz ist paradox: Ein kritischer Toleranzbegriff verlangt notwendig nach Intoleranz – Intoleranz gegen Fanatismus.
Toleranz bedeutet nicht, alles zu akzeptieren, allem die gleiche Gültigkeit zuzusprechen, kulturell geprägte Verhaltensweisen als moralisch neutral anzusehen. Toleranz bedeutet: ein aktives Eintreten zum
Schutz derer, die anders denken oder anders sind und gleichzeitig Intoleranz gegen diejenigen, die
Menschen wegen ihres Andersdenkens oder Andersseins das Recht absprechen, menschlich zu leben;
es ist auch ein aktives Eintreten gegen kulturelle Verhaltensweisen, die menschenrechtsverletzend sind.
Auf dem Hintergrund eines solchen Toleranzbegriffs lassen sich zunächst zwei Ziele formulieren - das
eine auf der Wahrnehmungsebene, das andere auf der Urteilsebene, das eine eher deskriptiv, das andere
eher normativ. Zu lernen wäre:
a) Differenzen erkennen. Kulturelle Vielfalt wahrnehmen ohne alles, das anders ist und alle, die anders
sind, von vornherein abzuwerten, sei es aus Überheblichkeit, sei es aus Angst oder aus einer Mischung zwischen beiden.
b) Differenzen beurteilen. Kulturelle Vielfalt darf nicht in einen Supermarkt verwandelt werden, in
dem man sich beliebig bedient; vielmehr muss nach der Art der Differenzen gefragt werden, es
muss nach Verständigungsmöglichkeiten über Differenzen gesucht werden und nach Möglichkeiten
wechselseitiger Kritik.
3. Ethische Reflexion im Fremdsprachenunterricht
Im Fremdsprachenunterricht, der die eigene ethische Fragestellung bewusst und reflektiert aufgreift,
sind hier drei Schritte notwendig: das Kennenlernen des Eigenen, das Kennenlernen des Fremden und
das Kennenlernen von Menschenrechtskonzeptionen.
Das Kennenlernen der eigenen Ursprungskultur geht mit dem Kennenlernen anderer Kulturen Hand in
Hand. Die eigene Kultur – Sprache, Tradition, Geschichte, Religion- wird bei vielen Kindern nicht länger durch Einatmen, Nachahmen, Beobachten aufgenommen, sondern muss tatsächlich gelernt werden.
Es ist ein Lernen, in dem deutlich werden könnte, dass das Eigene aus einer Vielheit von Einflüssen und
Anstößen hervorgegangen ist, der eigene Standort und die eigne Lebensweise also kein Naturgesetz ist,
sondern Ergebnis eines Prozesses. Im Kennenlernen des Anderen müsste letztlich auch deutlich werden,
dass auch das Andere, das Fremde in sich pluralistisch ist und Klischees – nichts anderes als Klischees
52
Interkulturalität und Ethik
sind. Der dritte Schritt des Kennenlernens wäre die Begegnung mit Menschenrechtskonzeptionen, das
Kennenlernen der Tatsache, dass kulturelle Traditionen und Menschenrechte sich widersprechen können und dass Kulturen sich verändern müssen, um Menschenrechtskonzepten zu entsprechen.
Diese drei Schritte stecken den Rahmen einer ethisch notwendigen Toleranz ab – und den Rahmen einer
ethisch notwendigen Intoleranz.
Im Unterricht geht es hier um die reflektierte Voraussetzung von Unterricht (Wie wird diese Begegnung
mit der Fremdkultur gestaltet? Wie gehen wir mit Klischeebildungen um?) und um deren punktuelle
Thematisierung in einzelnen Fragestellungen.
Wenn im Fremdsprachenunterricht interkulturelles Lernen ein durchgängiges Unterrichtsprinzip ist,
dann entsteht hier die große Chance der doppelten Erschließung: der Erschließung von eigener und
fremder Welt; dann wird hier deutlich, dass ‚Verstehen’ heißt, sich nicht in der fremden Welt aufzulösen, aber auch nicht, auf der eigenen Welt als einziger oder einzig ‚richtiger’ zu beharren. Hier ist auch
die zukünftig sicher immer wichtiger werdende Verbindung von migrationsbezogenen und fremdsprachenbezogenen unterrichtlichen Bemühungen anzusiedeln. Schülerinnen und Schüler mit Migrationserfahrungen erhalten hier die Chance, diese Erfahrungen an anderen Erfahrungen zu spiegeln und sie damit einzuordnen und zu reflektieren. Lehrerinnen und Lehrer im Fremdsprachenunterricht haben die anspruchsvolle Aufgabe der kulturellen Mittler.
Dieses durchgängige Unterrichtsprinzip kann und muss immer wieder selbst zum Unterrichtsgegenstand werden. Wenn Interkulturalität explizit thematisiert wird, können Schülerinnen und Schüler interkulturell sprachfähig werden, Neugier und ein klares Problembewusstsein entwickeln und lernen, welche Formen Kulturkonflikte annehmen und welche Lösungswege eingeschlagen werden können.
4. Bildungsziele
Die Menschenrechte als der globale Referenzrahmen für die ethische Dimension des Fremdsprachenunterrichts finden sich im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4.12.1980 in der Fassung vom
14.12. 2000: „Die Menschenrechte gehören zu den unabdingbaren Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben. Politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind nicht zu verwirklichen, wenn die aus
der Würde des Menschen herzuleitenden Grundrechte nicht sichergestellt sind. Ebenso ist eine auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit beruhende Weltordnung, die allein das friedliche Zusammenleben
der Völker dauerhaft sichern kann, ohne die Respektierung dieser Rechte nicht möglich.“3
Bildung, die per se solidarisch verortet und daher kommunikativ ist, hat das Ziel einer Bildungsgemeinschaft, einer Gemeinschaft, in der jeder dem andern Gutes im Sinne des oben Zitierten will. Der Fremdsprachenunterricht kann in besonderem Maße helfen diesem Bildungsziel näher zu kommen. Dazu heißt
es in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb Moderne Fremdsprachen im Bildungsplan von BadenWürttemberg aus dem Jahre 2004 (Bildungsplan 2004: 104-105)4:
•
„Fremdsprachenkenntnisse tragen in einem hohen Maß zum gegenseitigen Verständnis und friedlichen Zusammenleben bei und sind Voraussetzung für Mobilität und Zusammenarbeit.“
•
„Die Begegnung mit kultureller Vielfalt regt zur Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen
an und ermutigt zur Reflexion über eigene Erfahrungen und soziokulturelle Bedingungen.“
•
„So wird eine interkulturelle Kompetenz aufgebaut, die Identitätsfindung und Persönlichkeitsfindung unterstützt, Empathie, Achtung und Toleranz fördert sowie einen Perspektivenwechsel ermöglicht.“
3
4
Empfehlung der KMK zur Förderung der Menschenrechtsbildung in der Schule: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.1980 i. d. F. vom 14.12.2000.
Vgl. dazu auch: Europäischer Referenzrahmen 2001 und KMK-Beschluss vom 25.10.1996.
Interkulturalität und Ethik
•
53
„Sprachenlernen in der Schule muss der Sprachenvielfalt in der Gesellschaft Rechnung tragen.
Mehrsprachigkeit und der Erwerb interkultureller Kompetenz sind Voraussetzung für den interkulturellen Dialog. Sie sind entscheidendes Zukunftspotenzial in und für Europa sowie weltweit.“
Damit ist Byrams Position aufgenommen, der 19885 postuliert, dass das Fremdsprachenlernen erzieherisch wirkt und dem Lerner die Möglichkeit eröffnet aus seiner eigenen begrenzten Kultur sich zu befreien; es ist eine Befreiung, die einhergeht mit der Entwicklung neuer Perspektiven und Einsichten in
bisher fremde Kulturen. Für ihn schließt das Einlassen auf Fremdes das Verlassen der eigenen Sprache,
der kulturellen und ethnischen Identität ein, mit dem Ziel herauszufinden, was eine Kultur wirklich
ausmacht. Hier bietet sich die Gelegenheit, vom Standpunkt der anderen Kultur aus über sich selbst und
die eigene Kultur zu reflektieren. Das eben macht für Byram Erziehung aus: Selbsterkenntnis und die
Erkenntnis eigener kultureller Bedingtheit.
Auf der Grundlage der Reflexion über die eigene Kultur, die aus der produktiven Auseinandersetzung
mit anderen kulturellen und ethnischen Lebensformen hervorgeht (vgl. den Begriff des ‚critical cultural
awareness’), erfolgt als wesentlicher weiterer Schritt (vgl. oben ‚Differenzen beurteilen’) die Stellungnahme gegen Rassismus, Ethnozentrismus, aber auch Fremdenobsession und Kulturrelativismus, gegen
die Fürsprecher einer faden und scheinbar neutralen Gleichgültigkeit, die unmenschliche Züge einer
Kultur verharmlost (man mag hier sogar von obszöner Toleranz sprechen).
5. Konsequenzen für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts
a) Die Rolle der Lehrenden
Die Lehrkraft in ihrer Vorbildfunktion ist entscheidend für gelingendes interkulturelles Lehren. Sie sollte neben hervorragender Fach- und Sprachkompetenz ihr Interesse an Neuem und Fremden, das Aushandeln von Bedeutung über Grenzen hinweg, den wertschätzenden Umgang mit anderen vorleben. Einerseits wird sie Fremdes als uns Fremdes souverän stehen lassen können, andrerseits muss sie die oben
postulierte Intoleranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen im Namen einer Kultur lehren. Ebenso
kann sie mit den Widerständen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler beim Aushandeln von Bedeutung umgehen. Im Unterricht wird sie die Moderatorenrolle im Lernarrangement bevorzugen: Das alte
didaktische Dreieck Schüler-Lehrer-Inhalte wird ersetzt durch das Dreieck Schüler-Wissen-Sachen mit
dem Lehrer auf der „Umlaufbahn“ des Dreiecks. Das Gespräch als Hauptform des Unterrichts berücksichtigt, dass – obwohl interkulturelles Lernen vorzugsweise in der individuellen Aneignung geschiehtes interkulturelles Lernen nur als gemeinsame Leistung einer Gruppe, die miteinander ins Gespräch
kommt, gibt (vgl. das Aushandeln von Bedeutung über Grenzen hinweg). Außerhalb des Unterrichts im
Klassenzimmer werden erfahrungsbildende Aktivitäten, die Handlungswissen begünstigen, einen immer größeren Raum einnehmen müssen. Gedacht ist dabei an sinnvoll gestaltete Sprachreisen für Schüler und Schülerinnen – und das nicht erst nach etlichen Jahren Fremdsprachenunterricht.
b) Die besondere Eignung literarischer Texte für das interkulturelle Lernen6
Verstehen ist ein Erfassen fremden Sinns, eine Vermittlung zwischen Fremden und Eigenem. Interkulturelles Verstehen fokussiert die Merkmale eines jeden Verstehensprozesses, denn es werden Grenzen
überschritten im Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Ganzem. Dieser hermeneutische Zirkel wird
sowohl beim interkulturellen als auch beim literarischen Verstehen entfaltet. Literarisches Verstehen
konkretisiert interkulturelles Lernen: beim Lesen wird der Leser durch sein Vorwissen (Weltwissen) in
5
6
Vgl. dazu Michael Byram: Cultural Studies in Foreign Language Learning, Clevedon. 1988.
Vgl. im folgenden: Lothar Bredella: Literarisches und interkulturelles Verstehen, Tübingen 2002, v.a. S.
30-81, 306-309, 408; vgl. auch die Buchbesprechung durch Camilla Badstübner-Kizik: www.tuchemnitz.de.
54
Interkulturalität und Ethik
eine konkrete Situation involviert, indem er an der Perspektive der Charaktere (und der dahinter liegenden Weltbilder) teilnimmt und die teils fremde Perspektive zu seiner eigenen in Beziehung setzt (Im
Sinne von ‚Wie hätte ich gehandelt, gedacht?’) Kompetenz ist dann erreicht, wenn ich die Lenkung
meines Verstehens erkenne.
c) Welche literarischen Texte eignen sich besonders?
“The […] writers […] share the same creative predicament- the fact of being located at a geographical,
cultural and conceptual crossroads. The depth charge contained within that has, it could be argued, been
responsible for releasing not only anxiety but also a distinctive creativity.”7 Das heißt, dass sich für interkulturelles Lernen besonders postkoloniale Literatur, Migrantenliteratur und die Autobiographien
von Grenzgängern eignen.
Kurzgeschichten bieten sich deshalb besonders an, weil in ihnen oft der Fokus auf einer Krise und deren
Wendepunkt liegt, weniger auf einer Entwicklung; die Leser selbst können somit in die Eröffnung von
Zukunft für den Protagonisten mit hinein genommen werden, indem sie Wege aus der Krise vorschlagen.
6.2.
Literatur
Bredella, Lothar (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen, Tübingen.
Byram, Michael (1988): Cultural Studies in Foreign Language Learning,.
Peter Doyé: Lehr- und Lernziele. In: Karl-Richard Busch / Herbert Christ / Krumm, Hans-Jürgen
(1995) (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. überarbeitete und erweiterte Ausg. Tübingen /Basel: 161-166.
Ders. (1995): Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kommunikation. In: Karl-Richard
Busch/Herbert Christ/ Hans-Jürgen Krumm (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. überarbeitete und erweiterte Ausg. Tübingen /Basel: 156-161.
Lehberger, Reiner (1995): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts bis 1945. In: Karl-Richard Busch /
Herbert Christ / Hans-Jürgern Krumm (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. überarbeitete und erweiterte Ausg. Tübingen /Basel: 561-656.
Marcuse, H.(1965): Repressive Toleranz. In: H. Marcuse / B. Moore / R.P. Wolff: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M.
Uta Quasthoff (1981): Sprachliche Bedeutung. Soziale Bedeutung und soziales Handeln: Stereotype aus
interkultureller Sicht. In: Bernd-Dietrich Müller (Hrsg.): Konfrontative Semantik, Weil der Stadt:
75-94.
Brigitte Scheer-Schäzler (1996) (Hrsg.): Immigrant Stories, Cornelsen, Berlin: 9-26.
Voltaire, F.M. (1978): Über die Toleranz. Veranlasst durch die Hinrichtung des Johann Calos im Jahr
1762. In: G. Mensching (Hrsg.): Voltaire: Recht und Politik. Schriften I, Frankfurt/M.
Wichterich, Christa (1984): Landeskunde als interkulturelle Kommunikation – Verstehensprobleme
zwischen Erster und Dritter Welt. In: Bernd-Dietrich Müller / Gerhard Neuner (Hrsg.): Praxisprobleme im Sprachunterricht. München: 77-90.
M. Walzer: On Toleration. New Haven /London 1997. (Über Toleranz: von der Zivilisation der Differenz. Mit einem Nachwort von O. Kallscheuer, Hamburg 1998)
Wierlacher, Alois (1996) (Hrsg.): Kulturthema Toleranz: Zur Grundlegung einer interdisziplinären und
interkulturellen Toleranzforschung, München.
Slavoy Zizek (21998): Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien.
7
Vgl.: Ferdinand Dennis/ Naseem Khan (Hrsg.): Voices of the Crossing, Serpent’s Tail 2000, S. 1.
Interkulturalität und Ethik
55
Eine Welt der Vielfalt: ein Trainingsprogramm des A World of Difference-Institute der Anti-Diffarmation
League, New York, in Adaption für den Schulunterricht. Praxishandbuch für Lehrerinnen und Lehrer, hrsg. v. der Bertelsmann-Stiftung, Forschungsgruppe Jugend und Europa, Gütersloh 1998.
56
6.3.
Interkulturalität und Ethik
Beispiele und Materialien
6.3.1. Beispiel (1): Austin Clarke: The Discipline (Barbara Scheu)
Die Kurzgeschichte “The Discipline”8 bietet durch die ausschließliche Perspektive des Protagonisten
auf die Geschehnisse den Schülern und Schülerinnen viele Sprechanlässe, auf die es im interkulturellen
Verstehensprozess besonders ankommt.
Protagonist der Geschichte ist ein schwarzhäutiger Einwanderer von der karibischen Insel Barbados in
Toronto/Kanada, der seinen dreizehjährigen Sohn zur Bestrafung einer Untat krankenhausreif schlägt.
Er wird angeklagt, aber versteht die Vorwürfe nicht, da er diese Art von Erziehung von seiner Großmutter her kennt und für richtig hält. Die kanadische Sozialarbeiterin erklärt sich das Verhalten des Protagonisten mit der Sklavenherkunft der Bewohner Barbados. Aber diese Erklärung erzürnt den Protagonisten, da er sich somit erniedrigt fühlt. Er will als Individuum wahrgenommen werden. Er wird verurteilt, denn er lebt in Kanada und es gelten – so der Richter - die zivilisierten Gesetze und Prinzipien Kanadas. Zurück bleibt der Vater, der sich wie eine Bananenschale, die man aus dem Weg kickt, fühlt, der
nicht mehr weiß, wer er ist.
Die Schüler und Schülerinnen fragen sich, ob sie die Perspektive des Protagonisten übernehmen sollen.
Sie fragen sich, ob Toleranz so weit gehen muss, dass sie auch das brutale Schlagen von Kindern verstehen muss, um sich nicht den Vorwurf der Ethnozentrie einzuhandeln. Der Autor Austin Clarke will
nicht, dass wir das Handeln des Protagonisten gut heißen, aber er will, dass wir ihn in seiner Sprachlosigkeit und Einsamkeit verstehen, und er will, dass wir die ethnozentrische Haltung der kanadischen
Charaktere kritisch sehen. Die in der Kurzgeschichte aufleuchtenden Themen wie die Schwierigkeit der
Anpassung, das Sprachenproblem, die Erfahrung von Diskriminierung, das Gefühl der Erniedrigung
und der Niederlage, das spannungsreiche Verhältnis zwischen den Generationen, das in der neuen
„Heimat“ noch verstärkt wird, die Vergangenheit, die an einem Menschen zerrt, die Identitätskrisen
sind Themen, die nicht nur für multi-ethnische Klassen faszinierend sein können.
Die Schüler(innen) einer Abitursklasse hatten die unterrichtsvorbereitende Hausaufgabe die Kurzgeschichte nicht nur zu lesen, sondern arbeitsteilig die Perspektive des Protagonisten oder die der anderen
Charaktere mit genauen Textbelegen zu erarbeiten.
8
Die Anregung, die Kurzgeschichte in einer 13. Klasse zu behandeln, entnahm ich: Lothar Bredella: Literarisches und interkulturelles Verstehen, Tübingen 2002, S.380-383. Die Kurzgeschichte findet sich in der
Kurzgeschichtensammlung: Brigitte Scheer-Schäzler (Hrsg.): Immigrant Stories, Cornelsen 1996, S. 9-26.
Interkulturalität und Ethik
57
Lernziele der Doppelstunde:
•
Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihr Wissen über Barbados als der karibischen Heimat des
Protagonisten.
•
Sie verbessern ihr Leseverstehen.
•
Sie wälzen die benötigte Lexik (Wörter aus „Words in Context“ Klett) S. 63-71) und ’speech gambits’ erneut um.
•
Sie versetzen sich in den Protagonisten und seine Situation hinein und nehmen damit kulturspezifische Differenzen (Barbados als sog. kollektivistische Kultur im Gegensatz zu der individualistischen Kultur Kanadas) wahr, die sie auf ihren eigenen Verstehenshorizont und ihre eigenen Lebensbedingungen beziehen; sie erproben die kulturbedingte Sichtweise des Protagonisten und erproben sich selbst im Perspektivenwechsel. Dabei können sie im Spannungsfeld der eigenen und
der Kultur des Protagonisten kritische und reflektierende Distanz herstellen und auch Empathie
entwickeln.
•
Sie schulen ihre Sozialkompetenz (Kommunikations- und Teamfähigkeit) in den Gruppenarbeiten
und im Unterrichtsgespräch.
•
Sie setzen sich mit Wegen aus dem „Gefängnis alter und unflexibler Identität“ auseinander, um gegebenenfalls ihre eigene Situation der Auswanderung besser bewältigen zu können, ohne dass ihre
Situation direkt thematisiert wird.
Es erfolgt zusammengefasst der klassische Dreischritt interkulturellen Lernens: Die Ebene der Information (Information über Barbados und seine Bewohner), die Ebene der Empathie in der Perspektivenübernahme, und die Ebene der Reflexion, die in eine mögliche Zukunftseröffnung mündet.
58
Interkulturalität und Ethik
Geplanter Unterrichtsverlauf:
Phase/Zeit
Ziele/Inhalte
Einstieg
Geschichte Barbados, die LV
Heimat des Protagonis- EA/making notes
ten;
ca. 7-10’
Methoden/Sozialformen
Materialien/Medien
CD-Spieler mit CD
OHP: Karte
Bilder an der Tafel
Musik (Dean Fraser:
Ebene der In„Johnny Was“); Bilder
formation
von der dortigen Landschaft und Menschen von
Barbados in einer Bildergalerie
Erarbeitung 1
ca.15-20’
Erarbeitung 2
ca. 20’
Überprüfung der HA zu
den Sichtweisen auf den
Protagonisten in der
Kurzgeschichte und Herstellung von role cards
GA/3 arbeitsgleich
HA-Aufschriebe
HA: pooling notes and peer cor- role cards
rection;
Write a role card
Rollenspiele im Sinne der GA/ 4: Rollenspiele zwischen s.o./role cards
produktiven Hermeneutik Protagonisten und den offiziellen
Vertretern der kanadischen Geeingesetzt
sellschaft
Ebene der Empathie
ErgebnisFesthalten der Situation plenares Unterrichtsgespräch
sicherung 1 ca. des Protagonisten
15’
(Abstrahierung:
TA
lexikalische Progression)
Ergebnissicherung 2
Ways out of ‘prison’ for plenares UG
the protagonist?
TA
ca.10’
Ebene der Reflexion
HA: kreativ-produktives Schreiben als unterrichtsnachbereitende HA: “Imagine it’s five years later. Write an interior monologue from the protagonist’s perspective. Be realistic.
Remember the assessment criteria for written tasks.”
Interkulturalität und Ethik
59
Erwartungshorizont zur arbeitsteiligen unterrichtsvorbereitenden Hausaufgabe:
How does the protagonist see himself?
How do the Canadians, his son and his
wife see him?
p.10, l.1ff “It is important for you to know my past” he p.18, l.1ff Canadian teacher wants to prosays to his female lawyer in her stiff office: his strict tect her pupil from his parents
grandmother who flogged him
p.12, l.21ff: “I knew who to call a friend…” feels dis- p.19, l24: Canadian judge: “This vicious
placed
disregard for the civilized practices
and principles of this country”
p.13, l.20: lives in a multi-ethnic neighbourhood, children
cannot behave according to his standards, soil his furniture for which he has worked hard to purchase; his son is
disrespectful
p.20: Canadian social worker from Children’s Aid: has never seen such a violent
case of child abuse; tries to explain his
violent outburst against his son with the
past of his ancestors as slaves
p.14: l5: “I am reliable and stable, a man with a son thir- p. 22: l.7:Canadian Judge: “ They must
teen years old and a wife, who owns his home with two learn to behave as if they’re not still in
locks on the front door.”
the West Indies”
p.14, l.8: when his son calls him a “damn old-fashioned p.14, l.8: when his son calls him a
West Indian…I (the son) am a Canadian” he smacks his “damn old-fashioned West Indian…I (
face and hits him with a kitchen chair
the son) am a Canadian” , meaning that
he is dead and he, the son, is alive
p. 17, l.34: doesn’t understand the police officer and the p.15, l. 6: his wife approves of his beyoung Canadian woman, his son’s teacher: no communi- haviour; she accepts the patriarchal
cation
system he symbolizes
p.19, l.20 and 34, p. 20, l.6: feels alone
p.21: does not accept the social worker’s historical / anthropological explanation/ he feels humiliated by this, he
doesn’t want to be treated as a member of a culture but as
an individual: he maintains that he treated his son that
way because his grandmother had also done so
p.21,l. 24-25: feels “like a leaf on a lawn that was
dragged away by a rake” when he is taken away as a
prisoner
l.26: “like a banana skin kicked out of the way”
p.22: in prison behaves like a small boy wanting to please
the psychiatrist; she asks suggestive/leading questions
p.22, l.13-14: “I don’t know who I am.”
p.26: sees his son between the Canadian teacher and his
wife: tragic to him as a father: loss of his role as a father.
His female lawyer doesn’t want to hear
about the past
60
Interkulturalität und Ethik
Geplanter Tafelanschrieb 1:
“You can’t run away from
yourself”?
.
How does he see himself?
•
his Barbadean colonial past has shaped him
•
he wants to reassert Barbados in new country
•
he feels dead
•
he feels alone
•
no self-esteem: like a banana skin kicked out of
the way
•
loss of identity: he doesn’t know who he is
•
feeling of disorientation,
unpredictable
everything
is
He is in a crisis : his past has boxed him in
free Western society sees:
•
his vicious disregard for the civilized practices
•
him as a semi-savage (sweating scene)
•
him symbolizing the old patriarchal system
•
violent child abuse committed by him
•
as a non-literate
•
him not having assimilated to Western civilization
•
him as being evil
They put him behind bars, don’t want to understand him, don’t comprehend
his situation either
WAYS out of his “prison”, paths to freedom:
•
Immigrating is a learning process (in his case from a collectivist society to an individualistic one, which ranks personal freedom higher)
•
It is process of transformation: the where and the when influence one’s identity
•
Of assimilation: basic human rights to be observed in Western countries in order to function in a society
•
Old and new stones in the mosaic of identity: stepping back, reflecting is seeing it as a
whole
Interkulturalität und Ethik
61
Folgende Tafelbilder entstammen einer PPP und sind zum besseren Verständnis angefügt. Beim Benutzen eines Laptops mit Beamer gelingt es sehr eindrucksvoll das Einkerkern des Protagonisten durch die
Außenwelt zu visualisieren: Man hört das Gefängnisgitter regelrecht fallen.
“You can‘t run away from
yourself.“?
How does he see himself?
• his Barbadean colonial past has
shaped him
• he wants to reassert Barbados
in the new country
• he feels dead and lonely
• possesses no self-esteem
• loss of identity
• feeling of disorientation
free Western society sees:
•his vicious disregard for
the civilized practices
•him as a semi-savage
•him symbolizing the
patriarchal system
•the child abuse committed
by him
•him as a non-literate
•him not having assimilated
to Western civilization
•him as being evil
“You can‘t run away from
yourself.“?
his ways out of prison:
•immigrating involves a learning process
•It is a process of transformation/border crossing
•It means reflecting: identity as a mosaic of old and new ‘identity stones‘
62
Interkulturalität und Ethik
6.3.2. Beispiel (2): Interkulturelles Lernen im Rahmen der Didaktik des Übergangs (Barbara Scheu)
Der Kern einer Didaktik des Übergangs ist der ’storytelling approach’.
Mit Geschichten begann alles: man denke an das Gilgamesch-Epos, an die biblischen Geschichten.
David Lodge in seinem Roman „Think“ argumentiert deshalb auch: “One can argue that there is a basic
human need for stories. It’s one of our fundamental tools for making sense of experience.”9 Es bereitet
den Schülern und Schülerinnen immense Freude, denn eine magische Atmosphäre wird erzeugt:
Im folgenden Schaubild sind die Bereiche, die durch das ’storytelling’ und später auch das ’story reading’ abgedeckt werden, visualisiert. Die Forderung nach Nachhaltigkeit kann hier mit Sicherheit erfüllt
werden.
Bridging
the
Gap
The Magic of Storytelling…
Sprachbad
Sprachbewusstsein
Interaktion
Wortschatzarbeit
Ritualisierung
‘process writing‘
‘contextual guessing‘
Rollenspiele
Interkulturelles Lernen
Ganzheitlichkeit
Bildungsstandards GS und Klasse 6:Interkulturelle Kompetenz
Klasse 2 GS:
9
Klasse 4 GS:
Klasse 6/Gymnasium:
- Sensibilisierung für
die Verschiedenartigkeit
von Sprachen
- Sensibilisierung für Verschiedenartigkeit von Sprachen
- Angemessene Bewältigung von
Alltagssituationen im englischsprachigen Ausland im Rollenspiel
- Sensibilisierung für
Unterschiede / Gemeinsamkeiten hinsichtlich
möglicher
Organisationsformen des alltäglichen Lebens, Beschreibung einiger ausgewähl-
- Sensibilisierung für Unterschiede / Gemeinsamkeiten hinsichtlich möglicher
Organisationsformen des alltäglichen Lebens, Beschreibung einiger ausgewählter
Gewohnheiten auf Deutsch
- Auskunft geben über sich selbst
und das eigene soziokulturelle Umfeld
David Lodge: Think, Penguin 2001, S. 83.
- Austausches über alters- und
gruppenspezifische Erfahrungen im
Alltag
Interkulturalität und Ethik
ter Gewohnheiten auf
Deutsch
63
- Vergleich deutscher und britischer Lebensverhältnisse
- Wiedergabe
nungen dazu
persönlicher Mei-
GS:
Klasse 1:
Geschichten hören und dazu malen, basteln
Klasse 2:
’interactive storytelling’
Klasse 3:
nachspielen (im optimalen Fall)
Klasse 4:
nacherzählen (im optimalen Fall)
Sek I:
Klasse 5:
vor allem in der Phase der Homogenisierung der Klassen vor Weihnachten viel
Storytelling
Klasse 6:
Geschichten zusammenhängend erzählen („What happened to me yesterday“,
„my family“, „my dog“...;Themenvertiefung und –ausweitung) und schreiben
können (vgl. auch Briefform) Deshalb muss die Behandlung der Vergangenheitsformen im Englischen vorgezogen werden.
„Wenn GSE […]erreicht, dass die Kinder am Ende der Klasse 4 daran gewöhnt sind, dass Geschichten
[…] in der Zielsprache vermittelt [..] werden, ist das für die Fortsetzung des einsprachigen Lerngeschehens ein verlässliches Fundament. Wenn in Klasse 5/6 das Erzählen, Fabulieren, das gestaltende Festhalten und die geschickte Präsentation aller Ergebnisse durch die Schüler(innen) zur Routine wird, dann
ist das für die folgende Stufe eine bessere Grundlage als die verbissene Durchnahme und Festigung
grammatischer Begriffe und Formalitäten meist ohne deren alsbaldige Verwendung in freier Rede und
gegenstands- und adressatengerechter schriftlicher Darstellung“10
“Lebendiges und lebensnahes Fremdsprachenlernen entzündet sich nämlich nicht am Lehrbuch, sondern
an aktuellen Rede- und Schreibanlässen und einem Kranz von Texten und Bildern um die Kerne der
Lehrwerkseinheiten“11
10
11
Piepho’s Corner: http://www.learnline.de.
Piepho’s Corner: http://www.learnline.de.
64
Interkulturalität und Ethik
Vorschläge für Fortführung der GS-Themen auf Sek I in Form von Geschichten
GS-Thema
Sek I-Thema
Vorschläge für stories
Me and my family
Growing up is so difficult!
Growing up:
Parents are so difficult!
Sharon Creech: Chasing Redbird
Macmillan
Teenager
12
Guide p.12/13 (nur für Gym
geeignet)
The Secret Diary of Adrian
Mole ( Mandarin Teenager
Guide p. 46.)
That’s not fair! (Benachteilung) Robin Hood (Cornelsen 126919; vgl. auch Verlag Mildenberg)
Elephant
12299-0)
Man
(Cornelsen
Cinderella
Being misunderstood:
Jennifer Choldenko, Bloomsbury: Notes from a Liar and Her
dog ( Teenager Guide p. 64.)
adventure outside home:
Robinson Crusoe (Cornelsen
254019)
The Adventures of Tom Sawyer
(Cornelsen 12337-5)
Around the year
Friendship: a good friend is....
Have you got your ticket
(Longman 53727); Pop Festival
(Longman 53714)
Valentine
The legend
Thanksgiving
Indians helping immigrants
Guy Fawkes
The Great Fire of London (Klett
oder Cornelsen 13446-6)
World Children’s day als Pro- Indian Adventure : Sita aus
jekt: penfriends in…
English G 2000: Cornelsen
6799-98)
Außereuropäische Feste
Animals, pets
Africa:LMZ- DVDs: The Hap- Black Beauty, Mrs Frisby and
py Hippo, The Lazy Lion...; the Rats of NIMH, Tarka the
Erweiterung des Faktenwissens Otter, Watership Down.
The Secret Garden (Cornelsen)
African fables
Tove Jansson. The Summer
Book (Teenager Guide p.27)
12
Nicholas Tucker/Julia Eccleshare ( Hrsg.):The Rough Guide to Books for Teenagers, Penguin 2002.
Interkulturalität und Ethik
Body and clothes
school
65
Dressing up
Blue Jeans (Longman
Buying clothes
52685)
Expensive labels
Bullying at school
Comparison with other coun- Sherlock Holmes and the
tries
Duke’s Son (Klett oder Cornelsen)
Discipline
Uniforms
Blue Jeans (Longman 52685)
My way to school
food
Eating nutritious food, what for Fast Food (Longman 52697)
breakfast, what for the break
Leisure time
Sports
Roller
Umgang mit Medien(Computer, 52793)
TV, books)
Coaster
(Longman
Going to London...
At home
Hiding at home: secret places
Pons Power dictionary: Materialien zu “my room of dreams “
Join hands for peace
Malorie Blackman Noughts and
Crosses (Corgi Teenager Guide
p. 61
(interracial love)
evtl.: Martin Luther King
Around the World in 80 Days
(Klett oder Cornelsen 13437-7)
Happy Earth
Far beyond the Milky Way
The world outside
Feste und Bräuche aller Religionen)
Evtl. hier auch : Indian Adventure (Cornelsen)
historical biographies:
King Arthur, Klett;The Sword
in the stone oder Cornelsen
12689-7)
Robin Hood (Klett)
Robinson Crusoe (Klett)
George Washington
toys
Magic worlds: Superman, Bat- Rip
Van
Winkle
man, Harry Potter, Loch Ness
(Klett/Cornelsen)The Wizard of
Oz (Klett oder Cornelsen)
The Tempest (Cornelsen 134873) Best. Auswahl an Fairy Tales
(Jazz Chants: Fairy Tales; OUP
434300)
66
Interkulturalität und Ethik
Ein Beispiel für Verknüpfung interkulturellen Lernens mit ‚storytelling approach’ in der Allltagsbewältigung mit der Klasse:
Da aus der Grundschule Kenntnisse zu Festen und Feiertagen in England und Amerika vorhanden sind,
könnte man in der Anfangsphase in Klasse 5 mit den Schüler(innen) anhand eines internationalen Jahreskalender13 in der Form schriftlicher und mündlicher Aufgabe ’intercultural awareness’ fördern, indem man zum Beispiel unter Verwendung der Nomen (“George’s birthday“) nach den Geburtstagen
fragt (How many more days until Peter’s birthday?), oder die Imperativform verwendet: “Don’t forget
to buy a present for Mother’s Day!“ Zusätzlich könnte man eine Erläuterungsspalte für nationale Feiertage wie ’Thanksgiving in America’ oder zu Festen anderer Religionen erstellen. Einleiten könnte dies
die Lehrkraft mit den magischen Worten :“I’m going to tell you a story about… today!”
Weniger Begeisterung werden Antworten zu Fragen wie “When is our next test?” hervorrufen.
13
vgl. Ralf Weskamp: „Aufgaben im fremdsprachlichen Unterricht“, in: PRAXIS Fremdsprachenunterricht
3/2004, S.166-167.
Interkulturalität und Ethik
67
6.3.3. Beispiel (3): Interkulturelles Lernen mithilfe von Literatur: Klasse 6 (Barbara Scheu)
Zu Beispiel (3) vgl. Anhang Interkulturalität01.
6.3.4. Beispiel (4): Ferrudja Kessas, Beur’s Story (Michaela Banzhaf)
Ferrudja Kessas, Beur’s Story, Editions L’Harmattan, Paris 1994
1) Sachanalyse
Kessas Beur’s Story ist 1994 in der Reihe „écritures arabes“ erschienen.
Ferrudja Kessas ist eine Schriftstellerin, die der Gruppe der auteurs beurs zuzuordnen ist. Beurs sind
Kinder maghrebinischer Immigranten in Frankreich, deren kulturelle und soziale Situation zwiespältig
ist: ihre Ursprungskultur ist zwar arabisch, jedoch werden sie massiv von der französischen Kultur
beeinflußt. Als Kinder von Immigranten – sie selbst lehnen es jedoch ab, als Immigranten bezeichnet zu
werden, da sie zumeist in Frankreich geboren und sozialisiert wurden – stehen sie am Rand der französischen Gesellschaft, sind marginalisiert und gelten als anders, sowohl bei den Franzosen als auch bei
ihren eigenen Familien. Mit diesem doppelten Anderssein – anders als die Mitglieder ihrer Ursprungskultur und anders als die Mitglieder der Begegnungskultur – müssen sie sich auseinandersetzen und zu
einer Identität finden. Als möglicher Weg der Identitätsfindung kann der Versuch gelten, eine culture
beure zu schaffen, die den Betroffenen als gemeinsames Forum dient.
In ihrer Habilitationsschrift „Zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung: die Beurs, Kinder maghrebinischer Immigranten in Frankreich. Untersuchungen zur Darstellung interkultureller Konflikte in der Beur-Literatur und in den Medien“ (Frankfurt 2002) arbeitet Adelheid Schumann fünf Konfliktzonen heraus, die die beurs bei ihrer Identitätsfindung nachhaltig und vehement beeinflussen: die
(Groß-)Familie, die Religion, die Schule, die Medien und das Leben auf der Straße. Besonders relevant
in Beur’s Story sind die Bereiche Familie und Schule, weshalb sich hierauf bei der Textauswahl der Fokus richtet.
Die Familie ist nach festen patriarchalischen Strukturen organisiert, die dem Individuum, besonders
Mädchen und Frauen, einen unabhängigen, selbstbestimmten Lebensstil erschweren bzw. unmöglich
machen. Die Schule ist ein Ort der Hoffnung für die jungen beurs, bringt sie sie doch in Kontakt mit
(gleichaltrigen) Französinnen und Franzosen und deren Lebensweise. Jedoch steht der Lebensentwurf
der Franzosen, deren Werte und Wertvorstellungen in offenem Widerspruch zu dem, was die beurs aus
ihrer Ursprungskultur kennen und tradieren sollen. Die jungen beurs geraten dadurch in einen ausweglosen Konflikt: Je mehr sie sich der Begegnungskultur mit den dort geltenden Werten annähern, desto
weiter entfernen sie sich von ihrer Familie, ohne – wie in Beur’s Story geschildert – jemals vollständig
zur einen oder zur anderen Kultur zu gehören. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins, des Nirgendwohingehörens, die innere Zerrissenheit können so übermächtig werden, daß das Individuum einen letzten
Ausweg nur noch im Suizid sieht, wie im Fall einer der Protagonistinnen in Beur’s Story.
Aus auktorialer Erzählperspektive heraus schildert Ferrudja Kessas die Schwierigkeiten, die die beiden
Freundinnen, Malika und Farida, zwei junge beurettes, haben, ihr Leben zwischen traditionell geprägtem arabischen Elternhaus und moderner französischer Gesellschaft zu meistern, beiden Kulturen gerecht zu werden und ihre Identität und ihren Platz im Leben zu finden. Malika ist eher moderat und angepaßt, während Farida rebellisch gegen ihre Situation aufbegehrt.
Im Roman wird der Leser nur mit der Innenperspektive Malikas bzw. Faridas konfrontiert.
Die französische Gesellschaft scheint den beiden Mädchen eine Hilfe bei der Identitätsfindung zu bieten: Schule und Universität. Dies ist jedoch nur scheinbar ein Ausweg aus den repressiven Familien-
68
Interkulturalität und Ethik
strukturen, denn die Familien der Mädchen konterkarieren diese Möglichkeit, einen Platz in der französischen Gesellschaft zu finden, indem sie sie eng die das Familienleben einbinden und wie Gefangene
halten. Malika und Farida fühlen sich innerlich zerrissen und weder von der Ursprungskultur noch von
der Begegnungskultur akzeptiert: die jungen Französinnen erkennen sie nicht als Ihresgleichen an,
gleichzeitig werden sie vor allem von den männlichen Familienmitgliedern stark unter Druck gesetzt.
Auf ihrer Suche nach Identität scheitern beide Mädchen: Farida, die Rebellische, kann nicht akzeptieren, daß sie gegen ihren Willen mit einem arabischen Mann verheiratet werden soll und begeht Selbstmord, Malika stürzt in tiefe Depressionen.
2) Didaktisch-methodisches Konzept
Oberstes Lernziel interkultureller Erziehung besteht darin, daß bei den Schülerinnen und Schülern Empathie, Achtung und Toleranz gefördert werden und sie zu einem Perspektivenwechsel befähigt werden
(vgl. Bildungsplan 2004).
Literarische Texte eignen sich besonders für interkulturelles Lernen, da sie dem Leser die Perspektive
einer anderen Person bietet und ihn selbst gleichzeitig zur Perspektivenübernahme auffordert. Damit interkulturelles Lernen erfolgreich vonstatten geht, sind jedoch nach Caspari (Caspari 2001) vier Etappen
nötig, die im folgenden zusammenfassend referiert werden:
1) Die erste Etappe besteht darin, bei den Lernenden die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem
Text und seinen Fremdheiten anzustoßen, sie neugierig und sensibel zu machen, Erwartungen bei ihnen
aufzubauen.
Dies kann etwa durch prereading activities geschehen, wie sie für die meisten der ausgewählten Texte
vorgeschlagen werden.
2) Die zweite Etappe besteht nach Caspari darin, sich über das Eigene bewußt zu werden und das zu artikulieren. In dieser Phase sollen sich die Lernenden auch ihrer eigenen Vorurteile bewusst werden.
Im Fremdsprachenunterricht kann die Bewusstmachung geleistet werden, indem das Vorverständnis
und die Kenntnisse der Lernenden über das betreffende Thema aktiviert werden. Diese Forderung soll
durch die Formulierung der prereading activities erfüllt werden.
3) In der dritten Etappe auf dem Weg zu erfolgreichem interkulturellen Lernen müssen sich die Lernenden intensiv mit dem Text auseinandersetzten (intensives Lesen, Detaillesen), um das Fremde wahrzunehmen, zu deuten und zu beurteilen mit dem Ziel, ihre Perspektive zu ändern.
4) In der vierten und letzten Etappe sollen die Lernenden Eigenes und Fremdes miteinander in Beziehung setzen und zu einer Perspektivenkoordination gelangen.
In den ausgewählten Textpassagen – wie im übrigen im gesamten Roman – bleibt die Außenperspektive
der Französinnen, also die Art, wie sie die arabischen Mädchen sehen, ausgeblendet. Diese Sichtweise
von außen dürfte wohl grosso modo auch der Sichtweise entsprechen, die die Schülerinnen und Schüler,
die (noch) nicht interkulturell geschult sind, gegenüber Angehörigen des arabischen Kulturkreises einnehmen. Dieser Umstand dürfte die Schüler neugierig und empfänglich dafür machen, ihre bisherige
Sichtweise gegen die Innenperspektive der Protagonistinnen, die im Roman geboten wird, anzulegen,
also zu einer Perspektivenkoordination zu gelangen. Dies dürfte für sie um so interessanter sein, als in
den allermeisten Klassenzimmern Schülerinnen und Schüler aus dem arabischen Kulturkreis anzutreffen sind. Ein persönlicher Bezug zwischen literarischer Vorgabe und Lebenswirklichkeit aller Schüler
wird also in den allermeisten Fällen gegeben sein.
Interkulturalität und Ethik
69
3) Texte
Zu den Texten vgl. Anhang Interkulturalität02.
6.3.5. Beispiel (5): Der Film Real Women have curves (Las mujeres de verdad
tienen curvas) von Patricia Cardoso (2002) – interkulturelles Lernen im
Englisch- oder Spanischunterricht (Christiane Peck)
Hinweise zum Film
Real women have curves (Las mujeres de verdad tienen curvas) erhielt 2002 mehrere internationale
Auszeichnungen beim Sundance Festival und dem Filmfestival von San Sebastián.
Der Film dauert 83 Minuten und unterliegt keiner Altersbegrenzung.
Die Personen des Films sprechen meistens englisch, wechseln jedoch immer wieder ins Spanische. Der
Film ist als DVD erhältlich, die englische Untertitel hat, wenn die Protagonisten spanisch sprechen oder
umgekehrt spanische Untertitel, wenn englisch gesprochen wird. Es kann jedoch nur eine Variante eingestellt werden.
Nützliche Internet-Adressen:
http://www.realwomenhavecurves.com
http://www.haro-online.com/movies/realwomen_have_curves.html.
http://www.golem.es/lasmujeresdeverdadtienencurvas
http://www.zinema.com/pelicula/2003/lasmujer.htm
Didaktische Vorbemerkungen
Real women have curves (Las mujeres de verdad tienen curvas) lässt sich im Englisch- und Spanischunterricht der Oberstufe einsetzen z. B. im Rahmen einer Unterrichtseinheit Hispanics in the U.S.A.
bzw. Hispanos en EEUU.
