Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
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Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 9. August 1999 Betr.: Zwangsarbeiter, Dirigenten, Partys N ach langem Schweigen ist die Zwangsarbeit im Dritten Reich auch in Deutschland zum Thema geworden. Viele Beteiligte, so erlebte es SPIEGEL-Autor Peter Bölke, 63, wissen zwar genug zu erzählen, wollen aber nicht zitiert werden. Begreiflich: Die einen, Manager und Teilnehmer der Verhandlungen über eine Entschädigung der Zwangsarbeiter, wollen die Gespräche nicht gefährden. Die anderen, Opfer des Nazi-Regimes, möchten den Anschein vermeiden, es gehe ihnen nur um materielle Vorteile. Tatsächlich aber geht es bei der Initiative deutscher Unternehmen, die den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern helfen soll, um eine Menge Geld – um viele Milliarden Dollar. Wie viele, will niemand vorhersagen. Otto Graf Lambsdorff, der Unterhändler der Bundesregierung, zu Bölke: „Wann immer Zahlen genannt werden, wird laut geschrien“ (Seite 34). A A. SMAILOVIC ls sich der Dirigent Sir Simon Rattle, 44, und Redakteur Klaus Umbach, 63, in Salzburg zum SPIEGEL-Gespräch trafen, brachen sie zunächst einmal in Gelächter aus. Beiden kam spontan ihre erste Begegnung, 1990 in Frankfurt am Main, in den Sinn, als Rattle, damals noch nicht geadelt, ein heikles Malheur widerfuhr: Ihm lockerte sich, im Finale der sechsten Sinfonie von Gustav Mahler, die Hose und drohte zu Rattle, Umbach rutschen. Genüsslich hatte Umbach damals geschildert, wie der junge Kapellmeister „das Fracksausen kriegte, die Beine in weitem Winkel grätschte und auch obenrum nur das Nötigste bewegte“, um sich nur ja keine Blöße zu geben (SPIEGEL 37/1990). Rattle heute: „The most exciting Mahler of my life.“ Locker gab sich Sir Simon auch jetzt, als er erstmals für ein deutsches Medium über „das wichtigste Ereignis meines Berufslebens“ sprach – die Berufung zum künftigen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Fasziniert von der Stadt und der „unglaublichen Energie, die ich dort an jeder Ecke spüre“, will er den traditionsreichen Klangkörper zu einem „durch und durch europäischen Orchester“ formen, Techno inklusive (Seite 152). S P. LOWE / MAGNUM ie nennen sich Eventmanager, erwecken alte Fabrikhallen zum Leben und sorgen für Partystimmung in sterilen Discotheken. Um die für Deutschland neue Branche und ihre Protagonisten zu verstehen, machte Wirtschaftsredakteur Frank Hornig, 29, für zwei Wochen die Nacht zum Tag. Er recherchierte auf Partys und Firmenfeiern, begleitete die Manager der Nacht in Hamburg zu einem GeHornig (l.) auf Londoner Party lage im Stil der legendären New Yorker Disco „Studio 54“ und feierte in London bei glühender Hitze eine Adventsfeier im Sommer – von Deutschen organisiert. Die Spaßmacher versprachen ein „flammendes Inferno“, und überall traf er auf Typen, denen er sonst nie begegnet wäre: Transvestiten wie Olivia Jones und dutzende langbeinige Gogo-Girls. Unter diesen Bedingungen hätte Hornig gern noch weiter recherchiert: „Da ist noch manches schrille Event“ (Seite 84). Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Deutschland Panorama: Bayern: die Landesbank-Affäre / Vorwürfe gegen EU-Kommissar Fischler ......... 17 Konsum: Meinungsstreit ums Sonntags-Shopping ......................................... 22 Millennium: Angst vor dem Datumssprung ......................................... 28 Energiesysteme sind für den Jahrtausendfehler besonders anfällig .............. 30 BND-Studie über weltweite Daten-Probleme.............................. 32 Duty-free: Schnäppchen auf dem Haff ........... 33 Zwangsarbeiter: Was kostet Gerechtigkeit?... 34 Brandenburg: Der offensive Wahlkampf des Ex-Generals Jörg Schönbohm................... 50 Grüne: Wie Gunda Röstel in Sachsen ihre Partei retten will...................................... 54 Umfrage: Joschka Fischer, der Liebling der Nation .................................. 58 Internet: Künftig Steuererklärungen online ... 64 Zivildienst: Sparpläne bedrohen Pflegestationen ............................................... 66 Affären: Der Berliner Flughafen-Krimi .......... 67 Wirtschaft Trends: Neckermann startet ins Geschäft mit Discount-Reisen / Deutsche Milliarden für Frankreichs Atomindustrie? / Wachsende Einnahmen aus der Einkommensteuer ............ 71 Geld: Analysten prophezeien Take-off am Neuen Markt / Einstiegschancen bei Versicherungsaktien....... 73 Weltfinanzen: Kann US-Notenbankchef Alan Greenspan den Crash verhindern? ......... 74 Steuern: Kanzler unterstützt den neuen SPD-Rebellen Peter Struck ............................. 78 Kriminalität: Die Mafia unterwandert das Baugewerbe.............................................. 80 Autoindustrie: DaimlerChrysler-Finanzchef Manfred Gentz auf der Kippe......................... 82 Expo 2000: Peinliche Lobhudelei auf die Marktwirtschaft .................................. 83 Entertainment: Die Manager der Nacht ........ 84 Kulturkampf um die Sonntagsruhe Seite 22 Erbittert streiten die Deutschen um das Recht, am Sonntag einzukaufen. Kirche und Gewerkschaften bangen um die Ruhe am Tag des Herrn, Warenhäuser versuchen, das Verkaufsverbot zu unterlaufen. Die von der Verfassung garantierte Sonntagsruhe aber ist schon lange durch zahlreiche Ausnahmen durchlöchert. Kommt der Millennium-Crash? DPA Titel Deutschland im Bann der totalen Sonnenfinsternis ......................... 164 Interview mit Astronom Jakob Staude über die Wirkung von Eklipsen auf das menschliche Bewusstsein................... 170 Atomkraftwerk Biblis Seite 28 Der Elektronik-Fehler zum Jahrtausendwechsel sorgt für Aufregung, ein Report der Bundesregierung lässt Schlimmes befürchten. Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt hinkt hinterher im Kampf gegen das Jahr-2000-Problem. Kommt es etwa bei Atomkraftwerken zum großen Millennium-Crash, oder haben die Techniker bis Neujahr alles im Griff? Joschka im Sommerhoch Seite 58 Joschka Fischer ist der Som- Joschka Fischer merliebling der Nation: Auf Gerhard der Emnid-Hitliste führt er Schröder mit Abstand. Die Werte für die Regierungsparteien sind dagegen katastrophal. Bei den kommenden Landtagswahlen haben Fischers Grüne kaum Chancen: In Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegen sie unter 76 fünf Prozent (Seite 54). In Brandenburg macht die 65 CDU der SPD die absolute Mehrheit streitig (Seite 50). Emnid-Liste Rudolf Scharping Wolfgang Schäuble Edmund Stoiber Kurt Biedenkopf Medien Tina Browns „Talk“-Show Gesellschaft Szene: Fotokünstler Ingo Taubhorn über die Kleider seiner Mutter / Reise-Pannen im Internet................................ 95 Pädagogik: Erziehungstraining für Eltern...... 96 Mode: Wolfgang Joop über schwulen Schick ............................................ 100 6 Seite 90 B. MASON / SIPA PRESS Trends: Krisen-Reporter Friedhelm Brebeck soll ARD-Star werden / Schlammschlacht bei der Deutschen Welle ................................. 87 Fernsehen: Neue ZDF-Serie „Nesthocker“ / „Playgirl“ schickte nackte Männer in den Reichstag.............................................. 88 Vorschau ......................................................... 89 Magazine: Die neue Zeitschrift „Talk“ und ihre schrille Chefin Tina Brown ............... 90 Internet: Neuer Job für Ex-RTL-Chef Helmut Thoma................................................ 93 Hurley, Grant, Brown d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Selten hat eine neue US-Zeitschrift so viel Wirbel gemacht wie das Magazin „Talk“. Mit einer frechen Mischung aus Sex, Politik und Reportagen will Chefredakteurin Tina Brown die Zeitschrift erfolgreicher machen als ihre alten GlitzerBlätter „Vanity Fair“ oder den „New Yorker“. Zum „Talk“-Auftakt feierte eine erlesene Star-Meute – von Madonna und Robert De Niro bis zu Liz Hurley und Hugh Grant – unter der New Yorker Freiheitsstatue das Heft und sich selbst. Ausland Panorama: Die Rückzugspläne der PKK / EU-Kommission – Deutschlands Nato-Botschafter als Generalsekretär?.......... 103 Balkan: Keine Hoffnung auf multikulturelles Zusammenleben .................. 106 Interview mit Albaner-Führer Ibrahim Rugova über die Zukunft des Kosovo und den Machtkampf mit der UÇK............... 108 SPIEGEL-Gespräch mit Bodo Hombach über seine Mission als Sonderkoordinator des Balkan-Stabilitätspakts............................ 110 Südkorea: Drama bei Daewoo...................... 114 Iran: Der Gottesstaat ist reif für den Umsturz 116 Kolumbien: Friedensinitiative vor Kollaps .... 118 Russland: Wahlkampfauftakt mit Medienkrieg .................................................. 119 Indien: Interview mit Außenminister Jaswant Singh über die Spannungen mit Pakistan........ 120 Italien: Ein Rechter regiert Europas rote Musterstadt Bologna .............................. 122 Die Macht des Mr. Dollar Seite 74 B. SMITH / OUTLINE VARIO-PRESS New Yorker Börse Börsencrash? Oder verspätete Sommerrallye? Wie hypnotisiert starrt die Finanzszene auf US-Notenbankchef Alan Greenspan. Mit seinen oft kryptischen Äußerungen, „Greenspeak“ genannt, bewegt Mr. Dollar die Weltbörsen. Greenspan Balkan: Die Multikulti-Illusion Seiten 106 bis 110 Der Westen kann seinen Traum von einer multikulturellen Gesellschaft auf dem Balkan nicht durchsetzen, die ethnischen Säuberungen werden nun von den Kosovo-Heimkehrern forciert. Albaner-Führer Ibrahim Rugova rechnet derweil schon mit der Unabhängigkeit des Kosovo: „Wir akzeptieren Serbien nur als befreundeten Nachbarstaat.“ M. KLIMEK Reich-Ranickis Leben und Liebe Die Monster kommen Er ist wortgewaltig und witzig wie kaum ein anderer Literaturkritiker, doch sein neues Buch geriet still, ernst und voller Selbstzweifel: Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“ erscheint nächste Woche – mit erschütternden Details aus dem Warschauer Ghetto, für dessen „Judenrat“ der Autor gearbeitet hat. Sie belegt eindrucksvoll die Außenseiterrolle des Erfolgreichen auch nach 1945. Im SPIEGEL-Vorabdruck erzählt er, wie er seine Frau Teofila traf und lieben lernte. Seite 176 Selten war ein Computerspiel so erfolgreich wie „Pokémon“ von Nintendo: Millionen Kinder in Amerika und Japan gehen in der digitalen Fabelwelt auf Monsterjagd. Begleitprodukte wie Spielkarten, Plüschtiere und ein Kinofilm heizen das Pokémon-Fieber weiter an. In diesem Herbst sollen die Fabelwesen auch Deutschland erobern. US-Kinder mit „Pokémon“-Plüschtier Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion ........................................ 127 Porträt: Alexander Solschenizyn .............. 132 Standpunkt: Georgij Arbatow über seine Begegnungen mit Gorbatschow ........ 136 Kultur Szene: Britische Autoren lehnen Musicals ab / Ausstellungsmacher Klaus A. Schröder über seine Pläne für die Wiener Albertina .... 139 Autoren: Die Memoiren des Starkritikers Marcel Reich-Ranicki .................................... 142 Wie Marcel Reich 1940 in Warschau seine spätere Frau kennen lernte................... 145 Ausstellungen: Kunst-Großereignisse zur Jahrtausendwende................................... 148 Film: Andreas Dresens „Nachtgestalten“ ...... 150 Dirigenten: SPIEGEL-Gespräch mit Sir Simon Rattle, dem künftigen Chef der Berliner Philharmoniker ......................... 152 Sprache: Wo das Hühnerauge „okahinauke“ heißt....................................... 158 Bestseller..................................................... 159 Wissenschaft + Technik Prisma: Kurze Laufzeiten von AKW / Taschenlampe im Magen ............................... 161 Prisma Computer: Internet-Dienst für Rollstuhlfahrer / Vielseitig verwendbarer Chip von „Sun“ ............................................ 162 Computerspiele: Milliardengeschäft mit Fabelwesen .................................................... 176 Medizin: Sind Ärzte bei der Bekämpfung von Tropenseuchen überfordert? ................... 178 Luftfahrt: Vertrauliche Boeing-Empfehlungen für den Brandfall an Bord.............................. 180 Tiere: Biologin stellt Schaben eine Falle ....... 181 Sport A. RENAULT / GLOBE PHOTOS Reich-Ranicki, Ehefrau Teofila Seiten 142, 145 Spiegel des 20. Jahrhunderts Fußball: Die Macht der Spielervermittler ..... 182 Olympia: Fremdenfeindlichkeit in Sydney .... 186 Briefe ............................................................... 8 Impressum .............................................. 14, 188 Leserservice ................................................ 188 Chronik ......................................................... 189 Register........................................................ 190 Personalien .................................................. 192 Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 194 7 Briefe „Sie haben ja den Dreh raus, Spezialthemen für besonders spezialisierte Spezialisten so verständlich aufzubereiten, dass ich, der nun wirklich Anderes und Besseres zu tun hätte, mich gedanklich seit Tagen mit der sogenannten Weltformel beschäftige.“ Hans-Joachim Sieg aus Berlin zum Titel „Gesucht: Die Weltformel“ Phantastischer Witz Nr. 30/1999, Titel: Gesucht: Die Weltformel; SPIEGEL-Gespräch mit Nobelpreisträger Steven Weinberg über den Traum von der Weltformel „Aber die ist ja voller Fehler“, rief er schließlich. „Ich weiß“, sagte Gott lächelnd. St. Michael-mihel (Österreich) Gregor Kri∆tof So ein Gruppenbild würde ich mir auch von den Geisteswissenschaftlern wünschen! Wo sind die Philosophen, Theologen, Sprach-, Literatur- und Gesellschaftswissenschaftler unserer Zeit mit ihrer Weltformel? Ich möchte auch von diesen intelligenten Köpfen hören, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder sind sie etwa nur „so klug als wie zuvor“? Ja, ja, alter Onkel SPIEGEL – vor einigen Wochen noch mit der forschen Frage aufgemacht, ob nicht die Frauen die Klügeren seien, und jetzt als „klügste Köpfe der Gegenwart“ fast nur Männer abgebildet. Mittelmäßig klug stecke ich meinen Kopf da doch gern hinter ein so fein ausgewogenes Nachrichtenmagazin! Groß-Gerau (Hessen) Bonn Dittmar Werner Toll! Bald haben wir endlich die Weltformel; dann würde ich schon heute die Lottozahlen und Börsenkurse der nächsten Woche kennen, ich wüsste, was in den nächsten Folge der ,,Lindenstraße“ passiert, wäre glücklich und ausgeglichen, könnte schnell ausrechnen, wie ich meinen Garten gestalten soll, könnte meinem Bruder Rolf sagen, wann das beste Wetter zum Heufahren sein wird, und ich könnte den Politikern und dem Papst gute Tipps geben, was gegen Krankheit, Hunger und Überbevölkerung hilft. Danke, liebe Physiker! Albersdorf (Schlesw.-Holst.) Jens Tödter Mit welchem Recht maßen Sie sich an, diese Wissenschaftler als die „klügsten Köpfe der Gegenwart“ zu untertiteln. Zum einen arbeiten auch in nicht naturwissenschaftlichen Disziplinen kluge Köpfe, zum anderen werden Frauen als weniger klug disqualifiziert, da diese ja nur circa zehn Prozent unter den „klügsten Köpfen der Gegenwart“ ausmachen. Gießen Andrea Fiedler Auf Fragen wie, was, wenn die Weltformel denn gefunden würde, gibt es einen phantastischen Witz.Als Einstein in den Himmel kam, hatte er beim lieben Gott einen Wunsch offen. Die Weltformel möchte er endlich kennen, sagte Einstein. Der liebe Gott begann eine lange Formel aufzuschreiben. Einstein wurde immer nervöser. 8 Wipperfürth (Nrdrh.-Westf.) Willibert Pauels Wenn die Erde in Dreck, Müll und Abgasen erstickt sein wird, hat die Physikergilde vielleicht als letzte menschliche Geis- Stefan v. Holtey Wenn man das Interview mit dem Physiker Steven Weinberg sorgfältig liest, dann merkt man schnell, dass er sich in einem Argumentationszirkel verfängt. Die Wahrheit der Weltformel Teilchenbeschleuniger am Cern: Furchtbare Trostlosigkeit erkenne man angeblich an ihrer Schönheit, und schön, folgt man den testat ergründet, was die Welt in ihrem Worten des Gelehrten, sei gerade das Wah- Innersten zusammengehalten hat. re. Dass auch die modernen Forscher sich Gaimersheim (Bayern) Wolfgang Silvester von der angeblichen Schönheit die Sinne vernebeln lassen, verwundert nicht. Das Der Universalschlüssel zum großen Uhrhat eine lange Tradition. Schließlich fand werk steckt in der 17. oder 23. Dimension, man über 2000 Jahre Kreise schön und und irgendwer aus dem Club der 3000 Sukonnte sich deshalb partout nicht vorstel- perhirne wird ihn hoffentlich ergrübeln. len, dass die Planeten auf Ellipsen um die Wir anderen halten uns an Erich Kästner, Sonne wandern. Gottlob befinden letzt- der schon vor 45 Jahren die poetische Weltendlich nicht die Theoretiker über die Gül- formel entdeckte: ,,Noch wächst der Mond. tigkeit ihrer Kopfgeburten, sondern die Noch schmilzt er hin. Nichts bleibt. Und Menschen, die in der Lage sind, eine Mes- nichts vergeht. Ist alles Wahn. Hat alles sung durchzuführen. Sinn. Nützt nichts, dass man’s versteht.“ Tübingen Dr. Marco Wehr Hamburg Adolph C. Benning Vor 50 Jahren der spiegel vom 11. August 1949 US-Außenminister Dean Acheson zieht bedeutendsten Gesetzentwurf der Truman-Ära durch Den „Foreign Military Assistance Act“ – Waffenhilfe für das Ausland. Nationalchinesische Soldaten ziehen sich vor Maos Truppen nach Formosa zurück Auch Tschiang Kai-schek bringt sich dort in Sicherheit. Milliardär Aga Khan ist eine der stärksten Stützen der englischen Herrschaft in Ostafrika Für etwa 20 Millionen Muslime ist der Imam die lebendige Verkörperung Gottes. Premiere des Goethejahr-Films „Begegnung mit Werther“ Zweitteuerste Nachkriegsproduktion. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Der Frankfurter Bundestagskandidat Karl Schipper d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 P. GINTER / BILDERBERG SPIEGEL-Titel 30/1999 Wenn ich Steven Weinberg richtig verstanden habe, kann die Weltformel das ganze Universum erklären, nur eines nicht: welchen Sinn es hat. Seine Behauptung: „Es gibt keinen Sinn.“ Welch furchtbare Trostlosigkeit! Nicht nur Viktor E. Frankl meint, dass – bewusst oder unbewusst – keine Frage den Menschen mehr umtreibt als die Frage nach dem Sinn seiner Existenz. Sollte ausgerechnet die tiefste Sehnsucht des Menschen ein absurder Irrtum des Universums sein? Das innerste Wesen der Religion ist eben nicht die Tradierung des Blitze schleudernden Schöpfergottes (Weinberg), sondern die Zusage, dass meine Sehnsucht nicht an der trostlosen Sinnlosigkeit eines vollkommen gleichgültigen Universums zerschellt. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe Merzhausen (Bad.-Württ.) F. Schmidt-Hieber Die Gralshüter der faszinierenden Physik gehen allein von unserer „menschengerechten“ Vorstellung und Erfahrung, von „Anfang und Ende“ aus. Für Gott und mit ihm für Zeit, Raum und Materie gelten jedoch nur Ewigkeit und Unendlichkeit. Ein „Urgesetz“ der einheitlichen physikalischen Theorie des Kosmos – die 10- oder 11-dimensionale Raumzeit, eine Brücke zwischen Gravitation und Quantentheorie, ein Standardmodell der Materie – ist, Magie und Mysterium zugleich, nur ein interessantes Konstrukt. Es wird zu nichts führen, wie Stephen W. Hawking vermutet. Bonn-Bad Godesberg Prof. Heinz S. Fuchs Dialektische Routine Freiburg Ihr Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma ist in vielerlei Hinsicht recht aufschlussreich. Die dialektische Routine, mit der der eloquente Rhetoriker auch unmissverständlichen Fragestellungen auszuweichen versteht, ist bemerkenswert. Seine totale Immunität gegen Kritik ist kaum überhörbar. Der gesellschaftspolitische Beitrag des Hamburger Instituts für Sozialforschung wäre möglicherweise weniger skandalös ausgefallen, wenn sich der Sponsor dieses Instituts nicht rund fünf Jahre zu spät an sein „weiter gefasstes Projekt“ erinnert hätte. Otto Schmidt d e r Hans Jörg Kimmich Mit der 6. Armee habe ich 1942 bis zu meiner Verwundung an der Angriffsschlacht auf Stalingrad teilgenommen, von dem Reichenau-Befehl habe ich in dieser Zeit selbst als Offizier nichts gehört, wo doch nach Reemtsma die Mannschaftsgrade besonders ab der zweiten Hälfte des Jahres 1942 in angeblich bereitwilliger Befolgung dieses Befehls Verbrechen begangen haben sollen. Es ist eine ungerechte, nicht verantwortbare Verallgemeinerung, mit der die ehemaligen Soldaten als Ausführende von Massenmorden nach Plan pauschal verunglimpft werden. Es ist diese Verallgemeinerung, die mich veranlasst hat, mich zu Wort zu melden in Erinnerung an die mir unterstellt gewesenen Soldaten, von denen viele im Laufe des Krieges gefallen sind und die sich selbst oder deren Angehörige sich nicht mehr zur Wehr setzen können. Nachdem die finnischen Soldaten, die auf den Fotos zu sehen sind, dem Ausstellungsbesucher jahrelang als deutsche Sol- München daten präsentiert wurden, gibt Herr Reemtsma nun zu, dass zumindest auf einem Foto finnische Soldaten zu sehen waren, um im gleichen Atemzug zu behaupten, diese seien „Verbündete der Wehrmacht und unter ihrem Kommando“ gewesen. Diese pauschale Aussage ist falsch, sie entspricht nicht den historischen Tatsachen. Die Masse der finnischen Armee, die 1941 bis 1944 zwischen Louhi und dem Finnischen Meerbusen stationiert war, unterstand dem finnischen Oberkommando unter Marschall Mannerheim und Ausstellungsmacher Reemtsma war zu keinem Zeitpunkt des Totale Immunität gegen Kritik? 12 Günter Klein Herr Reemtsma sagt: „Nicht alle Soldaten haben Verbrechen begangen.“ Das ist wohl wahr und bösartig zugleich. Denn hinter dem „nicht alle“ steht unausgesprochen „aber die meisten“. Es war aber umgekehrt: Die Zahl derer, die Verbrechen begingen, wird seriös auf nicht mehr als zwei Prozent geschätzt. Stuttgart Nr. 29/1999, Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma über die Wehrmachtsausstellung und die Beweiskraft der Dokumente Hamburg Zweiten Weltkriegs der Wehrmacht unterstellt. Finnland war kein Quisling-Staat, seine Soldaten waren keine Erfüllungsgehilfen der Wehrmacht. Es war auch zwischen 1941 und 1944 eine parlamentarische Demokratie, ein Staat, in dem es keinerlei antisemitische Gesetzgebung gab. Selbst als die Deutschen größten Druck auf die Finnen ausübten, weigerten sich diese, die finnischen Offiziere jüdischen Glaubens aus der Armee auszustoßen. Wenn Herr Reemtsma meint, dass die finnischen Soldaten, die auf den Bildern zu sehen sind, an Verbrechen beteiligt waren, muss er den Beweis dafür erbringen. Die finnischen Historiker, denen ich die Fotos vorgelegt habe, können sie nicht genau zuordnen, sie sind in vielerlei Hinsicht interpretierbar. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Gerhard Ulbert M. SCHWARTZ Welch altertümliche Gottesvorstellung hat Steven Weinberg denn im Auge, wenn er sagt: „Die Wissenschaft hat es dem Menschen möglich gemacht, nicht religiös zu sein“? Gott, der als Lückenbüßer herhalten muss, wo der Mensch etwas nicht versteht? Wer Gott nicht in dem findet, was er versteht, der findet ihn auch nicht in dem, was er jetzt noch nicht versteht. Hochherrschaftliches Gebaren Nr. 30/1999, Strom: Der Preiskrieg beginnt A. BASTIAN / CARO Dass man der Ampere AG die Bude einrennt, liegt nicht immer nur an der „Schnäppchenmentalität“ ihrer Kunden. Viele Kunden werden durch das hochherr- Hochspannungsleitungen Verschwenderischer Umgang schaftliche Gebaren der jetzigen Stromlieferanten wie Stadtwerke und so weiter in Scharen zu den neuen Stromverteilern getrieben. Einige Stadtwerke müssen wohl erst hart am „(Kon)Kurs“ segeln, um den Kunden als König zu begreifen. Bis jetzt sind die Stromlieferanten Beispiele hochtrabender Bürokratie. Diesen Umstand mussten wir leidvoll bei den Stadtwerken Viersen erfahren, die uns bei der Durchführung unseres Bauvorhabens nicht gerade unterstützt haben. Viersen (Nrdrh.-Westf.) Stefan Erens Der Run auf den billigsten Stromanbieter wird vermutlich unheilige Folgen nach sich ziehen: Je billiger Energie ist, umso verschwenderischer gehen die Menschen damit um. Vermutlich wird der Klima-GAU dadurch noch ein wenig beschleunigt. Denn sauberen Strom gibt es zur Zeit leider nur in begrenztem Umfang und auch noch zu von der Masse der Menschen nicht akzeptierten höheren Preisen. Irgendwann werden wir dann schon alle merken, dass Fernsehgucken im überfluteten heimischen Wohnzimmer, verursacht durch die dem Klimawandel folgenden Dammüberflutungen von Donau, Rhein und Oder, einfach keinen Spaß macht. Aber wenigstens war’s billig, in die Katastrophe zu rauschen. Elmshorn (Schlesw.-Holst.) Werner Steinke Robin Wood Verheerende Situation Nr. 29/1999, Medizin: Mobbing im Krankenhaus verunsichert Assistenzärzte In deutschen Kliniken herrscht ein menschenfeindliches Arbeitsklima.Verstöße gegen das seit 1996 auch für Klinikärzte geltende Arbeitszeitgesetz sind an der Tagesordnung. Krankenhausärzte mit hunderten unbezahlter Überstunden stehen arbeitslod e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Briefe müssen und wurde so selbst zum stromlinienförmigen, bedingungslos gehorsamen Mediziner (nicht Arzt), der nur noch wenig Skrupel und noch weniger Moral kennt. Einmal dann in leitender Position, wird kräftig nach unten getreten und im Kreise der „Mitarbeiter“ menschlich ,,die Sau rausgelassen“. An dieser verheerenden Situation wird sich leider auch in Zukunft nichts ändern, solange das Spiel mit der Angst vor Arbeitslosigkeit durch Krankenhausärzte bei Operation: Ränkespiel von Intrigen immer kürzer befristete Arsen Kollegen gegenüber. Dennoch gibt es beitsverträge nicht irgendwann vom GeAlternativen: nämlich dem deutschen Chef- setzgeber als sittenwidrig eingestuft wird. arztsystem konsequent den medizinischen Regensburg Robert Schmittinger Nachwuchs und dessen Qualifikation zu entziehen. Viele junge Ärzte gehen nach Zweifellos erschweren Druck und Schikane Großbritannien, wo sie ein freundliches Ar- jegliches Arbeitsverhältnis. Durch das Überbeitsklima bei akzeptabler Arbeitsbelastung angebot an Jungakademikern entsteht aber und angemessener Bezahlung vorfinden. erst dieser Missstand. Generell gilt es zu hinterfragen, inwiefern es eine Argumentation Sheffield (England) Dr. Rolf Vogel gibt, warum sich junge Ärzte nicht diesem Die angesprochenen Missstände sind ge- Wettbewerb stellen sollten. Schließlich genau die Gründe dafür, dass sich hier in Nor- staltet sich für jeden Absolventen der erste wegen immer mehr deutsche Mediziner an- Arbeitsplatz schwierig; ob bei Ärzten, Arsiedeln. Es ist kaum zu glauben, dass man chitekten oder Betriebswirten. Mit Magenunter so angenehmen Bedingungen in geschwüren, Nervosität oder Psycho-ProKrankenhäusern arbeiten darf. Deshalb rate blemen umgehen zu müssen, um sich am ich allen Studierenden der Medizin, recht- Arbeitsmarkt zu behaupten, ist das Los, das zeitig Norwegisch zu lernen und möglichst insbesondere jeder junge Akademiker zieht. viel (Studien)Zeit hier zu verbringen. Münster Daniel Heyen Völlig normal Nr. 29/1999, Bundeswehr: Beziehungsprobleme bei den deutschen Kfor-Soldaten T. RAUPACH Da es ganz offensichtlich Kostengründe sind, die für einen solch langen Einsatz sprechen, bin ich nicht bereit, die Folgen für die Familie zu tragen. Unsere Männer werden tagtäglich darin bestärkt, ihre Familien im Stich zu lassen, um für ein „höheres Ziel“ einzutreten und sich für einen Auslandseinsatz zu melden. Wer tritt denn für uns Familien ein? Wenn unsere Männer aus dem Einsatz kommen, im Bewusstsein, etwas Großes geleistet zu haben, und sie werden nicht dafür bejubelt, sondern sie sollen Windeln wechseln, dann ist auch für sie die Diskrepanz kaum zu überwinden. Uns steht dann kein Psychologe zur Seite, der vermittelnd eingreift. Nicht nur den fern der Heimat stationierten Soldaten laufen die Frauen weg; auch so mancher Zivilist weiß, nach berufsbedingtem Auslandsaufenthalt, ein Lied davon zu singen. Männer täten so etwas nie! Erst auf dem Höhepunkt ihrer Karriere schieben sie die Alte aufs Abstellgleis und zaubern eine Jüngere aus dem Ärmel. Frankfurt am Main Detlev Byns Der Bericht verschweigt die Normalität der Belastung durch lange Abwesenheit des Partners, die nicht zwangsläufig zu ei- Dr. Annette Schmiz Es wird sogar noch schlimmer werden. Zeichnete sich die alte Garde der ,,Chefs“ häufig noch durch patriarchalisch-wohlwollende Zuwendung zu ihren Assistenten aus, die zwar schuften mussten wie die Pferde, dafür aber immer wieder einen freundlichen Klaps auf die Schulter erhielten und dank guter Beziehungen irgendwann als Oberarzt an ein anderes Krankenhaus weiterempfohlen wurden, ist der Typus des neuen leitenden Arztes ein anderer. Er hat jahrelang das Ränkespiel von Intrigen, Mobbing, Wegsehen und Stillhalten miterleben Wundervolle Allegorie Nr. 29/1999, Boulevard: Der Banker und die Brandt-Witwe – Szenen einer Treibjagd Was für eine wundervolle Allegorie des sterbenden Jahrhunderts: die schwarzweißrot drapierte Witwe des letzten bedeutenden Sozialdemokraten in Buhlschaft mit dem Herrn und Mogul der D-Mark! Ich empfehle sie als Riesenfresko für das Foyer der Deutschen Bank, vielleicht mit dem Spruchband Il Trionfo di Mammona. Durchgeführt allerdings nicht in der Manier von Tiepolo, sondern von George Grosz. Ein bisschen an der Wahrheit wollen wir doch bleiben. München VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Duty-free,Brandenburg,Grüne,Internet (S.64),Zivildienst,Kriminalität: Ulrich Schwarz; für Konsum, Millennium, Umfrage, Expo 2000: Dr. Gerhard Spörl; für Affären, Trends, Geld, Weltfinanzen, Steuern, Autoindustrie, Entertainment, Internet (S. 93), Südkorea: Gabor Steingart; für Fernsehen, Magazine, Szene, Pädagogik, Mode,Autoren,Ausstellungen, Dirigenten, Sprache, Bestseller: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Ausland, Balkan, Iran, Kolumbien, Russland, Indien, Italien: Dr. Olaf Ihlau; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für Prisma, Titelgeschichte, Computerspiele, Medizin, Luftfahrt, Tiere, Chronik: Olaf Stampf; für Fußball, Olympia: Matthias Geyer; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Eclipse99Group/Seaton, England Carl Amery Der SPIEGEL würde das Thema nie von sich aus aufnehmen, denn dazu ist er sich zu schade. Nicht zu schade ist er sich darin, sich des Themas durch eine zynische Konstruktion zu bemächtigen: Man berichtet ja nicht direkt darüber, sondern nur über den „Boulevard“, der es eben aufgegriffen hat. München Martin Vogt Wie Matthias Matussek den verlogenen feministischen Zeitgeist entlarvt und ihn ins Lächerliche zieht, ist einmalig. Weiter so. Wien 14 Elke Lüke Armin Pillhofer d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 C. KOALL / LS-PRESS Harstad (Norwegen) Gescher (Nrdrh.-Westf.) Deutscher Kfor-Soldat an albanischer Grenze Kaum zu überwindende Distanz ner höheren Trennungsrate führen muss. Ich glaube nicht, dass die Frauen und Freundinnen von Seefahrern so anders sind. Für die Soldaten der Bundesmarine gibt es das „Opfer an der Heimatfront“ schon lange, denn Seefahrten von mehreren Monaten Dauer sind völlig normal. Eckernförde Erhard Graf Militärpfarrer bei der U-Boot-Flottille Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegt die Beilage Ars Mundi (Brockhaus), Hannover, und die Beilage HumanitasBuchversand, Wiesbaden, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama Landesbank als Zockerbude N euer Ärger für CSU-Chef und Bayern-Premier Edmund Stoiber. Nach den Millionenverlusten der Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft wird nun wieder die Affäre um den Milliardenverlust der Bayerischen Landesbank zum Thema. Bisher bekannt war: Die Landesbank hat während der Asien-Krise rund 1,3 Milliarden Mark verloren. Verborgen blieb bis jetzt, dass rund 800 Millionen Mark durch wilde Zockerei verschwanden. In einer Sitzung von Haushalts- und Stoiber, Huber Finanzausschuss, über deren Details nie öffentlich berichtet wurde, nahm Stoibers Finanzminister Kurt Faltlhauser, der zum Zeitpunkt der Verluste keine Verantwortung für das Kreditinstitut trug, ausführlich Stellung. Aus dem Sitzungsprotokoll wird deutlich, dass die Verluste durch Kredite entstanden, die auf offenbar wertlose Aktien ausgezahlt wurden. Bankenüblich ist eine Beleihung von Wertpapieren zu maximal 60 Prozent, in Singapur wurde bis zu 100 Prozent beliehen. Kreditvergabe und Controlling seien nicht getrennt erfolgt, ähnlich wie im Fall des Barings-Bank-Spekulanten Nick Leeson war damit keine zeitgleiche Kontrolle möglich. Die Verluste seien „von der Niederlassungsleitung da- Schiebereien ohne Ende W egen Geldverschwendung und Missmanagement bei der milliardenschweren Agrarforschung gerät der österreichische EU-Agrarkommissar Franz Fischler, der auch für die neue Kommissionstruppe vorgesehen ist, unter Druck. Nach einem vertraulichen Report des EU-Rechnungshofes vom 20. Juli wurden Forschungsprojekte doppelt subventioniert und Vertragssummen ungerechtfertigt erhöht. Die Prüfer entdeckten massenweise rückdatierte Verträge, exzessiv überhöhte Gebührenabrechnungen und Personalmauscheleien, von denen Fischlers Agrardirektion gewusst haben müsste. In der jetzt laufenden schriftlichen Befragung der Kommissionskandidaten Romano Prodis wollen Europa-Abgeordnete wissen, welche Verantwortung Fischler dafür trägt. Mögliche Affären aus der Vergangenheit will das Parlament auch bei dem als Außenhandelskommissar vorgesehenen französischen Sozialisten Pascal Lamy überprüfen. Lamy war zwischen 1985 und 1994 Kabinettschef des Kommissionspräsidenten Jacques Delors in Brüssel und für den kommissionsintern verrufenen Sicherheitsdienst verantwortlich. Gegen einige der damaligen Sicherheitsleute ermittelt heute die Brüsseler Justiz wegen Ausschreibungsmanipulationen. Weil sich die Kritik am neuen Kommissionsteam häuft, hat sich Prodi inzwischen zu einer Spezialbefragung durch ein „Grand Committee“ des Europaparlaments bereit erklärt, nach Abschluss der allgemeinen KommissionsHearings am 7. September. Wenig Ärger haben dagegen die Fischler rot-grünen Kommissionskandidaten Günter Verheugen und Michaele Schreyer zu erwarten. Sie sollen derzeit nur über ihre europapolitischen Positionen und ihre Fachgebiete berichten. NEWS EU-KOMMISSION mals als geringfügig dargestellt“ worden, sagte Faltlhauser vor dem Parlamentsausschuss. Dennoch habe die Zentrale am 21. Oktober 1997 beschlossen, das Geschäft mit den Aktienkrediten „unverzüglich einzustellen“. Doch die Niederlassung habe „ohne Genehmigung oder Rücksprache mit der Zentrale im November 1997 noch größere Auszahlungen vorgenommen“. Die Zustände vor Ort müssen abenteuerlich gewesen sein. Selbst eine Auflistung der Kunden haben die Münchner von dort „nur durch Anweisung an den Innenleiter erhalten“. Der Mann habe als Entschuldigung gegenüber der bayerischen Muttergesellschaft später erklärt, dass für ihn quasi ein Redeverbot bestanden habe. Ihm sei „seitens des Niederlassungsleiters eine Abmahnung angedroht worden, falls er direkten Kontakt nach München aufnehmen würde“. Mittlerweile sind zumindest vor Ort die Konsequenzen gezogen, doch der damalige Asien-Chef der Bank stieg anschließend weiter in der Landesbank auf. Verantwortlicher Verwaltungsratschef zum Zeitpunkt der Affäre war der heutige Staatskanzleichef Erwin Huber. In CSU-Kreisen wird vermutet, das erneute Aufflackern der Affäre sei eine Drohung an die SPD, denn Chef der Landesbank ist heute der damalige Vize und Asien-Verantwortliche Alfred Lehner, ein Genosse, der auch zugleich im Aufsichtsrat der Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft saß, die durch Grundstücksgeschäfte Millionen verlor. DPA B AY E R N d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 17 Panorama GRÜNE Neue Mitte ührende Grüne wollen ihren Flügelstreit beenden und ein neues „Zentrum“ der Ökopartei bilden. Am 28. August kommen sie auf Einladung des ehemaligen Bremer Umweltsenators Ralf Fücks zu einem ersten Strategietreffen in Berlin zusammen. Mit dabei sind unter anderen die Berliner Spitzenkandidatin Renate Künast, Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer, Bundestagsabgeordnete, die niedersächsische Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms, ihr baden-württembergischer Kollege Fritz Kuhn, die Hamburger Wissenschaftssenatorin Krista Sager, der Frankfurter Umweltdezernent Tom Koenigs sowie Gesundheits-Staatssekretär Erwin Jordan. Die neue Mitte will, so eine Grüne, „das Interpretationsmonopol der Realos“ brechen, sich also nicht länger vorschreiben lassen, was grüne Politik sei. Auf der Suche nach der neuen Mitte der Ökopartei haben die Zentristen bewusst darauf verzichtet, Bonner Spitzenkräfte wie die Minister DPA F Straßenbau in Brandenburg FÖRDERMITTEL Armes Sachsen Künast, Kuhn Joschka Fischer, Andrea Fischer und Jürgen Trittin oder die beiden Partei-Chefinnen Gunda Röstel und Antje Radcke einzuladen, weil die als festgelegt gelten. Als einziger ausgewiesener Realo mit Bonner Ambitionen wird Kuhn geduldet. AT O M T R A N S P O R T E Anträge unvollständig D as Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) sieht sich derzeit nicht in der Lage, Anträge der Stromkonzerne auf Abtransport von Brennstäben ins Ausland zu genehmigen. Die acht vorliegenden Anträge seien, „wie die Betreiber selbst feststellen, allesamt noch unvollständig“, kritisiert BfS-Präsident Wolfram König: „Auf dieser Grundlage kann und darf ich nicht abschließend entscheiden.“ Wegen überhöhter Strahlung an den Behältern waren die Transporte von der alten Bundesregierung gestoppt worden. Die Energieunterneh18 wischen den ostdeutschen Ländern ist ein Streit um EU-Fördergelder entbrannt. Sachsens Regierungschef Kurt Biedenkopf und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel fordern, dass die Brüsseler Strukturfondsmittel – etwa für den Straßenbau – in Zukunft stärker nach „regionalem Wohlstand“ verteilt werden. Dabei sollen Einwohnerzahl und geringere Wirtschaftskraft mehr ins Gewicht fallen. Die einwohnerstarken Länder Thüringen und Sachsen, beide CDU-geführt, würden davon profitieren, während Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, beide SPD-geführt, auf EU-Geld verzichten müssten. In einem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hatte Biedenkopf sein Land arm gerechnet: Bei altem Verteilungsschlüssel erhalte Brandenburg „einen erheblich höheren Pro-Kopf-Betrag an EU-Strukturfondsmitteln als die wirtschaftlich deutlich schwächeren Länder Sachsen-Anhalt, Thüringen oder auch Sachsen“. Insgesamt werden in den Jahren zwischen 2000 und 2006 Fördergelder in Höhe von 19,2 Milliarden Euro für den Osten von Brüssel nach Deutschland überwiesen. Sollte sich die Linie der CDUgeführten Ost-Länder durchsetzen, müßte Mecklenburg-Vorpommern mit Einbußen von bis zu 140 Millionen Mark pro Jahr rechnen. men befürchten, dass einige ihrer Meiler im kommenden Jahr abgeschaltet werden müssen, weil die internen Abklingbecken dann keine weiteren verbrauchten Brennstäbe mehr aufnehmen können. Einige Kraftwerksbetreiber haben inzwischen mit Klagen gedroht, sollte das Bundesamt nicht bis Ende des Monats entscheiden. „Wenn die Anträge vollständig sind“, sagt König, „können Transportgenehmigungen innerhalb von vier Wochen erteilt werden.“ Er mag sich nicht einschüchtern lassen: „Es käme ja auch kein Pilot auf die Idee, vom Tower vor Abschluss des Sicherheitschecks eine sofortige Starterlaubnis zu verlangen.“ d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 AP K. B. KARWASZ Z Strahlenkontrolle an Castor-Behälter Deutschland Rüttgers: Die Leute sind über die Politik CDU „Ein Stück ratlos“ Der stellvertretende Unions-Fraktionschef und nordrhein-westfälische Landesparteichef Jürgen Rüttgers, 48, über die Strategie seiner Partei B. THISSEN SPIEGEL: Während Schröder versucht, die SPD nach rechts zu steuern, mutet manchen die Union schon links an. Woran liegt das? Rüttgers: Auslöser dieser neuen Unübersichtlichkeit ist das so genannte Schröder-Blair-Papier. Das politische Koordinatensystem hat es gründlich durcheinander gebracht. SPIEGEL: Wo bleibt Platz für die CDU? Rüttgers: In der Mitte. Es gibt sicher ein Stück Ratlosigkeit, wie die Union auf Rüttgers das Schröder-Blair-Papier reagieren soll. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Union nach ihrer verheerenden Wahlniederlage bei der Bundestagswahl zwar Wahlen gewinnt und erfolgreiche Kampagnen führt. Mit der Neufundierung ihrer Politik hat sie aber gerade erst begonnen. SPIEGEL: Täuschen die erreichten Wahlsiege über die wahren Machtverhältnisse im Land hinweg? LEBENSMITTEL Sicheres Label Z um ersten Mal können Verbraucher in nordrhein-westfälischen Supermärkten garantiert Gentechnik-freie Produkte kaufen. Um die Lücken einer europäischen Lebensmittel-Verordnung zu schließen, hatte der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eine umfassendere Kennzeichnung entwickelt. Das Logo „Ohne Gend e r der Regierung zutiefst verärgert; davon profitiert die Union. Die CDU war auch am Ende ihrer Regierungszeit nie so schlecht wie Rot-Grün jetzt. Was ihr aber zum Ende ihrer Regierungszeit fehlte, war eine gesellschaftliche Perspektive. Daran mangelt es noch immer. Wir müssen ran an die Wirklichkeit. SPIEGEL: Ist sich die Union denn einig bei der Beschreibung der Wirklichkeit? Rüttgers: Es gibt Widersprüche zwischen der Politik der Union und der Lebenswirklichkeit der Menschen. Der größte Fehler der CDU wäre es, sich den Geist des Schröder-Blair-Papiers zu eigen zu machen. Ziele und Werte der „neuen Mitte“ sind Wirtschaftswerte. Politik ist aber mehr. Sie muss an Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert sein. SPIEGEL: Solche Sätze könnte der SPDSozialexperte Rudolf Dreßler sagen. Rüttgers: Das Neue, was die SchröderClement-SPD nicht sieht, ist das Ende der Industriegesellschaft und der Beginn der Wissensgesellschaft. Der Mensch ist erstmals nicht mehr Objekt ökonomischer Strukturen. Er rückt mit seinen Talenten in den Mittelpunkt. SPIEGEL: Machen Sie den Grünen Konkurrenz? Rüttgers: Eine neue Mehrheit wird die Union nur erringen, wenn sie Antworten für die Zukunft findet: auf die kulturelle Revolution durch neue Kommunikationsformen, auf das Phänomen der alternden Gesellschaft und vor allem auf den beschleunigten Strukturwandel von Arbeits- und Wirtschaftsleben. Wir brauchen eine Neubestimmung des Sozialstaats. Noch in diesem Jahr muss die Union eine neue Familienpolitik entwickeln. SPIEGEL: Die Fluglinie Deutsche BA hat sich auf einem Werbeplakat bereits scherzend angeboten, Sie zum Kanzler zu befördern. Wäre das im Ernst denkbar? Rüttgers: Nein. Ich bewerbe mich als Ministerpräsident in NRW. Ich gehe im Mai 2000 nach Düsseldorf. technik“ können nur Lebensmittel tragen, deren gesamter Produktionsweg frei von gentechnischen Methoden ist – einschließlich der Herstellung aller Hilfs- und Zusatzstoffe. Diese verschärfte Kennzeichnungs-Verordnung war 1998 vom Bundesrat verabschiedet worden. In 33 Famila- sowie 58 CombiMärkten stehen jetzt die ersten „Ohne Gentechnik“-Produkte in den Regalen. Auch Tengelmann, Rewe sowie tegut wollen laut BUND bei Eigenmarken auf Gentechnik verzichten. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande Schwanz mit Hund 20 Briten feiern die Aufhebung des Rindfleisch-Exportverbots mit kostenlosen Beef-Burgern BSE Brüssel gibt Zeit D ie Europäische Kommission lässt der Bundesregierung Zeit, die Einfuhr von britischem Rindfleisch zu erlauben. Zum August hatte Brüssel das Exportverbot für Großbritannien aufgehoben, nun muss der Beschluss ins nationale Recht übernommen werden. Die Deutschen haben zwar angekündigt, hinhaltenden Widerstand zu leisten, das aber nimmt in Brüssel niemand sehr ernst: Die Verordnung ist nach EURecht bereits wirksam. Wer wollte, könnte auch jetzt schon die Einfuhr von britischem Beef vor Gericht durchsetzen – auch wenn er Schwierigkeiten hätte, das Fleisch hierzulande an den Mann zu bringen. Um die Vorgabe in deutsches Recht umzusetzen, muss eine Regierungsvorlage erstellt und vom Bundesrat bestätigt werden. Der tritt aber erst am 24. September wieder zusammen. Vor dem Bann betrug der Anteil britischen Fleisches auf dem deutschen Markt rund 0,1 Prozent. MECKLENBURG-VORPOMMERN Prechtels letzter Sieg E F. HORMANN / NORDLICHT enn der Schwanz mit dem Hund wedelt, dann zeigt der Schwanz Charakter, und der Hund hat ein Problem. Man werde die SPD-Regierung in Sachsen-Anhalt nicht ewig tolerieren, drohte Gregor Gysi vergangene Woche, spätestens nach der nächsten Landtagswahl müsse die SPD eine formelle Koalition mit der PDS eingehen. Wenn nicht, werde die PDS über eine „andere Konstellation“ nachdenken. Eben noch wollten die Postsozialisten Wähler aus dem rechten Spektrum anlocken, die eigenen altersmüden Genossen mit vitalen DVU-Kämpfern und jungen Republikanern aufmischen, nun stellt Gysi der SPD Bedingungen und macht sich daran, die SPD zu beerben. „Zwölf Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus“ heißt das Programm, dessen Inhalt ebenso atemraubend daherkommt, wie es schon die Überschrift verspricht: „Gerechtigkeit ist modern“. Ja, wenn die DDR nicht unerwartet untergegangen wäre, hätte Gregor Gysi längst bewiesen, wie modern der Sozialismus sein kann, vor allem, wenn er sich mit Gerechtigkeit verbindet. Da aber vor zehn Jahren die Zeit gerade reichte, die SED in PDS umzutaufen, will er das Versäumnis jetzt nachholen. „Wandel durch Annäherung“, hieß die Strategie mal bei den Sozialdemokraten, nun läuft alles auf „Annäherung durch Übernahme“ hinaus. Und wenn die PDS demnächst das „Godesberger Programm“ der SPD zu ihrem eigenen Erbe erklärt, werden die Sozialdemokraten ganz schön alt aussehen – die Modernisierungsverlierer der Berliner Republik und – mit viel Glück – Juniorpartner der PDS in Sachsen-Anhalt. T. ANDREWS W inen Strafbefehl über sieben Tagessätze à 200 Mark (inzwischen rechtskräftig) hat die ehemalige Vorsitzende der PDS-Fraktion im Schweriner Landtag, Caterina Muth, 41, erhalten. Ende 1998 hatte sie in einem Neubrandenburger Drogeriemarkt Wimperntusche und einen Eyeliner gestohlen – im Prechtel Gesamtwert von 22,90 Mark. Sie trat daraufhin zurück. Der in den einstweiligen Ruhestand versetzte Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern, Alexander Prechtel (CDU), hatte es abgelehnt, das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Als das Justizministerium verfügte, dass Verfahren wegen Ladendiebstahls bei Ersttätern und Beutewert bis hundert Mark eingestellt werden können, plädierte Prechtel dagegen. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Nachgefragt Keine Hektik Neben den bekannten Versorgern verkaufen jetzt auch neue Anbieter Strom an Privathaushalte. Wie werden Sie sich verhalten? Ich werde so bald wie möglich zu einem neuen Anbieter wechseln Ich warte ab und beobachte den Strommarkt Ich bleibe bei meinem bewährten Anbieter 4 61 31 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 3. und 4. August; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Werbeseite Werbeseite Deutschland Kundenansturm beim Sonntagsverkauf*: Mit Etiketten-Schwindel den Umsatz gesteigert KONSUM Kampf um den Sonntag Händler und Warenhauskonzerne in den Innenstädten, vor allem in Ostdeutschland, brechen mit phantasievollen Aktionen das Tabu der Sonntagsruhe. Die Kirchen fürchten um die letzte Bastion ihres Feiertags, die Kunden sind begeistert. I M. EBNER / MELDEPRESS n deutschen Warenhäusern renfetischismus den revolusollte die Revolution begintionären Kampf gegen die nen. Im traditionsreichen Staatsgewalt selbst aufgenomFrankfurter Kaufhaus Schneimen. Am vorvergangenen der platzierten Andreas Baader Sonntag setzte sich Günter Bieund Gudrun Ensslin 1968 zwei re, 55, Geschäftsführer des Brandsätze. „Wann brennen die Kaufhofs am Berliner AlexanBerliner Kaufhäuser?“, fragten derplatz, über alle Gesetze und die Berliner Kommunarden Verordnungen hinweg. Punkt 12 Fritz Teufel und Rainer LangUhr öffnete der zwirbelbärtige hans auf Flugblättern, die später Minister Müller Kämpe des Konsums („Ich gerichtsmäßig als satirische Dohabe schon 1979 in Kleve für kumente gewürdigt wurden. Mit Herbert die Fußgängerzone gekämpft“) die Türen Marcuse im Hinterkopf galt der Kampf dem weit für die Kundschaft. Konsumterror des kapitalistischen Staates. Legal, illegal, scheißegal: Es ging gegen Verlorene Schlachten, vergangene Zei- das letzte Tabu der Konsumgesellschaft, ten. Nun aber haben die Manager des Wa- das Verbot des Verkaufs am Sonntag. Listig wie einst der Apo-Teufel nahm der * Am 1. August in Berlin. Kaufhaus-Chef die neueste Rechtsverord22 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 nung des Berliner Senats auf den Arm. Der hatte die City zur Touristenzone erklärt und damit den Verkauf von Reisebedarf und Andenken auch am Sonntag erlaubt. Als „Berlin-Souvenir“ kennzeichnete ein grüner Aufkleber mit dem Brandenburger Tor fast das gesamte Sortiment, von Würstchen aus Eberswalde über Calvin-KleinJeans bis zu Monatsbinden. Der Etiketten-Schwindel lockte schon in den ersten Minuten 5000 Shopper in den Kaufhof, bis zum Ladenschluss um 17 Uhr waren es 50 000 Besucher. In fünf Stunden machte Biere soviel Umsatz wie sonst in den elf Öffnungsstunden eines normalen Tages. Der Kampf gilt nicht mehr dem Konsumterror, sondern dem Terror gegen den Konsumenten: dem Ladenschlussgesetz Gottesdienst (in München): Ermahnung vom Papst von 1956, das auch in der novellierten Fassung von 1996 von Montag bis Freitag die Rollläden um 20 Uhr heruntergehen lässt – und am Sonntag den Verkauf nur als Ausnahme gestattet. Das Experiment der Öffnung wagen gerade im Osten immer mehr Kommunen. In Leipzig tummelten sich zeitgleich zu Berlin 100 000 Konsumenten in der offenen Innenstadt. Auch Halle und Dessau machten mit. In Mecklenburg-Vorpommern erlaubt die „Bäderregelung“ schon seit längerem 192 Gemeinden die Ladenöffnung am Sonntag. Der Westen aber schaut zu und wartet ab, wie die Gerichte und der Staat entscheiden. Der Kampf um die offene Ladentür ist wie kaum ein anderes Thema zum Symbol für den schwierigen Weg der Deutschen in eine neue Gesellschaft geworden. Flexibel, Service-orientiert und offen für den Wettbewerb soll sie werden – und doch die alten Werte der sozialen Gerechtigkeit, des Gruppenkonsenses und der kulturellen Identität hochhalten. Ringsum in Europa, von den USA gar nicht zu reden, ist die Kauffreiheit schier grenzenlos – nur hier in Deutschland gilt strikt: sonntags (fast) nie (siehe Grafik Seite 25). In einer heiligen Allianz wettern Gewerkschafter und Kirchen gegen die Sonnd e r tagsschänder, als sei das christliche Abendland in Gefahr. Auf Flugblättern protestierte die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) in Berlin gegen die „Verlotterung von Sitte,Anstand, Moral und Gesetzestreue“. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Manfred Kock, geißelte den sonntäglichen „Tanz ums goldene Kalb“. Strenggläubige Sozialdemokraten vereinen sich im Horror vor dem offenen Sonntag mit den Christen. Der Hamburger Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) will die Hansestadt am Tag des Herrn weiter geschlossen halten, auch wenn die treulosen Konsumbürger in die offene Stadt Schwerin pilgern. Der bibelfeste Bundespräsident Johannes Rau mahnte, der Sonntag sei „kein beliebiger Tag“, man dürfe ihn nicht „zur Verfügungsmasse für Konsum und Verkauf“ machen. Die Kirchen sehen schon seit langem grämlich zu, wie ihr Feiertag durch weltliche Freizeitbeschäftigungen profanisiert wird, die oft eine weitere Zunahme der Sonntagsarbeit in den Dienstleistungsberufen nach sich ziehen. Vergangenes Jahr mahnte der Papst in einer 111-seitigen Epistel „Dies Domini“ die „Sonntagspflicht“ zum Messebesuch an und gebot den katholischen Christen, alle Tätigkeiten zu vermeiden, die „mit der Heiligung des Sonn- s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Konsumkritiker Rau „Kein beliebiger Tag“ ARIS S. LAMBERT F. HELLER / ARGUM tags“ unvereinbar sind. Denn „indem der Christ die Ruhe Gottes ehrt, findet er sich selbst voll und ganz“. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung wurde in Deutschland das jahrhundertelang unbestrittene dritte Gebot zur Sabbat- und Sonntags-Heiligung („Da sollst du keine Arbeit tun“) regelmäßig missachtet. Nach dem morgendlichen Kirchgang jedenfalls hatten die Arbeiter in der Fabrik zu erscheinen, auch wenn in Norddeutschland der Spruch ging: „Op Sünndagsarbeit folgt ken Glück un Segen.“ Erst 1891 wurde die Sonntags-Tätigkeit für die gewerblichen Arbeiter ausdrücklich per Gesetz verboten – ein symbolträchtiger Sieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gegen „das Kapital“. Der Arbeitswoche einen Rhythmus mit Ruhetag zu geben ist auch vielen Irreligiösen ein Bedürfnis – trotz oder gerade wegen der immer stärkeren Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch etwa, als freier Autor an keine Stundenregeln gebunden, verspürt doch die Neigung zum Werk- und Sonntag-Rhythmus: „Das hat etwas Dumpf-Solidarisches und ist beruhigend.“ Von einer „massiven Nachfrage“ nach einer weiteren Liberalisierung des Ladenschlusses könne jedenfalls keine Rede sein, sagt Uwe-Christian Täger vom Ifo-Institut, das für die Bundesregierung ein Gutachten zum Ladenschlussgesetz erstellt. Nach ei- R. NOBEL / ARGUM Deutschland Einkaufsstraße Oxford Street in London (an einem Sonntag): Shoppen ohne Schranken Ab 3000 v. Chr. Bei den Babyloniern, Griechen und später den Römern gilt die Planetenwoche, ohne den „Tag der Sonne“ hervorzuheben. Um 1200 v.Chr. Das Alte Testament schreibt in Exodus 34,21 vor, den siebten Wochentag (Samstag) der Ruhe zu widmen. 321 n. Chr. Konstantin der Große erhebt den Sonntag als Auferstehungstag Jesu zum christlichen Feiertag und verordnet das Ruhen aller „knechtlichen Arbeit“. 24 Um 1250 Um 1530 Thomas von Aquin überträgt die alttestamentarischen Vorstellungen der Sabbatheiligung der Juden auf den Sonntag („Sabbat des neuen Bundes“). Das alte katholische Kirchenrecht schreibt nun Messebesuch, Enthaltung von schwerer körperlicher Arbeit sowie Unterlassung von Gerichtsverhandlungen und öffentlichen Märkten vor. Martin Luther lehnt die Übernahme des Arbeitsverbots am Sabbat auf den Sonntag ab; den Feiertag zu heiligen bedeute, das Wort Gottes zu hören. Sein reformierter Gegenspieler Johann Calvin verkündet, der Sonntag diene auch der Erholung von der Arbeit. 