Der Film ist für diese Zielgruppe besonders geeignet, da sich die Hauptperson Ana in einer vergleichbaren Situation wie deutsche OberstufenschülerInnen befindet.
Nach Abschluss ihrer Schullaufbahn stellt sich die Frage nach den Zukunftsperspektiven. Es geht um
Studium und Beruf, um die Bindung an die Familie und die notwendige Lösung von ihr, um gesellschaftliche Integration und Abgrenzung, um Selbstfindung, um Liebe und Freundschaft.
Gleichzeitig vermittelt der Film, wie mexikanische Einwanderer in Los Angeles leben und wie sie sich
in ihrer Wahlheimat fühlen. Dabei kommt auch das Thema der Ausbeutung lateinamerikanischer Einwanderer durch eine U.S.-amerikanische Firma zur Sprache.
70
Interkulturalität und Ethik
Vorschläge für die Arbeit mit dem Film unter besonderer Berücksichtigung des interkulturellen
Lernens
Die unten dargestellten Vorschläge sind als Katalog zu verstehen, in dem Lehrerinnen und Lehrer Anregungen für die Gestaltung einer eigenen Unterrichtseinheit finden. Bei der Vorbereitung des Unterrichts sollten daher je nach Situation Vorschläge ausgewählt, evtl. aber auch verändert werden.
Zu den Vorschlägen vgl. Anhang Interkulturalität03.
Alte Sprachen und Ethik
71
7. Alte Sprachen und Ethik
(Karsten Rechentin)
Wenn wir heute allgemein einen Werteverfall in der Gesellschaft konstatieren und beklagen, verdient
das Denken der Antike unser besonderes Augenmerk. Denn die griechische Philosophie und in ihrer
Folge auch die römische beschäftigen sich direkt mit den politischen und sozialen Werten der menschlichen Gemeinschaft, weil bereits Sokrates „die Philosophie vom Himmel - von der Betrachtung von
Sonne, Mond und Sternen - herab gerufen” hat, wie Cicero uns so augenfällig vor Augen führt.1
Natürlich können und sollen die ethischen Überlegungen und engagierten Werte-Diskussionen der
‘Schule von Athen’, in der von Sokrates bis Seneca jahrhundertelang alles nur erdenkliche «Gute» und
«Schlechte» präsentiert, diskutiert und kritisiert wurde, aus heutiger Sicht nicht für die Gegenwart und
Zukunft das ‘non plus ultra’ darstellen; ihre Erfahrungen werden uns jedoch sehr dienlich sein, wenn es
darum geht, allerlei alt- und neumodische Werte auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre aktuelle Gültigkeit
hin zu überprüfen. Auf jeden Fall ist fest zu halten, dass die erstmalig in dieser Summe aufgeworfenen
Fragen der Ethik heute - gerade z.B. in der Gentechnik bei Fragen der Stammzellenforschung - zu einer
hochpolitischen, ja geradezu brisanten Zukunftswissenschaft geworden sind; die Diskussionen im nationalen Ethikrat und in der Enquete-Kommssion des Bundestages zu Fragen der Stammzellenforschung
zeugen davon.
Für die ersten griechischen Philosophen im 6. Jh.v.Chr. stand die Frage nach dem Urstoff oder Urprinzip, aus dem alles entstanden ist, im Mittelpunkt. Sie verbanden Naturbeobachtung mit Kenntnis der
ägyptischen, babylonischen und griechischen Astronomie und Kosmogonie (mythische Weltentstehungslehre). So war für den Milesier Thales das Wasser der Ursprung, für Anaximander das "Unbestimmte" (Apeiron, d.h. das noch nicht Begrenzte und Gestaltete), für Anaximenes die Luft. Fragestellungen und Methoden dieser frühen Ionischen Naturphilosophie bilden auch den Anfang der Naturwissenschaften und der Medizin, die sich erst allmählich von der Philosophie ablösten. Doch das ist ein
anderes Thema.
Sokrates (469 – 399), der selbst mit der Naturphilosophie gut vertraut war, grenzt sich bewusst von diesen naturphilosophischen Vorstellungen früherer Zeit ab und stellt nicht mehr den Kosmos, sondern den
Menschen ins Zentrum seiner Fragen (anthropozentrische Wende).2 In den weit bekannten Auseinandersetzung mit den Sophisten diskutiert er fortwährend Fragen nach dem Sinn / Ziel des Lebens, nach
einer bestmöglichen Lebensweise, nach Vorbildern / Leitbildern des Lebens bzw. nach der bestmöglichen Lebensführung, nach dem Gehalt des ‘Guten’ und nach dem Inhalt von ‘Glück’ Die Ethik gilt seit
dieser Zeit als wesentlicher Bereich der Philosophie.
Schon aus den bisherigen Textbeispielen ergibt sich, dass wir in ethischen Fragen zunächst bei Cicero
in seinen philosophischen Werken fündig werden. Aber auch Seneca in seinen ‘epistulae morales’ und
besonders Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen greifen ethische Fragestellungen auf, die für den
Menschen heute in genau der gleichen Weise Ansatzpunkte zur Entwicklung moralisch richtigen Handelns geben können. Der Wert antiken Denkens für die moderne Ethik erschließt sich immer wieder
neu, weil das ethische Denken und Handeln eben doch bereits von Sokrates auf den Menschen und seine konkrete Lebenswelt allein bezogen worden ist.
1
2
Cicero, Acad. Libri I, § 15: Socrates mihi videtur primus a rebus occultis et ab ipsa natura involutis, in
quibus omnes ante eum philosophi occupati fuerunt, avocavisse philosophiam et ad vitam communem adduxisse, ut de virtutibus et de vitiis omninoque de bonis rebus et malis quaereret, caelestia autem vel procul
esse a nostra cognitione censeret vel, si maxime cognita essent, nihil tamen ad bene vivendum.
Cicero, Tusc.dis. V, §§ 10-11: Ab antiqua philosophia usque ad Socratem numeri motusque tractabantur et
unde omnia orerentur quove reciderent, studioseque ab iis siderum magnitudines, intervalla, cursus anquirebantur et cuncta caelestia. Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus collocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.
72
Alte Sprachen und Ethik
DIE PHILOSOPHIE DER GRIECHEN
WELT / KOSMOS
Wie ist die
NATUR
Wie kommen
Naturereignisse
Welt entstanden?
zustande?
MENSCH u.



Wer oder was
bewegt
GESELL- SCHAFT Welche Gesetzmäßigkeiten
die Welt?
gibt es?



Was ist der Mensch?
Wonach soll er streben?
Wie soll er handeln?
Was ist das Gute, Schöne?
ANTWORTEN durch:
a) NATURWISSENSCHAFTEN:
Nachforschen Beobachten Folgern Theorien Versuche neue Theorien neue Versuche Berechnen
b) PHILOSOPHIE UND GEISTESWISSENSCHAFTEN:
Fragen Diskutieren Zweifeln Weiterfragen Thesen Gegenthesen Folgern
Geschichte und Ethik
73
8. Geschichte und Ethik
8.1.
Ethische Fragen im Geschichtsunterricht
Jörn Rüsen konstatiert, "dass eine gemeinsame historische Erinnerung, ihre Dauer über den Wechsel
der Generationen hinweg und ihre Verbreitung über alle Segmentierungen des gesellschaftlichen Lebens hinweg eine kulturelle Notwendigkeit des sozialen Lebens ist." (Rüsen 1991: 15). Und weil solches gemeinsames historisches Erinnern eine funktionale Erfordernis gesellschaftlichen Seins darstellt,
wird in jedem Sozialisationsprozess nicht nur Gegenwart, sondern auch Geschichte vermittelt – biografische Geschichte der eigenen Vergangenheit, der eigenen Herkunft, des Wachstums, der Älteren und
Ahnen; soziokulturelle Geschichte von Lebensstil und Weltwahrnehmung, von Gerüchen, Geschmäcken und Farben, von Fest und Alltag.
Auf dieser impliziten Geschichtsvermittlung eines „Früher“, „Als du noch klein warst“, „Als ich ein
Kind war“… baut jede historische Bildung auf. Historische Bildung, wie sie in der Schule vermittelt
wird, ist aber von solcher impliziten und häufig auch ungesteuerten Geschichtssozialisation deutlich unterschieden; sie ist explizit, gezielt, reflektiert und wissenschaftlichen Standards verpflichtet: der Rezeption, Interpretation und Evaluation von Quellen und einem an diesen Quellen zu überprüfenden narrativen Zusammenhang.
Im Schulfach Geschichte stellt sich die Frage nach begründeter Stoffauswahl in besonderer Weise
dringlich. Der Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg listet Kriterien für die Stoffauswahl; eines
der Kriterien ist die Frage, ob die historischen Inhalte „für die Entwicklung von wertorientiertem Handeln [geeignet]“ seien. (Bildungsplan 2004: 217) Die Nähe zwischen Geschichte und Moral wird hier
unmittelbar vorausgesetzt.
Zugleich geht die Vermittlung historischer Bildung weder in einer allgemeinen Moralisierung von Geschichte, noch in einer spezifischen Politisierung im Sinne politischer Bildung auf. Eine Moralisierung
würde Geschichte in einen Steinbruch verwandeln, aus dem große Helden als Vorbilder und große
Schurken als abschreckende Beispiele herausgenommen werden; eine Politisierung würde das Ziel historischer Bildung alleine darin finden, die Schülerinnen und Schüler zu verantwortlich agierenden,
mündigen Bürgern und Bürgerinnen zu erziehen. Historische Bildung wäre dann zwangsläufig auf die
Legitimation des gegenwärtigen politischen Systems orientiert. Dies würde zu einer stark verkürzten
Perspektive der Analyse und Präsentation von Zeiten und Epochen führen, da die Gefahr besteht, diese
nur als Stadien auf dem Weg in die Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Gerade aber in den Brüchen
der Geschichte, in den Traditionen, die steckengeblieben sind, in den Utopien gescheiterter Bewegungen finden sich Ansätze, die die Gegenwart transzendieren und neue Perspektiven öffnen.
Der „Überschuss“ historischer Bildung gegenüber moralischer oder politischer Erziehung besteht in der
Vergewisserung von Vergangenheit, die nicht im Interesse von Machtstabilisierung besteht, sondern im
Interesse eines Bewusstmachens der Bedingtheit und Verknüpftheit eigener Existenz. Kollektives Gedächtnis („mémoir collective“, Maurice Halbwachs) wird zum Schlagwort für den sozialen Rahmen,
innerhalb dessen für eine bestimmte Gegenwart „Vergangenheit“ konstruiert wird und erinnert werden
kann. Historische Bildung ermöglicht zum einen die Erkenntnis und Reflexion dieser Konstruktionsvorgänge, zum anderen eine größere Souveränität durch das Bewusstwerden der Voraussetzungen und
Bedingtheiten des eigenen Handelns. "Die Schülerinnen und Schüler sollen sich die Standort- und Zeitgebundenheit des Lebens und Denkens bewusst machen, sich mit alternativen Handlungsmöglichkeiten
in der Geschichte auseinander setzen, Perspektiven gewinnen, ihre Urteilsfähigkeit schulen und ihre
Zukunft gestalten lernen."(Bildungsplan 2004: 216) Sehr pointiert formuliert Susanne Maurer in einem
Statement des Vereins Frauen und Geschichte Baden-Württemberg e.V: "Die Auseinandersetzung mit
Geschichte, mit Spuren und Überlieferungen aus vergangenen Zeiten kann Schülerinnen und Schülern
74
Geschichte und Ethik
vor allem eine zentrale Erkenntnis vermitteln: So wie es ist, war es nicht immer, und: so wie es ist,
muss es nicht bleiben."1
Wenn auch Geschichte nicht in Moralisierung und Politisierung aufgeht, so zeigt sich doch eine große
Nähe zwischen Geschichtsreflexion, Geschichtsdidaktik und ethischen Fragestellungen.
Aus der Perspektive des Ethikers, nicht des Historikers, beschreibt Kant einen Vorgang, der bis heute
ein Teil der Geschichtsdidaktik ist.2 Er geht davon aus, dass auch die philosophisch weniger interessierten Schüler über historische Stoffe eigene ethische Kompetenzen entwickeln:
„Diejenigen, welchen sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und verdrießlich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, den moralischen Gehalt einer erzählten guten
oder bösen Handlung auszumachen, und sind so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinheit
der Absicht, und mithin den Grad der Tugend in derselben vermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objekt der Spekulation sonst von ihnen erwartet. Man
kann in diesen Beurteilungen oft den Charakter der über andere urteilenden Personen selbst hervorschimmern sehen, deren einige vorzüglich geneigt scheinen, indem sie ihr Richteramt, vornehmlich über Verstorbene, ausüben, das Gute, was von dieser oder jener Tat derselben erzählt wird, wider alle
kränkende Einwürfe der Unlauterkeit und zuletzt den ganzen sittlichen Wert der Peron wider den Vorwurf der Verstellung und geheimen Bösartigkeit zu verteidigen, andere dagegen mehr auf Anklage und
Beschuldigung sinnen, diesen Wert anzufechten. […]
Ich weiß nicht, warum die Erzieher der Jugend von diesem Hang der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen, nicht schon längst Gebrauch
gemacht haben, und, nachdem sie einen bloß moralischen Katechismus zum Grunde legten, sie nicht die
Biographien alter und neuer Zeiten in der Absicht durchsuchten, um Belege zu den vorgelegten Pflichten bei der Hand zu haben, an denen sie, vornehmlich durch die Vergleichung ähnlicher Handlungen
unter verschiedenen Umständen, die Beurteilung ihrer Zöglinge in Tätigkeit setzten… .“ (Kant 1956:
290f; A 274, 275, 276)
Obwohl hier der Verdacht einer moralischen Instrumentalisierung der Geschichte nicht wirklich auszuräumen ist, unterscheidet sich Kants ethischer Zugang zu Geschichte deutlich von einer platten Moralisierung: Hier werden historische Gestalten nicht zur Nachahmung oder Abschreckung eingesetzt; vielmehr werden sie zu Beispielen, um das Beurteilen von Handlungen zu üben. So gibt Kant zu bedenken,
man möge die Schüler mit Beispielen „sogenannter edler (überverdienstlicher) Handlungen“ „verschonen“, weil das „überschwenglich-Große“ das normale Geforderte unbedeutend und klein erscheinen
lasse. (ebd. A 276) und damit eher kontraproduktiv wirke.
So sehr einzelne historische Gestalten ethisch lehrreich sein mögen, so sehr darf Geschichte nicht auf
eine Beispielsammlung für Ethik reduziert werden.
Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Ethik ist nicht primär ein punktueller Zusammenhang,
sondern ein struktureller Zusammenhang.
Dieser strukturelle Zusammenhang wird im Wesentlichen an drei Orten sichtbar:
1
2
Vgl. das Statement des Vereins Frauen und Geschichte Baden-Württemberg e.V.: "'Kritische Staatsbürgerinnen' oder 'modularisierte Individuen'? Warum historische Bildung zur Ausbildung reflexiven Vermögens unerlässlich ist."
Rohlfes weist beispielsweise in seiner Geschichtsdidaktik dem Geschichtsunterricht auch die Aufgabe zu,
den Schülerinnen und Schülern zu helfen, ihre eigenen Gefühle zu begreifen, sie zu kontrollieren und zu
kultivieren. Im Erleben und Handeln historischer Persönlichkeiten könne man eigene Erfahrungen wiederfinden, man könne sich identifizieren oder sich entrüsten. Das Ziel bestünde dann darin, zu einer ausgewogenen Balance von Ausleben von Gefühlen und ihrer Disziplinierung zu finden. In den Biographien historischer Persönlichkeiten fänden sich typische Muster solcher Balancen, die als Modelle dienen könnten.
Vgl. Rohlfes 1986: 156ff.
Geschichte und Ethik
75
-
Der erste und für den Geschichtsunterricht bedeutendste Ort ist der Ort der Geschichtsreflexion.
Indem Geschichte die Zusammenhänge menschlichen Handelns darstellt, vermittelt sie auch
Formen des Urteilens über Handeln und die Frage nach den Kriterien, die solches Urteilen ermöglichen: Sind es Kriterien territorialen Erfolgs, nationaler Sicherung, menschlichen Leids?
Dieses Urteilen über historische Zusammenhänge ist nicht selten kompliziert: hier erscheinen
gute Absichten und schlechte Folgen, vernünftige Handlungen mit unvernünftigen Konsequenzen; zugleich ist das Urteil ist ein zweifaches – ein Urteil auf Augenhöhe der handelnden Personen, aus ihren eigenen Wertorientierungen und den Bedingungen ihres Handelns heraus, und
ein Urteil aus heutiger Perspektive.
-
Der zweite Ort ist der Ort, an dem Geschichtsreflexion in die Gegenwart gespiegelt wird. Hier
kann eine durch historische Distanz gewonnene Erkenntnis für die Gegenwart, die subjektiven,
biografischen oder gesellschaftlichen, politischen Bedingtheiten deutlich werden.
-
Der dritte Ort ist der Ort einer möglichen Zukunftsorientierung, die Bedingungen, Voraussetzungen und Verstrickungen anerkennt, sie aber nicht absolut setzt. Zukunftsfähiges Handeln erscheint in diesem Kontext nie absolut frei – aber auch nicht alternativlos.
Ethische Fragen im Geschichtsunterricht werden damit weniger in einzelnen Themen („Widerstand im
Nationalsozialismus“) behandelt; sie sind vielmehr ein durchgängiges Unterrichtsprinzip. Indem die ethischen Fragen der Geschichtsreflexion selbst inhärent sind, tragen sie bei zur Entwicklung des Selbstverständnisses eines Faches, das sich schon längst nicht mehr auf das Auswendiglernen reproduzierbarer Daten und Fakten beschränkt.
Der Geschichtsunterricht ist damit ein Ort, an dem Fähigkeiten vermittelt werden können, die grundlegend für jede ethische Bildung sind:
-
die Fähigkeit, sich in fremde Personen (auch fremde Zeiten) einzufühlen
-
die Fähigkeit des Perspektivenwechsels
-
die Fähigkeit der Narrativität als Fähigkeit, isolierte Ereignisse in einem Zusammenhang zu
verstehen
-
die Fähigkeit, einen Möglichkeitsraum für menschliches Handeln zu eröffnen und Handlungsalternativen durchzuspielen
-
die Fähigkeit, intuitive Urteile explizit zu machen und diskursiv zu begründen
-
die Fähigkeit, in Handlungskonflikten Wertkonflikte zu erkennen und diese Wertkonflikte zu
reflektieren.
Das große Problem für ethische Fragen im Geschichtsunterricht ist das Problem des Relativismus:
Wenn das Sich-Einfühlen in Personen und Situationen ein grundlegendes Ziel ist, dann bleibt die Frage,
ob der Platz für kritisches Urteilen noch erhalten bleibt. Wenn der Geschichtsunterricht der hervorragende Ort dafür ist, Wertewandel und Werteverschiebungen zu verfolgen und zu begreifen, dann bleibt
die Frage, ob unsere eigenen ethischen Überzeugungen nicht nur historischem Wandel, sondern auch
der Beliebigkeit unterworfen sind. Sich auf die These eines globalen moralischen Fortschritts der
Menschheit zu retten, scheint weder historisch noch ethisch möglich. Dieser historische Relativismus ist
ein pädagogisches Problem, indem Schülerinnen und Schülern historisches Verständnis vermittelt werden muss, sie aber nicht in eine grundlegende Verunsicherung gestürzt werden dürfen; und es ist ein ethisches Problem, indem ein radikaler Relativismus zur Selbstaufhebung der Ethik führt.
Dieses Problem lässt sich nicht einfach auflösen; es muss anerkannt und bedacht werden. Vielleicht
aber können einzelne Linien moralischer Lernprozesse (institutioneller Umgang mit Schuld und Strafe;
76
Geschichte und Ethik
Entwicklung demokratieoffener Institutionen etc.) nachgezeichnet werden, so dass Menschenrechtskonzeptionen nicht einfach historisch zur Disposition stehen.
Zugleich beinhaltet die historische Bildung, die im Geschichtsunterricht vermittelt wird, immer wieder
auch die Darstellungen von Situationen, in denen Verstehen unmöglich ist. Die ethische Verpflichtung
besteht hier darin, einen Raum für Fassungslosigkeit zu ermöglichen und diesen Raum nicht vorschnell
„wegzurationalisieren“. Erst dann kann die Erfahrung des Nicht-Verstehens und der Fassungslosigkeit
zu einer „Kontrasterfahrung“ (Mieth) werden, die aus der Lähmung zu eigenen Handlungsimpulsen
führt.
8.2.
Literatur
Dovermann, Ulrich; Althoetmar-Smarczyk, Susanne [Red.] (1995): Vergangenes sehen: Perspektivität im Prozeß
historischen Lernens; Theorie und Unterrichtspraxis von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
Kant, Immanuel (1956): Der Kritik der Praktischen Vernunft zweiter Teil: Methodenlehre der reinen praktischen
Vernunft. In: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. VII, Inselverlag, Wiesbaden, S. 285-302.
Rohlfes, Joachim (1986): Geschichte und ihre Didaktik. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.
Rüsen, Jörn (1991): Geschichtsdidaktik heute - Was ist und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)? Geschichte lernen. 21:, S. 14-19
8.3.
Unterrichtsbeispiele aus der Zeitschriftenliteratur
Pandel, Hans-Jürgen 1998: Zoo - Tierknast oder Artenarche? Ethische Fragen im Geschichtsunterricht. Geschichte lernen. 64. 55-57.
Pandel, Hans-Jürgen 1999: Postmoderne Beliebigkeit? Über den sorglosen Umgang mit Inhalten und Methoden.
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 5/6. 282-291.
Paul, Gerhard 1999: Feigheit oder Widerstand? Desertation in der deutschen Wehrmacht. Praxis Geschichte. 2.
36-39.
Radkau, Joachim 1988: Gentechnik. Die ungeklärten Risiken beim Überschreiten einer naturgeschichtlichen
Schwelle. Geschichte lernen. 4. 55-61.
Rüsen, Jörn 1991: Geschichtsdidaktik heute - Was ist und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)? Geschichte
lernen. 21. 14-19.
Sauer, Michael 1997: Zwischen Deutung und Manipulation. Kritischer Umgang mit Geschichtskarten. Geschichte
lernen. 59. 53-58.
Teichmann, Jürgen 2000: Kopernikus wäre entsetzt gewesen. Die Welt als Mechanismus von Kepler bis Newton.
Praxis Geschichte. 1. 48-51.
Weißer, Christoph 1998: Über die Zukunft in die Vergangenheit. Historische Forschung nachvollziehen. Geschichte lernen. 62. 38-39.
Wied, Michael; Bergmann, Klaus 1988: "Die Barbaren sind Sklaven - Wir Griechen aber sind frei". Geschichte
lernen. 3. 18-22.
Wrege, Katharina 2001: "The American Way of Life". Ein Simulationsspiel zum Börsenkrach vom 25. Oktober
1929. Geschichte lernen. 81. 47-54.
Wunderer, Hartmann 1999: Vom "bäurischen Klatschen und unmäßigen Schreyen". Affektkontrolle, Sozialdisziplinierung, Domestizierung und die Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte lernen. 68. 26-31.
Biologie und Ethik
77
9. Biologie und Ethik
9.1.
Ethische Fragen im Biologieunterricht
Die Biologie ist die Disziplin, die momentan politisch und gesellschaftlich die größte Aufmerksamkeit
erfährt. Sie wurde inzwischen sogar zur ‚Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts’ ernannt – insbesondere
in ihren genetisch-biotechnologisch ausgerichteten Zweigen, den befremdlicherweise unter dem Titel
‚Lebenswissenschaften’ (life-sciences) von der Biologie abgegrenzten Bereichen. Die Homepage der
Fakultät für Biologie der Universität Münster preist Biologie als Studienfach treffend im Tenor der
momentanen Rezeption der Disziplin:
„Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, Gentherapie und genetischer Fingerabdruck, Embryonale Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik, Rinderwahnsinn und Maulund-Klauen-Seuche, Grüne Gentechnik und Novel-Food-Verordnung, Naturschutz und Waldsterben, Dolly und das Klonen, Milzbrand und biologische Waffen - was kann am Beginn des
21. Jahrhunderts spannender und zukunftsträchtiger sein als ein Studium der Biologie? Biologie wird als eine Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts bezeichnet - Medizin, Landwirtschaft,
Biotechnologie und Umweltwissenschaften sind Schlüsseldisziplinen für unser Überleben und
Wohlergehen. Die Biologie ist gegenwärtig eine unglaublich lebendige und dynamische Wissenschaft - sie stellt die spannendsten und brennendsten Fragen, in vielen natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern werden biologische oder von der Biologie aufgeworfene Fragen
bearbeitet: Biochemie, Biophysik, Bioinformatik, Biomedizin, Biotechnologie, Bionanotechnologie, Bioethik, Biopolitik etc.“ (http://www.uni-muenster.de/Biologie/Welcome-d.html)
Nach den ‚Blütezeiten’ von Physik und Chemie – während derer die Biologinnen und Biologen gerne
als Blümchenzähler ein ebensolches öffentliches Dasein fristeten – scheint nun die große Zeit der Biologen (insbesondere der Molekularbiologen, aber auch Ökologen) angebrochen zu sein. Auch in BadenWürttemberg wurde mit der Einrichtung der Biotechnologischen Gymnasien im Berufsschulbereich
dieser Trend offensiv aufgegriffen – der Nachwuchs soll auf die speziellen Anforderungen der neuen
Wissenschafts- und der erhofften Wirtschaftsbereiche vorbereitet werden.
Bei aller Euphorie mischt sich immerhin eine große Portion Skepsis in die aktuelle Wahrnehmung dieser Bereiche – einige erinnern an die negativen Folgen allzu naiver Technik-Euphorie der vergangenen
50 Jahre und weisen auf die unübersehbaren Risiken und Haken der neuen, vor allem biotechnologischen Entwicklungen hin. Gentherapie oder genetic enhancement? Embryonenforschung oder Rohstoff
für die pharmazeutische Industrie? Präimplantationsdiagnostik oder Eugenik?
Diese Themen und Fragen kommen – neben anderen – auch im schulischen Unterricht des Faches immer wieder auf und verlangen vom Lehrer bzw. der Lehrerin eine Vielzahl von Kompetenzen, die häufig als überfordernd empfunden werden. Nicht nur neueste biologische Entwicklungen müssen einbezogen werden. Es geht immer auch um Fragen, die aus biologischer Perspektive niemals befriedigend beantwortet werden können: Was ist der Mensch? Was bedeutet uns die Willensfreiheit angesichts von
Erkenntnissen und methodischen Voraussetzungen der modernen Neurowissenschaften z.B. bei der
Auseinandersetzung mit dem Thema Drogen und Sucht (s.u.)? Können wir unsere Gefühle und unsere
Sexualität wirklich im biologischen Modus begreifen? Es geht darum, alle wissenschaftstheoretische
Vorkenntnis dazu zu verwenden, den SchülerInnen bei der Aufgabe zu helfen, die Relevanz der biologischen Deutungs- und Erklärungsangebote für die je eigene Erschließung dieser Fragen zu ermitteln.
Darüber hinaus fordern diese Themen, die das Leben der SchülerInnen oft ganz elementar betreffen, ein
78
Biologie und Ethik
hohes Maß an psychologischer Kompetenz und Empathiefähigkeit seitens der Lehrenden. Alles in allem
keine leichte Aufgabe.
Es scheint unerlässlich, dass spätestens im Referendariat den angehenden Lehrkräften zur (bewussten)
Selbstverständlichkeit wird, die Biologie als ein Angebot zu betrachten, uns die Erscheinungen der lebendigen Welt – einschließlich unserer selbst – verständlich zu machen. Ein Angebot, das nur für eine
bestimmbare Klasse von Fragen befriedigende Antworten verspricht und niemals das Leben in all seinen Facetten erfassen kann. Das bedeutet für den Unterricht z.B., nicht nur die Aufgaben und Grenzen
naturwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung aufzuzeigen, sondern diese auch im Kontext unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi und Erkenntnisinteressen einzuordnen, damit Konflikte und Probleme
überhaupt angemessen erschlossen werden können.
9.2.
Unterrichtsthemen Biologie
Klasse 6
Theoretische Grundlagen des Faches
In den Klassen 5 und 6 werden theoretische Grundlagen eher implizit und möglichst spielerisch vermittelt. Es geht um genaues Beobachten bestimmter Phänomene unter einem systematischen Aspekt. Auch
hier können aber, was in der Regel implizit über die Vermittlung der so genannten affektiven Lernziele
erfolgt, Aspekte der ästhetischen Naturerfahrung, der Rührung durch (z.B. tierisches Leid) und andere
Empfindungen teilweise explizit gemacht werden. Sie sind wichtig, um die explizit einstellungsbezogenen Lernziele des Biologieunterrichts (aktives Eintreten für den Umweltschutz) grundzulegen. In höheren Klassenstufen können dann Gründe und Motivationen für aktiven Naturschutz komplexer reflektiert
werden.
Anwendungsbezug und Ethik
Die Themen artgerechte Tierhaltung sowie Kenntnis und Schutz heimischer Tiere und Pflanzen (Bildungsplan 2004: 205) sind im Bildungsstandard als explizit ethische Themen bereits enthalten und werden seit langem im Unterricht umgesetzt. Ergänzend sollen hier noch ein paar Gedanken zu diesen
Themen erwähnt werden. Es erscheint wichtig – im Sinne einer Grundlegung reflexiver Kompetenzen –
durchaus Fragen einzubeziehen, die über rein biologische Kausalableitungen hinaus gehen. Das heißt
z.B. bei der Frage nach artgerechter Tierhaltung nicht nur (biologisch) zu erklären, weshalb bestimmte
Tiere vermutlich andere Ansprüche an ihre künstliche Umgebung haben als andere, sondern auch zuzugestehen, dass wir die Gültigkeit unserer Schlussfolgerungen mit letzter Sicherheit nicht feststellen
können, da wir zu Empfindungen wie Wohlbefinden oder gar Zufriedenheit beim Tier nur sehr begrenzt
Zugang haben. Auch darf durchaus thematisiert werden, ob und wenn ja wie das Gefangenhalten von
Tieren, das ja niemals den physiologisch ‚natürlichen’ Bedingungen der Tiere entspricht und daher aus
unserer Perspektive immer ein gewisses Maß an Leid erzeugt, rechtfertigbar ist.
Ähnliches gilt bei der Hinführung der jungen Schülerinnen und Schüler zu einer verantwortungsvollen
Haltung der natürlichen Umwelt gegenüber: Es ist wichtig, z.B. Nahrungsnetze und die immer prekärdynamischen ökologischen Gleichgewichte als Grund für die Empfindlichkeit von Ökosystemen zu erkennen. Die Gründe, darauf Rücksicht zu nehmen, können aber durchaus sehr unterschiedlich ausfallen
und in noch viel stärkerem Maße gilt dies für die Motivationen, sich aktiv für ‚die Natur’ einzusetzen.
Biologie und Ethik
79
Klasse 8
Theoretische Grundlagen des Faches
In den Klassen 7 und 8 steht insbesondere der Körper des Menschen im Mittelpunkt. Hier wird es unbedingt notwendig, auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärungsweise hinzuweisen, um
glaubhaft und überzeugend zu bleiben. Wer nicht immer im Blick hat, dass z.B. die Beschreibung und
kausale Erklärung von Verhaltensweisen (als biologischer Terminus) niemals das erfassen können, was
wir unter einer menschlichen Handlung (als philosophischer Terminus) verstehen, der kann Schülerinnen und Schülern Themen wie Sexualität, Ernährung oder Drogen nicht wirklich nahe bringen. Die Biologie kann biologische Folgen bestimmter Handlungen aufzeigen und damit den Menschen eine Abwägung der Handlung auf dieser Ebene ermöglichen. Welche Bedeutung aber die biologischen Kriterien
bei einer Abwägung für das eigene oder kollektive gute Leben haben, ist damit nicht präjudiziert. Die
Methoden der Ethologie stoßen bei der Erklärung des menschlichen Handelns an Grenzen, die zu erkennen nicht immer trivial ist und daher als Lernziel unbedingt einbezogen werden sollte – in den Klassen 7 und 8 vielleicht noch in eher didaktischer Hinsicht, in den Kursstufen dann explizit wissenschaftstheoretisch und damit analytisch.
Anwendungsbezug und Ethik
Die auch aus philosophisch-anthropologischer und ethischer Perspektive zentralen Themen
der Klassen 7 und 8 sind Gesundheit und Krankheit sowie Sexualität und Liebe. Es sind die
Themen, die in eminenter Weise die oben erwähnten komplexen Anforderungen an die Lehrkraft stellen: Sie müssen als Lehrende besondere Rücksicht und Sensibilität gegenüber der
spezifischen Situation der pubertierenden Schülerinnen und Schüler nehmen, was besondere
didaktische Ansprüche stellt; sie berühren Bereiche, die im Grunde nur interdisziplinär annähernd angemessen adressiert werden können (insbesondere durch die Psychologie, aber
auch Philosophie, Religion, Soziologie, Kulturtheorie...), und sie werden mit moralischen Fragen konfrontiert.
•
Gesundheit
„Die Schülerinnen und Schüler sind sich der Bedeutung einer gesunden Ernährung bewusst und kennen
die Probleme, die mit Essstörungen verbunden sind.“ (Bildungsplan 2004: 207).
Es nützt Schülerinnen und Schülern, die an Essstörungen leiden, in der Regel wenig, die biologischen
Auswirkungen auf ihren Körper zu kennen. Soll mit dem Biologieunterricht dieses Thema in affektiver
Hinsicht adressiert werden, erscheint es notwendig, z.B. Fragen nach dem Wert, den wir ‚Gesundheit’
beimessen kritisch und so umfassend wie möglich zuzulassen. Automatisch stößt man hier an die Grenzen der Biologie, Warum-Fragen zu beantworten. Warum soll ich meine Gesundheit schützen? Weil ich
sonst der Gemeinschaft zur Last falle? Weil ein langes Leben per se einen hohen Wert darstellt, selbst
wenn es z.B. psychisch leidvoll ist? Was heißt überhaupt gesund sein?1
•
Sexualität
„Die Schülerinnen und Schüler erkennen Liebe und Sexualität als besondere menschliche Verhaltensweisen, die der Partnerbindung dienen.“ (Bildungsplan 2004: S. 207)
Aus biologischer Perspektive müsste die Formulierung eigentlich z.B. wie folgt lauten: Die
Schülerinnen und Schüler erkennen die beobachtbaren Phänomene im Kontext von Sexualität
und Partnerbindung als menschliche Verhaltensweisen, die der Fortpflanzung dienen. Es ist
klar, dass bei diesem Thema ‚die Biologie’ zwar viel zu sagen hat, aber doch eindeutig an ihre
Grenzen stößt und gerade hier in der Regel Erklärungsangebote macht, die uns nicht befrie1
Hier können zum Beispiel sehr gut verschiedene Definitionen von Gesundheit und Krankheit verglichen
und auf ihren speziellen Fokus hin analysiert werden.
80
Biologie und Ethik
digen. Darauf hinzuweisen erscheint als ein zwar vermutlich nicht leichter, aber doch ausgesprochen hilfreicher erster Schritt bei der Behandlung dieses Themas im Unterricht der Klasse
8.
Beide Themen legen einen fächerübergreifenden, gemeinschaftlichen Unterricht nahe, damit die Komplexität und Bedeutung dieser zentralen Bereiche des Lebens in befriedigender Tiefe erschlossen und
verbunden werden können. Zwar muss man in besonderer Weise darauf bedacht sein, die Schülerinnen
und Schüler dabei nicht emotional zu überfordern – ein ‚sicherer Rückzug’ auf die ‚sachlichen’ Angebote der eigenen Disziplin bleibt aber unbefriedigend und lässt die Schülerinnen und Schüler möglicherweise enttäuscht zurück. Interdisziplinär angehbare Fragen würden zum Beispiel Lebensentwürfe,
moralische Überzeugungen (warum wir z.B. Rücksicht nehmen sollen auf die Gefühle unseres Partners), (Versagens-)Ängste, Rollenzuschreibungen, Sexualität und Macht (politisch, religiös etc.) und
Ähnliches betreffen. Hier können insbesondere die Fächer Deutsch, Gemeinschaftskunde und Philosophie/Ethik mit dem Fach Biologie in Wechselwirkung treten. Ziel wäre die Grundlegung und Förderung
einer umfassend gedachten Kulturkompetenz in Bezug auf diese zentralen und prekären Fragen unseres
Lebens.
Klasse 10
Theoretische Grundlagen des Faches
Da im Unterricht der Klasse 8 bereits auf evolutionstheoretische Aspekte eingegangen werden soll (Bildungsplan 2004: 209), scheint es sinnvoll, auch hier bereits deutlich zu machen, dass die ‚Evolution’
nicht als empirisch vorfindliche Größe existiert, sondern dass es sich um eine Theorie handelt, die versucht, die beobachtbaren Erscheinungen der Natur als Entwicklung diachronisch zu erklären. Die Evolutionstheorie liefert weder Anhaltspunkte, an eine zielgerichtete Entwicklung zu glauben, noch eine
bestimmte Entwicklung als in der Zukunft langfristig ‚erfolgreich’ einzuschätzen. Die starke Tendenz,
‚die Evolution’ als – wie auch immer gearteten – Maßstab für Bewertungen bestimmter Eigenschaften,
Handlungen etc. heran zu ziehen, sollte bereits jetzt explizit kritische Erwähnung finden.2
Bei der Vermittlung der ersten genetischen Grundlagen (Bildungsplan 2004: 209) sollte auch hier
selbstverständlich sein, auf den Modellcharakter genetischer Theorien und damit auf Aussagebereiche
und deren Grenzen – sowie zu erwartende Weiterentwicklungen hinzuweisen.
Anwendungsbezug und Ethik
•
Sinnesorgane
Bei der Erläuterung der Sinnesorgane wird die Präparation eines Wirbeltierauges empfohlen (Bildungsplan 2004: 208). Dieser Versuch existiert im Kurrikulum des Biologieunterrichtes der Mittelstufe schon
seit Jahrzehnten und löst bekanntlich jedes Mal bei einigen Schülern oder Schülerinnen Reaktionen wie
Ekel oder zumindest Befremdung hervor. Hier könnte man, insbesondere unter Einbeziehung der Fächer Kunst und Literatur, die Bedeutung des Auges, die Herkunft des Ekels und die Wahrnehmung der
Entfernung eines Auges aus einem (Wirbel-)Tier, bzw. einem Menschen als Akt äußerster Brutalität
oder Respektlosigkeit explizit aufgreifen. Möglich ist ebenfalls eine strukturierte Diskussion über die
Legitimität der Tötung von Tieren (zu wissenschaftlichen Zwecken, zur Ernährung, zur Produktentwicklung). Denn Bedingung und elementarer Bestandteil der biologischen Forschung ist der Tierversuch, dessen moralische Legitimation alles andere als eine triviale Aufgabe darstellt.
•
2
Genetische Beratung (Bildungsplan 2004: 209)
Ein plakatives Beispiel ist hier die häufig zu vernehmende Aussage, durch die Medizin würde die ‚natürliche Auslese’ des Menschen vereitelt und damit eine ‚Verschlechterung’ des menschlichen Genpools verursacht.
Biologie und Ethik
81
Die Bedeutung und Praxis der aktuellen und zukünftigen genetischen Beratung ist ausgesprochen komplex und wird heftig kritisiert. Hier spielen gesundheitspolitische Aspekte ebenso eine Rolle wie die
spezifischen Schwierigkeiten, eine qualifizierte genetische Beratung insbesondere in seelisch belastenden Situationen sicher zu stellen. Für eine angemessene Behandlung des Themas sind daher die Grundlagen der genetischen Diagnostik ebenso Voraussetzung wie die Möglichkeit, konkrete klinische Situationen im Kontext gesundheitspolitischer Strukturen einschätzen zu können. Die Bedeutung einer genetischen Beratung für eine betroffene Person kann daher in diesem Stadium höchstens angedeutet werden
(das Verständnis der Zusammenhänge zwischen Genotyp und Phänotyp als minimale Voraussetzung für
einen reflektierten Umgang mit genetischer Information).
•
Keimbahntherapie
Schon in Klasse 10 kann bei der Einführung der Methoden zur (nicht praktizierten!) Keimbahntherapie
auf die möglichen Zielsetzungen und Risiken hingewiesen werden. Wichtig ist in jedem Fall, dass als
Ziel der Keimbahntherapie nicht die Beseitigung von Krankheiten angesehen werden darf (anders bei
der somatischen Gentherapie), sondern ausschließlich die Erzeugung möglichst (genetisch) gesunder
Nachkommen. Es wird keine kranke Person therapiert (weshalb der Begriff der Keimbahntherapie insgesamt zu relativieren ist), sondern die Geburt möglicherweise erblich belasteter Kinder soll möglichst
verhindert werden. Die damit verbundenen medizinischen und moralischen Probleme können in der
Kursstufe erweitert und vertieft werden.
•
Ökologie
Als Weiterführung der Inhalte aus Klasse 8 können hier Warum-Fragen in fächerübergreifender Perspektive vertieft werden. Was bedeutet der Erhalt von Ökosystemen angesichts evolutionstheoretischer
Annahmen? Warum ist der Umweltschutz über die Erhaltung der Überlebensbedingungen hinaus für
den Menschen ein Thema? Welche Interessen und Werte stehen gegen Umweltschutzmaßnahmen? Wie
ist eine Abwägung möglich? Hier bieten sich insbesondere Rollenspiele an, um unterschiedliche Perspektiven auf die vielfältige Bedeutung von ‚Natur’ für den Menschen plausibel und nachvollziehbar zu
machen: direkte Nutzung als (Nahrungs-, Flächen-, Energie-) Ressource, Einnahmequelle aus Tourismus, Erholung, Erhalt von Lebensgrundlagen, Ästhetik, Eigenwert der Natur?
Kursstufe
Theoretische Grundlagen des Faches
•
Genetik
Unter dem Titel ‚Moleküle des Lebens und Grundlagen der Vererbung’ (Bildungsplan 2004: 210) können die bisher nur in Ansätzen erfolgten theoretischen Grundlagen der Molekularbiologie wissenschaftstheoretisch und ethisch reflektiert werden (auch unter dem Stichwort wissenschaftlicher Reduktionismus, siehe Physik). Die unterschiedlichen Möglichkeiten ‚Leben’ zu definieren und die Bedeutung, welche die Zuschreibung von ‚Leben’ z.B. für unser moralisches und juristisches Urteilen hat,
können in ein kritisches Verhältnis gesetzt werden. Wiederum geht es darum, die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten sowohl innerdisziplinär als auch im Kontext gesellschaftlicher
Anforderungen zu reflektieren: Wann beginnt menschliches Leben? Warum kann eine biologische Definition kein moralisches Urteil begründen? Welche Bedeutung haben moralische oder religiöse Überzeugungen – oder wissenschaftliche, politische sowie wirtschaftliche Interessen bei der Beurteilung
dessen, wann Leben beginnt beziehungsweise endet und was ein lebenswertes leben ist? Diese Fragen
leiten zu eher anwendungsbezogenen ethischen Fragen insbesondere des Bereichs „Angewandte Biologie“ (Bildungsplan 2004: 211) über (s.u.).
•
Evolutionstheorie
In der Oberstufe kann der Status der Evolutionstheorie als historisch gewachsenem Erklärungsmodell
(Lamarck, Darwin, Synthetische Theorie) reflektiert und mit anderen Ansätzen vergleichend analysiert
82
Biologie und Ethik
werden (z.B. Kreationismus). Hier könnte eine Zusammenarbeit mit den Fächern Geschichte und Politik/Gemeinschaftskunde evtl. Religion und Physik zu einer fundierten Auseinandersetzung über die Bedeutung und das Schicksal von Theorien, die einen umfassenden Anspruch auf Welterklärung erheben
(bzw. erhoben haben) führen. Dabei wird deutlich, dass Wissenschaft immer im Kontext der sozialen
und politischen Wirklichkeit ihrer Zeit steht, Erkenntnisse niemals unabhängig von der gesellschaftlichen Prägung der Wissenschaftler erfolgen können3 und ihre Erkenntnisse das Welt- und Menschenbild
auch in ethische relevanter Hinsicht verändern.
Anwendungsbezug und Ethik
Die schon in den vorherigen Klassen angesprochenen Themen – Neurologie, Sucht- und Drogen Gesundheit und Krankheit, Umweltschutz können vertieft auch einer ethischen Reflexion unterzogen werden.
•
Sucht und Drogen
Das Thema Sucht und Drogen berührt – insbesondere wenn es mit dem Themenfeld Neurologie verhandelt wird, Fragen nach der menschlichen Freiheit, nach der Definition von Handeln im Sinne einer
bewussten Aktion, die im Einflussbereich einer Person liegt. Es geht also um die Verantwortbarkeit von
Handlungen – allgemein und speziell unter Drogeneinfluss. Konzepte von Sucht als Krankheit versus
Sucht als Willensschwäche und die jeweiligen Folgen unseres (auch juristischen) Umgangs mit Fehlverhalten unter Drogenkonsum bzw. dem Umgang mit Suchtkranken überhaupt (Legitimität von
Zwangseinweisungen, unterschiedliche Therapiekonzepte etc.) können reflektiert werden. Wichtig ist
die Unterscheidung zwischen Drogenkonsum insgesamt und Sucht, sowie die gesellschaftlichen Faktoren, aufgrund derer verschiedene Drogen unterschiedlich bewertet werden (Funktionsverlust oder Funktionserhalt durch Einnahme von Drogen? Gefährdung anderer oder Aggressionsabbau durch die Droge?). Die Tatsache, dass die Einnahme von Rauschmitteln offenbar zur menschlichen Kultur gehört
(und zwar als Phänomen kulturübergreifend, aber bezogen auf konkrete Rauschmittel kulturvariant),
kann hier Anhaltspunkte zur Reflexion geben und durch fächerübergreifenden Unterricht befördert
werden (Deutsch, Geographie, Politik/Gemeinschaftskunde).
Für eine vertiefte Diskussion der Begriffe Freiheit, Person, Verantwortung im Spannungsfeld Drogen
und Sucht bietet sich eine Kooperation mit den Fächern Philosophie, Ethik, Religion sowie Deutsch an.
Von Seiten der Biologie kann hier zusätzlich die Bedeutung der genetischen Diagnostik (Prädisposition
für Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Rauschmitteln) im Hinblick auf eine (moralische) Beurteilung des Drogenkonsums kritisch eingebracht werden.
•
Angewandte Biologie (Bildungsplan 2004: 211)
Alle hier aufgeführten Themen sind ohne eine integrierte ethische Reflexion nicht angemessen vermittelbar. Insbesondere für die Grüne Gentechnik bietet sich ein technikfolgenorientiertes Vorgehen mit
den auf Seite 135 erklärten und für Physik und Chemie ausgeführten Leitfragen an.
9.3.
Literatur
Buchanan, M. (2005): Discovering the true nature of reality. New Scientist 2504, S. 32.
Deutsche Forschungsgemeinschaft (1998): Empfehlungen der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft.
Bonn.
3
Als Beispiel in der Biologie bietet sich neben der revolutionären Rolle Darwins, Galileis oder ähnlich berühmter Naturwissenschaftler insbesondere für die Biologie auch die Entwicklung der präformistischen
Theorie an, s. z.B. Duden 2002.
Biologie und Ethik
83
Duden, B. (2002): Zwischen "wahrem Wissen" und Prophetie: Konzeptionen des Ungeborenen. In: B. Duden, J.
Schlumbohm and P. Veit: Geschichte des Ungeborenen – zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der
Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 11-48.
Fleck, L. (1983): Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen. In: L. Schäfer /
T. Schnelle (hg.): Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache. Frankfurt a.M., Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, S. 59-83.
Fox-Keller, E. (1989): Feminismus und Wissenschaft. In: E. List / H. Studer Denkverhältnisse - Feminismus und
Kritik. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 281-300.
http://www.biosicherheit.de (Grüne Gentechnik)
84
Biologie und Ethik
9.4.
Allgemeine Verfahrenshilfe zur ethischen Reflexion auf biologische Themen
1. Vorverständnis klären:
•
grundsätzlich: Was für ein Verständnis von Wissenschaft habe ich? Was bedeutet eine biologische
Interpretation der Welt (z.B. für unser Selbstverständnis, unser Naturverständnis)? Welche Grenzen
hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis? Wie ist das Verhältnis von naturwissenschaftlichen zu
moralischen Fragen und Antworten?
•
Speziell: Warum beschäftige ich mich mit diesem konkreten Problem (Gentechnik, Umweltverschmutzung, Sucht? etc.)
2. Situationsanamnese:
•
Worum geht es? Erhebung der relevanten empirischen und normativen Aspekte
(Was wird biologisch/technisch/medizinisch gemacht, gedacht, gewollt? Wer ist betroffen?)
3. Analyse der identifizierten Sachverhalte:
•
genauere Bestimmung des Konflikts (Welche Interessen/Rechte kollidieren? Was steht auf dem
Spiel?)
•
Analyse der Verhaltensalternativen (Verfügbarkeit und Angemessenheit der Mittel? Kalkulation der
Handlungsfolgen)
•
Normenanalyse (Reflexion der Maßstäbe, sind die Normen einschlägig? Gewichtung der Normen/Werte/Prinzipien? Situationsgerechtigkeit? Verallgemeinerbarkeit der Handlungsalternativen?)
4. Ethisch reflektierte Abwägung:
•
Reflexion auf das Abwägungsverfahren (Regeln der Klugheit? Oberste Prinzipien?...)
•
Entscheidung/Urteilsfindung
Biologie und Ethik
9.5.
85
Themenliste Biologie
•
Biologie als erklärender Unterricht: Möglichkeiten und Grenzen, Warum-Fragen zu beantworten
•
ästhetische Naturerfahrung (Klasse 6, Kursstufe)
•
Tierschutz (artgerechte Tierhaltung, Analogieschlüsse für die Bestimmung tierischen Leides Klasse
6; Tierversuche Klasse 10)
•
Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit vs. Leiblichkeit: der biologische Blick auf den Menschen
(Beispiel Ernährung, Sexualität, Klasse 8)
•
Gesundheit und Krankheit aus biologischer Perspektive vs. andere Deutungshorizonte (Klassenstufe
8, 10, Kursstufe)
•
Was hat Biologie mit Natur- und Artenschutz zu tun? (Klassenstufe 8, 10, Kursstufe)
•
Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und der Umwelt (welche Rolle können
biologische Aussagen spielen? Nichtableitbarkeit von moralischen Urteilen aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (Klassenstufe 8, 10, Kursstufe))
•
Reproduktionsbiologie, insbesondere Genetik: Gesellschaftsbezug, menschliches Selbstverständnis
(Kursstufe)
•
Biotechnologie (grüne, rote, graue Gentechnik, Technikfolgenabschätzung Kursstufe)
•
Biologische Naturbeschreibung/-erklärung und die Beeinflussung der Wahrnehmung der Welt
86
Biologie und Ethik
9.6.
Fachsitzung zum Thema Sucht und Drogen im Fachbereich Biologie am
Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Tübingen (Werner Bils, Gisela
Badura-Lotter)
Eine Fachsitzung zum Thema Sucht und Drogen bietet sich für die Einbeziehung ethischer Aspekte an,
da hier die biologischen Aspekte kaum ohne die wesentlichen anderen Bereiche (wie z. B. Didaktik,
Philosophie, Ethik, Medizin) vermittelt werden können.
Eine Fachsitzung, die ethische und philosophische Aspekte integriert könnte wie folgt aufgebaut werden:
1. Einführung Ethik (Zentrale Begriffe herausstellen)
2. Reflexionshilfen für Unterrichtsgestaltung geben (didaktisch-biologischer Teil)
3. Beispiel in Eigenarbeit entwerfen lassen
4. Abschlussdiskussion
Ethische Reflexion:
Es ist möglich und eventuell hilfreich, abweichend von der hier gezeigten breiten Darstellung verschiedener relevanter Aspekte, einen zentralen Begriff herauszustellen (z.B. Freiheit) und diesen in seiner
philosophischen Komplexität zu erläutern.
1. Reflexion auf das eigene Vorverständnis bezüglich des Themas Sucht und Drogen. Arbeitsaufgabe:
kurz schriftlich die eigene Haltung zum Thema zusammenfassen (inklusive Empfindungen gegenüber Drogenkonsumenten) und im Plenum vortragen
Einführung zentraler Begriffe:
2. Unterscheidung Sucht versus Drogenkonsum
Sucht:
•
Freiheitsbegriff (negativ oder positiv, Autonomie, angelehnt an Harry Frankfurt4)
•
Krankheit vs. Willensschwäche?
daraus abgeleitete Therapieziele und ihre Rechtfertigung
•
Genetische Diagnostik Konsequenzen einer biologistischen Wahrnehmung von Sucht
•
Die Sucht im Lebenskonzept eines Menschen?! (Filmbeispiel: Leaving Las Vegas)
•
Belastung der/Gefahr für die Gemeinschaft (Kriminalität und Kriminalisierung; Pflicht zur
Erhalt der eigenen Gesundheit und Leistungsfähigkeit? als Beispiel kann die unterschiedliche
moralische Bewertung von Nikotin und Alkoholsucht dienen)
Drogenkonsum:
1. Zurechenbarkeit einer Handlung (Recht vs. Moral)
Personenstatus Betrunkener?
2. Drogen in Lebenskonzepten der Menschen: Kultur des Drogenkonsums, individuelle und ethnologische Aspekte
3. Belastung der/Gefahr für die Gemeinschaft versus Funktionserhalt des Individuums durch mäßigen Drogenkonsum
4
Siehe ausführlich zu diesem Thema z.B. Wolf, Julia: Auf dem Weg zu einer Ethik der Sucht. Dissertation
der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen, 2003. Abrufbar auf dem online Publikationsserver der
Universität Tübingen unter: http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/728/.
Biologie und Ethik
87
Didaktisch-biologischer Teil:
1.
Wie baue ich eine UE auf? Die Leitfragen dabei sind: Wozu? Was? Wie? soll gelehrt werden.
2. Die Faktenauswahl ist bei diesem Thema oft schwierig für die Referendare, daher hilft eine Handreichung mit verschiedenen Themenvorschlägen (Arbeit mit Planungsraster, s. Material). Besprochen werden vor allem die Suchtmittel Nikotin und Alkohol, (weniger die illegalen Drogen, Beispiel Heroin).
Themengliederung:
a. psycho-sozialer Bereich (Gruppenzwänge, Werbung, Genuss etc.)
b. physiologischer Bereich (Folgen und Nebenwirkungen von Nikotin und Alkohol, illegale
Drogen nur am Schluss) (s. Arbeitsblätter)
3. Es wird betont, dass bei dieser Unterrichtseinheit die kognitiven den einstellungsbezogenen Lernzielen nachgeordnet sind. Einstellungsbezogene Lernziele sind: volle Abstinenz beim Rauchen,
kontrollierter Umgang beim Alkohol.
4. Hier ist die Integrität des Lehrers/der Lehrerin wichtig: Die vertretenen einstellungsbezogenen (affektiven) Lernziele müssen überzeugend zu den eigenen passen (Schüler fragen nach oft Schwierigkeiten für Lehrer, wenn das eigene Verhalten nicht rechtfertigbar erscheint)
5. Sensibilisierung der Referendare auf mögliche Betroffenheiten der Schüler: Vorurteile der Schüler
bezüglich Drogenkonsumenten, Alkoholprobleme der Eltern, Tablettensucht etc.
Folgende Themen können in den verschiedenen Klassenstufen angesprochen werden:
Klasse 7: Thema: Sucht und Drogen, hier liegt der Fokus kaum auf biologischen Grundlagen sondern
eher auf einer allgemeinen Aufklärung
Klasse 10: Kreislaufsystem, Atmung (Nikotin)
Klasse 10: Schwangerschaft
Stufe 12: Neurobiologie
Das Thema eignet sich im Seminarkurs Jahrgangsstufe 12 und sehr gut für fächerübergreifenden Unterricht (Geschichte, Biologie, Philosophie...)
Arbeitsauftrag:
Entwerfen Sie unter Einbezug ihrer bisherigen Erfahrungen eine Unterrichtseinheit zum Thema Sucht
und Drogen. Beziehen Sie dabei jeweils zu dritt/viert Fragen rund um den Freiheitsbegriff mit ein (Was
sind die relevanten Aspekte? Wozu sollen die Schüler darüber nachdenken?...). Formulieren sie Groblernziele für die Schüler und machen Sie dann Vorschläge für die methodische Umsetzung (wie kann
ich die Lernziele erreichen?)
In einer erweiterten Version wäre es für die Referendare (oder den Fachleiter) sinnvoll, zu diesem
Thema auch die Pädagogik-Fachleiterinnen und –Fachleiter zu befragen, insbesondere, da der Unterricht zum Thema Sucht/Drogen bislang in Klasse 7/8 durchgenommen wird und hier sowohl die psychische als auch kognitive Verfassung der Schüler besonders relevant wird. Fragen rund um das Thema
'Wer bin ich?' haben eine besonders große Bedeutung. Themen, die sich mit Freiheit und Personalität
befassen, sind daher hoch motivierend für die Schüler – und damit geeignet für reflexive Fragestellungen im Biologieunterricht. Allerdings können hier auch leicht Situationen auftreten, in denen der Unterricht einen 'Lebenshilfe-Charakter' bekommt, worauf die Referendare entsprechend vorbereitet sein
sollten.
Vorstellung der Ergebnisse:
Kurze mündliche Vorstellung der Entwürfe im Plenum. Diskussion und Feedback.
88
Biologie und Ethik
Reflexion auf den Umgang mit Drogen und
Sucht
Möglichkeiten einer Unterrichtsvorbereitung
Ausgangsbasis:
Ich (als Biologielehrer/Biologielehrerin) soll die Schüler
zu einem bestimmten (‘vernünftigen’) Verhalten gegenüber Drogen bzw. einer generellen Haltung zu Drogen
und Drogenkonsum erziehen.
Bedingung:
Ich muss eine eigene kohärente Haltung zu dem Problem
haben, um authentisch und glaubhaft sein zu können und
um überhaupt ein Erziehungsziel formulieren zu können,
hinter dem ich stehen kann.
1. Frage:
Wie ist meine Haltung zum Thema Sucht und Drogen
(insbesondere z.B. zu Nikotin, Alkohol, Heroin)?
Biologie und Ethik
89
2. Frage:
Warum habe ich diese Haltung?
Reflexionshilfe:
Warum habe ich überhaupt ein Problem mit Drogen?
Habe ich immer ein Problem? Was stört mich an dem,
der Drogen konsumiert? Wer ist betroffen?
Aufgabe:
Aufschreiben wann und warum Sie sich durch Drogenkonsumenten (inklusive der eigenen Person) gestört fühlen oder sie Ihnen unmoralisch erscheinen
(10 Minuten)
90
Biologie und Ethik
Sucht versus Drogenkonsum
Reflexionspunkte:
Sucht: Was ist Sucht?
• Freiheitsverlust vs. freie Entscheidung // Krankheit vs.
Willenschwäche
→ Therapeutische Maßnahmen und ihre Rechtfertigung (Stichwort: Zwangseinweisung)
→ genetische Diagnostik → Konsequenzen einer biologistischen Wahrnehmung der Sucht (Sucht ist Folge
eines genetischen Defekts)
(Transfer: Krankheitskonzepte und Biologie allgemein)
• Die Sucht im Lebenskonzept eines Menschen?! (Perspektivlosigkeit?)
Wichtig: Unsere Vorstellung von einem Menschen als autonom handelnder Person ist herausgefordert.
Biologie und Ethik
91
Sucht:
• Belastung // Gefahr für die Gemeinschaft
Kosten: Gesundheitswesen/Sozialwesen (Leistungsfähigkeit)
Kriminalität (Kriminalisierung?)
Gefahren: Rauchen in öffentlichen Räumen (Kneipe),
Kontrollverlust/Aggressivität (Alkohol), Kriminalität
(?)
92
Biologie und Ethik
Drogenkonsum:
• Zurechenbarkeit einer Handlung im Rauschzustand?
→ Moralischer Status der Person im Rauschzustand?
• Die Droge im Lebenskonzept eines Menschen?!
→ Kultur des Drogenkonsums (individuelle und ethnologische Perspektiven)
• Belastung // Gefahr für die Gemeinschaft?
Kosten: Gesundheitswesen/Sozialwesen (Leistungsfähigkeit)
Kriminalität (Kriminalisierung?)
Gefahren: Rauchen in öffentlichen Räumen (Kneipe),
Kontrollverlust/Aggressivität (Alkohol), Kriminalität
(?)
• Nutzen für die Gemeinschaft?
Funktionserhalt des Individuums durch mäßigen/legitimen Drogenkonsum (Erhöhung der Frustrationstoleranz, Entspannung etc.)
Biologie und Ethik
93
Abschluss:
Fragen zur Selbstklärung
1. Wie ist meine Haltung jetzt zum Thema Sucht und
Drogen?
2. Zu welcher Haltung möchte ich die Schülerinnen und
Schüler erziehen?
3. Warum soll ich das machen? (Oder: was hat die Biologie dazu zu sagen?)
94
9.7.
Biologie und Ethik
Biotechnologie und Ethik (Biologie- und Biotechnologieunterricht der
Oberstufe) (Gisela Badura-Lotter, Sonja Emde, Georg Mildenberger, Gisela Schubert, Christian Wolff)
Die im Folgenden dargestellten Unterrichtseinheiten zu verschiedenen Themen der modernen Biotechnologie ('Angewandte Biologie', Bildungsplan 2004: 211) wurden in einer intensiven, über ein Jahr
dauernden Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen und Vertretern des Faches Biotechnologie und
Mitarbeitern des Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen
entwickelt und in verschiedenen Schulklassen (jeweils vier bis sechs Parallelklassen) erprobt. Sie fanden bereits Eingang in Fachsitzungen an Studienseminaren sowie in unterschiedlichen Lehrerfortbildungen.
Das Grundanliegen dieser Arbeit bestand darin, das Konzept 'Ethik in den Wissenschaften / 'Ethik im
Fachunterricht' in konkreten Unterrichtsentwürfen auszugestalten und zu erproben. Leitendes Motiv dabei ist die Einbeziehung ethischer Aspekte und Blickwinkel vom Beginn einer Einheit bis zum Schluss.
Das 'klassische' Schema 'erst die Biologie, dann noch etwas Ethik' kann unserer Ansicht nach einen entscheidenden Faktor (und Lernschritt) nicht deutlich machen: Bei jeder Darstellung naturwissenschaftlicher 'Fakten' sind Auswahl und Präsentation der Inhalte vom jeweiligen Erkenntnisinteresse geleitet.
Eine 'neutrale' Vermittlung naturwissenschaftlicher Ergebnisse ist daher nicht möglich. Wenn am Beginn einer Unterrichtseinheit Überlegungen der Art stehen: Welche Bedeutung hat die Forschungs- und
Entwicklungsrichtung für die Gesellschaft? Welche Probleme sollen gelöst werden und welche neuen
Probleme/Risiken werden vielleicht geschaffen?, dann erfolgt auch die Auswahl der biologischmedizinischen Inhalte in anderer Weise, als wenn lediglich 'Verfahrensklassiker' im Fokus stehen.5
Probleme - auch ethische - entstehen aus den Disziplinen heraus nicht unbedingt erst, aber spätestens
dann, wenn sie in Anwendungs- d.h. Technologiebereiche eindringen. Die Möglichkeiten und Ideen der
modernen Biotechnologie (insbesondere der Gentechnologie) stehen in starker öffentlicher Kritik und
Diskussion. Wir haben versucht, Unterrichtsablauf und Inhalte so aufzubauen, dass die Sensibilität der
Schüler und Schülerinnen für ethische Fragen, die - oft verdeckt - hinter naturwissenschaftlichen Aussagen liegen, geweckt und sukzessive (über ein Ausbildungsjahr) zu einer reflexiven ethischen Urteilskompetenz ausgebaut und gefördert wird. Dabei sind die Inhalte so gewählt, dass sie zwar im Biologie/Biotechnologieunterricht allein vermittelt werden können, die auftauchenden Begriffe und Probleme
aber eine Weiterführung im Philosophie/Ethik sowie im Religionsunterricht nahe legen. Daher sollen
die vorliegenden Protokolle und Ergänzungen die fächerübergreifende Zusammenarbeit an den Schulen
anregen. Zur Erleichterung der Themenfindung ist eine Zusammenstellung der Ethik-Inhalte der Jahrgangsstufe 1 und 2 des Biotechnologischen Gymnasiums beigefügt.
Der Aufbau der Unterrichtseinheiten - von erster Sensibilisierung für ethische Fragen bis hin zu komplexen Fallanalysen - erfolgt von der Einheit zur Somatischen Gentherapie (Rollenspiel, erste Diskussion ethischer Aspekte), über die Einführung erster Strukturierungshilfen bei dem Thema Stammzellen
(medizinethische Prinzipien nach Beauchamp and Childress) und einer umfangreiche Fallstudie zu genetischen Diagnostik in all ihren Anwendungsbereichen (Leitfragen zur Sach- und Problemerschließung) bis hin zu einer detaillierten Technikfolgenabschätzung für den Bereich der 'Grünen Gentechnik'
(Leitfragen der Technikbewertung). Dabei werden biologische wie ethische Inhalte in praxiserprobter
Form dargestellt.
5
Wobei auch hier die Frage nach Sinn und Anwendung der jeweiligen Verfahren natürlich vorgängig sein
sollte.
Biologie und Ethik
95
9.7.1. Ethikinhalte der Jahrgangsstufe 1 und 2 Biotechnologie
Die folgenden Vorschläge für ethische Themen, die im Unterricht der Jahrgangsstufe 1 und 2 angesprochen werden sollen (laut Lehrplan) bzw. können, sind eng an den Lehrplanentwurf Biotechnologie
(Stand 22.04.03) angelehnt. Teilweise ergeben sich Vorschläge für eine Änderung des Ablaufs (z.B. bei
Absatz 6.3). Jeweils in der rechten Spalte der zwei Tabellen befinden sich thematische Vorschläge, die
nicht im Lehrplan expliziert werden. Die folgende Übersicht soll dazu dienen, dass grundlegende ethische Begriffe und Methoden an den jeweils passenden Stellen im Unterricht durchgenommen werden
können. Dadurch sollen am Ende des Jahres die Schülerinnen und Schüler mit den wichtigsten ethischen Argumentationsformen und Begriffen vertraut sein und einen Überblick über die im Bereich Biotechnologie einschlägigen Problemfelder haben.
Angeführt sind darüber hinaus Anknüpfungspunkte zu den Lehrplänen Ethik (Stand August 2003), Evangelische und Katholische Religion (Stand 7. 10. 2003). Die jeweils passenden Inhalte sind der Übersichtlichkeit wegen nicht noch einmal einzeln zitiert – lediglich die Nummer der Lehrplaneinheiten und
gelegentlich ein direkter Bezugspunkt sind markiert.
96
Biologie und Ethik
Jahrgangsstufe 1
Thema/VerknüpfungsStoff
möglichkeiten mit Eth/Rel
6 Nutzung der Gentechnik in der Medizin
Ethische Aspekte (Vorschläge)
Eth LPE 14 evtl 4, 17 (9)
Ev. Rel. Evtl. LPE 4.2 (Anwendung von Gerechtigkeitsvorstellungen)
Kath. Rel. LPE 1.2 und 3.4 (Mit Grenzen leben lernen, Leiden bekämpfen), flankierend 1.0 (gutes Leben) und
6.4 (Ambivalenz der Technik)
– Medizinethische Prinzipien: Nicht6.3 Möglichkeiten und Grenzen Somatische Gentherapie
Schaden, Wohltun
– Antisense-Technik
der Gentherapie erläutern und
– Gutes Leben und Krankheit / Behin– Genersatz
bewerten
derung (Biotechnologie als Antwort
– Substitution
auf Leid? kath. Rel. 3.4)
(Keimbahntherapie): in 7.3
– Risiko, Verantwortung
Ethische Betrachtung
– Tauglichkeit und Angemessenheit von
Mitteln (Krebsgefahr, Immunologie,
Quarantäneforderung)
– Gerechtigkeit
– Vernetzung biomedizinischer Forschung; Forschungspolitik
– Patientenautonomie
7 Reproduktionsbiologie
Eth LPE 10 (flankierend 19), evtl. 14 und (4)
Ev. Rel LPE 6.4 (flankierend 1.0, 6.0) evtl. 7.3, 7.4 oder 10.0
Kath. Rel. LPE 6.3 (flankierend 6.0, 6.4, 6.5) evtl. 10.0
Sexualhormone
7.3 Methoden der ReproduktiOvarialzyklus
onsbiologie erläutern und die
Insemination
Aussagekraft von diagnostischen Verfahren für gene- In-vitro-Fertilisation
Klonen
tische Analysen bewerten
Embryonentransfer
Prä-Implantationsdiagnostik
Prä-Nataldiagnostik
– Karyogramm
– Hybridisierung
DNA-Typisierung
– RFLP
– STR
Stammzellen
Kalluskultur
Protoplastenfusion
7.4 Gesellschaftliche Bedeutung Genetische Beratung
Eugenik
der Anwendung diagnostischer
Ethische Abwägung
Verfahren ethisch bewerten
Embryonenverbrauch:
– Begriff Menschenwürde (Person vs.
Mensch)
– philosophische vs. Biologische Anthropologie (Reproduktionstechniken,
Bedingungen des menschlichen
Selbstverständnisses)
– soziale Kontexte der Embryonenforschung
– Stammzellen:
– Tauglichkeit und Angemessenheit von
Mitteln (Krebsgefahr, Immunologie
Quarantäneforderung)
– Vernetzung biomedizinischer Forschung; Forschungspolitik
– Krankheitsbegriff
– positive vs. Negative Selektion (Eugenikbegriff)
– Gerechtigkeit (Beispiel Arbeitsrecht,
Krankenkassenbeiträge etc. Ev. Rel.
LPE 4.2.)
8 Optimierung von Nutzpflanzen und Tieren durch gentechnische Methoden
Eth LPE 3, 9, 14
Ev.Religion LPE 4.3, 7.3, 7.4
Kath. Rel. LPE 4.0, 4.1 ,4.2,. 6.2, 6.4
8.3 Ethische, ökologische und
ökonomische
Auswirkungen
(und Prämissen) erkennen und
bewerten
Freisetzung von GVO`s (in 1.2 – Verantwortung für zukünftige Generationen? (Handlungsfolgen)
schon ansprechen)
(Nachhaltigkeit besser in 11.1) – Soziale und wirtschaftliche Probleme
der 'Grünen' Gentechnik (Prüfung von
Grenzen der Nutzung von Mitgängigen Argumenten)
geschöpfen
– Gerechtigkeit
(– Nachhaltigkeit, s. 11.1)
– verschiedene natur- und tierethische
Positionen
– Was ist Natur?
Biologie und Ethik
97
Jahrgangsstufe 2 (keine obligatorischen Ethikinhalte)
Thema
10 Biotechnische Produktion
Eth LPE 9, evtl. 14 und 16
Stoff
Ethische Aspekte
Ev. Rel. LPE 4.2, 4.3, 7.3
Kath. Rel. LPE 4.0, 4.1, 4.2
10.1 Bereiche der biotechnischen Pro- Lebensmittel
duktion und deren ökonomische Bedeu- Arzneimittel
tung darstellen
Enzyme
Biomasse
Biotransformation
Themen aus dem Bereich Wirtschaftsethik: z.B. Verteilungsgerechtigkeit
11 Umweltbiotechnologie
Eth LPE 3
Ev. Rel. LPE 7.3, 7.4 (7.0 als Grundlage)
Kath. Rel. LPE 6.4 (7.0 als Grundlage)
11.1 Biotechnische Verfahren als Mög- Abfallrecycling
lichkeit nachhaltigen Wirtschaftens ein- Altglassanierung
schätzen
Biogas
Kohleentschwefelung
11.3 Biotechnologische Verfahren als Textilveredelung
Waschmittelenzyme
umweltschonendes Prinzip erläutern
Molkeverwertung
Nachhaltigkeit: Definition, moralische Begründung, Ziele
– Warum sollen wir die Umwelt
schonen? Anthropozentrismus
versus Eigenwert der Natur
– biblischer Auftrag des Bebauens und Bewahrens
– Kriterien für einen verantwortlichen Umgang mit der Technik (Ev.Rel.)
98
Biologie und Ethik
Generell:
– Begriffe wie Verantwortung, Risiko, (Menschen-)Würde, Autonomie, Gerechtigkeit, menschliches
Selbstverständnis etc. können mehrfach diskutiert und dadurch gefestigt werden
– grundsätzlich sollte die Bedeutung und Begrenztheit biologischer Konzeptionen in Medizin- und
Umwelttechnik gegenüber anderen Konzeptionen (Arten der Welterschließung) immer wieder hervorgehoben werden, um einer Verengung der Wahrnehmung auf den 'biologischen Blick' entgegen zu wirken. Zentral sind dabei Fragen nach dem jeweils zugrunde gelegten Menschenbild, dem Krankheitsbegriff und dem Naturbegriff in Biologie/vs. Religion bzw. Ethik, Philosophie, Geschichte, Kunst... Zentral
dafür sind in Ethik: LPE 19; Ev. Rel.: LPE 6.0 und 7.0 und 7.2; Kath. Rel. 6.0 (6.2, 6.5), 7.0
– Flankierend können in Eth/Rel Grundlagen ethischen Argumentierens eingeübt werden (Unterschiede
zwischen teleologischen (Handlungsfolgen orientierter) und deontologischen (pflichtenorientierter) Argumentationen, sowie die Vermischung beider Argumentationstypen in unserer alltagssprachlichen moralischen Begründung).
Dazu exemplarisch einzelne LPE:
Ethik: LPE 8
Ev. REL: LPE 1.1 Ich und die anderen daraus : Handeln angesichts der ethischen Herausforderung)
Kath. Rel.: LPE 6.6 (goldene Regel, kategorischer Imperativ)
Biologie und Ethik
99
9.7.2. Beispiele und Materialien
9.7.2.1. Unterrichtseinheit zur Somatischen Gentherapie
1. Erste Stunde:
•
Einführung: Themen der Unterrichtseinheit (somatische Gentherapie, Methoden und Ziele sowie
ethische Aspekte)
•
Zur Einstimmung in die technischen und ethischen Probleme der aktuellen gentherapeutischen Forschung soll zunächst ein wirklicher, aktueller Fall besprochen werden, so wie er in den großen wissenschaftlichen Journalen diskutiert wurde: d
•
der erste 'erfolgreiche' Fall einer somatischen Gentherapie überhaupt.
•
Fall lesen
10 min
•
Verständnisfragen zur Darstellung des Falls klären
10 min
•
Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, zu folgender Frage Stellung zu nehmen: „Soll
die Gentherapie für die geschilderte Krankheit bei Kindern angewendet werden? Was meinen Sie
dazu?“
Zwei mögliche Vorgehensweisen:
A) Die Anmoderation soll klar machen, das es nur um die zunächst unkommentierte Äußerung
persönlicher Ansichten geht. Jeder Schüler, jede Schülerin kommt mit einer spontanen Äußerung zu Wort.
15 min
Danach werden die Schüler und Schülerinnen aufgefordert, ihre persönliche Meinung zu notieren. Dabei sollen zwei Zettel beschrieben werden. Einer kommt in einen mit dem jeweiligen
Namen versehenen Briefumschlag, der verschlossen und eingesammelt wird. Der andere wird
an eine Pinwand gehängt.
5 min
B) Die Schülerinnen und Schüler schreiben sofort ihre spontane Meinung auf (erst Briefumschlag,
dann Pinnwand, verdeckt).
Danach besteht die Möglichkeit, die Aussagen an der Pinnwand gemeinsam zu diskutieren.
Am Ende der Diskussion kann der Lehrer/die Lehrerin fragend-ermittelnd bei den Schülern den für eine
fundierte Bewertung notwendigen Bedarf nach mehr Information über den Fall deutlich werden lassen.
Überleitung zum biologischen Teil der UE
100
Biologie und Ethik
2. Zweite bis vierte Stunde: biologische Aspekte der somatischen Gentherapie
Methode: Stationenlernen
Inhalte:
•
Def. Somatische – Keimbahn-Gentherapie
•
Prinzip der somatischen Gentherapie
•
Immunologie
•
Eigenschaften viraler Vektoren
•
Verschiedene Virentypen (Vor- und Nachteile der Vektoren)
3. Fünfte und sechste Stunde: Vorbereitung und Durchführung der szenischen Argumentation
Vorbereitung
Vorherige Stunde, evtl. als Hausaufgabe
Gruppen bilden: die Schüler und Schülerinnen erhalten jeweils eine Rollenbeschreibung sowie die Ausgangssituation.
Arbeitsanweisung an die Schüler und Schülerinnen: Lesen Sie in Gruppen die Rollenbeschreibung und
die Situation durch und sprechen Sie darüber, wie sich wohl der Charakter in der beschriebenen Situation in der Entscheidungssitzung verhalten wird. Dabei können Sie auch weitere Materialien nutzen und
eigene Argumente entwickeln.
Wählen Sie eine Schülerin / einen Schüler aus, die in der Stunde dann die Rolle spielen wird.
4. Durchführung (Doppelstunde)
Erinnerung an Ausgangssituation
Tisch mit den Spielern, zum Plenum geöffnet oder Beobachter rundum
Die NichtspielerInnen erhalten Beobachterbögen. Sie werden angewiesen, je eine Person zu beobachten
und deren Argumente zu notieren (Nicht diejenige, deren Rolle sie mit vorbereitet haben). Sie sollen auf
den Beobachterbögen vermerken, welche Gründe für oder gegen die Gentherapie bei Stefan von dem
Spieler / der Spielerin angeführt werden. Es werden 4 Gruppen gebildet, die nach dem Spiel die Argumente je einer Rolle zusammentragen und auf Kärtchen notieren. Jede Rolle erhält dabei eine andere
Farbe.
Das Spiel soll ca. 25 Minuten dauern. Notfalls muss die Fahrerin von Dr. Kamphausen die Sitzung unterbrechen und auf ein Ende dringen. (Flugzeug o.ä.)
Biologie und Ethik
101
5. Reflexion des Rollenspiels
Die Beobachtergruppen beginnen mit der Auswertung, parallel dazu verläuft die Fragerunde an die
Spieler (Entlassungsphase, nach Reich, K. (Hg.): Rollenspiele. Methodenpool. In: url:
http://methodenpool.uni-koeln.de).
5.1.
Fragerunde an die Spieler (5-8 min):
a) Wie haben Sie sich in den Rollen gefühlt? Welche Argumente würden Sie persönlich vertreten,
welche nicht? (Mit Bezug auf Kärtchen)
b) Haben Argumente anderer Personen Sie persönlich überzeugt/nicht überzeugt? Konnte Ihre
Spielfigur diese auch annehmen, wenn nein: Warum nicht? (Ebenfalls Bezug auf Kärtchen)
5.2.
Beobachtergruppen
Die Spieler gehen zu der Gruppe, die sie beobachtet hat, um bei der Notierung der Argumente behilflich
zu sein.
Die Kärtchen werden an eine Wandzeitung gehängt, die in eine Pro und eine Contra Seite aufgeteilt ist.
5.3.
Fragerunde an alle (Vorschläge):
a) Ist die Haltung der jeweiligen Spielfigur (Eltern, Arzt, Klinikchef, Biologin) nachvollziehbar?
b) Wo liegen die Dissense: eher in der Einschätzung von Sachfragen oder in unterschiedlichen
Werthaltung/Prinzipien?
c) Wie könnte man die Argumente innerhalb der Pro- bzw. der Contra- Argumente gewichten?
Oder: welche Argumente sind ähnlich? (evtl. Kärtchen umhängen)
d) Welche Entscheidung würden Sie treffen? Warum? (Aufschreiben und mit den in der ersten
Stunde in Umschlägen verpackten Standpunkten vergleichen.)
6. Ziele des Rollenspiels:
a) Ethische Argumentation konkret einüben
b) Die eigene Meinung bilden anhand von:
Empirischen Daten
Eigener Reflexion
Perspektivenerweiterung/ -wechsel
c) Aussagen anderer Schüler ernst nehmen
Die Erfahrung der Entwicklung der eigenen Meinung anhand der oben genannten Faktoren soll sensibilisieren für eine gründliche, offene und diskursive Haltung bei der Auseinandersetzung um moralische
Fragen.
102
Biologie und Ethik
Ethische Aspekte zum Fallbeispiel somatische Gentherapie
1. Klassische medizinethische Probleme:
1.1. Sachstandserhebung: Tauglichkeit und Verhältnismäßigkeit der Mittel
1. Analyse der Gentherapiestrategien: Welche Konzeption genetischer Informationsübertragung und -realisation liegen den Ansätzen zu Grunde? Was kann eine DNA-Übertragung mittels Retroviren maximal bewirken? (Stichworte: Zufällige Addition bzw. Insertion, kurze Verweildauer der DNA in den Zellen...)
2. Risiken Viraler Vektoren im medizinischen Kontext (Gefahren für den Patienten: Infektion
(Adenovirusfall Jesse Gelsinger, Mutation Krebs, Gefahr für Dritte durch die Entstehung
neuer Infektionskrankheiten)
3. Vor- und Nachteile alternativer Gentherapiestrategien erörtern (Plasmide, evtl. andere Viren,
Ex-vivo Verfahren)
1.2. Abwägung: zwischen den ärztlichen Prinzipien der Wohltätigkeit ('Gutes Tun', salus aegroti)
und Nicht-Schadens (nil nocere) (Stichwort: Schwere der Krankheit vs. Risiko eines (wenig
erforschten) Therapieansatzes; Alternativen?)
1.3. Verteilungsgerechtigkeit: teure Spitzentechnologie (für seltene Krankheiten) im Gesundheitswesen (Forschung nach /Förderung von Alternativen)
Kontroversen: Pharmazeutischen Unternehmen wird oft vorgeworfen, dass sie nur in Bereiche
investieren, in denen der 'Markt' groß ist (dabei sind dann aber auch häufig die sog. 'Massenkrankheiten'), also: Krankheiten in den Industrieländern, Therapien die Behandlungsintensiv
sind (viele Medikamente über einen langen Zeitraum etc.)
1.4. Autonomie: wer darf über die Behandlung entscheiden?6 Um wessen Autonomie geht es?
2. Gibt es darüber hinaus ethische Aspekte, die speziell für die Gentherapie relevant sind?
2.1. mögliche Schäden an Keimbahnzellen
2.2. Gentherapie im Kontext anderer Forschungsrichtungen:
Keimbahngentherapie, (in Verbindung mit In –vitro-Fertilisation und PID) und Krankheitsbegriff: Analyse der Zielsetzung, Methoden und Abgrenzbarkeit von somatischer und Keimbahngentherapie
3. Forschungspolitik: Wann darf mit klinischen Versuchen begonnen werden? Kriterien der Angemessenheit
Lernziele:
Die Schülerinnen und Schüler sollen für moralisch/ethische Fragen sensibilisiert werden.
Die Schülerinnen und Schüler kennen:
-
Die klassischen normativen Probleme jeder Therapie.
-
Die klassischen normativen Probleme der medizinischen Forschung.
Spezifische medizinethische Probleme, die bei der Anwendung gentherapeutischer Methoden
auftreten, und erkennen, dass verschiedene Gentransfermethoden in ethischer Sicht unterschiedlich bewertet werden müssen.
Die Schülerinnen und Schüler werden darauf sensibilisiert, dass es zu gentherapeutischen Maßnahmen
auch völlig anders geartete Alternativen geben kann (Transplantation, herkömmliche Medikamente).
-
Die Schülerinnen bekommen einen ersten Einblick in forschungspolitische Aspekte.
6
Zu den medizinethischen Prinzipien nach Beauchamp and Childress s. S. 116.
Biologie und Ethik
103
Fallbeispiel somatische Gentherapie
Ein tragischer Rückschlag (aus: Check 2002: 116-118)
Am Necker-Kinderkrankenhaus in Paris bekamen 11 Kinder mit schwerer kombinierter Immundefizienz (severe combined immunedeficiency, SCID), eine neue Behandlung mit modifizierten Retroviren.
9 der 11 Kinder wurden weitgehend geheilt – der erste Erfolg der somatischen Gentherapie überhaupt
(vgl. Cavazzana-Calvo 2000: 669-672). Nun ist eines dieser 9 Kinder (ein inzwischen dreijähriger Junge) an einer Leukämie-ähnlichen Krankheit erkrankt und die meisten Experten glauben, dass diese noch
unbekannte Krebsform durch die Behandlung mit den Retroviren verursacht wurde.
SCID tritt in verschiedenen Formen auf. Die in Paris behandelten Kinder litten an einer Form, die durch
einen Defekt auf dem X-Chromosom verursacht wird: Es handelt sich um ein Gen, das für eine Untereinheit eines Zelloberflächenrezeptors codiert, der für die Antwort auf einen wichtigen Wachstumsfaktor der sich entwickelnden Zellen des Immunsystems notwendig ist. Ohne diesen Rezeptor können sich
weder reife T-Zellen, noch B-Zellen oder natürliche Killerzellen bilden. Die Kinder sind schon bei der
Geburt extrem anfällig für Infektionen und können meist nur kurze Zeit unter sterilen Bedingungen
('Plastikzelt') überleben. Die Krankheit kann durch eine Knochenmarkstransplantation behandelt werden, für die meisten Kinder steht aber kein 100% passender Spender zur Verfügung und bei schlechter
passenden Spendern beträgt die Sterblichkeit der Kleinkinder bis zu 30%.
Bei der Behandlung mit Viren kann nicht kontrolliert werden, an welcher Stelle des Genoms die modifizierte DNA integriert. Es besteht daher immer die Gefahr, dass wichtige Gene durch eine Insertionsmutation blockiert werden. Aus Tierversuchen mit Mäusen war ein erhöhtes Krebsrisiko bei der Behandlung von SCID mit Retroviren bereits bekannt.
Aufwendige Untersuchungen des Blutes des erkrankten Kindes haben ergeben, dass der Vektor in ein
Gen Namens LMO-2 integrierte – ein Gen, das mutiert als Auslöser für verschiedene Krebsformen im
Kindesalter bekannt ist. Die Suche nach den Insertionsstellen in behandelten Patienten ist ausgesprochen aufwendig und teuer und wird nicht alle Risiken aufklären. Bislang sind z.B. nur einige wenige
Gene bekannt, die durch Mutation Krebs auslösen – oder andere Krankheiten.
Einige Forscher argumentieren, dass es der einzige derartige Fall bisher wäre und dass die Heilungschancen daher das geringe Risiko überwiegen würden, zumal das Kind erblich vorbelastet war (zwei
Verwandte hatten Krebs in der Kindheit). Andere meinen, man wisse viel zu wenig über mögliche Insertionsschäden und solle zurückhaltender mit klinischen Versuchen sein.
5 Monate später erkrankte das zweite Kind aus der Studie an Leukämie, die Forscher stellten die gleiche
Insertionsmutation wie bei dem ersten Jungen fest (vgl. Check 2003: 305).
Literatur:
-
-
Cavazzana-Calvo, M. et al. (2000): Gene therapy of human severe combined immunodeficiency (SCID)-X1
disease. Science 288, S. 669-672.
Check, Erika (2002): A tragic setback. Nature 420, S. 116-118.
Check, Erika (2003): Second cancer case halts gene-therapy trials. Nature 421, S. 305.
Zu den Materialien (Aufgaben und Lösungen) vgl. Anhang Biologie01.
104
Biologie und Ethik
Szenische Argumentation zur Gentherapie
Ausgangssituation:
Stefan Müller ist knapp ein Jahr alt und seit einiger Zeit in der Klinik. Seit es klar ist, dass er an SCID
leidet, wird er dort in strenger Abschottung gepflegt. Er lebt in einem Plastikzelt und hat praktisch keinen direkten Kontakt mit Eltern, Geschwistern, Pflegepersonal oder Ärzten.
Man könnte die Krankheit mit einer Knochenmarkstransplantation behandeln, aber nur unter der Voraussetzung, dass ein passender Spender vorhanden ist. Das ist aber leider nicht der Fall.
Der behandelnde Arzt, Dr. Wertkamp, überlegt schon länger, ob es nicht am besten wäre, Stefan mit einer neuen Gentherapie zu behandeln. Er bittet den Klinikchef, Dr. Kamphausen, eine Besprechung anzusetzen, um zu einer Entscheidung zu kommen.
Die Besprechung findet vormittags im Zimmer von Dr. Kamphausen statt. Es stehen 25 Minuten zur
Verfügung, da dann Dr. Kamphausen einen Termin im Gesundheitsministerium hat. An der Besprechung nehmen die Eltern / der Vater / die Mutter von Stefan, Dr. Wertkamp, Dr. Kamphausen und Dr.
Meiner teil. Dr. Meiner ist Biologin und macht Tierversuche zur Immundefizienz von Mäusen in der
Forschungsabteilung der Klinik. Dabei verwendet sie eine ähnliche Technik, wie sie bei der beabsichtigten Gentherapie verwendet wird.
Biologie und Ethik
105
Herr Dr. Heiner Wertkamp, Behandelnder Arzt
Ich bin Dr. Wertkamp, der Arzt, der für die Betreuung von Stefan verantwortlich ist.