1522 Herzog Heinrich von Sachsen Oliver Cromwell verhängt in England ein vollständiges Ruhegebot für den Sonntag. A KG Sonntags nie? pflegung, 20 zusätzliche Ausbildungsplätze sind ebenfalls mit im Paket. Dennoch flog der Etiketten-Schwindel vergangene Woche auf. Das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte ein Verbot des allgemeinen Sonntagsverkaufs mitsamt dem verhängten Zwangsgeld von 50 000 Mark, da die Deklarierung aller Waren als Souvenirs „eine durchsichtige Umgehung“ sei und eine „negative Vorbildwirkung“ habe. Auch das vom Kaufhof angerufene Oberverwaltungsgericht sah das am vorigen Freitag nicht anders. Das Warenhaus blieb am darauf folgenden Sonntag zu. In Halle durfte die Kaufhof-Filiale dagegen zusammen mit anderen Händlern dank einer vorläufigen Eilentscheidung wiederum öffnen. Zuvor hatte schon ein kleiner Teehändler vom Kurfürstendamm dem großen Konkurrenten eine Teilniederlage beigebracht. Werner Schmitt, 59, vom „King’s Teagarden“ ließ Kaufhof den Verkauf von Tee und Zubehör per einstweiliger Verfügung verbieten. Der stadtbekannte Quertreiber überprüfte die Einhaltung persönlich im Sonntagsgewühl und konnte trotz abge- verbietet das Arbeiten an Feiertagen. d e r Um 1640 s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 P. G L AS E R ner Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap sind 62 Prozent der Deutschen gegen die Sonntagsverkäufe, bei jüngeren Konsumenten ist die Ablehnung allerdings weniger ausgeprägt als bei Senioren. Eingedenk der christlich-roten Einheitsfront hatte Kaufhaus-Manager Biere seinen Anschlag auf die Sonntagsruhe generalstabsmäßig vorbereitet. Schon 1997 versammelte er in diskreten Gesprächsrunden Gewerkschafter und Senatsvertreter zwecks Belebung der Innenstadt. Nach vier bis fünf Runden verlor der quirlige Manager Anfang 1999 allerdings die Geduld und ergriff allein die Initiative: „Bis Jahresende ist der Ladenschluss gekippt.“ Betriebsratschef Klaus-Dieter Jahns, pflichtgemäß grundsätzlich gegen Sonntagsarbeit, beugte sich schließlich dem Spruch der Einigungsstelle – zu verlockend war auch das Angebot: Die Ausgleichsregelung für die Sonntagsarbeit sieht einen zweijährigen Kündigungsschutz vor, gewährt dem Verkaufspersonal Umsatzbeteiligung und 120 Prozent Sonntagslohnzuschlag sowie kostenlose Kantinen-Ver- deckter Tee-Auslagen am Alex eine Kanne im Wert von 69 Mark erstehen. Nun muss der Kaufhof mit einem Ordnungsgeld von 500 000 Mark rechnen. Denn Biere streitet natürlich nicht selbstlos für die Konsumentenfreiheit. Die Sonntagsaktion ist Teil eines gnadenlosen Verteilungskampfes der Händler. Der Umsatz im Berliner Einzelhandel schrumpft kontinuierlich seit sieben Jahren. 1998 ging der Verkauf im Vergleich zum Vorjahr um 861 Millionen Mark zurück, in diesem Jahr befürchtet der Gesamtverband des Berliner Einzelhandels ein weiteres Minus von zwei Prozent. Der gesamten Branche in Deutschland geht es kaum besser, der Umsatz stagniert seit Jahren bei etwa 720 Milliarden Mark. Besonders den ostdeutschen City-Händlern machen die Einkaufszentren auf der grünen Wiese zu schaffen, die Verkaufsflächen sind weit überdimensioniert. Dem aufmüpfigen Teemann schlossen sich vergangene Woche zahlreiche Einzelhändler aus Berlin an. „Im Viertelstundentakt“, so der Händler-Anwalt Bernd Nieding, schickten sie dem Kaufhof einstweilige Verfügungen wegen „wettbewerbswidrigen Verhaltens“. Die Chancen der klagenden Händler stehen nicht schlecht. Denn die Verletzung der Sonntagsruhe durch Kaufhof rennt gegen eine Norm an, die immerhin Verfassungsrang hat. „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“, heißt es in Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung, der nach dem Grundgesetz ausdrücklich weiterhin gilt. „Zwar stellt diese Norm kein Bollwerk dar, das jegliche Gesetzesänderungen verhindert“, meint der Münsteraner Verfassungs- und Kirchenrechtler Dirk Ehlers, „aber die Sonntagsruhe darf nach dem Grundgesetz auch kein leeres Versprechen sein.“ Das Bundesverfassungsgericht hat 1992 und 1995 wiederholt festgestellt, dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet ist, durch gesetzliche Regelungen Um 1790 Französische Aufklärer versuchen vergebens, die Sieben-Tage-Woche mitsamt dem Sonntag abzuschaffen und die zehntägige Woche einzuführen. Um 1800 Mit der Industrialisierung wird in Deutschland für weite Teile der arbeitenden Bevölkerung die Sonntagsruhe abgeschafft. 1839 Preußen verbietet die Fabrikarbeit von Minderjährigen an Sonn- und Feiertagen. 1849 Die Preußische Gewerbeordnung bestimmt, dass niemand zur Sonntagsarbeit verpflichtet ist, die Vorschrift hat aber praktisch wenig Auswirkungen. 1891 Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz verbietet ausdrücklich die gewerbliche Sonntagsarbeit. „die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen zu schützen“. Solche Regelungen finden sich im Arbeitszeitgesetz und im Ladenschlussgesetz. Ihre klare Aussage: Sonntags bleibt zu – von Ausnahmen abgesehen. Apotheken, Tankstellen, Bäckereien, Blumenläden und Zeitungskioske dürfen auch an Sonntagen geöffnet haben ebenso wie Geschäfte für Reisebedarf auf Bahnhöfen und Flughäfen. Weitere Ausnahmen können die Bundesländer zulassen – genau dadurch droht jetzt die Sonntagsarbeit zur Regel zu werden. Die Berliner „Verordnung über den Ladenschluss in Ausflugs- und Erholungsgebieten“ legt seit 16. Juli fest, dass elf Berliner Stadtgebiete, darunter der „Innenstadtbereich mit zahlreichen touristischen Anziehungspunkten“, als Ausflugs-und Erholungsgebiet gelten. In solchen Gebieten dürfen nach dem Ladenschlussgesetz an bis zu 40 Sonn- und Feiertagen im Jahr Geschäfte für acht Stunden öffnen, die touristische Waren verkaufen: „Badegegenstände, Devotionalien, frische Früchte, alkoholfreie Getränke, Milch- und Milcherzeugnisse“ führt das Ladenschlussgesetz einzeln auf, „Süßwaren, Tabakwaren, Blumen und Zeitungen sowie Waren, die für diese Orte kennzeichnend sind“. Was den Ort kennzeichnet, erklärte das Regierungspräsidium Halle den SonntagsHändlern etwa so: Die einheimische Spezialität der Hallorenkugeln dürften sie verkaufen, nicht aber Mozartkugeln. „Dass das gesamte Kaufhaus-Sortiment zum Gegenstand des Tourismus wird, ist sicher nicht grundgesetzkonform“, meint Verfassungsjurist Ehlers, „denn sonst würde der Sonntagsschutz zum bloßen Etikett verkommen.“ Doch längst hat der Gesetzgeber die soziale Errungenschaft von einst durchlöchert. 19 Ausnahme-Vorschriften zum Verbot der Sonn- und Feiertagsbeschäftigung stellt allein das Arbeitszeitgesetz auf. Damit wird Sonntagsarbeit bei Bundesligaspielen legalisiert, bei Messen, Volksfesten, in der Gastronomie, in Schwimmbädern, Museen, Theatern und Kinos, 1919 Der Schutz von Sonn- und Feiertagen wird in Artikel 139 der Weimarer Verfassung garantiert. 1949 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernimmt das Gebot der Weimarer Verfassung unverändert gemäß Artikel 140. 1956 Das Ladenschlussgesetz regelt Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit. 1988 Immer mehr Unternehmen, angeführt vom Computer- und ChipHersteller IBM, verlangen die Genehmigung, dass ihre Anlagen zur besseren wirtschaftlichen Nutzung auch an Sonntagen betrieben werden können – bisher ist dies im Wesentlichen nur aus technischen Gründen gestattet. Shoppen ohne Hast Nationale Regelungen bei den Ladenöffnungszeite n* Montag bis Freitag Samstag Sonntag Dänemark keine Einschränkung zwischen Montag 6 Uhr und Samstag 17 Uhr Deutschland 6 Uhr bis 20 Uhr 6 Uhr bis 16 Uhr Bäckereien ab 5.30 Uhr Frankreich keine Einschränkung keine Einschränkung Großbritannien keine Einschränkung Lebensmittelläden bis 12 Uhr, diverse Ausnahmen keine Einschränkung Italien 7 Uhr bis 22 Uhr keine Einschränkung für kleinere Läden, größere von 10 Uhr bis 18 Uhr wie werktags Niederlande 6 Uhr bis 22 Uhr im Prinzip geschlossen, diverse Ausnahmen wie werktags Vereinigte Staaten keine Einschränkung im Prinzip geschlossen, diverse Ausnahmen keine Beschränkung keine Beschränkung im Prinzip geschlossen, Ausnahme: kleine Läden OPEN im Prinzip geschlossen, vereinzelte Ausnahmen *ohne Berücksichtigung der Vorweihnachtszeit-Regelungen natürlich auch für Presse und Rundfunk, nicht nur für Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr und Verkehrsbetriebe, in der Landwirtschaft, der Energieversorgung. Das Wachsen der Freizeitgesellschaft schwächt die alte Sonntags-Allianz von Kirchen und Gewerkschaften und stärkt damit die Unternehmen in ihrer Forderung nach mehr Liberalisierung. Immer mehr Arbeiten, die früher als reine Werktagstätigkeit galten, sind nun auch an Sonntagen erlaubt. Der entschieden einfallsreichste Passus des novellierten Arbeitszeitgesetzes von 1994 verpflichtet die Aufsichtsbehörden zur Genehmigung von Sonntagsarbeit, wenn im Vergleich zum Ausland „die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von Sonnund Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann“. Mit diesem Paragraphen ist in der Praxis fast alles möglich: Die Sachsenring Automobiltechnik AG in Zwickau beispielsweise, ein wichtiger VW-Zulieferer mit rund 1600 Beschäftigten, hat eine Genehmigung zur Sonntagsarbeit – ebenso wie Volkswagen selbst. Denn auf globalen Märkten droht Konkur1994 Weitere Ausnahmen renz aus dem Ausland imwerden durch das Arbeitsmer und überall. Alle Bereizeitgesetz legalisiert. che von Dienstleistungen 1996 Verlängerung der und Produktion zusammenLadenöffnung auf 20 Uhr, samstags auf 16 Uhr. genommen, arbeiten schon 1999 Das Land Berlin über 20 Prozent der Bebringt im Bundesrat eine schäftigten am Sonntag. Novelle des LadenschlussNeun Bundesländer, auch gesetzes ein, nach der die das gottesfürchtige Bayern, Öffnungszeit an Werktagen haben durch eigene Verordbis 22 Uhr ausgedehnt wernungen die Ausnahmen für den kann und weitgehende Sonntagsarbeit noch ausAusnahmen vom Gebot der geweitet. So dürfen nach Sonntagsruhe möglich sind. der „Bedarfsgewerbeverordnung“ des Landes Nordrhein-Westfalen Gärtner an Sonntagen ebenso arbeiten d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 wie Immobilienmakler und Beschäftigte in Musterhaus-Ausstellungen, bei Auskunftsund Auftragsdiensten, die über Telefon und Internet arbeiten, bei Brauereien, im Getränkegroßhandel und in Speiseeisfabriken. Der Regensburger Arbeitsrechtsexperte Reinhard Richardi hat im Auftrag der Gewerkschaft HBV diese Ausnahmeregelungen begutachtet. „Diese Verordnung ist ein glatter Rechtsbruch“, stellt Richardi fest: „Was eigentlich dem Schutz des Sonntags dienen sollte, wird eingesetzt, um die Sonnund Feiertagsruhe auszuschalten.“ Die generelle Freigabe der Sonntagsarbeit, das meinen die meisten zuständigen Minister in Bund und Land, ist „weder wünschenswert noch durchsetzbar“, wie es etwa der Düsseldorfer Wirtschaftsminister Peer Steinbrück (SPD) versichert. Die werktäglichen Geschäftszeiten allerdings werden wohl bald noch weiter in den Abend ausgedehnt. Der Berliner Senat hat eine Novelle in den Bundesrat eingebracht, die das Ladenschluss- in ein „Ladenöffnungsgesetz (LadÖffG)“ umtauft und von montags bis samstags den Verkauf zwischen 6 und 22 Uhr gestattet. Steinbrück sieht „gute Chancen“, dass sich das „Berliner Modell“ auf der nächsten Länder-Wirtschaftsministerkonferenz im Oktober in Freising durchsetzt. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller möchte dagegen am Ladenschlussgesetz nicht rühren – doch nur mit dem Hintergedanken, die Kaufzeitreglementierung vollends auszuhebeln. Das bestehende Recht sehe genügend Ausnahmen vor wie etwa für Kurorte: „Den Ladenschluss erledigt die kreative Kommune, dazu wird der Wirtschaftsminister nicht gebraucht.“ Für ausreichende Lockerung, so Müllers Tipp, genüge es schon, „einfach auf die Sehenswürdigkeiten hinzuweisen“. Dietmar Hipp, Hendrik Munsberg, Michael Schmidt-Klingenberg, Adrienne Woltersdorf 25 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Gaspipeline (in Sibirien) Atomkraftwerk (Grohnde) Gefährdete Technik bei der Jahrtausendwende MILLENNIUM Die Nacht der Doppelnull Legt ein Computer-Crash an Silvester die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt lahm? Die Krisenszenarien der Bundesregierung, bei Behörden und Unternehmen klingen dramatisch. Wirtschaftsminister Werner Müller würde trotzdem ins Flugzeug steigen. I * Am 1. Mai 1997 in der Microsoft-Zentrale bei Seattle. 28 fest zu machen. Doch der Aufwand bietet keine Gewähr, dass auch der letzte veraltete Chip, das letzte überholte Programm aufgerüstet worden ist. Die Szenarien sind mal wüst, mal beschwichtigend (siehe Seite 30). Bundeskanzler Gerhard Schröder („Ist doch harmlos“) und sein Wirtschaftsminister Werner Müller neigen persönlich nicht zur apokalyptischen Weltsicht. Nachdem sich Müller erst einmal erklären ließ, dass das international gebräuchliche Kürzel Y2K („Y“ für year, „K“ für Kilo = 1000) für „Jahr 2000“ steht, winkte er heldenhaft ab. Er würde sogar fliegen, verkündete der parteilose Ökonom, obschon den Kabinettsmitgliedern nahe gelegt worden ist, möglichst kein Flugzeug zur Jahrtausendwende zu besteigen. Ähnlich locker gibt sich der einstige IBMMann Peter de Jager, der Mitte der Neunziger die erste Y2K-Hysterisierungswelle mit auslöste – und prächtig daran verdiente. Jetzt, sagt er, sei das Problem praktisch gelöst, weil die westlichen Industrieländer ihre wichtigsten Rechner gecheckt und nachgerüstet hätten (siehe Seite 32). Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Jahr-2000-Problem ist da weniger optimistisch: Es bestehe „das Potenzial für weit reichende wirtschaftliche Störungen“. Selbst bei penibler Prüfung bestehe „ein Restrisiko für krisenhafte Schadensereignisse mit breitflächigen, unvorhersehbaren Störungen“. Doch eine Weissagung ist so gut wie die andere. Denn die Propheten führen einen Glaubenskrieg. „Was wirklich passiert“, Microsoft-Chef Gates, Besucher Schröder*: „Ist doch harmlos“ M. DARCHINGER n den letzten Wochen wurde Staatssekretärin Brigitte Zypries, 45, von Kollegen aus dem Bundesinnenministerium immer mal wieder auf ihre Pläne für die Silvesternacht angesprochen. Die Fragenden wissen natürlich, wo Zypries feiert – und spekulieren auf eine Einladung. Denn die Staatssekretärin bittet zur schrägsten Millennium-Party der Republik. Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke hat sich schon angemeldet. Im Ministerium in Berlin-Moabit werden EDV- und Kommunikationsspezialisten bei Wasser, Saft und Kaffee sitzen und vom späten Nachmittag an, noch vor „Dinner for One“, auf Monitore und Fernschreiber starren. Am anderen Ende der Welt passiert nämlich schon, was wenige Stunden später Europa ereilt: Die Uhren springen vom 31. 12. 1999 um auf den 1. 1. 2000. Ob die weltweit geschätzten 40 Milliarden Mikrochips mitspringen, ist fraglich. Denn bei älteren Systemen wurde, um Speicherplatz zu sparen, die Jahreszahl in zwei Ziffern angegeben: 99 statt 1999. Die Doppelnull aber werden viele der elektronischen Bausteine nun als Jahr 1900 missverstehen und verrückt spielen: Was nicht millenniumsfest ist, bringt womöglich Herzschrittmacher zum Stillstand, lässt Bankdaten verschwinden und U-Bahnen blockieren – das Armageddon der Generation Microsoft. Weltweit werden etwa 1500 Milliarden Mark verpulvert, in Deutschland allein 10 Prozent davon, um Rechner jahrtausend- Baby-Brutkasten in Klinik Kampfjet (beim Betanken) F. MAYER / MAGNUM / AGENTUR FOCUS (1); R. JANKE / ARGUS (2); FROMMANN / LAIF (3); MARKEL / GAMMA / STUDIO X (4) sagt Staatssekretärin Zypries, „das können wir erst am Neujahrsmorgen sagen.“ Ein interner Bericht für den Berliner Innensenat bringt es auf den Punkt: „Die Spekulationen variieren zwischen ,vermutlich alles im Griff‘ und ,totaler Zusammenbruch des öffentlichen Lebens‘. Es ist derzeit noch unklar, ob eher die optimistische oder eher die pessimistische Prognose zutrifft.“ Der Report aus der Hauptstadt zeichnet ein negatives Szenario: Werden die Befürchtungen wahr, fallen PC älterer Bauart aus, ebenso Telekommunikationsanlagen und Endgeräte; Kontrollchips befehlen Fahrzeugen, Antrieben und Aggregaten die Abschaltung, das Motormanagement, ABS oder Zentralverriegelung bei Autos versagen. Bis zu 30 Prozent der elektromedizinischen Geräte sind bedroht, zudem warnt das Dossier vor einem Zusammenbruch des Strom- und Gasnetzes. Allein die Gefahr durchgeknallter Computer könnte bis zum Winter eine Massenhysterie auslösen: Der Jahrtausendwechsel, von Medien, Gurus und Hysterikern mystisch überhöht, schafft sich in Kombination mit dem Y2K-Problem seine eigene surreale Panik, die durch die Wirklichkeit nicht gedeckt, aber durch die Macht der Phantasie kräftig befeuert wird. In den USA wird bereits gehamstert, Waffen und Notstromdiesel werden angeschafft. Eine weitere Sorge treibt insbesondere Firmen um: Unter den zahllosen Programmierern, die derzeit weltweit Rechnersysteme nachrüsten, könnten sich kriminelle Elemente befinden, die Viren installieren oder sich einen Dauerzugang zu sensiblen Daten verschaffen. Denn in einem mittelständischen Unternehmen müssen 12 Millionen Programmzeilen geprüft werden, weil sich viele Unternehmen ihre Software und Netzwerke haben maßschneidern lassen. Ob das Tuning geholfen hat, wird sich zunächst schon am 9. September zeigen: Ältere Software nimmt die Ziffernfolge 9999 im Datumsfeld als Signal zum Beenden des Programms. Tests, die den Datumssprung simulieren, lassen Schlimmes befürchten: π Als die Verantwortlichen in einem Chrysler-Werk den Januar 2000 vorgaben, schlossen sich die computergesteuerten Sicherheitstore der Autofabrik – stundenlang kam niemand hinein noch hinaus. π Bei Los Angeles brachte eine Simulation des Jahrtausendwechsels eine Wasseraufbereitungsanlage zum Überlaufen, mehr als 15 Millionen Liter ungeklärter Abwässer überschwemmten mehrere Straßenzüge und einen öffentlichen Park. π Ein Test auf dem Containerschiff APL „Singapore“ legte dessen Maschine lahm, der 58 000-Tonnen-Gigant trieb steuerlos auf den Hafen von Los Angeles zu. Während sich Großunternehmen schon seit Jahren mit dem drohenden Crash befassen, sind Mittelständler, Kommunen und private Anwender eher arglos. Insbesondere für Kleinbetriebe und Bürgermeister hat Kanzler Schröder seine Millenniums-Task-Force eingesetzt. Staatssekretärin Zypries und ihr Kollege Tacke sollen bis zum Jahreswechsel auch den letzten Deutschen vor der Gefahr warnen. Doch der fünf Millionen Mark teure Informationsfeldzug mit Telefon-Hotline, Internet-Seite, CD-Rom und Broschüren wird nicht alle erreichen. Der Innenminister hat bereits die Parole „Eigenverantwortung“ ausgegeben: Otto Schily verzichtet bewusst auf die Überprüfung der Industrie. Die Angst um Daten und Geschäftsgang werde schon disziplinierend wirken. So ist es. Die Funktionäre der Autoindustrie, Deutschlands wichtigstem Wirtschaftszweig, haben nach US-Vorbild einen dicken Fragebogen entworfen, der tausenden von Zulieferfirmen per Post ins Haus flatterte. Die Autokonzerne, die von der termingenauen Teile-Lieferung abhängen, wollen genau wissen, wie sich ihre Zulieferer vor der Datumsfalle schützen. Wer mit der Auskunft trödelt, bekommt umgehend Besuch von Inquisitorentrupps der Konzerne, die sich mit eigenen Augen von der Krisenprävention überzeugen. Das Desinteresse der Regierung an einer Überprüfung der Wirtschaft hat bereits einige Oppositionsabgeordnete alarmiert. Im d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Vergleich zum 2. Bericht der US-Regierung vom April falle der Fortschrittsbericht der Bundesregierung dürftig aus, kritisieren sie. Bei der Chemieproduktion, die in den USA als hoch gefährdet gilt, heißt es im Bundesbericht nur: „Spezielle, auf die Chemiebranche beschränkte Problemlagen bestehen nicht.“ Etwa 50 000 deutsche Firmen haben sich bislang überhaupt noch nicht um Y2K gekümmert. Ein Leichtsinn: Denn die Europäische Kommission nimmt an, dass 15 Prozent aller Unternehmen die 2000-Hürde nicht schaffen und in Konkurs gehen. Fast jedes 20. Unternehmen in Deutschland, darunter auch große Firmen, so das Ergebnis einer geheimen Studie von Finanzdienstleistern, könnte durch die Jahrtausendwende ernsthaft in Zahlungsschwierigkeiten kommen. „Wir können uns nicht um jeden PC in Deutschland kümmern“, sagt Zypries. Schließlich hat die Bundesverwaltung genug mit ihren eigenen 130 Großrechnern und weit über 100 000 Tischgeräten zu tun. Die Vorgänger-Regierung hatte das Problem nicht übermäßig ernst genommen. Während US-Präsident Bill Clinton und der britische Premier Tony Blair das Y2KProblem zur Chefsache erklärten und mit gewaltigen Aufwand zu lösen begannen, suchte Kanzler Kohl noch immer nach dem Grünstreifen auf der Datenautobahn. Ziemlich düster beschreibt der Bundesrechnungshof in einem internen Papier vom März die Lage. Für den Bund seien „die Rahmenbedingungen zur Bewältigung des Problems sehr ungünstig: Die Software ist in weiten Teilen überaltert, nach heutigen Maßstäben ineffizient programmiert, die Programmdokumentation ist mangelhaft“. Zumindest die für die Bürger sensibelsten Daten scheinen sicher zu sein. Derzeit werden etwa die Systeme der Bundesanstalt für Arbeit abschließend auf ihre Millenniums-Festigkeit getestet. Die Rentenversicherer haben Kontoführung und Leistungsberechnungen bereits 1998 auf die vierstellige Jahreszahl umgestellt. Tests mit simulierten 2000-Daten verliefen erfolgreich. So weit sind nicht alle Verwaltun29 Deutschland Störung im Dunkeln Energieversorger kämpfen darum, dass in der Silvesternacht nicht die Lichter erlöschen. zeitig auftreten können“, etwa bei einigen „Drehzahlmessumformern der Hauptkühlmittelpumpen“, aber auch bei Überwachungs-, Melde-, Zugangs- und Kommunikationsrechnern sowie Brandschutzsystemen. Akribisch prüft die rot-grüne Regierung in Kiel die Jahrtausendtüchtigkeit ihrer drei Atommeiler. Dabei zeigt sich, wie anfällig selbst deutsche Reaktoren sind. Als im Kernkraftwerk Krümmel der Datumssprung simuliert wurde, spielten der Kernüberwachungsrechner (er prüft den Abbrand der Uranstäbe im Reaktorkern) sowie ein Abgasrechner (er bilanziert die Jod- und Edelgasabgabe) verrückt. Beide wurden ausgetauscht. Im Meiler Brunsbüttel, so heißt es in einem vertraulichen Bericht, wird „zum Jahreswechsel vermutlich ein einmaliger Eingriff erforderlich sein, um den störungsfreien Betrieb des Rechners fortzusetzen“. Bis zuletzt behält sich die Landesregierung vor, sie vorübergehend stillzulegen, obschon für die Sicherung der drei Meiler insgesamt 15 Millionen Mark investiert wurden. Anfang 1998 stellte die Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar Gesellschaft (GKN), Betreiberin der Atommeiler Neckarwestheim 1 und 2, ein rund 20köpfiges „Projektteam Jahr 2000“ zusammen. Selbst die Drehkreuze am Kraft- Reaktorwarte in Brokdorf: „Kettenreaktionen mit unabsehbaren Folgen“ werkseingang, so fürchteten die Experten, könnten zum Sicherheitsrisiko werden, wenn sie stundenlang den Zugang zum Gelände verwehrten. Rund tausend Aggregate und Geräte überprüften die GKN-Fachleute bis heute. Jedes fünfte, das zeigten die Checks, ist mit Chips und Prozessoren bestückt, die mit Datumsangaben gefüttert werden und deshalb zum Krisenherd mutieren könnten. Vorsichtshalber tauschten die Techniker inzwischen knapp 60 Geräte aus. Genau überprüften die Experten die Prozessrechner für Block 1 und Block 2. Die beiden Mammut-Datenverarbeitungsanlagen erfassen während des Meilerbetriebs alle Temperaturen, den Druck und die Füllstände und bereiten die Daten zu übersichtlichen Zahlenkolonnen und Grafiken auf. Fallen die Anlagen aus, spucken die Drucker keine Zahlen mehr aus, werden die Bildschirme schwarz. Bei Betriebsstörungen arbeiten die Kontrolllämpchen und -anzeigen weiter, doch weil die Protokolle fehlen, bleibt womöglich die Chronologie der Störung im Dunkeln, und das Kraftwerkspersonal droht den Überblick zu verlieren. Prompt warf ein Drucker eine fünfstellige Jahreszahl aus, als die Techniker unlängst am Prozessrechner von Block 1 den Datumswechsel simulierten. Gerüstet glauben sich die GKN-Experten auch für den Fall, dass das Stromnetz rund um ihre Meiler ausfällt. Kollabiert es, so jedenfalls steht es im Krisen-Drehbuch, schalten die Meiler augenblicklich auf Eigenversorgung um, damit die internen Aggregate weiter laufen können. Im Schnellgang wird dann beispielsweise an Block 2 die Leistung von 1364 auf knapp 80 Megawatt heruntergefahren. Diskret stellen die Energieversorger derzeit die Notfallpläne auf. Leistungsreserven und Personal sollen verdoppelt werden, in der heißen Zeit um Mitternacht sind Telefonschaltkonferenzen zwischen Kraftwerken und Umspannstationen anberaumt. Jedem Atommeiler ist zudem je ein S. ELLERINGMANN / BILDERBERG I n der kommenden Nacht zum Jahreswechsel können die Bosse der deutschen Stromkonzerne bestenfalls mit Verspätung zum Feiern übergehen. Denn wenn das Jahr-2000-Problem tatsächlich auftauchen sollte, wäre ein längerer flächendeckender Stromausfall der heikelste aller anzunehmenden Unfälle: Vom Brutkasten bis zur Reaktorkühlung, von der Verkehrssteuerung bis zu Alarmanlagen in Banken, von der Benzinpumpe bis zum Telefon – das Leben könnte schlagartig lahm liegen. Zwar gelten gerade deutsche Atomkraftwerke wegen ihrer überwiegend computerarmen Relaistechnik als relativ unanfällig. Aber die Komplexität der verwobenen Energie-, Computer- und Kommunikationsnetze „ist derart unübersichtlich“, so der schleswig-holsteinische Energiestaatssekretär Wilfried Voigt, „dass schon kleinste Ausfälle irgendwo Kettenreaktionen mit ganz und gar unabsehbaren Folgen nach sich ziehen können“. Laut einem Schreiben der Gesellschaft für Reaktorsicherheit kann es „auch bei den in deutschen Anlagen verwendeten Computersystemen zu Schwierigkeiten“ kommen. Es bestehe „grundsätzlich die Möglichkeit, dass Störungen und Ausfälle in mehreren Systemen gleich- Alphabet der Pannen Eine Auswahl aus über 100: Anrufbeantworter, Aufzugsteuerungen Beleuchtungsanlagen, Brandmeldeanlagen Chipkartenleser Drucker, Druckmaschinen Einbruchmeldeanlagen Fahrscheinautomaten, Fernschreiber, funktechnische Anlagen Gateways, Generatoren Heizungsanlagen Kassensysteme, Klärwerkstechnik, Klimaanlagen, Krankenhaustechnik, Kühlanlagen Leitstellen, Lichtzeichensignalanlagen Medizinische Geräte, Modems Netzkarten, Netzwerke, Notstrom-Aggregate Parkautomaten, Postförderanlagen Radargeräte, Rolltreppensteuerung Scanner, Schließanlagen, Schreib- und Lesegeräte für Kartensysteme Tankanlagen, Telefonanlagen, Tresoranlagen Uhrenanlagen Verkehrsampeln, Verkehrsleitsysteme Warenautomaten Zählgeräte (Münzen u. Scheine), Zapfsäulen gen. Dass es bei der Auszahlung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zu Verzögerungen kommt, gilt als ausgemacht. Insbesondere in Berlin haben hinter den Kulissen fieberhafte Vorbereitungen auf die Silvesternacht begonnen. Innensenator Eckart Werthebach beziffert „das Restrisiko mit ein bis zwei Prozent“. Der Berliner Feuerwehrchef Albrecht Broemme bereitet seine Männer darauf vor, „Brände auch dann zu löschen, wenn unser Kommunikationssystem ausfällt“. Dafür werden eigens Fahrzeuge zu Relaisstationen umgebaut. Das Technische Hilfswerk ist vorbereitet, ab Mitternacht vermehrt Menschen aus stecken gebliebenen Fahrstühlen zu ziehen. Der vorsorgliche Aktivismus hat seinen Grund. Denn die Bevölkerung der Hauptstadt wird um mehr als eine Million ausgelassener Silvestergäste anwachsen. Die Feuerwehr befürchtet etwa 1000 Brände in den ersten sechs Stunden des neuen Jahres. Löschfahrzeuge werden an zentralen Orten postiert, ein gefüllter Tankwagen steht bereit. In den Sommertagen üben die Einheiten schon mal „Löschwasserentnahme aus offenen Gewässern und Brunnen“. Hat sich das öffentliche Leben am 3. Januar, dem ersten Montag des neuen Jahrtausends, einigermaßen normalisiert, ist das Millenniums-Problem allerdings noch nicht ausgestanden. Zum einen droht am 29. Februar der nächste Crash. Denn dann d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 W. SCHMITZ / BILDERBERG konventionelles Kraftwerk zugeordnet, das, falls die Notversorgung nicht funktioniert, „spätestens nach zwei Stunden die externe Energieversorgung der Kernkraftwerke wieder herstellen soll“. Der internationale Stromaustausch, empfiehlt ein Bund-Länder-Papier, sollte tunlichst vermieden werden. Weitaus kritischer als bei den Nuklearmeilern scheint die Situation bei der Gasversorgung zu sein. Wenn im Fall eines großen Stromausfalls viele Sicherheitsventile der großen Gaspipeline aus Russland gleichzeitig schließen, muss das über 148 000 Kilometer verschlungene Röhrenwerk den Rückschlag aushalten. Dann droht gleich das nächste Problem. Denn die Gasvorräte Hamburgs sollen gerade mal für einen halben Tag reichen. Entspannter gibt sich die Essener Ruhrgas. Zwar wäre auch die Steuerung des Netzes von einem Stromausfall betroffen, aber die Experten haben alle Verdichteranlagen, die den Leitungsdruck erhöhen und so den Fluss gewährleisten sollen, mit Notstromaggregaten ausgerüstet, ebenso Gasspeicher sowie zentrale Messund Regelanlagen. Selbst ein Totalausfall der russischen Gaslieferungen schreckt die Essener nicht. In ihren gewaltigen Untertagespeichern lagern angeblich Vorräte, um ihre Kunden gemeinsam mit Extrabelieferungen aus Großbritannien, Norwegen und den Niederlanden ein Vierteljahr lang mit Gas zu versorgen. Doch auch bei Ruhrgas sind für Silvester vorsichtshalber Zusatzschichten einbestellt. Eine 1000 Mann starke Sondertruppe soll im Notfall zur Stelle sein. Verglichen mit Osteuropa nehmen sich die deutschen Sorgen ziemlich harmlos aus. Keiner der 29 russischen Reaktoren gilt als datumsfest – und Abhilfe ist nicht in Sicht. „Nukleare Alpträume“ befürchtet die Geheimdienst-Postille „Jane’s Intelligence Review“ allerdings weniger wegen der 70 von 134 Militärstützpunkten mit Atomwaffen, die bei einer Überprüfung 1998 Probleme zeigten, sondern wegen der absehbaren Stromausfälle in den russischen Atomkraftwerken, die einen Ausfall der Kühlung nach sich ziehen können, weil die Notstromsysteme erfahrungsgemäß nicht immer anspringen. Die russischen Meiler allerdings ausgerechnet im tiefsten Winter vom Netz zu nehmen gilt als wenig realistisch. Ein Sprecher des Moskauer Atomministeriums kündigte bereits an, man wolle mit der Lösung bis zum Jahr 2000 warten. Dann lassen sich die Probleme klarer sehen. Eine Checkliste des Bundesinnenministeriums dokumentiert, welche Maschinen, Anlagen und Einrichtungen zur Jahrtausendwende für Fehlfunktionen anfällig sind. Verkehrskreuzung (in Stuttgart) „Weiterfressende Schäden“? greift eine doppelte Schaltjahr-Sonderregel: Der Gregorianische Kalender sieht bekanntlich alle vier Jahre ein Schaltjahr vor, lässt aber alle 100 Jahre den 29. Februar ausfallen – alle 400 Jahre gibt es ihn allerdings doch. Daran dachten viele Programmierer nicht. Zum anderen warten Heerscharen von Anwälten auf eine Flut von Schadensersatzprozessen. Versicherungen, die Schutz gegen Betriebsunterbrechungen anbieten, so Frank Thyrolf vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, „glauben, nach Silvester 1999 in Schadensmeldungen ihrer Kunden zu ersticken“. Der Kölner Rechtsanwalt Friedrich Graf von Westphalen hat zusammen mit zwei Kollegen und einem EDV-Sachverständigen in einem 600-Seiten-Wälzer die haftungsund versicherungsrechtlichen Aspekte des Jahr-2000-Problems beschrieben: von der Pflicht zum Risikomanagement über die Haftung für „weiterfressende Schäden“ und Rückrufkosten bis zu Beweislastfragen. Die Autoren sehen in der Bewältigung „für viele Unternehmen eine Pflichtaufgabe zum Überleben“. Denn jede Firma kann sowohl Opfer eines im eigenen Haus oder bei Geschäftspartnern auftretenden Datumsfehlers werden, aber zugleich auch Täter – wenn sie eigenen Verpflichtungen nicht nachkommt oder bei Kunden Schäden verursacht. Manager können sich sogar strafbar machen, wenn durch den Computerfehler Menschen zu Schaden kommen. Vorstände und Geschäftsführer könnten vom eigenen Unternehmen zur Kasse gebeten werden, wenn unzureichende Risiko-Vorsorge zu Produktions- und Ertragsausfällen führt. Besondere Ansprüche drohen dem Bund und den Ländern, wie ein internes Regierungspapier festhält: Es bestehe die Gefahr, dass Datumsstörungen „Fehler bei der Aufgabenerledigung durch die Bediensteten hervorrufen, die wiederum Haftungsrisiken in sich bergen“. Kommt es zu falschen Polizeieinsätzen, etwa einer längst erledigten öffentlichen Fahndung, können Geschädigte einen Anspruch gegen die öffentliche Hand gelten machen. Das Gleiche 31 Deutschland gilt, wenn beispielsweise Ampelanlagen ausfallen und deswegen Verkehrsunfälle passieren. Inzwischen versuchen weltweit Unternehmen, die wegen des zu erwartenden Software-Debakels in die Pflicht genomEin Dossier des Bundesnachrichtendienstes dokumentiert men werden könnten, sich der Verantwortung zu entziehen: die weltweite Angst vor dem Silvester-Crash. π Auf Druck von Hightech-Unternehmen hat die amerikanische Regierung am 20. ber international vagabundie- der Silvesternacht in die Luft begeben Juli ein Gesetz zur Haftungsbegrenzung rende Hard- und Software hat müssen. für Computerzusammenbrüche wegen sich der Jahrtausendfehler gloIn Europa gilt Russland als Sorgendes Jahr-2000-Fehlers verabschiedet; balisiert. Eine Studie des Bundesnach- kind: Bei 60 Prozent aller behördlichen π der Dachverband der spanischen Versirichtendienstes (BND) aus diesem Netzwerke müsse die Software erneucherer hat seinen Mitgliedern geraten, in Frühjahr bewertet die weltweiten ert werden, stellen die BND-Autoren den Versicherungsverträgen die Haftung Bemühungen, den drohenden Daten- fest. Die Weltbank gab bislang einen für den Jahrtausendfehler auszuschließen; GAU zu vereiteln: „Fehlfunktionen bis Anti-Crash-Kredit in Höhe von 100 000 π deutsche Versicherer verlangen von ihren zum Totalausfall sind nahezu überall Dollar, nötig wären aber schätzungsKunden Auskunft über deren Jahr-2000zu erwarten.“ Von weltweit geschätz- weise bis zu drei Milliarden. Fitness. Schildern sie die Situation zu opten 40 Milliarden Chips seien 800 MilEin zufälliger Start von Interkontitimistisch, droht ihnen der Verlust des lionen nicht getestet, 93 Prozent aller nentalraketen gilt als „unwahrscheinVersicherungsschutzes – malen sie die Personalcomputer, die vor 1997 gebaut lich“, dennoch haben Bill Clinton und Lage zu düster aus, riskieren sie dasselbe. wurden oder aber mit älteren Chips Boris Jelzin ein gemeinsames FrühwarnDer weltweit führende Software-Produbestückt sind, gelten als gefährdet. zentrum in Colorado Springs mit direkzent Microsoft hielt sich in Deutschland mit Angst herrscht laut BND-Dossier in ter Leitung in den Kreml verabredet. Aufklärung zum Datumsden Kontrolltürmen der Flughäfen. So fehler auffallend zurück. habe die internationale zivile LuftDie Firma begründete dies fahrtorganisation ICAO angeregt, die damit, dass sie haften müsAbstände zwischen Starts und Lanse, wenn durch unzutreffendungen zu vergrößern. de Auskünfte ein Schaden Auch der Weltwirtschaft soll ein entsteht: Selbst Microsoftschwarzer Januar erspart werden. WilBenutzer, die bis dahin nicht liam McDonough, Chef der New Yorker in einem Vertragsverhältnis Notenbank, glaubt, dass der Datumsmit der Firma standen, so sprung „für Konzerne und ganze Märkdie Furcht, könnten womögte eine Frage des Überlebens ist“. Die lich klagen und SchadensBörsen in London und New York gelten ersatz verlangen. als vorbildlich vorbereitet, die Pariser In den Vereinigten StaaBörse weigere sich wie auch Singapur ten ist dieses Informationsbislang, konkrete Informationen zu lieHindernis beseitigt worden: fern. Wer in Bangkok nicht seine JahrSeit Oktober 1998 ist dort 2000-Aktivitäten offen lege, werde ausgesetzlich garantiert, dass geschlossen. Die britische Regierung aus einer Erklärung, die eine überlege, die Banken fünf Tage lang zu Firma über die Jahr-2000-Sischließen. Börse in Singapur: „Eine Frage des Überlebens“ cherheit ihrer Produkte abSelbst die Rechner der westlichen gibt, keine neuen Haftungsansprüche geStreitkräfte scheinen noch nicht krisenIn den USA ist das Jahrtausendprowonnen werden können. Microsoft-Chef fest: So hätten sich wegen eines Soft- blem Chefsache des Präsidenten. Die Bill Gates wünschte sich, als er im Februar ware-Problems im Ernstfall die nieder- Streitkräfte seien laut BND beruhigt, in Bonn zu Besuch war, einen solchen Freiländischen F-16-Kampfflugzeuge nicht seit bei einer Übung im Sommer 1998 in brief auch von Bundeskanzler Schröder – in der Luft betanken lassen, führen die New Mexico der 1. Januar 2000 simuvergeblich. Mittlerweile vertreibt Microsoft Experten des deutschen Geheimdiens- liert wurde, ein F-4-Bomber von umgein Deutschland eine CD-Rom mit Informates an. Neun von zehn Rechnern der stellten Computern gesteuert worden tionen zum Thema – ob das eigene Probritischen Marine galten als anfällig, bei und alles nach Plan gelaufen sei. Die gramm eine Aktualisierung benötigt, muss einem Test sei das Luftabwehrraketen- US-Notenbank druckt bereits Banknoder Kunde dann selbst ermitteln. system Rapier vollständig ausgefallen. ten im Werte von 50 Milliarden Dollar, Gates könnte zu denen gehören, die für Laut BND zählt China zu den am um den absehbaren Run auf Bargeld die Misere zahlen müssen. Den Softwareschlechtesten vorbereiteten Nationen. zu befriedigen, weil die Menschen ihren und Elektronikherstellern drohen HafDer wilde Mix von Hard- und raubko- Plastikkarten nicht vertrauen. tungsansprüche aus Kauf-, Werk-, ServiceVorbildlich erscheint dem BND Kapierter Software erschwere die Vorbeund Beratungsverträgen sowie aus der Proreitung erheblich. Die Rechner der 40 nada. Für Polizei und Armee seien Urdukthaftung. heimischen Fluglinien mit ihren 17 000 laubssperren teilweise bis Mitte März Vor einem dürfte der reichste Mann der Terminals seien „von gravierender erlassen worden, die Streitkräfte befänWelt allerdings sicher sein: Gerhard SchröY2K-Anfälligkeit“ – Y2K ist das ameri- den sich in Alarmbereitschaft, Regieder. Der Bundeskanzler ist einer der milkanische Kürzel für die Jahrtausend- rungsmitglieder kämen Silvester in eilenniumssichersten Bürger der Republik: wende. Die Staatsführung soll verfügt nem Lagezentrum („war room“) zuEr benutzt keinen Computer. haben, dass alle Fluglinienchefs sich in sammen. „Bis zum Totalausfall“ ACTION PRESS Ü Dietmar Hipp, Georg Mascolo, Hendrick Munsberg, Hajo Schumacher 32 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 FOTOS: G. SCHLÄGER Inzwischen hat auch die Konkurrenz gemerkt, dass auf der Oder viel Geld zu verdienen ist: Seit sieben Wochen fährt die „Jan van Cuijk“ der Oderhaff-Seetours-Reederei regelmäßig den Törn – sehr zum Missvergnügen von Inge Bocklage. Doch sie wird sich gegen Mitbewerber kaum wehren können. Die Häfen am Stettiner Haff sind öfPommersche 10 km Bucht fentlich-rechtlich. Jeder, der Lust hat, kann anUsedom und ablegen, sooft er Altwarp Stettiner will. Vorausgesetzt, es ist Platz da. Probleme gibt Haff es vor allem in der Butterdampfer im Altwarper Hafen: Lizenz zum Gelddrucken Ueckermünde Nacht. „Wir haben nicht Neuwarp genügend Liegeplätze“, nen – was kaum einer macht. D U T Y- F R E E sagt Wolfgang Körting, „Die Leute“, sagt ein Kapitän, D E U T SC H L AN D P O L E N 43, Leiter des Ordnungs„wollen ihr Schnäppchen maamts in Ueckermünde. chen und nicht nach Polen.“ Aus ganz Europa haben in den verganDie Idee mit den Butterfahrten an der Ostgrenze hatten die Adler-Reeder am genen Wochen Interessenten bei Körting Stammsitz auf Sylt bereits vor sieben Jah- angefragt. Als vorerst Letzter hat Godske ren. Schon damals, sagt Bocklage, sei klar Hansen, 66, Reeder aus dem ostholsteinigewesen, „dass irgendwann Schluss ist“ mit schen Heiligenhafen, einen Liegeplatz in Nach dem Aus der Duty-freeden billigen Einkaufstouren auf den Ge- Ueckermünde ergattert. Hansen ist mit seiReisen zwischen Deutschland wässern zwischen den Mitgliedsstaaten der nem ganzen Betrieb in die, wie er sagt, und Dänemark kommen EU, vor allem zwischen Deutschland und „letzte Oase des Duty-free-Handels“ umButterfahrten über die deutschDänemark. Als geeignete Basis für neue gesiedelt. Einmal am Tag nimmt er zumeist Routen entdeckten die Manager das halb- alte Stammkunden aus Wolfsburg, Hildespolnische Grenze in Mode. verfallene Hafenbecken von Altwarp – kei- heim oder Bielefeld an Bord. Früher fuhie Geschäftsführerin des Schifffahrts- ne 20 Meter vor der Mole verläuft die ren sie nach Heiligenhafen, jetzt ans Stettiner Haff – die um mehrere Stunden länunternehmens ist sauer aufs Fern- Grenze. Im Halbstundentakt pendeln hier in- gere Anfahrt schreckt kaum ab. sehen. Im NDR-Regionalprogramm Inzwischen haben auch die Polen die für Mecklenburg-Vorpommern stellte kürz- zwischen fünf Dampfer ins polnische Neulich ein Reporter nüchtern fest, die Adler- warp. Bis Ende des Jahres wird der Alt- Marktlücke erkannt: Sie kassieren von Reederei im vorpommerschen Altwarp habe warper Hafen für 7,2 Millionen Mark sa- den deutschen Butterdampfern Anlegedie Lizenz zum Gelddrucken. „Ich hätte niert. 90 Prozent zahlt Brüssel. In der gebühren von bis zu 250 Dollar pro Fahrt. Wie lange das Geschäft an der Ostden Fernseher einschlagen können“, erregt strukturschwachen Nordost-Ecke der Republik sind die Reedereien die größten Ar- grenze der Europäischen Union noch läuft, sich die resolute Inge Bocklage, 42. Über Geld und Gewinn redet die Kauf- beitgeber. „Der zollfreie Einkauf ist eine ist ungewiss. Spätestens wenn Polen frau nicht gern. Immerhin gibt sie zu, dass Chance für uns“, sagt Heinz Kunath (PDS), Mitglied der EU wird, ist es auch hier Bürgermeister der 800-Einwohner-Ge- mit dem zollfreien Einkauf vorbei. Doch „es nicht schlecht“ läuft. Körting ist sicher, dass der billige HanRund eine Million Fahrgäste fuhren 1997 meinde mit 35 Prozent Arbeitslosigkeit. Tag für Tag karren Busse der Reederei del dann anderswo blüht: „Zwischen Giauf den Schiffen der Adler-Reederei zwischen Altwarp am Stettiner Haff und dem die Kundschaft aus einem Umkreis von braltar und Nordafrika wird es weiterpolnischen Neuwarp am gegenüberliegen- rund 100 Kilometern an. Der riesige Park- gehen.“ Florian Gless den Ufer. In diesem Jahr dürfte sich die platz am Hafen ist von morgens bis Zahl verdoppeln: Seit die EU den zollfrei- abends ausgelastet. Viele aus der Umen Einkauf innerhalb der Gemeinschaft gebung nutzen die Dampfer zum reweitgehend gestoppt hat, boomt das Ge- gelmäßigen Einkauf. „Hier ist das bilschäft mit Schnaps und Zigaretten an den liger als in Polen“, schwärmt KorneAußengrenzen der Union im deutschen lia Meske aus dem anderthalb Autostunden entfernten Greifswald. Im Osten. Kreuz und quer tuckern die weißen But- Supermarkt kostet die Stange Zigaterdampfer über das bis zu 50 Kilometer retten an die 50 Mark, in den polnibreite Stettiner Haff, immer zu einem Ziel- schen Märkten hinter der Grenze ort jenseits der Grenze. „Wer da rüber- rund die Hälfte. An Bord muss die fährt, macht zollrechtlich das Gleiche, wie arbeitslose Bauzeichnerin dagegen wenn er nach Amerika fliegt“, erklärt gerade mal 15 Mark berappen. Am Diana Müller, 40, Chefin im Zollamt Ende hat Familie Meske zwei Stangen Zigaretten, ein Pfund Markenkaffee, Ueckermünde. Nach den gesetzlichen Bestimmungen drei Literflaschen Schnaps und drei für den Duty-free-Einkauf müssen Passa- Stangen Schokolinsen in der Tüte – giere am anderen Ufer an Land gehen kön- alles zusammen für 68,94 Mark. Duty-free-Kundin Meske: „Billiger als in Polen“ Schnäppchen auf dem Haff D d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 33 AP Häftlinge aus dem KZ Dachau in einem Rüstungsunternehmen (1943): „Das Sterben fand außerhalb der Industriebetriebe statt“ Z WA N G S A R B E I T E R „Viel Zeit bleibt nicht“ Deutsche Unternehmen, von US-Anwälten mit Klagen unter Druck gesetzt, wollen ehemalige Zwangsarbeiter entschädigen. Es wird um Milliarden gepokert, und die Vertreter der Industrie verlangen Schutz vor künftigen Prozessen. Von Peter Bölke 34 BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK Z wei- oder dreimal die Woche schreckt er nachts schweißgebadet hoch. Er weiß, dass er geschrien hat. Es war ein Alptraum. Immer wieder drängt aus dem Unterbewussten die Vergangenheit nach oben. Dann sieht er die Leichen, die dürren Gestalten in ihren gestreiften Anzügen, wie sie zusammengekrümmt am Boden liegen, verhungert oder erfroren. Sie werden auf Karren geworfen, wenig später sind sie verbrannt, ausgelöscht, ein Nichts. Jack Jacobson war Zwangsarbeiter, einer von Millionen, die das Nazi-Regime versklavt und ausgebeutet hatte. Er ist einer von ein paar hunderttausend, die jetzt darauf hoffen, dass nach mehr als fünf Jahrzehnten Unrecht als Unrecht gesehen wird und die Opfer in einer großzügigen Geste entschädigt werden. Das soll nun geschehen. Zum Ende des Jahrhunderts will die deutsche Industrie das leidige Thema erledigt haben. Lange wurde geschwiegen, vor Gericht abgewiegelt, auch vertuscht. Nun wird es ein Milliardending. Doch was ein selbstverständliches Anliegen sein sollte, ein Stück Menschlichkeit, wurde in monatelangem Gezerre zu einem kalten Poker um Geld. Amerikanische Anwälte, die ihre Geschäftstüchtigkeit gut hinter der Fassade von Schuld und Rüstungsminister Speer, Chef Hitler Klare Entscheidung für Zwangsarbeit Sühne zu verstecken wissen, setzen deutsche Unternehmen mit überzogenen Forderungen unter Druck. Jüdische Organisationen streiten vor allem für die Opfer des Holocaust. Opferverbände und Regierungen im Osten Europas fordern Gerechtigkeit und meinen Mark. Die größten und bekanntesten deutschen Unternehmen sind von den Klagen amerikanischer Anwälte bedroht und müssen mit feindseligen Kampagnen in den USA rechnen. Es geht gegen Chemiekonzerne wie Bayer und Hoechst, gegen die Großbanken und die Allianz, DaimlerChrysler, VW, Veba und Siemens. Im Nad e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 men von ehemaligen Zwangsarbeitern wollen die US-Kanzleien über so genannte Sammelklagen (class actions) Milliarden erstreiten. Und die deutsche Industrie wird zahlen. Sie hat keine andere Wahl. Wie viel gezahlt werden soll und an wen – darüber sind die Unternehmen mit ihren Gesprächspartnern längst noch nicht einig. Seit Monaten verhandeln deutsche Firmenvertreter, mal in Bonn, mal in Washington, mit den Interessenvertretern der Nazi-Opfer. Es geht letztlich nur um Geld, aber über Geld, so behaupten alle Beteiligten, wurde bislang überhaupt noch nicht gesprochen. „Erst müssen wir uns über die sachlichen Fragen verständigen, und die sind schwierig genug“, sagt Otto Graf Lambsdorff. Der frühere Wirtschaftsminister war als neuer Koordinator der Bundesregierung Ende Juli zum ersten Mal in Washington dabei. Eine Verständigung ist in der Tat so schwierig, dass die Unterhändler keineswegs wie angestrebt zum 1. September, dem Jahrestag des Kriegsbeginns, eine Lösung gefunden haben. Nun soll es, so hofft Lambsdorff, bis Jahresende so weit sein. „Es gibt keine Erfolgsgarantie, aber Erfolgsaussichten“, sagt Lambsdorff. „Daran arbeiten wir.“ Deutschland Das bedrückende Thema Zwangsarbeit verleitet auch so manchen dazu, den Boden nüchterner Argumentation zu verlassen. Die klagenden Anwälte sehen sich moralisch im Recht und appellieren an Emotionen, sie nutzen die Schrecken des Dritten Reiches und das Leid seiner Opfer für ihre Zwecke. „Als Beklagter hat man da schlechte Karten“, sagt Manfred Gentz, Finanzvorstand des DaimlerChrysler-Konzerns. Gentz ist Sprecher einer Gruppe von Unternehmen, die ein „Zeichen der Versöhnung“ setzen möchten. Über eine Stiftung wollen sie Geld aufbringen, mit dem ehemalige Zwangsarbeiter – die wenigen, die noch leben – schnell und unbürokratisch Geld erhalten sollen. Die überlebenden Opfer sind im Durchschnitt 75 Jahre alt. „Wir sollten diese Leute nicht ohne einen Akt der Anerkennung, der Versöhnung und der Hilfe sterben lassen“, sagt Lutz Niethammer, Historiker an der Universität Jena und Berater der Bundesregierung. Unterhändler Lambsdorff, Eizenstat: „Es gibt keine Erfolgsgarantie, aber Erfolgsaussichten“ Die deutschen Unternehmen, so Gentz, wollten ihrer historischen und moralischen zehnten des Schweigens bewirkt, dass in gebens. Das Europa-Parlament forderte die Verantwortung nicht ausweichen. Die Wirt- deutschen Unternehmen mit einem Mal Industrie 1986 auf, Entschädigungen zu schaft sei unter nationalsozialistischer wieder über das böse Kapitel Zwangsarbeit zahlen. Nur wenige waren dazu bereit. Nun sollen über eine Industrie-Stiftung Herrschaft in ein Unrechtssystem „verwo- gesprochen wird. Die Fachleute in den ben“ gewesen, unter dem die Zwangsar- Rechtsabteilungen der Unternehmen er- Milliarden aufgebracht und verteilt werklären ihrem Vorstand gern, dass für kla- den. Mit einem Mal sprechen alle von Gebeiter gelitten hätten. Bisweilen muss der Mensch der histori- gende Zwangsarbeiter vor den Gerichten rechtigkeit, die nun endlich den Opfern wischen Verantwortung mit Barem gegen- nichts zu holen sei. Doch die Männer an derfahren soll, und wissen doch, dass es übertreten. Das ist jedenfalls vernünftiger, der Spitze wollen nicht vor Gericht Recht sie nicht geben kann. Zu schwer begreiflich ist heute das Unrecht, zu lange ist es her, als beispielsweise im Herzen der Haupt- behalten. „Die haben begriffen, zu viele Interessengruppen zerren in alle stadt mit gewaltigem Aufwand ein monströses Holo- ZWANGSARBEITER 8 bis 10 dass ein gewonnener Pro- Richtungen. Doch nicht nur die Suche nach Gerechcaust-Mahnmal zu errich- im Deutschen Reich Millionen zess ein verlorener sein kann“, meinte der frühere tigkeit macht den Weg zur Aussöhnung mit ten, das den Toten nicht von 1939 bis 1945 Kanzleramtsminister Bodo der eigenen Vergangenheit so schwierig: gerecht wird und den Le- heute noch benden nicht hilft. LEBENDE ehemalige 1 bis 1,2 Hombach, der vor Lambs- Die Stiftungsinitiatoren verlangen nach Die Sammelklagen der ZWANGSARBEITER Millionen dorff in den Gesprächen „dauerhaftem Rechtsfrieden“. Wenn sie zwischen Industrie, An- schon zahlen, um Klagen abzuwehren, Opfer haben nach Jahr- davon: wälten und Opferverbän- dann möchten sie – einleuchtend genug – ehemals in der 600 000 den die Bundesregierung nicht später wieder wegen ähnlicher AnINDUSTRIE „Verwertung Beschäftigte vertrat. sprüche verklagt werden. der Leiche“ Wie viele von den eheDie Fragen jedoch, die schon am Anfang alle Zahlen geschätzt maligen Zwangsarbeitern aller Verhandlungen standen, werden bleiKalkulation der SS für den noch Ansprüche anmelden ben. Wie konnte es geschehen, dass mitten Einsatz von KZ-Häftlingen EINNAHMEN AUSGABEN könnten, kann niemand in Europa, im 20. Jahrhundert, ein System in Reichsmark präzise sagen. Professor Niet- der Sklaverei errichtet wurde, in dem MenTäglicher Verleihlohn hammer hat für die Bundesre- schen gequält, erniedrigt und getötet wurdurchschnittlich 6,00 gierung die Zahlen geschätzt. den? Wer hat mitgewirkt und warum? Und abzüglich Ernährung 0,60 Er rechnet mit etwa 600 000, warum hat es fast 55 Jahre gedauert, bis abzüglich Bekleidungsvon denen etwa 150 000 wie manche Unternehmen und Politiker ihre amortisation 0,10 Sklaven im KZ unter den Verantwortung zu erfassen scheinen und schlimmsten Bedingungen ar- sich, mit einer materiellen Geste, dazu bedurchschnittliche Lebensdauer 9 Monate = 270 x 5,30 RM 1431,00 beiten mussten, Juden vor al- kennen wollen? lem, Zigeuner und politisch Jack Jacobson hat seine Alpträume nie in Erlös aus rationeller Verwertung Verfolgte. Die übrigen 450 000 Geld umgerechnet, und er weiß, dass er der Leiche: Zahngold, Kleidung, waren Deportierte aus Ost- sie nie wieder loswird. Aber ein bisschen Wertsachen, Geld europa. Geld „für damals“ wäre ihm schon recht. 2,00 abzüglich Verbrennungskosten Die Jewish Claims Confe- „Viel Zeit bleibt mir ja nicht.“ Er ist 75. NETTOGEWINN durchschnittlich 200,00 rence, die sich für die Opfer Damals war Jack Jacobson noch Jakob des Holocaust einsetzt, verJakubowicz, ein gebürtiger Pole, Jude. Er GESAMTGEWINN nach 9 Monaten 1631,00 sucht seit den fünfziger Jahren, war 17, als ihn die SS verhaftete und in ein zuzüglich Erlös aus Knochenvon deutschen Unternehmen Arbeitslager brachte. Für die Firma Pound Ascheverwertung Geld für ehemalige Zwangsar- lensky & Zöllner schuftete er zunächst Quelle: B. Klewitz, „Die Arbeitssklaven der Dynamit Nobel“ beiter zu erhalten, zumeist ver- beim Bau der Reichsautobahn, von 1942 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 35 Deutschland 36 d e r s p i e g e l REUTERS ACTION PRESS REUTERS 20 000 Menschen aus der Sowbis Kriegsende verrichtete er jetunion nach Deutschland verZwangsarbeit für eine Textilfaschleppt. brik. Er lebte in einem bewachDoch die ausgehungerten ten, mit Stacheldraht umzäunund erschöpften „Ostarbeiter“ ten Lager. Im Februar 1944, so brachten nur einen Bruchteil der erinnert er sich, wurde aus dem Leistung, die von deutschen ArLager ein KZ: Häftlingskleidung, beitern erwartet wurde. Die Ungeschorene Köpfe, Essen in Hunternehmen drängten, und das gerrationen, Schikanen des Regime gab trotz ideologischer Wachpersonals. „Viele sind einBedenken nach: Es gab das Pofach umgefallen“, sagt Jacobson. tenzial an Arbeitskräften frei, Das Hitler-Regime hat die über das die SS verfügen konnSklaverei, die in Deutschland te – die Häftlinge in den KZ. seit 1871 unter Strafe gestellt ist, Die SS zögerte zunächst, weil neu erfunden – brutaler als je ihre Führung weniger an Prozuvor. Willkürlich wurden Milduktivität als an Terror und Verlionen von Menschen verhaftet, nichtung dachte. Anfang 1942 eingefangen, verschleppt, in Laaber schickte sie mehr und ger gesteckt und zur Arbeit unmehr Häftlinge in die Betriebe. ter teilweise mörderischen BeRüstungsminister Albert Speer dingungen gezwungen. Millio- US-Anwalt Fagan: Über Geld will bislang niemand reden überredete schließlich seinen nen haben es nicht überlebt. Arbeit unter Druck und gegen den Wil- zwungen. Nur die SS setzte in ihren eige- Führer zu einer klaren Entscheidung. Adolf len des Betroffenen war es immer, aber nen Wirtschaftsbetrieben KZ-Häftlinge ziel- Hitler wies die SS an, der Industrie KZnicht alle Zwangsarbeiter litten unter der strebig ein. Rassische Bedenken sprachen Häftlinge zur Verfügung zu stellen. Es war ein Programm, das einerseits vom täglichen Todesdrohung. Vor allem in der nicht dagegen, die Menschen in SteinLandwirtschaft lebte mancher unter nahe- brüchen und Ziegeleien zu quälen. Ansons- Mangel an Arbeitskräften diktiert wurde, sich andererseits aber auf zynische Weise zu normalen Bedingungen. In Einzelfällen ten sollte das Reich „judenfrei“ werden. Schon vor 1939 fehlten jedoch wegen mit den mörderischen Plänen des Regimes konnten auch in die Industrie verschleppte Ausländer in erträglicher Umgebung der forcierten Rüstungsproduktion über- verbinden ließ: mit der Ermordung von Menschen, die aus der Sicht der Nazis als arbeiten. nicht lebenswert galten. Der 21jährige Gabriel Decors wurde im Die Nazis selbst prägten den Begriff März 1943 von der Polizei in Lyon zum „Vernichtung durch Arbeit“. Der HistoriService de Travail Obligatoire abgeholt und ker Manfred Grieger, der mit Hans Mommin einem größeren Transport zusammen sen die Geschichte des Volkswagenwerks mit anderen Landsleuten nach Dijon geaufgearbeitet hat, zitiert als Beleg die Akbracht. Dort übernahm die SS das Komtennotiz über ein Gespräch zwischen Promando und deportierte die Franzosen nach pagandaminister Joseph Goebbels und Dachau. Justizminister Otto Georg Thierack vom Decors hatte Glück, ein französischer 14. September 1942: Ingenieur bei BMW nahm ihn als techni„Hinsichtlich der Vernichtung asozialen schen Zeichner in seine Gruppe auf, die Lebens steht Dr. Goebbels auf dem StandFlugzeugmotoren entwarf. Die SS behel- Gesprächspartner Gentz, Hombach ligte die Franzosen wenig, drohte nur hin „Als Beklagter hat man schlechte Karten“ punkt, dass Juden und Zigeuner schlechthin, Polen, die etwa 3 bis 4 Jahre Zuchthaus und wieder, sie würde jeden, der sich etwas zu Schulden kommen lasse, ins nahe gele- all Arbeitskräfte. Im Verlauf des Krieges, zu verbüßen hätten, Tschechen und Deutinsbesondere nach den ersten Niederla- sche, die zum Tode oder lebenslänglichem gene KZ schicken. Die deportierten Franzosen lebten in gen in der Sowjetunion, wurde der Man- Zuchthaus oder Sicherungsverwahrung einem bewachten Barackenlager nahe gel immer gefährlicher. Die deutschen verurteilt wären, vernichtet werden sollDachau. Zu essen gab es kaum mehr als Männer waren an der Front, und beson- ten. Der Gedanke der Vernichtung durch dünne Suppen. Die zerschlissene Kleidung ders die Rüstungsindustrie sollte auf Hoch- Arbeit sei der beste.“ Heinrich Himmler, Reichsführer SS, bewurde immer wieder geflickt, unter den touren laufen. Das Regime entschloss sich, einen seiner kräftigte dann wenige Tage später diesen Schuhen waren bald keine Sohlen mehr. Zehn Stunden Arbeit täglich war die Grundsätze zu Gunsten ökonomischer Not- Gedanken, der Goebbels so hervorragend Norm. Decors wusste, dass er noch glimpf- wendigkeit aufzugeben: Auch sowjetische erschienen war: Er verlangte die „Auslielich davonkam. Er sah die Menschen in den Kriegsgefangene sollten in Deutschland ar- ferung asozialer Elemente aus dem StrafZügen, die ins Todeslager Dachau gebracht beiten. Der Beschluss konnte allerdings vollzug an den Reichsführer SS zur Verwurden, und er erlebte Tag für Tag, wie kaum die Probleme der Industrie lösen, nichtung durch Arbeit“. Die Zahl der KZ-Häftlinge, die zur Arandere Lagerbewohner, Ukrainer vor al- denn die Mehrheit der Gefangenen, schreibt der Freiburger Historiker Ulrich beit in deutschen Unternehmen gezwunlem, geprügelt und gedemütigt wurden. Mit den Deportierten aus osteuropäi- Herbert lakonisch, „stand für einen Ar- gen wurden, ist nicht einmal zu schätzen. schen Staaten sprang die SS von Anfang an beitseinsatz gar nicht mehr zur Verfügung“. Die Toten wurden nicht gezählt. Der Hisbrutaler um als mit Franzosen, Niederlän- Von gut drei Millionen Kriegsgefangenen toriker Herbert setzte die durchschnittliche dern, Italienern. Viele kamen wegen der Ende 1941 ist mehr als die Hälfte verhun- Arbeitsfähigkeit und damit die Lebenserwartung der Sklavenarbeiter auf allenfalls wahnwitzigen rassischen Vorstellungen des gert, erfroren oder ermordet worden. So folgte der nächste Schritt in der Ent- zwei Jahre an. Regimes gleich in Vernichtungslager. Die meisten Zwangsarbeiter aus den KZ Vor Beginn des Krieges wurden vor al- wicklung der Sklaverei: Zivilisten wurden lem deutsche Juden in die KZ geschickt, aus der Sowjetunion als „Ostarbeiter“ ins starben an Unterernährung, Krankheiten, selten indes zu produktiven Arbeiten ge- Reich deportiert.Woche für Woche wurden wurden zu Tode geprügelt oder erschossen, 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. SPECHT / ARGUS Deutschland Zwangsarbeiter-Demonstration (in Berlin): Fast alle Klagen wurden abgewiesen V. KOHLBECHER / LAIF Schon früh forderte auch das Volkswagenwerk unter der Leitung von Ferdinand Porsche Häftlinge für Bauarbeiten an. Später wurden tausende von Arbeitskräften aus den SS-Lagern auch in der Produktion einZwangsarbeiter-Aktion*: Die Fragen bleiben gesetzt. Als die Zeiten der deutschen Blitzsiege wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Viele mussten auf dem Boden unter vorbei waren, begann das Regime, wichtifreiem Himmel schlafen, andere stunden- ge Produktionen unter Tage zu verlagern. lang im Wasser arbeiten, ohne sich hinter- Die VW-Führung wollte die Herstellung einer Flugbombe in einem lothringischen her umziehen oder wärmen zu können. In Deutschland gab es 1942 mehr als 80 Bergwerksstollen unterbringen. Dafür forAußenlager mit KZ-Häftlingen, und es wur- derte Ferdinand Porsche persönlich beim den ständig mehr. Anfang 1945 waren es Reichsführer der SS Häftlinge an. Der bereits mehr als 660, bei Kriegsende 1000. Arbeitskräftemangel und die „moralische Zu den Firmen, die als erste KZ-Häft- Abstumpfung“ der Betriebsleitung, so der linge beschäftigten, gehörte die IG Farben. Historiker Grieger, habe eine UnternehDer Chemiekonzern, der den Bau eines Buna-Werkes plante, entschied sich 1941 Die „Verweildauer“ der für den Standort Auschwitz in OberschleHäftlinge auf der Baustelle sien – nicht zuletzt wegen des KonzentraAuschwitz war kurz tionslagers, das die SS dort ausbaute. Im Dezember 1944 arbeiteten fast 4000 Häftlinge am Buna-Werk Auschwitz, wie menspolitik hervorgebracht, „die zu einer der Historiker Manfred Pohl ermittelte. fortschreitenden Entmenschlichung der ArDie „Verweildauer“, so Pohl, sei kurz ge- beitskräfte führte“. Das Argument, die von den Unternehwesen, „denn die Sterblichkeitsrate war enorm“. Von 35 000 Zwangsarbeitern auf men angeforderten Häftlinge hätten so weder Buna-Baustelle seien von 1943 bis 1945 nigstens eine bessere Überlebenschance gehabt, klingt unter diesen Umständen etwa 23 000 gestorben. Pohl, Leiter des Historischen Instituts der nicht sehr überzeugend. Kranke oder völDeutschen Bank, hat die Geschichte des lig erschöpfte Häftlinge wurden ja nicht Bauunternehmens Philipp Holzmann auf- geschont oder etwa in ein Krankenhaus gearbeitet. „Die Beteiligung Holzmanns am verlegt, sondern aus der Produktion abgeBau des Buna-Werkes in Auschwitz“, so zogen und ins Konzentrationslager zurückPohl in einem neuen Buch, „wird weder in geschickt. „Das eigentliche Sterben“, so Vorstandsprotokollen noch in den Nach- Grieger, „fand außerhalb der Industrieberichtenblättern von Holzmann erwähnt.“** triebe statt.“ Eine zynische Kalkulation der SS über * In Hamburg. die Rentabilität der ausgeliehenen Häft** Manfred Pohl: „Philipp Holzmann. Geschichte eines linge zeigt deutlich, wie gering die ÜberBauunternehmens. 1849 – 1999“. Verlag C. H. Beck; lebenschance am industriellen Arbeitsplatz 480 Seiten; 58 Mark. 40 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 war. Die Rechnung, die auf einen Gewinn von 1631 Mark pro Häftling kommt, „zuzüglich Erlös aus Knochen- und Ascheverwertung“, setzt die durchschnittliche Lebensdauer der arbeitenden Häftlinge mit neun Monaten an (siehe Grafik Seite 35). Wie viele Menschen letztlich zur Arbeit für ein Regime gezwungen wurden, das menschliches Leben willkürlich und selbstherrlich in wert und unwert einteilte, ist nicht präzise zu sagen. Immer wieder taucht die Zahl von insgesamt zehn Millionen auf; vielleicht waren es mehr. Nicht nur auf dem Lande und in der Industrie fehlten während des Krieges Arbeitskräfte. Auch der Staat war auf die Hilfe der SS-Sklaven angewiesen. Jeder größere Bauernhof, fast jeder Betrieb, jede Kommune beschäftigte Zwangsarbeiter. Die SS kassierte in der Regel für jeden ausgeliehenen KZ-Häftling pro Tag vier bis sechs Reichsmark. Die Zwangsarbeiter bekamen wenig oder nichts. Die Bundesrepublik hat bereits, unter anderem über das Bundesentschädigungsgesetz, mehr als 100 Milliarden Mark als Wiedergutmachung und Entschädigung für die Verbrechen des Nazi-Regimes gezahlt. Der größere Teil der Gelder floss an jüdische Opfer und an Israel. Die Zwangsarbeiter jedoch waren – wie auch die Kriegsgefangenen – in der Regel nicht gemeint, wenn von Opfern und Entschädigungen die Rede war. Manche haben geklagt, fast alle Klagen wurden abgewiesen. Entweder hieß es, die Ansprüche seien verjährt, die Kläger kämen also zu spät. Oder die Gerichte verwiesen darauf, dass kriegsbedingte Schäden erst nach Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland reguliert werden könnten, die Kläger kämen also zu früh. Einen Friedensvertrag gibt es immer noch nicht. Aber der Zwei-plus-Vier-Ver- Werbeseite Werbeseite ACTION PRESS trag, der die deutsche Einheit ermöglichte, eröffnete ehemaligen Zwangsarbeitern die Möglichkeit, ihre Ansprüche doch noch gerichtlich durchzusetzen. Zwei Prozesse haben bereits mehrere Instanzen durchlaufen; nun muss der Bundesgerichtshof über die Revision entscheiden. Nur die Entlohnung für geleistete Arbeit, meint Karl Brozik, Repräsentant der Jewish Claims Conference, sollten die Opfer und ihre Vertreter nicht fordern, weil es materiell nichts bringt. Verlangt werden müsse vielmehr eine Entschädigung für das Leid, das den Menschen angetan wurde. Viele Manager in deutschen Unternehmen scheinen inzwischen der gleichen Meinung. Bis vor wenigen Jahren indes sah es so aus, als hätten Deutschlands Industrieunternehmen, Banken, Versicherungen vor 1945 auf eine eigene Geschichte verzichtet. Erst in jüngster Zeit stellen sich viele Firmen ihrer Vergangenheit während des Hitler-Regimes. Einige wenige Unternehmen wollten zudem nicht auf einen Friedensvertrag oder eine generelle Lösung warten und boten deshalb ehemaligen Zwangsarbeitern Geld an. Krupp gehört mit 10 Millionen Mark dazu und Siemens mit 20 Millionen; Volkswagen hat im vergangenen Jahr einen Fonds über 20 Millionen Mark aufgelegt, aus dem bislang ohne bürokratischen Aufwand an mehr als 700 ehemalige Zwangs- Opfer-Vertreter Witti*: Rechnung mit vielen Milliarden arbeiter je 10 000 Mark gezahlt wurden. Auch die Firma Diehl, die früher in Schlesien deportierte Frauen beschäftigte, hat den meisten der noch lebenden eine Entschädigung gezahlt. Nicht alle Manager, deren Unternehmen etwas für die Opfer taten, handelten aus höherer Einsicht. Die IG Farben in Liquidation legte gegen ein Urteil, das 1953 einem früheren KZ-Häftling Entschädigung zusprach, Revision ein. Erst als unter Druck der Claims Conference langwierige Verhandlungen begannen, gab die Liqui* Vor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. dationsgesellschaft nach und stellte schließlich 30 Millionen Mark für ehemalige Zwangsarbeiter zur Verfügung. Der alte Friedrich Flick, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu sieben Jahren Haft verurteilt, zeigte sich besonders uneinsichtig. In einer Munitionsfabrik der Dynamit Nobel, die nach dem Krieg lange zum Flick-Imperium gehörte, wurden während des Krieges tausende von Häftlingen aus den KZ Buchenwald und Groß-Rosen zur Arbeit gezwungen. In den sechziger Jahren handelte Flicks Vertreter im wieder aufgebauten Konzern, Fabian von Schlabrendorff, mit der Claims Conference eine Entschädigung von fünf Millionen Mark aus. Flick lehnte die Unterschrift ab. Erst 1986 überwies das Unternehmen, das nunmehr Feldmühle Nobel AG hieß, fünf Millionen Mark an die Claims Conference. Friedrich Karl Flick, Sohn des starrköpfigen Alten, hatte seine Anteile an Dynamit Nobel an die Deutsche Bank verkauft, und die sorgte sich um ihren Ruf. Dass Unternehmen eine Verantwortung mit Blick auf die Geschichte haben, auch wenn die heutigen Manager dafür nicht verantwortlich waren – diese Einsicht ist erst in jüngster Zeit gewachsen. Vor gut zehn Jahren, im Sommer 1988, warb Jan Philipp Reemtsma, Leiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, für seine Idee, das ehemalige Vernichtungslager Neuengamme als Gedenkstätte zu erhalten und auszubauen. Er schrieb mehrere Dutzend Firmen sowie einige norddeutsche Behörden an und bat um Unterstützung dieses Projekts. Allein die Drägerwerke sagten uneingeschränkt Unterstützung zu; Volkswagen äußerte sich zumindest zustimmend. Die Baufirmen Hochtief, Philipp Holzmann, Wayss & Freytag sowie Rheinmetall antworteten überhaupt nicht. Andere wiederum, so etwa MAN, wiesen darauf hin, dass DPA Deutschland Kanzler Schröder (r.), Cromme, Breuer Um das Image der Unternehmen besorgt sie doch gar nicht gemeint sein könnten, weil sich die Gesellschaftsverhältnisse inzwischen geändert haben. Continental hatte angeblich gar keine Häftlinge aus Neuengamme beschäftigt. Beim Batterie-Produzenten Varta gerieten Reemtsmas Briefe zunächst „in die falsche Ablage“. Dann erlaubte sich das Unternehmen, seiner Antwort einen Scheck über 5000 Mark beizulegen. Als Reemtsma den lächerlichen Betrag für einen bedauerlichen Irrtum hielt, bat Varta um eine Spendenbescheinigung. Reemtsma schickte den Scheck zurück. „Was Schuld hieß“, so Reemtsma damals verbittert, „hat man wertberichtigt, und keiner rechnet mehr damit, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ Zwangsarbeiter, die während des Krieges aus Mittel- und Osteuropa deportiert worden waren, erhielten keine Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellte die Bundesregierung eigens hierfür in Osteuropa gegründeten Stiftungen 1,5 Milliarden Mark zur Verfügung, die auch Zwangsarbeitern zu Gute kamen. Der größte Teil (500 Millionen) wurde an Polen überwiesen. Die russische und die ukrainische Stiftung erhielten je 400 Millionen, Weißrussland 200 Millionen Mark. Wie viel davon bei den Opfern angekommen ist, kann niemand sagen. Vor allem aber wurde der Meinungswandel, das neu erwachte Gefühl für die „historische und moralische Verantwortung“ offenbar durch die spektakulären Aktionen amerikanischer Anwälte verstärkt. Beflügelt durch den schönen Erfolg gegen Schweizer Banken, die vergebens ihre Schuld in Sachen Raubgold bestritten hatten, ging nach und nach eine ansehnliche Schar von Juristen aus US-Kanzleien mit Sammelklagen massiv gegen deutsche Unternehmen vor. Solche Klagen sind für die Firmen gefährlich. Als Entschädigung werden phantastische Summen verlangt. Ergeht ein Urteil zu Gunsten der Kläger, können die auf das Eigentum des beklagten deutschen Unternehmens in den USA zurückgreifen – Deutschland K. B. KARWASZ was etwa für DaimlerChrysler oder Siemens überaus unangenehm wäre. Die amerikanischen Anwälte verstehen sich überdies auf das Geschäft mit der Publicity. Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten in den USA Boykottdrohungen gegen deutsche Produkte laut. Große Firmen fürchteten um ihr Image. Ein Scheitern der Verhandlungen könnte zudem ärgerliche Folgen auf dem Kapitalmarkt haben. Unternehmen wie DaimlerChrysler oder Veba werden an amerikanischen Börsen gehandelt, und Aktienkurse reagieren sensibel auf schlechte Angeklagter Flick*: Entschädigung abgelehnt Nachrichten oder böse Propaganda. Edward Fagan ist einer der lautesten un- Ende vergangenen Jahres trafen sich deutter den amerikanischen Anwälten. Der De- sche Spitzenmanager, darunter Jürgen gussa beispielsweise hat er gedroht, dass sie Schrempp (Daimler), Gerhard Cromme ihr ganzes Vermögen verlieren könnte, (Thyssen-Krupp) und Rolf Breuer (Deutwenn er mit seinen Klagen durchkäme. sche Bank), mit Bundeskanzler Gerhard Deutsche und Dresdner Bank verklagt er Schröder und teilten ihm ihre Sorgen weauf 18 Milliarden Dollar. gen der Sammelklagen in den USA und Der Verdacht, dass Fagan auch an sein lauter werdender Boykottdrohungen mit. Honorar denkt, wenn er von gequälten Der Kanzler beauftragte seinen VerMenschen spricht, ist nahe liegend. US- trauten Bodo Hombach mit der Aufgabe, in Anwälte kassieren Erfolgshonorare, im Fal- Gesprächen mit der Industrie, den Amerile eines Vergleichs können das bis zu zehn kanern und Israel nach einer Lösung zu Prozent der Vergleichssumme sein. suchen, die den Zwangsarbeitern gerecht Fagan behauptet, etwa 70 000 ehema- wird, ihre Anwälte befriedigt und die deutlige Nazi-Opfer zu vertreten, die sich sei- schen Unternehmen von der Bürde der nen Sammelklagen angeschlossen hätten. Vergangenheit befreit. Das vorläufige ErWenn die Fälle vor Gericht verhandelt gebnis ist die Stiftungsinitiative „Erinnewürden, so sagt er selbst, würden die be- rung, Verantwortung und Zukunft“. klagten Unternehmen zu Zahlungen verDie Stifter haben sich keineswegs freuurteilt, für die es auf der ganzen Welt nicht dig erregt zusammengefunden. Sie sind in genug Geld gebe. vielen Punkten uneins, weil ihre Interessen Die massive Kampagne der Anwälte ge- verschieden sind. Die Industrie will das gen die deutsche Wirtschaft, die ein ernstes Thema Zwangsarbeit aus der Welt schaffen, Anliegen – die Entschädigung der Nazi- die Banken müssen sich dem Thema AriOpfer – oft in ein absurdes Spektakel sierung jüdischen Vermögens stellen, Ververwandelt, hat Wirkung gezeigt. Schon sicherer sollen erklären, wie sie mit den Gedenkstätte Neuengamme: „Was Schuld hieß, hat man wertberichtigt“ 44 d e r s p i e g e l Policen von KZ-Opfern umgegangen sind. Einig sind sich die Stiftungsinitiatoren, dass Klagen auf Entschädigung der Zwangsarbeiter keinen Erfolg hätten. Deshalb wollen sie aus humanitären Gründen – freiwillig, wie ihre Sprecher immer wieder betonen – Geld für die Menschen aufbringen, die während des Nazi-Regimes in ihren Betrieben zur Arbeit gezwungen wurden. Wie viele Milliarden müssen da bei deutschen Unternehmen eingesammelt werden? Auch wenn Lambsdorff und die Vertreter der Industrie bisher nicht in Zahlen zu denken wagen – schon bald werden sie die Zahl der möglichen anspruchsberechtigten Opfer mit dem durchschnittlichen Entschädigungsbetrag multiplizieren müssen. Oder sie nennen eine Summe, das Volumen des vorgesehenen Fonds, und erklären: Mehr geht nicht. Soll jedes der angenommenen 600 000 Opfer 10 000 Mark erhalten, ergibt sich bereits ein Volumen, das jeden Vertreter der deutschen Wirtschaft zusammenzucken lässt. Doch ihre Gegenspieler rechnen noch ganz anders. Zwischen 15000 und 35000 Mark, so kalkuliert der Münchner Rechtsanwalt Michael Witti, der eng mit Fagan zusammenarbeitet, sollten die ehemaligen Zwangsarbeiter erhalten. Nimmt er nur den Durchschnittswert von 25 000 Mark, so ist er in etwa bei der Größenordnung, die den US-Anwälten angemessen scheint. Der Vorschlag der deutschen Stiftungsinitiatoren enthält zudem Bedingungen, die zu einer großzügigen Haltung schlecht passen. So sollen „Antragsteller“ nur dann Geld aus dem Fonds erhalten, wenn sie „auf Grund ihrer heutigen Lebenssituation bedürftig sind“. Damit soll, so meinen die Initiatoren, der „humanitäre Charakter“ der Stiftung unterstrichen werden. Überzeugend klingt das nicht. Die Opfer verlangen vor allem, daß in einer eindeutigen Geste anerkannt wird, was ihnen angetan wurde. „Unrecht bleibt Unrecht“, sagt der ehemalige Häftling Nummer 16026 des KZ Bergen-Belsen. Er will nicht, dass sein Name genannt wird: „Sonst heißt es wieder, der Jude will nur Geld.“ Es ging ihm jedoch, so sagt er, nicht um Geld, als er sich einer Entschädigungsklage anschloss. In der Nähe von Breslau hatte er mehr als 20 Monate in einer Munitions- und Gasfabrik geschuftet. „Was dieser Jude ausgehalten hat“, sagt er, „glaubt mir kein Mensch.“ Für die Zeit im KZ hat ihm der deutsche Staat etwas gezahlt. Für 20 Monate Zwangsarbeit hat er nie Lohn erhalten. Er war Sklavenarbeiter, aber bedürftig ist er nicht: Er hat nach dem Krieg ein einträgli* Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, 1947. 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AP Deutschland Israelische Jugendliche im KZ Auschwitz-Birkenau: Fondsgelder für die Zukunft ches Unternehmen in Deutschland aufgebaut. Wer die Opfer in bedürftige und nicht bedürftige einteilen soll, ist noch nicht klar. Die humanitäre Aktion wird noch komplizierter, weil die Stiftungsinitiatoren zudem feine Unterschiede bei denen machen wollen, die dann schließlich etwas bekommen sollen. Ehemalige Kriegsgefangene werden ohnehin ausgeschlossen. Zahlungen an Zwangsarbeiter, so heißt es in den Vorschlägen der deutschen Unternehmen, sollen sich am Rentenniveau des Landes orientieren, in dem der Antragsteller heute lebt. Die unterschiedliche Kaufkraft wird berücksichtigt.Wer eine Rente in New York bezieht, soll mehr bekommen als ein ehemaliger Zwangsarbeiter, der etwa in der Ukraine mühsam sein Leben fristet. Diese „differenzierte“ Betrachtung, sagt DaimlerChrysler-Vorstand Gentz, sei gerechter als die Zahlung eines einheitlichen Betrages an alle Opfer. „Lasst uns den Menschen helfen, die heute in Not sind.“ Vergangenes Unrecht sei ohnehin nicht wieder gutzumachen. Um einen Lohnaus46 gleich ginge es auch nicht; in vielen Fällen haben die Unternehmen damals ja in der Tat für die Zwangsarbeiter gezahlt – wenn auch zumeist an die falschen, vor allem die SS oder die Organisation Todt, einen der Arbeitgeber des Nazi-Regimes. Die Stiftungsinitiatoren wollen deshalb nicht nur den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern helfen. Ein Teil des vorgesehenen Geldes soll verwaltet und für künftige Projekte verwendet werden – für Jugendaustausch, internationale Begegnungen, historische Forschung, die Pflege von Gedenkstätten. In Verhandlungen mit den Sprechern der Opfer, mit ihren Anwälten, der Jewish Claims Conference und dem ehemaligen US-Staatssekretär Stuart Eizenstat, heute stellvertretender Finanzminister, werden die deutschen Unternehmen noch einige ihrer Bedingungen zurücknehmen müssen, wenn sie das Thema Zwangsarbeit nicht den Gerichten überlassen wollen. Und das können sie nicht wollen – langwierige Prozesse, begleitet von Boykotten gegen deutsche Produkte, könnten Ruf und Umsatz d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 gefährden. Eine humanitäre Geste, einmal versprochen, lässt sich nicht zurücknehmen wie die Ankündigung einer höheren Dividende. Wenn wirklich etwas für die Menschen getan werden soll, die als Zwangsarbeiter gelitten haben, meint Karl Brozik von der Claims Conference, dann sei es gleichgültig, wo der Einzelne wohne, und die Frage der Bedürftigkeit belanglos. Nur die barbarischen Bedingungen, unter denen die KZ-Häftlinge gequält wurden, müssten im Vergleich mit anderen Zwangsarbeitern berücksichtigt werden. Überdies, sagt Brozik, sei die Bezugsgröße Rentenniveau nicht brauchbar. Die Rentensysteme in den verschiedenen Ländern seien einfach nicht vergleichbar. Am 24. August wollen sich die Gesprächspartner wieder treffen, diesmal in Bonn. Es wird wieder um die entscheidende Frage gehen, die auch beim letzten Treffen in Washington nicht restlos geklärt werden konnte: Wie kann den deutschen Managern die Sorge genommen werden, dass sie nach einer Einigung, die teuer genug wird, nicht doch noch wegen der alten Geschichten verklagt werden? „Ohne Rechtssicherheit wird nicht gezahlt werden.“ Der Satz stammt von Gentz, und er wird wahrscheinlich wünschen, ihn nie gesagt zu haben. Die Stiftungsinitiatoren können nicht mehr zurück, die Sammelklagen bleiben, und da steht das Renommee der Unternehmen, wenn nicht gar das Ansehen der Republik auf dem Spiel. Gesucht wird ein Kompromiss, und die Experten meinen, ihn gefunden zu haben. Kluge Anwälte hatten ihn schon vor Monaten skizziert: Zwischen der deutschen und der amerikanischen Regierung wird ein Executive Agreement geschlossen, das die Gründung der Stiftung beinhaltet. Der US-Präsident gibt ein Statement of Interest ab, mit dem er den Gerichten seines Landes empfiehlt, sich mit Klagen wegen früherer Zwangsarbeit nicht zu befassen. Kanzler Schröder, so Unterhändler Lambsdorff, habe ihn ausdrücklich ermächtigt, den Amerikanern eine Bundesstiftung zuzusichern, die auch ehemalige Zwangsarbeiter in Kommunen und in der Landwirtschaft entschädigen soll. Ohne diese Stiftung sei das Abkommen mit Washington nicht zu haben. Mit diesem Abkommen, das sieht auch Lambsdorff, können künftige neue Ansprüche gegen die deutsche Wirtschaft zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nach Ansicht amerikanischer Juristen gering. Offenbar haben sich die Vertreter der deutschen Industrie ebenfalls zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Das Problem der Rechtssicherheit, meint einer der Verhandlungspartner, könnte man auch flexibel angehen: Es müssten ja nicht hundert Prozent sein. ™ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland BRANDENBURG Feldzug im Reich des roten Königs C. DITSCH / VERSION (l.); A. FROESE / CARO (r.) Angeführt von Ex-General Jörg Schönbohm, zieht die CDU ihren Wahlkampf in Brandenburg nach den Regeln einer militärischen Offensive durch. Der SPD könnte sie die absolute Mehrheit abjagen, doch zum Mitregieren mangelt es bislang an kompetentem Personal. Kontrahenten Schönbohm (2. v. l.), Stolpe*: Den gefährlichen Gegner lange totgeschwiegen I n dem Neubau gleich gegenüber von Manfred Stolpes Staatskanzlei in Potsdam sieht es aus wie im Briefing-Raum der deutschen Kfor-Soldaten im Kosovo: An der Wand hängt eine Karte des „Einsatzgebietes“, daneben „Analysen“ über die örtlichen Gegebenheiten wie Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Parteienstruktur. Markierte Punkte weisen strategisch wichtige Standorte aus. Davor steht der Oberst a. D. Walfried Beyl, 62, mit dem bei Militärs unvermeidlichen Teleskopstab in der Hand, und schildert in knappen Worten die „Operation 25 plus x“. Als „One-Dollar-Man“ plant Pensionär Beyl in der CDU-Wahlkampfzentrale den friedlichen Feldzug eines alten Kameraden – General a. D. Jörg Schönbohm, 61. Der „Auftrag“: „Den Bekanntheitsgrad des Kandidaten so zu erhöhen, dass er gewählt wird.“ Halten sich die Umfragen, ist der Auftrag so gut wie erfüllt: Danach hat Schönbohm, seit sieben Monaten Landesvorsitzender der CDU-Brandenburg und Herausforderer des „roten Königs“ Manfred Stolpe, fast 30 Prozent der Wähler auf seine Seite gezogen, die SPD ist dagegen von 54 Prozent vor fünf Jahren auf 42 Prozentpunkte abgefallen. Das Wahlkampfziel der Christdemokraten, bei der Landtagswahl am 5. September die absolute Mehrheit Stolpes zu brechen und künftig in Potsdam mitzuregieren, ist durchaus realistisch. Die generalstabsmäßige Offensive der Ex-Militärs im märkischen Sand hat die Fünf Jahre allein regiert Ergebnis der Landtagswahl in Brandenburg 1994 Stimmen in Prozent SPD 54,1 CDU 18,7 PDS 18,7 Bündnis 90/Die Grünen 2,9 FDP 2,2 Sonstige 3,3 SPD 51 Sitze Links: am 24. Juli bei einem Besuch des Schützenvereins Beelitz-Dorf; rechts: mit Arbeitsministerin Regine Hildebrandt am 26. Juni auf dem SPD-Landesparteitag. 50 d e r s p i e g e l CDU 18 Sitze Fraktionslos 1 Sitz PDS 18 Sitze 3 2 / 1 9 9 9 SPD unruhig gemacht. Lange hat Stolpe den gefährlichen Konkurrenten totgeschwiegen. Vorvergangene Woche attackierte er ihn erstmals – an seiner schwächsten Stelle: Er forderte Schönbohm auf, endlich seine Riege potentieller Minister zu benennen: „Wenn er mitregieren will, müsste er dem Wähler schon sagen, wie und mit wem er es machen will.“ Die Personaldecke in der CDU ist dünn. Der General und seine Wahlhelfer sind vornweg in die Schlacht um Brandenburg gezogen – doch hinter ihnen befinden sich kaum Parteisoldaten. Seit Januar braust Schönbohm fast täglich im Auto durch die Provinz. Zwischen Prenzlau, Perleberg und Cottbus hat er jeden Kilometer abgefahren, es gibt keinen CDU-Kreisverband und keinen Landkreis, den der Stolpe-Herausforderer noch nicht inspiziert hat. Er besucht Spargelfeste, diskutiert auf Polizeistationen mit Wachtmeistern und vor Ort mit Angestellten von Gurkeneinlegereien. Dem Kandidaten ist kein Anlass zu gering. Und allen Mühseligen und Beladenen verspricht er zu „prüfen, was sich machen lässt“. Am Südwestfriedhof der Gemeinde Stahnsdorf trifft er auf einen kleinen Kreis engagierter Bürger, die für den Erhalt der historischen Ruhestätte kämpfen. „Der Tod Werbeseite Werbeseite Deutschland J. H. DARCHINGER C. DITSCH / VERSION Am Berliner Maybachufer, wo viele Ausländer wohnen, sei „nicht mehr Deutschland“, sagte er ein andermal. Dabei war Schönbohm nie wirklich bloß ein schnarrender Rechtsaußen. Als einer von wenigen Senatoren befürwortete er von Beginn an die Love-Parade, diskutierte im SPIEGEL mit Autonomen über Hausbesetzungen, Drogen und Polizeigewalt. Im Gegensatz zu seinem politischen Gegner Stolpe („Ich hasse Wahlkampf“) sucht er den Streit als politische Methode. „Er macht die falsche Politik, aber die macht er gut“, urteilte der Berliner Grünen-Fraktionschef Wolfgang Wieland über den Berliner Innensenator, der Schönbohm bis November des vergangenen Jahres war. Der konservative Patriot, der das literaCDU-Wahlplakat in Brandenburg: „Dem Mann würde ich was anvertrauen“ rische Werk Ernst Jüngers schätzt, findet und das Leben gehören zusammen, und Aufmerksam, ganz alte Schule, rückt einfach Gefallen daran, die Schmerzgrenwir als Lebende können nicht zusehen, wie Schönbohm der Dame des Hauses den zen seiner Freunde und Feinde zu erkundie Substanz dieses Friedhofs verfällt“, sagt Stuhl zurecht, bevor er sich auf eine Ziga- den. Auf Wahlkampftour in Brandenburg Kirchhofsverwalter Olaf Ihlefeldt, 31 – und rillo-Länge in die Runde setzt. Nach dem erntet er jetzt wieder Beifall für seine Forder Wahlkämpfer nickt. zweiten Glas, bei dem die „investitions- derung nach Erhöhung der Polizeipräsenz In Neustadt (Dosse) beklagen Arbeiter feindliche Ansiedlungspolitik“ der SPD und nach „Kopfnoten“ in der Schule, Zendes Müllfahrzeug-Herstellers Hüffermann, diskutiert wird, schwärmt Witwe Egerland: suren für „Fleiß“ und „Betragen“. Im Schnitt absolviert Schönbohm elf dass eine Autowerkstatt für Jugendliche „Diese zupackende Art, dem Mann würde Termine täglich; nicht selten sieben Tage nur deshalb dichtgemacht wurde, weil es ich was anvertrauen.“ keine Toilette und kein fließendes Wasser Das tut sie schließlich auch, Wahlkampf die Woche folgt er der Parole, auf die er seigibt. „Das darf doch nicht wahr sein“, er- ist teuer. Fast überall werden Schönbohm ne Helfer eingeschworen hat: „Die eigene regt sich Schönbohm, „da kümmern wir bei seinen Besuchen im Land weiße Cou- Truppe mobilisieren, den Gegner verunsiuns drum, versprochen.“ Er meint es ernst. verts zugesteckt – Parteispenden. Von den chern, die Bevölkerung überzeugen.“ So einte er den zerDenn er glaubt selbst an sein Wahlkampf- 1,2 Millionen Mark Wahlstrittenen Brandenburmotto: „… nicht reden – handeln!“ kampfkosten hat der ger CDU-Haufen, der Der Mann hört zu, auch denen, die von Kandidat schon 500 000 seit der Wende fünf der gesellschaftlichen Mitte ausgestoßen aufgetrieben. Landesvorsitzende verscheinen. Er fährt zu den Rechtsradikalen In zeitlos grauer Anschlissen hat und bei im Cottbuser Jugendclub „Flash 29“, um zughose, kurzärmeligem der letzten Landtagsmit ihnen über Ausländer zu sprechen, Hemd und Krawatte verwahl mit gerade 18,7 oder lauscht einem Mann mittleren Alters, mittelt der kleine Mann Prozent die Quittung der bei einer öffentlichen Diskussion in ei- mit dem grauen Haarbekam – ebenso viele nen wirren 15-Minuten-Monolog darüber kranz jenen PragmatisStimmen bekam die verfällt, wie übel ihm die Stasi einst mit- mus, der unsicheren PDS. Zwei Legislaturgespielt hat. Diejenigen für sich zu gewin- Menschen fehlt. Interesperioden lang zehrte nen, die ihren Platz im Leben verloren und siert, doch stets ungedulStolpe von seinem nicht wiedergefunden haben, gehört zu dig, nimmt Schönbohm General Schönbohm (1991) Image als Schutzpatron Schönbohms Strategie. auf, was ihm vorgetragen Und er will die kleinen Unternehmer wird – um dann sofort die Lösung zu nen- der Brandenburger vor dem bösen Westen. auf seine Seite ziehen, die sich bei ihm nen und sich unruhig zum Aufbruch zu Nun fürchten die Sozialdemokraten eine täglich über zu hohe Abwassergebühren, wenden. Das Wahlkampfteam verlängerte Art „Bonn-Backlash“ – die Wähler könnschleppende Bauverfahren und nervende bereits die Verweilzeit bei Schönbohms ten am 5. September Schröders Politik abBürokratie beklagen. Arbeitgeber wie der Terminen. „Sonst haben die Leute den Ein- strafen und Stolpe treffen, indem sie aus Bauunternehmer Peter Weiß, 44, aus druck, der schreitet nur seine Truppen ab“, Protest Schönbohm ihre Stimme geben. Sollte die absolute Mehrheit verloren Stahnsdorf nutzen die Begegnung mit sagt ein Mitarbeiter aus der Wahlkampfdem Kandidaten, um ihren allgemeinen zentrale „Bravo“, was für „Brandenburg sein – und darauf stellen sich die Genossen bereits ein – , gilt eine Große Koalition als Frust loszuwerden: „Wir wollen eine voran“ steht. härtere Gangart, dass die Zügel angezoDie Armee, der Schönbohm 35 Jahre beinahe sicher. „Die PDS ist nicht mehr ungen werden in der Innen- und Sicherheits- diente, ließ ihn zu einem effizienten Stra- ser natürlicher Partner“, zerstreut SPDpolitik.“ tegen werden: „Es gibt nur zwei Bewe- Landesvorsitzender Steffen Reiche schon Auch bei reiferen Frauen kommt der Ex- gungsformen – stehen oder vorwärts.“ Nie- jetzt Spekulationen, eine Tolerierung durch General an. Felicitas Egerland, 69, Senior- derlagen sind nicht vorgesehen. Und doch die SED-Nachfolgepartei sei für die Sozis Chefin eines Unternehmens für Fahr- hat er im Brandenburgischen viel von je- das kleinere Übel. Selbst wenn er sein Ziel, die Teilhabe an zeuglogistik in Neuseddin, empfängt ihn nem Politiker verloren, der als Berliner Inim blauen Wildseidenkostüm. Vor der nensenator mit polternden Parolen Stim- der Macht im Land, verfehlen sollte – Werksbesichtigung gibt es Champagner mung machte. Die Bosnier sollten „nicht Schönbohm wird Brandenburg erhalten und die Aufforderung, zur „Marsch- hier die Hand aufhalten, sondern zu Hau- bleiben. Der Christdemokrat ist in Kleinerleichterung“ möge der Gast doch das se Hand anlegen“, begründete er damals machnow nahe Potsdam sesshaft geworden: Jacket ablegen. die Abschiebung von Kriegsflüchtlingen. „Mein letzter Standort.“ Susanne Koelbl 52 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite GRÜNE Eine zum Anfassen Auf absteigendem Ast Ergebnisse der Grünen in Sachsen 5,6% 4,1% LANDTAGSWAHLEN 14. Okt. 1990* 5,9% 11. Sept. 1994 19. Sept. 1999 4,8% 4,4% 16. Okt. 1994 27. Sept. 1998 BUNDESTAGSWAHLEN 2. Dez. 1990 5,6% 2,7% EUROPAWAHLEN *Listenvereinigung 54 12. Juni 1994 13. Juni 1999 Grünen-Spitzenkandidatin Röstel*: Bewährungsprobe ohne Netz und doppelte Quote Die, die das bewirken soll, ist 37 Jahre alt, einen Meter achtzig groß, trägt vorzugsweise Mini-Röcke, ist bekannt aus Funk und Fernsehen und kommt an diesem Tag erst einmal zu spät: Gunda Röstel, Bundessprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, ist im Stau hängen geblieben. Als sie schließlich gegen Viertel vor fünf auf dem Waldheimer Marktplatz ankommt, haben die Händler bereits mit dem Abbau ihrer Stände begonnen. Die grüne Frontfrau, von der Burdas Ost-Postille „Super Illu“ einst zu berichten wusste, mit ihr sei „die gute Laune in die Umweltpartei eingezogen“, grämt das nicht. Röstel greift sich ein paar Flyer und macht sich, immer lächelnd, als sei sie gerade einem Werbespot entstiegen, ran an die wenigen Passanten. Sie freut sich wie ein Starlet, wenn sie erkannt wird. „Sie sind doch die aus dem Fernsehen“, sagt eine Rentnerin, nimmt das Flugblatt mit dem grünen Programm für die Landtagswahl und steckt es ungelesen weg. „Die Leute sind immer so überrascht, wenn eine Bonner Politikerin ganz ohne Personenschutz kommt“, sagt Röstel kokett und reißt die Augen auf, „ich bin eben eine Politikerin zum Anfassen.“ Mangelndes Selbstbewusstsein würde wohl niemand der für die Politik beurlaubten Sonderschullehrerin aus der sächsischen Provinz bescheinigen. Weil sie die Dreifachquote (Frau, aus dem Osten und Reala) erfüllte, wählte die Partei sie 1996 an ihre Bundesspitze. Im April kürten die Sachsen-Grünen sie zu ihrer Spitzenkandidatin für die Landtagswahl. Aus allem, was die gelernte Pädagogin dieser Tage in Sachsen unternimmt, spricht dieselbe Botschaft: Wenn es einen Grund gibt, am 19. September grün zu wählen, dann lautet er Gunda Röstel. „Ich werfe schließlich mein Amt und meine Popula- rität in die Waagschale“, sagt die von sich überzeugte Kandidatin. Die Partei, mit knapp über 1000 Mitgliedern der stärkste Landesverband in der grünen Diaspora Ostdeutschland, hat sich dem Personenkult gefügt: Der Wahlkampf ist ganz auf Röstel zugeschnitten. Als einziges Großplakat wird das Konterfei der Spitzenkandidatin geklebt. Motto: „Charme und Energie für Sachsen“. Ob Wahlplakate, Termine oder Auftritte – alles dreht sich um Gunda. Außer auf sich setzt die Parteisprecherin nur noch auf den grünen Übervater Joschka Fischer. Der populäre Außenminister soll ihr in der heißen Phase des Wahlkampfs die Säle füllen. Umweltminister Jürgen Trittin und Gesundheitsministerin Andrea Fischer dürfen zwar im Lande auftreten, doch die Kandidatin zweifelt, ob ihr das Punkte bringt: „Die anderen Bundespromis erreichen doch in Sachsen auch nicht mehr Leute als ich.“ Der Partei bleibt bei dieser Inszenierung die Rolle des Kulissenschiebers. „Wer mit der Zweit- oder Listenstimme Grüne wählt, stimmt für Gunda Röstel und ihr Team“, heißt es unmissverständlich auf Röstels Homepage im Internet. Auf der erinnert ohnehin nichts mehr an die Öko-Partei. MARUNG+BAEHR VISUELLE MEDIEN W aldheim im mittelsächsischen Kreis Döbeln, das ist zuallererst das Gefängnis. Der ungeschlachte Kasten thront über der Stadt am Fluss Zschopau; wer nach Waldheim kommt, kann den Knast nicht übersehen. Dann gibt es noch die Kosmetikmarke Florena, im Osten so bekannt wie im Westen Nivea. „Bei uns zu Hause werden nur FlorenaProdukte verwendet“, sagt Holger Saß mit einem Hauch von Ironie in der Stimme, „das verbindet.“ Der 33jährige kommt aus Leipzig, am Gymnasium im PlattenbauViertel Grünau unterrichtet er Geographie, und in Waldheim kandidiert er für die Grünen zur Landtagswahl am 19. September. Unter den elf Parteifreunden im Landkreis fand sich keiner für die Kampfaufgabe. Bei der letzten Bundestagswahl war der Leipziger schon einmal Zählkandidat im Mittelsächsischen. Saß weiß, dass er auch diesmal auf verlorenem Posten kämpft. Bei den Europawahlen im Juni kam die Ökopartei im Kreis Döbeln auf gerade 1,5 Prozent. Für die Landtagswahlen in knapp sechs Wochen lassen die Umfragen bestenfalls vier Prozent erwarten. Saß: „Nur ein Wunder kann uns wohl noch helfen.“ S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM Die Grünen, im Osten kaum noch existent, setzen auf die Bundessprecherin Gunda Röstel: Sie soll in Sachsen die Partei wieder ins Parlament hieven. Wahlplakat der sächsischen Grünen * Am 21. Juli auf dem Waldheimer Marktplatz. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Optimismus mit Gute-Laune-Gunda Deutschland Die Oberfläche zeigt ein weich gezeichnetes Porträt der Spitzenkandidatin vor Sonnenuntergangsfarben. Zwar geht einigen Sachsen-Grünen „der Gunda-Kult“ gehörig gegen den Strich. Doch auch die Kritiker des PersonalityWahlkampfs klammern sich an diese vielleicht letzte Chance für das grüne Projekt in Ostdeutschland. Die Ausgangslage für die Ost-Grünen, die außer in Sachsen im September auch in Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen zu bestehen haben, könnte schlimmer kaum sein. In keinem Parlament der neuen Länder ist die Partei derzeit vertreten. Bei den Kommunalwahlen im Juni flogen grüne Ratsherren reihenweise aus den Rathäusern. Urgrüne Themen wie Umweltschutz, Bürgerrechts- und Flüchtlingspolitik lösten beim von Existenzängsten gebeutelten Ostbürger schon immer eher Kopfschütteln als Begeisterung aus. Ein Übriges taten die Chaos-Tage zu Beginn der Bonner rot-grünen Regierung. 630-Mark-Gesetz, Ökosteuer und der zähe Hickhack um den Atomausstieg verschafften den Grünen nicht gerade den Rückenwind, den sie im Osten dringend brauchen. Kontraproduktiv war auch der KosovoKrieg. Reihenweise schmissen in den Geschäftsstellen von Dresden, Erfurt und Magdeburg über „den Kriegskurs“ erboste Ost-Grüne ihre Mitgliedsbücher hin. Aus diesem Tief will Gute-Laune-Gunda ihre Partei herausführen: Die Parteisprecherin dreht in Freital, vor den Toren Dresdens, im Solarmobil ein paar Runden, lädt zur Rave-Party in die Landeshauptstadt und sucht junge Mittelständler heim. Röstel setzt auf Optimismus: „Wir müssen den Bürgern vermitteln, wir haben die richtigen Konzepte, wir tun etwas für innovative Unternehmen.“ Alles erinnert ein bisschen an die FDP – nur schadstoffarm. Von einem Erfolg der grünen Frontfrau in Sachsen träumen auch die seit der hessischen Landtagswahl frustrierten Manager der Grünen im Bund. Der Realo Matthias Berninger begeistert sich: „Wenn Gunda es schafft, die Grünen im Osten zurück ins Spiel zu bringen, ist das ein ähnlicher Erfolg wie der von Joschka Fischer 1985.“ Damals durften die Grünen zum ersten Mal in einem Bundesland mitregieren, Fischer wurde hessischer Umweltminister. Doch so recht glauben mag kaum einer der Parteifreunde, dass Röstel es tatsächlich stemmt. Verpasst die Partei wie schon 1994 den Einzug in den Landtag, dürfte ihr Ende nur noch eine Frage der Zeit sein. „Dann können wir den Laden zumachen“, sagt Eberhard Hall, Grünen-Geschäftsführer im sächsischen Kreis Döbeln. Auch für Gunda Röstels Karriere wäre eine Niederlage daheim kaum förderlich. Sachsen, hämt ein grüner Röstel-Feind, sei für die Parteisprecherin die „erste richtige Bewährungsprobe ohne Netz und doppelte Quote“. Andreas Wassermann d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Umfrage Joschka Fischer Gerhard Schröder Rudolf Scharping Veränderungen bis zu –+3 liegen im Zufallsbereich. Sie werden deshalb nicht ausgewiesen. Wolfgang Schäuble Edmund Stoiber Kurt Biedenkopf Volker Rühe Heide Simonis Hans Eichel Manfred Stolpe 76 Angela Merkel Otto Schily 35 34 Wolfgang Clement 65 62 61 53 52 49 44 40 37 31 „Wichtige Rolle“ seltener gewünscht als im Mai Dieser Politiker ist mir unbekannt. –7 –5 4 15 9 11 4 22 im Mai nicht auf der Liste –7 –6 27 16 4 13 16 40 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 30. Juli bis 3. August 1999; 1500 Befragte Sonntagsfrage Wichtige politische Aufgaben... „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Umfrage Mai „Welche der folgenden politischen Aufgaben halten Sie für besonders wichtig?“ August mit „Ja“ antworteten im August 45% Bundestagswahl vom 27. September 1998 Die Arbeitslosigkeit bekämpfen 74 43 60 40,9 Die Renten sichern 35 6 6 5 31 Die Wirtschaft ankurbeln 50 Bürger wirksamer vor Verbrechen schützen 35% 40 48 Für soziale Sicherheit sorgen 40 48 Die Gesundheitsvorsorge sichern 6 5 5 im Mai 50 5% 29 Alle Angaben in Prozent Für gleiche Lebensbedingungen in Ost und West sorgen Das Zusammenleben mit Ausländern regeln 25 58 30 40 38 6,7 6,2 5,1 25 40% 40 35,1 ...und wie Rot-Grün sie bewältigt „Sind Sie mit der bisherigen Arbeit der Bundesregierung auf diesen Gebieten zufrieden?“ d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 34 34 43 49 43 49 48 53 50 51 Deutschland Liebling der Nation Superstar Fischer Emnid nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern. Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die Veränderungen zur letzten Umfrage im Mai. J Alle Angaben in Prozent Guido Westerwelle Walter Riester 24 23 Wolfgang Gerhardt Gregor Gysi 21 21 Jürgen Trittin Werner Müller 21 Roland Koch 19 15 –5 20 38 32 8 4 60 9 61 im Mai nicht auf der Liste Kanzler okay, Regierung mau „Sind Sie, alles zusammen betrachtet, zufrieden ... „Nein“ 59 45 „Ja“ 39 . . . mit der Arbeit der Bundesregierung?“ 41 Union im Aufwind für keine Partei 69 52 11 8 ...mit der Arbeit von CDUChef Wolfgang Schäuble?“ Verteilte Gunst für die CDU/CSU 13 38 ... mit der Arbeit von . . . mit der Arbeit Bundeskanzler Schröder?“ der Opposition?“ „Für welche Partei ist die Stimmung im Augenblick besonders günstig?“ für die SPD 55 53 53 24 „Wenn die Union jetzt einen Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl aufstellen würde, wen sollte sie nehmen?“ Wolfgang Schäuble Edmund Stoiber Volker Rühe Ergebnis der Mai-Umfrage 33 d e r 27 24 s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 oschka Fischer ist der Held der Saison. Der grüne Außenminister führt die Hitliste der deutschen Politiker – vom Bielefelder Emnid-Institut im SPIEGEL-Auftrag ermittelt – mit beträchtlichem Vorsprung an: 76 Prozent (Mai: 73) der Befragten billigen ihm eine herausgehobene Rolle zu. Der hingebungsvolle Jogger ist derzeit der Darling der Nation, er genießt über alle Parteigrenzen hinweg Respekt: 89 Prozent der SPD-, 73 Prozent der CDU/CSUund 75 Prozent der FDP-Anhänger finden ihn gut. Ins Bild passt, dass 62 Prozent der Deutschen den Grünen raten, die Doppelspitze als Führungsprinzip aufzugeben – und von diesen sprechen sich 82 Prozent für Fischer als alleinigen Parteichef aus. Unter ferner liefen: Jürgen Trittin (5 Prozent), Kerstin Müller (6). Gerhard Schröders neueste Werte fallen eher gemischt aus. Einerseits liegt der Bundeskanzler im SPIEGEL-Ranking nicht schlecht an zweiter Stelle. Andererseits ist sein Rückstand auf Fischer deprimierend groß (elf Prozentpunkte), zudem lag Schröder im Mai bei 72 Prozent und ist jetzt auf 65 gefallen. An dritter Stelle in der Rangliste der Politiker steht nach wie vor Rudolf Scharping. Als Person schätzen die Befragten Schröder durchaus: 53 Prozent bescheinigten ihm gute Arbeit. Auch in seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender findet der Kanzler Unterstützung: 76 Prozent plädieren für eine Erneuerung der SPD à la Schröder. Das Trio an der Spitze ist identisch mit dem herausgehobenen Kriegskabinett – eine Bestätigung für Schröders Überzeugung, die im Kosovo-Konflikt erprobte Kombination aus Entschiedenheit und Besonnenheit komme im Volk gut an. Darüber hinaus sind 62 Prozent der von Emnid Befragten der Meinung, die deutsche Vergangenheit solle im Verhältnis zu anderen Staaten nicht länger eine so wichtige Rolle spielen. 65 Prozent treten zudem dafür ein, dass Deutschland eine Führungsrolle in Europa übernehmen solle. Auch insoweit darf sich Schröder bestätigt fühlen. Der Kosovo-Konflikt zeitigt allerdings alarmierende Nebenwirkungen. Der Kanzler und seine beiden wichtigsten Minister werden als Politiker aus eigenem Recht wahrgenommen – als ob sie weder der Regierung noch einer Partei an59 Werbeseite Werbeseite Deutschland Die Erwartungen der Bürger an die amtierende Koalition sind überaus konkret: Obenan steht der Rückgang der Arbeitslosigkeit, gefolgt von der Sicherheit der Rente und der Ankurbelung der Wirtschaft. Die harten ökonomischen Faktoren dominieren eindeutig, der Wunsch nach Annäherung der Lebensverhältnisse im Osten an die des Westens fällt dagegen in der Prioritätenliste deutlich ab. Im übrigen will eine Mehrheit der Deutschen, dass noch in dieser Legislaturperi- gehörten. Denn die rot-grüne Koalition steht keineswegs in der Gunst des Publikums: Klägliche 39 Prozent sind mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden, 69 Prozent der Befragten erachten die politische Stimmung im Lande als günstig für CDU/CSU und nicht etwa für die SPD. Wenn heute Wahlen wären, landete die SPD bei 35 Prozent und die Union bei 43, die Grünen würden es auf 6 und die FDP würde es auf 5 Prozent schaffen, ebenso wie die PDS. Umfrage vom 30. Juli bis 3. August. 1500 Befragte; alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe ode ein Kernkraftwerk abgeschaltet wird; außerdem soll das Kriterium Gerechtigkeit in der Steuerpolitik stärkere Berücksichtigung finden. Und wen sollte die Union zu ihrem Kanzlerkandidaten erheben? Die von Emnid Befragten hegen keine klare Präferenz: Wolfgang Schäuble (33 Prozent) liegt knapp vor Edmund Stoiber (27) und Volker Rühe (24). Falls Rühe nach der FebruarWahl Ministerpräsident in Kiel werden sollte, dürften seine Chancen erheblich steigen. ™ Mehr Gerechtigkeit „In der SPD ist ein Streit zwischen Gerhard Schröder und den Linken über die grundsätzliche Ausrichtung der Partei ausgebrochen. Glauben Sie, dass die rot-grüne Regierung – zum Beispiel in der Steuerpolitik – den Grundsatz der Gerechtigkeit ausreichend berücksichtigt?“ ja Anhänger von SPD 22 71 CDU/ B’ 90/ CSU Grüne FDP PDS 34 13 49 20 8 60 82 50 74 85 nein Mehr Schröder, weniger SPD Mehr für die Umwelt erneuern „Muss sich die SPD erneuern, wie Schröder meint, oder sollte sie im Prinzip so bleiben, wie sie ist?“ 76 18 „Hat die rot-grüne Regierung ihr Versprechen, die Umwelt stärker in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, bisher ausreichend umgesetzt?“ ja bleiben, wie sie ist 22 73 Selbstbewusster Auftritt nein „Der Bundeskanzler und seine Regierung treten gegenüber dem Ausland immer selbstbewusster auf. Meinen Sie, wie auch Gerhard Schröder, dass ... ... die deutsche Vergangenheit im Verhältnis zu anderen Staaten nicht mehr so eine wichtige Rolle spielt?“ ja nein 62 35 ... Deutsch bei allen Treffen der EU Verhandlungssprache sein soll?“ ... Deutschland in Europa eine Führungsrolle übernehmen soll?“ ja nein 65 32 „Welchen Forderungen stimmen Sie zu?“ Es soll ein Tempolimit bei Sommersmog geben 67 ja nein 62 35 Die Industrie soll Altautos kostenlos zurücknehmen 83 Noch in dieser Legislaturperiode soll ein Atomkraftwerk abgeschaltet werden 58 Joschka Fischer 82 Lieber einer als zwei Antworten der 934 Befragten, die sich für einen grünen Parteichef aussprachen Joschka voran „Die Grünen debattieren über ihre Parteiführung, was meinen Sie?“ Es soll bei der Doppelspitze bleiben 26 62 „Wer soll Parteichef der Grünen werden?“ Anhänger von CDU/ B’ 90/ SPD CSU Grüne FDP PDS 24 24 49 19 40 68 62 48 68 54 Es soll einen Parteichef geben d e r s p i e g e l 6 5 2 Kerstin Müller Jürgen Trittin Gunda Röstel 3 2 / 1 9 9 9 61 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite INTERNET Gläsernes Amt Behörden rüsten für BürgerService im World Wide Web: Bauanträge oder Steuererklärungen online sollen Wartezeiten vor den Büros verkürzen. M. JÜSCHKE / HAMBURGER ABENDBLATT A ls der Ansturm der Tennis-Fans den Computer der Mannheimer Stadtverwaltung lahm legte, war das ein schöner Tag für die Internet-Spezialisten des Amtes. „Unsere Leute sind online“, schwärmt Jörg Blumenthal, 53, „mehr als in jeder anderen Stadt, die ich kenne.“ Kölner Internet-Seite: Per Mausklick in die Stadtbibliothek Deshalb war das Malheur im Rechnernetz absehbar: Steffi Graf hatte beim Fe- Einwohner-Stadt rund deration-Cup wegen einer Verletzung ab- eine halbe Million Mal gesagt, entsprechend schleppend verkauf- genutzt. Der professionelle ten sich die Karten für das Turnier in der Mannheimer Stadthalle. Prompt bot das Auftritt im Internet, Sportamt den städtischen Angestellten auf glaubt Thorsten Bullerseiner Homepage Gratiskarten an, um die diek vom NiedersächSitzreihen beim Turnier weniger leer er- sischen Städte- und Ge- Mannheimer Internet-Seite: „Unsere Leute sind online“ scheinen zu lassen. Schon einige Minuten meindebund, werde „in nach Dienstbeginn loggten sich an die 2500 den nächsten Jahren die Regionen dieser akte“ ist mit Programmen von SoftwareMitarbeiter ein, der Rechner klappte zu- Republik in Gewinner und Verlierer Anbietern wie dem deutschen Branchentrennen“. Beamte oder Angestellte, die primus SAP längst machbar. „Technisch sammen. mit dem Web immer noch ist das gläserne Amt kein Problem Für den Internet-Fachnicht umgehen können, mehr“, sagt SAP-Manager Dietmar mann Blumenthal ist die sind möglicherweise schon Pfähler: „Wo es hakt, das sind Bürokratie Episode der Beweis, dass bald reif für Schulung und Personalräte.“ Mannheims Beamte ihre Eoder Frühpensionierung. Denn bei manchen Beamten und KomMail-Adressen und InterDenn kaum irgendwo munalpolitikern stößt der bürgerfreundlinet-Zugänge am Bürocomlässt sich das Netz so gut che Fortschritt auf Widerstand. „Viele Verputer tatsächlich nutzen. nutzen wie da, wo ohne- waltungschefs in den Kommunen glauben Das „virtuelle Rathaus“ hin nur Papier bearbeitet immer noch, das Internet sei nur ein Spielmit freiem Zugang für Bür- Zugangs-Chipkarte wird. zeug“, sagt Computer-Spezialist Bullerger und Unternehmen, das Bullerdieks Ziel ist das komplett ver- diek, der seit Jahren Bürgermeister und in vielen anderen Städten und Gemeinden derzeit aufgebaut wird, funktioniert in netzte Rathaus, das die meisten der heute Stadtdirektoren für die vernetzte Zukunft der Neckar-Stadt bereits immerhin zu ei- noch notwendigen Behördengänge für Bür- schult. Anfangs seien die Politiker zu Senem Teil. Bürger können online etwa ihre ger und Investoren überflüssig ma- minaren mit ihren EDV-Fachleuten oder Biotonne bei der Stadtreinigung bestellen chen könnte. Nervtötendes Schlange ste- der Sekretärin angereist, „nach dem Motoder ihren Hund anmelden. Pro Monat hen auf dem Linoleum von Behördenfluren to: Ich verstehe nichts davon, schreiben Sie wird der Computer-Service in der 300 000- soll dann der Vergangenheit angehören: das mal mit.