Stefan könnte mit einer neuen Gentherapie wahrscheinlich von SCID geheilt werden. Gewiss, die Wissenschaftler sagen, dass man noch nicht ausschließen kann, dass dabei etwas schief geht. Vielleicht bekommt Stefan Leukämie oder eine andere Krankheit. Die Risiken erscheinen mir aber gering und wenn
wir nichts tun, dann wird er in kurzer Zeit sterben, sollte nicht wie durch ein Wunder noch ein geeigneter Spender gefunden werden.
Wir würden es ja mit einer Knochenmarkstransplantation versuchen. Aber wir haben keinen passenden
Spender und wenn so etwas nicht funktioniert, dann hat das meistens sehr schlimme Folgen für die
Kinder.
Ich habe häufig mit schwer kranken Kindern zu tun. Leider können wir nicht allen helfen, so dass viele
Kinder sterben. Das ist schwer zu verkraften. Aber andererseits können wir auch viele Kinder heilen.
Diese Erfolge ermutigen mich immer und geben mir Hoffnung.
Als Arzt habe ich immer das Wohl meines Patienten im Auge. Es lässt sich aber häufig nicht vermeiden, mit einer Behandlung auch Schaden zuzufügen und zuweilen muss man auch etwas riskieren.
Sonst könnten wir Ärzte oftmals nur zu sehen, wie die Patienten sterben. Wir behandelnden Ärzte müssen immer abwägen zwischen dem Nutzen und dem Risiko einer Behandlung. Gerade bei Kindern versuchen wir immer, ihnen doch noch ein normales und schönes Leben möglich zu machen. Um diese
Ziele auch bei bisher nicht oder schlecht behandelbaren Krankheiten zu erreichen, müssen neue Therapien ausprobiert werden, hier sind wir auch bereit, Risiken in Kauf zu nehmen. Letztlich müssen natürlich die Eltern entscheiden, wir können nur raten.
106
Biologie und Ethik
Eltern (Vater/Mutter)
Ich bin Heinz (Claudia) Müller, der Vater (die Mutter) von Stefan. Seit es klar ist, dass Stefan an SCID
leidet, verbringe ich jede freie Minute in der Klinik, um wenigsten ein wenig Nähe zu meinem Sohn zu
haben. Das ist manchmal sehr schwer, hilflos zusehen zu müssen wie er alleine in seinem Zelt liegt.
Und ich kann ihn nicht einmal richtig im Arm halten.
Die Geschwister von Stefan beschweren sich manchmal. Erst gestern hat sein größerer Bruder gemeint:
"Fast wünschte ich, ich wäre auch krank wie Stefan. Dann könnte ich Dich wenigsten regelmäßig sehen!"
Anderen Kindern hat man mit einer Knochenmarkstransplantation helfen können, aber für Stefan gibt
es keinen passenden Spender. Und Dr. Wertkamp sagt, bei einem schlecht passenden Spender könnte es
zu sehr komplizierten Abstoßungsreaktionen kommen, die für Stefan sehr gefährlich und schmerzhaft
sein würden.
Nun habe ich erfahren, dass eine Gentherapie Stefan helfen könnte. Der Arzt Dr. Wertkamp sagt, er wäre dazu bereit, einen Versuch zu unternehmen. Er möchte nun von uns wissen, ob wir einverstanden
sind. Allerdings meinte er, die vorgeschlagene Therapie könnte unter Umständen dazu führen, dass Stefan Leukämie bekommt. Aber die könnte man wohl auch in den Griff kriegen. Dr. Wertkamp sagt, man
sollte es versuchen.
Ich glaube fast, er hat Recht. Wenn doch die Möglichkeit da ist, dann soll man sie auch nutzen. Und
wirklich schlechter dastehen kann Stefan ja doch nicht. Wenn es so weitergeht, dann stirbt er doch. Wir
müssen versuchen, sein Leben zu retten und ihm die Chance auf ein normales Leben zu geben.
Biologie und Ethik
107
Frau Dr. Anneliese Meiner, Biologin
Ich bin Frau Dr. Meiner. Ich bin Genetikerin und arbeite in der Forschungsabteilung hier an der Klinik.
Auf meinen Versuchen zur genetischen Veränderung von SCID-Mäusen basiert die Therapie, die Stefan
erhalten soll. Meine Versuche sind allerdings Grundlagenversuche, bei denen es erst einmal darum geht
herauszufinden, ob die durch die eingebrachte menschliche DNA gebildeten Cytokin-Rezeptoren in der
Maus funktionieren und ob so die Immundefizienz der Mäuse beeinflusst werden kann. Unsere Versuchstiere wurden nach 6 Wochen getötet, um den Nachweis der gewünschten Expression in verschiedenen Geweben machen zu können. Daher können wir überhaupt nichts darüber aussagen, ob die eingebrachte DNA in irgendwelchen Zellen vielleicht zu Insertionsmutationen geführt hat, die zu Krebsentwicklungen führen kann. Das Risiko solcher Mutationen ist bekannt, erst neulich haben Kollegen
von mir ein stark erhöhtes Mutationsrisiko bei der Verwendung Lentiviren im Tierversuch festgestellt.7
Auch ist nicht 100% auszuschließen, dass durch Neukombination der infektionsunfähigen Viren-DNA
in den Wirtszellen neue infektiöse Viren entstehen können. Es könnten dadurch unabsehbare neue Infektionskrankheiten erzeugt werden, insbesondere bei der Behandlung von SCID-Patienten, deren geschwächtes Immunsystem eher solche Erreger 'durchlässt'. Im Labor können wir das noch kontrollieren,
aber die behandelten Patienten können wir nicht so einfach in Quarantäne stecken.
Ich halte eine Anwendung unserer Ergebnisse im klinischen Sektor daher für verfrüht und unverantwortlich.
7
Woods et al. (2003): Lentiviral vector transduction of NOD/SCID repopulating cells results in multiple
vector integrations per transduced cell: risk of insertional mutagenesis. Blood 101(4): 1284-1289.
108
Biologie und Ethik
Herr Prof. Dr. Gerd Kamphausen, Klinikchef
Ich bin Professor Kamphausen und bin ärztlicher Direktor der Klinik in der Stefan behandelt wird.
Ich bin vor allem dafür zuständig, dass alle Patienten eine möglichst optimale Behandlung bekommen.
Deshalb muss ich abwägen, wie viele Leute und wie viel Geld ich für die Betreuung schwer Kranker
einsetzen kann, die möglicherweise über lange Zeiträume Intensivplätze belegen. Denn dann stehen die
Intensivbetten nicht für akute Notfälle (z.B. Unfallopfer) oder weiteren Patienten mit den gleichen Bedürfnissen (andere SCID-Patienten) zur Verfügung und wir müssen solche Patienten abweisen.
Stefan leidet an SCID, eine Krankheit, die ihn dazu zwingt, im Prinzip bei uns zu leben. Wenn wir keinen Spender finden, kann Stefan möglicherweise ein bis zwei Jahre in der Umkehrisolation überleben.
Das ist für Kind und Eltern enorm belastend. Außerdem verfügt die Klinik nur über 2 Zimmer, die für
SCID-Patienten geeignet sind – Raum und Personal würden dann über all diese Zeit von nur einem Patienten in Anspruch genommen werden.
Außer der riskanten Knochenmarktransplantation gibt es jetzt auch gentherapeutische Ansätze, bei denen Blutstammzellen aus dem Knochenmark außerhalb des Körpers mit der fehlenden genetischen Information ausgestattet und anschließend wieder in den Patienten transplantiert werden. Wenn diese Behandlung funktioniert, können die Kinder nach ca. einem Jahr wieder nach Hause entlassen werden und
ein normales Leben führen. Das ist für sie sicher das Beste und für die Klinik vermutlich auch das Kostengünstigste.
Meine Klinik ist an die Universität angeschlossen und hat daher auch den Auftrag, medizinische Forschung auf hohem Niveau weiterzubringen. Unser guter Ruf hängt auch an unseren langjährigen Erfahrungen und Erfolgen bei der Behandlung schwerer und seltener Fälle von Kinderkrankheiten.
Selbstverständlich müssen die Risiken bei einer neuen Behandlung in einem angemessenen Verhältnis
zum möglichen Nutzen für den Patienten stehen.
Und natürlich will ich nicht, dass meine Ärzte gewagte Therapien erproben und meine Klinik bei einem
Misserfolg ins Gerede kommt.
Leider habe ich für die Sitzung nur 25 Minuten Zeit. Hoffentlich schaffen wir es, in dieser kurzen
Spanne zu einer Entscheidung zu kommen.
Biologie und Ethik
109
Beobachterbogen
Bitte markieren Sie, welchen Spieler sie beobachten (E= Eltern, A= Arzt, C= Klinikchef, B= Biologin)
Argumente für den Einsatz der Gentherapie
Argumente gegen den Einsatz der Gentherapie
110
Biologie und Ethik
Biologie und Ethik
111
112
Biologie und Ethik
9.7.2.2. Unterrichtseinheit zu Stammzellen (2 Doppelstunden)
1. Doppelstunde: biologisch-fachlicher Teil:
- Einführung mit Hinweis auf öffentliche Debatte und die Hauptproblematik der Zerstörung/Tötung
menschlicher Embryonen
- Arbeit an den Arbeitsblättern 1-3
Hausaufgabe:
Siehe Arbeitsblätter zu Parkinson und Querschnittlähmung (Sortieren von Argumenten für und gegen den Ansatz der ES-Zellen-basierten Transplantation).
2. Doppelstunde: Ethische Reflexion
-
Zusammentragen der HA-Ergebnisse auf Kärtchen (Gruppenarbeit)
-
Einführung der vier medizinethischen Prinzipien, Verantwortungsbegriff
-
Die Schüler sollen die Argumente aus der Gruppenarbeit (Kärtchen) unter die medizinethischen
Prinzipien sortieren (diese in verschiedenen Farben an Stellwände geheftet)
Diskussion
-
Die Schülerinnen und Schüler sollen in Ihren eigenen Tabellen die Pro- und Contra-Aspekte in
den entsprechenden Farben der Prinzipien unterstreichen
-
Eventuell: Hinweis auf die Hauptproblematik der Zerstörung/Tötung lebensfähiger menschlicher
Embryonen (Verweis auf Ethik/Religion?)
Hausaufgabe:
Ordnen der Argumente aus der Unterrichtseinheit zur somatischen Gentherapie unter die Prinzipien (s.
schriftliche Hausaufgabe zur UE somatische Gentherapie)
Zu den dazugehörigen Materialien vgl. Anhang Biologie02.
Hausaufgabe für die 3. und 4. Stunde zu Stammzellen
Lesen Sie den folgenden Text sorgfältig durch und suchen Sie Aspekte, die (zum jetzigen Stand der
Forschung) für oder gegen den Einsatz embryonaler Stammzellen in einer Therapie für diese Krankheit
sprechen würden. Überlegen Sie sich eigene Argumente für oder gegen den Einsatz der ESZelltherapie.
Schreiben Sie die Argumente stichwortartig in eine Tabelle (pro  contra).
ES-Zellen: Eine Therapiemöglichkeit für Parkinson-Patienten?
Parkinson ist eine Krankheit, bei der über einen längeren Zeitraum hinweg die Nervenzellen in einer
bestimmten Hirnregion (der Substantia nigra) absterben (degenerieren). Sie bedeutet für die betroffenen
Personen sowie deren Angehörige zumeist schwere Belastungen und eine erhebliche Beeinträchtigung
der Lebensqualität. Viele motorische Funktionen können gestört sein. So kommt es zum Beispiel zu
Muskelsteifheit, Gleichgewichtsstörungen Zittern, insgesamt Verlangsamung aller Bewegungsabläufe
Biologie und Ethik
113
bis hin zu Phasen totalen Bewegungsverlustes (freezing). Die Symptome verschlimmern sich zumeist
über einen langsam fortschreitenden Prozess (ca. 1 bis 1½ Jahrzehnte). Parkinson tritt vor allem nach
dem 60. Lebensjahr auf (ca. 1 % der Bevölkerung) und besonders zwischen dem 70. und 79. Jahr (nach
dem 80. Lebensjahr sind fast 3% der Bevölkerung betroffen). Seltener sind aber auch jüngere Patienten
(unter 40) betroffen. Die genauen Ursachen für das Absterben der dopaminproduzierenden Nervenzellen sind (noch) nicht bekannt. Die Krankheit wird momentan mit der Substanz L-Dopa behandelt, die
den fehlenden Botenstoff Dopamin ersetzen soll. Dopamin ist ein Botenstoff (Neurotransmitter), der
verschiedene Funktionen hat: Durch Dopamin werden Signale vom Nervensystem an die Muskulatur
weiter gegeben. Dopamin beeinflusst aber auch Wahrnehmung und Gefühle und ist im Zusammenhang
mit dem Drogenkonsum von Bedeutung (Euphorie, Angstzustände).
L-Dopa zeigt zunächst eine hervorragende therapeutische Wirkung. Das Medikament führt zu einer
deutlichen Verbesserung der Lebensqualität und einer Normalisierung der Lebenserwartung der Patienten. Doch nach einigen Jahren treten die Schattenseiten dieser Therapie zu Tage: das sogenannte LDopa-Langzeitsyndrom. Denn L-Dopa verhindert nicht das weitere Absterben der Zellen, so dass irgendwann (mit den Nerven) die Speicherfähigkeit für Dopamin schwindet. Plötzliche totale Versteifungen, unkontrollierte Muskelverkramfpungen und schwere Alpträume sind meistens die Folge.
Heute wird an schonenden Dosierungen und verschiedenen neuen Präparaten, die das Absterben der
Nervenzellen verhindern sollen, geforscht. Man hat außerdem festgestellt, dass verschiedenste Faktoren
den Verlauf einer Behandlung mittels Transplantation beeinflussen, z.B. psychische oder postoperative
(z.B. Training). Auch ohne Operation haben Maßnahmen wie psychologische Betreuung, Verhaltenstraining und die Unterstützung durch Angehörige nachweislich einen enormen Einfluss auf den Verlauf
der Krankheit und die Lebensqualität der Patienten. Der Ersatz abgestorbener Nervenzellen durch
Stamm- oder Vorläuferzellen ist also nur ein Ansatz unter mehreren:
Seit der ersten Zelltransplantation in einen Parkinson-Patienten 1987 wurden über 300 Patienten mit fötalem Nervengewebe behandelt (zumeist Hirngewebe aus abgetriebenen menschlichen Föten). Aber die
bisher durchgeführten Zelltransplantationen konnten insgesamt keinen eindeutigen Vorteil gegenüber
anderen Behandlungsmethoden nachweisen und die Gründe für die z.T. positiven, zum Teil mit schweren Nebenwirkungen verlaufenden Ergebnisse bisheriger Transplantationen sind nach wie vor ungeklärt. Die Operationen im Gehirn sind risikoreich und aus medizinethischer Sicht umstritten. Im Tierversuch konnten bei Ratten, die Parkinson-ähnliche Symptome zeigten, durch die Transplantation von
neuronalen Vorläuferzellen aus ES-Zellen z.T. Verbesserungen erzielt werden. Allerdings gibt es erst
wenige Versuche und diese sind zumeist nur über einen kurzen Beobachtungszeitraum durchgeführt
worden. Es ist wahrscheinlich, dass die Transplantation von 'frischen' Zellen das Absterben der anderen
Nervenzellen nicht verhindert.
Bei der Behandlung mit Zellen, die aus ES-Zellen gewonnen wurden, ist zudem zu beachten, dass das
Risiko für eine Tumorentwicklung im Gehirn durch eventuell noch undifferenzierte ES-Zellen besteht.
Zellen, die aus lange kultivierten ES-Zelllinien stammen oder aus solchen, die auf tierischen Zellen kultiviert wurden, bergen zudem ein erhöhtes Infektionsrisiko. Allerdings ist die immunologische Abstoßung im Gehirn stark reduziert, weshalb auch 'fremde' fötale Zellen ohne Immunsuppressiva transplantiert werden können.
114
Biologie und Ethik
Hausaufgabe für die 3. und 4. Stunde zum Thema Stammzellen
Lesen Sie den folgenden Text sorgfältig durch und suchen Sie Aspekte, die (zum jetzigen Stand der
Forschung) für oder gegen den Einsatz embryonaler Stammzellen in einer Therapie für diese Krankheit
sprechen würden. Überlegen Sie sich eigene Argumente für oder gegen den Einsatz der ESZelltherapie.
Schreiben Sie die Argumente stichwortartig in eine Tabelle (pro  contra).
ES-Zellen: Eine Therapiemöglichkeit für Querschnittgelähmte?
Querschnittlähmung bezeichnet ein Lähmungsbild, das aus einer unvollständigen oder vollständigen
Schädigung des Rückenmark-Querschnittes resultiert. Unfälle mit einer Bruchverletzung der Wirbelsäule stellen nach wie vor die Hauptursache neben Erkrankungen und Tumoren dar. Durchschnittlich ist
mit jährlich etwa tausend unfallbedingten Querschnittlähmungen in der Bundesrepublik zu rechnen,
wovon etwa 60 Prozent eine Schädigung des Halsmarkes erleiden. Personen aller Altersgruppen sind
betroffen, häufig junge Menschen, die im Straßenverkehr oder im Sport verunglücken.
Es gibt zwei Formen der Symptome bei Querschnittlähmung:
Paraplegie bedeutet, je nach Lage der Rückenmarksverletzung, Lähmung der Rumpf- und Beinmuskulatur sowie den Verlust des Empfindungsvermögens für Berührung, Schmerz, Temperaturen und Lagesinn. Zusätzlich sind Darm-, Blasen- und Sexualfunktion gestört.
Tetraplegie bedeutet darüber hinaus Lähmung auch an den Armen, also an allen vier Gliedmaßen (Tetra = vier). Die Schädigung des Halsmarkes führt zusätzlich zu einer Beeinträchtigung der Atmung.
Durchtrennte bzw. verletzte Nervenfasern des zentralen Nervensystems (ZNS) können nicht regenerieren. Trotz intensiver Bemühungen konnte die Wissenschaft dieses Regenerationsdefizit bis zum heutigen Tage nicht beheben.
Die moderne Rückenmarksforschung versucht nun die dafür verantwortlichen Faktoren zu analysieren
und so das Regenerationsdefizit zentraler Nervenfasern zu verstehen. Mit Hilfe dieses Wissens sollen in
Zukunft Therapiestrategien mit dem Ziel entwickelt werden, die Regeneration zentraler Nervenfasern
auch bei Menschen zu erreichen. Die bisherige Grundlagenforschung an Fischen und Amphibien hat
gezeigt, dass diese Tierarten durchaus in der Lage sind verletzte Nervenfasern des Rückenmarks zu regenerieren. Säugetiere haben diese Fähigkeit im Lauf der Evolution als Preis für die komplexere Organisation des zentralen Nervensystems verloren. Es kann somit vermutet werden, dass das Potential für
eine Regeneration des Rückenmarks prinzipiell auch noch beim Menschen vorhanden ist.
Insgesamt werden vier verschiedene Ansätze verfolgt:
Biologie und Ethik
115
1. Ausschaltung wachstumshemmender Substanzen
Bestimmte Proteine können ein Auswachsen verletzter Nervenfasern hemmen. Im Tierversuch
konnte, durch bestimmte Antikörper gegen diese Proteine, ein Wachstum erzielt werden das allerdings z.T. unkontrolliert ablief.
2. Gabe von wachstumsfördernden Substanzen
Sogenannte neurotrophe Proteine fördern das Wachstum von Nervenzellen. Man versucht derzeit,
diese Proteine im Tierversuch für eine gezielte Wachstumsförderung einzusetzen.
3. Zelltransplantation
Seit einiger Zeit wird mit verschiedensten Zelltypen im Tierversuch experimentiert, z.T. gekoppelt
mit einer gentechnischen Veränderung der Zellen, damit sie höhere Mengen neurotropher Faktoren
produzieren.
4. Neuroprotektion
In der Regel sterben nach einer Rückenmarksverletzung weitere Nervenzellen (z.T. in erheblichem
Ausmaß) erst nach einigen Stunden bis Tagen durch Entzündungsprozesse ab. In dieser Zeit kann
man versuchen, diese zunächst unverletzten Nerven zu schützen, z.B. durch die Gabe von Cortison,
das allerdings nur eine geringe Schutzwirkung zeigt. Man sucht derzeit nach wirkungsvolleren Medikamenten.
Zur Transplantation von aus ES-Zellen hergestellten Nerven(vorläufer-)zellen gibt es bislang erst wenige Versuche. Eine Symptombesserung im Bereich der neuronalen Erkrankungen/Verletzungen konnte
in einem experimentellen Ansatz erzielt werden: Schon nach relativ kurzer Versuchdauer (4 Wochen)
wurde eine Verbesserung der Gewichtsbelastung der Hinterbeine von Ratten nach partieller Rückenmarksdurchtrennung beobachtet. Bei der Behandlung mit Zellen, die aus ES-Zellen gewonnen wurden,
ist allerdings zu beachten, dass das Risiko für eine Tumorentwicklung durch eventuell noch undifferenzierte ES-Zellen besteht. Zellen, die aus lange kultivierten ES-Zelllinien stammen oder aus solchen, die
auf tierischen Zellen kultiviert wurden, bergen zudem ein erhöhtes Infektionsrisiko. Auch muss damit
gerechnet werden, dass die transplantierten Zellen eine immunologische Reaktion im Patienten auslösen
würden, daher muss jede Therapie vermutlich mit einer belastenden Immunsuppression begleitet werden.
Die Problematik der Querschnittlähmung mit den zugrunde liegenden zellulären und molekularen Mechanismen ist sehr kompliziert. Keiner der oben beschriebenen, z.T. sehr vielversprechenden Therapieansätze hat bisher einen durchschlagenden Erfolg erbracht. Trotz vieler neuer Erkenntnisse bleibt die
zentrale Frage nach den Ursachen der fehlenden Regeneration verletzter ZNS-Nervenzellen zur Zeit
noch ungelöst. Eine zu rasche klinische Umsetzung von experimentellen Therapien hat sehr häufig zu
enttäuschenden Ergebnissen geführt. Trotz dieser Bedenken ist die Hoffnung begründet, in nicht allzu
ferner Zukunft Behandlungskonzepte für Querschnittgelähmte zu entwickeln, welche die motorischen
Funktionen zumindest teilweise verbessern.
116
Biologie und Ethik
Medizinethische Prinzipien nach Beauchamp and Childress
Nach: Beauchamp, T. and Childress, J.F. (1989): Principles of biomedical ethics. Oxford University
Press, New York, Oxford. Inzw. 5. Auflage, 2001
Es handelt sich nicht um 'eherne' Prinzipien, die immer und überall gültig sind und umgesetzt werden
müssen. Vielmehr sind es Leitlinien, die zu einander auch in Konkurrenz stehen oder sich widersprechen können. Es sind die wichtigsten Prinzipien in der heutigen klinischen Praxis und sie stehen
grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander.
Nichtschaden/Schadensvermeidung:
Der Arzt (Krankenschwester, Pfleger etc.) darf dem Patienten keinen Schaden zufügen. In der traditionellen ärztlichen Ethik entspricht es dem Prinzip 'primum non nocere' (zuerst einmal nicht verletzen).
D.h. er soll schädigende Handlungen unterlassen. Häufig gerät dieses Prinzip in Konflikt mit dem Fürsorgeprinzip.
Wohltun/Fürsorgeprinzip:
Der Arzt soll das Wohl des Patienten fördern und dem Patienten nützen. Dies umfasst die Verpflichtung
des Arztes, Krankheiten zu behandeln oder (präventiv) zu vermeiden, Beschwerden zu lindern und das
Wohlergehen des Patienten zu befördern. Im Unterschied zum Prinzip des Nichtschadens ist der Arzt
dazu verpflichtet, aktiv Schäden zu verhindern oder eine Verbesserung der Situation des Patienten herbei zu führen. In der traditionellen Ethik hatte das Fürsorgeprinzip oberste Priorität (Salus aegroti
suprema lex).
Autonomie:
Dieses Prinzip spricht die Selbstbestimmung des Patienten (auch im rechtlichen Sinne) an: Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, die Lebenspläne, Überzeugungen, Ziele und Wünsche des Patienten zu respektieren unabhängig davon, ob er diese teilt, für gut heißen oder auch nur nachvollziehen kann.
Gerechtigkeit:
Dieses Prinzip fordert eine faire Verteilung von Gesundheitsleistungen. Besonders das Gerechtigkeitsprinzip ist bei der konkreten Anwendung kompliziert: Ein wichtiger, noch relativ unbestrittener Satz
lautet: gleiche Fälle gleich zu behandeln (formale Gleichheit). Es wird jedoch sofort kompliziert, wenn
ungleiche Fälle zur Diskussion stehen. Es taucht dann sofort die Frage auf, welche Kriterien für eine gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen ausschlaggebend sind.
Biologie und Ethik
117
Verantwortung:
Nicht zu den spezifisch medizinethischen Prinzipien gehört der Begriff Verantwortung. Er liegt quasi
hinter oder quer zu ersteren.
Der Begriff Verantwortung ist zunächst durch die Beziehungen erfassbar, in denen Verantwortung
steht. Nach Lenk8 (verkürzt) sind folgende Beziehungen notwendiger Bestandteil des Verantwortungsbegriffes:
Wer
verantwortet
Was (Handlung/Tat, Handlungsfolgen...)
Vor Wem (Gewissen, Gericht...)
Nach welchen Kriterien (Gesetze, moralische Normen...)
8
Lenk, H.: Über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der Technik. In H. Lenk/ G.
Ropohl (Hrsg.) Technik und Ethik, Stuttgart 1987, S. 112-148. Übersichtlich dargestellt in Hubig, Christoph: Technik- und Wissenschaftsethik : ein Leitfaden / Christoph Hubig Berlin [u.a.] 1993, S. 69-73.
118
Biologie und Ethik
9.7.2.3. Unterrichtseinheit zur genetischen Diagnostik
1. Kurze Einführung. Dann erstellen die Schüler selbständig ein erstes Mindmap zu dem Begriff genetische Diagnostik. Frage: Wo wird genetische Diagnostik eingesetzt? Der Lehrer / die Lehrerin
schreibt die Begriffe an die Pinnwand/Tafel.
10 min
2. Fachwissen: Genetische Analysemethoden + Einsatzbereiche (die Mindmap wird fortlaufend ergänzt, wenn neue Einsatzbereiche Auftauchen)
-
monogene/polygene Erbkrankheiten: Mukoviszidose, Phenylketonorie, erblich bedingter Brustkrebs, Chorea Huntington, Duchenne Muskeldystrophie, Sichelzellanämie, (Auswirkung, Entstehung, Mutationen etc.)
-
PID/PND (inklusive ethischer Problemfelder) ca. 2h
-
Diagnostik: DNA-Typisierung, Karyogramm; Hybridisierung (PCR); RFLP; FISH, STR;
SNIPS (Material nur in Kopie, s. Ordner)
-
genetischer Fingerabdruck
3. Film GATTACA
90 min
4. Diskussion des Films: Worum geht es, welche Probleme werden angesprochen? Zentrale Begriffe
sollen
bereits
festgehalten
werden
(an
der
Tafel,
auf
Kärtchen...)
Überleitung: von Science Fiktion zur aktuellen Debatte
15 min
5. Bearbeiten der Fallstudie (s. Extra-Datei)
Hausaufgabe + 90 min
6. Diskussion der Ergebnisse, insbesondere im Hinblick auf mögliche Perspektiven eines wünschenswerten Umgangs mit den neuen technischen Möglichkeiten.
Biologie und Ethik
119
Zu den Materialien (Aufgaben, Lösungen und Informationen) zur Fallstudie „genetische Diagnostik“
vgl. Anhang Biologie03.
120
Biologie und Ethik
9.7.2.4. Unterrichtseinheit zur ‚Grünen Gentechnik’
1. Didaktischer Einstieg (Cartoons, Vernissage mit Produkten)
2. Stationenlernen (Pflicht- und Wahlbereiche), die Schüler bearbeiten 8 Fälle insbesondere zur konkreten Technik, zum Einsatzbereich, Risiken und Alternativen
3. Gruppenarbeit: die Schüler arbeiten in Gruppen die 5 Leitfragen an einem selbstgewählten Beispiel
intensiv auf, dazu bekommen sie Material unterschiedlicher 'Färbung' (Internet)
An allen Beispielen zur Gentechnik in der Landwirtschaft sollen, neben dem Erlernen der wissenschaftlich technischen Grundlagen, die folgenden 5 Leitfragen durchgearbeitet werden:
A) Warum gibt es diesen Ansatz überhaupt? (Welche Probleme sollen mit ihm gelöst werden?)
B) Wie erfolgt die technische Umsetzung?
C) Was bringt die Gentechnik zum jetzigen Stand im Hinblick auf die zu lösenden Probleme?
D) Welche Risiken/Probleme sind mit dem Ansatz verbunden? (Welche Problemfelder kommen zur
Sprache?)
E) Gibt es Alternativen und wenn ja, wie würden Sie diese im Vergleich zum gentechnischen Ansatz
bewerten? (Wie sähe, unabhängig von den dargestellten Alternativen, die ideale Lösung des Problems für Sie aus?)
Bearbeitet werden Beispiele zu folgenden Anwendungsfeldern:
•
Herbizidresistenz (Round up)
•
Schädlingsresistenz (BT-Mais)
•
Optimierung von Nutzpflanzen (Golden Rice, FLAVR SAVR)
•
Ertragssteigerung bei Nutztieren (Lachs)
•
Gene farming (pharmazeutische Produkte aus Tiermilch, Film)
•
Phytopharming
Dabei: Material zur Freisetzungsproblematik
4. Plenum: Vorstellen der Gruppenergebnisse, Diskussion
5. Abschlussexkursionen sollten angestrebt werden: nach Hohenheim oder zu BASF. Für eine solche
Abschlussexkursion sollten die Schüler einen Fragebogen vorbereiten (2h)
Zu den Materialien (Aufgaben, Lösungen und Informationen) zur Unterrichtseinheit ‚Grüne Gentechnik’ vgl. Anhang Biologie04.
Physik und Ethik
10.
121
Physik und Ethik
10.1. Ethische Fragen im Physikunterricht
Die Physik gilt als 'Königsdisziplin' der Naturwissenschaften. Warum ist das so? Warum ist das physikalische Denken geeignet, eine "für andere Fächer/Fächerverbünde nutzbare Denk- und Arbeitshaltung
auf[zubauen]"? (Leitgedanken zum Kompetenzerwerb Physik, Bildungsplan 2004: 180). Unstrittig ist
sicher, dass die Physik dem ‚Idealbild’ wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens sehr nahe kommt.
Mit dem Physikunterricht wird wissenschaftlich-rationales Denken und Argumentieren eingeübt und
damit ein spezifischer rationaler Weltbezug grundgelegt (der im Hinblick auf Offenheit und Toleranz
gegenüber anderen Arten des Denkens immer auch kritisch kontextualisiert werden sollte). Im Vorbereitungsdienst könnte eine Reflexion über die Rolle der Physik als Vorbild-Disziplin für alle Naturwissenschaften anschaulich genutzt werden, um Struktur und Methoden der Naturwissenschaften zu verdeutlichen. Damit ist der Reflexionsbedarf auf die Theorie der Physik aber noch nicht abgedeckt. Es gilt
vielmehr, über die Analyse der Denk- und Arbeitsmethoden der Physik zu einem Verständnis der Aussagekraft und der Grenzen physikalischer (und allgemein naturwissenschaftlicher) Konzepte zu gelangen, um die Bedeutung und Wirkung der Naturwissenschaften in der humanen Welt angemessen verstehen zu können. Dabei sollte bewusst werden, dass die Erziehung zu wissenschaftlich-rationalem
Denken andere Formen der Welterschließung ausschließt (oder zumindest zurückdrängt) und als Ziel
keine Selbstverständlichkeit darstellt, sondern begründungsbedürftig erscheint: Das Aufzeigen der
Grenzen physikalischen Denkens beinhaltet den Blick auf das jenseits dieser Grenzen Liegende. Das
Bewusstsein über methodisch bedingte Grenzen der Physik (Reduktionismusproblem! Vergl. Leitgedanken zum Kompetenzerwerb Physik, Bildungsplan 2004, S. 180) ist eine elementare Voraussetzung
für ein ganzheitliches Verständnis des Faches, und für seine Vermittlung mit einem allgemeinbildenden
Anspruch.
"Wichtig ist auch das Verständnis von grundlegenden physikalischen Konzepten und Modellen,
deren Tragfähigkeit ständig hinterfragt werden muss, um die Grenzen physikalischen Denkens
erkennen zu können." (Bildungsstandard Physik, Bildungsplan 2004: 180)
Neben diesen grundlegenden Aspekten spielt auch der Anwendungsbezug der Physik – in ihrer Bedeutung für technische und technologische Entwicklungen unserer Zeit – eine wichtige Rolle im Physikunterricht. Das Eingehen auf den gesellschaftlichen Bezug der Physik sowie die ethische Reflektion darauf soll nicht nur die Kompetenzen der Lernenden im Sinne einer umfassenden Orientierungskompetenz 'in der Welt' stärken, sondern ist darüber hinaus elementarer Bestandteil der Fachdidaktik Physik,
da der lebensweltliche Bezug gerade bei theoretisch anspruchsvollen, abstrakten Fächern eine wichtige
Verständnis- und Motivationshilfe liefert.
"Der Physikunterricht soll so aufgebaut sein, dass die Lernenden in der Lage sind, an der zukunftsfähigen Gestaltung der Weltgesellschaft – im Sinne der Agenda 21 – aktiv und verantwortungsvoll mitzuwirken und im eigenen Lebensumfeld einen Beitrag zu einer gerechten, umweltverträglichen und nachhaltigen Weltentwicklung zu leisten." (Bildungsstandard Physik, Bildungsplan 2004: 180)
Die in Technik transformierten Erkenntnisse der Physik bestimmen in fast allen Lebensbereichen unser
alltägliches Dasein. Auch in ethischer Hinsicht zentral ist in jedem Fall das Thema Energie (versorgung). Hier sind vielfältige und komplexe Bezüge zu unserem gesellschaftlichen und politischen
Handeln gegeben – sei es bei der Frage nach Energieverbrauch und -versorgung der Zukunft, danach,
wie die Mobilität unser Leben bestimmt (zum Guten wie zum Schlechten) oder danach, was physikalisch- technisches Know How mit Globalisierung und Gerechtigkeit zu tun hat. Die Komplexität der
Problemlagen legen in den meisten Fällen eine Kooperation mit anderen Fachlehrern nahe (insbesondere für die Fächer Biologie, Gemeinschaftskunde, Ethik, Religion).
122
Physik und Ethik
10.2. Unterrichtsthemen Physik
Klasse 8:
Theoretische Grundlagen des Faches
Schon in dieser Stufe ist im Bildungsstandard unter Kompetenzen „Physik als Naturbetrachtung unter
bestimmten Aspekten“ verzeichnet (Bildungsplan 2004: 182). Die Schülerinnen und Schüler sollen
„den Unterschied zwischen Beobachtung und Erklärung“ kennen lernen (ebenda). Hier ist schon angelegt, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass die physikalische Erklärung eines Phänomens
eine Möglichkeit unter anderen ist. Die Vermittlung dieser wesentlichen Grundlage zieht sich durch alle
Klassenstufen und wird daher im Folgenden nicht immer erneut thematisiert: Sie ist ein zentraler Punkt
für das Verständnis der Naturwissenschaften insgesamt und kann nicht oft genug deutlich gemacht werden. Wir können z. B. die Vorgänge beim Hören (Inhalt Klasse 8 und 10) physikalisch oder biologisch
beschreiben. Wir können sie aber ebenso gut – aber ganz anders – unter ästhetischen sowie ethischen
Aspekten betrachten und uns fragen, was das Hören für den Menschen bedeutet, was Musik von Lärm
unterscheidet (und an welchen Stellen diese Unterscheidung nie ganz eindeutig zu treffen ist) und warum Menschen unter Lärm leiden (können) ebenso wie unter Stille.
Im Unterricht der Klasse 8 bietet sich darüber hinaus unter dem Oberthema 'Wahrnehmung und Messung' das Thema Farben-Sehen für eine Reflexion auf die Methode und Wirkung naturwissenschaftlicher Rationalität auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit an. Thematisiert werden kann hier die Unmöglichkeit der vollständigen Übersetzung von Messung in Wahrnehmung und umgekehrt. Als Beispiel einer erkenntnistheoretisch völlig anders gelagerten, aber nach wie vor relevanten Möglichkeit der
Erklärung des Farben-Sehens bietet sich Goethes Farbenlehre an.
Anwendungsbezug und Ethik:
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8 können „erste Zusammenhänge zwischen lokalem Handeln
und globalen Auswirkungen erkennen und dieses Wissen für ihr eigenes verantwortungsbewusstes
Handeln einsetzen.“ (Bildungsplan 2004: 182) Hier ist wichtig, dass die Kenntnis der physikalischen
Zusammenhänge nicht hinreicht, um verantwortungsbewusstes Handeln als ein solches zu identifizieren. Sie gibt uns lediglich die Möglichkeit, die Folgen unseres Handelns zu einem gewissen Maße und
nur in einem bestimmten, nämlich physikalisch erfassbaren Bereich abzuschätzen und in unsere Urteilsbildung mit einzubeziehen. Ob die erwartbaren Handlungsfolgen wünschbar, ethisch bedenklich
oder unmoralisch sind, ist hingegen keine Frage, die aus der Physik heraus beantwortbar ist. Schall
(physikalisch) und Lärm bieten sich hier wiederum als gutes Beispiel an, um Zusammenhang wie Unterschied zwischen Wahrnehmung, Messung und (ethischer) Beurteilung deutlich zu machen.
Klasse 10:
Theoretische Grundlagen des Faches
In Klasse 10 rücken verstärkt methodische und wissenschaftstheoretische Fragen in den Blick. Deduktion und Induktion als zentrale Kategorien unserer logischen Schlussfolgerung werden behandelt (Bildungsplan 2004: 184). Man kann sie in der Physik, kaum einführen, ohne auf ihre vielfältigen Bedeutungen in anderen Bereichen – inklusive unseres alltäglichen Urteilens – hinzuweisen (Deduktion und
Induktion in der Logik, vollständige Induktion als mathematisches Beweisverfahren im Gegensatz zur
‚induktiven Methode’ der Naturwissenschaften...). Anhand dieser Kategorien können zentrale Aspekte
von Rationalität im für uns zumeist bestimmenden Sinne erläutert werden.
„Außerdem wissen die Schülerinnen und Schüler, dass naturwissenschaftliche Gesetze und Modellvorstellungen Grenzen haben.“ (Bildungsplan 2004: 184) Eine anspruchsvolle Aufgabe, die in Klasse 10
mit einfachen Schritten angegangen werden kann, indem man z.B. nicht nur Fragen aufzeigt, „die sie
mit Methoden der Physik bearbeiten und lösen können“ (ebenda), sondern gleichzeitig aufzeigt, wie
man erkennt, dass bestimmte Antworten nicht mit Hilfe der Physik gegeben werden können. Dazu gehört es, auch Bereiche (zeitlich, räumlich, thematisch) zu identifizieren, in denen aktuelle physikalische
Modelle keine Gültigkeit beanspruchen dürfen. Mit der Betonung der historischen Entwicklungen in-
Physik und Ethik
123
nerhalb der Physik (Bildungsplan 2004: 184) kann ebenfalls explizit darauf hingewiesen werden, dass
der heutige Kenntnisstand seine Gültigkeit nur so lange behält, bis neue Theorien ‚bessere’ Erklärungsmöglichkeiten bieten. Die Tendenz scheint stark zu sein, den jetzigen Wissensstand doch im Modus von: „früher wussten sie es nicht besser, hatten weniger technische Möglichkeiten, aber heute wissen wir, wie es ist“ darzustellen. In dieser Hinsicht ist auch beim Thema „Modellvorstellungen und
Weltbilder“ (Bildungsplan 2004: 185) zu beachten, dass es nicht nur um „die Grenzen der klassischen
Physik“ gehen kann, will man keine falsche Vorstellungen dessen erzeugen, was physikalische Erkenntnisgewinnung bedeutet. Vielmehr ist die Dynamik des Wissens zu betonen und ebenso die Möglichkeit, dass ehemals Gewusstes verloren gehen kann.
Anwendungsbezug und Ethik:
Beim Thema „Technische Entwicklungen und ihre Folgen“ ist für die Klassenstufe 10 vorgesehen, verschiedene Themen mit Hilfe einer Chancen- und Risikoabwägung zu bearbeiten. Zu den im Bildungsstandard erwähnten Inhalten gehören:
•
Natürlicher und anthropogener Treibhauseffekt
•
Kernspaltung, Radioaktivität
•
Chancen und Risiken weiter technischer Anwendungen
Die Hilfsfragen für eine umfassende Technikfolgenabschätzung (vgl. das Kapitel 11. Chemie, S. 135)
können hier sehr gut angewandt werden, um die Schülerinnen und Schüler zu einer fundierteren Auseinandersetzung hin zu führen als einer simplen Auflistung der Pro- und Kontra-Argumente.
Beispiel Kernenergie:
Nach der Durchführung der technischen Unterrichtseinheiten, in denen bereits Vor- und Nachteile der
zivilen, evtl. auch militärischen Nutzung der Kernkraft einbezogen sein sollten, könnte nachfolgender
Fragebogen an die Schülerinnen und Schüler verteilt werden, der in Einzel- oder Kleingruppenarbeit
beantwortet werden kann und nachher im Plenum diskutiert werden sollte:
-
Warum gibt es die Kernspaltung? (Welche Probleme sollen gelöst werden? Wie kam es zu dieser Entwicklung? Welche anderen Optionen zur Problemlösung wurden vernachlässigt?)
-
Wie erfolgt die technische Umsetzung der Energiegewinnung durch Kernspaltung (evtl. noch
Kernfusion)?
-
Welche Resultate weist die Kernspaltung vor?
1. Im Hinblick auf die zu lösenden Probleme (Energielieferung):
Als Anhaltspunkte zur Beantwortung folgende Begriffe:
-
Kosten (momentan sowie langfristig, d.h. inklusive Atommüll-Entsorgung
-
Zuverlässigkeit
-
Belastungen von Mensch und Umwelt im ‚Normalbetrieb’ (inklusive Endlagerlösungen)
-
Risiken bei kleineren Unglücken oder GAUs
2. Im Hinblick auf andere Bereiche der Atomnutzung (militärisch, wissenschaftlich)
-
Hier können auch Fragen zu internationalen Konflikten adressiert werden, die aus der zivilen
Nutzung der Kernenergie entstehen: Atommächte, Schurkenstaaten, Machtverhältnisse, Gerechtigkeit (evtl. Kooperation mit Gemeinschaftskunde/Politik)
3. Welche Alternativen gibt es und wie sind diese zu bewerten?
-
Im Energiebereich: Kohle, Wind, Wasser, Sonne etc..
-
Im militärischen Bereich: Andere Waffengattungen, Abrüstung, Verlagerung von Kampfkraft
in den Weltraum (aktuelle Entwicklung)
-
In der Wissenschaft (evtl.)
124
Physik und Ethik
Kursstufe:
In der Kursstufe werden die Inhalte der Klasse 10 wieder aufgegriffen und auf einem höheren Niveau
weiter bearbeitet – es sind also ähnliche Themen möglich. Neu hinzu kommt mit der explizit erkenntnistheoretischen und methodenreflexiven Ausrichtung bei der Atom- und Quantenphysik eine qualitativ
neue Dimension der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Natur naturwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens – denn mit diesen Modellvorstellungen werden sie an die Grenzen der theoretischer
Welterklärung und an die aktuellen Diskussionen innerhalb der Physik herangeführt. Hier geht es
durchaus noch um ‚große Fragen’: Kann beispielsweise die Quantentheorie die von Einstein als ‚spukhaft’ angezweifelte Fernwirkung erklären? Innerhalb dieser großen Fragen werden nicht nur explizit ethische Probleme verhandelt, wie der freie Wille des Menschen. Hier sind auch schwierige ontologische
und erkenntnistheoretische Themen zu bearbeiten, etwa die Frage nach der Möglichkeit von Teilchen,
überhaupt Eigenschaften zu haben (wenn sie nicht gemessen werden). Würfelt Gott doch? Lautet die
aktuelle Gegenfrage zu Einsteins These.1
1
Mark Buchanan, 2005.
Physik und Ethik
125
10.3. Ethisch-philosophische Themen im Physikunterricht – exemplarische
Entwürfe
Berge, Otto Ernst: Zauberei und Physikunterricht, in: Naturwissenschaften im Unterricht Physik
1998/9 S.8ff.
Der Artikel versucht, das physikdidaktische Potential des Zauberns als „altehrwürdiger Zweig der angewandten Physik“ genauer auszuleuchten. Dazu werden in einem ersten Schritt die pädagogischen Ziele des Zauberns erläutert. Dann werden verschiedene Hinweise und Literaturverweise zur erfolgreichen
praktischen Durchführung von Zaubertricks im Unterricht gegeben und an Unterrichtsbeispielen erläutert.
Born, Gernot: Physikalische Modelle im Mittelalter, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in
der Schule 2000/49/3 S.11ff.
Der Artikel skizziert Stand und Entwicklung physikalischen Wissens im Mittelalter anhand verschiedener Beispiele, wie z.B. der sich verändernden Anschauung davon, was Licht sei. Dazu wird die Rolle
von Orden und Klöstern als „Zentren der Wissenschaft“ mit immenser Bedeutung für die Forschung
aufgezeigt. Danach wird die mittelalterliche Forschung zum Phänomen des Magnetismus beleuchtet.
Abschließend wird die mittelalterliche Naturwissenschaft als vermeintliches Gegensatzpaar „Kosmische Welt“ und „Irdische Welt“ charakterisiert und noch einmal auf die Dominanz des physikalischen
Weltbildes des Aristoteles im Mittelalter eingegangen.
Brechel, Renate: Wo ist das Spiegelbild?, in: Physik in der Schule 1999/37/4 S.229ff.
Der Artikel beschreibt eine empirische Untersuchung (am Untersuchungsgegenstand „Spiegelbild“)
hinsichtlich des didaktischen Nutzens von Bildschirmexperimenten im Physikunterricht im Gegensatz
zu den dort bislang vorherrschenden Realexperimenten. Dazu wird ausführlich der Versuchsaufbau
dargestellt. Aus dem Versuch wird gefolgert, dass sowohl Bildschirm- als auch Realexperiment durchführbar seien und gewisse positive Effekte erzielten. Allerdings wird auf die Gefahr der Manipulierbarkeit der Darstellung der Wirklichkeit in Bildschirmexperimenten hingewiesen und gezeigt, dass Schüler
diesen oftmals sehr unkritisch gegenüber stünden, was didaktisch zu beachten sei.
Brockmeyer, Heinrich: Newtons Versuche fallender Kugeln in Wasser und Luft – experimentell
nachvollzogen, in: Physik in der Schule 1998/36/9 S.299ff.
Der Artikel beschreibt Newtons Versuche fallender Kugeln in Wasser und Luft aus dem zweiten Band
seiner PRINZIPIA und vollzieht sie experimentell nach.
Cavelius, Emil: „Galileis Fahrbahn“, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule
2002/51/3 S.45ff.
Der Artikel erläutert ein Experiment für den Physikunterricht, mittels welchem – analog zu Galileis ersten Versuchen zum freien Fall – beschleunigte Bewegung (jedoch im Gegensatz zum üblichen Prozedere ohne elektronische Hilfsmittel) untersucht werden kann.
126
Physik und Ethik
Embacher, Franz; Müller, Rainer; Stadler, Helga; Weihs, Gregor: Paradoxien erkennen – Quantenphysik in der Schule, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 2000/49/8
S.15ff.
Der Artikel stellt zwei Möglichkeiten dar, zentrale Überlegungen zur Quantenphysik anschaulich im
Physikunterricht zu vermitteln. Zuerst wird ein Unterrichtsbeispiel skizziert, in welchem die Schüler in
Arbeitsgruppen die in der Science-Fiction-Literatur prominente Teleportation („Beamen“) untersuchen
und damit die „Grenzen der Makrowelt“ aufgezeigt bekommen. Anschließend wird das „Quantenspiel“
erläutert, welches „einen spielerischen Zugang zu einer der Grundfragen der QM [Quantenmechanik],
der Verschränktheit quantenmechanischer Zustände“ ermöglicht.
Euler, Manfred: Einsicht und die Metamorphosen innerer Bilder, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 2000/49/4 S.10ff.
Kurzfassung aus PdN-Ph: „Der Beitrag diskutiert die Forderung nach einer Verbesserung der Aufgabenkultur im Physikunterricht unter der Zielperspektive einer Förderung von Einsicht und Verständnis.
Dabei steht die Rolle von intuitiven Bildern, ihren dynamischen Wandlungsprozessen und ihrer Reflexion im Vordergrund. Die wichtige Bedeutung bildgetriebener geometrischer Einsichten wird aus der
Sicht der Kognitionspsychologie und der Physikdidaktik anhand von Beispielen aus dem bereich der
Mechanik exemplarisch untersucht. Eine Reflexion der Tragfähigkeit mechanischer Intuition im Bereich der Dynamik komplexer Systeme schließt den Artikel ab.“
Hilligus, Annegret; Euler, Manfred: Die unendlich eingefaltete Welt, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 1998/47/8 S.37ff.
Kurzfassung aus PdN-Ph: „Der Ansatz, geistige Prozesse mit dynamischen Systemen zu modellieren,
wird aus der Sicht der Leibnizschen Philosophie erörtert, und mit Passagen seiner „Monadologie“ in
Verbindung gesetzt. Der Beitrag soll die Anwendung der Physik komplexer Systeme im Bereich der
biologischen Informationsverarbeitung einer kritischen Reflexion unterziehen und zu einem Brückenschlag zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen bei der Diskussion über Gehirn und
Geist anregen. Leibniz ist in diesem Zusammenhang noch immer von einer erstaunlichen Aktualität.“
Hund, Wolfgang: „Zaubern“ kann jeder! Zaubern kann keiner!, in: Naturwissenschaften im Unterricht Physik 1998/9 S.19ff.
An Beispielen aus der eigenen Erfahrung des Autors sowie aus den Massenmedien wird gezeigt, dass
die bloße Aneignung physikalischen Wissens nicht unbedingt mit einem Transfer zur praktischen Anwendung des Lerninhaltes einhergehen muss. Um diesen Transfer zu erleichtern, dürfe insbesondere
das „Staunen“ – also die emotionale Komponente des Lernens – nicht vernachlässigt werden. Insbesondere geht der Autor auf die Entzauberung angeblich übernatürlicher Phänomene als physikalische Erscheinungen ein und versucht so, die Wichtigkeit eines problemorientierten Unterrichts zu verdeutlichen. Anschließend skizziert er einen möglichen Versuch als Beispiel eines solchen Unterrichts.
Koch, Martin: Jenseits des historischen Determinismus, in: Physik in der Schule 1998/36/12
S.432ff.
Im Artikel wird die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung von komplexen System – sozialen wie naturwissenschaftlichen – verdeutlicht. Dies wird speziell am Beispiel des Zusammenbruchs der DDR gezeigt, welcher Marx’ historischen Determinismus empirisch widerlegte. Der Autor verdeutlicht den
wissenschaftstheoretischen Paradigmenwechsel vom ‘Laplaceschen Dämon’ der allumfassend existierenden und planvoll wirkenden Intelligenz zur Chaostheorie. Er verdeutlicht, dass chaotische Effekte in
der Natur bereits erforscht seien, die Theorie des ‘sozialen Chaos’ sich aber bislang noch nicht durch-
Physik und Ethik
127
setzen konnte und nach wie vor zahlreichen Einwänden (aus dem natur- wie auch aus dem sozialwissenschaftlichen Lager) ausgesetzt sei. Abschließend wendet er dann beispielhaft die Theorie des ‘sozialen Chaos’ am Beispiel der Wende an und kommt zum Schluss: „Geschichte ist soziale Evolution und
damit offen und unberechenbar.“
Koch, Martin: Von der geschlossenen Welt zum evolutionären Universum, in: Physik in der
Schule 2000/38/2 S.122ff.
Der Artikel beschreibt anhand der Freud’schen ‘Kränkungen des Menschen’, wie das verklärte Selbstbild des Menschen durch wissenschaftliche Entdeckungen historische Brüche erlebte und auch heute
noch erlebt. Dabei werden zu den ‘klassischen Kränkungen’ durch Kopernikus, Darwin und Freud noch
weitere hinzugefügt: die ökologische Kränkung, die ethologische (bzw. verhaltensbiologische) Kränkung , die epistemologische (bzw. evolutionär erkenntnistheoretische) Kränkung sowie die Kränkung
durch den dem Menschen überlegen scheinenden Computer. Der Autor kommt zum Schluss, dass wissenschaftliche Entwicklungen so lange vom Menschen als Bedrohung angesehen werden, bis dieser
aufhört, „sich über die Natur zu erheben, anstatt sich als Teil von ihr zu begreifen.“
Kreß, Kurt: Energieversorgung als Thema eines problemorientierten Physikunterrichts, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 1998/47/1 S.21ff.
Der Artikel widmet sich der Energieversorgung als Gegenstand im Physikunterricht und betont, dass
sich dieses Thema – entgegen seiner bislang marginalen Rolle in den Lehrplänen – ausgezeichnet eigne,
„die Bedeutung der Physik für unser Leben aufzuzeigen und dadurch auch bei den weniger interessierten Schülerinnen und Schülern Interesse zu wecken.“ Dazu wird beispielhaft der Treibhauseffekt und
die damit zusammenhängenden CO2-Emissionen durch Energieversorgung thematisiert. So wird in einem ersten Schritt der Zusammenhang zwischen Kohlendioxid und Klima verdeutlicht. Anschließend
werden dann verschiedene Möglichkeiten der CO2-Reduktion (durch Kernenergie, durch Effizienzsteigerung, durch Nutzung der Sonnenenergie) aufgezeigt.
Kuhn, Wilfried: Das didaktische Potenzial der Physikgeschichte, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 2000/49/3 S.30ff.
Ausgehend von der Annahme, das Physik nur im historisch-wissenschaftstheoretischen Kontext vollständig zu verstehen sei, thematisiert der Artikel die Bedeutung des didaktischen Potenzials der Physikgeschichte im Gegensatz zur bisherigen dürftigen Nutzung dieses Potenzials. Dazu wird in einem ersten
Schritt auf die didaktische Relevanz der „historischen Methode“ eingegangen. Anschließend wird anhand von Beispielen die Herausbildung der physikalischen Methode „als geistesgeschichtliches Ereignis ersten Ranges“ verständlich gemacht und weitergehend erläutert. Nachfolgend wird dann die Rolle
wissenschaftlicher „Revolutionen“ oder „Brüche“ diskutiert. Nach einem Exkurs zu konzeptionellen
Analogien widmet sich der Artikel der sogenannten Realismusdebatte und schließlich dem VieleWelten-Konzept als methodologische Analogie. Der Autor kommt abschließend zum Fazit, dass die
Physikgeschichte zum Verstehen von Physik große Relevanz besitze.
Leisen, Josef: „Hausphilosophien“ im Unterricht, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/8 S.472ff.
Der Artikel betont, dass es keinen Unterricht ohne Wissenschaftstheorie gibt. Auch Lehrer, die nach eigener Meinung nur ihr Fach unterrichten, verfügen über grundlegende wissenschaftstheoretische Überzeugungen, sogenannte „Hausphilosophien“, welche ihren Unterricht maßgeblich bestimmen. Deshalb,
so die Aussage, muss es darum gehen, solche wissenschaftstheoretischen Überzeugungen zu reflektieren und zu explizieren. Die Hausphilosophien werden nachfolgend an fünf Beispielen („Das Ohm’sche
128
Physik und Ethik
Gesetz“, „Wärme und Atome“, „Die Atome“, „Und noch einmal: Die Atome“, „Die Wahrscheinlichkeitswelle“) verdeutlicht. Anschließend wird dann eine Übersicht über die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Positionen (Induktivismus, Positivismus, Logischer Empirismus, Falsifikationismus, Raffinierter Falsifikationismus, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Anything goes, Konstruktivismus) gegeben.
Linz, Dieter: Katastrophentheorie, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht
2001/54 S.75ff.
Der Artikel widmet sich der Katastrophentheorie (welche Systeme untersucht, „die sich – in Abhängigkeit von Parametern – in den meisten Fällen stetig verhalten, jedoch manchmal ein sprunghaftes Verhalten zeigen“) und der Vermittlung ihrer Aussagen. Dazu werden zwei Beispiele, von denen eines auch
zur Verwendung im Unterricht empfohlen wird, erläutert und schließlich in einer allgemeinen mathematischen Formel einer Katastrophentheorie dargestellt.
Loos, Andreas; Schneider, Werner B.: Von „heimlichen Würkungen“ der Natur, in: Naturwissenschaften im Unterricht Physik 1998/9 S.43ff.
Der Artikel beschreibt anhand Beispielen aus historischen ‚Zauberbüchern’ verschiedene physikalische
Zaubertricks und deren Funktionsweise.
Merzyn, G.: Sprache und naturwissenschaftlicher Unterricht, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in der Schule 1998/47/2 S.1ff.
Der Artikel stellt eine Sammlung von zehn Thesen zum Thema „Sprache und naturwissenschaftlicher
Unterricht“ dar. Dabei wird vor allem auf die didaktische Dimension eingegangen.
Meyling, Heinz; Niedderer, Hans: Wissenschaftstheoretische Reflexion im Physikunterricht der
Sek. II, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/8 S.463ff.
Der Artikel erläutert zunächst drei grundlegende Prinzipien eines expliziten wissenschaftstheoretischen
Unterrichts innerhalb des Physikunterrichts (Vorverständnis der Schüler, wissenschaftstheoretische Reflexionen als integraler Bestandteil des Physikunterrichts, Pluralität). Danach wird für den 11. (Verschiedenartige Begriffsbildung in Lebenswelt, Technik und Physik – am Beispiel des Kraftbegriffs im
Mechanikunterricht) und 13. Jahrgang (Einsteins Brief an Solovine – das hypothetisch-deduktive Verfahren am Beispiel der Relativitätstheorie) je ein Unterrichtsbeispiel eines solchen Unterrichts aufgezeigt. Abschließend werden dann mögliche Ergebnisse des expliziten wissenschaftstheoretischen Unterrichts skizziert.
Oetken, Marco; Reiners, Christiane S.: „Die Basis schwankt“, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/8 S.476ff.
Der Artikel beschäftigt sich zunächst mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Naturwissenschaft Chemie, wobei insbesondere auf Ausführungen Poppers eingegangen wird. Anschließend werden
anhand dreier Beispiele kurze Anmerkungen zur theoriegeleiteten Beobachtungen im Alltag gemacht
und gefolgert: „Diese Beispiele können die Annahme POPPERS stützen, dass auch unsere alltägliche
Wahrnehmung durch Erwartungen imprägniert ist und von Theorien geleitet wird.“ Danach wird, erneut
in Bezug auf Popper, auf die theoriegeleitete Beobachtung in der Wissenschaft eingegangen und insbesondere die Bedeutung des Kriteriums der Falsifizierbarkeit sowie der objektiv kritischen Prüfung betont. Abschließend werden dann theoriegeleitete Beobachtungen im Unterricht thematisiert und an Bei-
Physik und Ethik
129
spielen verdeutlicht, sowie Schlussfolgerungen für die Vermittlung eines wissenschaftsgerechten Verständnisses von Chemie im Unterricht gezogen.
Pospiech, Gesche: Gespräch über Quantentheorie, in: Praxis der Naturwissenschaften/Physik in
der Schule 2000/49/8 S.32ff.
Mittels eines beispielhaften Dialoges zwischen Vertretern dreier Weltbilder (Parmenides für die Antike,
Kant für das neuzeitlich-mechanistische Weltbild, sowie ein Quantenphilosoph) versucht der Artikel
hinsichtlich des Verständnisses der Quantentheorie, „eine Beziehung zwischen den physikalischen Phänomenen und ihrer philosophischen Relevanz herzustellen“. Dabei werden separat die Themen „Sein,
Werden und Realität“, „Klassische Physik und Quantenphysik“, „Anschaulichkeit, Objektivität und
Subjektivität“, „Der Messprozess“ sowie „Methode der Physik und Erkenntnis“ diskutiert.
Rosenthal, Erwin: Problemlösen und Werten – zu ihrer Dialektik im Physikunterricht, in: Physik
in der Schule 1998/36/6 S.207ff.
In dem Artikel wird nach den schlechten Ergebnissen in Studien zur Wissensvermittlung des Schulunterrichtes die Frage gestellt, welche Veränderungen – inhaltlich als auch didaktisch-methodisch – auch
im Physikunterricht notwendig seien. Dazu wird ein Unterrichtsentwurf mit den Schritten „(a) Das
Schaffen einer Problemsituation“, „(b) Das Artikulieren des der Problemsituation immanenten Problems“, „(c) Die Problembearbeitung“ sowie „(d) Die Diskussion und die Bewertung des Ergebnisses“
präsentiert. Als Grund für die schlechten Leistungen der Schüler bei den Studien werden vom Autor unter Anderem die Tendenz zum „laissez-faire-Unterricht“ und nachlassende Leistungserwartung gegenüber den Schülern genannt. Im Gegensatz zu dieser Form der den Schülern gewährten Handlungsfreiheit verlangt er eine stärker fordernde Erziehung mit dem Ziel einer Herausbildung nicht nur von Handlungs- sondern auch von Entscheidungsfreiheit – also die Ausstattung der Schüler mit Informationen,
welche echte Handlungsfreiheit erst ermögliche. Dabei wird insbesondere die Rolle der Werterziehung
betont. In der Frage der Unterrichtsform befürwortet der Autor anschließend den Frontalunterricht (aufgrund der Synergieeffekte des Klassenverbandes) gegenüber dem Unterricht in Mikrogruppen, wobei
eine Chancengleichheit garantiert werden soll, es jedoch nicht zu einer Nivellierung der Schülerleistungen kommen dürfe.
Rosenthal, Erwin: Heureka!, in: Physik in der Schule 2000/38/1 S.7ff.
Der Artikel fokussiert das Wahrheitsproblem im Physikunterricht zunächst allgemein mittels der Frage
„Was ist Wahrheit?“ bzw. anhand Kants Frage „was kann ich wissen?“. Die Bedeutung dieses Komplexes wird aufgezeigt, indem die Rolle des naturwissenschaftlichen Unterrichts als Anbieter von Denkmustern auch für andere Bereiche des Lebens verdeutlicht wird. Anschließend werden verschiedene
Methoden (induktive Methode, deduktive Methode, historisierendes Vorgehen, Praxis als Kriterium der
Wahrheit, andere Beweisverfahren [Konsenstheorie, Limes-Beziehung, Kohärenztheorie]) der Verifikation aufgestellter Behauptungen im Physikunterricht dargestellt sowie deren Vor- und Nachteile verdeutlicht.
Aus der Annahme, das Ziel des Schulunterrichts sei die Vorbereitung der SchülerInnen auf das praktische Handeln, folgert der Autor, das die eventuelle Beantwortung der ersten Frage noch nicht ausreichend sei und die Kant’sche Frage „was soll ich tun?“ von zentraler Bedeutung sei. Dazu referiert er die
unterschiedlichen Haltungen zum Problem, ob Wissenschaft Werte/Moral inkorporieren kann (Kognitivisten) oder nicht (Nonkognitivisten), d.h. ob moralische Sätze wahrheitsdefinierte Propositionen enthalten oder nicht. Diesen Streit beantwortet der Autor für Lehrer kognitivistisch: Schließlich ist es ihr
Ziel, an der moralischen Urteilsfähigkeit von Schülern zu arbeiten, was andernfalls ein aussichtsloses
Unterfangen wäre.
130
Physik und Ethik
Rückl, Eckhard: Stromproduktion, Brennstoffverbrauch, Abfallaufkommen und seine Entsorgung, in: Physik in der Schule 1999/37/6 S.415ff.
Der Artikel betont zunächst die Bedeutung der Erkenntnis des Zusammenhangs von Energie und Stoffumwandlung (welche bislang zumeist getrennt in den Fächern Physik und Chemie behandelt wurden)
für die Herausbildung eines umfassenden Umweltverständnisses. Dazu bietet er ein Unterrichtskonzept
in Form einer beispielhaften Vergleichsrechnung zwischen nuklearen und fossilen Energieträgern im
Falle einer 4-köpfigen Familie an. Dabei wird deutlich, dass eben nicht nur – wie oftmals im öffentlichem Diskurs zur Thematik – Energie eine Rolle spielt, sondern „[...] dass wir eben kein Energie- wohl
aber ein Entropieproblem hatten, haben und auch in Zukunft haben werden“. Dies wird insbesondere im
Hinblick auf die (hinsichtlich ihres Ressourcenaufwandes durch Baumaßnahmen und Abfallaufkommen) kritisch zu betrachtenden Charakterisierungen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen als
„regenerative Energiequellen“ betont, welche didaktisch zu bedenken seien. Der Autor kommt zum
Schluss, dass der Entropiebegriff „der entscheidende naturwissenschaftliche Basisbegriff“ sei, welcher
im Chemie- und Physikunterricht verstärkt Einzug halten müsse, um ein umfassendes naturwissenschaftliches Grundverständnis zu vermitteln und damit eine naturwissenschaftliche Bildung zu ermöglichen.
Schaaf, Michael: Vom Kernmodell zur Atombombe, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/4 S.196ff.
Der Artikel beschäftigt sich mit dem Physiker Werner Heisenberg und dessen wissenschaftlicher Arbeit
sowie insbesondere mit seinem Verhalten während des Dritten Reiches und dem „Mythos von der deutschen Atombombe“.
Schlichting, H. Joachim: Zaubern, Entzaubern, Wiederverzaubern, in: Naturwissenschaften im
Unterricht Physik 1998/9 S.4ff.
Der Artikel zeichnet die buchstäbliche Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften und insbesondere durch die Physik nach, geht dabei aber auch auf die grundlegende Bedeutung eben jener
Zauberei (nämlich das Erwecken von Wissensdrang) für die spätere Entwicklung der Naturwissenschaften ein. Dies wird an mehreren Beispielen verdeutlicht. Anschließend wird die danach Frage gestellt,
welche Nachteile eine Entzauberung (bspw. in Form einer Ernüchterung) inkorporiere. Abschließend
plädiert der Autor für ein gleichzeitiges Entzaubern von Phänomenen im Physikunterricht Hand in
Hand mit einem Wiederverzaubern (sprich: begeistern) der Schüler für die physikalische Rätsel und
Mechanismen dieser Welt.
Schneider, Heinrich; Floderer, Manfred: Kann der Computer alles besser?, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/5 S.277ff.
An einem mathematischen Beispiel (Gesetzmäßigkeiten bei pythagoreischen Tripeln) für den Unterricht
wird gezeigt, „dass der Computer zwar ein nützliches Hilfsmittel ist, aber die theoretische Durchdringung von Problemen nicht ersetzen kann“.
Seifert, Silke; Fischler, Helmut: Unterricht über Modelle, in: Physik in der Schule 2000/38/6
S.388ff.
Die Autoren zeigen ein zentrales Problem des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf: Die mangelhafte
Unterscheidung zwischen Modell und Realität durch die Schüler. So zeigen sich bspw. im Bereich der
Teilchenmodelle „alle Schwierigkeiten beim Lehren und Lernen an und mit Modellen vereint.“ Trotz
der immensen Bedeutsamkeit erfassen viele Schüler die Thematik nicht oder nicht angemessen: „Ist das
Physik und Ethik
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Teilchenmodell erst einmal naive Wirklichkeit, so fällt es den Schülern schwer, die Eigenschaften des
Teilchenmodells noch für ein Gedankenkonstrukt zu halten.“ Den Schülern und Schülerinnen scheint
also die hypothetische Natur der Teilchenmodelle nicht bewusst zu sein. Dieses Fehlverständnis der Natur der Modelle scheint zudem mit der fälschlichen Übertragung makroskopischer Attribute auf die
submikroskopischen Teilchen zusammenzuhängen.
Als Lösung für dieses Problem wird die „Betonung einer ausführlichen, metakonzeptuellen Reflexion
über die Kennzeichen von Erlebnis- und Modellwelt“ vorgeschlagen, um die Herausbildung von Fehlvorstellungen zu verhindern und ein „Verstehen der Andersartigkeit der Mikroobjekte“ zu ermöglichen.
Dieses Konzept wird in Form eines Workshop-Ansatzes von den Autoren weiter ausformuliert. Die
Durchführung eines solchen Unterrichts soll demnach fortschreitend evaluiert werden.
Witzleben, Frank: Helfen wissenschaftstheoretische Fragen beim Verständnis der Naturwissenschaften?, in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht 2002/55/8 S.452ff.
Der Artikel widmet sich zwei Fragen: „Welche Vorstellungen von Wissenschaft bestimmen >im Normalfall< den naturwissenschaftlichen Unterricht?“ und „Welche wissenschaftstheoretischen Kenntnisse
und Überlegungen können im naturwissenschaftlichen Unterricht für das Verständnis des Faches und
seiner Forschungsprobleme von Nutzen sein?“ Dazu werden zunächst Grundsätze von Methodologie
und Erkenntnistheorie sowie die Bedeutung von „Verstehen“ in den Naturwissenschaften dargelegt.
Anschließend wird genauer auf die Bedeutung der erkenntnistheoretischen (v.a. in Bezug auf Kant) sowie der wissenschaftstheoretischen Dimension eingegangen, wobei letztere ausführlich anhand von fünf
Fragen (Welche Rolle spielt die logische Form von Theorien? Wie ist der Zusammenhang von Alltagserfahrungen und wissenschaftlich-experimenteller Erfahrung zu denken? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Beobachtung [Empirie] und Erklärung [Theorie]? Wie und wodurch ändern sich Theorien? Woran bemessen wir wissenschaftlichen Fortschritt?) erläutert wird. Der Autor kommt abschließend zur Folgerung: „Die Art und Weise, wie Wissenschaftstheorie Fragen von Erkenntnis und Wahrheit thematisiert, hat sehr viel mit den allgemeinen Formen des Lernens zu tun. Das Lernen als kreatives, modellbildendes Denken der Schüler und die Erkenntnisgewinnung in den Wissenschaften können
so in größere Nähe zueinander gerückt werden.“
Wünsch, Steffen: Verantwortungsvoll handeln – Solarenergie nutzen!, in: Naturwissenschaften
im Unterricht Physik 2001/12 S.137ff.
Der Artikel beschreibt das Projekt „SONNEonline“ (eigenständiger Aufbau, Betrieb und Datenauswertung einer Solaranlage) an der Hauptschule Vienenburg. Dazu werden vor allem technische Angaben
der Durchführung und die Rolle der Schüler im Projekt erläutert.
132
11.
Chemie und Ethik
Chemie und Ethik
11.1. Ethische Fragen im Chemieunterricht
Die Chemie – solange es nicht um Biochemie geht – erscheint zur Zeit als eine eher wenig beachtete
Disziplin. Man hat das Gefühl, die Zeit der großen Fragen in der Chemie sei vorbei und es gelte vor allem, mit der Chemie das Handwerkszeug für die chemisch-technisch-industrielle Nutzung zu verbessern. Vor allem in der Schule scheinen die fortlaufenden wissenschaftlichen Entwicklungen kaum eine
Rolle zu spielen – zu speziell die Forschungsfragen, Paradigmenwechsel gab es schon länger nicht
mehr, das Gerüst steht, wir können damit arbeiten. Aber die bloße Anwendung und Verfeinerung des
bereits Gewussten weckt in der Regel schwerlich Forscherlust. Spannend wird es vor allem dann, wenn
nicht klar ist, ob und wie etwas – ein Stoff, eine Reaktion – mit chemischen Kategorien befriedigend erfassbar ist, wenn beobachtbare Reaktionen die Grenzen des chemischen Erklärungsrepertoires strapazieren. Im Unterricht ist dies zumindest didaktisch annähernd dadurch zu erreichen, dass man Schülerinnen und Schüler die historische Entwicklung der Entdeckung der Moleküle nachvollziehen lässt – als
aufregende Suche, die einem Fischen im Ungewissen gleicht und in der der Forschende immer wieder
im Zweifel darüber ist, welche Antworten die jeweils gewählten Methoden erbringen. Auch im Unterricht Chemie der Mittel- und besonders der Oberstufe kann, ähnlich wie in der Physik, über die spezifische Erklärungsleistung der Chemie und deren Grenzen erkenntnistheoretisch nachgedacht werden –
um auch hier deutlich zu machen, dass niemals alles schon gewusst ist, dass die Theorie als solche immer wieder hinterfragt werden kann und in Bezug zu anderen Formen der Beschreibung unserer Welt
ihren Platz in jedem Einzelfall behaupten muss.
Die Chemie hat, spätestens seit den grotesken Ausmaßen, die die Umweltverschmutzung seitens der
chemischen Industrie in den 60er und 70er Jahren angenommen hatte, einen schlechten Ruf anhaften.
Chemie, erst recht im industriellen Maßstab, wird meist mit vergifteten Flüssen, Seen und stinkender
Luft assoziiert. Dass heute bei der Entwicklung und Verwendung chemischer Substanzen im großen
Maßstab andere Qualitätsanforderungen gelten – insbesondere an Umwelt- und Gesundheitssicherheit,
sowie Abgas-, Abfall- und Abwasserentsorgung – ist Folge der heftigen Reaktionen auf den Anfangs
(auch von der Bevölkerung geteilten!) ungehemmten Produktionsrausch. Es erscheint notwendig, auch
diesen Teil der Geschichte der Chemie, gerade in Deutschland, explizit in jegliche Reflexion einzubeziehen um auf kritischem Boden die Ambivalenz der kommerziellen Nutzung der Chemie angemessen
thematisieren zu können. Erst mit dem Blick auf die Schattenseiten der gesellschaftlichen Bedeutung
der Chemie wird eindrücklich verständlich, dass unser Festhalten an ihr – eben trotz der ‚schlechten Erfahrungen’ – auch ein Zeichen dafür ist, „dass die Anwendungen chemischer Kenntnisse erheblich zur
Lebensqualität und zum gegenwärtigen Lebensstandard beitragen.“ (Bildungsstandard Chemie, Bildungsplan 2004: 194)
11.2. Unterrichtsthemen Chemie
Klasse 10:
In Klasse 10 sind Säuren und Basen ein zentrales Thema. Anhand der Klassifikation von wässrigen Lösungen in verschiedene pH-Bereiche lassen sich viele Phänomene in der Natur plausibel auf die diesbezüglichen Eigenschaften von Flüssigkeiten zurückführen. Die Schülerinnen und Schüler sollen „an einem ausgewählten Stoff schädliche Wirkungen auf Luft Gewässer oder Boden beurteilen und Gegenmaßnahmen aufzeigen [können];“ (Bildungsstandard Chemie 2004, S. 197). Dies kann beim Thema
Säure-Basen gut an dem viel diskutierten Phänomen des sauren Regens illustriert werden. Dabei erscheint es wichtig, auch hier die Unsicherheiten der wissenschaftlichen Analysen in Bezug auf Ursache
und Wirkung von Waldsterben, sauren Seen in Skandinavien etc. deutlich zu machen. Bei den Fernwirkungen der Industrieabgase in der Natur Skandinaviens sind die Erkenntnisse als relativ sicher einzustu-
Chemie und Ethik
133
fen. Die vermutlich komplexen Ursachen des vermehrten Baumsterbens sind aber immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Ziel ist es, den Schülerinnen und Schüler immer wieder klar zu machen, dass wir nicht alle Effekte unseres Handelns (hier im Rahmen der Chemie) erkennen können, was insbesondere für neue Verfahren und Stoffe gilt. Wir können nur versuchen, im Rahmen der uns bekannten Aspekte, neue Techniken auf bestimmte Gefahrenpotentiale zu untersuchen.
Viel wissenschaftliche Arbeit, besonders im Bereich Biologie/Ökologie, wird nach wie vor in die Erforschung der Wirkung von chemischen Produkten gesteckt, die schon lange bekannt und auf dem Markt
sind. Ein Beispiel wären hier die Anreicherung von PCB (polychlorierte Biphenyle) in der Nahrungskette und die, so wird vermutet, schwere Auswirkungen auf die Fortpflanzung bei höheren Säugern haben (verstärkte Fehl- und Missgeburten vor allem bei Eisbären und Robben, aber auch bei den Bewohnern Grönlands, da insbesondere die Muttermilch stark mit PCB angereichert ist). Hierzu können im
Unterricht relativ aktuelle Dokumentationsfilme gezeigt werden (z.B. Alarm in der Arktis,
Deutsch/Dänische Dokumentation 2004, gezeigt bei Phoenix, 26. Juni 2005).
Ein weiteres Thema sind die Alkohole. Im Rahmen dieser Unterrichtseinheiten sollen die Schülerinnen
und Schüler mit den „Gefahren des Alkohols als Suchtmittel“ vertraut gemacht werden. „Sucht und
Drogen“ ist ein ausgesprochen vielschichtiges, kultursoziologisch, philosophisch, medizinisch, psychologisch etc. diskutierbares Phänomen, dass daher auch in unterschiedlichen Schulfächern angesprochen
wird. Wichtig ist es, auch im naturwissenschaftlichen Unterricht auf diese Komplexität hinzuweisen
und damit ernst zu nehmen, dass wir uns eben nicht allein von naturwissenschaftlich-medizinischen
Argumenten leiten lassen. Der Umgang mit Drogen, selbst der ‚übermäßige’ (was zu definieren im Einzelnen umso schwerer wird, je genauer man nachfragt), kann nicht schlechthin als ‚unvernünftig’ dargestellt werden, da zumindest ihre kulturelle Bedeutung nicht zu leugnen ist – die meisten Schüler werden
jedenfalls von einer einfachen biologisch-medizinischen Begründung nicht überzeugt werden können.
Die Balance zu finden zwischen der als Lehrer oder Lehrerin zu leistenden Präventionsarbeit und einer
angemessenen Differenziertheit in der Problemerfassung ist eine besondere Herausforderung, die eine
je neue, situationsspezifische Abwägung erfordert, da sie sowohl vom Alter der Schüler als – sicher
auch – von der jeweiligen Klassenzusammensetzung abhängig ist. (siehe dazu auch Unterrichtsthemen
Biologie)
Kursstufe:
Theoretische Grundlagen des Faches
Mit dem ersten Schwerpunkt ‚Moleküle des Lebens’ weist der Bildungsstandard Chemie einen Themenbereich aus, der sich hervorragend eignet, um einige grundlegende Zusammenhänge, in denen das
Fach Chemie steht, zu vermitteln. Chemie spielt nicht nur eine Rolle, wenn es um ‚Plastik und Gift’
geht, mit Hilfe chemischer Kategorien erklären wir uns einen Großteil der stofflichen Beschaffenheit
sowie von Reaktionsprozessen in der belebten Welt bis hin zu komplexen Verhaltensweisen höherer
Wirbeltiere (einschließlich des Menschen). Dementsprechend sind fast alle Bereiche der Biologie ohne
chemische Grundkenntnis (oder jeweilige Detailkenntnis) nicht zu verstehen. Die Vorstellung von der
chemischen Zusammensetzung der DNA hat die biologische Forschung revolutioniert – und beeinflusst
im Nachzug unsere soziale Wirklichkeit enorm. Viele Themen lassen sich hier in wissenschaftstheoretischer bzw. -historischer oder -soziologischer Hinsicht diskutieren. Insbesondere Schülerinnen dürfte die
Diskussion um die historische Entwicklung, die zur schlussendlichen Präsentation der Molekülstruktur
der DNA führte, interessieren, denn die Verleihung des Nobelpreises an Watson, Crick und Wilkins
1962 wurde von vielen als Paradebeispiel für die – sowohl inhaltlich als auch sozial – ungebrochen
männlich dominierte Wissenschaft gewertet, da eine der bedeutenden ‚Entdeckerinnen’ der DNAStruktur, Rosalind Franklin, von Anfang an übergangen und von jeder Öffentlichkeit ausgeschlossen
wurde. Das Thema Gleichbehandlung ist auch heute in der wissenschaftlichen Forschung alles andere
als erledigt – diskutiert werden können hier die z.B. vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft
und Kultur angestrebte Quotensteigerung (auf 40%) in allen Besoldungsklassen und Funktionen an den
134
Chemie und Ethik
Universitäten. Ist Gleichberechtigung an Prozentzahlen ablesbar? Was sagt die geringe Präsenz von
Frauen in Professorenposten aus? (Was heißt Gleichberechtigung?).
Aber auch die Diskussionen über ein auf Genetik fokussiertes Menschen- und Weltbild können als Beispiel herangezogen werden, um die Grenzen der Aussagekraft chemischer Modelle für unser Selbstverständnis aufzuzeigen. Stichworte sind hier z.B. Gefühle („wenn die Chemie stimmt“), Freiheit (sind unsere Handlungen neurochemisch determiniert?), Charaktereigenschaften/Intelligenz (alles vererbt?).
Anwendungsbezug und Ethik:
Grundsätzlich kann man die Untersuchung der Anwendung einer Erkenntnis der Chemie (oder Physik,
Biologie, Technikwissenschaft,...) in mehrere Schritte gliedern, die einem Frageschema folgen, das der
Technikfolgenabschätzung entnommen ist:
•
Warum gibt es diesen technischen Ansatz überhaupt? (Welche Probleme sollten gelöst werden? Welche Rolle spielte die historische Entwicklung? Welche möglichen Alternativen wurden nicht realisiert?)
Wie erfolgt die technische Umsetzung? (Je nach Niveau der Klassenstufe)
Welche Resultate weist die Technik vor?
1. Im Hinblick auf die zu lösenden Probleme? (Grad der Zielerreichung, Zuverlässigkeit, Kosten, Risiken, Begleiterscheinungen etc.)
2. Im Hinblick auf eine (auch zukünftige) Nutzung der Technik in anderen Anwendungsbereichen (z.B. Kernenergie im militärischen Bereich, ES-Zellforschung im
Bereich der In-vitro-Fertilisation, mikrobiologische Forschung im militärischen
und zivilen Bereich, chemische Nutz- versus Schadstoffe, ebenfalls im militärischen Bereich etc...)
Welche Alternativen gibt es und wie sind diese im Vergleich zu bewerten? (technische Lösungen, ebenso wie Problemvermeidungsstrategien, andere Lösungen; z.B. gesellschaftliche
Investitionen in die Betreuung/Integration Behinderter oder chronisch Kranker zur Leidensminderung)
•
•
•
In der Kursstufe (insbesondere der vierstündigen) gibt es einige Möglichkeiten, sich mit der konkreten
Anwendung chemischer Produkte auseinander zu setzen. Insbesondere das Thema Kunststoffe soll mit
Bezug auf Abfallrecycling und Nachhaltigkeit behandelt werden (Bildungsplan 2004:198 und 200).
Hier kann z.B. anhand des oben eingeführten Fragenkataloges für eine Technikfolgenabschätzung im
Unterricht ein moderner Kunststoff analysiert werden.
-
Warum gibt es diesen Stoff? (Welche Probleme sollen gelöst werden? Wie kam es zu dieser
Entwicklung? Welche anderen Optionen zur Problemlösung wurden vernachlässigt?)
-
Wie erfolgt die technische Umsetzung (Herstellungsprozess: Entstehung von Abgasen, Abwässer, Sondermüll, Energieverbrauch etc.)?
-
Welche Resultate weist das Produkt vor?
Im Hinblick auf die zu lösenden Probleme:
1. Als Anhaltspunkte zur Beantwortung folgende Begriffe:
-
Kosten (momentan sowie langfristig
-
Zuverlässigkeit
-
Eigenschaften
Chemie und Ethik
-
Belastungen von Mensch und Umwelt im ‚Normalbetrieb’
-
Risiken bei Unglücken
135
2. Im Hinblick auf andere Nutzungsbereiche (z.B. militärisch, wissenschaftlich)
-
Welche Alternativen gibt es und wie sind diese zu bewerten?
Für den Unterricht der Oberstufe mag es spannend sein zu sehen, wie unbedarft und vorurteilsfrei die
Mehrheit der Bevölkerung in den sechziger Jahren den Verfahren der chemischen Industrie gegenüber
stand (inklusive der Ableitung der ungeklärten Abwässer in Flüsse und Seen). Eine eindrucksvolle Dokumentation, die evtl. in Kooperation mit Gemeinschaftskunde, Ethik, Biologie angeschaut und diskutiert werden könnte ist der Film ‚Der weiße Wal’, von Stephan Köster (Regie) nach dem Buch von
Carl-Ludwig Rettinger und Volker Anding, Köln 2001.
136
12.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde
und Ethik
12.1. Einleitung
Der Fächerverbund Geographie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde hat eine gewichtige Aufgabe im
Bildungsprogramm des Gymnasiums zu erfüllen. Er soll nicht allein die Schülerinnen und Schüler über
die ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsräume informieren – wobei der Gedanke der "Einen
Welt" leitend sein soll –, sondern sie auch zu einer "selbständige[n] und begründete[n] Beurteilung individueller und gesellschaftlicher Entscheidungssituationen und Problemlagen" befähigen (Bildungsplan 2004: 234). Zudem sollen sie lernen, "individuelle Entscheidungen in sozialer Verantwortung und
unter Aspekten der Nachhaltigkeit" (ebd.) zu treffen. Ein hoher Anspruch, den aber niemand aufgeben
kann, der politisch mündige Bürger in der Demokratie bilden möchte.
Außergewöhnlich ist der Gedanke des Fächerverbundes, der nicht nur die bereits genannten Ziele nahe
legt, sondern als impliziter Lehrplan darauf abzielt, die Schülerinnen und Schüler mit der ganzheitlichen
Bearbeitung von Themenbereichen vertraut zu machen. Die verhandelten Fragen sind in der Regel
komplex; hier geht es überwiegend darum, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, selbständig auf
vorhandene Informationen aus den unterschiedlichsten Themenbereichen und Quellen zurück zu greifen, diese zu sortieren, zu bewerten und schließlich zu integrieren.
Bei der großen Nähe in Zielsetzungen, Inhalten und Methoden des Fächerverbundes zur politischen
Bildung ist es fast selbstverständlich, dass ethische Aspekte unausweichlich auftauchen und auch thematisiert werden müssen. Die Themen "Eine Welt" und "Nachhaltigkeit" sind ohne normative Dimension nicht zu behandeln. Wenn das spezifische Bildungsziel auch die begründete, verantworte und der
Komplexität angemessene Beurteilung politischer und ökonomischer Vorgänge, Tatbestände und Entscheidungen ist, dann ist dieses Ziel in sich schon ethisch verfasst. Bedarf der Fächerverbund also überhaupt der Aufklärung über ethische Aspekte?
Der Fächerverbund Geographie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde integriert Wissensvermittlung, methodische Informationsbeschaffung und Urteilsbildung. Diese Kriterien der Urteilsbildung müssen bewusst gemacht und geprüft werden. So können etwa die Grundsäulen der Nachhaltigkeit nicht als gesichert vorausgesetzt werden, sondern müssen immer wieder in ihren Einzelelementen explizit gemacht
werden; hier gilt es vor allem die interne Konkurrenz der Prinzipien der Nachhaltigkeit sichtbar werden
zu lassen.
Gerade das Fach Geografie im Fächerverbund eignet sich vorzüglich, die Elemente der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Sicherung der Zukunft und ihr spannungsvolles Zusammenwirken sichtbar werden zu lassen.
Das Fach Wirtschaft stellt die Brücke von der natürlichen und naturräumlichen Basis der Gesellschaft
zu ihrer institutionellen Verfassung dar. In der Wirtschaft zeigt sich, wie die Gesellschaft ihre materielle
Reproduktion organisiert; zugleich werden darin einerseits wichtige Determinanten der gesellschaftlichen Struktur sichtbar, andererseits können prägende Einflüsse der Gesellschaften auf die sie einbettenden Naturräume rekonstruiert werden. Wirtschaft wird nicht als selbständiges Fach unterrichtet, sondern
wirtschaftliche Fragen werden ständig mitlaufend thematisiert.
Im Fach Gemeinschaftskunde schließlich, das immer mehr sein muss als eine bloße Institutionenlehre,
werden explizit elementare Fragen der Rechts- und Sozialphilosophie verhandelt, die in engster Verflechtung zur Ethik stehen.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
137
12.2. Geografie und Ethik
Ethisch relevante Themen sind im Fach Erdkunde in vielfältiger Art zu entdecken. Dies liegt darin begründet, dass modernder Erdkundeunterricht kaum physikalisch ausgeprägt ist; statt dessen werden vor
allem die Interaktion von natürlichen Bedingungen und menschlichem Handeln zum Thema.
Menschliches Handeln ist an Zwecken orientiert und interessegeleitet. Damit ist es unter ethischen Aspekten zu reflektieren und zu analysieren. Unter der Perspektive "Ethik in den Fächern" wird es bedeutend, die Zwecke und Interessen, die menschlichem Handeln zugrunde liegen, nicht einfach als gegeben
vorauszusetzen, sondern sie eigens zu thematisieren. Dann erst dient der Erdkundeunterricht nicht nur
alleine dem Verständnis der vorhandenen Strukturen, sondern kann auch zukünftiges Handeln beeinflussen. Er kann dann Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, sowie Wege und Handlungsfolgen (Szenarien) abschätzen helfen. Dies lässt sich nie wertfrei durchführen, so dass es notwendig wird, die Wertdimension explizit zu machen und sich über die Kriterien von Bewertungen zu verständigen.