“ Bauanträge, UmzugsZwar ist längst fast jede Stadt zwischen meldungen oder Steuer- www.kiel.de und www.kempten.de per erklärungen könnten Homepage im Internet vertreten. Doch oft per verschlüsselter E- ist kaum mehr zu sehen als ein Foto vom Mail ins Amt geschickt Rathaus und die auf viele Internet-Nutzer und dort über ein in- vorsintflutlich wirkende Post-Adresse der ternes „Intranet“ von Stadtverwaltung. einem Sachbearbeiter Das Internet, klagt Fachmann Bullerzum nächsten verschickt diek, verkomme so zum reinen Anschlagwerden. brett. Dass es besser gehen kann, zeigen Mehr noch: Jeder An- Angebote einzelner Städte. So können tragsteller soll durch den Bürger Blick auf den heimischen π in München ihre Meldebestätigung onComputerbildschirm jeline bestellen; derzeit ablesen können, π im fränkischen Landkreis Kitzingen ihr auf welchem BeamtenWunschkennzeichen fürs Auto reservieschreibtisch sein Antrag ren, den Sperrmüllwagen bestellen oder gerade liegt – oder liedie Daten einer öffentlichen Ausschreigen geblieben ist. Die bung für ein neues Dach der Berufselektronische „Bürgerschule abrufen; Hamburger Finanzrichter Grotheer: Klage via E-Mail 64 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Deutschland π in Kölns Stadtbibliothek per Mausklick Bücher oder Musik-CDs auswählen und sich nach Hause liefern lassen. In Hamburg demonstriert das Finanzgericht mit einem Pilotprojekt, „dass auch die Gerichte modern und zukunftsweisend arbeiten wollen“, so Gerichtspräsident Jan Grotheer. Seit Anfang des Monats können Steuerberater und Rechtsanwälte ihre Klagen via E-Mail einschicken. Aktentransporte entfallen, die Richter sollen jederzeit auf die Daten zugreifen und „so schneller Auskunft geben können“, sagt Grotheer. Wo sie sinnvoll eingesetzt wird, kann die Computer-Post helfen, Zeit zu sparen. Ab Herbst sollen etwa die Anträge für Pässe und Personalausweise in Köln, Siegburg und Hamm per Datenleitung an die Bundesdruckerei nach Berlin versendet werden. Passfoto und Unterschrift des Bürgers sollen vor Ort im Meldeamt eingescannt und verschlüsselt werden. Der Online-Versuch, so hofft die Druckerei, werde die Wartezeit der Bürger auf ihre Ausweispapiere deutlich verkürzen. Heikel ist noch vor allem der Transfer von persönlichen Daten zwischen Behörde und Heim-PC, solange die Identität des Internet-Kunden nicht ausreichend sicher festgestellt werden kann. Derzeit behilft sich etwa das Mannheimer Computer-Projekt bei Bürgern, die eine Biotonne ordern, mit einem schlichten Anruf beim Besteller, „um zu verhindern, dass jemand seinen Nachbarn mit unerwünschten Mülltonnen ärgert“, so Projektleiter Blumenthal. Von Januar nächsten Jahres an jedoch soll das lästige Telefonverfahren durch eine Chipkarte ersetzt werden, mit der sich jeder Bürger online bei der angewählten Behörde ausweisen kann. Eine Code-Karte dient auch schon beim Hamburger Justiz-Projekt dazu, die hochsensiblen Steuerdaten so zu verschlüsseln, dass nur die beteiligten Anwälte und Justizbeamten Zugriff darauf haben. „Gerade bei Dienstleistungen für die Wirtschaft“, glaubt Bullerdiek, „werden sich auch kleine Städte im Internet große Vorteile verschaffen können.“ Entscheidend werde beispielsweise sein, wo ein Investor die schnellsten und zuverlässigsten Planungszusagen für sein Unternehmen erhält – aber auch, wo die Angestellten privat den modernsten Service bekommen können. Die Kommunen müssten deshalb neben virtuellen Behördengängen verstärkt auch ganz alltägliche Bedürfnisse bedienen, glaubt Stefan Hauf von der Stadt München. So soll elektronischer Service die Bezahlung der Monatskarte für Bus und Bahn vom Heim-PC aus ebenso ermöglichen wie die Planung von Abendterminen auf einem täglich wechselnden Kulturkalender der städtischen Homepage – mit anklickbaren Links zu Kinos und Theatern, wo dann die Eintrittskarten direkt geordert und bezahlt werden könnten. Hans-Jörg Vehlewald d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 ZIVILDIENST K. B. KARWASZ / ARGUS Angst vor der Lücke Jede fünfte Zivildienststelle will das Familienministerium bis 2003 einsparen. Schon im nächsten Sommer kann es auf Pflegestationen dramatisch werden. Wacht im Nationalpark Wattenmeer Null Bock auf die Bundeswehr Zivildienstleistende im Jahresdurchschnitt in Tausend 137 138 128 130 130 115 120 99 80 40 1992 66 1993 1994 1995 1996 1997 1998 H. OBERÜCK / ARGUS D Betreuung behinderter Kinder L. SCHMIDT / JOKER er junge Mann auf Burg Altena hat sich bisher vor keiner Arbeit gedrückt. Wann immer Zimmer und Toiletten in Deutschlands ältester Jugendherberge gereinigt werden müssen, Geschirr gespült oder in der sauerländischen Kleinstadt am Fuße der Burg für das Abendessen eingekauft werden soll, packt der Zivildienstleistende Habib Youssofy, 20, nach dem Urteil von Herbergsmutter Hendrine Groothusen „ordentlich mit an“. Ein paar hundert Kilometer nördlich, in der Jugendherberge im schleswig-holsteinischen Niebüll, serviert der Zivildienstleistende (Zivi) Moritz Müller, 20, Kindern ihr Lieblingsgericht: Nudeln mit Tomatensauce und Hackbällchen. Ohne den gelernten Koch, der auch Türen streicht und die Zimmer putzt, „könnten wir den Laden dichtmachen“, sagt Herbergsvater John Isernhagen. So kann es kommen. Vom 1. Juli nächsten Jahres an will Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) die Kosten für die im Jahresdurchschnitt 138 000 Zivis drastisch senken und unter anderem ihre Zahl bis zum Jahr 2003 auf 110 000 verringern; bereits im Haushaltsjahr 2000 sollen 15 000 Kriegsdienstverweigerer weniger einberufen werden. Weil die Ministerin den Rotstift vor allem bei den Zivi-Arbeitsplätzen in Handwerk und Verwaltung sowie in der Grünpflege ansetzen will, sind die Stellen der Haushaltshilfe bei einer Gehbehinderten Zivildienstleistende im Einsatz Ordentlich mit anpacken 1800 Zivildienstleistenden in den 604 deutschen Jugendherbergen, so Bernd Dohn vom Deutschen Jugendherbergswerk, „akut von der Streichung bedroht“. Etliche der kleinen Herbergen mit weniger als 40 Betten wie auf Burg Altena und in Niebüll stünden ohne die billigen Arbeitskräfte „vor dem Aus“. Die Entscheidung, wo en détail gestrichen wird, fällt frühestens Mitte September bei einem Treffen zwischen Bergmanns Beamten und Vertretern der Wohlfahrtsverbände. Aber schon jetzt steht fest, dass die Zivis um ihre attraktivsten Arbeitsplätze fürchten müssen. Dazu zählen neben den Jobs in idyllisch gelegenen Jugendherbergen so exotische Hilfsarbeiten wie das Zählen von Ringelgänsen im schleswig-holsteinischen Nationalpark Wattenmeer oder ein gemächlicher Hausmeisterdienst beim DRK oder einer Kirchengemeinde. Um die Sparvorgaben von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) im Rahmen des „Zukunftsprogramms 2000“ zu erfüllen, hat Ministerin Bergmann gleich mehrere Sparvorgaben erarbeiten lassen, um den Jahresetat für den Zivildienst von derzeit 2,7 Milliarden Mark zu reduzieren: d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 π Jede fünfte Zivildienststelle wird in den nächsten Jahren gestrichen; die 90 000 Plätze in Betreuung und Pflege Kranker, Älterer oder Behinderter sollen der Zahl nach erhalten bleiben; π den sozialen Einrichtungen und Verbänden, die Zivildienstleistende beschäftigen, werden statt bisher 75 nur 70 Prozent des Soldes erstattet; das Finanzministerium hatte sogar dafür plädiert, nur noch die Hälfte der Kosten zu übernehmen; π die Träger der Zivi-Stellen müssen sich am Entlassungsgeld in Höhe von 1500 Mark mit 450 Mark beteiligen, und π die Dauer des Zivildienstes wird zum 1. Juli 2000 um zwei auf elf Monate gekürzt und liegt damit nur noch einen Monat über dem Wehrdienst. Allein im kommenden Jahr spart Bergmann mit diesem Katalog nach ihrer Hochrechnung 660 Millionen Mark ein. Bei den Trägern der Zivildiensteinrichtungen macht sie sich damit kaum Freunde. Ulrich Schneider, der als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 9000 Organisationen aus dem Sozialbereich mit rund 40 000 Zivildienstleistenden vertritt, hält den Vorstoß der Ministerin schlicht für „Unsinn“. Die Mehrbelastungen von rund 100 Millionen Mark, die nun auf die deutschen Wohlfahrtsverbände insgesamt zukämen, könnten kleine karitative Vereine nicht verkraften. „Die müssen sich das Geld für die Zivis von den Kommunen holen“, sagt Schneider. Tatsächlich wälze die Bundesregierung einmal mehr Kosten auf die Städte und Gemeinden ab. Auch die geplante Verkürzung der Dienstzeit würde Krankenhäusern, Pflegediensten und Umweltschutzorganisationen schwer zu schaffen machen: Zivildienstleistende können ihre Nachfolger dann kaum noch angemessen einarbeiten, Pflegebedürftige und Ältere, die sich an einen jungen Zivi gewöhnt haben, müssen sich öfter als bisher auf eine neue Bezugsperson einstellen. Schneiders Gegenvorschlag: Die Dienstdauer bei 13 Monaten lassen und jährlich 170 Millionen Mark durch die Streichung der staatlichen Einführungslehrgänge für die Zivis sparen. Elfriede Stumböck, Geschäftsführerin der Vereinigung Integrationsförderung in München, fürchtet sich schon jetzt vor dem Sommer nächsten Jahres. Etliche Zivis, die 120 Alte und Behinderte ambulant betreuen, scheiden im Mai aus – ihre Nachfolger kommen vermutlich erst im Herbst, weil das Familienministerium tausende Kriegsdienstverweigerer aus Kostengründen verspätet einberufen will. Unter der „katastrophalen Versorgungslücke“, so Stumböck, litten vor allem sozial Schwache, „die es sich nicht leisten können, mal eben einen privaten Pflegedienst in Anspruch zu nehmen“. Carsten Holm Deutschland A F FÄ R E N Spionage für den Sieger? Der Berliner Flughafen-Skandal weitet sich aus: Nach Belegen der Staatsanwälte waren in einer vom Staat beauftragten Beratungsfirma Mitarbeiter des siegreichen Konsortiums tätig. M. FENSCH / ACTION PRESS I n den feinen Kreisen der Bundeshauptstadt ist Herbert Märtin, 50, ein bekannter Mann. Prominente Politiker fragen den asketischen Ingenieur gern um Rat, wenn in Berlin wieder einmal ein millionenschweres Großprojekt ansteht. Lädt der Chef der WIB-Ingenieurberatungsgesellschaft in seine Firmenvilla in Grunewald ein, schauen auch hochrangige Parteifreunde gern auf einen Schampus vorbei. Schließlich war Märtin, bevor er sich als Unternehmensberater selbständig machte, selbst mal Abteilungsleiter beim Berliner SPD-Wissenschaftssenator. Doch neuerdings gehen immer mehr Genossen auf Distanz zu dem Geschäftsmann. Märtin scheint die Schlüsselfigur in einem gigantischen Wirtschaftskrimi zu sein, der die Steuerzahler Milliardenbeträge kosten könnte. Verwickelt sind rund ein dutzend Politiker und Topmanager, die bei der Planung des neuen Großflughafens in Berlin-Schönefeld mitmischen. Ein spektakuläres Urteil des Brandenburger Oberlandesgerichts wirbelte am Dienstag vergangener Woche sämtliche Zeitpläne für den Airport-Ausbau durcheinander – die entscheidende Endphase des aufwendigen Auswahlverfahrens muss auf Geheiß der Richter wiederholt werden. Zwei Konsortien hatten sich bis zum Schluss um das Sechs-Milliarden-Projekt beworben. Auf der einen Seite kämpfte der Essener Baukonzern Hochtief, eine Tochter des Stromunternehmens RWE, im Verbund mit der Frankfurter Flughafengesellschaft (FAG), einer ABB-Tochter und der Berliner Bank. Auf der Gegenseite hielt bis zuletzt der Bonner Mischkonzern IVG mit. Er hatte sich mit der Wiesbadener Beratungsfirma Dorsch, dem Wiener Flughafen und der französischen Caisse de Depots liiert. Obwohl die Bonner das angeblich pfiffigere Konzept vorlegten, bekam vor knapp einem Jahr die Hochtief-Truppe den Zuschlag. Die überwiegend deutsche Bewerbergruppe, argumentiert Burkhard Kieker, Sprecher der Airport-Projekt-Planungsgesellschaft PPS, „hatte zunächst einen höheren Preis geboten und gilt dank ihrer Mutter RWE als besonders finanzstark“. Die Brandenburger Richter ließen sich davon nicht beeindrucken. In ihrem Urteil stellen die Juristen den Airport-Planern mitsamt der Muttergesellschaft BBF (Berlin-Brandenburg Flughafenholding GmbH) ein verheerendes Zeugnis aus. Manager Airport-Aufseher Fugmann-Heesing, Diepgen Verheerendes Zeugnis ausgestellt Schein“, die Essener könnten deshalb bevorzugt worden sein, müsse vermieden werden, monierten die Richter. Auch Märtins Firma WIB erwähnen die Richter in ihrer Urteilsbegründung, allerdings nur kurz. Gegen den Ingenieur läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsverdachts. Der bestreitet alle Vorwürfe. Die Strafverfolger vermuten, dass Märtins Firma eine Art Scharnier zwischen dem öffentlichen Airport-Auftraggeber und den privaten Interessenten um Hochtief gebildet hat. Dabei waren Kontakte zwischen den staatlichen Flughafenplanern und den Bietern nach den Ausschreibungsbedingungen streng verboten. Anfang Juli durchsuchten Staatsanwälte unter anderem das Büro von WIB-Geschäftsführer Märtin sowie die HochtiefZentrale in Essen. Vor zwei Wochen filzten die Ermittler erstmals auch Büros in der FAG-Zentrale. Jetzt rückten die Fahnder erneut in Frankfurt ein. 20 Beamte mit neun Durchsuchungsbeschlüssen in der Tasche sichte- Modell des künftigen Berlin-Airports: Dreiste Kungelei um lukratives Großprojekt und Aufsichtsräte der BBF und PPS, darunter hohe Politiker wie Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU), waren für Organisation und Kontrolle des Privatisierungsverfahrens zuständig. Doch die waren offenbar überfordert. Die Richter rügen unter anderem, dass die Berliner Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) sowie zwei Vertreter der Bundesregierung im Aufsichtsrat der Flughafenfirmen als auch in Kontrollgremien von Mitgliedsunternehmen des Hochtief-Konsortiums saßen. Allein der „böse d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 ten Ende vergangener Woche zentnerweise Akten und nahmen vier Kartons Material mit. Durchsucht wurden zwei Büros und sieben Privathäuser – darunter die Diensträume und das Haus von Flughafenchef Wilhelm Bender. Sollte sich herausstellen, dass über die WIB tatsächlich sensible Informationen in die falschen Kanäle geflossen sind, wird es nicht nur eng für Märtin. Auch FAG-Chef Bender oder Hochtief-Chef Hans-Peter Keitel könnten in Bedrängnis geraten. Branchenkenner erwarten, dass spätestens 67 T. PFLAUM / VISUM B. BOSTELMANN / ARGUM Hochtief-Chef Keitel Großflughafen Schönefeld (Computer-Simulation): Steilvorlage für Wahlen in Berlin und Brandenburg dann das teure Verfahren neu aufgerollt werden muss, mit verheerenden Folgen. Scheidet das Hochtief-Konsortium als Anbieter aus, muss der Staat neue Bieter finden, um nicht erpressbar zu werden. Doch das kostet Zeit. Und die haben die Flughafenmanager nicht mehr. Im Oktober läuft ein Teil der BBF-Kredite aus. Ist bis dahin kein Käufer in Sicht, müssen der Bund, Berlin und Brandenburg neues Geld nachschießen – eine Steilvorlage für die Opposition vor den Landtagswahlen in Berlin und Brandenburg im Herbst. Vergangene Woche versuchten Politiker und Flughafenplaner in Berlin, den Richterspruch herunterzuspielen. „Wir prüfen, ob wir die Unterlagen für die Planfeststellung selbst einreichen“, erklärt PPS-Sprecher Kieker. Regierungschef Diepgen möchte trotz des Ermittlungsverfahrens gegen Märtins WIB schon bald neue Verhandlungen mit beiden Bietern aufnehmen. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Schon jetzt sickern immer neue Details über anrüchige Praktiken bei dem Verfahren durch, die PPS-Chef Götz Herberg schon bald zu einem Ausschluss der WIB, der FAG oder von Hochtief zwingen könnten. In Berlin wurde darüber vergangene Woche schon heftig diskutiert. Wohl nie zuvor gab es im Kampf um ein lukratives Großprojekt eine derart dreiste Kungelei wie im Fall der Berliner Flughafenprivatisierung. Bereits vor Monaten deckte die „Berliner Zeitung“ erstmals Querverbindungen zwischen der WIB, dem Flughafen Frankfurt und Hochtief auf. Märtin ist mit der Berliner Airport-Tochter PPS schon seit Jahren gut im Geschäft. Im Sommer 1997 bekam er unter anderem den attraktiven Auftrag für den Entwurf 68 des Grob-Layouts und der Verkehrsanbindung für den neuen Flughafen. Trotzdem bemühte sich Märtin schon wenig später bei Hochtief um den Zuschlag für einen Auftrag am Düsseldorfer Flughafen. Dabei waren den PPS-Beratern Kontakte zu einem der Bieter untersagt. Im Oktober 1998, kurz nachdem die Vorentscheidung zugunsten des Hochtief-Konsortiums gefallen war, erhielt Märtins WIB zudem von der Hochtief-Schwester RWE Aqua einen attraktiven Beraterauftrag. Seit Mai dieses Jahres dürfen Märtins Leute für Hochtief auch noch ihr Flughafenkonzept an das Modell der PPS-Planer anpassen, das sie selbst miterstellten. Wie eng die Bande zwischen Märtin und Mitgliedern des Hochtief-Konsortiums sind, zeigt auch ein anderes Beispiel. Um sich zusätzliches Know-how zu sichern, fragte der WIB-Chef 1996 und 1997 bei der FAG an, ob die Frankfurter ihm Spezialisten aus ihrem Haus vermitteln könnten. Die hessischen Manager, die zu diesem Zeitpunkt schon Interesse am Berliner Großflughafen bekundeten, zeigten sich großzügig. Mindestens vier Mitarbeiter durften „im Nebenerwerb“ und „in ihrer Freizeit“ (Flughafensprecher Klaus Busch) bei Märtins WIB aushelfen. Für ihren Sondereinsatz, der bis in die heiße Phase des Wettbewerbs andauerte, sollte die Task Force angemessen belohnt werden. So sind zwei der WIB-Leiharbeiter bereits für attraktive Geschäftsführer-Posten beim Berliner Flughafen benannt. Das geht aus einem von allen vier FAG-Vorständen unterzeichneten internen Schreiben vom 9. Juli dieses Jahres hervor. Die Frankfurter Manager fertigten für die Auserwählten sogar eigens tabellarid e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 FAG-Chef Bender sche Lebensläufe an. Aus ihnen ging klar hervor, sagen die FAG-Manager, dass die Topleute nach wie vor auf der Gehaltsliste in Frankfurt standen. Laut PPS-Chef Herberg kam bei ihm jedoch eine andere Version an. Aus der habe er schließen müssen, bei den Experten handle es sich um WIB-Beschäftigte. Als der Planungschef bei Märtin nachfragte, habe der gesagt, es seien „seine eigenen Leute“, versichert Herberg. WIB-Mitarbeiter Stephan Paß erklärt dagegen, „die PPS wurde von uns über den Einsatz von Mitarbeitern der FAG informiert“. Märtin selbst wehrt sich vehement gegen den Verdacht, über die Frankfurter U-Boote könnten wertvolle Informationen an das Hochtief-Konsortium geflossen sein. Mitglieder der Arbeitsgruppe, die beide Angebote auswertete, erinnern sich jedoch, dass bei einer ganztägigen Sitzung über das IVG-Konzept im Juli vergangenen Jahres ein WIB-Mann teilnahm. Arbeitnehmervertreter der FAG möchten nun endlich Licht in das Korruptionsdickicht bringen. Auf einer außerordentlichen Aufsichtsratssitzung am kommenden Donnerstag wollen die Kontrolleure klären, wer den Leiharbeitern die Erlaubnis für ihren Zweitjob erteilte. Sollte Frankfurts Flughafenchef Bender, ein Sozialdemokrat, von dem ungewöhnlichen Personaltransfer gewusst oder ihn gar gebilligt haben, könnten die Tage des Topmanagers gezählt sein. Dann hätte Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU), im Nebenberuf Aufsichtsratschef der FAG, endlich die Chance, Bender loszuwerden und einen Mann seiner Wahl an die Spitze des Flughafens zu setzen. Dinah Deckstein, Dietmar Pieper Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft B. BOSTELMANN / ARGUM Trends Beeser Condor-Flugzeug NECKERMANN Neue DiscountTochter D er zweitgrößte deutsche Touristikveranstalter Neckermann, der zusammen mit der Lufthansa-Tochter Condor neuerdings unter C&N-Touristik DEUTSCHE BÖRSE STEUERN Harter Sparkurs Mehr Geld für Eichel erner Seifert, der Vorstandschef der Deutschen Börse, hat einen harten Sparkurs durchgesetzt. So müssen die Vorstände nach ihrem Umzug in die neue Frankfurter Zentrale auf eigene Büros verzichten. Stattdessen werden die Börsenchefs, auch „um innerbetriebliche Kommunikation zu fördern“, gemeinsam mit ihren Mitarbeitern Großraumbüros beziehen. „Das hat im Vorstand für erhebliche Spannungen gesorgt“, berichten Vertraute Seiferts. Doch auch die Mitarbeiter müssen sparen. So will der ehemalige McKinsey-Partner die Dienst-Handys aller Angestellten, die nicht zur unmittelbaren Führungsebene gehören, abschaffen. Die entsprechenden Personallisten geht Seifert persönlich durch. Eingezogen werden auch die so genannten Palm-3-Terminplaner – die Taschencomputer haben einen Wert von je 600 Mark. Die Belegschaft zeigt wenig Verständnis: Immerhin erwirtschaftet die Deutsche Börse eine Umsatzrendite von knapp 35 Prozent. B undesfinanzminister Hans Eichel darf sich über unerwartete Einnahmen freuen. Erstmals seit Jahren ist das Steueraufkommen in Deutschland wieder kräftig angestiegen – und zwar noch weitaus stärker, als es die meisten Experten prophezeit haben. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen legten die Steuereinnahmen in den ersten sechs Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum um rund zehn Prozent zu. Noch zögern Eichels Beamte aber, diesen Trend aufs ganze Jahr hochzurechnen – denn im Juli vermeldeten viele Finanzämter schon wieder ein deutlich geringeres Einnahmewachstum. Das Plus im ersten Halbjahr verdankt Eichel vor allem dem steilen Anstieg bei der Einkommensteuer: Einzelne Finanzämter meldeten hier Mehreinnahmen von 50, teils sogar 70 Prozent. Dies liegt daran, dass viele Schlupflöcher gestopft wurden; für Reiche und Selbständige wurde es so schwieriger, mit Abschreibungsmodellen ihre Steuern zu mindern. Dagegen stieg das Aufkommen aus der Lohnsteuer in vielen Ländern nur um etwa acht bis neun Prozent, die Körperschaftsteuer, die von Unternehmen entrichtet wird, sogar nur um drei bis Eichel vier Prozent. REUTERS W firmiert, läutet eine neue Runde im Preiskampf der deutschen Urlaubsriesen ein. Am Donnerstag nächster Woche wollen die C & N-Manager erstmals einen Billigkatalog vorstellen, in dem sie die Preise ihrer Hauptwettbewerber TUI und LTU um bis zu 20 Prozent unterbieten wollen. Als wichtigstes Schlachtfeld hat Neckermann die Dominikanische Republik ausgemacht, wo dann zwei Wochen Urlaub inklusive Flug und Hotel schon für weniger als 850 Mark zu haben sind. Ähnlich günstige Angebote hatte der Münchner Preisbrecher FTI erst kürzlich in einem Sonderprospekt angeboten. Auch die Billigtöchter von TUI („1,2 fly“) und LTU („smile & fly“) offerieren in ihren Winterprogrammen besonders günstige Urlaubstrips. Weil die C & NManager, anders als die großen Konkurrenten, noch immer keinen gesonderten Billigableger gegründet haben und ihrer Stamm-Marke Neckermann nicht schaden wollen, sollen die neuen Discount-Angebote bei der weniger bekannten Tochter Air Marin erscheinen. Der Mittelmeer-Spezialist fuhr in den vergangenen Jahren nur Verluste ein, weil er nach Aussagen von NeckermannChef Wolfgang Beeser zu viel Personal an Bord hatte. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 71 Trends AT O M W I R T S C H A F T T- A K T I E Unmoralisches Angebot Deal mit Risiken V ie Übernahme der britischen Mobilfunkgesellschaft One2One für knapp 20 Milliarden Mark durch die Deutsche Telekom birgt in den Augen vieler Analysten zwar Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Die könnten das Unternehmen teuer zu stehen kommen. Sommer „Der Kauf ist ein Schritt in die Zukunft, doch die Telekom hat sich da- lekom europaweit nur 12 Millionen Momit nicht nur 2,7 Millionen Kunden ein- bilfunk-Kunden, der deutsche Hauptgekauft“, sagt Michael Schatzschneider konkurrent Mannesmann dagegen 15 von der BHF-Bank, „sondern auch Ver- Millionen. Für den Kauf spricht jedoch, luste im zweistelligen Millionenbereich dass Telekom-Chef Ron Sommer damit – und das für mindestens drei Jahre.“ den Sprung ins internationale Geschäft Hinzu komme, dass One2One praktisch geschafft habe, betont Experte Schatzkein Eigenkapital habe, die Telekom in- schneider, „zumal der britische Markt vestiere deshalb fast den gesamten derzeit etwa um 70 Prozent im Jahr Kaufpreis in den Namen und die Zu- wächst“. Die amerikanische Investkunft der Marke. Obendrein müsse das mentbank Goldman Sachs stufte unUnternehmen „in die Expansion von mittelbar vor Bekanntgabe des Deals One2One investieren“, so Thierry die Aktie der Telekom zum Market Magnan von SG Securities, schließlich Outperformer hoch. Die Börsianer stehe die übernommene Firma selbst im jedoch reagierten zurückhaltend: Die britischen Markt nur an vierter Stelle. T-Aktie fiel am Freitag gegen den Trend Auch nach der Übernahme hat die Te- um 0,4 Prozent zurück. Ryan: Das Web ist für mich nicht in er- WERBUNG „Wir organisieren den Traffic“ Brendan Ryan, 56, Chef der Werbeagentur Foote, Cone & Belding Worldwide, über Werbung im Internet A. KULL / VISION PHOTOS SPIEGEL: Wie wichtig ist das Internet für die Zukunft der Werbung? Ryan: Ich glaube, die Auswirkungen werden enorm sein – nicht nur für die Werbung. Wir bekommen übers Netz endlich komplexe Informationen über die Konsumenten. Dadurch können wir viel besser verstehen, wer Ryan der Kunde ist. In Zukunft können Sie mit objektiven Daten sagen, auf welchem Weg eine Zielgruppe am effizientesten zu erreichen ist. SPIEGEL: Was unterscheidet Werbung im Internet von TV- und Printkampagnen? 72 ARGUM D or einer heiklen Entscheidung stehen die deutschen Stromkonzerne. Bereits im Herbst will der französische Strommonopolist Electricité de France (EdF) einen neuen Atomreaktor bestellen. Etwa sechs bis zehn Milliarden Mark soll der vom französischen Reaktorbauer Framatome gemeinsam mit Siemens entwickelte EPR-Meiler kosten. Die deutschen Energieunternehmen könnten sich, so die EdF-Offerte, mit 30 bis 40 Prozent an der Investition in die Zukunft des Atomstroms beteiligen. Damit stecken die Konzernchefs in der Zwickmühle. Im politischen Kampf haben sie immer wieder die Notwendigkeit der Reaktorfortentwicklung betont. Doch in Frankreich arbeiten wie in Deutschland schon jetzt zu viele Kraftwerke. Die meisten deutschen Energieproduzenten vertrauen zudem nicht auf die Siemens-Zusicherung, der neue Atomgigant werde die Kilowattstunde Strom deutlich billiger als das moderns- ster Linie ein Werbeinstrument. Nehmen Sie unseren Kunden Amazon. Wir wollen Ihnen nichts verkaufen, sondern Sie nur dazu bringen, die AmazonHomepage zu besuchen. Dort liegt es dann an Ihnen, ob Sie Bücher kaufen. Das heißt, wir organisieren den Traffic, den Verkehr in den virtuellen Shop. SPIEGEL: Macht es Sinn, auch für normale Produkte wie Bier oder Waschpulver im Internet zu werben? Ryan: Ich kenne kein sinnvolles Beispiel. Einer meiner Kunden wollte eine eigene Website für ein Fertiggericht. Ich habe ihn gefragt: Wer hat die Zeit, eine solche Seite zu besuchen, und was sollen wir den Kunden dort erzählen? Es gibt Websites für Produkte, da kann man sich nur wundern. Das kommt daher, dass Sie wie ein Dinosaurier wirken, wenn Sie auf eine CocktailParty gehen und keine eigene Website vorweisen können. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Leichtwasser-Reaktor (Computer-Simulation) te Gas- und Dampfkraftwerk produzieren. Nehmen die deutschen Stromherren das französische Angebot an, setzen sie sich dem Vorwurf aus, das Geld ihrer Aktionäre in unrentablen Prestigeprojekten zu verpulvern. Lehnen sie ab, verärgern sie Siemens und Framatome, belegen aber zugleich, dass sie selber dem Atomstrom keine Zukunft geben. Das würde ihre Position bei den im Herbst wieder beginnenden Ausstiegsgesprächen verschlechtern. Die Hoffnung, die Bundesregierung werde ihnen aus der Klemme helfen, hat Wirtschaftsminister Müller zerschlagen. Schadenfroh ermunterte der Minister die Atombosse zum Nukleareinstieg im Nachbarland. Der ehemalige Veba-Manager, der genau weiß, wie schlecht die Branche von der Rentabilität der Rieseninvestition denkt: „Ich verspreche Ihnen ausdrücklich, die Bundesregierung wird Ihnen keinen Stein in den Weg legen.“ Geld VERSICHERUNGSAKTIEN Potenzial nach oben V hält den Einstieg in Versicherungsaktien noch „für verfrüht“, traut ihnen aber langfristig Potenzial zu. Denn ähnlich wie die Banken könnten auch die Versicherungen von den ab 2001 geplanten deutlich niedrigeren Körperschaftsteuern profitieren. Favorit vieler Analysten ist zur Zeit die Münchener Rück. Der größte Rückversicherer der Welt soll demnächst in den Aktienindex Euro Stoxx-50 aufgenommen werden. Viele Fondsmanager, die den Index der 50 teuersten Firmen in Europa nachbilden, müssen die Papiere dann kaufen. erglichen mit anderen Branchen haben sich die Aktien von Versicherungen seit Jahresbeginn in ganz Europa besonders schlecht entwickelt. In Deutschland gingen die Kurse bis zu 30 Prozent zurück. Schlechte Karten haben die Versicherer vor allem wegen der steigenden Zinsen. Durch sie sind die Kurse der fest Aktien großer Versicherungsunternehmen 1. Januar 1999 = 100 verzinslichen Wertpapiere, die einen Allianz Axa Colonia Ergo Münchener Großteil der Kapitalanlagen von Versicherern ausmachen, deutlich gesunken. 110 110 110 110 Rück Doch spekulativ eingestellte Anleger wie der New Yorker Fondsmanager Heiko 100 100 100 100 Thieme preisen den größten deutschen Versicherer Allianz bereits wieder zum 90 90 90 90 Kauf an. Denn die ebenfalls gefürchtete, von der Bundesregierung angekündigte 80 80 80 80 Besteuerung von Kapitalerträgen aus Lebensversicherungen sei bereits in den Kur1999 1999 1999 1999 Quelle: Datastream sen verarbeitet. Brian Shea, VersicheJ F M A M J J A J F M A M J J A J F M A M J J A J F M A M J J A rungsexperte bei Salomon Smith Barney, leger spiegelt sich im V-Dax wider, der seit fünf Wochen dramatisch ansteigt. Er wird von der Deutschen Börse alle zehn Sekunden auf der Basis verschiedener Optionen auf den Dax und mittels einer ie Angst vor steigenden komplizierten mathematiZinsen und einer deutlischen Formel berechnet. Der chen Korrektur an den FiV-Dax ist ein Maßstab für nanzmärkten im Herbst bedie Volatilität, also für die lastet den deutschen AktienSchwankungsbreite, die Anleindex. Die Nervosität der Anger für den Dax in den folgenden 45 Tagen er30 % warten. Wer die zu er28 % 28,99% wartenden Ausschläge genau berechnen will, 26 % muss den Dax-Wert mit dem V-Dax-Wert und 24 % dem Faktor 0,0035 mulV-Dax tiplizieren. Bei einem 22 % Dax von 5010 und ei20 % nem V-Dax von 29 Prozent am FreitagnachJuli August 18 % mittag rechnen die Marktteilnehmer also damit, dass der Dax in 5600 den kommenden 45 Ta5500 gen um bis zu 509 5400 Punkte ausschlägt und Dax somit zwischen 4501 5300 und 5519 Punkten 5200 schwankt. Auf dem Höhepunkt des Crashs 5100 vom vergangenen Jahr Quelle: Datastream 5010 5000 hatte der V-Dax sein Allzeithoch von über 4900 Juli August 52 Prozent erreicht. AKTIENMARKT NEUER MARKT Index der Nervosität Schwergewichte mit Kursphantasie D d e r s p i e g e l R osige Zeiten prophezeien Aktienexperten den fünf nach ihrem Börsenwert wertvollsten Unternehmen des Neuen Marktes. Die vom Finanzdienst Bloomberg veröffentlichten Analysten-Einschätzungen zeigen ein klares Bild: Bei jedem Titel überwiegen die Kaufempfehlungen (siehe Grafik). Das Medienunternehmen EM-TV steht nach dem Kurseinbruch der vergangenen Wochen von über 20 Prozent ganz oben auf der Hitliste. „Die Firma könnte eine deutsche Walt Disney werden“, glaubt Jan Herbst von Sal. Oppenheim. Auch den Discount Broker Consors halten die Analysten nach dem Kursrückgang für ein Schnäppchen. „Die Aktie ist ungerechtfertigt heruntergezogen worden“, sagt Britta Graf von der Banque Nationale de Paris, „weil Händler die Rückschläge amerikanischer Online-Broker eins zu eins übertragen haben.“ Die Analystin rechnet damit, dass Consors am 16. August „ganz hervorragende Zahlen präsentieren wird“. Bei der Telefonfirma Mobilcom überzeugen Franz Rudolf von der HypoVereinsbank vor allem „die Stärke im Vertrieb, das innovative Marketing sowie das Engagement im Internet“. Auch dem Software-Unternehmen LHS sowie dem Elektronik-Dienstleister Medion trauen die Analysten große Wachstumsraten zu. LHS-Group Mobilcom Analystenurteile zu Aktien am Neuen Markt EM-TV Consors Medion 3 2 / 1 9 9 9 Quelle: Bloomberg kaufen halten verkaufen 73 Wirtschaft W E LT F I N A N Z E N „Greenspan, hilf!“ US-Notenbankchef Alan Greenspan ist der Superstar der Finanzszene. Er steuert die Weltmärkte mit einer Nuschelprosa, die vieles im Unklaren lässt – und von den Experten dennoch präzise verstanden wird. Neuerdings droht er wieder mit Zinserhöhungen: Die Börsen zittern schon. E beitstag für den US-Notenbankchef Alan Greenspan, 73, immer dann, wenn er sich mit seinen Gouverneuren mal wieder über die Höhe der Zinsen unterhalten muss. Draußen im Land verfolgen Trader, Broker und Spekulanten am TV-Schirm den Auftritt und versuchen, ihre Schlüsse zu ziehen. Durchzogen Sorgenfalten das Gesicht des großen Vorsitzenden, oder war da s ist kurz vor neun im Stadtzentrum von Washington, die TV-Leute warten gebannt hinter ihren Kameras. Gleich wird hier ein hagerer Herr mit ergrautem Haar erscheinen, der aussieht wie Woody Allen nach einem Friseurtermin. Der Senior wird mit flinkem Eulenblick durch seine Brillengläser hindurch die Straße entlangpeilen, die hier C Street heißt, ein Blick nach rechts, ein Blick nach links. Dann wird er mit knöchrigen Händen seine Aktentasche noch ein bisschen fester packen. Er wird sich vom Bürgersteig abstoßen, federnd über den Asphalt laufen und Sekunden später hinter der Tür der Zentralbank verschwinden. Mit dem stummen Trab vor den Kameras der Nachrichtensender beginnt der Ar- 6600 6. 12. 96 Nach wiederholten Rekordständen des Dow warnt 6400 Greenspan vor irrationalem Überschwang an der Wall Street Tagesminus 0,9 % 2. 6. Dezember 6200 Die Macht der Worte Einfluss von Notenbankchef Alan Greenspan auf den Dow Jones 4750 18. 7. 95 Greenspan deutet an, dass es keine weiteren Zinssenkungen gibt 4700 Tagesminus 4650 1,05% 17. Juli 4600 21. 1996 3834 74 AP Broker an der New Yorker Börse 1995 nicht doch ein verschmitztes Lächeln? Und war sein Schritt schleppend oder eher schwungvoll? Quollen Papiere aus seiner schwarzen Ledermappe oder war sie eher dünn? Kurzum: Wird er die Börse nach oben treiben oder in den Abgrund stoßen? Achtmal im Jahr wiederholt sich dieses Ritual, treffen sich zwölf führende Herren der Zentralbank zu ihrer wichtigsten Sitzung. Dann beraten sie über die Höhe der amerikanischen Leitzinsen, und das ist wie wenn die Offiziere des größten Supertankers der Welt mit ihrem Kapitän über Kurs und Geschwindigkeit für die nächsten Wochen debattieren. Höhere Zinsen verteuern das Geld, und das bedeutet weniger Treibstoff für die Wirtschaft: weniger Mittel für Konsum und Investitionen, aber dafür keine Inflationsd e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 gefahr. Gleich bleibende Zinsen, das heißt: weiter wie bisher. Niedrigere Zinsen dagegen bedeuten: Volldampf voraus. Am Dienstag in zwei Wochen ist es wieder so weit. Selten fieberten Manager, Spekulanten und Kleinanleger einer Sitzung des mächtigsten Finanzgremiums der Welt so entgegen wie diesmal. Die Börsenkurse zucken seit Wochen schon, allerorten herrscht Unsicherheit. „Die Leute sehnen sich nach Orientierung“, sagt Andy Brooks, Aktienhändler bei der Fondsgesellschaft T. Rowe Price in Baltimore. Und ein Kleinanleger, der in den vergangenen Wochen um ein paar zehntausend Mark ärmer wurde, schrieb verzweifelt auf einem Online-MessageBoard: „Greenspan, hilf!“ Doch ob das Orakel in Washington beruhigend auf die Zitterbörse wirken wird, ist fraglich. Plötzlich zeigen sich bedrohliche Signale, deuten ökonomische Kennzahlen auf Inflation hin, in Amerika vergangene Woche gleich zweimal: Erst stieg die Produktivität langsamer als erwartet, dann zogen auch noch die Beschäftigungszahlen an, was eine Verknappung der Arbeits- 11 400 börsen immer schneller sackten bis hin zum Crash im Oktober. Wie damals sinkt der Wert 1,6 % des amerikanischen Dollar ge8200 genüber dem japanischen Yen 11 000 10714 und den europäischen Währungen neuerdings rapide, die AkQuelle: Datastream tienkurse sind gefolgt. Der Tages8000 26. Juli 30. deutsche Dax entfernt sich imminus 10 600 mer mehr von seinem Höchst1,0 % 1999 stand im Juli vergangenen Jahres. Einst heiß begehrte Inter6. 10.Oktober netfirmen verloren nicht selten 7800 über die Hälfte ihres Börsenwertes: Amazon.com minus 55 Prozent, America Online minus 50 Prozent. Paradoxerweise bedroht auch der zaghafte Aufschwung in Asien und Europa das Finanzgefüge. In den vergangenen drei Jahren hatten die 1998 kraft Amerikaner nicht unwesentlich von Kriund damit sen in anderen Ecken der Welt profitiert. drohende Lohnstei- Das Asiendesaster bescherte ihnen billige gerungen signalisiert. Importe, günstige Rohstoffe und jede Men8600 Sah es noch vor wenigen ge Anlagekapital. TagesWochen nach einem granNun steigen die Rohstoffpreise wieder, plus 8400 diosen Finanzsommer aus, ist Ausländer und Amerikaner legen mehr 4,1% die Siegesstimmung an der Geld in anderen Weltteilen an, weil sie sich 1997 8200 Wall Street, in Frankfurt oder dort höhere Renditen versprechen. London fürs erste verfloUm den Dollar zu stabilisieren, Kapi15. 10. 98 gen. Schon ziehen Analysten tal anzulocken und drohender Inflation Greenspan kündigt 8000 Parallelen zum Sommer 1987, entgegenzuwirken, bleibt Greenspan kaum weitere Zinssenkungen 12.Oktober 16. der US-Notenbank an 7800 als die Aktien an den Welt- eine andere Wahl, als die Zinsen anzuheben. Mit fein gedrechselten Sätzen bereitet der Zentralbankchef seit einigen Wochen die Märkte darauf vor. „Greenspeak“ nennen sie an der Wall Street die ungewöhnliche Sprechweise des Bankiers. Es ist eine verschnörkelte Nuschelprosa, voller Nebensätze, Relativierungen, Leerphrasen, getragen von der Sorge, mit direkteren Worten unnötiges Unheil in den Börsensälen anzurichten. Denn Mr. Dollar will die Märkte nicht schubsen, sondern sanft geleiten. Am Grad seiner sprachlichen Unschärfe können geübte Wall-Street-Analysten ziemlich präzise erkennen, was Greenspan wirklich meint und welche Reaktionen er von den Märkten erwartet. „Debatten über unseren Geldwert“, lautet ein typischer Satz in einer Rede, die zum Absacken der Kurse führte, „spiegeln Erwägungen über die Art und Weise wider, wie wir uns entschieden haben zu regieren, und vielleicht noch fundamentaler, Diskussionen über die Grundwerte, die unsere Redner Greenspan: „Seit ich Zentralbanker bin, habe ich gelernt, bedeutungsvoll zu murmeln“ Tagesminus 29. 7. 99 Greenspan äußert, dass die Kurse nicht ewig steigen können AP 8. 10. 97 Greenspan warnt vor aufgeblähten Kursen d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 75 Wirtschaft DPA Gesellschaft bestimmen sollen.“ Kenner der schlimmsten Finanzkrise der Nach- schen Preissteigerungen geplagt sein: Vollhorchten auf: Hier ging es um Kritik an kriegszeit, als nirgendwo auch nur die beschäftigung, Börsenrekorde, Konsumum sich greifender Gier und Übermaß. kleinste Hoffnung auf Erholung keimte, rausch und strammes Wachstum, so eine „Seit ich Zentralbanker bin, habe ich senkte Greenspan überraschend die Zin- Mischung kann es laut Lehrbuch ohne Ingelernt, bedeutungsvoll zu murmeln“, sag- sen. Diese Order und die zwei weiteren im flation eigentlich nicht geben. Dennoch ließ te Greenspan einmal. Doch wie sehr der Oktober wirkten, als habe jemand mit ei- Greenspan die Wirtschaft laufen, hielt die Bankier auch murmeln mag, seine Reden ner gigantischen Kanüle Traubenzucker in Zinsen flach, so lange es irgend ging. Greenspan ist ein hölzerner Zahlenbewegen die Märkte, vernichten Milliar- den Kreislauf der Weltwirtschaft injiziert. denwerte oder schaffen Aktiengewinne – „Danke, danke Alan Greenspan“, lobte freak, er verschlingt Statistiken, Indikatozumindest kurzfristig. Am langfristigen das US-Wochenblatt „U. S. News & World ren und Marktanalysen wie andere einen Aufwärtstrend der Börse haben auch Report“ ehrfürchtig. Und das Wochenblatt Hemingway-Roman. Er wendet die Daten seine Kurswarnungen bisher nichts ge- „Fortune“ schrieb: „In einer Welt des Auf- hin und her, nur um seine Entscheidungen ändert. ruhrs und der Unsicherheit ist es schön zu schließlich doch aus dem Bauch zu fällen. Seine Lebensgewohnheiten sind den Wenn der Chef spricht, herrscht ge- wissen, dass wenigstens einer das Steuer in Amerikanern bestens bekannt, wie sonst spannte Ruhe in den Tradingrooms der der Hand hält.“ Investmentbanken. In sorgfältiger VorSein kunstvoller Kurs, die Inflation zu die der Hollywood-Stars. Viele wissen: arbeit haben die Profis Szenarios für mög- bändigen, ohne die Wirtschaft abzuwür- Allmorgendlich lässt sich der mächtigste liche Äußerungen erarbeitet. Fallen Schlüs- gen, hat ihm sogar Lob von der europäi- Bankier der Welt anderthalb Stunden in selworte, wie etwa abstrakte Erläute- schen Linken eingetragen, die ihn zeitwei- der Badewanne treiben, bis er die neuesten rungen zur Geldentwertung, wird es lig als Vorbild für die allzu neoliberale Bun- Tabellen und Finanzstudien durchgesehen hektisch. desbank pries. Oskar Lafontaine fand die hat. Im Wasser noch kritzelt er an seinen Reden herum und bearbeitet die „Wenn die Knappheit des ArPost. In der Badewanne „ist mein beitsmarktes nicht durch weiter Intelligenzquotient um 20 Punksteigende Produktivitätszuwächte höher als am Schreibtisch“, se ausgeglichen wird, entstehen sagt er. notwendigerweise inflationäre „Er ist einer dieser Menschen, Tendenzen“, sagte Greenspan die genau wissen, wie viele Ende Juli vor dem US-Senat, verFlachkopfbolzen in einem 1964er steckt in einer zweistündigen Chevrolet stecken“, beschreibt Rede. Am nächsten Tag sackte ihn ein Freund, „und was es für der Dow Jones um bis zu 200 die amerikanische Wirtschaft bePunkte. deuten würde, wenn man drei Kein Spekulant der Welt traut davon wegließe.“ sich, gegen „Greenspeak“ zu Ein Mann des Volkes ist er wetten. Als drehe er an einem dennoch nicht, nur selten zieht feinen Rädchen, steuerte der Noes ihn hinaus in die wirkliche tenbanker in den vergangenen Welt. Die Elendsviertel der ameJahren mit seinen Reden den rikanischen Großstädte kennt er Geldfluss an den Finanzmärkten. fast nur vom Hörensagen, selten Im Dezember 1996 warnte besucht er Fabriken, Einkaufser – für seine Verhältnisse deutzentren oder Fast-Food-Restaulich – vor dem „irrationarants. Seine Gesprächspartner len Überschwang“ an der Wall sind die Ökonomen der ZentralStreet; sofort stürzte der Dow bank und die Wirtschaftseliten Jones zeitweilig um 166 Punkte des Landes: Finanzminister, Maab. Knapp drei Monate später Präsident Clinton, Greenspan: Immer ein bisschen abwesend nager, Investmentbanker. kündigte er eine mögliche Auf Empfängen gibt er sich als Antistar, Zinserhöhung an – die Kurse sackten sechs Politik des Amerikaners „weitsichtig“, im Wochen lang nach unten. Im Herbst 1997 Gegensatz zum Wirken seiner deutschen schrullig, verloren, unansprechbar. Still mahnte er, die Wirtschaft sei auf einem Kollegen, die aus übertriebener Inflations- trabt er seiner zweiten Frau Andrea Kurs, der „nicht durchzuhalten“ sei: Die angst die Zinsen viel zu hoch hielten und Mitchell hinterher, einer NBC-Reporterin, Börse brach ein. deshalb für die hohe Arbeitslosigkeit mit- die er 1997 nach über drei Jahrzehnten als Single heiratete. Sein bevorzugter AufGreenspan, der sich während des Stu- verantwortlich seien. diums sein Geld als Saxofonspieler einer Natürlich ist Greenspan kein Förderer enthaltsort sind die Saalecken, immer ein Swingband verdient hatte und sich heute des europäischen Versorgungsstaats und bisschen abseits vom Trubel und immer mit Tennis fit hält, bestimmt seit 1987 die schon gar kein Freund der Sozialdemo- ein bisschen abwesend. Als ein JournaGeschicke der amerikanischen Notenbank. kratie: „Ob es gut ist oder schlecht, ein list fragte, wie es ihm gehe, antwortete Für Spekulanten, Banker und Kleinak- nachhaltiger kapitalistischer Prozess treibt Greenspan: „Das darf ich Ihnen nicht tionäre ist er eine Art Übervater geworden, uns zu mehr Wohlstand.“ Es werde immer sagen.“ Wie lange er noch im Amt bleibt, ist under ihnen bei allzu viel Übermut gutmütig schwerer für einzelne Nationen, einen Fürauf die Finger klopft und sie in Finanzkri- sorgekapitalismus zu betreiben: „Stattdes- gewiss. Seine Amtszeit läuft im nächsten sen vor dem Schlimmsten bewahrt. Das sen, so scheint es, öffnen sich Nationen zu- Jahr aus, ob Präsident Bill Clinton sie noch amerikanische Magazin „Time“ erklärte nehmend dem vollen Wettbewerb, auch einmal verlängert, ist nicht gesichert. Würde Greenspan vom Volk direkt geihn zusammen mit dem ehemaligen US- wenn dies rau ist, um auf den Weltmärkten wählt, wäre ihm wohl eine Mehrheit siFinanzminister Robert Rubin und seinem bestehen zu können.“ heutigen Nachfolger Larry Summers zum Richtig ist, dass er stets etwas mutiger cher: Der Chef einer Investmentbank sagt, „Komitee zur Rettung der Welt“. war als seine deutschen Kollegen. Nach was zumindest alle an der Wall Street denZum Superstar wurde er im vergange- traditioneller Lehre müsste die boomende ken: „Hoffentlich wird er nie pensioniert.“ nen Herbst. Am 29. September, mitten in amerikanische Wirtschaft längst von raMathias Müller von Blumencron 76 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite MELDEPRESS Steuerreformer Struck: „Nicht immer sagen – das geht nicht!“ STEUERN „Schröders Minenhund“ Die Gewerkschaften sind entsetzt, die Wirtschaft ist begeistert. Doch auch in der SPD wächst die Unterstützung für die radikalen Steuerpläne von Fraktionschef Peter Struck. 78 AP D er CDU-Bundestagsabgeordnete Gunnar Uldall galt selbst in der eigenen Partei lange als Störfall. Mit seiner Idee einer radikalen Steuerreform, die alle Ausnahmen beseitigt und die Steuersätze drastisch senkt, erntete der Finanzexperte viel Spott und Häme. Vergangene Woche kam für Uldall ganz überraschend die Stunde der Genugtuung. Ausgerechnet SPD-Fraktionschef Peter Struck griff die Idee auf. Strucks Traum: „Ein ganz einfaches System mit höchstens drei Steuersätzen: 15, 25 und 35 Prozent – und dann Schluss!“ Die Genossen waren verschreckt, die Opposition ziemlich baff, nur der Steuerrevoluzzer Uldall nahm’s gelassen. Denn schon vor zwei Jahren hatte Struck ihm anvertraut: „Wenn wir beide zusammen eine Steuerreform machen müssten, dann könnten wir uns ruck, zuck einigen.“ Struck erging es nun wie einst Uldall. Als sei der Fraktionschef irgendein durchgeknallter Hinterbänkler, wurde er von den eigenen Leuten abgemeiert. „Neoliberal“ und „absurd“ sei das Konzept, wetterte Strucks Stellvertreter Joachim Poß. Die Gewerkschaften waren wieder einmal entsetzt. Nur Wirtschaftsverbände und Ökonomen klatschten Beifall. Doch es war kein Ausrutscher in der Hitze des Sommers, der Struck da widerfahren war. Der SPD-Fraktionschef steht zu seiner Empfehlung. Und er möchte sie, wenn auch erst nach der nächsten Wahl, umsetzen: „Wir können doch nicht immer genug. Finanzminister Hans Eichel, derzeit im Urlaub auf Langeoog, vergatterte deshalb vergangene Woche telefonisch die Koalitionsspitzen und die rot-grünen Steuerexperten zum Stillhalten. Zwar sympathisieren Eichels Ministeriale ebenfalls mit einer radikalen Reform, doch eine verfrühte Diskussion, glauben sie, könnte alles torpedieren. In seinem Rundruf mahnte Eichel: Heizt die Debatte nicht weiter an! Zu spät. Der Streit über Strucks Modell hat sich längst zu einer Grundsatzdebatte über den künftigen Kurs der Koalition ausgeweitet. Auch der Verursacher des Disputs sieht nicht ein, warum er nun schweigen sollte – sehr zum Ärger des Finanzministers. Im Fraktionsvorstand raunzte Struck seinen Stellvertreter Poß an: „Ich muss euch nicht fragen, wenn ich mich zu irgendeinem Thema äußere.“ Und so scharen sich, nach anfänglichem Zögern, immer mehr Unterstützer hinter Struck. Die SPD, fordert Bremens Bürgermeister Henning Scherf, dürfe vor dem Thema „nicht weglaufen“. Er empfiehlt einen Schulterschluss mit der Union: „Ohne die wird das ganz schwierig.“ Auch der Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck zeigt Sympathie: „Wir brauchen auf mittlere Sicht ein einfacheres Steuersystem.“ Breite Zustimmung findet die Radikalreform insbesondere beim SPD-Nachwuchs. „Der Steuerdschungel muss ein Ende haben“, findet der Abgeordnete Christian Lange, 35, der zu den reformfreudigen Jungen der SPD-Bundestagsfraktion zählt. Und die Grünen-Vordenker Oswald Metzger und Klaus Müller bemängeln allenfalls, dass die Einsicht bei den Genossen doch sehr spät erfolge. Müller: „Es wäre schön gewesen, die SPD hätte schon während der Koalitionsverhandlungen so gedacht.“ Bei vielen gestandenen Sozialdemokraten überwiegen aber die alten Reflexe. Da gilt jeder Versuch, die Steuersätze für Besserverdiener kräftig zu senken, als Verrat. Schließlich hatte Oskar Lafontaine, als er mit Union und Liberalen über deren Steuerkonzept stritt, den Spitzensatz von 53 Prozent lange für nicht verhandelbar erklärt. Auch Struck wetterte damals gegen die „Ungerechtigkeiten“ der Petersberger Steuerreform. Das Ende der Steuerfreiheit bei den Schichtzuschlägen – für ihn damals „absolut unakzeptabel“. Heute hält es Struck, ebenso wie die Mehrheit der Ökonomen, für eine Mär, dass ein höherer Spitzensatz automatisch ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit bringt. Tatsächlich führt das geltende Recht mit seinen Sonderregeln dazu, dass vor allem Vielverdiener ihre Abgabenlast trickreich minimieren können. Eine radikale Reform könne deshalb wieder ein Stück Gerechtigkeit herstellen, glaubt Struck: „Besser Italien-Urlauber Schröder: Richtige Richtung die automatische Sperre hochziehen und sagen: Das geht nicht!“ Der Pfeifenraucher erfreut sich dabei der Unterstützung des Kanzlers. Zwar gab es in den Tagen vor dem Coup keine direkte Abstimmung, doch schon vor Wochen hatte Gerhard Schröder in kleiner Runde signalisiert, dass er ähnlich denke. Der Vorstoß, befand denn auch Schröders Staatsminister Hans Martin Bury, „geht in die richtige Richtung“. Friedrich Merz, der Finanzexperte der Unions-Bundestagsfraktion, spöttelt schon: „Der Struck mutiert zu Schröders Minenhund – so wie einst Möllemann bei Genscher.“ Dennoch, so beharren Strucks Kritiker, komme die Debatte zur Unzeit: Renten, Sparpaket, Bündnis für Arbeit – all dies strapaziere den Koalitionsfrieden schon d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Weniger Subventionen, Steuergeschenke und Schlupflöcher... Eine Auswahl wichtiger direkter Zuschüsse und steuerlicher Erleichterungen, die der Staat heute gewährt: Volumen in Milliarden Mark Ehegattensplitting Degressive Abschreibung für Betriebe Kilometerpauschale und Arbeitnehmerpauschale bei 500 Mark Begrenzung Eigenheimzulagengesetz Absatzzuschüsse für die deutsche Steinkohle Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte Absetzbarkeit der Kirchensteuer Sonderausgabenabzug für eigengenutztes Wohneigentum Steuerbefreiung der Zuschläge für Nachtarbeit u.a. Steuerbegünstigung für Strom bei bestimmten Unternehmen Sparerfreibetrag Investitionszulage für Ausrüstungen Umsatzsteuerermäßigung für kulturelle u.a. Leistungen 40,0 Zuweisungen an die neuen Länder für betriebliche Investitionen Zinszuschüsse für Wohnraummodernisierung in Ostdeutschland Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur Kinderkomponente im Rahmen der Wohneigentumsförderung Umsatzsteuerermäßigung für Umsätze der Zahntechniker Wohnungsbau-Prämiengesetz Absetzbarkeit der Beiträge an Parteien Dieselverbilligung Landwirtschaft Zuschüsse an landwirtschaftliche Unfallversicherung Eigenkapitalhilfeprogramm zur Gründung selbständiger Existenzen Zuschüsse an den Steinkohlenbergbau zum Ausgleich von Kapazitätsanpassungen 12,6 8,5 9,2 7,5 4,9 4,7 4,6 3,6 3,5 3,3 3,0 1,6 1,4 1,3 1,2 1,0 1,0 1,0 0,8 0,5 0,4 0,4 2,5 ... stattdessen niedrigere Steuern SPITZENSTEUERSATZ 55,9 % Steuertarife für Unverheiratete geltendes Recht, einschließlich Solidaritätszuschlag Reformvorschlag Struck, Uldall, FDP 50 % 38,7 % 40 % EINGANGSSTEUERSATZ 25,2% 30 % 35 % SPITZENSTEUERSATZ ab 60 000 Mark 25 % 20 % bei 20 000 bis 60 000 Mark 15 % EINGANGSSTEUERSATZ 10 % GRUNDFREIBETRAG 13 000 0% 0 20 40 60 Mark 80 100 120 Mark Mark zu versteuerndes Jahreseinkommen in tausend Mark ein Höchstsatz von 35 Prozent, der auch bezahlt wird, als ein theoretischer Satz von 53 Prozent, der nur auf dem Papier gilt.“ Der Kahlschlag würde zudem eine enorme Vereinfachung der Steuerregeln bringen. „Jeder könnte seine Steuererklärung auf einer Postkarte abgeben“, glaubt FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms. Dazu trägt auch der Stufentarif bei. Selbst Eichels Ministeriale lobten jüngst in einer Studie, dass sich das Modell „relativ einfach darstellen“ lasse und „leicht verständlich“ sei. Die Bundesrepublik, die sich als einzige große Industrienation an eine komplizierte „linear-progressive“ Tarifkurve klammere, stelle „international eine Ausnahme“ dar. Trotzdem schrecken viele Politiker vor der Stufenlösung zurück. Denn sie fürchten, dass es zu Sprüngen in der Steuerbelastung komme: Wer nur ein paar Mark mehr verdiene, der müsse plötzlich 25 statt 15 Prozent zahlen. Die Kritiker verkennen freilich, dass der höhere Satz nicht für das gesamte Einkommen gilt – sondern nur für jenen Teil, der die Grenze überschreitet. Wer also etwa über ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 30000 Mark verfügt, zahlt auf die ersten 13000 Mark, das Existenzminimum, überhaupt keine Steuern. Für die nächsten 7000 Mark zahlt er 15 Prozent, also 1050 Mark. Jene 10 000 Mark, die jenseits der 20 000-Mark-Grenze liegen, werden mit 25 Prozent belastet, also mit 2500 Mark. Noch aber ist all dies graue Theorie. Um die Debatte mit Zahlen zu unterfüttern, will Struck seine Reform nun von den Experten des Finanzministeriums und der Fraktion durchrechnen lassen. Bislang gibt es allein Schätzungen der Opposition. Demnach würde das Drei-Stufen-Modell ein Loch von über 100 Milliarden Mark in die Staatskasse reißen. Gleichzeitig ließen sich aber, wie Gunnar Uldall errechnete, rund 60 Milliarden Mark durch die „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“ einsammeln, wie das Streichen von Ausnahmen im Finanzdeutsch heißt. Welchen Proteststurm solch ein Kraftakt entfachen würde, muss der Regierung spätestens nach ihren ersten zaghaften Reformschritten klar sein. Schon ihr Vorhaben, auf die Teilwertabschreibung zu verzichten oder Bewirtungsspesen nicht mehr anzuerkennen, provozierte Protest – mit der Folge, dass die Regierung prompt zurückschreckte. Peter Struck ist dennoch zuversichtlich, dass sein Versuchsballon nicht zerplatzen wird: „Man kann den Ballon ja auch wieder einholen“, sagt er, „und irgendwann wieder steigen lassen.“ Dem Kanzler, glaubt Bremens Regierungschef Scherf, wird das gefallen: „Der lauert auf eine radikale Reform. Schröder will doch zeigen, dass er zu großen Schritten fähig ist.