Für das Fach Geografie bietet es sich an, die ethiknahen Gehalte des Bildungsplans an Hand eines der
Leitbegriffe des Bildungsstandards zu gliedern: dem Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit bedeutet zunächst, die Bedürfnisse der heutigen Generation sollen Befriedigung finden, ohne die Chancen
künftiger Generationen zu beeinträchtigen. Das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit kann dabei als
Gliederungsprinzip fungieren. Dieses geht bekanntlich von der Vorstellung aus, dass Nachhaltigkeit
durch das gleichzeitige und gleichberechtigte Umsetzen von umweltbezogenen, sozialen und
wirtschaftlichen Zielen, die den oben genannten Nachhaltigkeitsprinzipien entsprechen, erreicht werden
könne. Die dauerhafte Existenzfähigkeit der Erde und Ökosysteme ohne Grenzüberziehung ist zusammen mit der Erfüllung der Grundbedürfnisse aller Menschen und zukünftiger Generationen das eigentliche Ziel von Nachhaltigkeit. Der Weg hierhin ist die nachhaltige Entwicklung aller Bereiche.
12.2.1.
Umweltaspekte - Ökologie
Das Thema Ökologie wird mittlerweile in vielen Fächern berücksichtigt; es besteht so die Gefahr, dass
bei den Schülerinnen und Schülern Übersättigung auftritt; das Thema bleibt dennoch von entscheidender Bedeutung. Der Geografieunterricht ist prädestiniert dafür, auf die Folgen menschlicher Eingriffe in
Ökosysteme aufmerksam machen und zugleich zu zeigen, dass menschliches Handeln und Wirtschaften
immer ein vorhandenes System verändert oder gar zerstört, wobei aber immer auch Neues entsteht,
welches je nach Kriterium sogar als wertvoller betrachtet werden kann als der vorherige "natürliche"
Zustand (Artenvielfalt in Kulturlandschaften).
Gerade der Blick auf die langfristigen Folgen der Landnutzung kann das Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen kurzfristigem, individuellem Verwertungsinteresse und den langfristigen Folgen für die
Gattung sichtbar werden lassen. Bestimmte ökonomische Nutzung von Ressourcen bzw. Techniken hat
zwar einen immensen Kurzzeitnutzen, die Langzeitfolgen können jedoch entweder negativ oder zumindest unabsehbar sein (Als klassisches Beispiel bietet sich hier die Verkarstung der Mittelmeerregion
durch den massiven Holzeinschlag an, aber es kann auch die Nutzung von Kernkraft und die damit einhergehende Frage nach der Lagerung der Brennstäbe thematisiert werden.). Hier stellt sich die Frage, ob
eine kurz- und mittelfristige positive Bilanz einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu Ungunsten einer weiter
entfernten Zukunft vertretbar ist. Aus ethischer Perspektive geht es hier darum, einen Verantwortungsbegriff zu entwickeln, der sich auch auf die Zukunft und die Lebensmöglichkeiten kommender Generationen bezieht (vgl. Jonas 51984).
Im Kontext der Beschäftigung mit Fragen der Ökologie stellt sich genauso die grundlegende Frage,
warum überhaupt Natur geschützt werden soll. Neben der schlichten Verfolgung des menschlichen
Eigeninteresses im Sinne eines bornierten Speziesismus können auch subtilere Arten der
Anthropozentrik behandelt werden, die etwa auch ästhetische Fragen (Landschaftsschutz, Naturschutz,
Wildnis Der Landwirt als Landschaftspfleger / Kursstufe 2. Themenfeld) mit in Rechnung stellen
(Vgl. etwa Eser/Potthast). Schließlich kann Natur nicht nur im Zusammenhang menschlichen Nutzens,
138
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
sondern als um ihrer selbst willen schützenswertes Seiendes thematisiert werden. Diese Frage stellt sich
insbesondere dann, wenn ganze Gebiete jeglicher menschlicher Nutzung entzogen werden sollen.1
12.2.2.
Gesellschaft
Während der Gemeinschaftskundeunterricht zunächst von der institutionellen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, betrachtet das Fach Geografie politische Systeme im weltweiten Vergleich.
Es werden sehr unterschiedliche Staats- und Regierungsformen zum Thema gemacht, wobei der Fokus
zunächst auf Europa gelegt wird (vgl. Bildungsplan 2004:240ff), wie bspw. die Orientierung in Europa
hinsichtlich physischer, politischer und kultureller Gegebenheiten.
Genauso ist aber auch die Bedeutung der von europäischen Verhältnissen völlig divergierenden geographischen und ökologischen Voraussetzungen in anderen Teilen der Welt für deren soziale, ökonomische
und politische Struktur von Interesse.
Im Rahmen der geografischen Länderkunde kann immer auch die jeweilige Menschenrechtssituation
betrachtet werden: "Im Sinne einer interkulturellen Erziehung lernen sie [die SchülerInnen] Lebensund Wirtschaftsweisen von Völkern sowie den kulturellen Reichtum auf der Erde kennen und schätzen,
erkennen die Gleichwertigkeit von Völkern an und üben sich in Toleranz und Verantwortung." (Bildungsplan 2004: 238). Dabei ist wiederum der Toleranzbegriff kritisch zu betrachten: Wie weit geht
Toleranz und wo beginnt eine aktive Verantwortung hin zur Intervention? Wie verhält sich Toleranz zu
menschenrechtsverletzenden Traditionen? Ist Demokratie ein Menschenrecht und welche Konsequenzen hätte dies (zu diskutieren an der aktuellen Weltpolitik und den Begriffen 'humanitäre Intervention'
bzw. 'gerechter Krieg', Menschenrecht vs. Völkerrecht)? Hier überschreitet das Thema ganz klar eine
geografische Betrachtung und leitet in das Feld der Gemeinschaftskunde und der Ethik.
12.2.3.
Wirtschaft und Gerechtigkeit
Die ungleiche Verteilung des Reichtums auf der Erde ist evident und zeigt sich als Wohlstandsgefälle
sowohl im Vergleich des durchschnittlichen Lebensstandard der Gesellschaften als auch innerhalb der
einzelnen Gesellschaften. Im Rahmen des Geografieunterrichts können diese wirtschaftlichen Fragen
mit Bezug auf internationale Effekte wirksam thematisiert werden.
-
Unter dem Leitaspekt "Eine Welt" werden in diesem Zusammenhang die verschiedenen Dimensionen von Entwicklungshilfe wichtig, deren Sinn (Hilfe zur Selbsthilfe) und Unsinn (Generierung langfristiger asymmetrischer Abhängigkeitsverhältnisse) verdeutlicht werden können.
-
Als "Folgen politischer, religiöser, ökonomischer und ökologischer Ursachen" (Bildungsplan
Gymnasium 2004: 241) zeigen sich zudem ethisch (und politisch) relevante Fragen der Migration.
-
Fragen des Welthandels sind mit all diesen ethischen Problemen verknüpft.
Gerade unter der geografischen Perspektive können aber auch subtilere Mechanismen der Zuweisung
von Lebenschancen identifiziert und diskutiert werden, die oftmals auf lange Zeit hin wirksam sind,
beispielsweise der Ausbau von Infrastrukturen. Gerade die großen Netze der Infrastruktur habe eine
hartnäckige Verteilungswirkung; daher eignen sich alle Themen, die mit Planungsfragen zu tun haben,
zur Thematisierung ethischer Aspekte, insbesondere der Frage, wie sich Allgemeinwohl und individuelles Wohlergehen zueinander verhalten.
Bei der Analyse von Verkehrswegen etwa lässt sich zeigen:
1
Einen Überblick über die Diskussionslage zum Natur- und Umweltschutz aus unterschiedlichen fachlichen
Perspektiven gibt Ott/Gorke 2000.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
139
-
Deren Abhängigkeit von der naturräumlichen Gliederung (Kontinuität alter Handelswege und
Fortexistenz im rezenten Straßennetz), die nur mit erheblichem Aufwand überwunden werden
kann (ICE Neubaustrecken, Alpentransit).
-
Die Folgen der Verlagerung von Verkehrswegen für Städte und Regionen.
-
Konkurrierende Interessen bei der Neuplanung von Verkehrswegen (Umgehungsstraßen, ICE
Bahnhöfe).
-
Das Ungenügen rein technischer Lösungen für Verkehrsprobleme (neue Strassen bringen mehr
Verkehr, nicht weniger Stau).
-
Die prägende Wirkung der Verkehrsinfrastruktur auf Siedlungen (Stadtentwicklung und Verkehrswege).
-
Die geografischen, geologischen und ökologischen Gegebenheiten bestimmter Regionen prädestinieren diese häufig zu einer bestimmten ökonomischen Nutzung (bspw. Braunkohletagebau; geothermische Kraftwerke), welche jedoch mit den Interessen der Menschen vor Ort in
Konflikt geraten kann (Räumung und Umsiedlung kompletter Orte; Beeinträchtigung der Lebensqualität und damit verbundener anderer Wirtschaftszweige, einseitige Zuweisungen von
Risiken).
Verteilungsfragen und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten lassen sich sehr gut an der Regulierung
des Zugangs zu elementaren Ressourcen wie Land und Wasser untersuchen. Dabei ist immer die faktische Befriedungswirkung von Verteilungsregimen mit der Frage zu konfrontieren, ob sie unseren Gerechtigkeitsvorstellungen genügen.
Vergleichbare Fragen ethisch/politischer/sozialer Art lassen sich z.B. im Bereich der Bevölkerungsentwicklung (chinesische 'Ein-Kind'-Politik) stellen.
Fragen der Lebensqualität
Die Brundtlandtdefinition von Nachhaltigkeit betont einerseits, dass es bestimmte Grenzen des
Verbrauchs gibt, die dann zu beachten sind, wenn die Lebenschancen zukünftiger Generationen eingeschränkt oder gar gefährdet werden. Andererseits geht sie vom Konzept der "basic needs" aus, die auf
jeden Fall erfüllt werden sollen. Damit ist die Frage nach einem angemessenen Lebensstandard für alle
Menschen gestellt. Wenn Fragen des Lebensstandards und der Verteilung des Reichtums verhandelt
werden, stellt sich, insbesondere angesichts des dramatischen Wohlstandsgefälles im internationalen
Vergleich die Frage, ob es so etwas wie ein „Existenzminimum“ gibt, das ein menschenwürdiges Lebens ermöglicht, und wie es bestimmt werden könnte. Der Nobelpreisträger Amartya Sen und Martha
Nussbaum haben Versuche unternommen, einen ethischen Universalismus zu umreißen, indem sie von
veränderbaren und zu entwickelnden Listen von Grundbedürfnissen und Grundfähigkeiten, die allen
Menschen gemeinsam sind, ausgehen.2 Der Versuch, einen minimalen Lebensstandards zu bestimmen,
schärft zugleich den Blick für den unglaublichen Wohlstand in den Industrienationen. Wie ist diese Differenz zu erklären? Kann (oder darf) sie legitimiert werden?
2
Im Versuch, eine kulturübergreifende Konzeption menschlicher Fähigkeiten zu entwickeln (capabilities),
geht es für Nussbaum um Fähigkeiten, „die jede Gesellschaft für ihre Bürger anstreben sollte und die bei
Messungen der Lebensqualität eine Rolle spielen sollten“. In dieser – vorläufigen, offenen und revidierbaren – Liste nennt Nussbaum z.B. die „Fähigkeit, ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben,
nicht vorzeitig zu sterben...“; die Fähigkeit, „sich angemessen zu ernähren“, „eine angemessene Unterkunft“ zu haben, „sich von einem Ort zum anderen bewegen zu können“; die Fähigkeit, „seine Sinne und
seine Phantasie zu gebrauchen, zu denken und zu urteilen“; die Fähigkeit, „Beziehungen zu Dingen und
Menschen ... einzugehen, diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, traurig über ihre Abwesenheit zu sein, allgemein Liebe, Kummer, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden“. (Nussbaum 1999:
200)
140
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
12.2.4.
Kartografie und Medienkompetenz
Das übergeordnete Lernziel "Medienkompetenz" wird im Geografieunterricht vor allem im Hinblick
auf die Nutzung und Interpretation von Quellen im Unterricht wichtig.
Insbesondere das Lesen von Karten steht im Fokus des geografischen Interesses (vgl. Bildungsplan
Gymnasium 4/2004: 239). Erlernt werden sollen
-
grundlegende Fertigkeiten des Lesens und Interpretierens von Karten,
-
Fähigkeiten zur reflektierten Nutzung verbaler, bildhafter, quantitativer und symbolischer Informationsquellen, um Rauminformationen gewinnen, verarbeiten und bewerten zu können,
-
Fertigkeiten im Umgang mit modernen Informations- und Kommunikationstechniken (Geografische Informationssysteme).
Kritische Medienkompetenz mit Bezug auf die Kartografie beginnt damit, dass die Schülerinnen und
Schüler sich darüber bewusst sind, dass Karten schematische und kategorisierte Darstellungen zur (Re-)
Konstruktion der Realität sind. Im herkömmlichen Unterricht wurden oft die kartografischen Fragen vor
allem als Probleme der geometrischen Projektion und der angemessenen grafischen Repräsentation von
Informationen verhandelt.3 Aber auch die Frage nach der Art und Weise des Zustandekommens von
Karten und die vielfältigen Verwendungsweisen sind von Interesse. Dabei kann deutlich werden, dass
Karten als Interpretationen nie vollständig objektiv sein können, sondern immer von der gesellschaftlichen Wirklichkeit strukturiert sind und einen wiederum strukturierenden Blick auf die Welt generieren.
-
Anknüpfungspunkte bieten sich aus der Alltagserfahrung der Schülerinnen und Schüler. Wetterkarten aus dem Wetterbericht des Fernsehens eignen sich sehr gut, um unterschiedliche Möglichkeiten und ihre jeweiligen Probleme darzustellen. Die Diskussion lässt sich erweitern, wenn
der Wandel der Präsentation der Wetterberichte mit reflektiert wird. (Amtliche Verkündigung,
Wissenschaftliche Expertise, Lockere Präsentation mit Animationen unterstützt,... Vgl. dazu
etwa Monmonier 2000)
-
Im Kontext der Beschäftigung mit Geografischen Informationssystemen kann auf die ethische
Dimension der Verfügbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten (dual-use) solcher Daten eingegangen werden (GPS-Daten zur Katastrophenhilfe ebenso wie zur Kriegsführung, GIS als Instrument im Wahlkampf. Vgl. Monmonier 1999 und Monmonier 2001).
12.2.5.
Literatur
Eser, Uta; Potthast, Thomas (1999): Naturschutzethik: eine Einführung für die Praxis. Nomos-Verl.-Ges., BadenBaden.
Jonas, Hans (51984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M.
Kaminske, Volker; Hoffmann, Thomas (2004): Neuer Bildungsplan in Baden-Württemberg - Trendwende in der
Geographie? Geographie und ihre Didaktik. 32: 1. 35-42.
Köck, Helmuth (1995): Werte(erziehung) im Geographieunterricht. Aulis-Verl. Deubner, Köln.
Köck, Helmuth; Rempfler, Armin (2004): Erkenntnisleitende Ansätze - Schlüssel zur Profilierung des Geographieunterrichts: mit erprobten Unterrichtsvorschlägen. Aulis-Verl. Deubner, Köln.
Monmonier, Mark (2000): Air Apparent: How Meteorogists Learned to Map, Predict, and Dramatize Weather.
The Univ. of Chicago Press, Chicago [u.a.].
Monmonier, Mark S. (1999): Eins zu einer Million: die Tricks und Lügen der Kartographen. Birkhäuser, Berlin.
Monmonier, Mark S. (2001): Bushmanders Bullwinkles: How Politicians Manipulate Electronic Maps and Census
Data to Win Elections. Univ. of Chicago Press, Chicago [u.a.].
3
Mit sehr vielen Beispielen aus der Kartografie arbeitet etwa Tufte in seinen ausgezeichneten Arbeiten. Vgl.
Tufte 2001 und Tufte 2002.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
141
Nussbaum, Martha (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt/M.
Ott, Konrad; Gorke, Martin (Hg.) (2000): Spektrum der Umweltethik. Metropolis-Verl., Marburg.
Schmidt-Wulffen, Wulf-Dieter (1999): Zukunftsfähiger Erdkundeunterricht: Trittsteine für Unterricht und Ausbildung. Klett-Perthes, Gotha [u.a.].
Schneider, Ute (2004): Die Macht der Karten: eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Wiss.
Buchges., Darmstadt.
Tufte, Edward R. (2001): Envisioning Information. Graphics Press, Cheshire, Conn..
Tufte, Edward R. (2002): The Visual Display of Quantitative Information. Graphics Press, Cheshire, Conn.
142
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
12.2.6.
Beispiele und Materialien (Andreas Vochezer)
12.2.6.1. Unterrichtsentwurf: „Menschenrechte am Beispiel Tibet“
Curriculum, Erdkunde, Klasse 8: „Disparitäten an geeigneten Ländern aufzeigen“,
„Migration als Folgen politischer, religiöser, ökonomischer und ökologischer Ursachen“
CHINA
Wesentliche Inhalte: Topographie, naturräumliche Gegebenheiten, kulturelle Errungenschaften des chinesischen Volkes, Bevölkerungsverteilung innerhalb Chinas, Besonderheiten des Jangtsekiang und des
Hwangho, wirtschaftliche Schwerpunkte und aktuelle Entwicklungen, politisches System mit wesentlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung (Ein-Kind-Politik; politische Spannungsfelder zu Nachbarstaaten).
TIBET
Einstieg:
Film „7 Jahre in Tibet“ (Spielfilm 130 Minuten)
Der Film informiert über das Leben der Menschen im „Alten Tibet“ bis 1951. Er holt die Schüler in
Mitteleuropa ab und begleitet sie in eine unbekannte kulturelle Region. Der Film wird von der exiltibetischen Regierung als authentisch eingestuft.
Hinweis auf Originallektüre „7 Jahre in Tibet“
Vertiefung:
Erarbeitung der Ereignisse nach 1951 (Einmarsch der Chinesen), 1959 (Flucht des Dalai Lama nach
Dharamsala (Nordindien), weitere Ereignisse (Sinisierung, Kulturrevolution durch Maotsetung, derzeitiger Bau der Eisenbahnstrecke nach Lhasa).
Materialien:
-
Behrendt, Regina (1997): Tibet. Menschen und Menschenrechte. Verlag an der Ruhr.
-
Lehmann, Peter-Hannes und Ullal, Jay (1990): Tibet. Das stille Drama auf dem Dach der Erde.
Geo im Verlag, Hamburg.
-
Film bei den Kreismedienzentren: „Flucht über den Himalaya“ (30 Min., 2000; 42 68866)
-
Internetrecherche
Abschließende Fragestellungen:
-
Inwieweit ist es legitim, wenn sich andere Staaten in die „inneren Angelegenheiten“ eines Landes einmischen?
-
Waffenembargo vs. Menschenrechte
-
Wie könnten weitere Entwicklungen für das tibetische Volk aussehen?
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
143
12.2.6.2. Unterrichtsentwurf: „Der Kampf ums Trinkwasser“
Curriculum, Erdkunde, Kursstufe Kapitel 4.2: „Süßwasser - eine elementare Ressource“
Voraussetzungen:
Die Schüler müssen klar verstanden haben, wie die globalen Windverhältnisse, Niederschlagsverhältnisse, Klimazonen und Vegetationsstufen entstanden sind und inwiefern sie sich aktuell verändern
Außerdem müssen den Schülern die gängigen Theorien zur Unterentwicklung geläufig sein.
Jetzt können die Schüler verstehen, in welchen Gebieten der Erde es zu Wassermangel kommt und wie
die ökologische Benachteiligung großer Regionen der Erde mit politischen Unterdrückungen korreliert.
Die Anwendung all dieser Voraussetzungen erfolgt durch regionale Beispiele mit Wassermangel.
Materialien:
-
Terra global: Weltproblem Wasser. Klett-Perthes Verlag, 2003
-
Vochezer, Andreas: Wasser für alle. Unterrichtsmagazine Spiegel@Klett. Spiegel-Verlag,
Hamburg, 2005
-
Brot für die Welt: Wasser für alle. [www.menschen-recht-wasser.de]
12.2.6.3. Unterrichtsentwurf: „Der Landwirt als Landschaftspfleger“
Curriculum, Erdkunde, Kursstufe Kapitel 2.1: „Produktionsweisen in der Landwirtschaft“
Verlaufsskizze:
Die Schüler erarbeiten an geeigneten Schaubildern wesentliche Entwicklungen in der (deutschen)
Landwirtschaft. Dabei erkennen sie die Entwicklung von zahlreichen Kleinbauern früher zu wenigen
Großbauern heute. Möglich wurde dies durch die Mechanisierung in der Landwirtschaft, außerdem
durch Züchtungserfolge und weiteres. Heute sieht sich der Landwirt einer Agroindustrie gegenübergestellt. Als einzige Alternative erscheint derzeit der ökologische Landbau.
Wenn man voraussetzt, dass in den kommenden Jahrzehnten in Deutschland zunehmend mehr Finanzmittel von Privatpersonen für Gesundheit aufgewendet werden, so sieht der ökologische Landbau besseren Chancen entgegen.
Ein weiterer Aspekt ist der „Landwirt als Landschaftspfleger“: Erhaltung und Pflege von Wiesen, Wäldern und Bachläufen, um das natürliche Gleichgewicht zu erhalten. Ziel: Schutz vor Umweltkatastrophen, wie etwa Hochwasser. Dafür erhalten Landwirte auch Fördermittel für Brache.
12.2.6.4. Unterrichtsentwurf: „Neue Verkehrswege erschließen den Raum“
Curriculum Ek Klasse 5, Thema 1 und Jgst. 12, Thema 1
144
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
Ausgangspunkt:
Einerseits: Tägliche Zunahme der überbauten (versiegelten) Fläche in Deutschland: rund 90 ha.
Andererseits: Regelmäßig wiederkehrender Verkehrskollaps in den Städten.
Verlaufsskizze:
Ausgehend vom Nahen, sollen die Schüler die aktuelle Verkehrslage der Heimatstadt erkennen. Beispielsweise ein Rundgang durch die Altstadt mit Besichtigung der (ehemaligen) Stadttore erscheint insbesondere in Klasse 5 angebracht.
Beim recherchieren alter Straßen- und Platzbezeichnungen erschließt sich die verkehrsgeschichtliche
Entwicklung. Die Schüler erkennen, dass es im Abstand mehrerer Jahrzehnte zu Verkehrskollapsen geführt hatte, die schon früher die Stadtoberen zwangen neue Umgehungsstraßen zu erschließen.
Schließlich sollten sich die Schüler über aktuelle Verkehrplanungen informieren, die in der Regel auf
aktuelle Neubauten von Umgehungsstraßen führen.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
145
12.3. Wirtschaft und Ethik
12.3.1.
Wirtschaft und Bildung
Im Gegensatz zu den Robinsonaden der frühen Wirtschaftslehre, die schon Marx heftig kritisierte,
meint Wirtschaft nicht nur die Aneignung und Nutzung von Ressourcen durch einen vereinzelten Akteur. Wirtschaft bezieht sich immer auf die sozialen Beziehungen, welche aufgrund der Existenz der
Ressourcen, die immer als knapp vorgestellt werden, und aufgrund der Fragen betreffend ihrer Verteilung entstehen. So gibt es neben den eigenständigen ethisch relevanten Fragen des Faches auch viele
eng mit den Fächern Geografie und Gemeinschaftskunde verbundene Themenkomplexe. Das Fach
Wirtschaft wird am allgemeinbildenden Gymnasium jeweils gemeinsam mit Geografie oder Gemeinschaftskunde unterrichtet.
Die Vermittlung ökonomischen Wissens nimmt einen hohen Stellenwert für das Verständnis demokratischer Prozesse in Deutschland ein: "Ökonomische Bildung als Allgemeinbildung verstanden ermöglicht
Kindern und Jugendlichen, die wirtschaftlichen Bedingungen ihres Lebens zu reflektieren. Damit leistet
ökonomische Bildung einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des mündigen Bürgers, der in der Lage
ist, die wirtschaftlichen Zusammenhänge seines Lebens zu verstehen, sachgerechte Entscheidungen zu
fällen und verantwortungsvoll als Wirtschaftsbürger in der Demokratie zu handeln." (Bildungsplan
2004: 250). Damit einher geht das Verständnis der Schülerinnen und Schüler für die in Deutschland
herrschende soziale Marktwirtschaft, eine Orientierung über deren Vor- und Nachteile sowie mögliche
Alternativen (vgl. Bildungsplan 2004: 251 bzw. 254).
12.3.2.
Unterrichtsthemen Wirtschaft
Im Bereich der Wirtschaftspolitik (vgl. Bildungsplan 2004: 254) sind Fragen nach den (nicht nur ökologischen) Auswirkung nationalen wirtschaftlichen Handelns von Interesse. Dies betrifft insbesondere
Debatten über das Für und Wider der Produktion von und des Handels mit Rüstungsgütern, Produkten
im Bereich der Nukleartechnik sowie der Biotechnologie. Auch die Verfügung über die Ressource Öl
und die damit verbundenen geostrategischen Implikationen und etwaige Fragen bezüglich der Bedeutung von Menschenrechten (etwa im Falle einer Stabilisierung autoritärer Systeme qua Finanzierung
durch die Ölnachfrage demokratischer Staaten) finden hier Berücksichtigung, wobei die ethischen Implikationen evident sind.
Die eigenständigen Fragen und die mit Gemeinschaftskunde verknüpften Themen lassen sich relativ
klar (wenn auch teilweise aufeinander aufbauend) den jeweiligen Klassenstufen zuordnen.
Klasse 6
Fundamental für die ethische Dimension des Faches Wirtschaft ist das "Spannungsverhältnis zwischen
Bedürfnissen und begrenzten Gütern und damit die Knappheit als Grundlage wirtschaftlichen Handelns" (Bildungsplan 2004: 252). Ethische Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind dabei die Grundlage der Reflexion.
Klasse 8
Die bereits in Klasse 6 begonnene Auseinandersetzung mit dem Thema Knappheit als Grundlage wirtschaftlichen Handelns wird hier weiter vertieft. So impliziert das angesprochene Spannungsverhältnis
unausweichlich und auf den verschiedensten Ebenen (Individualebene, Betriebsebene, Volkswirtschaft,
Weltwirtschaft) Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sowohl zwischen Akteuren als auch zwischen unterschiedlichen Bereichen: "Ausgehend von ihrer Rolle als junge Marktteilnehmer erkennen die Schülerinnen und Schüler am Beispiel von Konsum- und Produktionsentscheidungen, dass verantwortungsvolles Wirtschaften ein Abwägen von Kosten und Nutzen unter Einbeziehung von sozialen und ökologischen Bewertungskriterien erfordert. [...] Sie erkennen, dass das Wirtschaftlichkeitsprinzip im Span-
146
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
nungsverhältnis zu Sozialverträglichkeit und ökologischen Erfordernissen steht." (Bildungsplan 2004:
250).
Es werden Verbindungen zwischen individuellem wirtschaftlichem Handeln und dessen Einfluss auf
das demokratische System thematisiert. So sollen die Schülerinnen und Schüler "ihre Stellung als Konsumenten beurteilen, auch die Beeinflussung ihrer Konsumentscheidungen durch Medien und Auswirkungen ihres Konsumverhaltens, insbesondere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit" (Bildungsplan
2004: 253).
Klasse 10
Die soziale Relevanz der Wirtschaft bezieht sich maßgeblich auf "[...] Möglichkeiten des Interessenausgleichs zwischen Arbeit und Kapital [...] (auch Mitbestimmung, Schutzrechte der Arbeitnehmerin/des Arbeitnehmers)" (Bildungsplan 2004: 254). Auch hier stellen sich wieder Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sowohl zwischen einzelnen Akteuren als auch zwischen Individuum und Gesellschaft. So kann der Wert von Arbeit thematisiert und beispielsweise auf die unterschiedliche Bezahlung
verschiedener Tätigkeiten und die dahinterstehenden Gerechtigkeitsvorstellungen eingegangen werden.
Kursstufe
Aufbauend auf die bereits vermittelten Inhalte zum Zusammenhang von Wirtschaft und dem demokratischen System ist es hier von Bedeutung, die Schülerinnen und Schüler auf ethisch relevante "gegenwärtige und zukünftige wirtschaftspolitische Herausforderungen [...] ('Zukunft der Arbeit', 'Spannungsfeld
von Ökonomie und Ökologie', 'Staatsverschuldung', 'Verteilungsgerechtigkeit')" (Bildungsplan 2004:
256) aufmerksam zu machen. Auch die Bedeutung und Einflussmöglichkeiten des Individuums als
Konsument wird hierbei thematisiert (vgl. Bildungsplan 2004: 255).
Innerhalb der sozialen Dimension der Wirtschaft ist insbesondere das Themenfeld der Globalisierung
von aktueller ethischer Bedeutung. So sollen die Schülerinnen und Schüler "[...] globale Problemfelder
beschreiben (Stabilisierung der globalen Finanzmärkte, Schaffung von globalen Sozialstandards und
Umweltstandards, Entschuldung von Entwicklungsländern, Möglichkeiten von global governance zur
Gestaltung des Globalisierungsprozesses) und Lösungsvorschläge erläutern" (Bildungsplan 2004: 256).
Ethisch relevante Themen sind:
-
Produktionsbedingungen transnationaler Konzerne (Kinderarbeit; Arbeitsbedingungen in
Entwicklungsländern).
-
Möglichkeiten und Grenzen des "fairen Handels".
-
Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe: Handelt es sich um wirkliche Hilfe oder vielmehr
um ein Anbinden und Abhängigmachen an die westliche Wirtschaftsordnung?
-
Im Zusammenhang mit der europäischen Integration interessieren zudem Fragen nach der
Verlagerung von Produktionsstandorten ins kostengünstigere Ausland und damit die Erhöhung des Druckes auf das deutsche Sozialsystem.
Die Vermittlung wirtschaftstheoretischer Inhalte an Schülerinnen und Schüler höherer Stufen beinhaltet
die Beschäftigung mit Modellen: "Insbesondere werden Fähigkeiten der Interpretation, Beurteilung und
Erstellung von Modellen entwickelt sowie Kompetenzen gefördert, komplexe wirtschaftliche Sachverhalte in Simulationen zu analysieren und zu beurteilen (computergestützte Modelle, spieltheoretische
Modelle, Planspiele, Szenariotechnik)." (Bildungsplan 2004: 251). Dabei ist darauf zu achten, dass Modelle eben nicht als realistische Abbilder der Wirklichkeit, sondern als vereinfachte und interpretierende
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
147
Rekonstruktionen vermittelt werden, deren Inhaltsauswahl stets eine bewusste Entscheidung sein muss
und zentrale Bedeutung für die Bewertung der Daten besitzt.
-
Als spezielles Beispiel einer solchen Modellbildung bietet sich das Konzept 'Geld' an. Dieses
verfügt nicht etwa über einen eigenständigen Wert, sondern stellt vielmehr ein Symbol für theoretisch zur Verfügung stehende Ressourcen dar. Geld kann insofern also als Konstruktion bzw.
als Kommunikationsmittel zwischen an der Wirtschaft beteiligten Akteuren charakterisiert werden.
-
Im Hinblick auf die geläufigen Formen wirtschaftlicher Argumentation lernen die Schülerinnen
und Schüler zudem Denkmodelle wie "homo oeconomicus" und "rational choice" kennen. Diese Modelle sind mittlerweile weit über den wirtschaftstheoretischen Kontext hinaus in die gesellschaftliche Diskussion eingedrungen. Eine ethisch-philosophische Einordnung der Bedeutung dieser Modelle im Gegensatz zu einem unreflektierten Hinnehmen erscheint daher empfehlenswert, um die Reichweite solcher Abstraktionen ermessen und sie auf ihre Leistungsfähigkeit hin prüfen zu können.
Spätestens in der Kursstufe sollten die Schüler explizit wirtschaftsethische Themen kennen lernen.4
Hier können dann noch einmal systematisch die oben angeführten Themen behandelt werden. Da die
Wirtschaftsethik mittlerweile gut ausgebaut ist, kann dafür auf die angegebene Literatur verwiesen werden.
12.3.3.
Querschnittsthema: Die ökologische Dimension der Wirtschaft
Die ökologische Dimension der Wirtschaft kann wohl nur im engen Zusammenhang mit dem Fach
Geografie behandelt werden. Es handelt sich hierbei eher um ein in unterschiedlicher Komplexität immer wiederkehrendes Thema in allen Klassenstufen.
Wirtschaftliches Handeln nimmt immer Einfluss auf das Ökosystem, nutzt es als Ressource oder Senke
und verändert es dabei. Dabei stellen sich Fragen nach der Abwägung von ökonomischem und ökologischem Interesse und damit automatisch auch nach der Abwägung zwischen Gemein- und Partikularinteresse. Als Beispiele genügen nachteilige anthropogene Effekte des wirtschaftlichen Handelns wie
Treibhauseffekt oder Wasserverschmutzung. Dabei können nicht nur die direkten ökologischen Folgen
betrachtet werden, sondern auch die oftmals damit verbundenen nachfolgenden ökonomischen Probleme wie bspw. die Verringerung von Nutzflächen sowie die langfristige Verschwendung von Ressourcen. Dies kann etwa im engen Anschluss an das Fach Geografie an den folgenden Beispielen verhandelt
werden:
4
-
Erosion durch landwirtschaftliche Nutzung bzw. Totalschlag von Wäldern (Dust Bowl in den
USA, Clear Cut in Nordamerika), zugleich Verschlammung von Flüssen mit erheblichen Folgen für die Fischerei.
-
Wasserverschmutzung als Gefährdung von Produktionsbedingungen.
-
Desertifikation durch Überweidung und Bodenverschlechterung durch intensive landwirtschaftliche Nutzung.
Ein Beispiel eines Unterrichtsentwurfes für höhere Klassenstufen zum Thema "Wirtschaftsethik" – an einer
Berufsschule – findet sich in einer schriftlichen Arbeit zur Zweiten Staatsprüfung am SSDL Stuttgart (BS)
(Vgl. Dorn 2001). Hier werden anschaulich Grundfragen zur Wirtschaftsethik aufgezeigt, Lernziele formuliert, das methodische Vorgehen dargelegt und schließlich eine Verlaufsplanung des Unterrichts vorgestellt.
148
12.3.4.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
Literatur
Büscher, Martin; Matthiesen, Kai; Sarasin, Charles et al. 1996: Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft: 24 Lehreinheiten zu Grundfragen des Wirtschaftens, Lebens und Arbeitens. Verl. für Berufsbildung, Sauerländer, Aarau.
Dorn, Michael 2001. Wirtschaftsethisches Handeln im Fach Allgemeine Wirtschaftslehre an der kaufmännischen
Berufsschule - dargestellt an ausgewählten Lerninhalten der Lehrplaneinheiten 1 bis 4.
URL: http://www.sembs.s.bw.schule.de/bereiche/wirtschaftswissenschaft/schriftl_arbeit/vwl/zula08sperling/
Zula0828.htm
Homann, Karl; Lütge, Christoph 2004: Einführung in die Wirtschaftsethik. Lit, Münster.
Klopfer, Max [ca. 1994]: Lehreinheit Wirtschafsethik. Siemens AG, München.
Koslowski, Peter 1994: Ethik und Wirtschaft: empfohlen für die Jahrgangsstufen 11 - 13. Klett Schulbuchverl.,
Stuttgart [u.a.].
Noll, Bernd 2002: Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Marktwirtschaft. Kohlhammer, Stuttgart [u.a.].
Retzmann, Thomas 2001: Berufsmoralische Bildung in kaufmännischen Bildungsgängen. In: Forum Wirtschaftsethik. 1.
Tilman Horlacher; Stefan Maier 2005: Durchführung der Lehrplaneinheit 'Kündigungsschutz' mit Hilfe der Dilemmata-Analyse - ein Ansatz zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit. In: Erziehungswissenschaft und
Beruf. 1. 45-58. (Auch als PDF über die Homepage des SSDL Stuttgart (BS) erhältlich.)
12.3.5.
Materialien zur Wirtschaftsethik
Reiche Hinweise, Fallstudien und Materialien finden sich bei:
Klopfer, Max [ca. 1994]: Lehreinheit Wirtschafsethik. Siemens AG, München.
Büscher, Martin; Matthiesen, Kai; Sarasin, Charles et al. 1996: Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft: 24 Lehreinheiten zu Grundfragen des Wirtschaftens, Lebens und Arbeitens. Verl. für Berufsbildung, Sauerländer, Aarau.
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
12.3.6.
149
Wirtschaftsethik als Thema im Vorbereitungsdienst (Fachseminar
VWL/BWL in Zusammenarbeit mit dem IZEW Tübingen)
Am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Weingarten (BS) wurde ein Fachseminar VWL/BWL
zum Thema Wirtschaftsethik erprobt. Es folgte dem Grundschema, zunächst über einen Vortrag in die
Grundfragen der korrespondierenden Bereichsethik einzuführen, hier der Wirtschaftsethik. Anschließend analysierten die Referendarinnen und Referendare von ihnen ausgewählte Lehrpläne mit der Frage, an welchen Lehrplaneinheiten wirtschaftsethische Fragen besonders gut angesprochen werden können. Die Ergebnisse wurden im Plenum vorgestellt und kurz diskutiert. Schließlich erarbeiteten die Referendarinnen und Referendare eine Unterrichtsskizze zu einem ausgewählten Thema.
Der Zeitaufwand ist mit etwa drei 3 Doppelstunden allerdings - angesichts der knappen Ressource
"Zeit" – hoch. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Sitzung nicht nur für die fachethische Fragestellung dienlich ist: Die Referendarinnen und Referendare analysieren gemeinsam einen Lehrplan und
fertigen in der Gruppe die Skizze eines Unterrichtsentwurfs an, so dass über die fachethische Fragestellung hinaus ein Ertrag zu erwarten ist.
Im Vorfeld wurden mehrere Firmen um Material angeschrieben, die bereitwillig innerhalb maximal
sechs Wochen Geschäftsberichte, Informationen zum Unternehmen und weitere Informationen schickten. Es dürfte also kein Problem sein, "echte" Materialien der Arbeit zu Grunde zu legen. Im Anhang
wird eine Liste der angefragten Unternehmen mit den jeweiligen Webadressen dokumentiert.
Programm
Von
Bis
9:00 9:05
Dauer
min
5
Begrüßung
Was
Arbeitsform
Vortrag
9:05 9:15
10
Warum Ethisch-Philsophische Grundlagen in der
Lehrerbildung
Vortrag
9:15 10:00
45
Wirtschaftsethik - Unternehmensethik. Grundfragen Vortrag
und Modelle
10:00 10:30
30
Diskussion
10:30 10:45
15
Pause
10:45 11:30
45
Analyse von Lehrplänen auf Ansatzpunkte für Wirt- Arbeitsgruppen
schaftsethik
11:30 12:15
45
Präsentation der Ergebnisse der Arbeitsgruppen
12:15 12:30
15
Pause
12:30 13:15
45
Zielsyteme von Unternehmen.
13:15 13:45
30
Analyse von Unternehmensleitbildern, Grobentwurf
für eine unterrichtsstunde/-sequenz zum Thema
Unternehmensethik
Präsentation der Ergebnisse der Arbeitsgruppen
Plenum
13:45 14:00
15
Abschluss
Plenum
Plenum
Arbeitsgruppen
Plenum
Materialien für die 1. Gruppenarbeit
Lehrpläne für Wirtschaftsfächer (VWL/BWL) aus verschiedenen Schultypen.
Materialien für die 2. Gruppenarbeit
Es werden Materialien bereitgestellt, die Beispiele von Unternehmen zeigen, welche neben dem Gewinn weitere Ziele verfolgen. Dabei werden drei Bereiche berücksichtigt:
150
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
•
Produkt: Unternehmen, die einen besonderen Anspruch an ihre Produkte haben.
•
Transaktionen mit anderen: Unternehmen, die einen besonderen Anspruch im Umgang mit ihren Kunden und Geschäftspartnern haben (Unternehmen des fairen Handels)
•
Interne Organisation des Unternehmens: Unternehmen die einen besonderen Anspruch an den
sozialen Formen im Unternehmen selbst haben (Unternehmenskultur). Hier soll besonders Beispiele für Unternehmen mit international organisierter Produktion beigebracht werden, die sich
eigene Sozialstandards auferlegen um unabhängig von nationalen Standards unternehmensspezifische Minimalbedingungen zu setzten.
Statt dessen können auch jeweils aktuelle Versionen der Selbstdarstellungen, Geschäftsberichte bei den
jeweiligen Firmen und Institutionen besorgt werden. Gutes Material gibt es bei:
Unternehmen
Daimler-Chrysler AG
Deutsche Bahn AG
Ehrmann
El Puente
Faber-Castell
gepa
HiPP
Lammsbräu
Migros
Otto
Ravensburger AG
Schuler AG
Teekampagne
Trigema
Volkswagen Deutschland
ZF Friedrichshafen AG
Website
http://www.daimlerchrysler.de/dccom/home_d
http://www.db.de/site/bahn/de/unternehmen/unternehmen.html
http://www.ehrmann.de/index3.html
http://www.el-puente.de
http://www.faber-castell.de
http://www.gepa3.de
http://www2.hipp.de
http://www.lammsbraeu.de
http://www.migros.ch/Migros_DE
http://www.otto.com
http://www.ravensburger.de
http://www.schulergroup.com/de/
http://www.teekampagne.de
http://www.trigema.de
http://www.volkswagen.de
http://www.zf.com
Es empfiehlt sich, gerade auch lokale Unternehmen zu berücksichtigen.
Allgemeine Informationen zu Themen wie fairer Handel, Probleme des Welthandels etc. können auch
bei den entwicklungspolitischen Organisationen besorgt werden.
Beim IZEW kann eine CD mit Materialien (Stand Mai 2005) angefordert werden, die folgende Materialien in digitaler Form enthält:
Unternehmen
Datei
Daimler-Chrysler
Daimler-Chrysler_umweltbericht2003.pdf.pdf
DB
DB_umweltbericht__2002.pdf__2002.pdf
DB_umweltbericht__2002__daten__fakten.pdf
DB_umweltkennzahlen__2003__daten__fakten.pdf
DB_umweltschutz__oekologieprofil__2003.pdf
DB_verantwortung__zukunft.pdf
Ehrmann
El Puente
Ehrmann.pdf
El_Puente.pdf
Ethikbank
Ethikbank_anlagekriterien.pdf
Faber-Castell
Faber-Castell.pdf
Faber-Castell_Sozial-_und_Umweltprojekte_20032004.pdf
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
gepa_50_jahre_fairer_handel.pdf
gepa
gepa_aktuell_1_05.pdf
gepa_Geschichte.pdf
gepa_organigramm.pdf
gepa_ZahlenDatenFakten_03_04_D.pdf
GLS
eG
Gemeinschaftsbank GLS_Gemeinschaftsbank_eG_Leitbild.pdf
HiPP
Lammsbräu
HiPP.pdf
Lammsbraeu_Nachhaltigkeitsbericht 2003.pdf
Migros
Nachhaltige_Vision_und_Strategie_der_Migros.pdf
Migros_Nachhaltigkeit.pdf
Profil_der_Migros.pdf
Migros_umwelt-_und_sozialpolitik.pdf
Müller Weingarten
Mueller_Weingarten_bericht2004.pdf
Otto
otto_Handel_umweltbewusst.pdf
otto_Handel_verantwortlich.pdf
michael_otto_stiftung.pdf
otto_Mode.pdf
otto_Nachhaltigkeit2003.pdf
Ravensburger
Schuler AG
Ravensburger_Geschäftsbericht2003.pdf
Schuler_AG.pdf
Teekampagne
Teekampagne.pdf
Trigema
Trigema.pdf
VW
VW_Erklaerung_zu_den_sozialen_Rechten.pdf
VW_Geschaeftsbericht_2003.pdf
VW_Global_Compact.pdf
VW_Umweltbericht2001_2002.pdf
ZF Friedrichshafen AG
ZF_Friedrichshafen_AG_Geschaeftsbericht2003.pdf
ZF_Friedrichshafen_AG_Umweltbericht2002.pdf
Artikel "Ethisches Invest- EthischeGeldanlage.pdf
ment"
151
152
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
12.4. Gemeinschaftskunde und Ethik
Bereits der Name des Faches Gemeinschaftskunde impliziert eine ethische Dimension: Wo es um soziale Beziehungen geht, müssen ethische Variablen berücksichtigt werden, denn die Objekte des Unterrichts sind Subjekte der Lebenswelt. Die im Unterricht behandelten Themen betreffen also kein totes
Material, sondern direkt oder indirekt Lebewesen, Individuen, Personen; damit stellen sich automatisch
Fragen nach Werten und Normen.
12.4.1.