“ Horand Knaup, Ulrich Schäfer 79 Wirtschaft K R I M I N A L I TÄT „Ganz heiße Kiste“ Das Bundeskriminalamt schlägt Alarm: Nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden unterwandert die italienische Mafia systematisch das deutsche Baugewerbe. S als Angehörige der Mafia. In den Akten der Italiener tauchen sie im Zusammenhang mit Waffenhandel, Rauschgiftschmuggel und Mord auf. Mit Sorge beobachten die Landeskriminalämter, dass italienische Mafia-Clans Deutschland zunehmend als Operationsgebiet nutzen. Immer häufiger stoßen deutsche Behörden neuerdings auf dubiose Baufirmen, die ihre Leistungen zu Dumping-Preisen anbieten, aber weder Steuern noch Sozialabgaben bezahlen und blitzschnell von der Bildfläche verschwinden, wenn sie ins Fadenkreuz polizeilicher Ermittlungen geraten. Diese Erkenntnisse haben das Bundeskriminalamt derart alarmiert, dass die Beamten inzwischen eine eigene Projektgruppe mit dem Arbeitsnamen „Casa“ einsetzten. Ihr Auftrag: die Mafia-Aktivitäten in der deutschen Bauwirtschaft aufzuklären. „Es gibt kaum noch eine größere Baustelle, die sauber ist“, klagt Bernhard Nimscholz, Abteilungsleiter im Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen. Die Baubranche sei in Ballungszentren bereits von einer kriminellen Subunternehmerszene durchsetzt. Das sei eine „ganz heiße Kiste, weil wir es hier mit Organisierter Kriminalität zu tun haben“. Das „Netzwerk von inkriminierten Subunternehmen“ ist laut BKA besonders im „Holz- und Bautenschutzgewerbe, beim Einbau genormter Baufertigteile, Oberbodenverlegung und Fugenarbeiten“ aktiv. Nach den Erkenntnissen des BKA verlagern die Italiener ihre Aktivitäten nach Deutschland, seit die italienische Polizei die Bekämpfung der Organisierten Hausdurchsuchung bei L.: Fuhrpark mit Ferrari Kriminalität (OK) verstärkt hat. Die Bau-Mafia bildete in der Bundesrepublik überall da Stützpunkte, wo sich in den sechziger Jahren italienische Gastarbeiter angesiedelt hatten. Von den etwa 600 000 Italienern in Deutschland leben zwei Drittel seit mehr als zehn Jahren hier. Fast 200 000 wohnen in Baden-Württemberg, in Nordrhein-Westfalen 150 000. Casa-Auswerter haben sieben Ermittlungsverfahren in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen und Baden-Württemberg analysiert, in die MafioBei L. beschlagnahmtes Bargeld si verwickelt sind. 70 000 Mark in irakischer Währung KÖLNER EXPRESS KÖLNER EXPRESS ie nennen ihn den „Milliardär“. Der 47-jährige Carmine L., der aus der ’Ndrangheta-Hochburg im süditalienischen Kalabrien stammt, machte jahrelang diesem Namen alle Ehre: Er wohnte in einer luxuriösen Villa in Pulheim bei Köln, zu seinem Fuhrpark gehörten Traumautos von Ferrari und Mercedes. Derzeit lebt der Mann bescheidener – er sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Steuerhinterziehung und Abgabenverkürzung. Die Ermittlungsgruppe der Kölner Kripo mit dem Decknamen „La Punta“ (die Spitze) beschlagnahmte Vermögenswerte des „Milliardärs“ in Deutschland, Italien und den Niederlanden im Wert von 18 Millionen Mark, darunter auch einen Koffer mit 70 000 Mark Bargeld in irakischer Währung in seiner Pulheimer Villa. Carmine L., so der Vorwurf, gehöre zu den führenden Köpfen einer Organisation, die dabei ist, die deutsche Baubranche zu unterwandern. Einige Mitglieder sind den italienischen Behörden bestens geläufig – 80 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Bauarbeiten an ICE-Trasse Köln–Frankfurt: Bei Die Staatsanwaltschaft Hagen führt ein Großverfahren gegen zeitweise bis zu 20 Beschuldigte, die nach Angaben des Hagener Staatsanwalts Schlüter innerhalb der letzten zehn Jahre mit Hilfe von Scheinfirmen und Schwarzarbeitern Steuern und Sozialabgaben „im dreistelligen Millionenbereich“ abgezockt haben sollen. Unter den Beschuldigten, von denen neun in Haft sitzen, sind acht Italiener. Die Szene sei, so Schlüter, „sehr konspirativ angelegt und kriminell verfestigt. Das System basiert darauf, dass in Deutschland Arbeit teuer ist“. DPA J. GIRIBAS schäftsgebaren abrupt. Der Betrieb kenbach und Straßenüberführung an der schließt zu Dumpingpreisen Werkverträge Kreisstraße 20 – sprinteten Arbeiter eines mit Generalunternehmen auf Großbau- Subunternehmens aus Halle, überwiegend stellen ab, schickt überwiegend Schwarz- Albaner, in die Wälder, wenn die Fahnder arbeiter und zahlt fortan weder Steuern vom Arbeitsamt zur Kontrolle kamen. noch Sozialabgaben. Im Gegenteil: Mit Diese Firma, so Honsberg, sei eine „reine Hilfe von Scheinfirmen werden „scarichi“, Briefkastenfirma“, geführt von dem Itasogenannte Abdeckrechnungen, ausge- liener Giuseppe F., dem „Kontakte zu kristellt, die Einnahmen auf dem Papier auf minellen Organisationen in der Heimat“ Null drücken und bisweilen sogar das nachgesagt würden. Finanzamt, das mittlerweile eine Unbe„In manchen Bereichen“, sagt auch denklichkeitsbescheinigung ausgestellt Konrad Freiberg von der Gewerkschaft hat, zur Erstattung nie gezahlter „Vor- der Polizei, „ist die illegale Beschäftisteuer“ veranlassen. Wenn der Schwin- gung so weit fortgeschritten, dass nach del auffliegt, ist die Firma nicht mehr marktwirtschaftlichen Maßstäben legal arexistent und der Geschäftsführer ver- beitende Firmen kaum noch existieren schwunden. können.“ Erfolgreiche Ermittlungen geFinanzermittler der Kripo entdecken im- gen die Szene, klagt Freiberg, würden immer häufiger in der Baubranche Geldflüs- mer noch durch das Kompetenzgerangel se in Größenordnungen, die mit normaler zwischen Arbeits- und Ordnungsämtern, Geschäftstätigkeit nicht mehr erklärbar Zoll, Finanzämtern und Polizei sowie sind. „Die Namen der Akteure lassen den Schluss zu, dass Beziehungen zur italienischen OK bestehen“, so ein Fahnder. Die CasaLeute stießen bei ihren Recherchen beispielsweise auf einen MafiaClan aus dem Südosten Siziliens, der dort zu den führenden Familien in der traditionell mafios unterwanderten Bauwirtschaft zählt und jetzt offenbar in Deutschland aktiv ist. Aussteigern oder Verrätern in den italienischen Subunternehmen drohen laut BKA „Sanktionen bis zum Mord“. Die Lage der deutschen Bauwirtschaft erleichtert der Mafia das kriminelle Geschäft: Viele Firmen Razzia auf Berliner Baustelle: Suche nach Illegalen haben in den vergangenen Jahren Personal abgebaut. Ohne Subunternehmen durch unzureichenden Datenaustausch ersind sie heute kaum noch in der Lage, schwert. einen Großauftrag abzuwickeln. Da ArDie Hauptstadt Berlin ist bislang die einbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe zige Kommune, in der sich eine gemeinsaillegal ist, vergeben sie ganze Werkauf- me Ermittlungsgruppe um die Schwarzarträge, für die sie wiederum Rechnun- beit kümmert. Nachdem auf den dortigen gen von den Subunternehmern erhalten. Baustellen immer häufiger illegale JugosGanz legal. lawen mit falschen italienischen Pässen Im Saarland ermittelt die Staatsanwalt- aufgefallen waren, ermittelte die Arbeitsschaft gegen 70 überwiegend italienische gruppe „Doku“ in den vergangenen zwei Beschuldigte und einen deutschen Unter- Jahren in 370 Fällen wegen Handels und nehmer, der gemeinsame Sache mit den Besitzes gefälschter Ausweise, die alle aus kriminellen Subunternehmern gemacht ha- Neapel stammten. ben soll. Es geht um Dumpingpreise und Kriminaloberrat Holger Bernsee von der hinterzogene Steuern in Millionenhöhe. Berliner Kripo: „Die Spur führte zu einem Durch die Machenschaften geriet ein Pizzeria-Besitzer in Berlin, der sich ganz ganzer regionaler Bereich der Baubranche offen als Camorra-Angehöriger ausgab. ins Wanken. Der Mann hatte auch Führerscheine, Auch die Gewerkschaften sind inzwi- Falschgeld, Waffen und Rauschgift im schen aufgeschreckt. Im Baugewerbe, Angebot.“ Inzwischen dehnt sich die Mafia auch im glaubt Bernd Honsberg von der IG Bau, werde durch kriminelle Banden „mittler- Osten aus.Auseinandersetzungen verschieweile genauso viel Geld gemacht wie im dener Mafia-Familien untereinander und die Rezession am italienischen ArbeitsDrogen- und Frauenhandel“. Gewerkschafter informierten das Ar- markt hätten, so das BKA, dazu geführt, beitsamt Koblenz im Juni über Schmu dass die ursprünglich nur in Westdeutschbeim Bau der ICE-Trasse Köln–Frankfurt. land operierenden Bosse „ihre kriminellen An drei Baustellen – Landschaftsbrücke geschäftlichen Aktivitäten in die neuen LänLogebachtal, Stützwand Mülldeponie Lin- der“ verlagerten. Andreas Ulrich Kontrollen sprinteten Arbeiter in die Wälder Kriminelle gründen, meist mit Hilfe eines italienischen Strohmanns, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Für die notwendige Eintragung in die Handwerksrolle suchen sie einen korrupten deutschen Handwerksmeister, der gegen Schmiergeld seinen Titel hergibt. Diese GmbHs stellen anfangs einige Arbeiter legal ein, melden sie bei der Kranken- und Sozialversicherung an und zahlen brav Abgaben und Steuern. Sobald die „legale“ Aktivität der Firma aktenkundig ist, ändert sich das Ge- d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 81 Wirtschaft AU T O I N D U S T R I E Daimler unter Druck Konzernchef Schrempp will den Vorstand des deutsch-amerikanischen Autoriesen deutlich verkleinern. Ein mögliches Opfer: Finanzvorstand Gentz. Der Absturz Die DaimlerChrysler-Aktie seit der Fusion im Vergleich zum Dow-Jones-Index 16. November 1998 = 100 125 120 115 110 105 Dow-JonesIndex 100 1998 95 N 82 DaimlerChrysler D 1999 J F M A M J J A DPA S o liebt es Jürgen Schrempp. Alle Vorstände des DaimlerChrysler-Konzerns sind nervös, sorgen sich um Zukunft und Job. Sie wissen, dass von 17 wahrscheinlich nur 12 übrig bleiben. Aber nur Schrempp weiß, wie die Führungsmannschaft des zweitgrößten Autokonzerns der Welt demnächst aussieht. Er hat den Coup exakt so vorbereitet wie bei der letzten großen Umorganisation, als Mercedes-Benz und Daimler-Holding miteinander verschmolzen wurden. Er ließ eine kleine Truppe von Vertrauten mehrere Führungsmodelle entwickeln. Dann wird ein Modell, das der Chef präferiert, den Medien zugespielt. Alle Positionen sind eingezeichnet, nur die Namen der Manager, die sie ausfüllen sollen, fehlen. Sofort setzt unter Vorständen eine Debatte über die Logik der Struktur ein. Ist das Modell weitgehend akzeptiert, kann anschließend keiner aufbegehren, wenn sein Name auf keinem oder auf einem etwas kleineren Kästchen auftaucht. Bei der letzten großen Neuorganisation fiel, aus rein sachlichen Gründen versteht sich, der Posten des Mercedes-Vorsitzenden weg. Der Schrempp-Rivale und damalige Mercedes-Chef Helmut Werner konnte entweder einen Posten ohne Einfluss annehmen oder gehen. Werner ging. Diesmal könnte, aus sachlichen Gründen, der von Schrempp wenig geschätzte Konzernchef Schrempp*: Rücksichtnahmen auf die Chrysler-Manager? Finanzvorstand Manfred Gentz seinen einflussreichen Posten verlieren. Ihm würde dann das Personalressort angeboten. Dass die Reform an der Spitze nötig ist, kann keiner bestreiten. Nach der DaimlerChrysler-Fusion wurden die Vorstände einfach zusammengefügt. Auf Dauer ist der Konzern so nicht zu steuern. Die neue Führungsstruktur sieht vor, das Geschäft in fünf Fahrzeugklassen – Personenwagen, Großraumlimousinen, Geländewagen, leichte Nutzfahrzeuge und schwere Lastwagen – aufzuteilen. Bei den Personenwagen wird es einen Verantwortlichen für die Chrysler-Marken und einen für Mercedes-Benz geben. Daneben gibt es zentrale Ressorts wie Finanzen, Einkauf und Personal. Konzernchef Schrempp muss bei der Besetzung vor allem auf die Chrysler-Leute achten: Die amerikanischen Manager hatten sich massiv darüber beklagt, dass die Deutschen die Macht im Konzern übernommen hätten. Bislang kommen 10 von 17 Vorständen aus Deutschland. Das Verhältnis wird sich ohnehin weiter zu Lasten der US-Manager verschieben, weil der gleichberechtigte Konzernvorsitzende Bob Eaton spätestens in einem Jahr zurücktritt. Beim jetzt anstehenden Revirement soll deshalb der zweite Mann bei Chrysler, Tom Stallkamp, eine zentrale Position besetzen. Die beiden wichtigsten Ressorts sind die des Finanzvorstands und des Chefs von Mercedes-Benz. Mercedes soll von einem deutschen Vorstand geführt werden, weil es nicht zum Image passen würde, wenn ein * Mit Lebensgefährtin Lydia Deininger am 31. Juli am Hockenheimring. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Chrysler-Manager, der zuvor Kleinwagen wie den Neon konstruierte, die Luxuslimousinen entwickelt. Jürgen Hubbert, der mit der neuen S-Klasse gerade großen Erfolg hat, wird diese Position wohl behalten. Stallkamp könnte nur aufgewertet werden, wenn er entweder zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden ernannt wird – ein Modell, dem Schrempp-Vertraute wenig Chancen geben – oder wenn er das Finanzressort übernimmt. Der bisherige Finanzchef Gentz ist seit dem Kurssturz der DaimlerChrysler-Aktie ohnehin mächtig unter Druck. Im ersten Halbjahr steigerte der Konzern seinen Gewinn zwar um zwölf Prozent auf 9,9 Milliarden Mark, doch die Analysten hatten deutlich mehr erwartet. Der Kurs sackte nach Verkündung der Zahlen auf den tiefsten Stand seit der Fusion. Verantwortlich für die Information der Analysten ist die Abteilung Investor Relations, die Gentz untersteht. Sie hätte rechtzeitig vor den übertriebenen Erwartungen warnen müssen, um bei der Bekanntgabe der Zahlen nicht einen Schock an der Börse auszulösen. Zudem wird Gentz an anderer Stelle dringend gebraucht: Personalvorstand Heiner Tropitzsch gilt als krasse Fehlbesetzung. Gentz hatte vor Jahren bereits einmal diesen Posten ausgefüllt – zur allseitigen Zufriedenheit. Damit die Unruhe nicht zu lange währt, hat Schrempp den Termindruck für die Umorganisation erhöht. Vom 5. bis 7. Oktober ist ein Treffen aller Führungskräfte in Washington anberaumt, bei dem über die Strategie des Konzerns debattiert wird. Bis dahin, so ein Schrempp-Vertrauter, „ist der Sack zu“. Dietmar Hawranek ter Sprechgesang von drei Sekunden Dauer, dargeboten von der Gruppe Kraftwerk, stolze 400 000 Mark kostet. Und nun steht Ärger wegen der ziemlich albernen Fabeln zur Verherrlichung der Marktwirtschaft an. „Tief im Dschungel“, so beginnt eine Geschichte, „leben eine Möwe und ein Papagei“, die beide in Käfige gesperrt sind. Dazwischen hockt in „Briefträgeruniform“ der faule Drontevogel. Der „singt und tanzt“, anstatt Briefe und Pakete auszutragen, die ihm Möwe und Papagei verzweifelt zustecken. EXPO 2000 Eisbär auf dem Snowboard Mit Tier-Trickfilmen will die Weltausstellung die Marktwirtschaft ins rechte Licht rücken. Erste Drehbuchleser waren nicht amüsiert. „Zwei junge Eisbären rutschen mit ihren Snowboards einen Abhang herunter und steigen mühsam wieder auf. Vom Wipfel eines Baumes aus beobachtet sie der Adler wohlwollend“, beginnt die Fabel. Der nette Greif fliegt zu den Bären herunter, um ihnen eine Sprungschanze zu bauen. Die Bären sind begeistert. Die Wohltat des Adlers war nicht umsonst, er verlangt Steuern: Die Bären DPA (g.) V erlegenheit kann der Bonner Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke in schallendem Gelächter ersticken. Kollege Erwin Jordan aus dem Gesundheitsressort hüllt sich lieber in Schweigen. Auch Michael Naumann zieht stille Verdrängungsarbeit vor. Der Staatsminister fürs Kulturelle, berichten Vertraute, habe sich einfach „mit Grausen abgewandt“. Das Unbehagen, das die drei Herren derzeit plagt, entspringt derselben Quelle: Von Amts wegen müssen sie mitbestimmen, wie Deutschlands Unternehmer bei der Expo 2000 in Hannover ab kommenden Juni einem Millionenpublikum ihre Weltsicht offenbaren. Dafür zeichnet Wilfried Prewo, Geschäftsführer der Expo-Beteiligungsgesellschaft der Deutschen Wirtschaft, verantwortlich. Im Hauptberuf ist er Chef der Industrie- und Handelskammer HannoverHildesheim. Prewo hatte sich auf die Suche nach Drehbuchautoren gemacht, die auf Trickfilmtechnik spezialisiert sind. Sie sollten sechs kurze Fabeln schreiben und damit Expo-Besuchern „zwischen 18 und 80“ illustrieren, wie segensreich die Marktkräfte wirken. Der Auftrag erging an amerikanische Autoren ohne große Namen. Über die Kosten schweigt man sich bei der Expo aus. Die Tiergeschichten dienen als Vorlage für 90Sekunden-Filmchen, die in mannshohe „TheaterPrewo kioske“ projiziert werden, um eine 3D-Fabelwelt entstehen zu lassen. Vom 1. September an soll im Aufsichtsrat der Trägergesellschaft Deutscher Pavillon (TDP) die Entscheidung über Prewos Fabeln fallen, die bisher nur in Textform vorliegen – eine heikle Angelegenheit für die TDP-Aufsichtsräte Naumann und Jordan und für Tacke, den Koordinator zwischen Regierung und Wirtschaft in Sachen Expo. Denn die erste Weltausstellung auf deutschem Boden – Gesamtkosten: rund drei Milliarden Mark – kommt ja ohnehin nur schwer aus den unerfreulichen Schlagzeilen heraus. Zuletzt war sie im Gerede, weil die Expo-Erkennungsmelodie, ein verzerr- Deutscher Expo-Pavillon (Computer-Simulation), Expo-Logo: Unsichtbare Hand Szenenwechsel: „Die Hand des Marktes erscheint und zieht an einer Liane, und als ob es sich um die Schnur an einer Lampe handelt, leuchten auf einmal alle Früchte des Baumes hell auf.“ Möwe und Papagei entkommen ihrem Gefängnis und folgen ihrem drängendsten Trieb – sie entwickeln neue Postversandtechniken: „Papierflieger“ und „ein extravagantes Fluggerät mit Tragflächen aus Geldscheinen“. Sogar der Drontevogel reißt sich zusammen; er erfindet das Morseverfahren, den Computer und dazu Disketten. Was die Autoren damit sagen wollen? „Deregulierung und die Abschaffung überkommener Monopole“, so die dröge Vorgabe vom Auftraggeber, „stärken die Dynamik der Wirtschaft.“ Zum Test-Rezipienten auserwählt wurde Christian von Kienlin. Doch der Referent für Mittelstandspolitik im Bundeswirtschaftsministerium erwies sich als Bedenkenträger: „Der wirtschaftlich nicht vorgebildete Besucher“, warnte von Kienlin, „versteht nicht, wer die Hand ist und was sie hier bewirkt.“ Prewo erwiderte ungehalten, jedermann kenne doch die „unsichtbare Hand“, mit der Adam Smith, der Urvater aller Ökonomen, die Wirkung freien Unternehmertums pries. Die US-Autoren erhoben die „Hand des Marktes“ zum Star ihrer Fabeln. Die wendet auch eine andere Story zum Guten: d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 müssen ihre Schals herausrücken, was sie erst einmal wenig stört. Denn schon bald tummeln sie sich in einem blühenden Ferienort mit „Schneemobilen“ und einem „Slalomkurs“. Bis die Bären „in ihrer Unterwäsche dastehen“ und ihnen der Adler „auch noch die Snowboards“ abnimmt. Da naht der Erlöser: „Die Hand des Marktes erscheint über den Bäumen und hebt mahnend den Zeigefinger.“ Der Adler „begreift, wie überzogen sein Handeln war“. Er verkriecht sich in seinen Baum. Ob das nicht ein „sehr fragwürdiges Bild vom modernen Staat“ sei, fragte von Kienlin. Den Ministerialen beschlichen grundsätzliche Zweifel: In keiner Geschichte sei von Arbeitslosigkeit die Rede. „Auf einer Weltausstellung“, hielt Prewo dagegen, sei es besser, „Themen von der positiven (Chancen-)Seite anzugehen statt von der negativen (Bedrohung).“ Ludolf von Wartenberg, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und Aufsichtsratschef der Expo-Beteiligungsgesellschaft, sah das auch so. Christoph Stölzl, Chef des Deutschen Historischen Museums in Berlin, ist da weniger zuversichtlich: Um sein Urteil gebeten, mochte er „einen Realisierungsauftrag nicht empfehlen“. Stölzl: „Mir wäre nicht darum bang, hier andere, attraktive Formen zu finden.“ Hendrik Munsberg 83 Wirtschaft E N T E R TA I N M E N T Manager der Nacht FOTOS: M. WITT Mobile Partyveranstalter machen den etablierten Gastronomen Konkurrenz – mit schrillen Events in Fabrikhallen und Dorfdiscos. Disco-Event*, Veranstalter Froschauer: „Ekstase, Abfahrt, Rausch“ J eden Freitagvormittag ist in der Hamburger Szenedisco „La Cage“ mächtig was los. Ab 10 Uhr morgens übernimmt Partyveranstalter Thomas Leh für 24 Stunden das Kommando: Seine mobile Einsatztruppe rückt 40 rote Plüschsofas in die düstere Tanzhöhle, legt Teppiche aus, verhängt Decken und Wände mit orientalischen Tüchern. So wird die sterile Großraumdiscothek zum Kiezclub umgerüstet, der dem Publikum einen Hauch jener Amüsierromantik verleiht, die einst den Mythos der Sexmeile begründete. Im Konzeptpapier von Lehs „Park Projekt Communikation und Marketing GbR“, mit dem er die Ausschreibung des Discothekeninhabers gegen zehn weitere Eventagenturen gewann, wird eine „Fegefeueratmosphäre“ versprochen. Abends dann, wenn das Szenevolk den Türsteher passiert hat, lässt Leh jene * Im Hamburger „Shark-Club“. 84 Musik laufen, die er für „schwer angesagt“ hält – House und „chilligen Lounge-Sound“. Der Eigentümer der Discothek profitiert vom Getränkeumsatz, der Partymacher kassiert die Eintrittsgelder. Leh, 25, gehört zur Schar junger Eventveranstalter, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. In ihrem Leben, so hat „Celebration“-Autor Rainald Goetz die neuen Spaßmanager beschrieben, drehe sich alles um „Musik und Tanz, Ekstase, Abfahrt, Rausch“. Diese Jungunternehmer besitzen in der Regel weder Club, Kneipe noch Café, sie veranstalten einfach nur drei oder vier Events im Monat. Sie holen das Leben zurück in abgewrackte Animierbars, sie bringen verstaubte Fabrikhallen wieder zum Hämmern, sie sorgen dafür, dass die Firmenfeier zur Sause wird – und sie beleben das flaue Geschäft der Discotheken. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Denn der stationäre Frohsinn birgt für die Betreiber von Gaststätten und Tanzhallen enormes Absturzpotenzial: Die Gastronomie klagt über Umsatzeinbußen, minus 3,2 Prozent allein im vergangenen Jahr; in vielen deutschen Discotheken brummt die Anlage, aber nicht das Geschäft. In den schon reichlich besetzten Markt drängen die Eventmanager. Sie sind für die Etablierten, die ihr Geld in Mobiliar, Haus und Soundanlage investiert haben, oft genug Ärgernis und Rettung zugleich. Einerseits helfen sie, die großen Amüsiertempel zu füllen. Gleichzeitig entsteht da eine Konkurrenz, über die etablierte Gastronomen sich genauso ärgern wie die Telekom über jene Telefonfirmen, die kein Netz besitzen und allein mit peppigem Marketing ihre Dienstleistung verkaufen. Die Manager der Nacht gehen nicht weniger planvoll zu Werke als ihre Kollegen in der Telefonbranche. Alle Aufgaben sind professionell verteilt: Marketing macht der Mann, der die Einladungen – die Flyer – entwirft, der Einkaufsleiter bucht Discjockey und Veranstaltungsort, der Vertriebschef bestimmt, wen der Türsteher sofort reinlässt, wer warten muss und wer auf Nimmerwiedersehen abblitzt. Der Ton in der jungen Branche ist rau, fast proletarisch. Das Erbe der 68er, der sanfte Diskurs über alles und nichts, gilt hier als megaout. Wenn Leh übers Business redet, dann in jenem Chefton, der keinen Widerspruch duldet: „Werbung ist absolut wichtig, stimmt der Flyer nicht, ist auch die Party scheiße.“ Diese Unternehmer sind Draufgänger, die es im normalen Beruf nicht weit gebracht haben, wohl auch, weil die traditionelle Karrierelaufbahn deutscher Firmen – vom Assistenten über den stellvertretenden Abteilungsleiter bis zum Bereichsverantwortlichen – sie nicht reizen kann. Der Kampf um Titel und Dienstwagen hat für sie den Charme eines Kurkonzerts. Ihren Biografien fehlt daher meist jene Gradlinigkeit, wie sie Personalchefs lieben. Partymacher Eric Froschauer, 32, etwa hat beim Kaufhof in Freiburg seine Kaufmannsausbildung absolviert und später für FOTOS: M. WITT Besten, sagt Castelli, dürften wiederkommen. Wie auf den Finanzplätzen herrscht auch in der Partybranche ein ehernes Gesetz: The trend is your friend. Ein hektischer Wechsel der Moden prägt den Markt; wer die nächste Welle verpasst, steht schnell auf dem Trockenen. Nutellabrote zu HouseMusik lockten eine Zeit lang das Hamburger Szenevolk ins Reeperbahn-Café Keese. Vergessen, vorbei, out. Dann wieder schickten die Partymacher Transvestiten ins Rennen; Castelli bietet seinen Kunden eine 166 Kilo schweOertzen: Hektischer Wechsel der Moden re Tunte. Ulla Trulla, wie sich Café mit Parkterrasse, das der Koloss nennt, brachte auf einer Feier im Sommer stark besucht des Heinrich-Bauer-Verlags die Gäste in war. Nur im Winter blieb Stimmung, im Domina-Kostüm brüllte sie „Peitsch mich“ in den Saal. die Kundschaft aus. Castelli hat seine Verkaufsschlager – aufUriz von Oertzen setzte auf Provokation, engagierte getakelte Tunten und hochgestylte TänPerformance-Künstler wie zergruppen – in italienischen Clubs gePeter Sempel, der in den funden, als in Deutschland noch NebelAchtzigern mit einem frisch werfer zu Phil Collins’ „In the Air Tonight“ geschlachteten Pferdekopf für Stimmung sorgten. Die Masche hat zudas Publikum schockte. erst in Mannheim, dann in Hamburg funkDen ganzen Abend tropfte tioniert; jetzt lässt der ehemalige Jaguardas Blut auf den Kneipenboden, das Sze- Verkäufer seine „Fancy Dancers“ im „Chinawhite“ in London tanzen – vor aranevolk fand’s schaurig-schön. Oertzen kapierte schnell: Wichtig ist bischen Scheichs und anderen Celebrities, nicht die Kneipe, sondern das Konzept. die dafür 100 Mark Eintritt zahlen. Andere haben ihre große Zeit schon Mittlerweile organisiert er über hundert hinter sich. Der stets braun gebrannte Events pro Jahr. Der Job als Partyveranstalter kennt kei- Michael Ammer etwa: Mit seiner genialne Freizeit. Die Macher und ihre Helfer einfachen Geschäftsidee hatte er in den ziehen auch nachts durch die Städte, stän- frühen Neunzigern großen Erfolg. Ammer dig auf der Suche nach neuen Trends, ori- war der Erste, der es allein dadurch zur ginellen Veranstaltungsorten, schrillen Ty- Schlagzeile brachte, dass er Models einlud pen. Trinkfestigkeit gehört zum Berufs- und frei verköstigte. Mit A- und B-Promis aus seiner Kartei ethos wie der Respekt vor Albanern, die im sorgte er für ein bisschen Glanz im Amüdeutschen Amüsierbetrieb mitmischen. Das vermutlich wichtigste Kapital jedes sierbetrieb: Dieter Bohlen, Heiner LauterVeranstalters sind seine Kontakte – zu den bach und Jenny Elvers machten das HamGastronomen und zu prominenten Gästen. burger „Traxx“ (inzwischen geschlossen) 3000 Namen hat Oertzen in seiner Kartei, unter dem Jubel der Presse zu ihrem zweiPromis oder einfach schöne Gesichter. ten Wohnzimmer. „Ammer ohne FettWird ein Event zu männerlastig, reicht ein kinn“, titelt inzwischen die „Hamburger Anruf bei der größten Modellagentur der Morgenpost“ nach einer SchönheitsoperaStadt: Die Mädchen aus der Modewerbung tion über den „damaligen Party-König“. Die Epoche der ganz großen Partys ist kommen überall umsonst rein. Bei den Kerlen wird genauer hinge- ohnehin vorbei, glauben viele. Zu zerschaut, denn die Mischung im Publikum, splittert sei die Szene, als dass sich alle ein bisschen schrill, nur nicht zu viele Män- noch auf das eine Großereignis stürzten. ner, gilt als entscheidend für den Erfolg. „Sektenartige Gebilde“ hat Poptheoretiker „Der Mainstream“, sagt Partymacher Leh, Diedrich Diederichsen in den Subkulturen „scheitert an unserer hart-herzlichen Se- der Großstädte ausgemacht. Eric Froschauer verlässt sich daher nicht lektion.“ Sein Konkurrent Raffaele Castelli, 29, allein auf die Metropolen, seine aufwendig hat die zuweilen rabiate Auslese noch ver- einstudierten Bühnenshows ziehen nach feinert. Wenn der italienische Gastarbei- der Premiere noch monatelang über die tersohn aus Mannheim in London eine Dörfer. Nur so würden sich die InvestitioParty veranstaltet, laufen Hostessen durch nen in das Go-go-Ballett rentieren: „Die die Menge, sprechen Gäste an und teilen Großstadtszene“, sagt Froschauer, „dankt sie später in Coolness-Grade ein; nur die es uns nie.“ Frank Hornig Firmenfeier*, Partyveteran Außendienstvertreter Seminare über Verkaufspsychologie gehalten. Ein Job wie geschaffen für ein Leben im karierten Zweireiher-Sakko. „Nach drei Jahren war ich ausgebrannt“, erinnert er sich der „stupiden Tätigkeit“. Jetzt residiert Froschauer in einer Hamburger Fabrikhalle, wo seine Akteure ihren Auftritt üben. Für zahlungskräftige Kunden tanzen Go-go-Girls in mobilen Riesenaquarien – die Glascontainer werden zum Partyort verfrachtet, die Damen tanzen im Tanga und mit Tauchermaske. Froschauer ist einer der Macher der Firma Liquid Dancer’s, die sich als PartyDienstleister versteht. In Discotheken und auf Firmenfeiern lässt er seine bunte Truppe antreten. Das Komplettprogramm: Vorgefahren wird im firmeneigenen RollsRoyce, die Show-Dancer bieten eine einstudierte Tanzrevue, weitere Firmenmitarbeiter mischen sich unters Partyvolk, um als Eintänzer auf Tischen und Lautsprecherboxen für Stimmung zu sorgen. So oder so ähnlich betreiben auch die anderen Unternehmen der Partyszene ihr Geschäft. Uriz von Oertzen, 50, gilt als der Veteran der Eventmanager. In einem umgebauten Pferdestall planen er und die Mitarbeiter seiner Firma Hi-Life ihre Veranstaltungen, darunter die Echoverleihung, der Oscar der deutschen Musikindustrie. Gestartet ist Oertzen als Freak, ohne feste Lebensplanung, geregelter Broterwerb war nicht seine Sache. Noch heute schwärmt er von den Siebzigern, „als man sich keine Sorgen machen musste“, als er jahrelang einfach „viel durch die Welt gereist“ ist. Später schlug er sich als Schiffsmakler durch, gelernt habe er dabei nichts, außer „morgens pünktlich zur Arbeit zu kommen“. Schließlich pachtete er sein eigenes * Im Hof einer ehemaligen Hamburger Pianofabrik. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 85 Werbeseite Werbeseite Medien Trends FERNSEHEN Neuer Job für Brebeck A ACTION PRESS RD-Reporter Friedhelm Brebeck, bekannt durch seine sympathisch-kauzige Balkan-Berichterstattung, wird auch nach seiner Pensionierung auf dem Bildschirm erscheinen. In einigen Monaten soll der Mann mit der rauchigen Stimme, der im Juli den Bayerischen Rundfunk in Richtung Ruhestand verließ, für den WDR aktiv werden. Der Kölner Sender will im Jahr 2000 verstärkt Dokumentationen zeigen und hat dafür am Sonntagabend den besten Sendeplatz um 20.15 Uhr in seinem Drit- Brebeck, Brebeck-Bericht ten Fernsehprogramm reserviert. Auch im Ersten Programm will der WDR öfter als bisher journalistische Stücke präsentieren. Für diese Offensive werden Autoren gesucht – Brebeck, 65, gilt als erste Wahl, eine Vereinbarung ist aber noch nicht unterzeichnet. Dem WDR-Chef Fritz Pleitgen schwebt eine Reihe von „Hochglanz-Reportagen“ vor, die das Renommee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stärken sollen, nach dem Vorbild der Reise-Reportagen von WERBUNG DEUTSCHE WELLE Teurer Anzeigenkrieg „Faules Dreckschwein“ n der Übernahmeschlacht der französischen Großbanken BNP, Paribas und Société Générale steht ein Gewinner längst fest: Die Medien- und Werbeindustrie machte glänzende Geschäfte. 165 Millionen Franc (49 Millionen Mark) ließen sich die Banken den wohl erbittertsten Werbekrieg kosten, den die Finanzwelt seit langem gesehen hat. Am vergangenen Freitag endete die Umtauschfrist für Aktionäre. Zuvor warb die BNP in französischen und internationalen Zeitungen mit ganzseitigen Anzeigen für ihren feindlichen Übernahmeversuch: „Geben Sie so schnell wie möglich Ihr Umtauschangebot ab.“ Das gegnerische Lager („Say No to BNP“) konterte mit einem „worst case scenario“ und zeigte ein Puzzle, bei dem nur das BNP-Teil nicht passen wollte. Der harte Wettbewerb setzte sich auf Agenturseite freilich nicht fort: Sämtliche Anzeigen stammen aus derselben Agentur; die Werber der Pariser Euro RSCG verteilten die drei Banken einfach auf verschiedene Abteilungen – und kassierten den Gesamtetat. A uffallend ausfallend reagiert Dieter Weirich, Intendant der öffentlichrechtlichen Deutschen Welle (DW), wenn er auf den früheren Repräsentanten seines Senders in Washington angesprochen wird. Gerhard Besserer sei das „faulste und kriminellste Dreckschwein“, das ihm untergekommen sei, soll der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Weirich im November 1998 am Rande des CDU-Parteitages in Bonn gesagt haben. In einer eidesstattlichen Versicherung bestritt Weirich kurz darauf diesen Verbalausfall, der von seinem Gesprächspartner kolportiert worden war. Doch das Landgericht Koblenz entschied jetzt in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil, es sei sehr wahrscheinlich, dass der Intendant sich entsprechend geäußert habe. Gegenüber dem SPIEGEL hatte Weirich Besserer ebenfalls 1998 als „stinkende Ruine“ bezeichnet. Hintergrund: Der Intendant vermutet, dass Besserer als Informant hinter einer Reihe kritischer Berichte über den Sender steht. Im vergangenen Jahr versuchte er, seinem Washington-Repräsentanten dreimal fristlos zu kündigen, obwohl dessen Vertrag wenige Wochen später ohnehin ausgelaufen wäre. Das Arbeitsgericht Köln hat die Kündigungen inzwischen wegen Formfehlern für wirkungslos erklärt. Das Verhalten Weirichs stößt bei vielen Mitgliedern der DW-Aufsichtsgremien auf Unverständnis. DPA I Gerd Ruge. Den TV-Zuschauern ist Brebeck, der mit 15 ohne Schulabschluss von zu Hause durchbrannte, als Kriegsreporter bekannt. Er berichtete von der Revolution in Iran, dem Bürgerkrieg im Libanon und den Wirren in Sarajevo und im Kosovo. Das Verhältnis zu seinem Haussender, dem Bayerischen Rundfunk in München, geriet in Schieflage, nachdem eine geplante Moderation der ARD-Spätnachmittagsnews platzte. Weirich d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 87 Medien rutig liegt die Hitze über dem Lande, die Menschheit lechzt nach Erfrischendem. Aber auf niemanden ist mehr Verlass. Selbst Nessie, das launische Ungeheuer aus dem schottischen Hochland, hat sich abgemeldet. Da müssen halt die Alten ran. In Ehren erblondet, verwittert und so oft durchs Medien-Dorf getrieben, dass es keine Sau mehr graust, hat sich unser aller Dieter Bohlen geopfert. Sein Rottweiler Dickie, „immer ein braver, zuverlässiger Hund“, biss erst ein Reh, dann die Haushälterin und schließlich sein Herrchen. Bei „Bild“ fand Bohlen ein offenes Ohr für sein Hundedrama: „Zärtlich schleckte er mir über den Arm, dann biss er unvermittelt zu! Mitten in mein Gesicht.“ Notaufnahme! Eine Naht mit 12 Stichen! Und die bissfeste Schlagzeile: „Bohlen: Gesicht vom eigenen Rottweiler zerfleischt“. Vielleicht hätte Dickies Dieter die Sache diesmal lieber für sich behalten sollen. Denn eine Nachricht ist nur so gut wie die News, die am Tag danach die neidische Konkurrenz zustande bringt. Und so sprang die „Hamburger Morgenpost“ prompt ihre Leser mit der Frage an: „Dieter Bohlen: Tollwut?“ Der Rüde Dickie und der rüde Dieter durch ein tückisches Virus vereint? Das schaumspuckende Ende einer verdienstvollen Karriere im Dienste von Frau Musica und freier Presse? O nein, der Mann hat noch Möglichkeiten. Der Neurologe Juan Gomez-Alonso weist ihm den Weg in eine blutige Zukunft. Der Spanier hat die „logische“ Theorie entwickelt, wonach der Vampir Graf Dracula nur deshalb so blutrünstig war, weil er an Tollwut litt. Vom Virus zum Vampirismus, weist Dr. Gomez-Alonso nach, ist es nur ein Katzensprung. Graf Dietula – das wär’s. Und Bohlen und „Bild“ hätten immer was zu beißen. 88 14,3 Das Clubschiff OP. Schicksale im Klinikum 14,0 Reeperbahn Die Fahrschule 13,5 Geburtsstation ZDF RTL RTL2 ZDF Sat1 Arte 8,2 Der wahre Kir Royal 5,8 Ein Kaufhaus steht Kopf 1,8 Hochzeitsfieber Arte Arte Arte 1,0 0,6 0,3 „Das Clubschiff“ (RTL) und „Reeperbahn“ (RTL 2) enttäuschten. Mehr Erfolg brachten nur die aufwendigeren ZDF-Doku-Soaps „OP. Schicksale im Klinikum“, „Frankfurt Airport“ und „Die Fahrschule“ auf Sat 1. RTL 2 startet trotzdem am 23. August „Ibiza ’99 – Gute Zeiten, sexy Zeiten“. QUOTEN Flop der Billig-Dokus D as Format sollte Quote bringen und Kosten sparen: „Doku-Soap“– Dokumentationen, die wie Seifenopern konzipiert sind. Doch Marktanteile für S K A N DA L E Wirbel um Nacktenklau E in schöner kleiner Sommerloch-Skandal war es, den die sechs nackten Männer unter der Reichstagskuppel ausgelöst hatten: Fernsehen und Zeitungen berichteten flugs, und Politiker empörten sich, als die Schwulenzeitschrift „Männer aktuell“ die Nacktenbilder in ihrer August-Ausgabe veröffentlichte. „Wir als Schwule haben immer noch nicht die gleichen Rechte. „Playgirl“-Aktion im Reichstag Darum steigen wir den hohen Herren nackt aufs Dach“, verkündete der Chefredakteur Andreas Tölke – und schmückte sich mit fremden Federn. Die Aktion hatte in Wahrheit die Zeitschrift „Playgirl“ konzipiert: Vier Fotografen hatten die Models am Tag der Love-Parade an verschiedenen Plätzen Berlins abgelichtet, „um die Toleranz des Regierungssitzes zu zeigen“, so „Playgirl“-Chef Bernhard Hausner. Die Bilder sollten im Oktober, zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, erscheinen. Einer der Fotografen verscherbelte seine Aufnahmen jedoch vorab an „Männer aktuell“ – ohne Tölke aufzuklären. Die Bildserie wird trotzdem in „Playgirl“ zu sehen sein. PROJEKTE Wenn die Kinder zweimal klingeln F amilienserien sind im Vorabendprogramm rar geworden. Populäre Ausnahme: „Eine schrecklich nette Familie“, die US-Endlos-Comedy um Al Bundys Chaos-Clan auf Pro Sieben. Doch auch die heimische Konkurrenz schläft nicht länger, seit vergangener Woche dreht die Kölner ZDF-Tochter Network Movie für ihren Sender die Vorabendserie „Nesthocker“. Mutter Brandt ist gerade geschieden, die Kinder sind aus Akteure Postel, Wunderlich dem Haus, und endlich könnte das schöne Leben beginnen – wenn nicht alle wieder plötzlich an der Haustür klingelten, um es sich im warmen Nest gemütlich zu machen. Mit ihrem ersten Serienprojekt legt die neue Firma einen flotten Start vor. Sie heuerte erfolgreiche Serienstars an: Als geplagte Mutter agiert Sabine Postel („Nicht von schlechten Eltern“), der Teenie-Held Christian Wunderlich („Verbotene Liebe“) spielt den Sohn, Tanja Wedhorn („SK Babies“) die Tochter. In weiteren Rollen: Helmut Zierl und Nina Hoger. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 M. BÖHME B Frankfurt Airport H. v. BERG Dickies Dieter Durchschnittliche Marktanteile von Doku-Soaps in Prozent Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Aprilkinder Dienstag, 23.15 – 0.40 Uhr, ZDF Wilhelmsburg ist der Hamburger Stadtteil mit dem höchsten türkischen Bevölkerungsanteil. Hier wohnen Cem, Mehmet und Dilan mit ihren Eltern. Cem arbeitet im Schlachthof, Mehmet dealt mit Heroin, ihre Schwester Dilan träumt vom deutsch-türkischen Popstar Tarkan. Das Drama beginnt, als die Verwandten beschließen, dass Cem seine Kusine heiraten muss. Deren Dorf in Kurdistan kooperierte mit der PKK und wurde zerstört. Dabei ist Cem in eine deutsche Prostituierte verliebt. Die Geschichte klingt, als habe Regisseur Yüksel Yavuz alle Klischees in ein Drehbuch gestopft; doch tatsächlich ist dem ausgebildeten Dokumentarfilmer ein melancholischer, tiefgründiger Film gelungen. Besonders überzeugend: Erdal Yildiz als depressiver Cem. Auslandsjournal Donnerstag, 21.15 – 21.45 Uhr, ZDF Alle paar Jahre erschüttern Bilder von Tiertransporten die Öffentlichkeit, und manchmal werden auf Grund der allgemeinen Empörung Richtlinien verschärft. Dass dies den Pferden, die von Polen aus quer durch Europa zu Schlachthöfen reisen, trotzdem nichts nützt, beweist diese ZDF-Reportage: Ein Team des Senders begleitete die Tiere auf ihrem Weg nach Italien und dokumentierte ihr Elend – eingezwängt, miserabel versorgt, von Tierärzten an den Grenzen ignoriert, quälen sie sich ihrem Tod entgegen. Tatort: Bienzle und der Zuckerbäcker Sonntag, 20.15 – 21.40 Uhr, ARD Ein Hauch von Chabrol mitten in Stuttgart: Hinter der Szene aus „Aprilkinder“ „Tatort“-Szene mit Steck, Radszun zuckrigen Fassade aus Cremetorten stößt Kommissar Bienzle (Dietz-Werner Steck) auf Abgründe. Konditormeister Theo Hasselt (Alexander Radszun), der tags süße Kunstwerke schafft, geht nachts schaurigem Treiben nach. Das Katz-und-Maus-Spiel im Krimi von Felix Huby (Regie: Hans-Christoph Blumenberg) ist wenig spannend. Warum der Mörder von den schrecklichen Taten nicht lassen kann, erklärt der Film nicht, aber das macht nichts, der Killer selbst hat sich auch nie verstanden. Allerdings wirft die Geschichte interessante Blicke auf die Melancholie und innere Einsamkeit von Jäger und Gejagtem. Hobby-Psychologen werden in diesem „Tatort“ aufschlussreiche Hinweise finden: Die Bösen und die Schwachen sind Raucher, und je böser und je schwächer sie sind, desto mehr Zigaretten rauchen sie. Ausschalten Liebe und Verhängnis Das Fenster zum Hof Mittwoch, 20.30 – 22 Uhr, ARD Samstag, 20.15 – 22.00 Uhr, RTL Eine junge schöne Cellistin (Jeanette Hain) verliebt sich in den kühlen Neurologen Dr. Georg Ellis (Richy Müller). Sie wird schwanger, aber das Kind wird zu früh geboren und stirbt. Dieses traurige Ereignis treibt das Traumpaar auseinander – und Paula hin zu dem Rockgitarristen Leonard Wittkoff (Martin Feifel), der die Musikerin ganz schrecklich liebt. Eine Dreiecksgeschichte beginnt, die, begleitet von viel Cello-Musik, natürlich tragisch endet. Konzipiert war das Fernsehspiel (Regie: Sherry Hormann) ursprünglich für die „Melodram“-Reihe im Ersten, mit der im kalten Januar vergangenen Jahres die Zuschauerseelen aufgewärmt werden sollten. Doch aus dem Drama wurde eine Kolportage, und für die ist eine warme Sommernacht wirklich zu schade. Einen Tag, nachdem Hitchcock 100 Jahre alt geworden wäre, zeigt RTL das Remake seines Klassikers. Im Original spielt James Stewart einen Fotografen, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, Nachbarn beobachtet und einem Mord auf die Spur kommt. Zwei Drehbuchautoren transponierten den Stoff Reeve in „Das Fenster zum Hof“ d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 in die Gegenwart, ersetzten Anrufe durch E-Mails und schnitten das Skript auf den Ex-Superman-Darsteller Christopher Reeve zu, der seit seinem Reitunfall vom Hals an abwärts gelähmt ist. Über sein Schicksal hat Reeve Interviews gegeben, das war erschütternd und informativ. Es aber als Spielfilm zu inszenieren muss schief gehen. Aus dem Fotografen wird ein Erfolgsarchitekt, der langatmige Anfang zeigt Klinikaufenthalt und Rehabilitation, es folgen Anklagen gegen das US-Gesundheitssystem und den Kapitalismus im Allgemeinen. Dann stolpert eine schlecht blondierte Daryl Hannah in viel zu großen Jacketts durch die Szenen und versucht vergeblich, Sex und Spannung in die Geschichte zu bringen. Trotz des Respekts für Reeves Engagement und Durchhaltevermögen: Ein Dokumentarfilm über sein Leben nach dem Unfall wäre spannender gewesen. 89 Medien M AGA Z I N E Bezaubernde Domina Tina Brown gilt als die beste und umstrittenste Chefredakteurin Amerikas. Nach ihren Erfolgen bei den Zeitschriften „Vanity Fair“ und „The New Yorker“ stellte sie jetzt ihr neues Magazin „Talk“ vor – mit einer spektakulären Party. Von Thomas Hüetlin 90 DPA E s fing schön kaputt an. Als der Abend das Wasser vor Manhattan schwarz färbte, die Partygäste auf die Schiffe stiegen, um hinüberzufahren zur gemieteten Insel der Freiheitsstatue, versank die Sonne und ließ den Himmel blutrot strahlen. „Wie auf einem der kolorierten Hollywood-Filme der fünfziger Jahre in Cinemascope“, sagte einer der Gäste. „Zum Glück gibt es heutzutage Smog“, antwortete die Art-Direktorin. „Da kann man sich das Nachkolorieren sparen.“ Es ging schön kaputt weiter. Obwohl nur die sogenannte A-Liste der starbesessenen Vereinigten Staaten von Amerika eingeladen war, gab es auch hier sofort eine Hierarchie, die die Festgemeinde zerriss in ganz Wichtige und ganz, ganz Wichtige – eine Einteilung, die sich in Manhattan beinahe stündlich ändern kann. Auf dem dicken Dampfer der ganz Wichtigen zum Beispiel stand mit offenem Hemd und offenem Mund der Schriftsteller Salman Rushdie. Herabgestuft, seitdem Iran sich von der Fatwa distanziert hat. Auf dem kleinen Schnellboot der Ganz-ganzWichtigen dagegen die Rocksängerin Debbie Harry, lässig und siegesbewusst, in einem Kaftan und mit Badeschlappen. Wie schön. Ihre neue Platte verkauft sich also gut. Es ist kein halbes Jahr her, da sahen wir sie noch auf dem Weg nach Los Angeles in der Economy Class sitzen. Auf der Insel, unter gelben, blauen und roten Lampions, waren Kissen ausgebreitet, und als wäre so ein Gelage eine Selbstverständlichkeit, mischten sich Politgrößen wie Henry Kissinger und Ed Koch mit mächtigen Medienmoguln wie Michael Eisner und Barry Diller, mit Stars wie Madonna, Paul Newman, Robert De Niro, Lauren Bacall und Demi Moore. Eine Besetzung wie bei einer Oscar-Verleihung – nur dass es unter der Freiheitsstatue nichts zu gewinnen gab außer dem Ruhm, dabei gewesen zu sein bei der wahrscheinlich exklusivsten Party, die in diesem Jahr in New York gegeben werden wird. Einmal angekommen, gab es erst mal keine Möglichkeit zur Flucht. Von Wasser umringt, wurde das kleine Stück Land mit der Fackel der Freiheit drauf ein Alcatraz für Schöne, Reiche und Berühmte. Wenn einer die Nase voll Ärger oder Koks hatte, konnte er nicht einfach ein Taxi anhalten. „Talk“-Chefredakteurin Brown Eiskalter Engel der Medienwelt d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Die A-Liste hatte sich freiwillig ins Luxusgefängnis begeben, weil es die Premiere einer neuen Zeitschrift zu feiern gab. Einer neuen … wie bitte? Richtig, Zeitschrift. Hunderte werden davon jedes Jahr in den USA gegründet und viele genauso schnell wieder eingestellt. Nur bei dieser soll alles ganz anders sein. Warum? Weil die Chefredakteurin Tina Brown heißt. Eine Frau, die in der Medienwelt und im Rest der Vereinigten Staaten als die beste Zeitschriftenmacherin überhaupt gilt. Tina Brown, 45, leitet seit 20 Jahren nicht nur Magazine – sie prägt sie. Und sie tut es mit einer Rücksichtslosigkeit, einer Besessenheit, einer Amoral und einer Brillanz, die im Zeitalter der Karrierefunktionäre und Nischenverwalter fast ausgestorben ist. Sie sieht aus wie eine sanftmütige Lady Di, aber sie gilt als eiskalter Engel, der, wenn es darauf ankommt, unwiderstehlich sein kann mit dem, was Amerikaner „Megawatt-Charme“ nennen. Ein früherer Kollege sagt über sie: „Eine Holly Golightly, in der sich Margaret Thatcher versteckt“, ein anderer nennt sie „einen Eisenfuß in Manolo-Blahnik-Pumps“. Tina Brown ist die bezaubernde Domina des amerikanischen Zeitschriftengewerbes. Was sie anpackt, wird umgebaut, bis es zu ihr passt. Sie ändert das Layout, die Schreiber, die Haltung – alles muss Tina sein. „Wer meine Identität nicht leiden kann, wird auch mein Magazin nicht mögen“, hat sie einmal gesagt. In Tinas Welt ist ein Editorial nichts anderes als ein Diktatorial. In ihren Magazinen vermischt sie Huldigungen an Hollywood-Stars mit politischen Hintergrund-Reportagen, stiftet sie seriöse Schriftsteller dazu an, Pornostars zu porträtieren, zieht sie die White-Trash-Ikone Roseanne als Ratgeberin für ein Feminismusheft heran, bildet sie den einst unter Mordverdacht stehenden Claus von Bülow als Dandy in Ledermontur ab, während dessen Frau im Koma liegt. Tina Brown gibt sich nicht damit zufrieden, alte Magazinstrukturen einzureißen, sie zertrümmert die Mauern zwischen Jahrmarkt und Salon, zwischen Hollywood und Weißem Haus, was natürlich willkommen ist in einem Land, wo Präsidenten erst einmal Schauspieler sein müssen. F. BERRETT / GLOBE PHOTOS AP Titelseite von „Talk“, Miramax-Chefs Bob und Harvey Weinstein: Ein Jahr Pulp Fiction diese dahin wie Museumsstücke. Als Brown sie führte, wurden sie zum „talk of the town“. Und als die Zahlen sich schwarz zu färben drohten, begann Brown sich zu langweilen – Zeit für die nächste Herausforderung. Jetzt also „Talk“ – die erste Zeitschrift, die Tina Brown von Seite 1 bis Seite 254 selbst erfinden musste. Und tatsächlich – nie sah man die Chefin, assistiert von ihrer Art-Direktorin Lesley Vinson, unverschämter zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur herumorgeln. Neben langen Reportagen über Wohnwagensiedlungen oder eine tödliche Touristenexpedition in Uganda posiert Hollywood-Engel Gwyneth Paltrow mit Lederbikini und Peitsche; schreibt Oscar-Gewinner Tom Stoppard darüber, was es heißt, ein Jude zu sein. Dazwischen natürlich der Scoop – ein intimes Porträt über Hillary Clinton, in dem diese erstmals darüber spricht, warum sie trotz der Lewinsky-Affäre bei ihrem Mann blieb. „Es waren enorme Schmerzen, ein enormer Ärger, aber ich habe mein halbes Leben mit ihm verbracht, und er ist ein sehr, sehr guter Mann.“ Eine Woche bevor „Talk“ am Kiosk erschien, zierte diese Story alle Boulevardtitel Amerikas. Bessere Werbung gibt es nicht. Bessere Zeitschriften – wenig. „Talk“ ist rau, direkt und ziemlich sexy. Auch die Anzeigen passen: Dom Pérignon, Lancôme, Burberry, Evian. Herausgeber Ronald A. Galotti beschied vorsichtige Kunden, die nur die erste Ausgabe buchen wollten: entweder die ersten vier oder gar nicht. Bei einer störrischen Firma wie Louis Vuitton wurde er deutlicher und ließ einen Mülleimer voll mit „Vanity Fair“und „New Yorker“-Heften vor die Haustür stellen. Dazu ein Brief. „Wir haben uns die Freiheit genommen, den Müll auf Ihrem Media-Plan ein wenig zu sortieren.“ Wird „Talk“ ein Erfolg, wartet auf Tina Brown echter Reichtum, erstmals in ihrer M. CURTIS / DMI (1); D. ALLOCA / DMI (2-4) Längst lässt Tina Brown nicht mehr nur über Berühmtheiten, Machtzentralen und Mythen des modernen, chaotischen und widersprüchlichen Lebens berichten – sie hat es inzwischen geschafft, selbst eine Legende zu werden. Tina Brown selbst ist A-Liste am US-Mythenfirmament. Eine Marke. So wie King Kong und Hillary Clinton, wie Batman und O. J. Simpson, wie Kenneth Starr und Coca-Cola. Tina Brown ist eine Anzeige. Und das Schönste an dieser Anzeige ist, dass sie lebt und immer eine Nachricht wert ist. Die Leute interessieren sich für die Tatsache, dass sie jeden Morgen um 5.30 Uhr aufsteht und nach nur fünf Stunden Schlaf den Tag im Fitnessstudio beginnt. Sie wollen wissen, von welchen Designern ihre dunkelblauen Kostüme entworfen sind. Ist es Calvin Klein oder Helmut Lang? Sie klatschen darüber, wenn sie wieder einmal das Manuskript eines bekannten Schriftstellers wie eine Frisbeescheibe durch die Redaktion geworfen hat. War es das von Salman Rushdie oder das von Martin Amis? Und sie rätseln über die Sitzordnung, die Tina Brown für ihre Dinnerpartys entwerfen lässt, als wäre sie ein Orakelspruch. „Carolyn Bessette war die Prinzessin von New York“, sagt einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter, „Tina ist die Königin.“ Bevor sie mit den Arbeiten zu ihrem neuen Magazin „Talk“ begann, ging das Gerücht um, sie, die mit den Clintons und den Blairs gut befreundet ist, werde die neue britische Botschafterin in Washington. Es ist nicht unbedingt der wirtschaftliche Erfolg, der Tina Brown zur Legende hat werden lassen. Es sind ihre Hochglanzprovokationen, die im Zeitalter des Fernsehens und des Internet fortwährend in das urbane Gemurmel hineinrieseln. Bis sie die Zeitschriften „Tatler“, „Vanity Fair“ und den „New Yorker“ übernahm, dämmerten Quentin Tarantino Demi Moore, Madonna Kate Moss, Freund Pierce Brosnan, Freundin Party-Gäste bei der „Talk“-Premiere in New York: Ein Alcatraz unter der Freiheitsstatue für Schöne, Reiche und Berühmte d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 91 AP Medien „Tatler“ „Vanity Fair“ AP Times“-Chef Harry Evans, TakKarriere arbeitet sie nicht als tik, sie lernte Kälte, sie lernte, Angestellte, sondern ist Teilhadass die beste Idee nichts wert ist, berin, zusammen mit der Filmfirwenn man sie nicht verkaufen ma Miramax („Shakespeare in kann, und sie machte „Vanity Love“) und dem Verlagsgiganten Fair“ zur meistbeachteten ZeitHearst. „Die Tatsache, dass mir schriftenneugründung der achtzidas Ganze mitgehören solle, hat ger Jahre. Noch heute läuft jemich angelockt“, sagt Brown. der neue „Stern“-Chefredakteur Viel Ambition – aber für eine durch die Gänge und sagt, wenn wie Brown nicht genug. Mit ihn einer nach seinem Konzept „Talk“ will sie außerdem Holfragt: „So ein bisschen wie ,Vanilywood erobern und aus ihrer ty Fair‘.“ Zeitschrift, die sie eine „kulturel- „The New Yorker“ Danach, Anfang der Neunzile Suchmaschine“ nennt, Stoffe Blattmacherin Brown, Objekte: Sitzordnung wie beim Orakel ger, der „New Yorker“. Wieder für Bücher, Fernsehsendungen und Kinofilme herausdestillieren. Aber das genannten Gin-und-Jaguar-Gesellschaft Renovierungsarbeiten, wieder Aufstand, ließe sich noch steigern. Warum hat ei- auf, ihr Vater produzierte die frühen wieder überstanden. Natürlich auf höchgentlich noch niemand an Vergnügungs- Agatha-Christie-Filme, ihre Mutter endete stem Niveau. 30 Millionen Dollar soll sie im als Klatschkolumnistin an der spanischen Jahr an Redaktionsbudget ausgegeben haparks gedacht? Wie wär’s mit Tina-Land? Aber bei aller Liebe zur Synergie – eins Costa del Sol. Tina Brown wollte mehr. Sie ben. Schreiber nahmen die Concorde und hat Brown gleich klargestellt: Die Chefin suchte den Weg zur Macht, und zwar di- ließen sich per FedEx das Gepäck ins Hodes Magazins ist sie und nur sie. Selbst Mi- rekt. Das fiel sogar dem Vater auf, der sag- tel senden. Als sie ging, war der Besitzer des Verramax-Chef Harvey Weinstein, sonst als te: „Sie hatte ein Engelsgesicht, und sie cholerischer Rabauke berüchtigt, der an- war das einzige Mädchen, das einen echten lags Condé Nast, der 71-jährige Si Newgeblich nachts die Filme seiner Regisseure Pelzmantel besaß. Wenn wir eine Party house, einer der reichsten Männer der eigenhändig umschneidet, musste schon gaben, saß sie am Ende auf dem Schoß des USA, schwer verstört – wissend, dass ihn die Renovierungsarbeiten seiner geliebversprechen, in Magazindingen den Mund wichtigsten Mannes im ganzen Raum.“ Wahrscheinlich nennt man so etwas In- ten Chefredakteurin zwar rund 150 Milzu halten. Nur im Sport habe er ein Vorschlagsrecht. Ansonsten musste der Mann stinkt, und dieser Instinkt war es, dem sie lionen Dollar gekostet, aber auch das schwören: „Es gab nur eine Person, die ich treu blieb. 1973 gewann sie sowohl einen Prestige seines Verlages enorm gesteigert nicht anschrie – meine Mutter. Dasselbe Theater- als auch einen Journalisten-Preis. haben. Sie hatte Reportagen geschrieben, darNatürlich kam Si Newhouse nicht in diegilt jetzt für Tina.“ Ob sich das Schwergewicht aus Brooklyn über, wie es ist, als Go-go-Girl auf Tischen ser Nacht auf die Insel der Freiheitsstatue. an solche Sätze morgen noch erinnert, ist in New Jersey zu tanzen oder sich mit Po- Und deshalb endete der Abend so, wie er natürlich fraglich, aber wenigstens während lizisten in L. A. auf ein Date zu treffen. ausgehen musste: schön kaputt. Als Mader Premierenparty überließ er Tina Brown Der Star ihrer Geschichten hieß stets: Ich. donna schon längst zu Hause war und auf Mit 25 bekam sie die englische Zeit- dem ablegenden Schiff die Rapperin Queen schnell die Bühne, von der aus sie sich bei ihm dafür bedankte, dass sie die letzten schrift „Tatler“, mit 30 das wiederaufge- Latifah und der Regisseur John Waters mit zwölf Monate seines Lebens in ein einziges legte amerikanische „Vanity Fair“, und die Pocketkameras Erinnerungsfotos voneinPulp Fiction verwandeln durfte. Schließ- New Yorker Gesellschaft tat das, was sie am ander schossen, klang von der Insel der lich blickte sie traumverloren auf die Frei- besten kann – sie ließ das englische Wun- Hit „I will survive“ herüber, und Tina heitsstatue und sprach: „Ein großes Sym- derkind gegen verschlossene Türen laufen. Brown stand noch immer unter der Freibol für die Immigranten.“ Sie könne das Wenn sie trotzdem einmal eingeladen wur- heitsstatue. „New York ist keine Stadt zum Verliebeurteilen. Schließlich sei sie auch einge- de, gaben sich die Leute überrascht. „Kind, wandert. „Aus London, Anfang der acht- was machst du denn hier – ich dachte, sie ren“, hat sie einmal gesagt, „keine Stadt, ziger Jahre“, sagt sie. „Mit der Concorde.“ hätten dich schon längst die Toilette hin- wo einem die Energie auch nur für kurze Zeit fehlen darf. Hätte ich meinen Job nicht Im Grunde verlief ihr ganzes Leben bis untergespült.“ Tina Brown lernte von ihrem Mann, – ich würde hier abhauen. In weniger als jetzt in Überschallgeschwindigkeit. Sie ™ wuchs 30 Kilometer von London in der so- dem 25 Jahre älteren ehemaligen „Sunday 20 Minuten.“ 92 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 In diesem TV würden, so der RTL-Gründer, die herkömmlichen Kanäle des Pay-TV verschwinden, die gegen eine monatliche Abo-Gebühr angeboten werden. „Warum soll ich mir im Fischer- und Jägerkanal des Abo-Fernsehens eine Stunde lang eine Aussöhnung zwischen der Sendung über den weißen Hai anschauen, Bertelsmann-Führung und Helmut wenn ich Forellen fangen möchte“, sagt er. Thoma: Der Ex-RTL-Chef Sein Ausweg: Am Computer oder am Fernbekommt neue Aufgaben – und seher das Stichwort „Forelle“ anklicken und alle Informationen sofort abrufen. verzichtet auf Schmähkritik. Im neuen Job hat es Thoma wieder mit seinem alten Sender RTL zu tun – Reibung eden Abend klickt sich Helmut Thoma, nicht ausgeschlossen. Als eine Art Sonder60, neuerdings ins Internet. Der botschafter soll er nun die RTL-Prolangjährige Chef des TV-Senders RTL grammschätze sowie die Inhalte der Konliest seit kurzem per Computer die Tageszernzeitschriften – von „Stern“ bis „Geo“ zeitungen vom nächsten Tag, am liebsten – fürs neue Fernsehen bergen. die aus seiner österreichischen Heimat. Er Dabei kooperiert er künftig mit dem sei ein „Spätberufener“, sagt er. Multimediamanager und Middelhoff-VerGrund der neuen Leidenschaft ist eine trauten Bernd Schiphorst. Der lässt in eiAbmachung zwischen dem Bertelsmannnem Bürohochhaus an der Hamburger Konzern und dem offenherzigen Wiener. Reeperbahn schon mal die Anwendungen Vor drei Wochen traf sich Thoma im Güdes neuen Fernsehens vorführen. Die wurtersloher Hauptquartier mit Vorstandschef den entwickelt von einer eigens gegründeThomas Middelhoff, TV-Vorstand Michael ten „Broadband Group“, in der auch ThoDornemann und Fernsehmanager Rolf ma-Sohn Harald mitwirkt. Schmidt-Holtz. Am Ende war sich die RunDer Aufgabenwechsel zum Ende der de einig: Der Profi soll als Berater für neue Karriere verschafft Thoma neue Posten. So Formen des Fernsehens, die mit dem Inwird er bald Aufsichtsrat der Berliner Multernet verbunden sind, aktiv werden. timediaagentur Pixelpark. Die Firma, die „Wir wollen auf das Know-how von unter anderem für die Technik des InterHerrn Thoma nicht verzichten“, sagt eine net-TV zuständig ist, will Bertelsmann im Sprecherin. Es gebe Gespräche über „einiOktober an die Börse bringen. ge konkrete Projekte“. Dafür behält der Nebenbei ist Thoma noch Aufseher der Ex-RTL-Boss die konzernüblichen InsiTelefonfirma Mobilcom, der TV-Produktignien der Macht – Geld, Großbüro und Posonsfirma Typhoon, des Kochbücher-Verlags ten. Der Friedensschluss bedeutet auch, Vemag sowie Beirat des Versidass Thoma künftig auf öffentlicherungskonzerns Axa Colonia che Schmähkritik verzichtet, die und Vorstand der theaterwissenvor allem seinen Nachfolger, schaftlichen Sammlung Schloss RTL-Chef Gerhard Zeiler, und Wahn – „ein kleiner Gemischtimmer wieder auch Fernsehvorwarenhandel“, sagt er selbst. stand Dornemann genervt hatte. Ein bisschen wird er sich wohl Der Konzern-Stratege hatte konsolidieren müssen. Denn für ihn vorzeitig aus dem Sender zwei Tage pro Woche ist er auch bugsiert. Frustriert registrierte noch bei seinem Freund, dem der alte Patron Thoma, dass sein nordrhein-westfälischen MinisRat nicht mehr gefragt war. Die terpräsidenten Wolfgang CleFolge: Er trat auch als Chef des ment, als honorarfreier Berater Gesellschafterbeirats von RTL im Wort. In seinem vollverglasab und gab fortan böse Interten Büro im elften Stock der views. Düsseldorfer Staatskanzlei, diIm Wiener Magazin „News“ rekt über dem Kabinettssaal, arkrittelte er, Zeiler führe den beitet der NRW-MedienbeaufSender wie ein „Polit-Sekretär“, tragte an guten Kontakten zu er sei nicht ansprechbar und den US-Medienmultis. lade sich zu viel auf. In der Nächsten Monat reist Thoma ARD-Talkshow von Reinhold wieder in die USA, dann trägt er Beckmann beantwortete er die die Wünsche von Clement vor – Frage, ob Zeiler nur ein „besseund fahndet für die Bertelsrer Abteilungsleiter“ sei: „Oa männer nach Filmhits fürs Abbesserer is’ dös net.“ ruf-Fernsehen. Bei Bertelsmann schüttelten Die Kritik am Digital-TV und viele den Kopf über die Rempe„denen in Gütersloh“ ist für leien ihres prominentesten Beihn Historie. Der neue Helmut raters, der bis Ende 2004 imThoma: „Das ist Schnee von merhin rund 1,5 Millionen Mark gestern, das habe ich gestripro Jahr von der Konzern-TVchen.“ Tochter CLT-Ufa erhält. Dass Internet-Berater Thoma: Sonderbotschafter im Konzern Hans-Jürgen Jakobs INTERNET Stichwort Forelle J auch Dornemann immer wieder zur Zielscheibe der Thoma-Kritik wurde, wollte die Konzernzentrale nicht hinnehmen. Dornemanns Pläne im Pay-TV nannte Thoma noch als RTL-Chef „digitalen Rinderwahnsinn“. In Gütersloh, monierte er oft, würden Kreative wie er missachtet. Und dass der TV-Vorstand seiner Meinung nach vom Fernsehen wenig verstehe, gehörte ebenfalls zum Standardrepertoire. Dornemann rächte sich, indem er seinen Hauptkritiker links liegen ließ. Die Zeit der Fouls soll nun vorbei sein. Thoma gibt in Kürze sein Büro bei RTL auf und bezieht ein neues im Stadtzentrum von Köln. Wieder einmal fühlt er sich als Geburtshelfer – so wie 1984, als der Jurist aus Wien in der Luxemburger Provinz das damalige Garagenfernsehen RTL startete. Er habe „schon mal bewiesen, wie man mit den richtigen Stoffen zum Zuschauer kommt“, sagt er, „ein ähnlicher Durchbruch ist erneut zu schaffen“. Der frisch gebackene Internet-Prophet sieht zwei Sorten von TV: das herkömmliche „Einschaltfernsehen“ mit Sendern wie ARD, RTL oder Pro Sieben, bei denen TV-Macher eine Vorauswahl fürs Publikum treffen, sowie das „Bestellfernsehen“ mit dem Zuschauer als Souverän. Dabei sollen die TV-Gucker über spezielle Zusatzgeräte aktuelle Spielfilme, einzelne Folgen ihrer Lieblingsserien oder auch etwa Musiktitel nach ihrer Wahl abrufen. Dieses System entwickele sich in sechs Jahren zu einem neuen Massenmarkt, glaubt Thoma. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 93 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene FOTOGRAFIE Rollenspiel mit Mutter Der Berliner Fotograf Ingo Taubhorn, 41, über seine Serie „Die Kleider meiner Mutter“ I. TAUBHORN jahrelang in den Kleidern Ihrer Mutter fotografiert, um deren Alltag zu dokumentieren. Was hat Sie dazu bewogen? Taubhorn: Ich wollte mich respektvoll und zugleich ironisch mit der Identität meiner Mutter beschäftigen. SPIEGEL: Hat Ihre Mutter die Arbeit unterstützt? Taubhorn: Sie war es, die die Kleiderkombination zusammenstellte. Darüber hinaus hat sie die für sie typischen Gesten vorgeführt und erläutert. SPIEGEL: Sie bezeichnen Ihre Bilder-Serie als einen Versuch, sich mit Ihrer kleinbürgerlichen Herkunft auseinander zu setzen. Ist der Versuch gelungen? Taubhorn: Auf jeden Fall. Mit Kleinbürgerlichkeit assoziiert man Intoleranz, Taubhorn Spießigkeit, sexuelle Verklemmtheit. Wenn sich ein Sohn nun als seine Mutter präsentiert, kehrt das die negativen Attribute ins Gegenteil. Der Betrachter der Bilder begreift, dass er es mit einer Familie zu tun hat, die über sich lachen kann. SPIEGEL: Wollten Sie sich mit dieser Arbeit aus Ihrem Milieu befreien? Taubhorn: Ich wollte das Rollenspiel. Ich leugne meine Herkunft nicht, aber ich beschönige sie auch nicht. Zu der monumentalen Schrankwand, der Sitzecke oder dem Kupferstich, alles Dinge im Leben meiner Mutter, habe ich die größtmögliche Distanz. Aber kaputtschlagen muss ich diese Dinge auch wieder nicht. D. KRÜLL / LAIF SPIEGEL: Herr Taubhorn, Sie haben sich Huber, Leder vor ihrer Installation; prämiertes Modell MODE London in Loden L oden hat Tradition. Schon die Wikinger sollen ihn hergestellt haben, seit dem Mittelalter kleidet er vornehmlich Alpenbewohner. Manchen Menschen fällt bei seinem Anblick Edmund Stoiber ein. Mit der Londoner Mode-Avantgarde bringt man Loden eher nicht in Verbindung. Das müsse geändert werden, entschied der Salzburger Bekleidungshersteller Alfons Schneider, 62. Anfang des Jahres übergab er den Studenten des Londoner Central St. Martins College of Art and Design mehrere Ballen und den Auftrag, REISEN Sandflöhe am Traumstrand rlauber mit Erfahrung misstrauen Hochglanz-Reiseprospekten. Häufig ist die Hotelbeschreibung geschönt, die Fotos lügen den Himmel zu blau und den Strand zu sauber. Abhilfe bietet eine Internetseite, die Erfahrungen von Reisenden veröffentlicht. Globetrotter können hier das elektronische Pendant zum Dia-Abend inszenieren. H. SCHWARZBACH / ARGUS U s p i e g e l Auch wer zu Hause bleiben muss, lernt was dazu. Etwa dass die vermeintlichen Traumstrände im Norden Madagaskars sandflohverseucht sind und dass die 19 Gorillas in ihrem neuen Domizil mitten in der New Yorker Bronx sich guter Gesundheit erfreuen. Das kostenlose Forum soll sich in Zukunft über Werbeeinnahmen finanzieren. Harry Weiland, 33, Projektleiter des Angebots, formuliert die Geschäftsidee so: „Alle reden vom Reisen, aber nur wer vor Ort war, hat was zu sagen.“ www.cabana.net Urlauber auf Mallorca d e r „Loden zeitgenössisch zu interpretieren“. 30 Entwürfe wurden letzte Woche auf der Düsseldorfer Modemesse ausgestellt, die ambitionierte Installation unter dem Motto „Beamtentum und Jagd“ erdachten die Studenten Alexander Huber, 29, und Frank Leder, 25. Der bisher eher für klassischen Landhausstil bekannte Initiator Schneider ist vom „Feuerwerk an Ideen“ begeistert. Demnächst zieren die Modelle sein Salzburger Stammhaus, und der Kontakt zu den Londonern wird noch verstärkt – als „Investition in die Zukunft“. 3 2 / 1 9 9 9 95 Gesellschaft PÄ DA G O G I K Wenn die Kleinen „nö“ sagen Nie war sie so wichtig wie heute: Erziehung. „Triple P“ heißt ein in Australien erprobtes Trainingsprogramm, das nun in Deutschland eingeführt werden soll. Es gibt gestressten Eltern eine Orientierung – denn sie schwanken allzu oft zwischen Drill und Schmusekurs hin und her. Kinder in der Grundschule mit Lehrerinnen: „Ordnung und Disziplin sind üble, reaktionär belegte Begriffe und gleichzeitig wichtig im E ltern produzieren sie, ohne Risiken und Nebenwirkungen zu bedenken, und nach neun Monaten werden sie frei Haus geliefert – ohne Gebrauchsanweisung. Dann sind sie da, die süßen Kleinen. Manchmal dürfen sie mit ins Restaurant, wo sie sich, unbeeindruckt von sämtlichen Ermahnungen, mit Pommes bewerfen, den Kellnern die Zunge herausstrecken, vor Vergnügen kreischen. Andere Restaurantbesucher, vornehmlich solche ohne Kinder, erteilen Ratschläge aller Art, und je mehr davon sie zum Besten geben, desto weniger kann man sie leiden, diese Klugscheißer. 96 „Wenn Paare Kinder bekommen, sind sie nicht automatisch Experten in Sachen Erziehung“, sagt Professor Kurt Hahlweg vom Institut für Psychologie der Technischen Universität Braunschweig. Die Braunschweigerin Brigitte Oppermann, 37, Mutter von Helen, 5, und Niko, 7, interessiert sich schon lange für die Frage, ob und wie sich Erziehungsverhalten optimieren lässt. Sie nahm an einem Trainingsprogramm für entnervte Eltern teil, das die Christoph-Dornier-Stiftung zusammen mit der Technischen Universität Braunschweig jetzt in Deutschland einführt. „Triple P“ (Positive Parenting Prod e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 gram) heißt das in Australien entwickelte Elterntraining, das seit kurzem auch von den stiftungseigenen Instituten in Dresden, Marburg und Münster angeboten wird. Zwölf Jahre forschte die Arbeitsgruppe um den Psychologen Matt Sanders an der Universität von Queensland, Australien, in enger Zusammenarbeit mit Familien. Das Ziel war, praxisnahe, pragmatische Erziehungshilfen zu finden für die Situationen, die den alltäglichen Elternnotstand bestimmen: nächtliches Schreien, Wut- und Trotzanfälle, Schlagen anderer Kinder, Ungehorsam, Einschlafprobleme. Auch bei fortgesetztem Bettnässen, Schulschwierig- mit viel Lob und positiver Verstärkung, aber auch mit klaren „Strafen“ bei Ungehorsam und Wutanfällen. Eine Chance, das Programm auch in Deutschland zu verbreiten, besteht nur, wenn etliche Erzieher, Lehrer, Kinderärzte, Psychologen und Pädagogen an speziellen Ausbildungskursen teilnehmen und ihre Kenntnisse dann weitergeben. Hahlweg findet ein Elterntraining unerlässlich, denn schnell wüchsen sich kindliche Macken zum Terror für die ganze Familie aus. Tatsächlich ist der Bedarf an Beratung groß: Fast zwei Millionen Alleinerziehende mühen sich um die richtige SÜDD. VERLAG K. ZIMMERMANN / ACTION PRESS Zusammenleben“ gut genug, um den Charakter eines Kindes zu formen“, schrieb Neill. Einer Generation, die auf zwei Weltkriege zurückschaue und dennoch drauf und dran sei, einen dritten vom Zaun zu brechen, dürfe man nicht mal „die Charakterbildung einer Ratte“ anvertrauen. Neills optimistische Empfehlung lief mehr oder weniger darauf hinaus, seine Kinder zu lieben, zu respektieren, nicht zu verprügeln und Teenager-Clique: „Erziehung ist ein Handel“ ohne rüde Disziplinierung gedeiMischung aus Strenge und Nachsicht, rund hen zu lassen. Die für ein Zusammenleben 15 Prozent aller deutschen Kinder leben unerlässliche Disziplin würden sich die unter der Armutsgrenze – ein Umstand, lieben Kleinen selber beibringen, „Selbstder Erziehung sicher erschwert. regulierung“ nannte Neill das. Die entBereits ein Viertel aller Kindergarten- sprechenden Experimente überforderten kinder von drei bis sechs Jahren zeigt Ver- Eltern und Kinder und endeten nicht selten haltensauffälligkeiten wie Aggressivität, mit Nervenzusammenbrüchen und chroniKonzentrationsprobleme sowie Ängstlich- scher Erschöpfung. keit. Das ergab eine Kindergartenstudie „Ordnung und Disziplin sind üble, reder Dornier-Stiftung und der Stadt Braun- aktionär belegte Begriffe und gleichzeitig schweig. Und kindliches Fehlverhalten wichtig im Zusammenleben“, sagt der wachse sich nicht einfach irgendwie aus, so Münchner Schriftsteller Joseph von WestHahlweg, sondern chronifiziere sich – bis phalen, „setzen Sie dieses Paradoxon mal hin zur Kriminalität. Auch der Berufsver- in einem fortschrittlichen Haushalt durch.“ band der Ärzte für Kinder- und Jugend- Von Westphalen, Vater zweier Kinder, hat psychiatrie schätzt die Zahl der „Pro- gerade den amüsanten Ratgeber „Wie man blemkinder“ auf rund eine Million. Die Er- seine Eltern erzieht“ veröffentlicht, der ziehungskompetenz der Eltern ist nicht be- entnervten Teenagern beibringt, die jeweisonders ausgeprägt, wie 2419 Opfer von ligen Erzeuger auf Vordermann zu brinKindesmisshandlung (36 davon mit Todes- gen. Eine der Erkenntnisse von Westphafolge) im letzten Jahr zeigen. Immer mehr lens: „Erziehung ist ein Handel.“ Kinder werden straffällig, die Zahl der TatKardinalfehler der heutigen Elterngeneverdächtigen unter 14 Jahren stieg im ver- ration sei der Hü-und-hott-Erziehungsgangenen Jahr um 5,9 Prozent auf rund stil, der zwischen Strenge und Nachgie150 000. bigkeit schwanke, sagt auch Jugendforscher Früher wurden Kinder mit dem Rohr- Klaus Hurrelmann, der an der Universität stock verprügelt oder weggesperrt, wenn Bielefeld unterrichtet. „Wankelpädagogik“ sie nicht spurten, dieses Verfahren wurde nennt die Schweizer Jugendpsychologin als „schwarze Pädagogik“ diskreditiert und und Buchautorin Eva Zeltner elterliche in den bewegten sechziger Jahren von der Unentschiedenheit. „Das Geheimnis erantiautoritären Erziehung abgelöst, als de- folgreicher Erziehung besteht in einer ren Gründer der Schotte Alexander gewissen Konsequenz, die Klarheit verSutherland Neill gilt. „Keiner ist weise oder mittelt.“ Genau das will Triple P, so Hahlweg, der davon überzeugt ist, dass das Programm vielen Eltern eine Orientierung gibt. Hahlweg: „Die meisten Eltern wurschteln sich halt so durch, sind mal konsequent und mal nicht.“ Mutter Oppermann etwa wollte, dass Helen, 5, lernt, ihr Zimmer aufzuräumen. Helen sagte „nö“, bis ihre Mutter eine Karte in ihrem Zimmer aufhängte, auf der nach jedem erfolgreichen Aufräumen ein lustiger Aufkleber gepappt wurde. Helen räumte auf. Nach zehnmal Zimmeraufräumen gibt es eine Belohnung für Helen, etwas, was sie sich dringend wünscht, etwa Kuchen backen mit ihrer Mutter oder ein Zoobesuch mit ihrem Vater. Auch wird Helen, sollte sie einen ihrer beeindruckenden Schreianfälle bekommen, zwei Minuten auf einen Stuhl gesetzt, um sich „runterzukühlen“, wie ihre Mutter sagt. Helen wird in dieser Zeit ignoErziehungsmittel Prügelstrafe (1873) riert. Anfangs sei ihr die Maßnahme „Stil„Große Entschiedenheit“ B. GEILERT / G.A.F.F. keiten, Ängsten oder Aggressionen verspricht das Konzept Hilfe. Triple P ist ein umfangreiches Programm, das die verschiedenen Entwicklungsphasen der Kinder berücksichtigt. Die Überlebenshilfe für Eltern ist nicht neu, wurde aber noch nie so konsequent ausgearbeitet: eine kompakte Lektion in Form von Videokassetten, Broschüren, Einzeloder Gruppentraining bis hin zu intensiven Familientherapien. Wichtigster Grundsatz: Konsequenz. Um sie zu erreichen, müssen sich die Eltern einig sein. Triple P arbeitet d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 97 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft MODE Letzter Kick: schwuler Schick Von Wolfgang Joop 100 D käufer in der Boutique besser als mit ihrer Partnerin. Trotzdem sind alle Versuche zur politischen Emanzipation von Homosexuellen bisher gescheitert. An der gesellschaftlichen Außenseiterrolle konnten weder die Menschenrechte etwas ändern noch die nahe liegende Erkenntnis, dass auch gleichgeschlechtliche Liebe gott- oder naturgewollt ist. Der englische Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry glaubt sogar, dass es nur die Liebe sei, die die Heteros den Homos neiden. Eine Liebe ist wohl gemeint, die sich über Konventionen und Erziehung hinwegsetzt. Der Trend der Mode – diese einzig noch echte, weil schnelle gesellschaftliche Bewegung – ebnet nun alle Unterschiede wenigstens optisch ein. Das weiche, feminine Gesicht bei Männern und Frauen ist das „image du jour“, so das US-Blatt „Harper’s Bazaar“. Ultrafemininität bestimmt das Erscheinungsbild der Mode- und Popszene. Teenager-Popstars wie die Hanson-Brüder und Schauspieler wie Brad Pitt, Gwyneth Paltrow, Winona Ryder und Leonardo DiCaprio spiegeln die gesellschaftliche Obsession, unschuldig-jung aussehen zu Vivienne-Westwood-Top Vivienne-Westwood-Rock N. McINERNEY as britische Magazin „The Face“ fragte jüngst in seiner Titelzeile: „Wish you were queer?“, übersetzt ungefähr: „Wärst du gern schwul?“ Weiter hieß es: „Bist du schwul? Etwa nicht? Jeder ist es!“ Fehlt einem heutzutage die Neigung zum eigenen Geschlecht, muss man wohl ein Elternteil oder zumindest seinen Psychoanalytiker konsultieren: Schwulsein ist plötzlich keine Angelegenheit sexueller Orientierung mehr, es ist ein beneidenswerter Vorzug oder, wie Pastor Fliege es anlässlich des Christopher Street Days politically correct äußerte: „eine Gabe“. Drehbücher für Filme und Seifenopern haben kaum noch eine Chance ohne Lesbenoder Schwulenauftritte. Heterosexuelle Akteure brillieren in gleichgeschlechtlichen Kuss-Szenen, können als „Drag-Queens“ ohne Übung auf Stilettos trippeln und gestatten ihrer lange versteckten femininen Seite unbeschwert Auslauf. Schon lange hatten Heteros Homos im Verdacht, mehr Spaß zu haben: Heißt „gay“ doch übersetzt so was wie „fröhlich“. Millionen von Männern verstehen sich heute mit ihrem Friseur, ihrem Fitness-Trainer oder ihrem Ver- C. MOORE W. BARTSCH ler Stuhl“ schwer gefallen, so Oppermann, „ich dachte, ich sei zu hart“. Ihr schlechtes Gewissen schwand in dem Maße, in dem Helen sich mit den verschiedenen Belobigungs- und Bestrafungsmaßnahmen anfreundete und aus Wutund Trotzanfällen „viel schneller herauskam“, wie ihre Mutter beobachtete. Auch das Braunschweiger Ehepaar Krieger nahm an dem Elterntraining teil, weil es seine drei Kinder „ohne ständige Brüllerei“ mit Erfolg erziehen wollen. Schauen die Kinder verbotenerweise fern, gibt es eine Woche Fernsehverbot, für alle. Manscht Mark, 6, mit den Fingern im Essen herum und schaut dabei träumerisch in die Gegend, ermutigt und verstärkt die Mutter jede Geste, die zu der Hoffnung Anlass gibt, er werde nun doch einen Bissen zu sich nehmen. Nimmt Mark die Gabel in die Hand, fängt Sonja Krieger an zu loben, isst Sven drei Bissen schnell und zügig, lobt sie weiter. Die Reaktionen ihres verträumten Kindes seien verblüffend positiv. Krügers Bilanz: weniger Motzerei, weniger Ärger Hahlweg bei Tisch und eine sehr viel geregeltere Nahrungsaufnahme als bisher. Wie wenig sie ihre Kinder gelobt hätte und wie wenig sie mit ihnen spielte und kuschelte, sei ihr erst durch das Programm klar geworden, sagt Krieger. Insgesamt seien die Kinder viel ausgeglichener, und die ganze Familie sei stärker zusammengerückt. Es sei ein gefährlicher Gedanke, sagt Psychologin Zeltner, „Grenzsetzung mit Liebesentzug zu verwechseln. Kinder müssen lernen, dass sie nicht alles erreichen – und deshalb trotzdem geliebt werden“. Kinder sind nicht die Kumpel ihrer Eltern, sie sind keineswegs immer teamfähig, manchmal buhlen sie mit renitentem Geschrei um Aufmerksamkeit, manchmal trödeln sie herum, manchmal verprügeln sie andere Kinder. Eltern können nicht jede ihrer Forderungen endlos debattieren. „Früher hab’ ich viel zu viel geredet und herumargumentiert“, sagt Frau Oppermann, „heute handle ich schneller und mit großer Entschiedenheit.“ Dass ihr dabei auch mal Fehler unterlaufen, nimmt sie sich nicht mehr so übel. Eltern müssen weg von dauernden Schuldgefühlen – auch das lehrt Triple P. In Australien lief das Überlebenstraining für Eltern als Serie im Fernsehen sehr erfolgreich. Hahlweg sucht nun auch in Deutschland nach einem Sender. Denn via Bildschirm, sagt Hahlweg, „könnte sich das Ratgeberprogramm am schnellsten verbreiten“. Angela Gatterburg Feminine Männer-Mode: Dem Macho die Potenz genommen d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 wollen. Das Phänomen hat bereits einen Namen: „Pretty Principle“. Vergessen ist der aggressive, athletische Look der achtziger Jahre, in denen der Schwule deutlich männlicher aussah als der Hetero. Die Kopie und Travestie des Macho-Mannes nahmen dem Original die letzte Potenz. Nur noch schwule Porno-Stars benötigen unbedingt drei unerlässliche Attribute: „Den Blick der Verheißung, den Körper zum Träumen und den Schwanz, der Angst macht“ (Vox – „Wahre Liebe“). Nach dem Willen der Modedesigner trägt man im nächsten Winter Pelze über nackter und möglichst schmaler Brust (Gucci). Dazu bestickte Hosen oder gar anmutige Herrenröcke (Comme des Garçons). Ja, richtig gelesen: Röcke für Männer, da die Damen längst die Hosen anhaben. Und im nächsten Sommer geht nichts mehr außer Haus, was nicht glitzert oder glänzt. Heimlich beneideten die Männer die Frauen schon lange um ihre Kosmetika, ihre Haartönungen, ihren Schmuck – und sogar um ihr Vorrecht auf die Menopause, diese geheimnisvolle Lebenssituation, in der man so richtig unberechenbar sein darf: Man darf Launen haben, durchbrennen, durchdrehen und das Leben oder den Look radikal ändern. Masken und Verkleidungen zu tragen ist heute gängige Alltagskunst, die einfach jeder beherrschen muss: schillernde Illusion gegen öde Realität. Ist sie vorbei, die Angst der Schwulen vor den Heteros? Oder kehrt sich die Situation sogar um? Boy George, androgyner Popsänger vom Culture Club, gesteht: „Ich bin ein Hetero-Hag (Hag = Anmacher). Ich pfeife Männern hinterher, ich bin ein schwuler Chauvinist.“ Auf Love- und Gay-Pride-Paraden feiert eine ganze Gesellschaft ein homogenes Coming-out. Erwachsene benehmen sich kollektiv wie hysterische Teenager. Der Grund der fröhlichen Übertreibung mag in der Wehmut liegen – so vermutet das haupt- E. MULHOLLAND Ist der Schwule das neue gesellschaftliche Schoßhündchen, das ultimative Party-Mitbringsel? José-Castro-Rodríguez-Jacke d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 sächlich für Schwule geschriebene Magazin „Attitude“, dass die bittersüßen Romanzen, die den Hetero-Teens so selbstverständlich sind, den Homos von den Eltern und der Gesellschaft verwehrt geblieben sind. Gleichgeschlechtliche Sexualität überfällt den Heranwachsenden ohne Vorwarnung und Vorbild. Der Umgang mit den Waffen der Schwulen will allerdings gelernt sein: Es braucht dazu eine scharfe Zunge und Schlagfertigkeit, modisches Bewusstsein und körperliche Selbstkontrolle. Dazu kommen eine neue politische Wachsamkeit und das Machtgefühl einer solidarischen Minderheit. „Die diesjährige Supernova in Sachen Sex ist schwules Selbstbewusstsein“, behauptet „The Face“. Womit endlich der letzte Schritt „in die Homosexualisierung der britischen Kultur“ getan sei. Ist der Schwule das neue gesellschaftliche Schoßhündchen, das ultimative Party-Mitbringsel? In Klischees steckt immer Wahrheit. Für Konservative heißt es wachsam sein! Längst schon findet man Homosexuelle in allen Berufsgruppen und nicht nur in der Haute Couture, unter Friseuren und Floristen. Doch Mitläufer sollten sich Schwulsein nicht so einfach vorstellen. Ein Leserbriefschreiber erklärte im britischen LifestyleMagazin „Attitude“, drei Eigenschaften seien fürs glückliche Schwulsein Voraussetzung: Brillanz, viel Sex und immer im Mittelpunkt stehen – selbst bei der Geburtstagsparty anderer Leute. Das gelingt nur, wenn vor dem Spaß der Schmerz kommt: Sit-ups, Push-ups, Piercing, Prada! ™ 101 Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama EU-KOMMISSION J. WALKER / GAMMA /STUDIO X (g.): SIPA PRESS (k.) Trostpflaster für die Union D er deutsche Nato-Botschafter in Brüssel, Joachim Bitterlich, 51, möchte gern Generalsekretär der EUKommission und damit Nachfolger des amtierenden Niederländers Carlo Trojan werden. In Brüssel gilt es als wahrscheinlich, dass der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi sich nach seiner formellen Wahl im September von Trojan trennen wird, um einen klaren Schnitt zur alten, kollektiv zurückgetretenen Santer-Kommission zu machen. Die Chancen des ehemaligen außenpolitischen Beraters von Bundeskanzler Helmut Kohl, Trojan zu beerben, stehen nicht schlecht. Prodi hat keine Einwände gegen den CDU-Mann. Außenminister Joschka Fischer hatte Bitterlich, nachdem der wenige Monate auf dem Nato-Posten amtierte, überraschend die Absetzung im Rahmen einer größeren Personalrochade angekündigt. Bitterlich lehnte es jedoch ab, Botschafter in Tokio oder Madrid zu werden. Er will in Brüssel bleiben. Der Posten des EU-Generalsekretärs würde zur beruflichen Vita Bitterlichs passen. Zudem sind die Deutschen beim Postenschacher in der EU in letzter Zeit nicht gut bedient worden. Auch die CDU-Mitgliedschaft muss Bitterlich keineswegs PKK-Demonstration, inhaftierter Öcalan (r.) TÜRKEI Nationalisten gegen Kurden-Kompromiss M. DARCHINGER M Bitterlich, Kohl schaden. Durch die Benennung von zwei Koalitionspolitikern als EU-Kommissare hat Bundeskanzler Gerhard Schröder die bei der Europawahl siegreichen Konservativen verprellt. Prodi muss sich seitdem mit dem Vorwurf plagen, seine Kommission sei politisch unausgewogen komponiert. Mit der Bestallung Bitterlichs als EU-Generalsekretär könnte Schröder die CDU/CSUMitglieder des Europaparlaments besänftigen und Prodi die Anhörungen im Parlament Anfang September leichter machen. it einer neuen Serie antikurdischer Maßnahmen reagiert das nationalistische Establishment Ankaras auf die jüngsten Friedensaufrufe Abdullah Öcalans und die Bereitschaft der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zum Rückzug „hinter die Grenzen“. Dem Abgeordneten Mehmet Fuat Firat von der islamistischen TugendPartei (FP) wurde vorigen Donnerstag untersagt, Kurdisch als seine dritte Fremdsprache in die Homepage des türkischen Parlaments einzutragen. Das Kurdische sei „keine Sprache, sondern nur ein Dialekt, ein Akzent“, wetterte ein Abgeordneter der ultrarechten Regierungspartei MHP. Auch Harold Koh, Unterstaatssekretär im US-Außenministerium, wird seit Tagen scharf attackiert. Koh hatte vergangene Woche den türkischen Südosten bereist, um die Menschenrechtssituation im Krisengebiet zu prüfen. Der links-nationalistische Politiker Ali Kar≠ilayan empfahl, Koh solle „schleunigst des Landes verwiesen werden“. Die türkischen Sicherheitsbehörden rechnen damit, dass Kader der PKK sich in den kommenden Monaten vermehrt ins europäische Ausland absetzen werden, weil die traditionellen Rückzugsbasen im Nordirak und in Iran keine sichere Zuflucht mehr bieten. Syrien, wo Öcalan bis zu seiner Flucht im vergangenen Oktober sein Hauptquartier hatte, begegnet der PKK inzwischen mit offener Feindseligkeit. Der türkische Generalstab, das Innenministerium und der Geheimdienst MIT erwarten deshalb einen Abzug der PKK-Kämpfer über den griechischen Teil Zyperns in die europäischen Nachbarländer der Türkei, vor allem nach Griechenland und Rumänien. nach DEUTSCHLAND Fluchtziel Europa RUMÄNIEN JUGOSLAWIEN ASERBAIDSCHAN Schwarzes Meer ARMENIEN Istanbul ITALIEN GRIECHENLAND TÜRKEI Kurdische Siedlungsgebiete IRAN Athen SYRIEN Mittelmeer Larnaka d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 IRAK 200 km 103 Panorama G R O S S B R I TA N N I E N 300 km Tierische Erleichterung SIMBABWE G ea r Oz che ntis Atla egen Weniges haben die Briten höhere Barrikaden errichtet als gegen die Gefahren, die von jenseits des Kanals drohen: Tollwut, Rechtsverkehr und Sozialismus. Jetzt soll, fast 100 Jahre nach ihrem Aufbau, eine dieser Schranken fallen. Vom 1. Januar an, so sieht es ein Pilotprojekt vor, werden britische Haustiere, die auf dem Autoreisezug durch den Kanaltunnel zurückkehren, nicht mehr für sechs Monate in Zwangsquarantäne eingewiesen. Die vorsichtige Öffnung gegenüber dem praktisch tollwutfreien Kontinent sowie den ehemaligen Kolonien Australien und Neuseeland war durch den Protest prominenter Briten erzwungen worden, die sich nicht von ihren Lieblingen trennen wollten. Gleichwohl ist die neue Reisefreiheit noch immer an beachtliche Hürden gebunden. Für ausreisende Tiere werden zur Identifikation ein Mikrochip-Implantat Pflicht sowie ein Pass, der alle vorgenommenen Impfungen nachweist. Obligatorisch ist auch ein Bluttest vor Verlassen der Insel, der belegt, dass die Tollwutimpfung wirksam ist. 24 bis 48 Stunden vor der Rückkehr müssen die Tiere von staatlich zugelassenen Veterinären im Ausland eine Wurm- und Zeckenbehandlung erhalten. Der Aufwand wird etwa 200 Pfund kosten, ein Zehntel dessen, was für die Quarantäne zu zahlen war. Bewähren sich die neuen Vorschriften, sollen sie bis April 2001 schrittweise ausgeweitet werden – auch auf Tiere von Ausländern. Dann droht die Zwangseinweisung nur bei der Einreise aus Ländern wie Kanada oder den USA, wo noch Tollwut auftritt. n Windhuk CapriviZipfel BO T SWAN A SÜDAFRIKA Gewaltsame Abspaltung S eparatisten sorgen für Unruhe in einem der bislang stabilsten Länder Afrikas. Bewaffnete Aufständische fielen in der Nacht zum vergangenen Montag in Katima Mulilo ein, der Hauptstadt der namibischen Caprivi-Region. Sie fordern die Unabhängigkeit des schmalen, 450 NAHOST „Wir verhandeln nicht über den Golan“ Der syrische Informationsminister Mohammed Salman, 54, über die Chancen eines Friedens mit dem Erzfeind Israel AP 104 N AMI B I A NAMIBIA T. MELVILLE / PA Tierschutzbeamtin, Mikrochip-Lesegerät SAMB I A Katima Mulilo AN G O L A SPIEGEL: Nach seinen jüngsten Äußerungen scheint Israels RegieSalman rungschef Ehud Barak bereit, mit Damaskus Frieden zu schließen. Wann beginnen die Verhandlungen? Salman: Ihre Wiederaufnahme ist durchaus möglich – wenn Jerusalem die Gespräche genau dort fortsetzt, wo sie 1996 abgebrochen wurden. Premierminister Barak muss die Verpflichtungen des ehemaligen Regierungschefs Jizchak Rabin respektieren, der die israelischen Truppen auf ihre Positionen vom 4. Juni 1967, unmittelbar vor Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs, zurückziehen wollte. SPIEGEL: Für wie seriös halten Sie die vermeintliche Bereitschaft Baraks zum Rückzug vom Golan? Salman: Bis jetzt ist noch nichts Greifbares in Sicht. Baraks Behauptung, er strebe einen umfassenden Frieden auf Grundlage der Uno-Resolutionen 242 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Erschossene Rebellen nach dem Aufstand in Kilometer landeinwärts ragenden Korridors im Nordosten des Landes. Das Gebiet war 1890 der damaligen Kolonialmacht Deutschland im Rahmen des „Helgoland-Sansibar-Vertrags“ zugeschlagen und nach dem Reichskanzler Leo Graf von Caprivi benannt worden. Seither und 338 an, wird durch die Erklärungen seiner Minister verwässert. Die sprechen von Kompromisslösungen wie einem Teilrückzug auf dem Golan, nicht aber von einer völligen Räumung und behaupten, dass es keine Rückkehr zu den Grenzen von 1967 geben werde. SPIEGEL: Hegen Sie Zweifel an der ehrlichen Verhandlungsbereitschaft Baraks? Salman: Er hat nur gesagt, er werde Rabins Politik fortführen, den arabischisraelischen Jahrhundertkonflikt beenden und sich vorrangig um die Verwirklichung eines globalen Friedens bemühen. Wir werden jeden Schritt, den Jerusalem in diese Richtung tut, mit einem Schritt unsererseits beantworten. SPIEGEL: Und wenn Barak eine Rückkehr zu den 67er Grenzen ausschließt? Salman: Wer glaubt, dass er im Schatten des Friedens möglichst viel Land herausschlagen kann, ist nicht redlich. So jemand ist schwerlich an einer wirklichen Lösung interessiert und missachtet das Prinzip „Land gegen Frieden“. SPIEGEL: Sehen Sie absolut keinen Raum für einen territorialen Kompromiss? Salman: Über den Golan verhandeln wir nicht, das ist für uns kein Thema. Das ist bereits in der Amtszeit Rabins geklärt worden. Wir hätten damals keinen Fortschritt erzielt, wenn Rabin nicht bereit gewesen wäre, die israelischen Truppen auf die alten Grenzen zurückzuziehen. Ausland POLEN den vorigen Oktober aufgedeckt, als Namibias Sicherheitskräfte geheime militärische Ausbildungslager im Caprivi-Zipfel aushoben. Die Rebellen flohen nach Botswana; ihr Anführer Mishake Muyongo, 59, einst Vorsitzender der größten Oppositionspartei Namibias und königlicher Abstammung, fand in Dänemark Asyl.Von dort meldete er sich jetzt unversöhnlich zu Wort: Der Kampf werde noch lange dauern, niemals werde Caprivi wieder von fremden Mächten regiert. Eine Untergrundbewegung in Sambia, die Patriotische Front der Barotse, hat bereits Unterstützung zugesagt. Sollte sich zudem bestätigen, dass angolanische Unita-Rebellen am gescheiterten Überfall beteiligt waren, steht Namibia vor der größten Krise seit der Unabhängigkeit 1990. Bomben vor Swinemünde I REUTERS m Hafenbecken Mulnik vor Swinemünde (Swinoujście) wurden in den vergangenen drei Jahren 15 alte deutsche Seeminen und 11 Bomben gehoben und entschärft, behauptet die Schiffsbergungsgesellschaft Polskie Ratownictwo Okretowe aus Gdingen. Für jeden Einsatz habe sie rund 50 000 Mark von der Stadt kassiert. Swinemündes seit acht Monaten amtierender Bürgermeister Stanislaw Mozejko wirft der Firma hingegen vor, die Sprengkörper selbst gelegt zu haben, um öffentliche Gelder zu erschleichen. Zum Beweis entschärfte der ehemalige Werft- Katima Mulilo spaltet die kuriose Grenzziehung das einstige Königreich des Barotse-Stammes. Der lebt heute auf Namibia, Sambia und Botswana verteilt, doch seine Führer träumen immer noch von einem autonomen Barotse-Land. Erste Vorbereitungen für eine gewaltsame Abtrennung der Region wur- INDIEN Auf Sparkurs in die Katastrophe V W. DUSZENKO / AGENCJA GAZE iele Leichen waren so entstellt, dass die Helfer am Unglücksort nicht unterscheiden konnten, „ob es Männer oder Frauen waren“. Eines der schwersten Eisenbahnunglücke in der Geschichte Indiens forderte vorigen Montag im westbengalischen Gaisal mindestens 285 Tote und über 300 Verletzte. Vordergründig war menschliches Versagen die Ursache des Zusammenpralls zweier Fernzüge. Doch der Rücktritt von Eisenbahnminister Nitish Kumar verweist auf strukturelle Probleme; jährlich ereignen sich rund 400 Unfälle auf dem längsten Schienennetz der Welt (62 000 Kilometer). Shanti Narain, Staatssekretär im Eisenbahnministerium, gestand, dass nur 300 Streckenkilometer pro Jahr erneuert werden, obwohl 1000 das Minimum wären. Auch fehlt, wie das Desaster von Gaisal zeigt, ein effizientes Kommunikationssystem für Lokführer, das zum Beispiel eine Warnung ermöglicht, wenn ein Zug unterwegs liegen bleibt. Y. P. Anand, ehemaliger Vorsitzender des Eisenbahnministeriums, kritisiert die „Wohlfahrtsmentalität“ der Behörden, die überfällige Investitionen verhindere: Die Fahrpreise für die täglich etwa zwölf Millionen Passagiere würden künstlich niedrig gehalten. Nach offiziellen Angaben beträgt der Einnahmeverlust durch Billigtickets und Schwarzfahrer pro Jahr rund 1,4 Milliarden Mark. Die Kosten für die Modernisierung der indischen Bahn werden mit jährlich mehr als 7 Milliarden Mark beziffert, tatsächlich wurden 1998 nur 4,2 Milliarden aufgewendet. Mozejko, entschärfte Bombe REUTERS Zugunglück in Gaisal elektriker persönlich, ohne jede Vorsichtsmaßnahme, einen 980 Kilogramm schweren Blindgänger und präsentierte ihn im Rathaus: Die eingestanzte Identifizierungsnummer zeige, dass die Bombe aus einem Depot der polnischen Kriegsmarine in Darlowo stamme. Mozejko, ein notorischer Antikommunist und Solidarność-Mitglied der ersten Stunde, wittert eine Verschwörung der früher in Swinemünde regierenden Nomenklatura, der Staatsanwaltschaft, der Kriegsmarine und der Polizei: „Hier auf Usedom herrschen sizilianische Verhältnisse.“ Kritiker werfen ihm indessen vor, seine eigenwillige Aktion habe die Bevölkerung gefährdet. Polens Justizministerin Hanna Suchocka schaltete die Generalstaatsanwaltschaft ein. 105 Ausland BALKAN Zuchtmeister im Völkerkäfig Morden im Kosovo, Mauern in Bosnien: Das Ziel des Westens, in seinen Balkan-Protektoraten gemischte Gesellschaften zu erzwingen, scheint wenig realistisch. Und für eine Erziehungsdiktatur fehlen den Statthaltern die Machtmittel. M it Hammer und Meißel können die anstelligen Muslimkinder auch im Dunkeln umgehen. Von einem Steinkreuz der Orthodoxen, das als Symbol serbischer Unterdrückung angegangen wird, ist bald nichts als ein Häufchen Schutt übrig. Und im Innern der Feindeskirche haben junge Albaner den Verputz so kräftig mit Eisenstangen traktiert, dass im Licht der Taschenlampen nur noch nackter Ziegelstein zu sehen ist. Am Morgen darauf, bei der Wiedereröffnung einer Schule im nordkosovarischen Mitrovica, fehlen die Serbenkinder – die meisten wohl deshalb, weil ihre Familien die Flucht ergriffen haben. Nur einige serbische Lehrer sind erschienen und stehen mit vorwurfsvollen Gesichtern herum. Als ein albanischer Knirps gefragt wird, ob er seine früheren Spielkameraden nicht vermisse, antwortet er mit ernster Miene: „Ich hoffe, sie kommen nie wieder.“ Die aus Kindermund grausam klingenden Worte könnten nicht nur im Kosovo, sondern über weiten Landschaften des früheren Jugoslawien in Granit gemeißelt stehen. Ob in der kroatischen Krajina, in Bosnien und der Herzegowina oder im nun fast schon „serbenreinen“ Kosovo: Die Frage nach einer eventuellen Rückkehr der Vertriebenen weckt überall nur bedächtiges Kopfschütteln oder Abwehrgesten. Westliche Präsenz – im Kosovo seit sieben Wochen, in Bosnien seit über drei Jahren – kann an dieser Haltung wenig ändern. „Die Nato verwaltet eine expandierende Föderation balkanischer Ghettos, deren Bewohner sich nichts sagen lassen, aber für Devisen stets dankbar sind“, höhnt der türkisch-albanische Journalist Dzabir Derala im mazedonischen Skopje. Jedenfalls dürfte die gewaltsame ethnische „Entmischung“, die in diesem Jahrzehnt im zerfallenden Vielvölkerstaat Jugoslawien vorgenommen wurde (und die im Kosovo unter den Augen der westlichen Truppen weitergeht), ohne neue Gewalt kaum rückgängig zu machen sein. Nach der blutigen Vertreibung von Millionen nun eine neue, aber geordnete Zwangsumsiedlung, die die Geflüchteten allmählich in Westliche Kfor-Schutztruppe, Albaner (in Mitrovica) Grausam klingende Worte 106 ihre früheren Häuser, Dörfer, Stadtviertel zurückbringt? Die Rechnung ist ohne den Hass gemacht, den die Massaker dieses Jahrzehnts hinterlassen haben. Solange im Kosovo noch Massengräber ausgehoben und Gebeine gezählt werden, solange in Bosnien, Kroatien und Serbien ein Bruchteil der Kriegsverbrecher ausfindig gemacht ist, die an der Ermordung von zehntausenden Schuld tragen, klingt das Gerede von der „Wiederherstellung multi-ethnischer Gemeinschaften“ weltfremd und hohl. Beispiel Srebrenica: In der ostbosnischen Stadt, wo im Juli 1995, unter den Augen niederländischer Uno-Truppen, über 7000 muslimische Zivilisten von den Serben weggetrieben und später abgeschlachtet wurden, sind erst 45 der Opfer identifiziert. Die Skelette von über 5000 Erschossenen stecken noch in Plastiksäcken in einem Betontunnel bei Tuzla. Gleichwohl konnte in Srebrenica 1997 – mit den Stimmen der bosnischen Vertriebenen in Westeuropa und dem Balkan – ein „multi-ethnischer“ Gemeinderat gewählt werden, der jetzt im Juni sogar zu seiner Eröffnungssitzung zusammenkam. Doch diesem gemischten Gemeinderat entspricht noch längst keine „multi-ethnische“ Stadtbevölkerung: Die Voraussetzungen für eine R. HAVIV / SABA (l.); S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV (r.) Massengrab in der Nähe von Srebrenica, Beisetzung ermordeter Serben: Skelett-Reste im Betontunnel verwahrt Sarajevo umgesiedelt. Hierfür gibt es Geld – jede Gemeinde, die zu einer solchen Aktion bereit ist, wird vom Westen großzügig belohnt. Aber auch eine unbegrenzte Milliardenfülle könnte die ethnischen Verschiebungen nicht rückgängig machen, die Bosniens Landkarte revolutioniert haben. Umgeben von einer rein serbischen „Republika Srpska“ und einer Kolonie Kroatiens, die sich einmal „Herceg-Bosna“ nannte, bietet sich Zentralbosnien als eine Steppdecke von zehn muslimischen und kroatischen Kantonen dar, mit eigenen Ministerpräsidenten. SYGMA Rückkehr der Vertriebenen sollen erst noch geschaffen werden, mit den Jahren, mit viel Geld. Natürlich gibt es punktuelle Erfolge. Es wäre verwunderlich, wenn in Bosnien auch Jahre nach den Gewaltorgien nicht auch ein Dorf wie Sokolac zu finden wäre: 40 Kilometer von Sarajevo entfernt sind drei Bauunternehmer – zwei Serben und ein Muslim – dabei, von serbischer Soldateska zerstörte Häuser wieder aufzubauen. 30 muslimische Familien werden sich in die serbisch beherrschte Gegend zurückwagen, dafür 30 serbische, die in Sokolac Zuflucht gefunden hatten, in ihre Heimatstadt Geht es auf diesen Flecken nach dem Wunsch der heute dort vorherrschenden Mehrheiten, dann werden sich hunderttausende ihrer früheren Nachbarn und Mitbürger, die mit Gewalt entwurzelt und vertrieben wurden, dort nie wieder blicken lassen: aus dem Auge, aus dem Sinn, aus dem Weg – für immer. Entsprechend ist die Obstruktion aller Rückführungsversuche. Wofür aber hätte die westliche Wertegemeinschaft dann einen aufwendigen, Milliarden verschlingenden Krieg geführt? Auf dem gesamten Balkan wurde eine Botschaft formuliert: „Wir lassen etwas so Teuflisches wie ethnische Säuberungen nicht geschehen, wir stellen uns dem entgegen“ – so die US-Außenministerin Madeleine Albright im SPIEGEL (30/1999) über die Kriegsmotive der Supermacht. Die Rettung des Kosovo als multi-ethnisches Gebiet sollte aber auch den Bemühungen, in Bosnien für die Vertriebenen die frühere Ordnung wiederherzustellen, neuen Schwung geben. Ganz in diesem Sinne hat Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als erster westlicher Regierungschef ins Kosovo reiste, den Führern der dortigen Albaner-Mehrheit eingeschärft, dass sie die „multi-ethnische Prägung“ ihres Landes nicht gefährden dürften. Das müssen die Albaner-Führer überhört oder nicht weitergesagt haben. Denn ihre Anhänger haben sich erst gar nicht dabei unterbrechen lassen, im Kosovo Serben umzubringen und deren Häuser in Brand zu stecken – so, wie paramilitärische Einheiten des Serben-Regenten Slobodan Milo∆eviƒ es monatelang an den KosovoAlbanern vorexerziert hatten. Und die westlichen Truppen, die einmarschiert waren, um der Vertreibung der albanischen Kosovaren Einhalt zu gebieten, können seither offenbar nur machtlos beim erzwungenen Exodus der KosovoSerben zuschauen. Der britische Oberkommandierende General Sir Michael Jackson wirkt immer düsterer und hilfloser: Nach jeder Bluttat muss er betreten einräumen, dass seine Soldaten „nicht überall gleichzeitig“ sein könnten. Schon hat ein wütender Menschenrechtler von Human Rights Watch in der 107 Ausland „Die Vorstufe zur Unabhängigkeit“ Albaner-Führer Ibrahim Rugova über die Zukunft des Kosovo Rugova, 55, Literaturwissenschaftler und 1998 von den Kosovo-Albanern zum „Präsidenten“ gewählt, wird von der Befreiungsarmee UÇK nicht anerkannt. Bis dahin hat uns die Nato versichert, unsere Schutzmacht zu sein. SPIEGEL: Der von den USA favorisierte Premier und UÇK-Führer Hashim Thaçi wird von Ihnen nicht anerkannt. Fürchten Sie ihn als Rivalen um das Präsidentenamt? Rugova: Thaçi hat ohne unsere Billigung eine Regierung gebildet. Dies war nur vorgesehen für den Fall, dass die Verträge von Rambouillet unterschrieben werden. Bis zu den Wahlen unterstützen wir – also die Demokratische Liga – die Regierung Bukoshi. Beide Regierungen sowie ein breites Spektrum aller Parteien werden jedoch mit der internationalen Administration zusammenarbeiten. Ich bin weiter der Präsident des Kosovo und bestehe auf einer Direktwahl kurz vor oder nach den Wahlen. Eine Ernennung durch das Parlament lehne ich ab. SPIEGEL: Bis zu den Wahlen, voraussichtlich im Frühjahr, liegt die alleinige Entscheidungsvollmacht bei der inter- SPIEGEL: Damit stünde einer Verei- AFP / DPA nigung mit Albanien nichts mehr im Weg. Rugova: Darüber müsste die Bevölkerung zu einem späteren Zeitpunkt in einem Referendum entscheiden. Aber Wirtschafts- oder Zollunionen mit anSPIEGEL: Herr Rugova, das Kosovo ist deren Staaten werden wir nach Konfür eine Übergangsperiode internatiosultationen mit der internationalen Genales Protektorat. Was folgt danach? meinschaft sehr schnell eingehen. Wir Rugova: Dies ist die Vorstufe zur Unabwerden Großobjekte wie das Bergwerk hängigkeit. Spätestens in drei Jahren Trep‡a, die Elektrizitäts- oder Eisenwerden wir ein Referendum abhalten. nickelindustrie rasch in Betrieb setzen Danach können die Serben nur noch und der Welt beweisen, dass wir auch unsere Unabhängigkeit akzeptieren. als Kleinstaat selbständig handeln und SPIEGEL: Die serbische Opposition will überleben können. die Bevölkerung überzeugen, dass mit Milo∆eviƒs Entmachtung das Kosovo SPIEGEL: Sie versprachen den Serben weiter Teil Serbiens bleibt. des Kosovo stets Schutz, falls die Albaner die Provinz wieder selbständig verRugova: Keine Chance. Die Serben hawalten. Jetzt werden die Serben brutal ben nach diesem Krieg und den Masvertrieben, ihre Wohnungen geplündert sakern ihrer Spezialpolizei und Paoder zerstört. Wie wollen Sie solche ramilitärs kein Recht mehr auf das Übergriffe verhindern? Kosovo. Kein jugoslawischer Soldat wird mehr das Kosovo betreten. Auch Rugova: Dies sind Vergeltungsaktionen in die künftige Kosovo-Polizei werden einiger Individueller oder Banden, die nur lokale Serben intedie Chance einer noch imgriert sein. Wir akzeptieren mer unübersichtlichen Siein demokratisches Sertuation nutzen. Aber ich bien allenfalls als befreungarantiere, dass niemand deten Nachbarstaat. Hätte den Serben ihre WohnunMilo∆eviƒ die Vereinbarung gen oder Häuser nehmen von Rambouillet unterwird. Sobald sich die Lage schrieben, wäre die Situaberuhigt hat und die intertion für Belgrad weit vornationale Polizei eintrifft, teilhafter. werden wir offene Eigentumsfragen klären. Die SPIEGEL: Die UÇK-BefreiAuswanderung muss geungsarmee sträubt sich stoppt werden. Alle Serben weiter gegen ihre Auflökönnen zurückkehren und sung und Entwaffnung. werden von uns geschützt. Rugova: Die UÇK hat die Wir haben auch nichts daDemilitarisierung selbst gegen, wenn sie den Vizeunterzeichnet. Also muss präsidenten oder Vize-Presie sich daran halten. Einimier stellen. Aber natürlich ge ihrer Führer haben aber werden die Gerichte auch offensichtlich politische prüfen, wer von ihnen im und militärische Ambitio- Rugova bei Rückkehr nach Pri∆tina: „Ich bin der Präsident“ Krieg Verbrechen verübte. nen. Der Krieg ist beendet, die Euphorie abgekühlt. Unsere Bevöl- nationalen Zivilverwaltung. Was pas- SPIEGEL: Milo∆eviƒ ist als Kriegsverbrekerung suchte bisher die Freiheit, jetzt siert danach? cher angeklagt. Sehen Sie in ihm den geht es um die Gestaltung der Zukunft. Rugova: Dann werden die Kompetenzen Hauptverantwortlichen für die MassaSPIEGEL: Können Sie langfristig über- auf die gewählte Regierung des Kosovo ker und Vertreibungen im Kosovo? übergehen. Wir werden unsere eigenen Rugova: Die Anordnungen wurden vom haupt auf eine Armee verzichten? Rugova: Auf keinen Fall. Doch diese Gesetze, Justiz, Verfassung und Außen- Zentrum erteilt. Ziel war die endgültisollte neben UÇK-Kämpfern auch an- politik haben – völlig unabhängig von ge Vertreibung der Albaner. Dies konndere junge Männer des Kosovo ein- Belgrad. Die Grenzen zu Mazedonien te nur durch die Nato-Intervention verschließen, die bis zum Abzug der in- und Albanien werden auch künftig nur hindert werden. Doch ich fürchte, dass ternationalen Schutztruppen von der von der Kfor kontrolliert werden, nicht Milo∆eviƒ nicht so leicht zu stürzen ist. Kfor militärisch ausgebildet werden. von der jugoslawischen Armee. Interview: Renate Flottau 108 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 MC NAMARA-ZAMUR / GAMMA / STUDIO X gegenüber einer der gekosovarischen Hauptstadt bärfreudigsten BevölkePri∆tina den Verdacht ausrungsgruppen der Erde. gesprochen, der KommanBereits Anfang der deur der Kfor-Truppen sei zwanziger Jahre waren bejedem Serben dankbar, der nachbarte Vielvölkerstaasich der ethnischen Säubeten dazu übergegangen, rung durch Flucht nach Probleme des ZusammenSchrumpfjugoslawien fülebens durch Zwangsumge. Die These hat einiges siedlungen zu lösen: wie für sich: Je schneller das nach dem griechisch-türkiKosovo ethnisch homogen schen Krieg, der 1923 mit wird – homogener noch als Bevölkerungstransfers in das „gesäuberte“ Kroatien großem Stil zu Ende ging. des Nationalisten Franjo Für den späteren US-PräTudjman –, desto früher Flüchtende Muslime in Srebrenica (1995): Balkanische Ghettos sidenten Herbert Hoover hört auch das Morden auf. Am Samstag vorletzter Woche musste immer wieder zu grotesken Verwick- waren Vertreibungen „heroische Heilmitselbst der britische Premier Tony Blair, ne- lungen: Westendorp hat im März den tel“. Die Medizin hat allerdings viele tauben Albright wohl der entschiedenste Be- Präsidenten der serbischen „Republika sende von Menschenleben gekostet. Als der kommunistische Marschall Tito fürworter des Nato-Angriffs gegen Jugo- Srpska“, einen chauvinistischen Volksslawien, in Pri∆tina seinen Triumphalismus tumspolitiker, für abgesetzt erklärt (wozu gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die mäßigen: „Wir haben für die Sicherheit al- er als eine Art Erziehungsdiktator durchaus Macht im Vielvölkerstaat Jugoslawien erler Menschen im Kosovo gekämpft – und befugt ist). Doch der Serbe kommt nach oberte, hatte das Land unter der brutalen nicht dafür, dass jetzt eine andere ethni- wie vor jeden Tag in seine Diensträume in deutschen Besatzung zwei Millionen seiner Menschen verloren, fast ein Zehntel der sche Gruppe unterdrückt wird.