Werterziehung als Grundlage des Gemeinschaftskundeunterrichts
Ein zentraler Bestandteil des Gemeinschaftskundeunterrichts ist die Werterziehung im Kontext demokratischer Grundüberzeugungen: "Ausgehend vom Auftrag des Grundgesetzes sowie der Landesverfassung leistet das Fach Gemeinschaftskunde einen wichtigen Beitrag zur Werteerziehung und zur normativen Orientierung in der politischen Bildung." (Bildungsplan 2004:258) Daraus folgen Fragen der sozialen Verantwortung und ihrer Begründung: "[Die Schülerinnen und Schüler] sollen sich ihrer Rechte
und Pflichten bewusst werden und selbstständig denkende, rational urteilende und sozial verantwortlich
handelnde Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden, die die Regeln für ein rationales und gewaltfreies Austragen politischer Konflikte kennen und achten." (Bildungsplan 2004:258) Unter dem Aspekt einer „Ethik in den Fächern“ ist es wichtig, dass solche Werte nicht nur vermittelt, sondern auch reflektiert und begründet werden. Gerade hinsichtlich der allgegenwärtigen Bezugnahme auf das Prinzip der
Demokratie ("Darüber hinaus leiten sie [die Schülerinnen und Schüler] aus dem Grundgesetz elementare Wert- und Grundhaltungen ab und erkennen deren Bedeutung für die Entwicklung des demokratischen Systems." (Bildungsplan 2004:259) ist eine solche Begründung wichtig – vor allem im Kontext
der internationalen Staatenwelt, in der es trotz aller Wellen der Demokratisierung noch zahlreiche Beispiele autoritärer Systeme gibt, welche einer differenzierten Bewertung bedürfen. Genauso ist das deutsche Regierungssystem vor der Folie „Prinzip Demokratie“ zu überprüfen: Entspricht es den demokratischen Werten? Welche möglichen Alternativen könnte es geben? Oder ist die repräsentative Demokratie die einzige legitimierbare Form der Herrschaftsausübung?
12.4.2.
Unterrichtsthemen Gemeinschaftskunde
Klasse 8
In Klasse 8 werden vor allem die Grundlagen des Gemeinschaftskundeunterrichts hinsichtlich der demokratischen Werterziehung gelegt. Dabei spielen insbesondere Fragen zum Leben der Schüler in ihrem sozialen Umfeld eine wichtige Rolle. In besonderer Weise ethikrelevant sind Fragestellungen, die
von den Schülern erwarten, "[...] das Spannungsfeld zwischen Selbstverwirklichung und sozialen Erwartungen [zu] beschreiben" (Bildungsplan Gymnasium 4/2004: 260); eine solche Themenstellung ist
automatisch verbunden mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Kulturen und der Toleranz, mit
Fragen nach den Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft.
Hinsichtlich der individuellen Selbstverwirklichung und ihrer gesellschaftlichen Begrenzung erscheint
auch die Differenzierung zwischen Grundbedürfnissen (bspw. Menschenrechten, deren Realisierung ethisch zwingend ist) und weitergehenden Wünschen (deren Realisierung ethisch nicht zwingend bzw.
deren Realisierung unter Umständen ethisch nicht wünschenswert ist) von Bedeutung.
Die Vorgabe an die Schüler, "[...] Lebensformen in unserer Gesellschaft [zu] beschreiben und [zu] vergleichen" (Bildungsplan 2004:260) verlangt nach einer Bewertung, für die erst einmal bestimmte normative Kriterien erarbeitet, bzw. bereits implizit vorhandene expliziert werden müssen. Im Hinblick auf
Fragen der Gerechtigkeit spielen zudem auch Fragen zur "spezifische[n] Benachteiligung beider Geschlechter" (Bildungsplan 2004: 260) eine wichtige Rolle.
Eine abstraktere Ebene wird erreicht, wenn sich die Schüler nicht mehr nur dem allgemeinen sozialen
Leben und dem Konflikt zwischen Eigen- und Allgemeininteressen widmen, sondern sich mit "dem Zusammenhang zwischen den Interessen Jugendlicher und politischen Entscheidungen auf kommunaler
Ebene" beschäftigen. Hier werden gesellschaftliche Grundfragen mit dem konkreten politischen System
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
153
verknüpft. Eine solche Verknüpfung lässt normative Rückfragen sowohl nach dem „Interesse Jugendlicher“ zu als auch nach dem politischen System:
-
Wann ist ein Interesse wirklich im Interesse der Person?
-
Wie geht man um mit konkurrierenden Interessen?
-
Wie können Interessen bewertet und gewichtet werden?
-
Ist das politische System so gestaltet, dass Menschen sich innerhalb dieses Systems entwickeln
können?
-
Welche Formen der Partizipation, aber auch der Kritik und des Protestes gibt es?
Schließlich werden erste Blicke über das eigene politische System hinaus in Richtung eines globalen
Systems geworfen (vgl. Bildungsplan 2004:260). Zu diesem Zeitpunkt wird der Unterricht vor allem
auf die ökologische Dimension fokussiert; eine weitere Verknüpfung mit anderen Themenfeldern erfolgt später.
Methodisch soll den Schülern die Fähigkeit zur kontroversen Diskussion über politische Sachverhalte
vermittelt werden: "Sie können diese im Lichte ihrer eigenen und fremder Interessen beurteilen und verfügen über grundlegende Methoden und Möglichkeiten, um Veränderungen zu bewirken." (Bildungsplan Gymnasium 2004:258). Hier geht es um das begründete Bewerten politischer Sachverhalte, um das
Sich-Hineindenken in fremde Kontexte. Alle drei Ebenen – normatives Denken, Perspektivenwechsel
und Eröffnen von Handlungsmöglichkeiten – können im politischen Kontext vor allem dann sinnvoll
eingeübt werden, wenn deutlich ist, dass sie nicht nur politische, sondern auch ethische Kriterien sind.
Klasse 10
Die in Klasse 8 behandelten Grundfragen der demokratischen Ordnung werden hier weiterentwickelt.
Es werden Fragen zum Zusammenhang von "Recht und Rechtssprechung in der Bundesrepublik
Deutschland" (Bildungsplan 2004:261) und Gerechtigkeit thematisiert. Aber auch die Frage nach der
demokratischen Kontrolle von Herrschaft wird auf einer neuen Ebene zum Thema (Bildungsplan
2004:262). Es wird die Frage nach der Begründung der grundlegenden Werte einer Demokratie und
auch ihrer Verteidigung gestellt. Dabei wird das ganze Spektrum staatlicher Gewalt angesprochen, das
in einem demokratischen Staat nicht nur machtpolitisch, sondern auch ethisch begründet sein muss.
-
Mit welchen Mitteln darf sich eine Demokratie gegen antidemokratische Tendenzen verteidigen
ohne die eigenen Grundsätze zu verletzen (bspw. im Hinblick auf die Geschichte und den Umgang mit der RAF)?
-
Darf sie im Notfall selbst auch undemokratische Instrumente einsetzen, um ein übergeordnetes
Ziel zu erreichen (bspw. Diskussion um die Anwendung von Folter durch Polizeibeamte)?
-
Welche Formen des zivilgesellschaftlichen Protestes gegen Herrschaft sind legitim und an welcher Stelle sind ethische Bedenken angebracht (bspw. im Zusammenhang mit Protesten gegen
Atomkraft und den Transport von atomaren Brennelementen in Castor-Behältern)?
In der Weiterentwicklung von Fragestellungen zum demokratischen System ist dann der Fokus auf sozialökonomische Variablen gerichtet, auf eine Beschäftigung mit "Auftrag und Probleme[n] des Sozialstaates" (Bildungsplan 2004: 261). Der ethische Gehalt zeigt sich in Fragen nach Armut und Reichtum,
deren Definitionen und Bewertungen und den problematischen Implikationen des Komplexes "Verteilungsgerechtigkeit".
In der Einführung in die internationale Politik (Bildungsplan 2004: 262) bindet der Bildungsplan selbst
das Thema an ethische Fragestellungen zurück. Nicht nur die Frage von Frieden und Friedenssicherung,
sondern auch die Kenntnis von Menschenrechten, die Kenntnis des Diskurses um deren globale Geltung
(vs. westlicher Prägung), deren Begründung und Möglichkeiten sowie deren Durchsetzung sind Grundfragen politischer Ethik.
154
Fächerverbund Geografie – Wirtschaft – Gemeinschaftskunde und Ethik
Auch die Frage nach den "Formen, Ursachen und Folgen der Migration" (Bildungsplan 2004:261) nach
Deutschland sind von ethischer Relevanz. Dabei können und müssen insbesondere die Fragen nach der
Bedeutung von nationaler Identität und einer „deutschen Leitkultur“ an die Menschenrechtsdebatte
rückgebunden werden. Hier stellt sich beispielsweise die Frage nach der Einordnung signifikanter ökonomischer Benachteiligungen mit einer einschneidenden negativen Konsequenz für die unmittelbaren
Lebensumstände (also extreme Armut) als „wirtschaftliche Fluchtgründe“, die von den allgemeinen
Menschenrechten unterschieden sind.
Kursstufe
Von großer ethischer Relevanz ist hier vor allem der ganze Komplex der internationalen Beziehungen.
Aufbauend auf den in Klasse 8 grundlegend behandelten Fragen zu den Menschenrechten interessieren
hier die Fragen zur Friedens- und Konfliktforschung bzw. zum Themenkomplex "Krieg".
-
Warum gibt es Krieg?
-
Was genau ist mit den Begriffen Krieg und Frieden gemeint?
-
Bedeutet Friede nur das Nichtvorhandensein von organisierter Gewalt, oder gehört zu einem
echten Frieden nicht auch bspw. die Existenz von Gerechtigkeit und grundlegender wirtschaftlicher Absicherung der Lebensumstände (vgl. Senghaas 1995)?
-
Wie ist Krieg operationalisier- und messbar (bspw. anhand des Konfliktgegenstandes, quantitativer Variablen, der Charakterisierung der Konfliktbeteiligten)?
-
Wie verhalten sich die Kriterien der Messbarkeit zu anderen Kriterien wie der des menschlichen Leids?
-
Welche Möglichkeiten zur Konfliktbeendigung und -lösung gibt es?
-
Welche Veränderungen ergeben sich durch die sogenannten „neuen Kriege“, in denen das
staatszentrierte Konzept des Westfälischen Friedens zugunsten nichtstaatlicher Akteure aufgegeben werden muss?
Eine in der ganzen Geschichte der Sozialphilosophie und der politischen Ethik bedeutsame Frage war
die nach der Möglichkeit, den Bedingungen und den kurz- wie langfristigen Konsequenzen eines "bellum iustum". Die These, es gebe einen gerechten Krieg, kann einerseits prinzipiell diskutiert werden.5
Es lassen sich aber auch konkrete Fallbeispiele für einen möglicherweise gerechten und gerechtfertigten
Krieg erörtern. Kontrovers kann der Zusammenhang, positiv wie negativ, von Menschen- und Völkerrecht diskutiert oder speziell auf die Bewertung der "Notwendigkeit beziehungsweise Legitimität humanitärer Interventionen" (Bildungsplan 2004: 263) eingegangen werden. Dies kann anhand von Beispielen wie dem Genozid in Ruanda 1994, dem Kosovo-Krieg 1999 oder der katastrophalen humanitären Situation durch den im Sudan wütenden Bürgerkrieg verdeutlicht werden. Das Thema "Friedenssicherung durch Demokratisierung und Menschenrechtspolitik" (Bildungsplan 2004:265) kann fruchtbar
im Anschluss an Kants Schrift zum ewigen Frieden grundsätzlich und empirisch diskutiert werden.6
Als beispielhafte Möglichkeit zur Thematisierung des Gegenstandes "Krieg" im Unterricht sei auf die
Broschüre "Krieg im Unterricht – Zum Umgang mit dem »Balkan-Krieg« in Schule und Unterricht"
(1999) des Vereins für Friedenspädagogik Tübingen e.V. verwiesen. Hier werden zunächst Überlegungen zur Rolle der Pädagogik bei der Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden präsentiert. Anschließend werden exemplarische Fragen zur Thematik dargestellt und kurze Antworten skizziert. Abschließend wird dann auf Möglichkeiten zum Handeln gegen Krieg eingegangen. Neben diesen Hauptthemen
werden zudem in kompakter Weise Informationen zu Themen wie "Recherchemöglichkeiten und Medienanalyse", "Interventionen und Ethik – zwei Meinungen", "Krisen und Kriege 1998", "Kriegsge-
5
6
Dazu knapp einführend Frericks (o.Ja.)
Zur Bedeutung und Interpretation von Kants Friedensschrift vgl. Höffe 2004. Zur neueren Diskussion in
der Politikwissenschaft gibt Hasenclever 2001 einen profunden Überblick.
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schichte in Deutschland", "Geschlechtsspezifische Gewalt in Kriegen" sowie "Besondere Anknüpfungspunkte für Gespräche und Unterrichtsvorhaben" zur Verfügung gestellt.
Auch das Oberthema Globalisierung gebiert zahlreiche ethisch relevante Fragen, vor allem im Hinblick
auf ökonomische Variablen, Migration, Entwicklungspolitik, etc. So ist der Zusammenhang von
"Weltwirtschaft und internationale[r] Politik" (Bildungsplan 2004: 263) von ethischem Interesse, speziell wenn es um die Bedeutung von Menschenrechten in Konkurrenz zu ökonomischen Werten geht.
-
Wie sind die Aktivitäten von inter- und transnational agierenden Nichtregierungsorganisationen, bspw. im Kontext von G8-Gipfeln und der Frage nach einem Schuldenerlass für die ärmsten Staaten der Welt zu bewerten?
-
Welches zivilgesellschaftliche Pendant kann einer weit vorangeschrittenen ökonomischen Globalisierung gegenüber- oder nebenangestellt werden?
-
Welchen Werten wäre eine solche globale Gemeinschaft verpflichtet?
In der konkreten Politik zeigt sich diese Diskussion bspw. im Ringen um eine Reform der Vereinten
Nationen, in dem immer wieder die Forderung nach einem festen Platz für die offiziellen Vertreter gesellschaftlicher Gruppen im Rahmen des institutionellen Gefüges der Vereinten Nationen laut wird.
-
Würden sich die Vereinten Nationen mittels solcher Reformen Vorstellungen von "global governance" nähern und wäre das überhaupt wünschenswert?
-
Welchen Eigenwert besitzen Nationalstaaten?
-
Bedeutet eine Globalisierung der Gesellschaft auch eine Nivellierung der unterschiedlichen regionalen und kulturellen Charakteristika bzw. wie wäre eine solche Entwicklung zu bewerten?
-
Anhand welcher Kriterien könnte festgelegt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen im
Rahmen der Vereinten Nationen vertreten sein sollen und welche Rolle spielte ein solches (vereinfachtes oder gar verfälschtes) institutionelles Abbild der Zivilgesellschaft im Hinblick auf
die Entwicklungen in der Realität?
Zur Gestaltung eines Unterrichtes zu diesem Thema sei Ausgabe 1/1997 der Zeitschrift "Global lernen
– Service für Lehrerinnen und Lehrer" empfohlen. Hier werden thematische und methodische Bausteine
(Gruppenarbeit, Einstiegsmöglichkeiten, Recherchehinweise, Materialien) zur Vermittlung des Stoffes
angeboten und weitere Möglichkeiten zur weiteren Aktivität der Schüler in diesem Themenbereich erörtert. Dabei wird nicht nur auf die ökonomische, sondern auch auf die politische Dimension der Globalisierung eingegangen.
Methodische Dimension
Die Erwartung des Bildungsplans "Dabei berücksichtigen [die Schülerinnen und Schüler] unterschiedliche Politikdimensionen und unterscheiden im Diskurs zwischen konstatierenden, erklärenden und wertenden Urteilen" (Bildungsplan 2004: 258) nimmt die wichtige ethische Unterscheidung von deskriptiven normativen und evaluativen Sätzen auf. Für die Sozialwissenschaften impliziert die vermeintliche
Möglichkeit objektiv konstatierender oder erklärender Urteile eine unvoreingenommene Wertfreiheit,
die in der Realität kaum vorhanden ist. Vielmehr sind gerade hier wissenschaftliche Urteile oftmals theoriegesättigt und damit in je eigener Weise subjektiv.
Diese Frage ist eng verknüpft mit der Problematik der Modellbildung, wie sie auch in anderen Fächern
vorhanden ist (vgl. dazu die detaillierteren Ausführungen für das Fach Mathematik). Auch im Fach
Gemeinschaftskunde gilt: Die Konstruktion von Modellen ist ein Mittel zur Interpretation der Wirklichkeit, nicht aber zu ihrer objektiven Darstellung. Mit jedem neuen Modell verändert sich das Ergebnis
der Interpretation. Deshalb ist es von großer Bedeutung, den Vorgang der Modellbildung zu erläutern
und offen zu legen und auf die ethische Relevanz der Unterscheidung von Modell und Realität einzugehen. Eine ergiebige Reflexion dieses Themenkomplexes kann jedoch wohl erst in der Kursstufe von den
Schülerinnen und Schülern erwartet werden. Beispielhaft spielt dies im Bildungsplan eine Rolle im Bereich "Struktur der Staatenwelt und Konfliktbewältigung" (Bildungsplan 2004:265), wo von den Schülerinnen und Schülern erwartet wird, dass sie "[...] die Struktur der internationalen Staatenwelt mithilfe
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eines Kategorienmodells beschreiben" (Bildungsplan Gymnasium 4/2004: 265). Je nach der Konzeptualisierung der Nationalstaaten entstehen ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Charakter der internationalen Beziehungen (vgl. Krell 2004 und Hollis/Smith 1991). Da die Schülerinnen und Schüler selbst
politische Akteure sein werden, kommt es darauf an, ihnen die Auswirkung solcher Vorentscheidungen
der Modellbildung vor Augen zu führen, um Denkblockaden durch vermeintliche Sachzwänge, die nur
der Modellbildung geschuldet sind, zu verhindern.
12.4.3.
Literatur
Frericks, Hanns o.J. a: Zur Theorie des „gerechten Krieges“: Genese – Entwicklung – gegenwärtige Diskussion.
URL: http://www.sembs.s.bw.schule.de/bereiche/sprachwissenschaft/GerechterKriegVortrag.htm
Frericks, Hanns o.J. b: Stichwort Humanitäre Intervention. URL: http://www.sembs.s.bw.schule.de
/bereiche/sprachwissenschaft/HumanitaereIntervention.htm
Hasenclever, Andreas (2001): Europa und der demokratische Frieden. Tübinger Arbeitspapiere zur Internationalen
Politik und Friedensforschung Nr. 38, Tübingen.
Höffe, Otfried (Hrsg.) 2004: Immanuel Kant - Zum ewigen Frieden. [=Klassiker Auslegen, 1], Akademie-Verlag,
Berlin.
Hollis, Martin; Smith, Steve 1991: Explaining and Understanding International Relations. Clarendon Press, Oxford.
Kant, Immanuel 1795: Zum ewigen Frieden: ein philosophischer Entwurf. Nicolovius, Königsberg.
Krell, Gert 2004: Weltbilder und Weltordnung: Einführung in die Theorie der Internationalen Beziehungen. Nomos, Baden-Baden.
Schulprojektstelle GLOBALES LERNEN (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Pädagogik und "Brot für die
Welt") (1997) (Hrsg.): Global Lernen. Service für Lehrerinnen und Lehrer, Ausgabe 1/1997: Globalisierung,
Stuttgart/Tübingen.
Senghaas, Dieter (1995): Frieden als Zivilisierungsprojekt, in: Ders. (Hrsg.): Den Frieden denken. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, S. 198ff.
Verein für Friedenspädagogik Tübingen e.V. (1999): Krieg im Unterricht. Zum Umgang mit dem "Balkan-Krieg"
in Schule und Unterricht, Tübingen.
12.4.4.
Handy Kids – Verankerung des politisch-moralisches Lernens in
der Lebenswelt Jugendlicher (Manuela Droll)
0.0. Didaktischer Kommentar
Das Heranwachsen und Erwachsenwerden in der heutigen Zeit stellt für Jugendliche eine große Herausforderung dar. Neben den individuellen Krisen und Verunsicherungen, welche die Pubertät ohnehin
für jeden Teennager mit sich bringt, verlangt die moderne, pluralistische Gesellschaft jedem ein großes
Maß an Flexibilität und Risikobereitschaft ab. Alle müssen sich ihre eigene Biografie „basteln“, ihre
eigene Identität suchen und entwickeln. Jeder wird zum Regisseur seines eigenen Lebens und kann eine
Vielzahl von Rollen ausprobieren. Was ein Zugewinn an persönlicher Freiheit ist, kann auch zum
Zwang zur Selbstdarstellung ausarten, gerade bei junge Menschen, die noch im Selbstfindungsprozess
sind. Mode, Idole, Musik, Werbung haben dabei für Jugendliche und ihre Peer-Gruppe (die Gleichaltrigen) eine wichtige orientierende Funktion. Häufig entscheiden bestimmte äußere Merkmale oder Statussymbole über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Was „in“ und
„out“ ist kann sich plötzlich ändern und einen neuen Trend hervorrufen, den häufig die Erwachsenen
gar nicht so schnell erfassen können.
Andererseits sind traditionelle Orientierungsmuster und Sozialisationsinstanzen (Religion, Familie,
Schule, Staat) durch politische Umbrüche sowie wirtschaftliche, technologische und soziale Entwicklungen starken Veränderungen oder gar Auflösungserscheinungen unterworfen. Alte Rollenmuster, z.B.
von Männern und Frauen oder von Jung und Alt, werden in Frage gestellt. Neue Verhaltenweisen bilden sicher heraus und treten in Widerstreit mit bisherigen Traditionen. Auch die Welt der Erwachsenen
kann keine letztlich gültigen Maßstäbe mehr liefern.
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Dieser Prozess wird durch die verfügbaren Transportmittel (Auto, Flugzeug, etc.) und die neuen Informations- und Kommunikationsmedien (Fernsehen, Internet, Handy, etc.) noch enorm beschleunigt: Wir
leben in einer globalisierten Welt, in der potenziell jeder zu jeder Zeit an jedem Ort sein kann – real
oder virtuell. Das Handy als „Nabelschnur“ zur Welt – verbunden, aber nicht mehr eingebunden!
Einer theoretisch unbegrenzten Vielfalt von Optionen stehen jedoch für den Einzelnen nur begrenzte
Möglichkeiten gegenüber: Abhängig von geografischer und sozialer Herkunft, Bildung oder Besitz sind
die Lebenschancen und -risiken unterschiedlich verteilt. Je unsolidarischer und individualistischer eine Gesellschaft wird, desto mehr muss der Einzelne es als persönliches Versagen erleben, wenn er nicht
zu den Erfolgreichen gehört. Oft zählt das „Haben“ mehr als das „Sein“. Dies macht Menschen – insbesondere Jugendliche – verführbar und untergräbt tendenziell moralische Standards. „Ich nehme mir einfach, was ich brauche!“ Der Unterschied zwischen existenziellen Grundbedürfnissen und (Konsum-)
Wünschen verschwimmt und führt bei manchen zu einer Anspruchshaltung, die weder Gesellschaft
noch Politik bedienen können. Es geht also darum, Jugendliche so zu stärken, dass sie ihre Identität weniger auf äußere Reize und Einflüsse aufbauen als vielmehr auf ein stabiles Selbstwertgefühl.
Lernziele:
Durch diese Unterrichtseinheit werden die Schüler/innen
•
an Beispielen aus ihrer Alltagswelt kritisch hinterfragen, welchen Einfluss die Peer-Gruppe ausübt
und ihr gegenüber das eigene Selbstbewusstsein stärken
•
den Unterschied zwischen Bedürfnissen und Wünschen verstehen und erkennen, dass die Menschenrechte allen Menschen auf der Erde die existentiellen Grundbedürfnisse sichern sollen
•
am Beispiel des Umgangs mit dem Handys Einsicht in den Sinn sozialer Regeln und Normen gewinnen
•
im Rollenspiel Ursachen der „Schuldenfalle“ analysieren und Auswege erproben
•
exemplarisch Einblick in die technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen im Zuge der
Globalisierung gewinnen sowie die Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation reflektieren
•
ihre Medien- und Methodenkompetenz gezielt erweitern
Die Unterrichtseinheit wurde konzipiert für den Gemeinschaftskundeunterricht in der Berufsschule
(1. Lehrjahr) Sie eignet sich jedoch ebenso für den GK-Unterricht in Vollzeitschulen (Klasse 10 und
11). Die Lektionen 1-3 fokussieren auf das soziale Lernen, die Lektionen 4-6 auf das politische Lernen.
Ethisch-moralische Fragestellungen sind in allen Lektionen impliziert.
Für die gesamten Materialien zur Unterrichtseinheit „Politik für Handy-Kids“ siehe Anhang GWG01.
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12.4.5.
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Politische Bildung und Ethik (Erik Müller)
12.4.5.1. Politik und Ethik
Poltisches Handeln ist nach der Auffassung des Grundgesetzes nicht zu trennen von ethischem Handeln. Der sittliche Kern unserer Verfassung – der Schutz der Menschenwürde – bestimmt als grundlegender Leitsatz alles politische Tun. Mehr noch: Die Demokratie selbst als Staats- und Regierungsform ist die Institutionalisierung historisch gewachsener ethischer Normen: die Sicherung der Grundrechte, der Schutz von Minderheiten, das Regieren auf Zeit, die Beschränkung politischer Macht durch
Gewaltenteilung. All diese Prinzipien sichern den Fortbestand der Demokratie und somit die Herrschaft des Rechts.
Darüber hinaus sind viele aktuelle politische Konflikte Wertekonflikte. Es wird auf der gesellschaftlichen Ebene darüber gestritten, welche Normen als gesellschaftlich bindend angesehen werden. Man
überlässt grundlegende Fragen, was konkret als gut und als böse zu betrachten und wie in bestimmten
Situationen zu handeln sei, nicht immer den Bürgern, sondern sucht bindende Regeln für alle. Dazu
gehört die Auseinandersetzung um die Sterbehilfe, die Frage, ob die Forschung an embryonalen
Stammzellen erlaubt werden soll, die Regelung der Abtreibung (§218), die Debatte über Folter, den
Export von Kriegswaffen in Krisengebiete, die Auseinandersetzung um das Völkerrecht und die Frage,
ob mit Regimen, die die Menschenrechte nicht achten, Handel betrieben werden darf.
12.4.5.2. Kann die Schule diese gesellschaftliche Debatte widerspiegeln?
Die gesellschaftliche Debatte um ethische Fragen - z.B. um die Stammzellforschung - spiegelt die
Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Interessen wider. So streiten beispielsweise Biologen, Vertreter der Pharmakonzerne, Mediziner, Vertreter der Kirchen und Ethiker in der Öffentlichkeit und versuchen, Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess zu nehmen.
Diese gesellschaftliche Debatte kann in der Schule durch ein fächerübergreifendes Vorgehen deutlich
gemacht werden. Die verschiedenen Blickwinkel können z.B. im Ethik-, Biologie- und Religionsunterricht behandelt werden. Im Gemeinschaftskundeunterricht kann dann die Frage bearbeitet werden,
wie diese Interessen Einfluss nehmen und wie eine verbindliche politische Entscheidung getroffen
wird. Eine Kooperation der Fächer ist nicht nur deshalb lohnend, weil dadurch die verschiedenen Perspektiven deutlich werden, sondern außerdem gewinnbringend, weil auch gezeigt wird, dass ethische
Fragestellung nicht durch eine monokausale Herangehensweise bearbeitet werden können.
12.4.5.3. Methodisch-didaktische Anmerkungen
Ziel des Gemeinschaftskundeunterrichts ist es, einen Beitrag zu leisten, die Schülerinnen und Schüler
zu einer mündigen Autonomie zu erziehen. Da sie diese Fähigkeit noch nicht umfassend besitzen, ist
es von großer Bedeutung, die in der Gesellschaft heftig diskutierten Fragen auch im Unterricht in dieser Kontroversität zu behandeln („Kontroversitätsprinzip“). Den Schülerinnen und Schülern dient der
Unterricht so als ein Versuchsfeld, in dem sie ihre Meinung bilden können und sich einer kritischen
Diskussion stellen können. Der Unterricht darf keine vorgefertigten Antworten liefern, sondern muss
die gesellschaftliche Debatte widerspiegeln und es den Schülerinnen und Schülern auf der Grundlage
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der verschiedenen Positionen ermöglichen, ihre eigene Meinung zu formulieren („Überwältigungsverbot“).
Damit dies gelingen kann, müssen die Schülerinnen und Schüler auch in Situationen gebracht werden,
die eine Entscheidung des Individuums notwendig machen. Eine Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler mit schwierigen Entscheidungssituationen zu konfrontieren, stellen die moralischen Dilemmas
(M5/M9) dar7. Die in diesen Dilemmas enthaltenen Werte sind meist unumstritten. Menschen sind aber häufig überfordert, wenn diese Werte oder Prinzipien miteinander in Konflikt geraten. Vor einem
Dilemma stehen die Schülerinnen und Schüler dann, wenn die Einhaltung unterschiedlicher Werte
zwei Handlungsweisen erfordern würde, die sich jedoch gegenseitig ausschließen: „Wie kann ich entscheiden, dass alle beteiligten Moralprinzipien eingehalten werden?“8
„Politisches Handeln geschieht in ständigen, sich wiederholenden oder erneuernden Spannungen.“9
Gerade die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zeigt die Spannung politischer Prinzipien. Diese
Spannung kann begrifflich u.a. durch dialektische Kategorienpaare (Bernhard Sutor) im Unterricht
verdeutlicht werden. Mit Hilfe dieser Kategorienpaare können Schülerinnen und Schüler zukünftig
selbstständig ethische Fragestellungen in der politischen Diskussion untersuchen und beurteilen. Sie
erkennen, dass gerade die Spannung zwischen politischen Prinzipien, die autonome Entscheidung des
mündigen Bürgers erzwingt. Der Aufbau einer solchen kognitiven Struktur10 ist demnach eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Schülerinnen und Schüler zu verantwortungsvoll handelnden Bürgern
werden.
12.4.5.4. Beispiele dialektischer Kategorienpaare
Legitimität (Moral) und Effizienz (Erfolg): Die Auseinandersetzung um die Stammzellforschung ist
geprägt durch verschiedene Fragen, die im Kern unterschiedliche Perspektiven deutlich machen. Auf
der einen Seite: Was kann durch die Stammzellforschung alles erreicht werden? Welche Krankheit,
welches Leid kann gelindert werden? (Effizienz/Erfolg)
Auf der anderen Seite: Wo liegen die Grenzen der Forschung? Was darf der Mensch? Heiligt der
Zweck alle Mittel? (Legitimität/Moral).
Macht und Recht: „Politik soll dem Recht zur Macht verhelfen, und zugleich soll Macht durch Recht gebändigt
werden.“11 Macht und Recht sind in einer Demokratie untrennbar miteinander verbunden. Die politische Macht
wird ohne rechtliche Beschränkung unmenschlich, das Recht ohne politische Macht unwirksam. Wenn die Justiz
keine Macht besitzt, wird sie wirkungslos. Besitzt sie zu viel Macht oder überschreitet sie ihre Machtbefugnis,
dann verliert sie ihren Anspruch Recht zu sprechen.
Auch hier gibt es Fragestellungen, die die „strukturell gegebene Polarität von Prinzipien, die sich gegenseitig bedingen und zugleich begrenzen“12 deutlich machen: Darf für einen „guten“ Zweck das Recht gebrochen werden?
7
8
9
10
11
12
Vgl.: Georg Lind: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer
Bildung. München 2003.
Vgl.: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/ (26.7.2005)
Bernhard Sutor: Politische Bildung als Praxis. Grundzüge eines didaktischen Konzepts. Schwalbach/T.s
19942, S. 16
Vgl.: Walter Gagel: Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts. Ein Studienbuch. Opladen
20002, S. 258ff.
Ebd. S.23
Ebd. S. 17
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171
Dürfen Straftäter gefoltert werden, wenn dadurch Menschen gerettet werden könnten? Dürfen Terroristen ohne
rechtlichen Beistand inhaftiert werden?
Fragestellungen für den Unterricht:
Für den Unterricht ergeben sich verschiedene schwierige, aber dadurch auch lohnende Fragestellungen. Die darin enthaltenen Probleme und Konflikte erfordern eine intensive Auseinandersetzung und
v.a. eine persönliche Stellungnahme der Schülerinnen und Schüler. Mündige Autonomie erreichen die
Schülerinnen und Schüler nur, wenn sie beispielsweise mit solchen Fragestellungen konfrontiert werden, die ihnen Freiraum für eine persönliche Abwägung und Entscheidung lassen oder besser: die sie
zu einer Entscheidung zwingen.
Gilt das Folterverbot absolut?
M1-5
Darf der Staat zum Schutz seiner Bürger foltern?
Darf an embryonalen Stammzellen geforscht werden?
M6-8
Wann beginnt menschliches Leben und damit die Menschenwürde?
Heiligt der Zweck die Mittel?
Darf man Krieg führen, um Menschenrechte zu sichern?
M9-M11
Gilt das Völkerrecht absolut oder sind humanitäre Interventionen gegen das
Völkerrecht möglich?
Kann Krieg legitimiert werden?
Dürfen wir Handel treiben mit Ländern, die die Menschenrechte nicht achten?
Darf unser Wohlstand größer werden, weil wir mit Ländern Wirtschaftsbeziehungen haben, in denen Menschen unterdrückt werden und ihnen die Rechte
entzogen werden, die für uns gelten?
12.4.5.5. Materialien
Zu den Materialien vgl. Anhang GWG02.
M12
172
13.
Sport und Ethik
Sport und Ethik
13.1. Ethische Fragen im Sportunterricht
Am selben Tag mag bei der Tour de France der eine Favorit auf den gestürzten anderen Favoriten warten, während für einen dritten die Tour beendet ist, weil er ein Dopingmittel genommen hat, das man
ihm nachweisen konnte. Am selben Tag mag für fußballbegeisterte Kinder und Jugendliche ein „Fair
Play Cup“ starten, während Trainer, Eltern und Freunde vom Spielfeldrand „mach ihn fertig!“ rufen
und noch ein weiterer prominenter Schiedsrichter sich als korrupt erwiesen hat. Am selben Tag mag der
Sportbund oder eine Krankenkasse zu mehr Sport und Bewegung aufrufen, während für den einen oder
anderen Jugendlichen, der einem ganz bestimmten normierten Körperbild glaubt entsprechen zu müssen, Sport schon zur Sucht geworden ist.
Sport ist wichtig. Diese Erkenntnis hat sich allmählich – auch für den schulischen Bereich – durchgesetzt. Sport ermöglicht nicht nur auf Dauer ein gesünderes Leben, sondern genauso die Entwicklung
eines positiven Begriffs von Leistung und Disziplin, den gezielten Einsatz von Energie, das geregelte
Erleben von Aggressionen, ein positives Körperbewusstsein und nicht zuletzt, so die Ergebnisse der
Hirnforschung, besseres Lernen. Zudem nimmt Sport und Bewegung einen immer größeren Raum in
der Gewalt- und Suchtprävention ein.
Es scheint also, dass es weniger moralische Probleme innerhalb des Sports gibt als dass kein Sport als
moralisches Problem erscheint. Dies stimmt insofern, als dass das Bildungssystem den Kindern und Jugendlichen die Erfahrung und die Möglichkeit von Sport und Bewegung schuldet. In diesem Sinn wurde schon 1994 in Baden-Württemberg eine Gesamtkonzeption „Sport- und Bewegungsfreundliche
Schule“ entwickelt – eine Maßnahme, die seit 1997 von der Stiftung „Sport in der Schule“ unterstützt
wird. Die Eckpunkte dieses Konzepts sind tägliche Bewegungszeiten, ein bewegungsfreundlicher
Schulhof, Schülermentoren und Stundenpool-Modelle für das Fach Sport.
Zugleich ist Sport als Praxis und als Wissenschaft nicht einfach ‚gut’ oder ‚wertneutral’. Hier stellen
sich klare ethische Fragen, deren wichtigste die Konzentration auf Leistung und Erfolg und die Kommerzialisierung sind.
Der Mensch ist nicht nur ein sprechendes, denkendes, spielendes, sondern auch ein „leistendes“ Wesen.
Wie aber Leistung verstanden und eingeordnet wird, ist kulturell, historisch und individuell unterschiedlich. Insbesondere im Leistungssport, aber auch im Breitensport und im Schulsport nimmt ‚Leistung’
eine wichtige Rolle ein. Seit den siebziger Jahren wird ‚Leistung’ immer wieder kritisiert und insbesondere hohe sportliche Leistung als entfremdet beschrieben: nicht mehr Menschen, sondern ihre Leistungen zählen, Individuen werden zu „Substraten von Maßeinheiten“ (Habermas 1975: 40). So sehr eine
solche Leistungskritik auf inhärente und reale Gefahren hinweist, so sehr ist sie in ihrer Pauschalität
fragwürdig: Eine sportliche Leistung muss nicht entfremdet sein, sondern kann als genuine Leistung der
Person gesehen und erfahren werden; es ist eine Leistung, der ein spezifisches Leistungs-Ethos zugrunde liegt, das Beharrlichkeit, Beständigkeit und klare Zielvorstellungen beinhaltet.
Zugleich sind durch bessere Trainingsmethoden, medizinische Begleitung und Frühförderung die Leistungssteigerungen im Sport enorm. Wenn Leistung nicht mehr in Relation zu einer bestimmten Person
gesehen wird, sondern einen absoluten Stellenwert einnimmt, dann stellen sich hier ethische Fragen: die
Frage nach medizinisch-technologischer Manipulation und letztendlich die Frage nach den Grenzen des
Menschlichen; die Frage nach einer Normierung von Leistung und Erfolg, verbunden mit der Abwertung anderer, nicht-normierter Leistungen und Erfolge; die Frage nach Gesundheit einerseits und Kindheit andererseits, die der Preis von Leistung und Erfolg sein können.
Sport und Ethik
173
Kommerzialisierung wird verstanden als die Veränderung des institutionellen Arrangements zur Steuerung und Koordination wirtschaftlichen Verhaltens. Diese breite Kommerzialisierung des Sports hat
viele Dimensionen: Vereine bieten Kurse für Nicht-Mitglieder an; in kommunalen Stadien werden
Stellflächen für Werbung vermietet; Sportler werden gegen Ablösesummen ‚verkauft’; Einnahmen aus
Fernsehverträgen werden nach einem komplizierten Schlüssel auf Vereine und Verbände verteilt; einzelne Sportler werden durch ihre Identifikation mit einer Marke selbst zum Marken-Symbol etc.
Die Folgen sind strukturell und individuell zu spüren: Es entsteht eine Spirale der Präferenzverschiebung, wenn attraktive Sportarten mehr finanzielle Förderung erhalten und dadurch die Möglichkeit bekommen, noch attraktiver zu werden (etwa durch den „Einkauf“ von „Stars“) – auf Kosten anderer
Menschen und Sportarten. Individuell bedeutet die Kommerzialisierung des Sports, dass Spitzensportler
extrem hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Ihnen steht nur eine relativ
kurze Zeit zur Verfügung, um Geld zu verdienen, so dass ihre Sportpraxis den Charakter der „Ressourcenausbeutung“ bekommt. (vgl. Heinemann 32001: 292-298)
Was für den Spitzensport gilt, wird in abgeschwächter Form auch im Schulsport deutlich:
Auch hier muss Leistung bewertet werden, auch hier ist sportliche Leistung in der Regel statussteigernd und ein mangelndes Leistungs-Niveau immer wieder degradierend; zugleich scheint die Teilnahme an der breiten Vermarktung nicht nur des Sports, sondern auch der Sportler als Markenträger (in
Gestalt der „richtigen“ Turnschuhe) zu einer Art sozialer Verpflichtung geworden zu sein.
Im Bereich des Sports werden damit Probleme sichtbar, die über den Sport hinausgehen, weil sie gesamtgesellschaftliche Probleme sind: Probleme der Veränderung von Anthropologie und Menschenbildern durch Technologien einerseits und Werbung andererseits; Probleme der Rolle des Körpers in unserer Gesellschaft, der in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr normiert wird und immer wieder
als Maschine wahrgenommen wird: ästhetisch ansprechend und bei Bedarf umstandslos zu reparieren;
Probleme des Stellenwerts von Leistung und Probleme der Käuflichkeit von grundsätzlich nichtkäuflichen Werten wie Anerkennung und Selbstwertgefühl.
Gleichzeitig ist damit der Sport und in besonderer Weise die Sporterziehung eine Möglichkeit, im Binnenraum der Turnhalle oder des Sportplatzes auf allgemeine Probleme aufmerksam zu machen und
Wege zu deren Bearbeitung zu finden.
Die Nähe von Sport und Ethik ist in einer solchen Problembearbeitung offensichtlich:
Sport ist Regel-gebundenes Handeln, ein agonales Spiel, das durch das Einhalten der Regeln Spiel
bleibt und nicht Krieg wird. Die Grundlagen des Sports sind immer auch ethische Prinzipien.
Es mag allen einleuchtend sein, dass es ohne das Einhalten von Regeln kein Spiel und keinen Wettkampf geben kann. Die ethische Frage ist dabei nicht nur die Frage nach dem Einhalten der geschriebenen, sonder auch die Frage nach dem Einhalten der ungeschriebenen Regeln; es sind die ungeschriebenen Regeln, durch die Fairness konstituiert wird.
„Fairness bedeutet für mich, nur unfair spielen, wenn es nötig ist.“ (B-Jugend-Auswahlspieler, 15-16
Jahre alt, Fußball)
„Fairness ist, hart und mit Tricks zu spielen, wenn es sein muss. Das darf aber nicht öfter passieren,
sonst kann man es nicht mehr Fairness nennen.“ (Mittelfeldspieler, 13 Jahre, Fußball) (Pilz o.J.: 4; 1;
vgl. Pilz 1987; 1989)
174
Sport und Ethik
In einer Untersuchung des Soziologen, Psychologen und Sportwissenschaftlers Gunter A. Pilz wird
deutlich, dass aktive (jugendliche) Spieler ihre eigene Fairnessdefinition haben: Es gibt ‚faire Fouls’.
Diese Konzept der ‚fairen Fouls’ ist eine Legitimation absichtlicher Regelverstöße im Interesse des
sportlichen Erfolgs. Eine solche Legitimation wird von vielen Strukturen des Systems unterstützt:
„Nun müssen wir aber aufpassen, dass die Jungs nicht vor lauter Fairness vergessen, erfolgreich zu
spielen.“ (ein C-Jugend-Trainer bei der Einführung des Fair Play Cups)
„Scheiß Fair Play Cup, die Jungens spielen zu fair, die müssen bissiger werden.“ (der Trainer, der die
Mannschaft, die den Fair Play Cup gewonnen hatte, in der B-Jugend übernommen hatte) (Pilz o.J.: 5)
Erziehungsmaßnahmen durch Verantwortliche streben an, dass die Jugendlichen sich nach einem Foul
beim Schiedsrichter entschuldigen, nicht, dass auf Fouls verzichtet wird.
Offensichtlich ist für viele oder die meisten Bereiche des Sports der Wille zum Spiel, der Wille zu gewinnen, der Wille zu konkurrieren und Leistung zu messen elementar. Fairnesserziehung ausschließlich
dadurch zu praktizieren, dass man den Wettkampf und den Leistungsgedanken aus dem Sport entfernt
– Spiele ohne Verlierer etc. – verfehlt dann ihr Ziel; Fairness muss sich gerade unter den Bedingungen
von Wettkampf, Leistung und Konkurrenz bewähren können. Zugleich gibt es im Bereich des Schulsports Ansätze, die allgemeine Bewegungserziehung in den Vordergrund stellen und sich weniger als
schulische Variante des Leistungssports verstehen (zu diesen unterschiedlichen Ansätzen vergleiche die
Ausführungen von Ulrike Köhle und Rolf Dober in diesem Band).
Damit stellt sich die Frage, welche Form des Sports (und auch welche Form des Wettkampfs) für die
Schule als ‚gut’ befunden und in der Schule gelehrt werden soll. Schulsport muss nicht von Leistung
und Konkurrenz "gereinigt" werden, wohl aber müssen die Begriffe von Leistung und Konkurrenz reflektiert werden.
„Für Sport, der ausschließlich am Sieg orientiert ist, wird Fairness zur Utopie, zumindest zu einem überholten Relikt.“ (Gabler 32001: 158). Eine solche Form des Sports hat eine eigene „Untergrundmoral“: das rücksichtslose Durchsetzen des eigenen Erfolgs. Täuschungen, Betrug, Doping, unfaires Verhalten, das dem Erfolg dient, sind Teil dieser „Untergrundmoral“. Die Entrüstung, die sich beim Aufdecken eines solchen Verstoßes öffentlich breit macht, individualisiert das Vergehen, indem sie es dem
einzelnen Sportler und dessen übersteigertem Leistungswillen zuschreibt (Bette 1989, 200f) – nicht dem
System.