“ Banja Luka und waltet seines Amtes. Die Antwort auf Tony Blair erfolgte Bernard Kouchner macht im Kosovo Bevölkerung. Weit mehr als die Hälfte daprompt in der Nacht zum Sonntag: Auf die eine ähnliche Erfahrung unter gravieren- von kam allerdings in dem mit ungeheurer orthodoxe Kathedrale der kosovarischen deren Umständen: Er soll ein multi-ethni- Grausamkeit geführten Bürgerkrieg um, Serben in Pri∆tina, die sich noch im Bau be- sches Kosovo retten – doch vor seinen Au- der sich unter den Augen der Besatzer vollfindet, wurde ein Sprengstoffanschlag ver- gen ziehen zu tausenden die Serben da- zog. Monarchistische serbische Tschetniks, übt. Wären – statt nur zwei – alle sechs von, denen er keinen hinreichenden faschistische kroatische Ustaschen und die Sprengsätze explodiert, dann hätte die Schutz bieten kann. 200 000 Serben sollen kommunistischen Partisanen Titos gingen Hauptstadt des Kosovo, zwei Monate nach die Provinz verlassen haben – das wären mit der Zivilbevölkerung äußerst blutrünsden Nato-Bombardierungen, eine weitere über 90 Prozent. Und da sich die Gele- tig um – und säten viel von dem Hass, der das Land bis heute zerreißt. sehenswürdige Ruine erhalten. Nur Titos Diktatur, die nationalistische Etwas angeschlagen wirkt mittlerweile Umtriebe unterdrückte – und sein Geauch Bernard Kouchner, 60, seit fünf Woschick, wie ein „roter Habsburger“ die verchen Statthalter im Kosovo. Offiziell als schiedenen Nationalitäten gegeneinander Repräsentant des Uno-Generalsekretärs auszuspielen und in der Balance zu halten Kofi Annan, versucht der französische Arzt –, hat dem Völkerkäfig danach 35 Jahre und Politiker, der den Sozialisten von MiFrieden und allerhand Prosperität genisterpräsident Lionel Jospin nahe steht, bracht. Und als Tito 1980 starb, erhielt auch das inoffizielle Nato-Protektorat Kosovo seine multi-ethnische Föderation den Tozumindest medienwirksam zu verwalten. desstoß; der großserbische Nationalismus Dabei muss Kouchner eine Erfahrung des Slobodan Milo∆eviƒ besorgte den Rest. machen, die den bisherigen westlichen Und wenn nun auch die letzten Serben Zuchtmeistern in Bosnien-Herzegowina aus dem Kosovo verschwinden? Mag das (derzeit der Spanier Carlos Westendorp, Belgrader Regime von Milo∆eviƒ vielleicht in wenigen Tagen der Österreicher Wolfsogar diesen Schock verkraften – das Ideal, gang Petritsch) nun schon seit Jahren bitim früheren Jugoslawien die multi-ethniter vertraut ist: Der Hohe Repräsentant, sche Gesellschaft zu retten, überlebt ihn wie sein offizieller Titel lautet, besitzt nämwohl kaum. Wolfgang Petritsch, der als lich keine Machtmittel, um seine VorstelHoher Repräsentant fortan in Bosnien lungen und die Ziele der westlichen Werherrschen wird, hat sich nach eigenem, ditegemeinschaft durchzusetzen. Gräuel von Ustascha-Truppen* plomatisch formuliertem Bekenntnis von Wie in Bosnien gibt es auch im Kosovo Krieg unter den Augen der Deutschen „gewissen Illusionen“ von 1995 schon inkein ausgebildetes „überethnisches“ Polizeikorps, das den Anweisungen des west- genheit für Vertreibungen nun einmal bie- nerlich verabschiedet. Und Gerhard Schröder hat vorletzte Wolichen Verwalters zur Durchsetzung ver- tet, werden auch gleich die nirgends behelfen könnte, und über die Truppenkon- liebten Zigeuner von den Albanern ver- che in Sarajevo, nach der Unterzeichnung tingente der Nato oder Uno hat er ohnehin jagt. Das multi-ethnische Kosovo ist somit des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, die idealistischen Töne seiner Kosovo-Visite keine Befehlsgewalt. (Vor allem die Ame- nur noch eine Fiktion. rikaner wünschen nicht, dass die FriedensKurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte nicht wiederholt. Stattdessen übte der Kanzler sich in fast truppe in örtliche Auseinandersetzungen das jugoslawische Königreich versucht, die hineingezogen wird – wie schon im Krieg muslimischen Kosovo-Albaner gegen Bar- schon brutal anmutender Nüchternheit: dürfen sich auch im Frieden keine US-Sol- geld an die Türkei loszuwerden, à 15 000 „Entweder wir schaffen es, den Menschen daten in Lebensgefahr begeben.) Dinar pro Familie – eine Abwehrreaktion hier unten Arbeit und Brot zu geben, oder wir werden sie als Flüchtlinge aufnehmen In Bosnien-Herzegowina führt die müssen.“ Machtlosigkeit des Hohen Repräsentanten * Im Zweiten Weltkrieg. Carlos Widmann d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 109 Ausland SPIEGEL-GESPRÄCH „Serbien muss erst seine politischen Probleme lösen“ Bodo Hombach über Chancen und Grenzen seiner Mission als Sonderkoordinator für den Balkan-Stabilitätspakt heit, demokratische Entwicklung, Wirtschaft, äußere Sicherheit. SPIEGEL: Woher dann die Enttäuschung? Hombach: Der Stabilitätspakt kann nicht mit unbegrenzten Finanzmitteln alle Probleme dieser gebeutelten Länder lösen. Es gibt kein Füllhorn, aus dem sich jeder bedienen kann. Die Erfahrungen mit dem Aufbau von Bosnien-Herzegowina zeigen, dass ein allein auf staatliche Programme gestützter Aufbau zu wenig bewirkt. Voraussetzung für einen Erfolg ist die Zusammenarbeit der Südosteuropa-Staaten, die Aktivierung eines Mittelstandes und kleiner Unternehmen sowie sichere Rahmenbedingungen für ausländische Investoren. SPIEGEL: Genau diese Voraussetzungen aber sind nicht gegeben. Haben Sie denn irgendeinen Hebel, um Serben, Kroaten, Albaner, Muslime und Christen einzubinden? Hombach: Das bereitet in einigen Ländern noch Mühe. Doch der Hebel ist da. Die Perspektive lautet erstmals: Integration in die euro-atlantischen Strukturen. Wir knüpfen die Bereitschaft der Industriestaaten zur Hilfe an die Bereitschaft vor Ort, Toleranz Bodo Hombach gab beim Gipfeltreffen der 35 Staatsund Regierungschefs am vorletzten Freitag in Sarajevo als Sonderkoordinator der EU für den Wiederaufbau auf dem Balkan seinen Einstand. Der gebürtige Mülheimer, 46, und gelernte Fernmeldetechniker, trat dafür von seinem Amt als Gerhard Schröders Kanzleramtsminister zurück. zu üben und eigene Anstrengungen zu unternehmen. Die Helferstaaten treten nicht nur als Zahlmeister an. Diese Erwartung haben sie auch niemals erweckt. SPIEGEL: Mit ähnlichem Anspruch scheiterte der Westen in Bosnien. Dreieinhalb Jahre nach dem Friedenspakt von Dayton ist noch immer nicht zu erkennen, dass die drei Volksgruppen dort miteinander leben wollen. Hombach: Die Analyse der Entwicklung in Bosnien ist eine Sache. Die Tatsache, dass Balkanstaaten, die bis vor kurzem kaum miteinander redeten, im Vorfeld der Sarajevo-Konferenz sich bereits auf grenzübergreifende Projekte einigten, werte ich als eine Wende, ein positiv stimmendes Zeichen. SPIEGEL: Alle Großprojekte zum Wiederaufbau der Verkehrswege, die bislang erörtert werden, führen sorgfältig um Serbien herum. Ohne Serbien aber kann es keine Stabilität auf dem Balkan geben. Hombach: Jeder weiß, dass Serbien in eine dauerhafte, friedliche und ökonomische Stabilisierung einbezogen werden muss. Es besteht aber auch Einigkeit, diesen Weg nicht gemeinsam mit dem jetzigen Präsidenten Slobodan Milo∆eviƒ zu beschreiten. Der Stabilitätspakt will keine Mauer um Serbien ziehen. Das Angebot heißt: In der Sekunde, in der Serbien seine politischen Probleme selbst gelöst hat, ist es Mitglied im Stabilitätspakt. Die Ehre, ihre VerAP chefs der Geberländer für den Balkan-Stabilitätspakt preisen sich dafür, in Sarajevo überhaupt zu einem Gipfel zusammengekommen zu sein; die Staaten der Region aber murren über bloße symbolische Gesten. Hombach: Viele Anrainerstaaten haben durch den Kosovo-Krieg erhebliche volkswirtschaftliche Verluste erlitten. Sie hatten die Sorge, der Westen werde seine Hilfe auf das Kosovo konzentrieren und sie danach vergessen. Diese Sorge aber konnte auf der Sarajevo-Konferenz zerstreut werden. SPIEGEL: Die Rumänen beispielsweise empfanden diese Konferenz gleichwohl als „kalte Dusche“ – der Rubel rollt nicht, außer Spesen und Appellen nichts gewesen? Hombach: Die Bereitschaft Europas, sich zu Hilfen in Milliardenhöhe zu verpflichten, ist zweifellos da. Aber der Stabilitätspakt ist nicht in erster Linie ein Verein zur Geldverteilung. Seine Bedeutung gewinnt er durch den erstmaligen Versuch, die gesamte Palette der Probleme auf dem Balkan koordiniert anzugehen: innere Sicher- REUTERS SPIEGEL: Herr Hombach, die Regierungs- Zerstörte Donau-Brücke*: „Aus lokalen Konflikten wurden europäische Kriege“ 110 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 * Bei Novi Sad. Das Gespräch führten die Redakteure Winfried Didzoleit und Olaf Ihlau. Werbeseite Werbeseite Ausland SPIEGEL: Das klingt etwas naiv. Hombach: Ist es aber nicht. Die Neigung der Staaten, im Krieg wie im Frieden bilateral zu agieren, hat die Geschichte des Balkans bestimmt. So wurden aus lokalen Konflikten auf dem Balkan europäische Kriege, die europäischen Mächte führten Stellvertreterkriege auf dem Balkan. Diese Erfahrung ist heute, zum Ende des Jahrtausends, das prägende Prinzip bei der Geburt des Stabilitätspaktes. Im Kosovo-Krieg ist es erstmals gelungen, durch Abstimmung und Koordination gemeinsam einen Konflikt einzukapseln. Diese historische Erfahrung wird niemand um finanzieller Vorteile willen aufs Spiel setzen. SPIEGEL: Noch ist der Balkan lange nicht befriedet, und beim Wiederaufbau in Bosnien war vom Altruismus der Geber nichts zu merken. Es galt das Prinzip der nationalen Profitmaximierung. Hombach: Jetzt aber ist es anders. Ich bin auf niemanden gestoßen, der die endlich gefundene Gemeinschaft nicht bewahren möchte. Der Stabilitätspakt wirkt nicht nur koordinierend in der Region, er wirkt auch innerhalb der europäischen Institutionen und Staaten koordinierend. SPIEGEL: Von der ordnungsstiftenden Wirkung Ihrer Berufung sind andere weniger überzeugt. Sie befürchten einen Kompetenzwirrwarr … Hombach: Der Koordinator hat erklärt, dass er nichts macht, was andere besser können, dass er Reibungsverluste nicht will und schon gar keine Kompetenzstreitigkeiten … SPIEGEL: … der ausgeschiedene Kommissionspräsident Jacques Santer warnte in einem Brief an die Regierungschefs vor einer „Multiplikation der Strukturen ohne präzise Kompetenzen“, vor fehlender Transparenz und der Gefahr, die Finanzkontrolle zu verlieren. TASIC / SIPA PRESS hältnisse selbst zu lösen, kann man den hindert, weil sie die Bedingung stellen, gleichzeitig müssten auch die Brücken wieSerben nicht nehmen. SPIEGEL: Und was ist, wenn Milo∆eviƒ sich der hergerichtet werden. Das lehnt die Mehrheit der Stabilitätspakt-Länder ab. nicht abservieren lässt? Hombach: Das brächte Jugoslawien in eine SPIEGEL: Solange Milo∆eviƒ am Ruder ist, kritische Lage.Viele Serben, die ich kennen bleibt die Donau also blockiert? lerne, fürchten eine solche Entwicklung, Hombach: Es gibt Bemühungen, den Schiffssuchen nach anderen Lösungen. Serbische verkehr wieder zu ermöglichen. Wie die Unternehmer, die Milo∆eviƒ gestützt ha- enden, weiss ich nicht. ben, fühlen sich ebenso unbehaglich wie SPIEGEL: Sie wollen das Hilfsangebot der orthodoxe Kirchenführer. Kenner der Sze- Geberländer nutzen, um die Empfängerne reden nicht mehr darüber, ob Milo∆eviƒ länder zu Toleranz und Demokratie zu sich halten kann, sondern wie lange. drängen. Gleichzeitig soll von dem SpenSPIEGEL: In der Zwischenzeit werden Fak- dengeld auf dem Weg über Aufträge mögten beim Wiederaufbau geschaffen, die lichst viel an die eigene Industrie fließen. Serbien ausklammern: ein eigenes Energiesystem im Kosovo, Straßen und Eisenbahnen. Die Helfer umgehen selbst das jugoslawische Bankensystem und meiden den Dinar. Der Euro wird als Ersatzwährung … Hombach: … nicht der Euro, die Mark. SPIEGEL: Gut, vorerst noch die Mark. Serbien bleibt also außen vor. Das Ziel, die Einheit Jugoslawiens zu bewahren, verschwindet am Horizont. Hombach: Auch in Serbien wird trotz Milo∆eviƒ sofort humanitäre Hilfe geleistet. Das deute ich bewusst prag- Serben-Demonstration gegen Milo∆eviƒ*: „Kritische Lage“ matisch. Der Aufbau eines Krankenhauses gehört eindeutig dazu. Ein Wieso sollte etwa Frankreich jetzt auf eiKrankenhaus braucht aber auch Elektri- nen lukrativen Auftrag verzichten, nur weil zität, Wasser, Zugangsstraßen. Das gehört der Koordinator Hombach sagt, das Empfür mich zur humanitären Hilfe, ist aber fängerland zeige noch zu wenig Toleranz? noch umstritten. Die Grenze ziehe ich da, Hombach: Keiner braucht zu befürchten, wo Milo∆eviƒ Hilfe als Unterstützung sei- dass ich mich sachfremden Erwägungen ner Machtposition ausbeuten kann. anschließe. Doch Ihre Analyse stimmt. SolSPIEGEL: Etwa bei den zerbombten Donau- chen Streit aber wird es gerade wegen des Brücken? Deutsche, Bulgaren und Rumä- Stabilitätspakts in Zukunft nicht geben. nen möchten zur Wiederaufnahme der Der Zwang zum Gespräch, zur Einigung Schifffahrt die Trümmer gern rasch beisei- wird das verhindern. te räumen. Warum geht das nicht? Hombach: Bisher haben die serbischen * Aufmarsch von Anhängern des Chefs der Serbischen BeMachthaber den Beginn der Arbeiten ver- freiungsbewegung,Vuk Dra∆koviƒ, am 17. Juli in Kragujevac. BALKAN-HILFE Uno EU BALKAN-HILFE stellen. In den reichen Staaten überlasse man sich willig den Vertreter der Geberländer Freuden des Sommerurlaubs. So Westliche Industriestaaten, und internationaler Finanzgroß scheint die Opferbereitorganisationen, Vorsitz: EU Russland, außerdem Vertreter von Uno, Nato u.a. und Weltbank schaft nicht zu sein. Hombach: Diese Kritik trifft einiKOSOVO-HILFE KOSOVO-HILFE ge Länder, die sich mit der EntKoordinator: Gemeinsames Wiederaufbauagentur UNMIK Uno-Mission im sendung zu viel Zeit lassen und Bodo Hombach Kosovo, Koordinator: Koordinierungsbüro für das Kosovo Sekretariat in Brüssel setzt damit die Übernahme polizeiliBernard Kouchner Weltbank und EU Einsatzgruppe vor Ort Stabilitätspakt um cher Aufgaben, die jetzt das MiQuelle: Handelsblatt litär erledigt, erheblich verzöRegionaltisch Wirtschaftlicher gern. Für Deutschland aber gilt Runde der Außenminister Wiederaufbau (EU) das ausdrücklich nicht. Vorsitz: Bodo Hombach Verwaltung SPIEGEL: Besteht die Gefahr, dass Thessaloniki, Griechenland nach Bosnien und dem Kosovo Tisch für DemoAufbau Zivildie Staatengemeinschaft auch in kratisierung und verwaltung (Uno) Menschenrechte Albanien und anderswo zur Ordnungsmacht wird, der ganze Einsatzzentrale Pri∆tina, 200 bis 300 Balkan zum internationalen Tisch für Flüchtlinge Mitarbeiter setzen EUwirtschaftlichen Protektorat? Programme um (UNHRC) Wiederaufbau Hombach: Dieses Risiko muss vermieden werden. Der StabilitätsAufbau demokratipakt ist darauf angelegt, dass die Tisch für Tummelplatz der Helfer Geberstaaten in Bosnien und im scher Institutionen Sicherheit (OSZE) Wiederaufbauhilfen für die Balkan-Region Kosovo auf mittlere Sicht Verantwortung übernehmen. Sie wollen helfen, die gesamte ReHombach: Meine Aufgabe ist, die Arbeit al- Hombach: Ich bin noch nicht mal Kö- gion zu stabilisieren. Das soll sich nicht ler, die grenzübertretend tätig werden, zu- nig. Meine politische Erfahrung sagt mir verstetigen und verewigen. sammenzuführen. Um zu vermeiden, dass aber, dass gerade dies Voraussetzung SPIEGEL: Schreckt Sie nicht das Beispiel durch die neue Institution der Überblick für eine erfolgreiche Koordinierung ist. Bosniens, wo die Aussöhnung nicht voranerschwert wird, habe ich beispielsweise mit Wenn niemand fürchten muss, von einer kommt, keine wirkliche Zusammenarbeit Javier Solana, dem künftigen „Hohen Be- neuen Institution bedrängt zu werden, der drei Volksgruppen klappt? auftragten“ für Außen- und Sicherheitspo- ist man eher geneigt, dem anderen zu- Hombach: Ich sehe die Risiken, aber was ist litik der EU, informelle Abstimmungsver- zuhören, seine Ideen unvoreingenommen die Alternative? Wie lange hat Europa gefahren besprochen. Das hat es früher nicht zu prüfen. braucht, Europa zu werden? Wir haben keigegeben. SPIEGEL: Sollten beispielsweise die Ein- nen Grund zur Hochnäsigkeit. Der StabiSPIEGEL: Gleichwohl bleibt der Eindruck, fuhrhindernisse der EU für landwirt- litätspakt kann nur über langes Wirken dass hier schlicht zu viele Köche am Werk schaftliche Produkte vom Balkan fallen, seinen Beitrag leisten. Mehr Dialog, mehr Gemeinsamkeit lässt sich nicht über Nacht um den Staaten dort zu helfen? sind. Hombach: Wenn die Köche arbeitsteilig vor- Hombach: Selbstverständlich kommen die erzwingen und sichern. Gleichzeitig aber gehen und sich gegenseitig unterstützen, Europäer an dem Thema nicht vorbei. Das muss eine Subventionsmentalität verhindann kann die Aufgabenstellung in dieser ist sehr schwierig. Der amerikanische dert werden. großen Region gewiss viele helfende Hän- Präsident hat in Sarajevo immerhin schon SPIEGEL: Wie lange wird Bodo Hombach de vertragen. Handelspräferenzen für die südost- sich auf dem Balkan tummeln wollen oder müssen? SPIEGEL: Sie haben doch außer der Wucht europäischen Staaten angeboten. Ihrer Persönlichkeit keine Instrumente, SPIEGEL: Der Uno-Administrator im Koso- Hombach: Wenn es sein muss, bis zur PenIhre Partner zum Mannschaftsspiel zu be- vo, der Franzose Bernard Kouchner, be- sionsgrenze. wegen. Sind Sie nicht ein „König ohne klagt, dass die Europäer ihm nicht die drin- SPIEGEL: Herr Hombach, wir danken Ihnen Land“? gend benötigten Polizisten zur Verfügung für dieses Gespräch. Stabilitätspakt Südosteuropa Lenkungsgruppe AP tige Daewoo-Boss gibt sein Imperium offenbar noch nicht verloren. Wie eine Parabel symbolisiert Kims Erfolgsgeschichte den nationalistisch geprägten Aufstieg des eigenen Landes aus den Ruinen des Koreakrieges zum elftgrößten Industrieland. Nach und nach stieß der Firmenchef mit seinem Konzern in immer neue Geschäftssparten vor: Zunächst Textilien, dann Elektronik, Kosmetik, Baugewerbe, Schiff- und Autobau. Wie andere Konzernbosse wählte Kim dubiose Methoden der Geldbeschaffung. Tochterfirmen bürgten gegenseitig für Kredite. Oder die Regierung drängte staatliche Banken zur Geldverleihung. Neue Technologien kauften DaewooFirmen fast immer auf Pump. So startete Kim seine Autoproduktion mit in Lizenz nachgebauten Modellen von Opel Rekord und Opel Kadett. Streikende Daewoo-Werftarbeiter*: „Gelegenheiten wachsen aus Gefahren“ Auf Befehl von Ex-Diktator Park Chung Hee baute überwunden zu haben. In der SÜDKOREA Kim die Fischerinsel Okpo Hoffnung auf ökonomische im Süden des Landes zur Erholung strömten ausländimodernsten Schiffswerft der sche Anleger in die TigerlänWelt aus. Als dem verwegeder zurück. Die Börsen feinen Projekt Anfang der Achterten neue Höchststände. ziger die Pleite drohte, spranDoch die Zitterpartie um gen Banken auf Druck der Daewoo zeigt: Südkorea – Regierung als Retter ein. und andere Tiger – haben das Die Krise bei Daewoo könnAuch in der aktuellen Kristrukturelle Erbe der Asiente zum Crash in Südkorea führen. krise längst nicht bewältigt. se hofft Kim offenbar immer Der Konzern mit seinen 260 000 noch auf ein Wunder. Doch An der Börse in Seoul drückt Beschäftigten steht am Rande des die Daewoo-Krise die Kurse im Zuge der vom Internationalen Währungsfonds geseit Mitte Juli um sechs ProRuins, der Boss ist uneinsichtig. steuerten Reformen kann zent. Und die Finanzmärkte Daewoo-Chef Kim sich Koreas Regierung die ie Durchhalteparole kam per Fax: machen sich auf noch schlim„Erfüllt Eure Pflichten am Arbeits- mere Überraschungen gefasst. Denn ob einstige Vetternwirtschaft nicht mehr leisplatz“, flehte die Führung des süd- selbst Daewoo-Boss Kim Woo Choong, 62, ten: Das Management der Großkonzerne koreanischen Mischkonzerns Daewoo in die wahre Höhe seines Schuldenbergs verhalte sich „wie die Bulldozer“ und schade so der Wirtschaft, kritisiert Finanzder vergangenen Woche das Personal an. kennt, ist eher zweifelhaft. Von den Korea-Riesen expandierte Kim und Wirtschaftsminister Kang Bong Kyun. „Wir können diese Krise überwinden.“ Zwar haben heimische Banken Daewoo Der hilflose Appell sollte die „Daewoo- am aggressivsten. Allein die Autotochter Familie“ beruhigen. Stattdessen führte er Daewoo Motors kaufte oder gründete 14 erneut kurzfristig fällige Schulden von den 260 000 Beschäftigten im In- und Aus- Fabriken, darunter in Polen, Rumänien, rund 5,9 Milliarden Dollar gestreckt und land die dramatische Lage erst so richtig Usbekistan, Indien und Vietnam. Doch eine frische Kredite zugeschossen. Im Gegenzug vor Augen: Koreas zweitgrößtes Konglo- konsolidierte Gruppenbilanz, die Soll und musste Daewoo große Teile seines Impemerat, dessen 22 Tochterfirmen vom Kühl- Haben des Firmen-Dschungels auflistet, riums verkaufen und sich aufs Autogeschäft und den Handel konzentrieren. Der Grünschrank bis zum Supertanker fast alles her- hielt Kim offenbar für überflüssig. Seit Monaten drängt der Präsident des dervater selbst gelobte sich nach Abschluss stellen, steht am Rande des Ruins. Falls der Riese strauchelt, könnte er ganz Landes die vier größten Konglomerate – der Rettungsaktion zurückzuziehen. Einen Asien in eine neue Krise reißen: Daewoo Hyundai, Daewoo, Samsung und LG –, ihre Kollaps von Daewoo will die Regierung ist bei in- und ausländischen Banken mit Schulden zu senken und sich auf gesunde auf keinen Fall zulassen. Auch die ausländischen Gläubiger wolmindestens 50 Milliarden Dollar verschul- Kerngeschäfte zu beschränken. Die Firmen det. Das ist mehr als fünfmal so viel, wie reagierten wie gewünscht – bis auf Daewoo. len durch einen geordneten Verkauf von die Gruppe an Eigenkapital besitzt, und Typisch Kim: Längst zum eigenen My- Daewoo-Teilen möglichst viel von ihrem mehr als ein Land wie Malaysia an Aus- thos erstarrt, lässt sich der Patriarch täglich Geld retten. Alle blicken jetzt gespannt auf landsschulden aufweist. mit knietiefen Verbeugungen von seinen den 11. August: Dann soll Daewoo einen Ähnlich wie der Taifun Olga, der ver- Untergebenen huldigen. Im sechsten Stock neuen Sanierungsplan vorlegen. Die Geldgeber erwarten radikale Saniegangene Woche weite Teile Südkoreas der klotzigen Daewoo-Zentrale in Seoul heimsuchte, hält Daewoo zur Zeit die Kri- marschiert das gesamte Führungspersonal rungsschritte, die Beschäftigten hoffen, gesenmanager der koreanischen Regierung täglich an jener Wand vorbei, die unzähli- nau dies verhindern zu können.Vorsorglich in Atem. Denn mit Daewoo erhebt sich das ge Ausgaben seines Buches schmücken. Ti- wird schon gedroht wie bei den ArbeiterGespenst der Asienkrise plötzlich wieder, tel: „Jede Straße ist mit Gold gepflastert“. aufständen vor drei Jahren. Ein Angestellböse Erinnerungen werden wach. Diesen Dieser Tage scheint Kim vor allem nach ter bei Kims Tochterfirma Daewoo TeleAlptraum glaubten die Asiaten glücklich Kapitel 23 seines Buches zu handeln: „Ge- com gibt sich entschlossen: „Wenn die unlegenheiten erwachsen aus Gefahren oder: sere Jobs kaputtmachen, machen wir die * Am 20. April im südkoreanischen Koje. Wieland Wagner Warum Krisen gut sind“. Denn der mäch- kaputt.“ AFP / DPA Wie die Bulldozer D 114 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AFP / DPA Das alles haben die Mullahs verspielt.“ Resa ist auf der verzweifelten Suche nach einem Arbeitsplatz. Als Demonstrant festgenommen zu werden, kann er sich nicht leisten. Während das Sommersemester vor vier Wochen in den Tumulten der Proteste zu Ende ging, büffelte er fleißig für die Abschlussprüfung. Auf dem Heimweg schlich er mit schlechtem Gewissen an seinen demonstrierenden Kommilitonen vorbei. Als er am vierten Protesttag nach Hause kam, beschämte ihn schließlich sein eigener Vater. Der pensionierte Abteilungsleiter der Stadtverwaltung hatte gehört, dass am Palästina-Platz zwei Autobusse in Flammen stehen. Da hielt es den alten Revolutionär nicht mehr zu Hause. „Bleib daheim“, warnte ihn sein Sohn, „die schießen mit scharfer Munition.“ Er habe, antwortete der Vater, schon vor 20 Jahren keine Angst gehabt. Drei bange Stunden warteten sie auf Kawiani senior. Um halb drei Uhr früh kam er zurück, zwei bandagierte Studenten im Schlepptau. Sie diskutierten bis zum Morgengrauen, der Vater führte das Wort. Auch er habe schon vor Jahren mit dem Staat Chomeinis gebrochen, offenbarte der Veteran von 1979. Und für ein paar Tage habe er während der jüngsten Studentenproteste tatsächlich an eine neue Revolution geglaubt. Doch es sei eine Illusion gewesen: „Als wir vor 20 Jahren demonstrierten, haben wir den Schah gehasst. Euch gehen die Mullahs heute nur auf die Nerven. Das reicht nicht.“ Studentenprotest in Teheran*: „Bleib daheim, die schießen mit scharfer Munition“ IRAN „Die Mullahs haben alles verspielt“ Die Demonstrationen tausender Studenten offenbarten: Der Gottesstaat ist reif für den Umsturz. Doch das Fundamentalisten-Regime behauptet das Gewaltmonopol. D reißig Laufmeter Garderobe hatte das Kaiserpaar einst zurückgelassen – Uniformen, Reitstiefel und französische Maßhemden der Schah; Seidenblazer und Kordsamtkostüme, den ganzen rosa- und orangefarbenen Plüsch der siebziger Jahre seine Frau Farah Diba. Fereschte, eine 20-jährige Englischstudentin aus Isfahan, verbirgt ihre Tränen nicht, als sie mit ihrer Mutter an der Klamottenpracht des kaiserlichen Umkleidezimmers im Teheraner Niawaran-Palast vorüberschreitet, die Finger versonnen an den überdimensionalen Kleiderschränken entlangziehend. Man darf wieder ungeniert weinen im Angesicht der Herrlichkeiten, die aus imperialen Tagen in den tristen Gottesstaat herüberglänzen. Aber vorsichtig muss man sein. Die finster patrouillierenden Museumswärter gehören zur anderen Seite. „Mag ja sein“, sagt Fereschte und blickt sich um, „dass das alles ein bisschen übertrieben war damals. Aber schauen Sie sich doch den Iran von heute an. Ist das etwa besser?“ Nein, Fereschte war nicht dabei, als tausende Studenten der Universität von Te* Am 11. Juli. 116 heran Anfang Juli gegen das Mullah-Regime demonstrierten. Die Tochter eines Speditionsunternehmers besucht eine so genannte Asad-Universität. Das ist eine Privathochschule, in der die Gebühren ein bisschen höher sind, der Numerus clausus ein bisschen gnädiger und die Stimmung nicht ganz so rebellisch. Doch das Lebensgefühl ihrer zornigen Altersgenossen vom Campus der Staatsuniversität meint sie genau zu kennen. „Wir haben es satt, uns von ungebildeten Revolutionswächtern maßregeln zu lassen, nur weil wir offene Sandalen tragen und uns die Zehennägel lackieren.“ Resa Kawiani, mit 28 Jahren kurz vor dem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums, hat den Notendurchschnitt für die Staatsuni leicht geschafft. Die monarchistischen „Zuckerpüppchen“ von den Privathochschulen sind ihm zuwider. Dass auch er nunmehr ein gutes Wort für den Schah übrig haben würde, hat er sich vor Jahren „nicht einmal träumen lassen“. Doch nach zehn Semestern Studium, sagt er, sei es allzu deutlich: „Unter dem Schah war Iran ein Land voller Ungerechtigkeit, aber wirtschaftlich und technologisch waren wir auf der Höhe der Zeit. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Verwüstetes Studentenzimmer, Demonstranten Ausland AFP / DPA A. DUCLOS / GAMMA / STUDIO X charismatischer Vorgänger Chomeini einst der Region um Täbris versteht er hervorden Schah aus dem Land jagte. ragend Türkisch. Der Blick hinaus zu den „Chomeini habe ich geliebt“, sagt Akbar 25 üppigen Fernsehkanälen des westlichen Hosseini, 49, „und ich verehre ihn immer Nachbarn war sehr unterhaltsam im Vernoch.“ Seinetwegen war der in Dänemark gleich zum drögen Staatsfernsehen – aber ausgebildete Bauingenieur 1978 nach Iran auch deprimierend. „Iran ist das reichste zurückgekehrt und hatte Wohnung, Auto und großartigste Land im Nahen Osten. und Ausbildungsplatz für immer an der Doch wenn wir nicht gerade in den Irak Nordsee zurückgelassen. schauen“, klagt Hosseini, „zeigt uns jeder Heute hat Hosseini einen mittleren Posten im Verteidigungsministerium, verdient 200 Mark im Monat und kann Frau und Kinder nicht mehr ernähren. Er begann wie so viele, nach Dienstschluss bei einer Taxi-Agentur zu arbeiten, um sein Gehalt aufzubessern und seiner Ältesten das Studium zu finanzieren. Noch in den letzten Widersacher Chamenei, Chatami: Hilfloser Schlingerkurs Tagen des Schah-Regimes hat er gut viermal so viel verdient Blick über die Grenzen, dass wir in einem wie heute, und die meisten Preise waren Armenhaus sitzen.“ damals niedriger. Ein neuer Paykan, das Die Mullahs, so empfinden es viele, steuiranische Standardauto, kostet heute sieben ern das stolze Iran mit angezogener HandMillionen Tuman, das sind knapp 15 000 bremse ins neue Jahrtausend. Sie unterMark. „Ich bin 49, da tut es weh zu wissen, drücken jede Initiative und verspielen wirtdass ich mir einen solchen Wagen nie mehr schaftliches Potenzial. werde leisten können.“ Er werde seinen kleinen Laden bald wieHosseinis Kollegen im Ministerium blieb der zusperren, beschwert sich Human, ein nicht verborgen, dass der Familienvater ab junger Modedesigner aus Teheran; seinen und zu resignierte Witze über den Mullah- vollen Namen mag er nicht nennen. „Ich Staat macht; seither fühlt er sich wie auf könnte gute, moderne und günstige Ware der Abschussliste. Vor drei Monaten stan- für den Westen produzieren“, sagt Human, den plötzlich olivgrün uniformierte Pas- doch die Staatsbürokratie stelle ihm ein daran vor seiner Tür und montierten die Hindernis nach dem anderen in den Weg. auf dem Balkonboden verschraubte Satel- Sich mit einem Ausländer zu treffen und litenschüssel ab. Als Denunzianten hat er übers Geschäft zu reden, rufe jedes Mal Kollegen im Verdacht. misstrauische Inquisitionen hervor – von Hosseinis Antenne war Richtung Ana- Reisen nach Deutschland oder Großbritolien gerichtet, wie die meisten Iraner aus tannien ganz zu schweigen. Human, selbst im Studentenalter, hat Anfang Juli auf dem Enghelab-Boulevard mitprotestiert; sein Laden liegt nur ein paar Straßen weiter. Doch auch er kehrte nach fünf Tagen Demonstrationen resigniert in seine Schneiderei zurück: „Das war ein Signal, aber mehr auch nicht.“ Wie es komme, dass die Generation seines Vaters einst einen der mächtigsten Potentaten der Welt vom Thron gestürzt habe, er und seine zehn Millionen Altersgenossen gegen die Mullahs jedoch keinen Schritt weiterkommen? Das sei ganz einfach, antwortet Human: „In diesem Regime werden Menschen aus politischen Gründen umgebracht.Wir trauen uns immerhin schon auf die Straße, aber vor dem letzten Schritt haben wir Angst.“ Angst freilich hätten auch die Väter gehabt. „Doch was die vor 20 Jahren hatten, war eine Alternative – jemand, der den ganzen Zorn gebündelt hat. Das ist es, was uns heute fehlt: Wir brauchen einen anderen Chomeini.“ ™ auf dem Universitätsgelände: „Vor dem letzten Schritt haben wir Angst“ Es war tatsächlich nicht so sehr die Fundamentalkritik am islamischen Staatswesen, welche die Studenten auf die Straßen getrieben hatte, als vielmehr die Summe kleinlicher Machtdemonstrationen der rechtsislamistischen Gefolgsleute des religiösen Führers Ajatollah Ali Chamenei: Zuerst die Inhaftierung des Teheraner Bürgermeisters Karbastschi, der die Hauptstadt zu einer der gepflegtesten Städte des Nahen Ostens gemacht hatte; dann das Anziehen der moralischen Daumenschrauben, mit denen Schriftsteller, Filmregisseure und einfache Jugendliche gepiesackt werden, je nach Laune der Revolutionswächter; und zuletzt, am 7. Juli, die Verschärfung des Pressegesetzes und das Verbot der liberal-islamischen Tageszeitung „Salam“ – alles Maßnahmen, die nicht nur sture Reaktionärsgesinnung zum Ausdruck brachten, sondern auch den Reformkurs des Staatspräsidenten Mohammed Chatami torpedieren sollten. Die kurze Studentenrevolte, so scheint es, führte den Ultras zumindest vor Augen, wie unbeliebt sie tatsächlich sind. Dass die Botschaft angekommen ist, zeigt der ungewöhnliche Schlingerkurs, den Chamenei seither fährt. Er betrachte, so sagte der Chomeini-Erbe noch während der Demonstrationen, die Studenten als „seine Kinder“; kurz darauf ordnete er, in guter alter Schah-Manier, eine zentral gesteuerte Gegendemonstration an. Beim ersten Freitagsgebet nach den Unruhen ließ er die Revoluzzer als vom Ausland gesteuerte Terroristen brandmarken; später wiederum empfing er dutzende Studenten, die er zum Zeichen der Versöhnung umarmte und küsste. Doch die antiwestliche Propaganda verfängt nicht mehr. Der innere Zirkel um Chamenei hat auch die Masse jener tief gläubigen Kleinbürger entfremdet, mit deren millionenfacher Unterstützung sein d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 117 KOLUMBIEN Höchste Not Der Friedensinitiative von Präsident Pastrana droht der Kollaps. Doch Bernd Schmidbauer agiert weiter als Vermittler. D AP REUTERS er Guerrillero bittet freundlich zur Ausweiskontrolle. Ein Blick in den Kofferraum, dann winkt er die Besucher weiter. Willkommen bei den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc), grüßt ein Schild am Straßenrand. Zwei Kilometer weiter liegt San Vicente del Caguán. Der Ort im Südwesten Kolumbiens ist die Hauptstadt eines Guerrilla-Staats. Kolumbiens Präsident Andrés Pastrana hat den Farc im November vorigen Jahres das Gebiet von der Größe der Schweiz als Gegenleistung für die Aufnahme von Friedensgesprächen überlassen. Besuchern führen die Guerrilleros ein revolutionäres Musterländle vor: Sie asphaltieren Straßen, renovieren Schulen und haben eine Sperrstunde verhängt. Äußerlich herrscht Frieden: Salsa-Musik dröhnt über den Hauptplatz; Straßenhändler verhökern Ché-Guevara-T-Shirts. Nur wenn sie sich unbeobachtet fühlen, klagen Einwohner über Repressalien. Schon Elfjährige werden zum Dienst in der Revolutionsarmee gezwungen. Jüngst richteten die Rebellen elf Bauern hin. Die hatten angeblich Spitzeldienste für die paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen geleistet, die ärgsten Feinde der Guerrilla. In ihrem Herrschaftsgebiet bereiten die Rebellen Bombenanschläge und militärische Offensiven vor. Die Regierung will, dass die Vorfälle von einer internationalen Kommission untersucht werden. Darauf habe sich Präsident Pastrana bei einem Treffen mit dem legendären Farc-Chef Manuel Marulanda, genannt „Tirofijo“ (Sicherer Schuss), verständigt. Die Guerrilla bestreitet das und vertagte die vorgesehenen Verhandlungen. Unterhändler Schmidbauer, Guerrilleros Zur „humanitären Aktion“ in den Busch 118 An dem Streit droht jetzt der gesamte Friedensprozess zu scheitern. Nunmehr rächt es sich, dass Pastrana überstürzt und planlos vorging. Während des Wahlkampfs im vergangenen Jahr hatte er sich überraschend mit Tirofijo getroffen und damit nach 40 Jahren Bürgerkrieg Friedenshoffnungen geschürt. Experten warnten damals vor übertriebe- Bombenanschlag in Medellín: Alptraum der US-Regierung nen Erwartungen, Friedensinitiativen früherer Präsidenten sind lern genommen haben. Pastrana will erst gescheitert. Pastranas Vorstoß droht ein mit den Rebellen über Frieden verhandeln, ähnliches Schicksal. Kritiker bemängeln, wenn die Gefangenen bedingungslos freider Präsident habe sich auf Gespräche ein- gelassen worden sind. Eine Hoffnung richtet sich auf Bonn: gelassen, ohne vorher auf einen Waffenstillstand zu bestehen. Die Guerrilla nutzt Der ehemalige Kanzleramtsminister Bernd das aus, um ihre Verhandlungsposition mit Schmidbauer vermittelt seit zwei MonaMilitäraktionen zu stärken. Bei einer Of- ten in dem Geiseldrama. Das ELN besteht fensive Anfang Juli trug sie den Krieg bis auf dem umstrittenen CDU-Politiker, offenbar mit Unterstützung ihres Vertrauin die Nähe der Hauptstadt. Vergangene Woche legten die Farc das ensmanns, des Privatagenten Werner Städtchen Nariño in Schutt und Asche, an Mauss. Präsident Pastrana akzeptiert Schmiddie 50 Menschen kamen ums Leben. Auch ein Bombenattentat Ende Juli in Medellín, bauers Vermittlung als „humanitäre Akbei dem 10 Menschen starben, legt die Re- tion“, obwohl die Bundesregierung schwere Bedenken gegen das Duo Schmidbaugierung den Rebellen zur Last. Die Streitkräfte bereiten sich auf eine er/Mauss hat. Aber Schmidbauer ist anEskalation des Konflikts zum offenen Krieg scheinend Pastranas einziger Mittelsmann vor. Ohne Hilfe von außen wäre der aller- zu den Rebellen. Allerdings ist Schmidbauer ohne Mauss dings kaum zu gewinnen. Bogotá bat Washington um 500 Millionen Dollar in Kolumbien hilflos. Der umtriebige Agent Militärhilfe. Kolumbien sei „in höchster habe „Kontakte, die ich nicht besitze“, beNot“, befand der US-Drogenbeauftragte kannte Kohls vormaliger Geheimdienstaufseher in der „Süddeutschen Zeitung“. Barry McCaffrey. Juan Gabriel Uribe, Präsident Pastranas 300 US-Berater sind derzeit in Kolumbien im Einsatz. Die meisten sollen bei Abgesandter für die Gespräche mit dem der Eindämmung des Drogenhandels hel- ELN, war jüngst mehrere Tage bei Schmidfen. Doch Rauschgiftbekämpfung und bauer in Bonn zu Gast, um die Chancen für Guerrillakrieg sind längst nicht mehr zu ein Abkommen auszuloten. Die Forderungen der Rebellen seien „rein politischer trennen. Washington sieht ein Alptraumszenario Natur“, beteuerte der Emissär nach seiner heraufziehen: einen kommunistischen Auf- Rückkehr. Hohe kolumbianische Geheimdienststand, der mit Drogengeldern finanziert wird. Die Guerrilleros kontrollieren das kreise versicherten dem SPIEGEL jedoch, größte Coca-Anbaugebiet Südamerikas. dass die Guerrilleros Lösegeld fordern. Sie Die Rauschgifthändler müssen Tribut ab- hätten die Gefangenen je nach Einkomführen, mit dem Geld kaufen die Rebellen mensverhältnissen in verschiedene „Zahlungsklassen“ eingeteilt. Waffen. Schon einmal war eine Freilassung an Weil die Gespräche mit den Farc festgefahren sind, sucht Präsident Pastrana jetzt Lösegeldforderungen gescheitert. Präsident Kontakt zum Nationalen Befreiungsheer Pastrana frohlockte voreilig, die Rebellen (ELN), der zweitgrößten Guerrilla des Lan- würden keine Bedingungen stellen. Dann meldete sich plötzlich ELN-Boss des. Militärisch ist das ELN in Bedrängnis: Anders als die Farc verfügen die ELN-Re- Nicolás Rodríguez telefonisch: Es sei bellen nicht über eine eigene Herrschafts- „überhaupt nicht sicher“, dass das ELN auf Lösegeld verzichte. zone. Jens Glüsing Bislang scheiterten Gespräche an der Geiselfrage. Seit Monaten hält das ELN über 60 Menschen gefangen, die sie bei Angriffen auf eine Kirche, ein Verkehrsflugzeug und eine Gruppe von Sportangd e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Ausland Guter Rat vom kleinen Prinzen Finanzjongleur Beresowski drängt den Kreml zum Medienkrieg und zum letzten Gefecht gegen Herausforderer Luschkow. G REFLEX leich zum drittwichtigsten Mann im russischen Staat wurde Boris Beresowski, 53, von den Meinungsforschern einer Tageszeitung erhoben. Die ist von ihm selbst finanziert und heißt daher die „Unabhängige“. Die frohe Botschaft der „Nesawissimaja gaseta“, ihr Patron rangiere seit letzter Woche als „führender Politiker“ zwischen Boris Jelzin (Platz eins) und dessen Tochter Tatjana (Platz fünf), muss den ebenso Woloschin, ist ein alter Bekannter aus Zeiten, als Beresowski mit seiner Allrussischen Auto-Allianz den kleinen Leuten ein preiswertes Volksmobil versprach. Woloschin diente dem Projekt einst als Konsultant: Er sammelte bei der Bevölkerung rund 50 Millionen Dollar ein, blieb den Billigwagen aber bis heute schuldig. Der alte Kamerad, erst im März auf seinen Kreml-Posten gehievt, war dem milliardenschweren Ritter des obskuren Konstantin-Ordens nun bei seiner neuesten Akquisitionskampagne nützlich. Als der außer Menschen auch Medien sammelnde Tycoon Beresowski öffentlich die Konkurrenzgruppe Media-Most seines Rivalen Wladimir Gussinski als „Finanzpyramide“ anschwärzte, die längst fällige Kredite schuldig bleibe, legte Woloschin noch nach: Die Most-Medien betrieben „journalistische Erpressung“, um vom Staat geborgte 61 Millionen Dollar nicht zurückzahlen zu müssen; insgesamt hätten sie 800 Millionen Kredit-Dollar verschleudert. Ein Most-Mann schimpfte Jelzins Haus- Tycoon Beresowski mit Präsident, Plakat-Mahnung an Jelzin: „Eine schreckliche Saat“ spendablen wie ehrgeizigen Handelsherrn gefreut haben: Nun könne ihm, spottet ein politischer Gegner, „die regierende Familie doch gleich den Kreml überschreiben“. Doch der Meister russischer Hofintrige, den Freunde wie Feinde BAB nennen, schert sich nicht um buchhalterische Sicherheiten: Boris Abramowitsch Beresowskis wahre Leidenschaft und eigentliches Kapital sind einflussreiche Kader, die er sich gewogen machen, hegen und pflegen kann – und abstoßen, wenn sie keinen Nutzen mehr versprechen. Das Gemäuer am Roten Platz interessiert ihn wenig, solange er sich dem jeweiligen Chef der Kreml-Administration nahe weiß: Und der gegenwärtige, Alexander meier daraufhin einen „Lügner“. Der Kreml konterte mit der Entlassung des letzten Gussinski-Lobbyisten aus dem Präsidialamt: Sergej Swerjew, bis Mitte letzter Woche einer von Woloschins Stellvertretern, berichtete nach seinem Rauswurf, in Jelzins Wagenburg werde zunehmend nach der Losung „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ gedacht und gehandelt. Die gegenwärtig gefährlichsten Gegner sieht Drahtzieher Beresowski im Wahlverein des Moskauer Oberbürgermeisters Jurij Luschkow versammelt, dem gerade auch noch die Vereinigung mit dem Regionalbündnis „Ganz Russland“ gelang: Gewinne Luschkow im kommenden Jahr die Präsidentenwahl, werde es zu einem „Blutd e r s p i e g e l bad“ im Lande kommen. Dechiffriert lautet die Botschaft für den derzeitigen Kreml-Hausherrn: Vom Moskauer Stadtvogt als Nachfolger seien kaum Garantien für ein ruhiges Altenteil in allen Ehren und mit sämtlichen Pfründen zu erwarten. Und die Missetat des 1996 noch auf Jelzin-Wahlhilfe eingeschworenen Most-Konzerns mit einer Tageszeitung, zwei Wochenblättern, einem Radiosender und dem Fernsehkanal NTW besteht denn auch allein darin, diesmal mit Luschkow den falschen Favoriten gewählt zu haben. „Ich bin keine Kreatur Beresowskis“, verlautbarte Woloschin inmitten der Grabenkämpfe, aber es sei „doch dumm, eine feindliche Struktur zu finanzieren“. Boris Beresowski hingegen hat unter Anspielung auf elf Unfälle und Anschläge, die er bereits überlebt habe, Widerstand bis zum Letzten angekündigt: „Mich kann man aus der politischen Arena nur entfernen, wenn man mich umbringt.“ Dabei ist BAB das Personal-Schach noch nie so prächtig geglückt wie seit diesem Frühjahr: Kaum hatte Russlands damaliger Premier Jewgenij Primakow im April die Staatsanwaltschaft von der Leine gelassen, um Beresowskis undurchsichtige Firmenbeteiligungen und Finanzen durchleuchten zu lassen, gab der heimliche Reichsverweser die Losung aus: „Primakow zerstört Russland.“ Einen Monat später feuerte Präsident Jelzin seinen allzu selbständigen Regierungschef. Auch Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow, der es gewagt hatte, den Polit- und Profitmanövern des milliardenschweren Drahtziehers nachzuspüren, kam ganz zufällig über ein in die Öffentlichkeit lanciertes Pornovideo zu Fall. Sein Stellvertreter, der die lästigen Ermittlungen partout fortführen wollte, wurde in ein justizfernes Amt verbannt. Also eigentlich nur Grund zur Freude für BAB, wäre da nicht die Sache mit BaoBAB. Geistreiche Gegner nämlich haben auf der Jelzin-Route zwischen Staatsdatscha und Kreml große Plakate mit Saint-Exupéry-Zitaten kleben lassen – mit einem guten Rat des kleinen Prinzen für den alten Zaren: „Auf dem Planeten des kleinen Prinzen gab es fürchterliche Samen … und das waren die Samen der BaoBABs. Der Boden des Planeten war voll davon. Aber einen Bao-BAB kann man, wenn man ihn zu spät angeht, nie mehr loswerden.“ Jörg R. Mettke P. KASSIN RUSSLAND 3 2 / 1 9 9 9 119 Ausland 14 Monaten haben die USA unsere Sicherheitsinteressen und unsere stabilisierende INDIEN Funktion in Asien besser begriffen und auch ihr Verhältnis zu Pakistan kritisch überprüft. SPIEGEL: Immerhin schickt Washington in Kürze einen Abrüstungsexperten nach Neu-Delhi – damit Indien noch dieses Jahr das Atomteststopp-Abkommen unterAußenminister Jaswant Singh über das gespannte zeichnet? Verhältnis zu Pakistan und die Rolle der USA als Vermittler Singh: Ich kenne die amerikanische Haltung in dieser Frage. Es wäre falsch, unseSPIEGEL: Herr Singh, im Fe- brüllen, kann es keine gescheiten Ge- re Beziehungen zu den USA auf dieses eine Thema zu reduzieren. bruar waren Indien und spräche geben. Pakistan noch auf Versöh- SPIEGEL: Pakistan wünscht einen neutralen SPIEGEL: Nach US-Erkenntnissen sucht der nungskurs, aber seit Mai Dritten, etwa die USA, als Vermittler. War- Terrorist Ussama Ibn Ladin den Absprung herrschte neun Wochen um beharrt Indien auf einer bilateralen aus Afghanistan, und Indien gilt als potenlang Krieg in Kaschmir. Lösung? zielles Ziel seiner terroristischen AktiviWas lief da schief? Singh: Wir benötigen keinen Dolmetscher. täten. Würden Sie bei seiner Ergreifung Singh: Das weiß ich auch Das würde die ohnehin komplexe Situation helfen? nicht. Wir hatten die Frie- nur noch schwieriger machen. Singh: Ich möchte das Thema des grenzdensinitiative ergriffen, wir SPIEGEL: Indien betont stets die Bedeutung überschreitenden Terrorismus nicht persoSingh wollten den Feindseligkei- der Uno, blockiert aber immer noch die nalisieren. Auf jeden Fall ist es eine interten nach 52 Jahren endlich ein Ende setzen. Resolution von 1948, die eine Volksab- nationale Aufgabe, den Rückfall ins MitDass Pakistan trotzdem Freischärler ein- stimmung in Kaschmir fordert. telalter zu bekämpfen, den Fundamentamarschieren ließ, auch reguläre Truppen, Singh: Die Resolution verlangt als Vorbe- lismus, das Afghanistan-Syndrom. ist unbegreiflich. Klar ist aber: Ein solches dingung den Abzug jeglicher pakistani- SPIEGEL: Die USA dürften allerdings wenig Abenteuer war nur möglich durch die scher Truppen aus Kaschmir, und der ist bis erfreut sein, dass Indien gerade jetzt seine rückhaltlose Unterstützung des gesamten heute nicht erfolgt. Außerdem hat es in Beziehungen zum Irak verbessert. Es heißt, Regierungsapparats. Kaschmir mehrere faire und freie Wahlen Ibn Ladin könnte dort untertauchen. SPIEGEL: Verteidigungsminister George Fer- gegeben, zum Regionalparlament und zur Singh: Wir entscheiden nach unseren nanandes, Ihr Kabinettskollege, sieht das an- indischen Nationalversammlung. Die Ver- tionalen Interessen und pflegen traditionell ders. Er sagt, Pakistans Premier Nawaz hältnisse haben sich gründlich verändert, gute Beziehungen zum Irak, unabhängig Sharif war in die Pläne seiner Militärs nicht die alten Maßstäbe gelten nicht mehr. von der internationalen Stimmungslage, SPIEGEL: Voriges Jahr im Mai, nach den in- aber unter Beachtung der Uno-Resolutioeingeweiht. Singh: Nach allem, was in Kaschmir pas- dischen Atomtests, waren Ihre Beziehun- nen. Wir leisten verstärkt humanitäre Hilsierte, halte ich die Frage für akademisch, gen zu den USA auf dem fe, denn die Bevölkerung ob es in der pakistanischen Führung viel- Nullpunkt. Das hat sich leidet sehr.Wenn der Irak 200 km leicht Dissonanzen oder einen Meinungs- mit dem Kaschmir-Krieg einem wie Ussama Ibn INDIEN verbessert? streit gegeben hat. Ladin Unterschlupf geCHINA SPIEGEL: Wurde seit Mai bei offiziellen Singh: Wir sind ein zu währen würde, so wäre unter Kontakten mit Pakistan erwogen, die wichtiges Land, um auf das eine Sache zwischen pakistanischer Demarkationslinie in Kaschmir aufzu- Dauer das schwarze Schaf dem Irak und den USA. unter chiVerwaltung nesischer werten? zu spielen. In den letzten Waffenstill- K SPIEGEL: Trotz diplomatiVerwaltung a s standslinie Singh: Nein. Wir haben Pakistan scher Erfolge in jüngster c h Srinagar lediglich aufgefordert, ihre UnZeit droht Ihrer Koalim i r unter indischer verletzlichkeit zu bestätigen. tionsregierung bei den N. RAI „Wir brauchen keine Aufsicht“ Pakistanisches Militär in Kaschmir „Von jedem Dach Parolen“ 120 Islamabad PAKISTAN Verwaltung Wahlen im September eine Niederlage. Bereitet Ihnen das Sorgen? INDIEN Singh: Wir haben in anderthalb Jahren zwei gewaltige Herausforderungen gemeistert – die Sanktionen nach den Atomtests und die Kaschmir-Invasion. Was sollte uns beunruhigen? SPIEGEL: Verteidigungsminister Fernandes hat China immerhin als „prinzipielle Bedrohung“ bezeichnet. Singh: Zwei so alte Kulturen sollten im Stande sein, als reife Staaten einander zu achten und zu koexistieren. SPIEGEL: Moskau hält sogar einen russisch-chinesisch-indischen Block für wünschenswert. Singh: Ich glaube nicht an die Notwendigkeit von Blöcken. Staaten müssen ihre Belange souverän verfolgen können. Ohne Aufsicht einer Supermacht. REUTERS Das erhebt sie aber nicht in den Rang einer international anerkannten Grenze. SPIEGEL: Indien macht nun die Wiederaufnahme von Gesprächen von einer solchen Garantie abhängig und erwartet zudem ein Versprechen Pakistans, den grenzüberschreitenden Terrorismus nicht weiter zu unterstützen. Das wird Islamabad kaum akzeptieren. Singh: Wir stellen keine Bedingungen, sondern bezeichnen die notwendigen Zutaten eines weiteren Dialogs. Solange die andere Seite diesen Terrorismus fördert und dazu ermuntert, jeden Tag von jedem Dach antiindische Parolen zu Interview: Padma Rao Werbeseite Werbeseite ROPI Bürgermeister Guazzaloca, Altstadt von Bologna: Plötzlich sind die traditionellen Bastionen der Genossen in Gefahr I TA L I E N Hackfleisch aus der Linken Ein halbes Jahrhundert galt „Bologna la rossa“ als Musterstadt der Linken in Europa. Jetzt wurde ein Rechter dort Bürgermeister, weil die soziale Idylle längst nur noch ein schöner Schein war. N och ist Karl Marx nicht ganz ausgemustert. Im Flur steht er noch, in drei Bänden. „Das Kapital“, auf Italienisch natürlich, dominiert das kleine Bücherbord im ersten Stock des Palazzo d’Accursio, dem prächtigen Rathaus von Bologna. Auch Sigmund Freud steht tröstend bereit für den, der hier länger auf seinen Termin warten muss. Und Kafka. Alles wie immer also. Vor seiner Tür. Dahinter freilich ist nichts mehr, wie es war: Da sitzt Giorgio Guazzaloca, 55, und der ist gar kein Genosse. 54 Jahre lang regierten die Kommunisten und ihre Verbündeten das in der linken Zeitgeschichte geradezu mythische Bologna. Sozis von Straßburg bis Stockholm pilgerten ins heilige Bologna, um eigenen Auges zu sehen, dass dergleichen tatsächlich funktioniert: wirtschaftlicher Wohlstand mit sozialem Gesicht, geschaffen von demokratisch gewählten Kommunisten. 122 Und nun holt ein Rechter bei den Kommunalwahlen 50,7 Prozent. Ein gelernter Metzger eroberte, getragen von der bürgerlichen Sammelbewegung Pol der Freiheiten, die rote Musterstadt. „Witze haben sie über mich gemacht“, erinnert sich Guazzaloca, „sich für unbesiegbar gehalten.“ Kein Wunder, auch er glaubte ja nicht ernsthaft daran, die rote Elite schlagen zu können. Mit 15 verließ er die Schule und lernte beim Vater das Schlachterhandwerk. Dann hat er es bis zum Handelskammerpräsidenten gebracht. Hätten die Linken ihn im Januar 1998 nicht aus dem Job gedrückt, um einen parteinahen Wirtschaftsmann zu platzieren, „nicht im Traum“ hätte er daran gedacht, als Bürgermeister zu kandidieren. Nun hat „Schlachter Guazzaloca aus der Linken Hackfleisch gemacht“, spottete die römische Tageszeitung „Il Messaggero“. Dabei ist er alles andere als martialisch. Im Gegenteil, der füllige Grauhaarige ist d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 der Idealtyp des gut situierten Nachbarn: nett, Vertrauen erweckend, jovial, meistens eher schüchtern-bescheiden als selbstbewusst-protzig. Sein Vorgänger thronte im großen Barockzimmer mit Blick auf die mittelalterliche Piazza Maggiore, mitten im „Mekka für Stadtplaner“ („Bauwelt“). Guazza, wie ihn seine Kumpel aus Jugendund Fußballerzeiten nennen, beschied sich mit einem kleinen dunklen Büro zum Innenhof.Von dort schallt der Lärm von Baumaschinen herauf: Bologna wird fürs Jahr 2000 herausgeputzt, zur „Kulturstadt Europas“. „Einen festen Plan“, was er anders machen will, hat Guazza nicht. Braucht er auch nicht. Die Strafen für die Freier von Prostituierten hat er wieder gestrichen. Aber sonst? Das Modell seiner Vorgänger gefällt ihm ja im Großen und Ganzen gut. Man dürfe „die Vergangenheit nicht dämonisieren“, dämpft er die Erwartungen schritts. Der Lebensstandard der Bürger stieg unaufhörlich, die sozialen und öffentlichen Systeme waren vorbildlich. Busse fuhren schon in den siebziger Jahren gratis, die Kindergärten galten als die besten der Welt. Revolutionär war die – weitgehende – Vertreibung der Autos aus der historischen Altstadt, ein später dutzendfach kopiertes Modell. Die Innenstadt wurde mit viel Geld und Behutsamkeit aufpoliert – eine gelungene Verbindung von Schönheit und Nützlichkeit. Der historische Kern Bolognas gehört zu den aufregendsten Italiens. Besser, lobte Umberto Eco noch eine Woche vor der Wahl, könne man eine Stadt nicht regieren. Immer war Bologna anders und meistens den anderen voraus. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entsteht hier Europas erste Universität, „studio Generale“ genannt. „La dotta“, heißt die Stadt seither, „die Gelehrte“. Als die Fanfaren der Französischen Revolution durch die Alte Welt schallen, ist Bologna ganz vorn mit dabei. Als es 1848 darum geht, die Ideen bürgerlich demokratischer Freiheiten in die Realität umzusetzen, verjagen allen voran Bologneser die österreichische Besatzungsmacht. Und in Bologna wurden kurze Röcke und kurze Hosen getragen, als Rest-Italien dergleichen noch für Teufelszeug hielt. „Drei Pfeiler tragen diese Stadt“, so Silvia Bartolini, „der Bürgermeister, der Universitätsrektor und der Kardinal.“ Denn die Bologneser sind nicht nur traditionell links. Sie sind ebenso treue Katholiken. Jedes Jahr, Ende Juli, am Tag des heiligen Christophorus, lassen sie selbst ihre Autos segnen. Das Muster hat Giovanni Guareschi in seinem weltbekannten Roman „Don Camillo und Peppone“ beschrieben: hemdsär- ROPI im rechten Lager. So schlecht hätten die Roten nun auch nicht regiert. Die sind sechs Wochen nach dem Wahldebakel immer noch fassungslos. Guazzaloca-Vorgänger Walter Vitali „kann es einfach nicht glauben“. Silvia Bartolini, die das Vitali-Erbe antreten sollte, doch gegen Guazza unterlag, schüttelt noch heute ihren roten Lockenkopf, als wolle sie einen Alptraum verjagen, wenn sie über den Wahltag redet: „Sehr schmerzlich, äußerst schmerzlich.“ „Love“ und ein Yves-Saint-LaurentLogo zieren ihren Rucksack. Ein unbewusster Reflex auf die Attacken gegen sie? Viele Parteifreunde haben die historische Schlappe der 38jährigen Aktivistin von der Linksdemokratischen Partei DS zugeschrieben. Aber es ist ja viel schlimmer: Eine Epoche geht zu Ende. Über ein halbes Jahrhundert war Bologna ein europäisches Sozial- und PolitLabor. Eine weltweit bewunderte Spezies von Parteifunktionären und Politologen, Architekten, Stadtplanern und Schriftstellern, bis hin zum großen Umberto Eco („Der Name der Rose“), entwarf eine konkrete Alternative zur korrupten Parteienherrschaft von Christdemokraten und Sozialisten in Rom. Und darüber hinaus: „Die Pazifizierung von Kommunismus und Katholizismus hat hier stattgefunden“, gibt auch Guazzaloca gern zu. Doch bei alledem, stets das Wohl der Menschheit im Blick, hat sich Bolognas progressive Elite so weit von den Menschen entfernt, dass sie nun den einen, eher rechten, immer verhasster und den anderen, eher linken, zunehmend gleichgültig geworden ist. Die Welt, die Stadt und deren Bewohner haben sich verändert – die roten Regenten, vertieft in ihre internen Gutmenschen-Debatten, haben es nicht gemerkt. Knapp 400 000 Köpfe zählt die Stadt am südöstlichen Rand der Poebene, in der reichen norditalienischen Region Emilia-Romagna. Aber täglich werden es weniger. Wer Geld hat, kauft sich im Umland ein Häuschen. 100 000, behauptet der neue Bürgermeister, seien in zehn Jahren abgewandert. Dafür kommen andere – aus Sizilien und Apulien, aus Ländern Osteuropas, Afrikas oder Asiens. Doch die etwa 30 000 Neubürger verleiden den Alt-Bolognesern die Stadt noch ein wenig mehr: Die Graffiti im Zentrum nehmen zu, die Kriminalitätsrate steigt. Das Wir-Gefühl in der Musterstadt kommt so abhanden. Die Toleranz vergangener Jahre schwindet. Dabei war die Nachkriegsgeschichte Bolognas lange Zeit ein Märchen ewigen Fort- S. CAROFEI / SINTESI P. RIGHI / SINTESI Ausland Unterlegene Bartolini, Aufmarsch der Kommunisten (1996): „Äußerst schmerzlich“ d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 123 Ausland melige Priester und kommunistische Bürgermeister eines kleinen Städtchens vor den Toren Bolognas. „Jeder hier in der Gegend“, meint Guazzaloca, „ist ein bisschen Peppone und ein bisschen Don Camillo.