Für eine Form des Sports aber, „der sich konsequent am Prinzip der Regeltreue, Chancengleichheit und
Achtung des Gegners als Person und Partner ausrichtet, … wird Fairness zur Leitvorstellung bzw. zum
grundlegenden Prinzip“ (Gabler 32001: 158).
Fairness als Leitprinzip des Sports wird vom Europarat in dessen Code of Sports Ethics (1993) so definiert:
“Fair Play ist viel mehr als nur ein Spiel unter Beachtung der Regeln. Es verkörpert die Idee der
Freundschaft und des Spielens im rechten Geist. Fair Play ist eine Art des Denkens, nicht nur des Verhaltens. Es zielt ab auf die Beseitigung von Betrug, unzulässigen psychologischen Tricks, Doping, körperlicher und verbaler Gewalt, sexueller Belästigung und sexueller Gewalt Kindern, Jugendlichen und
Frauen gegenüber, Beseitigung von ungleichen Chancen, exzessiver Kommerzialisierung und Korruption.“1
1
Im Original: "Fair play is defined as much more than playing with the rules. It incorporates the concepts of
friendship, respect for others and always playing within the right spirit. Fair play is defined as a way of
thinking, not just a way of behaving. It incorporates issues concerned with the elimination of cheating,
gamesmanship, doping, violence (both physical and verbal), the sexual harassment and abuse of children,
young people and women, exploitation, unequal opportunities, excessive commercialisation and corruption." Vgl. den in diesem Band dokumentierten Text des Code of Sports Ethics des Europarats.
Sport und Ethik
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Eine der möglichen Reaktionsweisen auf die ethischen Probleme im Sport ist damit das Aufstellen von
Ethikcodes für unterschiedliche Zusammenhänge. Diese für unterschiedliche Gruppen und Situationen
immer neu zu entwickelnden Ethikcodes ermöglichen eine strukturelle Betrachtung der ethischen Probleme im Sport: Erziehung zur Fairness wird ergänzt durch das Schaffen von Bedingungen für mehr
Fairness. Die grundlegende dieser Bedingungen ist die Sicht, Wahrnehmung und Praxis des Sports als
„agonales Spiel“, für das der Sieg wichtig, aber nicht allein entscheidend ist.
13.2. Literatur
Lexikon der Ethik im Sport, hrsg. v. Ommo Grupe und Dietmar Mieth, Schorndorf.
Bette, Karl-Heinz (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin.
Bourdieu, P.(1986): Historische und soziale Voraussetzungen des modernen Sports. In: G. Hortleder und G. Gebauer (Hg.): Sport – Ethos – Tod. Frankfurt/M.
Gabler, Hartmut (32001): Artikel Fairness / Fair Play. In: Lexikon der Ethik im Sport, hrsg. v. Ommo Grupe und
Dietmar Mieth, Schorndorf, S. 149-158.
Habermas, J. (41975): Soziologische Notiz zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: Plessner, H. u.a. (Hg.):
Sport und Leibeserziehung. Sozialwissenschaftliche, pädagogische und medizinische Beiträge. München, S.
28-46.
Heinemann, Klaus (32001): Artikel „Kommerzialisierung“. In: Lexikon der Ethik im Sport, hrsg. v. Ommo Grupe
und Dietmar Mieth. Schorndorf, S. 292-298.
Lenk, H.(1988): Fair geht vor oder die Spaltung der Moral. In: dsb-Information Nr. 38, S. 1-2. Lenk, H./Pilz,
G.A.(1989): Das Prinzip Fairneß. Osnabrück.
Lenk, H. (2002): Erfolg oder Fairness? Münster.
Lenk, H. (22005): Sportethik als Fairness-Kultur. Wettkampf-Fairness und strukturelle Dilemma-Situationen. In:
Maring, M.(Hg.): Ethisch-philosophisches Grundlagenstudium. Ein Studienbuch. LIT, Münster, S. 194-208.
Meineberg Eckhardt (1991): Die Moral im Sport. Bausteine einer neuen Sportethik. Aachen. Müller, U./Pilz, G.A.
(1987): Sei sportlich - sei fair. Von der Idee über eine Initiative auf dem Weg zur Praxis. Abschlußbericht
über die Fairplay-Initiative der Württembergischen Sportjugend. Hofmann, Schorndorf.
Pawlenka, Claudia: Utilitarismus und Sportethik, Paderborn 2002.
Dies. (Hrsg.): Sportethik. Regeln – Fairness – Doping, Paderborn 2004.
Treml, Alfred K. (2001) (Hrsg.): Sportethik. Frisch, fromm, fröhlich, foul? Oder: Versuche, den Sport und seine
Normen moralfrei zu begründen. Ethik und Unterricht, Jahrespublikation 2001, Frankfurt/M.
Popitz, Heinrich (1994): Spielen, Göttingen.
Pilz, Gunter A.: Fairness und ihr Verständnis im sportlichen Wettkampf oder: Die Moral des „fairen Fouls“. o.J.
URL: http://www.erz.uni-hannover.de/ifsw/daten/lit/pil_fai.pdf
Pilz, G.A./Wewer, W. (1987): Erfolg oder fair play? Copress, München.
176
Sport und Ethik
13.3. Beispiele und Materialien
13.3.1. Keiner siegt und alle gewinnen! Prinzip der Ethik versus Primat der
Leistung... (Ulrike Köhle)
Der Sport leistet für die Werteerziehung der Jugend einen entscheidenden Beitrag, denn Fairness und
Fair play sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Sportkultur und gleichzeitig ein normatives Konzept, weil es ein ethisches Werturteil abgibt, das breiten gesellschaftlichen Kreisen als unverzichtbar
gilt.
Fairness als Ziel unterrichtlichen Handelns kann somit nicht hoch genug bewertet werden. Wissen um
Fair play, um ethische Werte sowie um in ethischer Verantwortung festgelegte Normen und Regeln sind
als kognitive Orientierungsgrundlage ein möglicher Ausgangspunkt. Wer in einem Erziehungsprozess
zu ethischem Können befähigen will, darf und kann sich aber nicht auf Wissensvermittlung und auf ein
verbessertes moralisches Urteilsvermögen beschränken. Es bedarf der praktischen Umsetzung: Fairness-Erziehung, ein Auftrag für die Schule, ein Auftrag für den Sport, ein Auftrag für den Sportunterricht! Packen wir es an, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet.
Im folgenden möchte ich einige Beispiele für den Schulsportalltag aufzählen, die als Impulse für eine
handlungsorientierte Umsetzung der Fairness-Erziehung dienen können. Zu bedenken ist dabei stets,
dass es im Sportunterricht nicht um die Maximierung der Leistungsfähigkeit, sondern um eine ganzheitliche Optimierung der persönlichen Fähigkeiten geht, und dazu zählt auch ein Handeln in ethischer
Verantwortung und eine Stärkung der Sozialkompetenz.
1. Fair play – Erziehung im Sportspiel
-
Regeln einhalten
-
Gegner als Spielpartner achten
-
Entscheidungen des Schiedsrichters akzeptieren
-
Ehrlich sein bei ungeahndeten Regelverstößen
-
Rücksichtnahme und Geduld gegenüber den Mitspielern zeigen, speziell gegenüber Schwächeren
-
Empathie und Toleranz zeigen
-
Emotionen und Aggressionen steuern lernen
-
Gemeinschaftsgefühl entwickeln, z.B. seine ganze Leistungsfähigkeit für das Team einbringen
-
mit Sieg und Niederlage umgehen lernen: der Sieg bedeutet nicht alles, wer verlieren lernt, gewinnt
-
keine Verletzungen beim Gegner provozieren
-
keine Revanchefouls begehen
Möglichkeiten der unterrichtspraktischen Umsetzung:
-
kooperative und alternative Wettkampfformen anbieten
-
Spiele mit offenem Ausgang machen
-
Arbeit mit Spielbeobachtungsbögen: nicht im Spiel beteiligte Schüler beobachten einzelne
Spieler, notieren deren Regelverstöße und besprechen das Ergebnis mit ihnen
-
Vielfältige Regelveränderungen anwenden
-
Mannschaftsbildung nach dem Zufallsprinzip, z.B. Karten ziehen
-
Häufig die Mannschaftsmitglieder durchwechseln, auch zwischen den jeweiligen Mannschaften
Sport und Ethik
177
2. Fair Play- Erziehung im Sport mit Körperkontakt, z.B. Ringen und Raufen
-
Gegner als Partner achten
-
Rücksichtnahme zeigen, keine gewalttätigen Aktionen
-
Emotionen steuern lernen
-
Krafteinsatz kontrollieren
-
Schmerzen beim Partner/Gegner sofort erkennen
-
Sich auf den anderen verlassen können
Möglichkeiten der unterrichtspraktischen Umsetzung:
-
Vertrauensübungen machen
-
Großen Wert auf richtige Technik legen
-
Übungen zur Körperwahrnehmung machen
3. Fair Play – Erziehung im Geräteturnen
-
Beim Geräteauf- und Abbau helfen
-
Hilfsbereitschaft zeigen, allen gleich helfen
-
Bei Gruppenaufgaben seine Leistung einbringen, aber nicht dominieren
-
Angst bei sich und anderen akzeptieren
Möglichkeiten der unterrichtspraktischen Umsetzung:
-
Geräteaufbaupläne zeichnen mit genauer Schülerzuteilung
-
Helfergriffe allen beibringen
-
Differenzierung
-
Methodische Maßnahmen zum Angstabbau ergreifen
-
Bei Gruppenarbeit von jedem Gruppenmitglied einen Beitrag einfordern, z.B. „Kofferpacken“
Fair play braucht Vorbilder. Deshalb muss auch der Sportlehrer/ die Sportlehrerin in seinem/ihrem unterrichtlichen Tun Fairness vorleben. Er / sie sollte Konkurrenz-und Erfolgsdruck entgegenwirken, Sieg
und Niederlage relativieren und stets faires Verhalten bewusstmachen und reflektieren. Speziell für den
Unterrichtenden gilt:
-
Achtung und Ehrfurcht voreinander
-
Sorge und Hilfsbereitschaft füreinander
-
Toleranz und Gemeinschaft miteinander
-
Ehrlichkeit und Autenzität untereinander.
Zum Abschluss noch ein kleiner Test: „Hand aufs Herz“
1. Bringe ich es fertig zu sagen, die andere Mannschaft war heute besser?
2. Sind meine Gegenspieler für mich „Nieten“, die bei ihrem Sieg einfach nur Glück hatten, oder
kann ich ihre Leistung anerkennen?
3. Akzeptiere ich alle Entscheidungen der Schiedsrichter?
4. Das Team braucht mich; sage ich trotzdem: „Ich habe heute keine Lust?“
178
Sport und Ethik
5. Revanchiere ich mich bei nächster Gelegenheit, wenn mich ein Gegenspieler foult?
Merken wir uns: FAIR GEHT VOR!!!!
13.3.2. Literatur und Internetadressen
Luther, D./Hotz, A. (1997): Erziehung zu mehr Fair play. Bern.
http://www.sportunterricht.de/fairplay/index.html - Materialien und Ideen für den Unterricht
http://www.schule.at/index.php?url=themen&suchtext=fair%20play&top_id=1020 - österreichisches Schulportal,
Fair play im Sportunterricht
http://www.lehrer-online.de/dyn/9.asp?url=353126.htm - Fair play im Sport
http://www.nok.de/sek1/html/themen/fairplay/a_einleitung_literaturverzeichnis.htm - Unterrichtsreihe: Fair play
im Sportunterricht, zur Verbesserung der Sozialkompetenz in einer 6.Klasse des Gymnasiums
http://www.fairplayeur.com/bibliography/bibliography.html - Ausführliches Literaturverzeichnis zu Fair play von
Rolf Gessmann (Köln)
Sport und Ethik
179
13.3.3. Fair Play im Sport. Unterrichtsmaterialien für die Klasse 5/6 (Rolf Dober)
Die folgenden Materialien sind gedacht, um das Thema Fair Play im Unterricht etwas genauer zu besprechen. Da die Zeit im Sportunterricht oft ja nur sehr knapp ist, sollte dies in 2-3 Extrastunden geschehen (evtl. im Computerraum -> Fair Play R@lly).
Das geht besonders gut, wenn z.B. die Sporthalle mal nicht zur Verfügung steht oder eine Vertretungsstunde in der betreffenden Klasse ansteht. Ideal ist eine Verbindung mit dem Sozialkunde- oder Religions-/Ethikunterricht.
Kann man Fairness lernen?
Die Überlegungen gehen davon aus, dass dies nicht nur möglich, sondern auch nötig ist.
Schon 10-jährige kopieren in ihrem Spielverhalten oft die unfairen Aktionen, wie sie für den großen
(Profi-) Sport kennzeichnend sind. Tätlichkeiten und Schummeleien werden übernommen, coole Kosten-Nutzen-Relation tritt an die Stelle sportlicher Kooperation. Verantwortung für gelingendes Spiel
und für die Mit- und Gegenspieler wird oft nicht übernommen.
Hier setzt das Projekt an.
Dabei soll keineswegs eine heile Gegenwelt aufgebaut werden, doch die Voraussetzungen und Folgen
unfairen Handelns im Sport sollen deutlicher werden. Nachdenken über den Sport - im normalen Sportunterricht kommt dies leider oft zu kurz- soll in diesem Projekt ein zentraler Unterrichtsgegenstand
werden. Eigene Sportpraxis soll eingebettet werden in die Reflexion sportlicher Werte.
Fächerübergreifendes Arbeiten bietet sich an. Das Projekt liegt im Schnittpunkt von Sport, Ethik und
Sozialkunde
Die Materialien wurden erstellt von:
Rolf Dober, Lehrer an einem Wiesbadner Gymnasien mit den Fächern Sport, ev. Religion, Ethik und
Politik; Fachberater Sport bei Lehrer-online (Schulen ans Netz) sowie Koordinator der Internetportals
"Sportunterricht.de".
Das vollständige Material findet sich unter der URL: http://www.sportunterricht.de/fairplay/
180
Sport und Ethik
Sport und Ethik
181
182
Sport und Ethik
Sport und Ethik
183
Kleine Spiele und Partneraufgaben im Sportunterricht
(Quelle: http://www.sportunterricht.de/fairplay/klspiele.html)
•
Fairness im Sportunterricht hat zum Ziel, dass sportliches Handeln zum Wohl und Nutzen aller gelingt.
•
Kleine Spiele vermitteln den Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihrem sportlichen Leistungsvermögen, Erfolgserlebnisse, Spaß, Spannung und Zufriedenheit.
•
Spiele mit offenem Ausgang, ohne Sieger und Verlierer schaffen Räume für Selbständigkeit und
wirken dem reinen Konkurrenz- und Erfolgsdenken entgegen.
•
Kleine Spiele lassen sich durch gemeinsame Änderung der Regelvorgaben im Interesse der Spielfreude aller leicht variieren.
•
Kleine Spiele können neu erfunden werden (oft schon durch kleine Regelveränderungen).
•
Unterschiedliche Verfahren der Mannschaftsbildung können ausprobiert werden.
•
Die Bedeutung von Regeln und der Regeleinhaltung können durch kleine Spiele gut erarbeitet werden.
•
Der Lehrer/die Lehrerin sollte Sieg oder Niederlage relativieren (Unterrichtsgespräche in Form von
Reflexionsphasen vor, während und nach der Durchführung von Kleinen Spielen).
•
Im Rahmen von Partneraufgaben ist es sinnvoll, durch Partnerwechsel auch leistungsschwache und
-starke Schüler zusammenzuführen. Leistungsstarke Schüler erfahren es als eigene Bereicherung,
wenn der Partner durch ihre Hilfe Fortschritte macht.
•
„Schwache“ Schüler werden integriert, gewinnen Selbstvertrauen und möglicherweise einen anderen Status. „Stärkere“ erleben schwächere Mitschüler als Partner.
Internetressourcen zu ethischen Aspekten im Sportunterricht
Nachtrag zur Reihe Fair Play im Sport:
TIPPs – Kleine Spiele im Internet:
Förderung kooperativen Verhaltens durch Spielformen /Kooperative Spiele:
http://server1.nibis.ni.schule.de/~as-ver/fach/sport/arbeit.htm
Entwickeln eigener Klassenspiele (Kl. 5-8): http://www.dlrg.de/Informationen/Jugend/Spieledatenbank/
Spieledatenbank: http://www.dlrg.de/Informationen/Jugend/Spieledatenbank/
Spielideen: http://www.rish.de/spielideen.html
Computerspiele in der Sporthalle nachgespielt: http://snp.bpb.de/index.html
Vertrauens - und Kooperationsspiele: http://www.gew-sportkommission.de/koopspiele.html
Keiner siegt und alle gewinnen: http://www.mobile-sport.ch/upload/%2016-19-Valkanover_d.pdf
184
Sport und Ethik
Ethik Kodizes:
1. European Physical Education Association: Ethik: Kodex und Richtlinien für guten Sportunterricht
http://www.bvlo.be/eupea/Code%20of%20Ethics%20-%20German.pdf
2. Die sieben Prinzipien der Charta Ethik im Sport
http://www.swissolympic.ch
3. Ethik-Code für Schiedsrichter
http://www.bbsr.de/sr/psycho/anf/naso.htm
Obdachlosen Fußball-WM:
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/aus_aller_welt/?cnt=701956
13.4. Europarat: Code of Sports Ethics
Zum „Code of Sports Ethics“ des Europarats vgl. Anhang Sport01.
185
13.5. Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen
Sport und Ethik Sport und Ethik
185
186
14.
Bildende Kunst, Musik und Ethik
Bildende Kunst, Musik und Ethik
14.1. Ethische Fragen in den Fächern Bildende Kunst und Musik
Bei aller herrschenden Bildungsrhetorik, die laut und häufig das Gegenteil sagt, gelten die Schulfächer
Bildende Kunst und Musik doch immer wieder als ‚unernste’ Fächer, deren Stundenausfall deutlich
weniger von Eltern beklagt wird als ein Stundenausfall in Mathematik. Zugleich sind es genau diese
Fächer, die eine entscheidende Bedeutung für ‚Bildung’ im umfassenden Sinn haben: für die Bildung
von Identität und für die Fähigkeit, bewusst, kritisch und konstruktiv in kulturellen Zusammenhängen
zu leben und deren Symbolsysteme zu verstehen.
Die Frage nach der Ethik in den Fächern Bildende Kunst und Musik hat dabei zwei Ebenen:
Auf der – thematischen – Oberflächenebene wird der Zusammenhang von Ethik und Kunst dort offensichtlich, wo in der Kunst Lebenskonflikte, Krisen, Entscheidungsvorgänge oder grundsätzlich die großen Themen von Leben, Liebe, Hass und Tod verarbeitet werden, oder aber dort, wo Kunst selbst in
moralische Probleme verstrickt ist: Skandale und Zensur, ideologische Instrumentalisierung und das Urteil der „Entartung“. Die Themen selbst sind dann ethische Themen oder implizieren ethische Fragen
nach dem guten Leben und dem richtigen Handeln. Eine künstlerische Bearbeitung, die einen großen
nicht-sprachlichen Anteil hat, kann in der Versprachlichung dieser nicht-sprachlicher Erfahrung zu einem klaren ethischen Erkenntnisgewinn beitragen.
Auf der – strukturellen – Tiefenenebene ist der Zusammenhang von ethischer Fragestellungen und
Kunst nicht ohne weiteres offensichtlich. Die zentrale Kategorie ist hier die Kategorie der ästhetischen
Erfahrung.
Ästhetische Erfahrung entfaltet sich – nach Martin Seel (Seel 1991) – in drei Dimensionen: einer kontemplativen Dimension, in der eine Unterberechung der alltäglichen zeitlichen Kontinuität stattfindet
auch als Unterbrechung der gewohnten Selbstverständlichkeiten und Bedeutungen; einer korresponsiven Dimension, in der die Alltagswelt und das Alltägliche sich in der ästhetischen Erfahrung wieder
finden; und eine imaginative Dimension, in der das Alltägliche überschritten wird und phantasievoll
neue Lebensmöglichkeiten entdeckt und entworfen werden.
Diese drei Dimensionen sind für Seel nicht voneinander getrennt, sondern Dimensionen einer Erfahrung
mit je unterschiedlichen Schwerpunkten. (Seel 1991: 38-184)
Unterricht, der zu ästhetischer Erfahrung anleitet und sie ermöglicht, bezieht alle Dimensionen dieser
Erfahrung mit ein. Dies geschieht, indem der Unterricht selbst drei Dimensionen hat: die Dimension des
Erfahrens von Kunst, des Übens der Sinne, des Sehens und Hörens, des Unterbrechens des Alltäglichen
und des Genusses; die Dimension des Reflektierens, in der Erfahrung kritisch ins Wort und an die Alltagwelten rückgebunden wird; und die Dimension des Tuns, in der gemeinsam oder alleine mit Disziplin und Phantasie der Mensch selbst ins Spiel gebracht wird, sich aufs Spiel setzt. Dabei führt das „gelungene Werk … die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser
frei: es gibt ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten“. (Seel 1985: 281)
Diese ästhetische Erfahrung ist der Ausgangspunkt für die Frage nach dem strukturellen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik. (Düwell 2000a, 2000b) Erste Voraussetzung für die Frage nach diesem
Zusammenhang ist die Trennung beider Bereiche, das Aufrechterhalten der jeweiligen Eigenwertigkeit.
Die zweite Voraussetzung ist die Deutung von Kunst nicht als schmückendes Beiwerk, als Dekoration
(von Wänden, Leben oder Schulalltag), sondern als Quelle eigener Erfahrung und eigenen Wissens.
Ästhetische Erfahrung als Erfahrung, die durch Konzentration, Kontemplation und Genuss vom Alltag
abgesetzt und durch Phantasie und Perspektivenerweiterung an ihn rückgebunden ist, ist dann die Erfahrung, in der Handlungsspielräume erschlossen werden, in der Perspektiven auf andere Wahrnehmungen von Welt eröffnet werden: „Es könnte auch anders sein“ (vgl. Adorno 1973: 208).
Bildende Kunst, Musik und Ethik
187
Diese ästhetische Erfahrung ist nicht von vornherein moralisch geprägt. Ein Handlungsspielraum kann
für gute und schlechte Handlungen genutzt werden. Die andere Wahrnehmung von Welt liefert nicht die
Konstruktionsanleitung für eine andere Welt mit.
Wenn aber Ethik in ihrer Form als Strebensethik die Frage nach dem guten Leben stellt, die sich in der
Frage Was für ein Mensch möchte ich sein? konkretisiert, dann ist die kontemplative, die korresponsive
und die imaginative Eröffnung von Handlungsspielräumen eine Notwendigkeit. Und genau an diesem
Punkt verbinden sich ästhetische und ethische Erfahrungen: Ethische Erfahrung, häufig als Erfahrung
eines „so darf es nicht sein“, manchmal als Erfahrung eines „so ist es gut“, ist ebenso eine Erfahrung,
die auf Spielräume und Alternativen setzt. Die Begegnung beider Erfahrung kann dort geschehen, wo
das Ästhetische sich öffnet für die Welt und nicht in einer selbstbezogenen ästhetisierenden Existenz
verharrt und wo das Ethische die Erfahrung einer ästhetischen Befreiung des Normalen und Alltäglichen nutzt und sie nicht vorschnell moralisierend einordnet. Dann kann – auch und gerade im Unterricht – ein Raum für Ästhetik und Ethik entstehen, der menschliches Gedeihen, „cultivating humanity“
(Nussbaum 21998: 9ff) ermöglicht.
14.2. Literatur zu Ethik und Ästhetik
Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie, hrsg. V. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.
Assmann, Lothar u.a. (2002): Zugänge zur Philosophie 2. (III. Das Schöne und die Kunst, 294-297) Cornelsen
Verlag, Berlin.
Cassina, Beatrice: Die Ästhetik der Ethik, in: Süddeutsche Zeitung 23.1.01.
Düwell, Marcus (22000): Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen. Freiburg i.Br./München.
Ders. (2000): Ästhetische Erfahrung und Moral. In: Dietmar Mieth (Hg.): Erzählen und Moral. Narrativität im
Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen, S. 11-35.
Früchtl, Josef (1996): Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung. Frankfurt/M.
Kleimann, Bernd / Schmücker, Reinhold (2001) (Hg.): Wozu Kunst?: die Frage nach ihrer Funktion. Wiss. Buchges., Darmstadt.
Martha C. Nussbaum (31998): Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education. Cambridge, Ma./ London.
Seel, Martin (1991): Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M.
Ders. (1991): Kunst, Wahrheit, Welterschließung. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie.
Texte und Diskussionen. Frankfurt/M., S. 36-80. (1991a)
Ders. (1996): Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M.
Welsch, Wolfgang (1993) (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München.
188
Bildende Kunst, Musik und Ethik
14.3. Bildende Kunst und Ethik
14.3.1.
Ethische Fragen im Kunstunterricht
Das Fach Bildende Kunst geht von der Komplementarität von anschaulichem Denken und kreativem
Gestalten aus. Im Mittelpunkt des Unterrichts steht der denkende, handelnde, gestaltende, wahrnehmende Mensch, dessen Wissen um kulturelle Zusammenhänge und ästhetische Entwürfe, aber auch um
Eigenständigkeit und Kreativität gestärkt werden sollen. Der Unterricht in Bildender Kunst ist ganzheitlich und interdisziplinär, die Unterrichtsmethoden handlungsbetont, prozess- und produktorientiert. Bildende Kunst fördert Sprach-, Handlungs-, Bild- und Medienkompetenz und soll zur Selbstbestimmung
und Identitätsfindung anregen. Ziel ist es, die Welt offener, bewusster, differenzierter zu erleben und
mitzugestalten.
14.3.2.
Unterrichtsthemen
Klasse 5/6
-
Das Phänomen Zeit
-
Raumwahrnehmung und Raumerfahrung (elementares Bauen: zum Beispiel Höhle, Iglu, Hütte,
Zelt, etc.) in Zusammenarbeit mit Deutsch (z.B. Scott O’Dell, Insel der blauen Delphine, dtv
7257)
Klasse 7/8
-
Illusionistische Darstellung von Körper und Raum
-
Darstellung von virtueller Bewegung und Erzeugung realer Bewegung
Klasse 9/10
-
Aspekte eines Produkts – praktisch, symbolisch, ökologisch
-
Abhängigkeiten von natürlichen und kulturellen Gegebenheiten an Architekturbeispielen
Kursstufe
-
Innere und äußere Wirklichkeiten
-
Das Phänomen Zeit
14.3.3.
Beispiele und Materialien
-
Edvard Munch: Das kranke Kind – Zum Umgang mit der Erinnerung. Ein Beitrag zur Bildhermeneutik (Hildegard Herwald), in: ZDPE 4/2001: 274-278 farbige Bild/Folienvorlage in
Meiserwerke der Kunst. Nr. 36
-
Raffaels „Sixtinische Madonna“ und die Popkarriere ihrer Putten – Eine Hinführung zum Thema „Ästhetik der Alltagswelt“ (Steenblock, Volker), in: ZDPE 4/2004, 274-279
-
Konkrete Fantasie: Architektur und menschliches Leben (in: Nink 2000, 414-416)
Bildende Kunst, Musik und Ethik
189
14.3.3.1. Ethik und Architektur (Martin Bausch)
Zum Thema „Ethik und Architektur“ vgl. Anhang KunstMusik01.
14.3.4.
Literatur
Ammann, Daniel; Cimerman, Zvjedana 1997: Kunst und Gentechnologie: Werkbeispiele aus bildender
Kunst, Photographie, Musik, Literatur, Film, Theater und Kabarett. Schwabe, Basel.
Botta, Marion (1997): Ethik des Bauens. Verlag Birkhäuser.
Brandt, Reinhard: Vir heroicus sublimis oder die Helden der Arbeit, in: ZDPE 2/2003.
Heuser, August: Ist das Kunst? Andreas Slominkis Arbeit „Ohne Titel, 1988“, in: ZDPE 4/2004, 358360.
Liebsch, Dimitri: Probleme (mit) der Populärkultur, in: ZDPE 4/2004, 280-290
Nink, Hermann (Hrsg.) (2000): Standpunkte der Ethik. Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Fantasie an die Macht: Ästhetik und Ethik, S. 407-416).
Nordhofen, Susanne: Was kann die Philosophie von der Kunst lernen?, in: ZDPE 2/2003, 98-112.
Schulz, Frank u.a. (2001): Die Welt der Bilder. Eine Reise ins Unbekannte. Ernst Klett Schulbuchverlag, Leipzig.
Steenblock, Volker: Türme als Sinnbilder der Kulturentwicklung. Zu Pieter Brueghel: Der Turmbau zu
Babel, 1563, in ZDPE 4/2002, 367-368.
Wilkes, Verena: Was unterscheidet das Pissoir als Kunstwerk vom herkömmlichen Pissoir? Aktuelle
analytische Kunstphilosophie im Unterricht am Beispiel von Arthur C. Danto, in: ZDPE 4/2004,
315-323.
190
Bildende Kunst, Musik und Ethik
14.4. Musik und Ethik
14.4.1.
Ethische Fragen im Musikunterricht
Das Fach Musik bietet einen ästhetischen Zugang zur Welt über den Gehörgang. Kulturerschließender
Musikunterricht vollzieht sich im Zusammenspiel von Musizieren, musikbezogenem Handeln und Reflexion. Leitprinzip des Unterrichts ist die Erschließung kultureller Vielfalt mittels methodischer Vielfalt. Die Schülerinnen und Schüler werden sich der emotionalen Wirkung von Musik bewusst und setzen sich gedanklich damit auseinander. Im gemeinsamen Musizieren wird die Teamfähigkeit und Kreativität gefördert, im Musikhören bewusstes differenziertes Wahrnehmen geschult und in der Reflexion
Musik als subjektive Befindlichkeit, Weltsicht, als Dokument und Zeugnis ihrer jeweiligen Entstehungszeit gedeutet.
Die Schülerinnen und Schüler entwickeln Toleranz für die Hörgewohnheiten anderer und Kompetenz
im Umgang mit der Vielfalt des Musikangebots. Sie setzen sich auseinander mit der Bedeutung von
Musik für das eigene Leben, für die Identitätsbildung und für unsere Kultur.
14.4.2.
Überlegungen und Anregungen für den Unterricht (Francois
Förstel)
Es wäre ein Einfaches eine Verbindung von Musik und Ethik über musikalische Text- oder Programmvorlagen zu belegen und ethische Dimensionen in der Befreiungsmusik eines Theodorakis, der Revolutionsmusik eines Beethoven, im Ethos der Verdischen Opern oder in entsprechenden Songs wie „Wind
of change“, „Freiheit“ usw. nachzuweisen. In diesem kleinen Beitrag soll der Versuch unternommen
werden, diese Brücke auszulassen und zu fragen, ob nicht auch grundsätzlichere Verbindungen bestehen und somit auch die unterrichtliche Thematisierung verdienen. Damit ist auch der Gedankengang
angesagt: auf ein paar Thesen folgen Anmerkungen zu möglichen unterrichtlichen Konsequenzen, weniger im Sinne punktueller Fokussierungen als im Sinne eines gemeinsamen Bodens, der gelegentlich in
den Blick genommen werden sollte. Der apodiktische Ton ist rein stilistischer Art. Alle Bemerkungen
mögen als Leitgedanken, aber nicht als faktische Beschreibungen aufgefasst werden.
-
These 1: Musik bzw. das Musizieren hat Festcharakter im Sinne Gadamers, schafft eine eigene
Wirklichkeit, ist mit Bloch gesprochen Vorschein von Glück, Utopie bzw. Kritik an der Wirklichkeit.
-
These 2: Musik und ihr Fundament, der klingende Ton, symbolisieren in ihrem Verlauf Geburt,
Leben und Sterben und sind als Zeitkunst ein herausragendes Mittel der Auseinandersetzung
des Menschen mit seiner Existenz.
-
These 3: Musik erfordert höchste Aufmerksamkeit, Gegenwärtigkeit, konzentriertes Hinhören.
Musik fordert und fördert die Kunst des Zuhörens.
-
These 4: Aktive Formen des Musizierens stellen eine besonders intensive Form menschlicher
Kommunikation dar. Ausgehend von einer konzentrierten körperlichen und geistigen Haltung,
die schon bei der Klangerzeugung ideale Schwingungen und Resonanzen sucht, geht es darum
diese Schwingungen empathisch und achtsam in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, der
sich räumlich-akustisch, sozialpolitisch und ästhetisch definiert.
Was nun haben diese schlaglichtartigen Thesen mit Ethik zu tun? Musik als ästhetische Gegenwelt hält
im geneigten Hörer den Wunsch nach Glück, nach Menschlichkeit wach. Die begnadete Musik Mozarts
oder die Saxophonmelismen eines Garbarek trösten und rütteln wach zugleich, was nicht heisst, dass
Schönheit nicht auch manipulativ eingesetzt werden kann. Lachenmanns Ästhetik, seine Suche nach einer neuen Schönheit, die Gewohnheit und geschichtlich vorgeprägte Mittel und Formen sprengt, seine
Verweigerung traditioneller Schönheit, zielt daher auf Aufklärung und Menschlichkeit. Solches wider-
Bildende Kunst, Musik und Ethik
191
ständiges oder kritisches Komponieren als Ausdruck einer ethisch-politischen Grundhaltung lässt sich
über Nono und Schönberg bis zu Beethoven zurückverfolgen.
Musik spiegelt existentielle Erfahrungen, gerade auch ohne sie sprachlich eindeutig zu benennen. Sie
berührt, regt unsere Lebenskräfte und unsere Körperlichkeit an, erregt unsere Gefühle, kann uns zur
Klarheit führen in unserer Suche nach Sinn und Glück aber auch rauschhaft verführen. Musik hat nichtdiskursiv mit der Frage nach dem Lebenssinn zu tun.
Die Kunst des Zuhörens nun weist auf eine Kompetenz, die im ethisch orientierten Dialog der Menschen besonders wichtig scheint: den anderen bewußt wahrnehmen, ihn zu verstehen suchen, sich ihm
öffnen, seine eigenen Einstellungen und Vor-Urteile dabei kennen lernen sind Fähigkeiten, die im musikalischen Zusammenspiel unabdingbar sind. Ein egoistisches zu-laut-sein, ein sich durchsetzen mit
Gewalt widerspricht der Idee musikalischen Zusammenspiels. Selbstkontrolle, Offenheit, Aufmerksamkeit und extremes Beachten der musikalischen Spielregeln könnten als ästhetische Probehandlung ein
Spielfeld für sensible menschliche Kommunikation sein. Aber auch Formen verzerrter Kommunikation
lassen sich musikalisch inszenieren und begreifen.
Und nicht zuletzt setzt Musik auf ein sensibles inneres Hören, ein Hören auf eine innere Stimme, ein
Ausrichten an inneren Vorstellungen und Wertmassstäben voraus bzw. befördert sie. Diese Form der
Selbstwahrnehmung, -prüfung oder -orientierung, diese Herausbildung innerer Klangvorstellung liesse
sich vielleicht als musikalisches Gewissen bezeichnen.
Was nun hat alles dies mit Unterricht zu tun?
Wer in der Schule lernt, seine Stimme, seine Körperlichkeit kommunikationsfördernd einzusetzen, sein
Gehör schult nicht nur im Sinne von Gehörbildung, sondern auch im Sinne des aufmerksamen Wahrnehmens von Musik, Mitmusizierenden und im Sinne der Schulung der inneren Vorstellungskraft, wer
lernt sich in musikalischen Ensembles oder dem Klassenorchester mit seiner jeweiligen Kompetenz
einzuordnen und das musikalische Gesamtresultat verantwortungsvoll mitzutragen, der praktiziert ethisch orientiertes Verhalten.
Mit diesen harmonistischen Grundstatements scheint alles erledigt, doch verschließen sie den Blick vor
der Ambivalenz aller lebendigen Bezüge. Nicht alle singenden Menschen sind friedlich, nicht jeder Tastenlöwe ist ein sensibler Zuhörer, nicht jedes Friedenslied ist musikalisch auf dem Niveau seines Gegenstandes, nicht jede Stunde Klassenmusizieren endet mit sozialer und/oder musikalischer Harmonie.
Auch Musik entkommt dem schwierigen Ringen um Glück und Unglück, Gelingen und Scheitern nicht.
Doch gerade diese Gratwanderung bietet pädagogisch wertvolle Erfahrungs- und Vermittlungsfelder.
Ein paar konkrete Beispiele sollen den Abschluss dieses Beitrages bieten.
Fallbeispiel 1:
Der sozialistische Realismus forderte von seinen Komponisten eine klare, einfache und volkstümliche
Musik mit positivem Gestus. Diese harmonistische Zwangsjacke führte verbunden mit brutaler Repression etwa im Falle des Komponisten Schostakowitsch zur Entwicklung einer musikalischen Doppelbödigkeit, die zumindest bis Stalins Tod in vielen Werken klassische Sprachelemente mit positiver Besetzung übernimmt aber teils ironisch bricht. Das nach Beethovens Vorbild triumphierende Finale seiner
Fünften schmettert zum Schluss dem Hörer die Siegesfanfare so lange um die Ohren, bis die Trompete
in Höchstlagen an die Grenzen geführt wird, schmerzvoll dissoniert und der starre Achtelapplaus des
Orchesters sich als eine zwanghafte Geste entpuppt. Das Werk Schostakowitschs eignet sich aufgrund
192
Bildende Kunst, Musik und Ethik
seiner mitreißenden Emotionalität und seinem Festhalten an herkömmlichen Musikfiguren und dem
humanistischem Ethos, für Unterrichtsmodelle in allen Stufen. Als beispielhaft sei diesbezüglich auf die
Veranstaltungsreihe „Musik in der Diktatur“ verwiesen, die Wolfgang Nägele mit seinen Schülern im
Schuljahr 2002/3 am Hechinger Gymnasium durchführte.
Fallbeispiel 2:
Schuberts Musik wird nicht weniger oft als diejenige Mozarts mit dem Prädikat „schön“ bedacht. Seine
Melodien stehen für glückliches Stillstehen der Zeit, für „himmlische Längen“, sie scheinen das faustische Ringen eines Beethoven vergessen zu machen. Wie bei Schostakowitsch wimmelt es von Bezügen
zur leichten Muse. Wer genauer und länger hinhört, wird schwindlig in Anbetracht der Untiefen und
Abgründe dieser Musik. Die Heimeligkeit des Seitenthemas der Unvollendeten bricht in einer Generalpause ab und macht einem unheimlichen Tutti in Moll Platz, das die schöne Träumerei unvermittelt mit
der kalten Realität konfrontiert. Zahlreiche der Winterreisenlieder und viele gelungene romantische
Musik komponieren diese Gefährdung des Glückversprechens aus. Über Inszenierungen zu Musik kann
es gelingen, Schülergruppen diese existentiellen Ebenen nachgestalten zu lassen und damit bewusst zu
machen.
Fallbeispiel 3:
Das Thema „Anfang und Ende in der Musik“ lässt sich als kleine Unterrichtseinheit entwickeln, in der
es darum geht, Topoi des musikalischen Beginnens und Endens nachzuspielen und nachzuvollziehen.
Die Transfermöglichkeiten ins Existentielle liegen auf der Hand: Anfänge verweisen auf den Anfang
des Lebens, auf die Genesis, die Weltschöpfung, den Urknall usw. Ein schlagartiger Beginn ist eine der
Hauptgesten des musikalischen Anhebens, gleichsam eine creatio ex nihilo. Der Urnebel der Beethovenschen Neunten mit seinen Folgeerscheinungen etwa bei Bruckner, oder später die langgezogenen
monotonen Einschwingvorgänge dal niente bei Ligeti zeichnen ein anderes Szenario: musikalische
Klangwelten entfalten sich in langsamer Evolution vor dem Ohr des Hörers.
Nicht weniger aufschlussreich sind die Momente des musikalischen Schließens. Eine musikalische
Spielvorschrift lautet „morendo“, ersterbend. Der humanistische Atheist Schostakowitsch komponiert in
seiner 14. Sinfonie das Enden als plötzlichen und transzendenzlosen Schnitt. Eine traditionellere
Schlussgeste ist der apotheotische, der triumphale Schluss, eben das klassisch-romantische Finale. Hinund her gerissen zwischen beiden zeigt sich schon Tschaikowski nicht erst in seiner Sechsten, später
Mahler und Schostakowitsch. Jeder musikalische Schluss hat mit der Vergänglichkeit und dem Sterben
zu tun.
Mein fächerverbindendes Plädoyer rät von einem punktuellen positivistischen Angehen vordergründiger ethischer Themen in musikalischen Kontexten ab zugunsten kontinuierlicher Hinweise, die das Bewusstsein fördern, dass der Umgang mit Musik zentrale ethische Verhaltensweisen und Einstellungen
einübt und fördert. Dabei liesse sich die Wirkung des musikalischen Spiels mit dem Tennisspiel ohne
Bälle vergleichen, das Safranski in einem Radioessay zitiert. In Antonionis Film Blow up wird der
Hauptdarsteller des Films und mit ihm die Filmzuschauer durch das hingebungsvolle Spiel zweier Tennisspieler ohne Ball so fasziniert, dass dieses simulierte Spiel seinen Scheincharakter verliert. Man
vermeint die Schläge und das Aufticken der Bälle zu vernehmen. Erst wer in das musikalische Spiel
einsteigt, kann die Nebenwirkungen erfahren. Das musikalische Spiel übt über das klingende Resultat
hinaus einen Sog aus, der verschiedene ethische Dimensionen befördert – als praktisches Tun, als Haltung, als Einstellung. Ziel eines vielperspektivischen Musikunterrichtes könnte es sein, diese ethischen
Erfahrungsfelder zu eröffnen und - gelegentlich – ins Bewusstsein zu heben.
Bildende Kunst, Musik und Ethik
14.4.3.
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Literatur
Otto Kolleritsch (1998) (Hg.): Das gebrochene Glücksversprechen. Zur Dialektik des Harmonischen in
der Musik, Studien zur Wertungsforschung Band 33. Wien/Graz.
Ders. (1987) (Hg.): Entgrenzungen in der Musik, Studien zur Wertungsforschung Band 18. Wien/Graz.
Feuchtner, Bernd (2002): Dimitri Schostakowitsch. 'Und Kunst geknebelt von der groben Macht'.
Künstlerische Identität und staatliche Repression. Frankfurt.
Fischer, Ernst Peter (2003): Macht Bildung bessere Menschen? In GEOWISSEN Nr.31: Lernen, Wissen, Bildung, S.132-134.
Förstel, François: Kritisches Komponieren in der Schule? Musikpädagogische Annäherungen an Lachenmanns Kinderspiel, in Vorbereitung.
Gadamer, Hans-Georg (1986): Die Aktualität des Schönen. Reclam, Stuttgart.
Küng, Hans (1991): Mozart. Spuren der Transzendenz. München/Zürich.
Lachenmann, Helmut (1996): Musik als existentielle Erfahrung. Wiesbaden.
Safranski, Rüdiger: Die Zukunft der Religion, Radio-Essay, swr 2, 23.08.2004
Schostakowitsch, Dimitri (1983): Erfahrungen, Leipzig.
„Ich sehe nur Berge von Leichen“. Die Memoiren des russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch, in: DER SPIEGEL, Nr. 38/1979 S.220 ff.
Reichardt, Wiebke (2003): Musik im Dritten Reich. Eine UE in Klasse 11, Prüfungsarbeit Tübingen.
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15.
Zum Schluss
Zum Schluss
Enzensberger, Hans Magnus (2001): Gedichte 1950-2000. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Über die Schwierigkeiten der Umerziehung
Einfach vortrefflich
all die großen Pläne:
das Goldene Zeitalter
das Reich Gottes auf Erden
das Absterben des Staates.
Durchaus einleuchtend.
Wenn nur die Leute nicht wären!
Immer und überall stören die Leute.
Alles bringen sie durcheinander.
Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht
laufen sie zum Friseur.
Statt begeistert hinter der Vorhut herzutrippeln
sagen sie: Jetzt wär ein Bier gut.
Statt um die gerechte Sache
kämpfen sie mit Krampfadern und mit Masern.
Im entscheidenden Augenblick
suchen sie einen Briefkasten oder ein Bett.
Kurz bevor das Millenium anbricht
kochen sie Windeln.
An den Leuten scheitert eben alles.
Mit denen ist kein Staat zu machen.
Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen.
Kleinbürgerliches Schwanken!
Konsum-Idioten!
Überreste der Vergangenheit!
Man kann sie doch nicht alle umbringen!
Man kann doch nicht den ganzen Tag auf sie einreden!
Ja wenn die Leute nicht wären
dann sähe die Sache schon anders aus.
Ja wenn die Leute nicht wären
dann gings ruckzuck.
Ja wenn die Leute nicht wären
ja dann!
(Dann möchte ich auch nicht weiter stören.)