“ Und das Ergebnis ist, so sieht es Silvia Bartolini, „eine fruchtbare Verbindung von sozialer Politik und sozialem Katholizismus“. Beispielsweise in den „centri sociali“, von denen es etwa 50 in der Stadt gibt. Jedes anders, aber alle ähnlich, wie „villa torchi“ im Viertel Navile. Ein kleiner Platz, drei, vier schmucke Häuser darum: ein Altenzentrum, ein Kindergarten, eine Stiftung für Menschen, die am Down-Syndrom leiden, Fest- und Versammlungssaal, Boccia-Anlage. Alte Menschen ziehen mit ihren Stühlen dem Schatten nach, im kleinen Park spielen Kinder, die Mütter schwatzen derweil, ein geistig behindertes Paar hat sich aufs Gras vor ein Blumenbeet gesetzt, einander fest an den Händen haltend. Zwei Buben schießen ihren Ball gegen die Festsaalmauer. Die Stimmung ist fröhlich – nichts vom trostlosen Muff steriler deutscher Sozialeinrichtungen. In der kühlen Bar im Altenzentrum servieren zwei ältere „baristi“ Eis und kalte Drinks. In weißem Hemd und Fliege, wie es sich für Profis gehört. Doch die beiden sind längst pensioniert, arbeiten hier ohne Lohn, aus Spaß. Alle tun hier irgendwas: Der eine putzt, der andere räumt, der dritte repariert. Die Stadt hat ihnen die Häuser geschenkt, erhalten müssen sie das Zentrum selber. Mal kochen sie ein Galaessen für die Nachbarn oder laden zum Tanzabend – mit den Einnahmen zahlen sie Licht und Heizung oder auch den neuen Belag für die Boccia-Bahn. Der Präsident, der Boss im Laden, wird jährlich neu gewählt. „Das Herz Bolognas“ ist für Claudio Mazzant, Vorsteher des Stadtbezirks Navile, diese „konkrete Demokratie vor Ort“. Auch die städtischen Parks und die Freiflächen zwischen den grauen Acht-StockNeubaublöcken werden von Freiwilligen gepflegt. Überall in Bologna wieseln Komitees, für Gemeinnütziges oder gegen Umweltschädliches: ein Idyll für die Fans der Bürgerbeteiligung. Für das allerdings, was unter der sozialen Patchwork-Decke seit langem brodelte, so das Magazin „L’Espresso“, war die Stadtregierung „taub und blind“. Die Alten jagten die Jugendlichen aus den Sozialzentren, weil die ihnen zu laut und zu aufsässig waren. Nun randalieren die auf Spielplätzen oder Kirchentreppen. In der Innenstadt sanken die Umsätze der Händler, weil die Verkehrsberuhigungskomitees die Kunden vertrieben. In den Neubauvierteln am Stadtrand schrumpfte der Lebensstandard, weil Steuern, Abgaben und vor allem die Mieten die Löhne auffraßen. 1200 bis 1500 Mark kostet heute ein 80-Quadratmeter-Apartment in der Hochhaussiedlung, gut die Hälfte des durchschnittlichen Familieneinkommens. Im Zentrum werden Schlafplätze im Zwei- oder Dreibettzimmer, etwa für Studenten, von 500 Mark aufwärts gehandelt. Mehr als alles andere aber schreckte die Bürger Bolognas die zunehmende Kriminalität. Acht Prozent mehr Autos, sechs Prozent mehr Geldbörsen als 1997 wurden 1998 gestohlen. Die Zahl der Raubüberfälle ging um fast 20 Prozent hoch. Die Bologneser fürchteten sich, fühlten sich plötzlich fremd daheim. Der Fremde kann das kaum nachempfinden. Traulich umschlungen spazieren nächtens Liebespaare durch die engen, verwinkelten Altstadtgassen, vorbei an dunklen Palazzi aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Beschwingt musizieren Jugendliche aus aller Welt bis weit nach Mitternacht auf der Piazza Maggiore. Und schon beim ersten Sonnenstrahl quälen sich einsame Frühjogger den vier Kilometer langen Arkadengang zum Heiligtum San Luca entlang, steil bergauf unter 666 Bögen. Heimelig wirkt die Stadt, nicht unsicherer als Florenz oder Freiburg. ROPI EU-Kommissionspräsident Prodi, Ehefrau Karrierestart in Bologna Statistisch ist der Zuwachs an Kriminalität, so der „Repubblica“-Lokalchef Aldo Bassanelli, tatsächlich kaum mehr als „ein Anstieg zur Normalität europäischer Städte“. Doch für die Bewohner Bolognas war es „ein Schock“. Hier herrschte eben über Jahrzehnte nicht die „Normalität“ der übrigen Welt. Wenn der Bologneser von einem der schiefen Zwillingstürme im Zentrum der Stadt – Garisenda und degli Asinelli – auf die eng gedrängten roten Giebel der Stadt schaute, die Zinnen der mittelalterlichen Palazzi, die Kuppeln der Kirchen, da wurde ihm warm ums Herz. In seiner Stadt war es ruhiger, sicherer als andernorts. Und immer wurde hier gut gelebt. Die Auslagen der Fisch- und Gemüsehändler, der Käse- und Schinkenläden waren üppiger als irgendwo sonst: „Bologna la grassa“, die Fette, hieß es – und die Bürger hörten es voller Stolz. Eine gelungene Symbiose von Kommunismus und Konsum. Vorbei, einstweilen zumindest. Die Helden wurden immer zerstrittener, das Stück „Bologna la rossa“ immer langweiliger. „Unsere Wähler“, hat Silvia Bartolini zu spät erkannt, „hatten keine Lust mehr.“ Die Wahlbeteiligung rutschte ab auf 40 Prozent. Nicht die Attraktivität der Rechten, die Abnutzung der Linken brachte den Wandel. Nun ist die Angst groß. Auch in anderen Hochburgen, etwa in Padua, verlor Links in diesem Sommer – und Rechts kam an die Macht. Plötzlich sind die traditionellen Bastionen der Genossen in Gefahr und damit die Mitte-Links-Mehrheit in Rom. Bei Umfragen Mitte Juli kam die DS, die Partei von Ministerpräsident Massimo D’Alema, gerade noch auf 17 Prozent. „Ein, zwei, hundert Metzger“, spottete „L’Espresso“ über die euphorische Suche der Rechtsparteien nach Kandidaten wie Guazzaloca. Die wittern Morgenluft nach langer Nacht. So wie in Bologna wollen sie jetzt überall, jubelt Mario Valducci von der Berlusconi-Partei Forza Italia, „in der bürgerlichen Gesellschaft fischen“. Bologna als Menetekel der Linken? Hier startete 1995 der Uni-Professor und Industriemanager Romano Prodi sein „Ulivo“-(Ölbaum)Projekt – ein breites Wahlbündnis von Katholiken bis Kommunisten. Ein Jahr später gewann er damit die Wahlen, wurde Italiens Regierungschef und Hoffnungsträger. Der Ulivo-Schwung half Italien über die Maastricht-Hürden in den Euro-Club. Heute ist Prodi gestürzt, abgeschoben nach Brüssel als EU-Kommissionspräsident. Und um sein Mandat als Parlamentsabgeordneter reißt sich nun die noch amtierende EU-Kommissarin Emma Bonino. Sie soll Bologna auch im Parlament auf die rechte Seite bringen. Der Name ihrer Partei klingt ganz nach dem alten Bologna: „Die Radikalen“. Doch das politische Glaubensbekenntnis der populären Kandidatin ist eher global-liberal als kuschelig-sozial, eher FDP-vulgär als revolutionär, eher Guido Westerwelle als Karl Marx. Hans-Jürgen Schlamp Werbeseite Werbeseite A. HERNANDEZ (l. o.); SIPA PRESS (l. u.); GAMMA / STUDIO X (r. o.); F. HIBON / SYGMA (r. u.) X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999); 2. Stalin und der Gulag-Staat (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999); 4. Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion (32/1999) Feier nach dem Putschversuch (1991); Gorbatschow (1987); Gesprächspartner im Kaukasus (1990); Sowjet-Rückzug aus Afghanistan (1989) Das Jahrhundert des Kommunismus Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion Mit radikalen Reformen wollte Michail Gorbatschow die Sowjetunion erneuern. Er versprach Demokratisierung und Abrüstung, er beendete den Kalten Krieg und die Zweiteilung der Welt – und er zerstörte das kommunistische System. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 127 Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion Neues Denken, schöne Träume JÜRGENS PHOTO Spiegel des 20. Jahrhunderts Michail Sergejewitsch Gorbatschow / Von Jörg R. Mettke Ehepaar Michail, Raissa Gorbatschow im Pionierlager (1985)*: „Die Dinge sind in Gang gekommen“ * Mit Enkelin Oksana. 128 Der erste und letzte gewählte Staatspräsident der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat Kredite, Spenden, Vortragsund Buchhonorare und auch die halbe Dollar-Million fürs Werbe-Essen mit Enkelin bei „Pizza Hut“ in diesen Palast gesteckt. Noch in diesem Jahr will er ihn eintauschen gegen seine bescheidene Untermieterschaft bei der Russischen Finanzakademie ein paar hundert Meter die Straße hinunter. Michail Gorbatschow, Ehrenbürger von Berlin, Aberdeen, Bologna, Piräus, El Paso, Florenz, Sesto San Giovanni und Karda- mylla auf der griechischen Insel Chios, dazu Träger des Großkreuzes der heiligen Agatha von San Marino, der Goldmedaille der Athener Prometheus-Universität und anderer ähnlicher Bürden, ist ein beneidenswerter Mann. Er lebt in seinem russischen Land wie die personifizierte Zeitenwende. Geschätzt, gehasst wie nur einer, der keinen Stein eines alten Gemäuers auf dem anderen ließ, der sich jedem in die Erinnerung ätzte mit seiner Sechs-Jahre-Herrschaft, als habe sie Jahrzehnte gedauert. Und der einen Aufbruch gewagt, ein Zeichen gesetzt, eine Lehre hinterlassen hat. Seine politischen Schalmeien hat er der Sowjetgesellschaft so oft und so lange vorpfeifen lassen, bis sich die rote Macht taumelnd von der Weltbühne verabschiedete. Sein Credo hat Platz in einem russischen Zwei-Wörter-Satz, den das Volksgedächtnis als Quintessenz des Gorbianismus aufbewahrt: poöecc noøoë, ProP. KASSIN A m Leningrader Prospekt Nr. 30 in Moskau wächst ein ausladendes, noch ohne Putz bereits auf Pracht angelegtes Gebäude fünf Geschosse hoch, mal in Backstein und mal Beton – mit Säulen rechts und links und einem Paradeeingang in der Mitte. Kaum einer der Passanten weiß, wer hier so herrschaftlich residieren will in wirtschaftlich schwerer Zeit. Nur ein Polizist gibt Bescheid: „Hier baut doch euer Gorbi sein Stiftungshauptquartier mit einem Millionenkredit der Deutschen Bank.“ Das ist auf knappe Weise die historische Jahrhundertbilanz deutsch-russischer Beziehungen: zum Beginn die von der kaiserlichen Heeresleitung organisierte Reise Lenins aus der Schweiz nach Russland, gegen Ende ein günstiger Zinsfuß aus Frankfurt am Main für Michail Sergejewitsch Gorbatschow und seine feste Burg. Gorbatschow-Stiftung in Moskau: Feste Burg d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 AFP / DPA zess poscholl, die Dinge sind in Gang ge- Für die Mütterchen an Russlands Kir- gegängelte Wahl von Arbeitsplatz und Aufkommen. Bewegung war ihm beinahe alles. chentüren, die so behände das Kreuz schla- enthaltsort, Material- und ErsatzteilliefeViel hat er angestoßen, ans Ende gebracht gen und dabei ihre Bettel-Kopeken in der rungen für die Produktion, Waren für die beinahe nichts – bis auf die beiden Saurier Schürzentasche verschwinden lassen kön- Geschäfte, Saatgut und Dünger für die nen, war der neue „Gensek“ (Generalse- Landwirtschaft, Benzin für die KraftfahUdSSR und KPdSU. Die von Gorbatschow ausgelösten, mit kretär, im Sowjetjargon) der Partei schon rer, Milch für die Kinder, selbst Särge und seinem Namen verbundenen Wirkungen 1985 ein alter Bekannter: ein Geweissagter, Begräbnisplätze für die Toten. Von Brot allein, das drei sind jedermann sichtbar. FriedKopeken kostete Mitte der achtrich Engels muss den vorwärts ziger Jahre – heute vier Rudrängenden Russen vorausgebel –, mochte das Sowjetvolk ahnt haben mit seinem altersvier Jahrzehnte nach Kriegsende weisen Satz, in der Politik strebnicht länger leben. Andere Kost ten immer alle nach dem Besten, war Mangelware oder ungenießaber heraus komme, was keiner bar: Wer eine einzelne Zeitung gewollt habe. „Wesentliche Verstudiert hatte, der hatte sie zuänderungen sehe ich nicht“, bigleich alle gelesen. Radio und lanzierte Gorbatschow im verFernsehen gaben rund um die gangenen Jahr den weiter anhalUhr propagandistischen Schein tenden Verfall seines Vaterlanfür die Wirklichkeit aus. Die Sodes, „aber ich hoffe.“ Und die wjetunion, deren Geburt „die Hoffnung, sagen die Russen, Welt erschüttert“ hatte (so USstirbt als Letztes. Augenzeuge John Reed), litt Negative Veränderungen freizwei Jahre vor ihrem Siebzigsten lich spüren die meisten. Auch an allen Gebresten des Greiwer bis heute Gorbatschow für senalters: die Befreiung des Bewusstseins Ideologisch und militärisch zu durchaus Kredit gibt, kreidet ihm Tode gerüstet, ihre widerspenstidie Verelendung des Seins umgen Geister ins innere Exil, in Irso heftiger an. Landauf, landrenanstalten oder per Ausbürab teilen die Russen inzwischen gerung ins Ausland verbannt, ihre neueste Geschichte ein in ihre jungen Soldaten in den mör„vor Gorbatschow“, „während derischen Afghanistan-Krieg geGorbatschow“ und „nach Gorpresst, ihre Bodenschätze gegen batschow“. Dollar und Getreidelieferungen Hat er die Demokratie geverschleudert, ihre gesellschaftbracht – oder nur das Volk um lichen Verhältnisse versteinert, seinen bescheidenen Wohlstand? ihre Partei-Nomenklatur zu eiHat er einträgliche Reichsterriner korrupten Clique herabgetorien verschleudert und Russsunken – nichts war geblieben lands Supermacht-Status dazu? von den sozialistischen VerHat er Deutschland die WiederAbbau eines Lenin-Denkmals*: Die Völkerunion zerfiel heißungen der frühen Jahre, die vereinigung geschenkt, der „beste Deutsche“, wie ihn daheim einige ver- ein von Gott Gesandter. Er hatte das Blut- einst Proletarier aller Länder in ihren Bann mal auf der Stirn und Besessenheit in der gezogen hatten. ächtlich nennen? Selbst die schiere staatliche Existenz der Der Mann, der das alles und noch mehr Stimme, die nach südrussischem Dorf geleistet haben soll nach Meinung wech- klang und nach Schicksalsträchtigkeit – was Sowjetunion wurde im Inneren, so urteilt selnder Mehr- und Minderheiten, „der denn auch rasch Gorbatschows liebste der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm, „nur noch durch ein System aus Mann, der die Welt verändert hat“ (so die Vokabel wurde. Ein Beweger von der Art Gorbatschows Protektion, Vetternwirtschaft und Barzahamerikanische Gorbatschow-Biografin Gail Sheehy), reist zu den Symposien dieser war erwartet worden wie der Messias, lung zusammengehalten“. Dazu hatte die KPdSU-Spitze in etwas Welt, hat zu allem etwas zu sagen in den schon lange. Nicht nur von den Alten, die Gazetten von Japan bis Italien und ver- noch an Gott glaubten, sondern vor allem mehr als zwei Jahren gleich dreimal einen zehrt seine Rente nun schon länger, als er von den aktiven 30- bis 50-Jährigen, welche Chef an der Kremlmauer begraben müsregiert hat – wie ein Napoleon, der nach die Partei in eine lichte Zukunft zu führen sen: Im November 1982 starb Leonid dem großen Aufmischen Europas unfrei- versprochen hatte: Gerade sie spürten Tag Breschnew, der Vater allen Stillstandes, mit willig, aber nicht unglücklich den Vorsitz für Tag in ihren Fabriken, Kolchosen, Äm- 75 Jahren; im Februar 1984 Jurij Androeines Pariser Museumsvereins übernom- tern und Kontoren, wie und in welchem pow, 69, der das Land mit strenger Tschemen hätte zur Erforschung der eigenen Maße sich das sowjetische Regime er- kistenhand hatte kurieren wollen, und am schöpft hatte und sozialistische Glaubens- 10. März 1985 dessen schon bei der Wahl Bedeutung. Aufzuklären ist noch vieles rund um das sätze zu Gemeinplätzen staatlicher Selbst- hinfälliger Nachfolger Konstantin Tschernenko, 73. Phänomen Gorbatschow, um diesen lu- beweihräucherung verkommen waren. Alles stockte, stagnierte, wurde defizitär: Einen Tag später war Michail Gorbapenreinen Typ eines politischen, von Politik umgetriebenen Funktionärsmenschen. das freie Wort, der aufrechte Gang, die un- tschow am Ziel. Seine Genossen in Politbüro und Zentralkomitee wählten ihn, Schon zu Beginn wurde Gorbatschow von einen studierten Juristen wie Wladimir vielen als mythische Figur wahrgenommen. * 1991 im litauischen Vilnius. „Ich sehe in Gorbatschow den größten Reformer des Jahrhunderts.“ Alexander Jakowlew, Gorbatschows Vertrauter, 1995 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 129 AFP / DPA Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion Käuferschlange vor einer Moskauer Bäckerei (1992): Der Brotpreis stieg von drei Kopeken auf vier Rubel Uljanow, zur Nummer eins der Partei Lenins. „Die Zeit der Wirren ist vorbei, die Gerontokratie zu Ende“, schrieb der SPIEGEL, als der 54-Jährige ans Werk ging und den ungeheuren Satz sprach, sein Land brauche die Demokratie „so notwendig wie die Luft zum Atmen“. Doch die Wirren für Russland sollten mit ihm, dem Ketzer in der Maske des agilen Managers, erst richtig in Gang kommen. Dass weniger als zehn Jahre später die Welt ein ruiniertes Rest-Russland glaubte abwickeln zu müssen, ohne dass es dabei sich selbst und anderen zur Gefahr wird, ahnte damals niemand – so stark, vielleicht zu stark war die Faszination, die vom neuen Mann im Kreml und seinen ersten Absichtserklärungen ausging. Gorbatschow glaubte zunächst noch unbeirrbar an die Renovierbarkeit des sozialistischen Staates. Er wollte, „dass unsere sowjetische Heimat noch reicher und mächtiger wird“ und „in das neue Jahrtausend als eine große und gedeihende Macht eintritt“. Für jene, die damals als Erste im Westen seine Bekanntschaft machten, war gerade das keine angenehme Zukunftsvision. Die meisten von ihnen hatten es noch gut ein Jahr zuvor, beim Amtsantritt des greisen Tschernenko, eher mit dem ehemaligen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski gehalten, der dieser „denkbar besten Wahl“ applaudierte, weil damit „der am wenigsten kompetente“ Kandidat an die Spitze des US-Rivalen gerückt war. Gleichwohl fand Michail Gorbatschow, der mit dem doppelten Anspruch des Bewahrers und Erneuerers antrat, sofortigen Beifall. Den einen galt er als Reinkarnation des großen Zaren Peter I., der im 18. Jahrhundert die Fenster nach Westen aufgestoßen und seinen reformfaulen Bojaren die Bärte zum Teil persönlich abgeschnitten hatte. Andere hofften, die Sowjetunion werde sich mit Hilfe des neuen Bewegers sozialdemokratisieren und darüber an internationalistischer Aggressivität verlieren. Freilich: Die meisten Gorbatschow-Bewunderer der ersten Stunde waren vornehmlich fasziniert durch die Art und Weise, wie er Dinge sagte, durch die Lebendigkeit seiner Gebärden, die suggestive Kraft seiner braunen Augen, die warme persönliche Hinwendung zu Gesprächspartnern, welche Menschlichkeit ausdrückte, Verständnis, Realitätsnähe und zugleich demonstrative Abkehr vom bislang gewohnten Funktionärtypus aus der grauen Partei-Retorte. Was der neue KPdSU-Chef hingegen öffentlich aussprach, unterschied sich zunächst kaum von den Neuerungstiraden seiner Vorgänger: Er predigte „Unversöhnlichkeit gegenüber uns fremden Ansichten“ und Treue zum „unerschütterlichen bolschewistischen Prinzip“, beschul- digte „den Kapitalismus“ pauschal als weltweiten Produzenten von „Krieg“ und „Terror“, lobte die Heimat als Hort „wahrer Freiheit und Demokratie“ und forderte zur Korrektur „negativer Erscheinungen“ auf – durch „strenge Arbeits-, Parteiund Staatsdisziplin“. Verbal klang aus dem Osten nichts Neues. Doch zu diesem Zeitpunkt waren solche parteifrommen Sprüche, wie er seinem Bonner Besucher Helmut Kohl am 15. Juli 1990 gestand, schon lange nur noch Camouflage seines neuen Denkens. Diese Schlüsselepisode am Rande der Wiedervereinigungsgespräche im Kaukasus, bei einer Rundfahrt durch Gorbatschows Heimatstadt Stawropol, hat Horst Teltschik, damals außenpolitischer Kanzlerberater, aufgezeichnet: „Gorbatschow erzählt von einem Spaziergang mit Schewardnadse, den er in Stawropol kennen gelernt habe. Bei diesem Spaziergang 1979 seien sie sich einig gewesen, dass sie das Land retten müssten, weil alles verfault sei. Besonders deutlich sei ihnen das nach dem militärischen Einmarsch in Afghanistan geworden. Aus dieser Zeit des Leidens sei die Perestroika geboren worden.“ Im Jahr 1979 waren beide Parteifürsten – Gorbatschow als ZK-Sekretär für Landwirtschaft und vormaliger Gebietsparteichef in Stawropol, Eduard Schewardnadse im benachbarten Georgien – und damit „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Gorbatschow zu DDR-Staatschef Erich Honecker in Ost-Berlin am 7. Oktober 1989 130 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 AP BILDERBERG che Pfründe, und zu der gehören der Nomenklatur liebste Kurorte im Vorkaukasus mit ihren heilenden Quellen. 1978 wird er nach Moskau beordert, als ZK-Sekretär für Landwirtschaft. Die verlotterte sowjetische Agrarproduktion bringt zwar auch der neue Mann nicht nach vorn. Aber trotz katastrophaler Missernten in den sieben Jahren seiner Amtsführung übersteht er unbeschadet einen Job, der seit Stalin als beliebter Beerdigungsort für hochfliegende Karrierepläne galt. Er wird von Andropow als Gegengewicht zum Breschnew-Clan ins Politbüro gehievt und auch sonst von seinem Gönner immer deutlicher ins Vertrauen gezogen – vor allem, nachdem dieser selbst zur Nummer eins aufgestiegen ist. In seiner Autobiografie gibt Gorbatschow an, von Verfallendes Nickel-Kombinat in Sibirien: „Alles verfault“ Andropow bereits kurz nach dessen Amtsprivilegierte Führungskader, deren ge- toren-Ausleihstation. Doch er will heraus antritt auf die Kronprinzenrolle vorbereischmeidige Anpassung an die Parteilinie aus der provinziellen Enge und nach oben. tet worden zu sein: „Weißt du, Michail“, weithin bekannt war, nicht zuletzt auch Er bewirbt sich erfolgreich an der renom- habe der gestrenge Generalsekretär schon Ende 1982 zu ihm gesagt, „du musst jetzt der ZK-Personalverwaltung. Schon Mitte mierten Lomonossow-Universität. 1953, in seinem vierten Studienjahr, er- so handeln, als ob du eines Tages alle Verder siebziger Jahre hörte Professor Georgij Arbatow vom damaligen KGB-Chef lebt er zunächst die schleichende Pogrom- antwortung übernehmen müsstest.“ Ein 13 Monate lang waltender GeneralJurij Andropow erstmals rühmend den Na- stimmung wegen eines von der Geheimmen Gorbatschow (siehe Seite 136) als aus- polizei frei erfundenen Komplotts jüdi- sekretär Tschernenko war nach Andropows sichtsreichen Kandidaten für eine Mos- scher Ärzte gegen Stalin. Hitzig verteidigt Ableben der letzte Versuch der sowjetikauer Karriere: ein Mann von unten, aus er seinen Freund Wladimir Liberman gegen schen Nomenklatura, mit den klassischen den Niederungen des Landes und der einen Denunzianten, ein, so Gorbatschow, Methoden des Poststalinismus – gewalt„Vieh ohne Rückgrat“. Diese Szene be- tätigem Festhalten an der alten Ordnung – Partei. 1931, während der Stalinschen Zwangs- stätigt eindrucksvoll die Gesamteinschät- die Fassade der östlichen Supermacht von kollektivierung der Landwirtschaft, wurde zung seines tschechischen Mitstudenten innen notdürftig abzustützen. Michail GorMichail Sergejewitsch im Dorf Priwolnoje Zdenek Mlyná≤, der 1977 nach Wien emi- batschow hatte bei diesem Flick- und bei Stawropol geboren. Sein Großvater grieren musste: Gorbatschow sei „einfach Blendwerk ein halbes Leben lang mitgemütterlicherseits, Pantelej Gopkalo, leite- keine Persönlichkeit mit Autorität“, er sei tan –, wie viele seiner Generation anfangs te den Kolchos „Roter Oktober“ im Nach- vielmehr „offen, neugierig, hat die Fähig- mit Enthusiasmus, mit wachsender Verantbarort, las Marx, Lenin, Stalin, aber keit, zuzuhören, zu lernen, sich anzupas- wortung und Erfahrung, aber auch mit Großmutter Wassilissa achtete darauf, dass sen“ – und alles zusammen bilde „die wachsenden Zweifeln. Zugleich hatte er sich – und hat sich die Lampe neben der Ikone nicht verlosch. Wurzel seines Selbstvertrauens“. Nach Studienabschluss erhält er in bis heute – eine Art diffuser Dankbarkeit Der Knabe Mischa erlebte „zwei friedlich nebeneinander existierende Welten“, wie Stawropol einen Posten beim kommunisti- gegenüber dem System bewahrt, das ihn, den Knaben aus kleinen Verer sich später als Anwalt des hältnissen, aus dem depripostsowjetischen Pluralismierenden Landleben hermus erinnerte. Und erhielt ausgeführt, zum Studium vom Opa eine elementare geschickt, auf verantworpraktische Weisheit mit auf tungsvolle Posten gestellt den Lebensweg: „Das Wichhat. So blieb Gorbatschows tigste für den Menschen ist Kritik systemimmanent. bequemes Schuhwerk, das Mit der viel gerühmten die Zehen nicht quetscht.“ Auslandserfahrung des 1985 Gopkalo wird 1937 wegen gewählten Generalsekretärs angedichteter „rechtstrotzwar es nicht weit her: Ein kistischer“ Umtriebe verStaatsbesuch in England, haftet. Andrej Gorbatschow, Stippvisiten in Belgien, den anderen Großvater, hatFrankreich, Italien, Kanada ten NKWD-Leute bereits und Portugal, eine frühe 1934 eingesperrt – als anDeutschlandreise 1975 auf geblichen „Saboteur“ wähBeisetzung Andropows, Nachfolger Tschernenko (M.): „Beste Wahl“ Einladung der DKP – darin rend der schweren Hungersnot, bei der mehr als ein Drittel der Be- schen Jugendverband Komsomol, wird Agi- erschöpfte sich seine Bekanntschaft mit dem völkerung von Priwolnoje starb, darunter tationssekretär, später Ortsleiter, 1961 Ge- angeblich siechenden Kapitalismus. bietsjugendführer. Sieben Jahre später Aber Gorbatschow hatte das Tauwetter nicht wenige Gorbatschow-Verwandte. Als im Krieg die Deutschen kommen, ist steigt er zum Personalchef der Gebiets- nach Stalins Tod in lebhafter Erinnerung, Michail Gorbatschow elf Jahre alt. Mona- parteileitung auf, 1970 wird er deren Chef. an dessen Einschätzung er bis heute festNun endlich kann Gorbatschow Verbin- hält: „Chruschtschow gab der Gesellschaft telang herrschen die fremden Eindringlinge in Priwolnoje. Später wird Michail Ernte- dungen knüpfen, Beziehungen pflegen, sich einen Schluck Freiheit, aber danach drehhelfer und Hilfsarbeiter der örtlichen Trak- erkenntlich zeigen – er hat eine ansehnli- te er den Hahn selbst wieder zu.“ Er wolld e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 131 LASKI / SIPA PRESS „Prawda“-Leser in Moskau (1990) Freiheit als Kettenreaktion V. SICHOV / SIPA PRESS te es im Kreml anders machen; die von ihm gewährten Freiheiten sollten nicht sogleich zurückgenommen, sie sollten zur Triebkraft werden für eine Kettenreaktion selbsttätiger, nicht aufhaltbarer Veränderungen. Dieser Vorsatz entsprang Gorbatschows Neigung zum demokratischen Interessenausgleich, zum Kompromiss. Schon als Student hatte er in Diskussionen stets empfohlen, Probleme „dialektisch anzugehen“. Er wollte Knoten aufdröseln, nicht abhacken; zum Diktator war er ungeeignet. Zum anderen ahnte er wohl, dass ein Modernisierungsschub für die abgeschlagene Sowjetunion an der Schwelle von Globalisierung und dritter industrieller Revolution abermals einen neuen Menschen brauchen würde: Kader mit Initiative, Entscheidungsspielräumen, Mut zu Risiko und Verantwortung – eine am Ende der Stagnationszeit von Breschnew bis Tschernenko fast ausgestorbene Spezies. Er proklamierte, in der Geschichte dürfe es keine „weißen Flecken“ geben. Zusammen mit seinem engsten Vertrauten Alexander Jakowlew, dem ideologischen Hirn und Blockadebrecher der Perestroika, riss er Denkverbote nieder: Jahrelang zurückgehaltene Bücher und Filme gelangten in die Öffentlichkeit, es gab die ersten Einreisevisa für ins Ausland verbannte Dissidenten. Und historische Alternativen wie die liberale Neue Ökonomische Politik (NEP) der zwanziger Jahre wurden freigelegt, deren auf Stalins Befehl Reformer Jakowlew Gorbatschows ideologisches Hirn ermordeter Propagandist Nikolai Bucharin rehabilitiert. Doch das Aufbrechen von Tabus, die jahrzehntelang unangefochten gegolten hatten, war nicht das eigentliche Ziel der Gorbatschowschen Offenheitskampagne: Die neue Transparenz (Glasnost) sollte dem Reformer an der KPdSU-Spitze vor allem das Instrument sein, abgebrochene Entwicklungswege erneut begehbar zu machen – wobei ihm ein großer Sprung nach vorn, ein rasches Aufschließen zur industriellen Potenz und sozialen Wohlfahrt der USA und Westeuropas schlicht unrealistisch erschien. Und so folgte der intellektuellen NEPDiskussion sogleich die revolutionäre Entscheidung, individuelle Wirtschaftstätigkeit wieder zu erlauben: Die ersten Kooperativen bildeten sich. In Handel, Handwerk, Ausbildung und im Dienstleistungsbereich entstanden schmale nichtstaatliche Sektoren, Produktionsmittel kamen in private Hände, die bis dahin illegale Schattenwirtschaft wagte sich Schritt für Schritt ans Tageslicht. Russlands Oligarchen, die den Reichtum des Landes unter sich aufteilten und binnen weniger Jahre Dollarmilliarden zusammenrafften, erlebten ihre Gründerzeit; sie müssten dafür noch heute Gorbatschow dankbar sein. Kaum eine andere Neuerung während der Ära Gorbatschow entwickelte vergleichbare Sprengkraft, mobilisierte stärker den Widerstand reformfeindlicher Kräfte in der Sowjetunion. Sie begriffen rasch, dass PORTRÄT Alexander Solschenizyn Der Mahner In Ostpreußen fand die sowjetische Feldpost Anfang 1945 private Briefe des Rotarmisten Alexander Solschenizyn mit Bemerkungen über Stalin, die den Autor für acht Jahre ins Straflager brachten. Nach Stalins Tod 1953 verbannt, verfasste er seinen erschütternden Lager-Bericht: „Ein Tag im Leben des AFP / DPA Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion Solschenizyn (1994) 132 Iwan Denissowitsch“. Chruschtschow las Teile des Manuskripts und ließ es veröffentlichen, während unter Breschnew seit 1966 in der UdSSR keine Texte Solschenizyns mehr gedruckt wurden. Der Autor protestierte gegen die Zensur, flog aus dem Schriftstellerverband und durfte 1970 den Nobelpreis für Literatur nicht selbst entgegennehmen. Also schleuste er seine epochale Abrechnung „Archipel Gulag“ ins Ausland. Das detaillierte Protokoll der Sklaverei, ein Welt-Bestseller, riss den Westen aus den letzten Illusionen und erledigte den Sowjetkommunismus moralisch: Aus den KP des Westens traten massenhaft die Genossen aus, Rudi Dutschke veröffentlichte ein sowjetkritisches Buch „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke“. Nach Verhaftung und Ausbürgerung wurde Solschenizyn mit Bonner Re- d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 gierungshilfe aus der UdSSR abgeschoben, fand bei Heinrich Böll Unterschlupf und versteckte sich seit 1976 auf einer Farm in Vermont. Dort arbeitete er an dem historischen Zyklus „Das rote Rad“, einem Werk von schwächerer literarischer Qualität. Erst 1990 gab Gorbatschow dem Verbannten sein Bürgerrecht zurück, der Generalstaatsanwalt entschuldigte sich; vier Jahre später kehrte Solschenizyn, nun ein christlicher Fundamentalist, heim. Der empfindsame Patriarch, der politischen Ehrgeiz zeigte, bereiste Russland, redete vor dem Parlament und bestritt ein eigenes TV-Magazin mit Klagen über die Unmoral, „Russlands Absturz“ (Titel seines letzten Buches) und Verwestlichung, fand aber wenig Resonanz. Präsident Jelzin verlieh ihm zum 80. Geburtstag den Orden des heiligen Apostels Andreas, den er vom vermeintlichen Urheber des Niedergangs aber nicht annahm. Fritjof Meyer verbraucher mitunter wie ein komisches Panoptikum. Statt sich von den Gestrigen deutlich zu distanzieren, setzte Gorbatschow bis zu seinem politischen Ende auf die Reformierbarkeit der KPdSU: Zwar zwang er die verknöcherte Hierarchie, halbdemokratische Wahlen und Alternativ-Kandidaten zu akzeptieren, aber als eine Demokratische Plattform jüngerer Genossen seine klare Unterstützung benötigt hätte, lavierte er zwischen den Fronten und schlug sich schließlich zum orthodoxen Flügel. Zwar holte er den Mahner Andrej Sacharow aus der Verbannung in Gorki zurück, doch auf dem ersten fast frei gewählten Seine Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“, die ersten sowjetischamerikanischen Gipfeltreffen nach mehr als sechsjähriger Pause in Genf und Reykjavik, die bilateralen Dialoge mit Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, das vorsichtige Abtasten der Europäischen Gemeinschaft – all das verlief schon zu Beginn nach der Grundformel der ein Jahrzehnt zuvor erfolgreich erprobten deutschen Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“. Gorbatschow wusste, dass sein Land unbedingt nicht nur aus dem Wettrüsten, sondern aus der Ost-West-Konfrontation überhaupt aussteigen musste, wenn die FOTOS: AFP / DPA der neue Führer sich anschickte, die ehemalige Kommandokette der Bürokratie an einer entscheidenden Stelle zu unterbrechen – und damit die eigentliche Machtfrage stellte: Produkt- und Preisentscheidungen waren künftig am Markt zu treffen statt per Diktat zentraler Planbehörden. Und Gorbatschow selbst hatte seinen Widersachern gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein massenwirksames Gegenargument frei Haus geliefert. Seine Kampagne „zur Überwindung von Trunksucht und Alkoholismus“, untermauert durch entsprechende Partei- und Staatsbeschlüsse, war kläglich gescheitert: Die Staatseinnahmen sanken, der Wodka wurde rar, die Partner Reagan, Gorbatschow in Reykjavik (1986); Zerstörung sowjetischer Atomraketen (1994): Ein globaler New Deal Preise stiegen, das Volk murrte – und trotz alledem wurde weitergezecht. Bis heute begreift er nicht das Ausmaß dieses Fiaskos: Der Aufbruch in die Schimäre allgemeiner Nüchternheit kostete ihn das Vertrauen des Volkes. Seine Gegner hatten es fortan einfacher, seine immer noch mit Charme und Charisma vorangeboxten Wirtschaftsreformen zu torpedieren: Wartet nur ab, sagten sie den für Andeutungen empfänglichen Sowjetmenschen, es wird wieder so werden wie mit dem „trockenen Gesetz“. Ebenso wie die instinktiven Ängste der Bevölkerung vor Neuerungen, die Teuerung und Verelendung im Gefolge haben mochten, unterschätzte Gorbatschow den Autoritätsverfall der Partei. Sie war im letzten Stadium angekommen, welches die Geschichte für selbst ernannte Eliten bereithält: Sie war lächerlich geworden. Ihr Leitungspersonal wirkte auf Iwan Normal- Kongress der Volksdeputierten 1989 trat er der wütenden Funktionärsmeute, die über den aufrechten Kernphysiker herfiel wie über einen Vaterlandsverräter, mit keinem Wort entgegen. Gorbatschow versuchte das Kunststück, den Kuchen gleichzeitig zu essen und zu behalten. Und eine Zeit lang schien es, als könne er das schaffen. Heute weiß er, welchen Illusionen er nachhing: Sein „größter Fehler“ sei gewesen, „die Partei für reformierbar zu halten“. Jedenfalls hat er dieser Fiktion gegen Ende der achtziger Jahre in immer größerem Maße seine Glaubwürdigkeit an der sowjetischen Basis geopfert. Je mehr er im Inneren des Riesenreichs auf Widerstand stieß, umso mehr wuchs sein Renommee im Westen. Er vollzog den Ausstieg aus Wettrüsten und Kaltem Krieg, setzte den Truppenabzug aus den Warschauer-Pakt-Staaten durch und die Freigabe der DDR. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Sowjetwirtschaft nicht ihre letzte Genesungschance versäumen sollte. Er kannte aber auch die Gefahr westlicher Hybris. Trotz aller Hoffnungen auf eine neue Weltordnung konnte vor allem in den USA leicht das Gefühl um sich greifen, aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangen zu sein und deshalb die Bedingungen für den Frieden diktieren zu dürfen. Analog dazu keimte in der Sowjetunion die reaktionäre Trotzhaltung, die geradewegs in eine neue Selbstisolation der größten Territorialmacht des Planeten münden könnte. Deshalb schlug Gorbatschow Ende 1988 in einer Aufsehen erregenden Rede vor der Uno-Vollversammlung in New York den neuen Sicherheitspartnern einen dritten Weg vor: Alle Großmächte sollten zu absolutem Gewaltverzicht verpflichtet, die internationalen Beziehungen „entideologisiert“, „humanisiert“ sowie an „allgemein menschlichen Werten und Ideen“ 133 unbekannt. Gorbatschow schwört, von den Schießbefehlen erst nachträglich erfahren zu haben: In beiden Fällen sei es zu „Handlungen“ gekommen, „die vollständig der Linie der Führung widersprachen“. Doch das war ja das Dilemma: Diese „Linie der Führung“ war schon seit langem nicht mehr zu erkennen. Der „Baumeister Europas“ (Hans-Dietrich Genscher über Gorbatschow) genoss höchste Anerken- BLANCHE / GAMMA / STUDIO X ausgerichtet werden. Alle sollten nach vorn, niemand mehr zurückblicken: Damit würden sich, so hoffte der große Anreger aus Moskau, die Unterschiede zwischen Erster und Zweiter Welt abschleifen – und es der Sowjetunion erspart bleiben, in die Dritte abzusinken. Es war ein schöner Traum, er scheint nun ausgeträumt. Die Botschaft wurde vernommen, die Aufforderung zu einem globalen New Deal Unabhängigkeitsdemonstration in Baku (1988): Eine Welle des Aufbegehrens allenthalben verstanden: Die „Washington Post“ lobte überschwänglich „Offenheit, Ehrlichkeit und Mut“ des Redners, die „New York Times“ pries den Vortrag als ebenbürtig „der Verkündung der AtlantikCharta durch Franklin Roosevelt und Winston Churchill im Jahre 1941“. Man war gerührt, nichts weiter. Dann musste Gorbatschow hastig abreisen: In Armenien hatte ein schreckliches Erdbeben getobt. Die erzwungene Rückkehr in sein niedergehendes Reich hatte etwas Symbolisches: Fortan waren es meist politische Katastrophen, die Michail Gorbatschow immer häufiger zum Abstieg aus den Wolken der Weltbeglückung zwangen. Die nichtrussischen Sowjetrepubliken fügten seinem neuen Denken neues, souveräneres Handeln hinzu. Politisch-ethnische Konflikte flammten auf: Vom georgischen Tiflis (April 1989) über Baku in Aserbaidschan (Januar 1990) bis ins litauische Vilnius (Januar 1991) zog sich eine Welle des Aufbegehrens. Und die Partei, deren führende Rolle längst aus der Verfassung gestrichen war, kannte keine anderen Mittel, sie zu brechen, als die alten: Gewalt. Für den Militäreinsatz in Baku gab es einen Politbüro-Beschluss. Wer für das Morden in Tiflis und Vilnius die entscheidenden Kommandos erteilte, ist bis heute 134 d e r nung in der Welt und erhielt im Oktober 1990 auch den Friedensnobelpreis. Doch daheim saß er zwischen halbfertigen, mitunter wieder einstürzenden Neubauten – und zugleich zerfiel unaufhaltsam die alte Völker-Zwingburg Sowjetunion, für deren Erhalt sich noch im März 1991 über 113 Millionen Menschen, 76,4 Prozent der Wähler, ausgesprochen hatten. Von Gorbatschow enttäuscht, verbündeten sich die demokratischen Aktivisten der überregionalen Parlamentarier-Gruppe mit den Nationalisten in den Republiken – gegen den lästigen Vormund und Übervater im Kreml, der die Oberaufsicht über die Union, freilich eine neue, behalten wollte. Doch nicht über diese neuen Gegner stürzte der sowjetische Präsident – seine alten Freunde und falsch gewählten Verbündeten kamen ihnen zuvor: Am 18. August 1991 setzten sie Michail Gorbatschow in seinem Krim-Urlaubsort Foros fest. Mit von der Putsch-Partie: sein Stellvertreter und der Verteidigungsminister, der KGB-Chef und der Ministerpräsident. Aber die Verschwörung war, trotz der vielen Fachleute, nicht professionell inszeniert, sondern luftige Operette, die schon nach drei Tagen wieder abgesetzt werden konnte. Gorbatschow kam zurück aus seiner, wie er es seitdem nennt, „Gefangenschaft“. Doch es war keine Heimkehr s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion ESTLAND LETTLAND LITAUEN Kaliningrad BELORUSSLAND UKRAINE Moskau R U S S L A N D MOLDAWIEN GEORGIEN ARMENIEN USBEKISTAN TURKMENISTAN 1000 km Russland KIRGISIEN ehemalige Sowjetrepubliken TADSCHIKISTAN im Triumph, sondern die Repatriierung eines Geschlagenen, an dem nun auch kleinere Präsidentenkollegen aus den Republiken ihr Souveränitäts-Mütchen kühlen konnten. Keine vier Monate später, am 8. Dezember 1991, verabredeten Russland, die Ukraine und Belorussland auf Betreiben Boris Jelzins einen separaten Staatenbund und ließen dem Kreml wie der Welt kühl mitteilen: „Die UdSSR als Völkerrechtssubjekt und geopolitische Realität hört auf zu bestehen.“ Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1991 trat Gorbatschow von einem Posten zurück, den es nur noch auf dem Papier gab. Wenn sich überhaupt ein Mensch messbare Meriten erworben hat bei der Beendigung des Kalten Krieges und der atomaren Teil-Entwaffnung der Menschheit, bei der Einebnung von Grenzen und der Überwindung von Denkverboten, so ist dies Michail Gorbatschow. Nur: Dieser Prozess, als er an Tempo gewann, zerstörte das Imperium, welches Gorbatschow vor allem hatte retten wollen. * Nach dem Putschversuch im August 1991. Der Zerfall der Sowjetunion Seine Glasnost zerlöcherte die Autorität im Lande, zuletzt auch seine eigene. Seine Perestroika zerschlug die bis dahin recht und schlecht funktionierende Sowjetwirtschaft, ohne der Bevölkerung im freien Fall ihres Lebensstandards wirkliche Alternativen zu bieten. Und schließlich: Seine Öffnung nach Westen brachte jene Jungradikalen der letzten Komsomol-Generation an die Macht, deren neoliberale Rezepte jämmerlich versagten und bei vielen eine endgültige Abkehr vom westlichen Demokratie-Modell bewirkten. Entsprechend wenig galt der Weltveränderer lange Zeit im eigenen Lande. Als er sich vor drei Jahren um die russische Präsidentschaft bewarb, mochten ihm gerade 0,5 Prozent der Wähler (386 000) ihre Stimme geben: „Träumer“, so bekannte sich die renommierte Moskauer Schriftstellerin Tatjana Tolstaja zu ihrem GorbatschowKreuz, „die jene helle, aber kurze Periode nicht vergessen haben, als eine Kette nach der anderen zerbrach, als jeder Tag mehr Freiheit und Hoffnung brachte, als Leben wieder einen Sinn bekam.“ Doch die Zahl jener, die sich erinnern wollen, wächst: Als die Moskauer Radiostation Echo Moskwy in diesem Sommer aus einer Zehner-Liste – Lenin/Stalin inklusive – die russische Persönlichkeit des Jahrhunderts auszuwählen bat, stimmten 40 Prozent der Hörer für Gorbatschow. Der bedankte sich für die Ehrung auf lateinisch mit der wichtigsten Lehre, die ihm sein Leben erteilt habe: Errare humanum est. SHONE / GAMMA / STUDIO X ASERBAIDSCHAN KASACHSTAN Gorbatschow, Nachfolger Jelzin*: Ein Imperium zerstört LITERATUR Jurij N. Afanassjew (Hrsg.): „Es gibt keine Alternative zu Perestroika: Glasnost, Demokratie, Sozialismus“. Greno Verlag, Nördlingen 1988; 760 Seiten – Einschätzungen sowjetischer Reformer aus der Frühphase von Michail Gorbatschows neuer Politik. Rafael Biermann: „Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang“. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1998 (2. Aufl.); 800 Seiten – Ausführlichste Studie zur sowjetischen Deutschlandpolitik seit 1985. Michail Gorbatschow: „Erinnerungen“. Siedler Verlag, Berlin 1995; 1220 Seiten – Autobiografie des letzten Generalsekretärs der KPdSU. Eric Hobsbawm: „Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Hanser Verlag, München 1995; 784 Seiten – Gorbatschow und das Ende des Kommunismus in der Sowjetunion. Gail Sheehy: „Gorbatschow. Der Mann, der die Welt d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Jörg R. Mettke, 56, ist seit 1987 Korrespondent des SPIEGEL in Moskau. verändert hat“. List Verlag, München 1991; 440 Seiten – Eine amerikanische Erfolgsautorin über den letzten Präsidenten der UdSSR. Horst Teltschik: „329 Tage“. Siedler Verlag, Berlin 1991; 384 Seiten – Der außenpolitische Sprecher Helmut Kohls beschreibt die Verhandlungen mit den Sowjets. Anatolij Tschernajew: „Die letzten Jahre einer Weltmacht“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1993; 480 Seiten – Insider-Bericht des außenpolitischen Gorbatschow-Beraters. 135 Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion STANDPUNKT „Wir lernten, frei zu atmen“ D Von Georgij Arbatow zugehen, manchmal sogar auf eine Menge zumarschieren. Er verkörperte einen neuen Anfang und einen neuen Stil, er war offener und menschlicher als seine Vorgänger. Er zeigte, dass er keine Angst vor dem Volk hatte, sondern sich mit ihm direkt unterhalten wollte. Seine Popularität wuchs, besonders unter den Intellektuellen: eine wirkliche Popularität, nicht durch aufdringliche Propaganda von oben gepflanzt. Es war eine unvergessliche Zeit. Wir alle lernten, frei zu atmen. Die Angst, mit der jeder von uns seit seiner Kindheit lebte, verflüchtigte sich. Zum ersten Mal konnten viele von uns frei sprechen und auf ihr Land stolz sein; zum ersten Mal hatten sie Vertrauen in die Führung und wurden sich ihrer Verantwortung bewusst. Gorbatschow hat Großes geleistet, er ist einer der bedeutendsten Politiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden. Zu den Aufgaben, die er nicht mehr bewältigen konnte, für die seine Zeit oder sein Augenmaß nicht mehr gereicht haben, gehörte leider das Heranziehen eines würdigen Nachfolgers, welcher den beschrittenen Weg hätte weitergehen können. Das Gegenteil trat ein: Er fand in Boris Jelzin seine Nemesis; einen Mann, der entschlossen war, den politischen Kurs abzuwandeln, ja zurückzurudern. Als Jelzin auf einer Plenartagung des ZK der KPdSU im Oktober 1987 seinen Rücktritt anbot, hielt Gorbatschow ihn. Er hätte ihn mit Dank ziehen lassen sollen. In zwei oder drei Monaten wäre der Name Jelzin in Vergessenheit geraten. P. KASSIN Spiegel des 20. Jahrhunderts en Namen Gorbatschow hörte er, bereits schwer krank, Ende 1983 ich zum ersten Mal 1974 oder durch einen Brief an das Politbüro 1975 von Jurij Andropow, dem Nachdruck zu verschaffen, über den er damaligen KGB-Chef. Ich hatte in ei- auf der ZK-Plenartagung zu diskutieren nem Gespräch mit Andropow, mit dem bat: Gorbatschow sei für den verantmich seit Ende der sechziger Jahre wortungsvollsten Posten prädestiniert. Doch das Politbüro beherrschten gute, ja freundschaftliche Beziehungen verbanden, ärgerlich gefragt, weshalb greise Funktionäre, die Angst vor jedie Partei nicht bessere, zukunftsorien- dem Wandel hatten. Sie verheimlichtiertere Menschen in leitende Positio- ten der Plenartagung und erst recht der nen bringe. Der sonst sehr ruhige und Partei den Andropow-Brief. Und sie reservierte Andropow brauste förmlich sorgten dafür, dass nach dem Ableauf: „Weißt du denn nicht, was für kom- ben Andropows einer der Ihren die petente junge Kader in der Provinz heranwachsen? Hast du zum Beispiel den Namen Gorbatschow schon einmal gehört?“ Der Name sagte mir nichts. Das nächste Mal hörte ich ihn ein paar Jahre später, wieder von Andropow. Mitten in einem Gespräch sagte er ganz unvermittelt: „Die Schurken wollen um jeden Preis verhindern, dass Gorbatschow nach Moskau kommt.“ Er meinte einige seiner Kollegen im Politbüro, die Gorbatschow, damals Stawropoler Gebietschef, nicht auf dem Posten des ZK-Sekretärs für Arbatow Landwirtschaft sehen wollten. Im September 1978 verbrachte Jurij Nachfolge antreten konnte: der damals Andropow wie häufig seinen Urlaub 72-jährige, ebenfalls gesundheitlich anin der Region Stawropol. Und auch geschlagene Konstantin Tschernenko. KPdSU-Chef Leonid Breschnew mach- Dessen Herrschaft dauerte gerade ein te dort Station. Bei dieser Gelegen- Jahr – ein Jahr, das an Langeweile und heit überzeugte Andropow offenbar Farblosigkeit in der nachstalinschen Breschnew davon, dass er in Gor- Periode jedes andere übertraf. Man batschow einen treuen Anhänger ge- musste sich für das eigene Land schämen. Mehr noch: Ich empfand es als winnen könne. Drei Monate später lernte ich Gorba- großes Unglück. Allerdings gewann damals in der Partschow in Moskau kennen. Er machte einen netten, gewinnenden Eindruck, tei, mit ihren fast 20 Millionen Mitglieaber ich weiß nicht mehr, worüber wir dern, das Grundverständnis immer stärsprachen: Von Landwirtschaft verstand ker an Raum, dass es so nicht weitergeich nichts, an Außenpolitik zeigte er hen konnte, sondern radikale Reformen fast in allen Bereichen Not taten. kein Interesse. Wir alle waren damals stark beein1982 wurde Andropow Generalsekretär der KPdSU und setzte ganz of- druckt von dem neuen Mann als Nachfensichtlich auf Gorbatschow als seinen folger Tschernenkos: Gorbatschow Nachfolger. Diesem Wunsch versuchte konnte frei sprechen und auf Menschen Arbatow, 76, war bis 1993 Direktor des Instituts für die Vereinigten Staaten und Kanada bei der Moskauer Akademie der Wissenschaften und außenpolitischer Berater des Zentralkomitees der KPdSU. DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR 136 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene T H E AT E R Unsterbliche Musicals B AP ritische Autoren und Regisseure fürchten, dass eine neue Flut von Musicals dem britischen Theater die Luft abwürgt. Die aufwendigen Produktionen blockieren die großen Aufführungshäuser im Londoner Westend zum Teil für Jahre und verdrängen Schauspiele, mit denen nicht so viel Geld zu verdienen ist. Autor Simon Gray, dessen jüngstes Stück verabredungswidrig nicht im Londoner Gielgud-Theater aufgeführt wurde, weil ein Musical namens „Boyband“ höhere Einnahmen versprach, ist überzeugt, dass ernsthaftes Theater ganz aus dem Westend verschwindet. Nicht nur große BroadwayProduktionen wie Disneys „The Lion King“ oder das TanzMusical über den US-Choreographen Bob Fosse kommen in den nächsten Monaten auf die Londoner Bühnen, sondern auch Theaterversionen alter Filme, die als Musicals Wiederauferstehung feiern, darunter „Die Hexen von Eastwick“ oder „Ein Pyjama für Zwei“. Selbst das subventionierte britische Nationaltheater hat damit begonnen, seine Kasseneinnahmen regelmäßig durch Musicals aufzubessern. Neue Stücke, glaubt Peter Shaffer, Autor des Mozart-Dramas „Amadeus“, haben gegen die Tingeltangel-Konkurrenz kaum noch Chancen: „Die annähernde Unsterblichkeit dieser Musicals ist einfach widerlich.“ Disney-Musical „The Lion King“ Schröder: … das vom Publikum nicht „Nur noch Erinnerung“ Klaus Albrecht Schröder, 43, Leiter des Kunstforums der Bank Austria in Wien, über seine Berufung zum Direktor der Graphischen Sammlung Albertina SPIEGEL: Herr Schröder, Ihr Karrieresprung aus dem privaten Ausstellungsbetrieb an die Spitze eines Weltmuseums befremdet viele Fachleute. Sind Sie der neue Direktorentyp: mehr Marketing, weniger Wissenschaft? Schröder: Ich glaube, meine Publikationen von Donatello bis Schiele genügen jedem Forschungsanspruch. Nur werden von Museumsdirektoren heute auch Management-Fähigkeiten, offensive PR und kaufmännische Effizienz erwartet. SPIEGEL: Beim Kunstforum feiern Sie Publikumserfolge. Was erwartet Sie in der Albertina? Schröder: Zunächst eine Schröder schwere Krise. Weil es 1994 hieß, vorliegende Umbaupläne würden rasch realisiert, ist das Haus seitdem geschlossen. Für viele ist es nur noch eine große Erinnerung. SPIEGEL: Die Kunsthistoriker arbeiten doch weiter, es gibt einen Studiensaal und ein Quartier für Ausstellungen … d e r angenommen wird. Die Besucherzahlen sind zum Teil kaum mehr messbar. SPIEGEL: Was muss geschehen? Schröder: Der begonnene Erweiterungsbau muss rasch vollendet werden, der Altbau braucht die Sanierung und einen neuen Nutzungsplan. Und das Ausstellungsprogramm muss generell auf Albertina-Niveau gebracht werden. SPIEGEL: Über die laufende RaffaelSchau kann man wirklich nicht klagen. Schröder: Da will ich mich nicht einmischen. Bei längerfristiger Planung hätte man aber auch London mit den Raffael-Sammlungen des Königshauses und des British Museum zur Zusammenarbeit gewinnen können. Solche Kooperationen werde ich forcieren, ich will außerdem die Albertina zur Gegenwart öffnen, und ich möchte kulturhistorische Projekte betreiben, die keine reinen Grafikausstellungen zu sein brauchen. SPIEGEL: Wenn Sie am 1. Januar Ihr Amt antreten, finden Sie noch den bisherigen Direktor Konrad Oberhuber vor, der erst Ende 2000 in Pension gehen muss und der noch eigene Ausstellungspläne hat. Wie ist der Konflikt zu lösen? Schröder: Das ist eine Frage an das zuständige Unterrichtsministerium. s p i e g e l M. HETZMANNSEDER / FORMAT MUSEEN 3 2 / 1 9 9 9 POP Rum und Bass N ach dem Erfolg der kubanischen Altstars vom Buena Vista Social Club versucht derzeit fast jede Plattenfirma, einen eigenen Latino-Star am Markt zu platzieren. Nun hat der emsige New Yorker Bassist und Produzent Bill Laswell mit seinem französischen Kompagnon Jean Touitou eine KubaCD herausgebracht, die aus den üblichen Samplern hierzulande völlig unbekannter Bands herausfällt. Das Doppelalbum „Havana Mood“ enthält auf der ersten CD Original-Stücke von Ignacio Piñeiros Septeto Nacional, die Laswell und Touitou auf der zweiten CD als Dub neu gemischt haben. „Rhum & Bass“ nennen die beiden ihren tief wummernden Cocktail, der auch bei exzessivem Genuss keine Kopfschmerzen bereitet. CD „Havana Mood“ Szene Kubrick-Fotos von Montgomery Clift (1949), Betsy von Fürstenberg (1950) FOTOGRAFIE Kubricks Look S tanley Kubrick, der spätere Filmregisseur, war ein exemplarischer Schulversager und schaffte nur mit Mühe den High-School-Abschluss, weil er sich offenbar ausschließlich fürs Fotografieren interessierte – dafür aber mit auffälligem Talent. Schon als 16-Jähriger, 1945, verkaufte der Arztsohn ein Foto an die Illustrierte „Look“ und wurde wenig später ins feste Fotoreporterteam von „Look“ übernommen. 1951 gab er den Job auf, um seinen ersten kurzen Dokumentarfilm zu drehen. Sein fotografisches Frühwerk, das ihm offenbar später nichts mehr bedeutete, ist erst in den letzten Jahren durch deutsche Initiative im ungeordneten „Look“-Archiv in der Library of Congress in Washington ans Licht geholt worden. Bis Ende August ist nun erstmals eine imposante Auswahl in der Kieler Kunsthalle zu sehen, vom September an im Kölner Kunstverein. Der Katalog dazu, „Stanley Kubrick: Still Moving Pictures“, herausgegeben von Rainer Crone und Petrus Graf Schaesberg (Verlag Schnell & Steiner, Regensburg; 232 Seiten; 68 Mark), ist ein aufwendiger, mit Liebe gemachter Bildband – Kubricks visuelle Energie ist darin durchaus schon zu erkennen. Kino in Kürze und nach wachsen auf beiden Seiten Respekt und Zuneigung; für den vierjährigen Sohn der Kalmans entwickelt Chaja sogar mütterliche Gefühle. Das macht sie verwundbar. Ein schwieriges Sujet hat sich der niederländische Schauspieler Jeroen Krabbé für sein Regiedebüt ausgesucht, und manchmal dominiert denn auch dokumentarischer Eifer die eher schlicht gestrickte Geschichte. Doch die hervorragenden Darsteller – neben Fraser und Krabbé selbst Isabella Rossellini sowie Marianne Sägebrecht – machen dieses Manko mehr als wett. BUENA VISTA „Die Farbe der Lüge“. All die patenten deutschen TV-Kommis- Szene aus „Kalmans Geheimnis“ „Kalmans Geheimnis“. Antwerpen 1972: Die Studentin Chaja (Laura Fraser) heuert als Kindermädchen bei den Kalmans an – einer Familie strenggläubiger chassidischer Juden. Anfangs lässt die selbstbewusste junge Frau in der durch strikte religiöse Regeln geprägten Umgebung keinen Fettnapf aus. Aber nach 140 d e r sarinnen sollten sich vielleicht mal einen Abend freinehmen und sich ansehen, wie ihre Filmkollegin Valeria Bruni Tedeschi in einem bretonischen Dorf Dienst tut: mit einer Schläfrigkeit, mit einem dickköpfigen Phlegma, das sie von Szene zu Szene unwiderstehlicher wirken läßt. Die rasche, zupackende Frau in diesem jüngsten Krimi von Claude Chabrol (angeblich seinem 50. Film) ist wieder einmal Sandrine Bonnaire, hier als Krankenpflegerin und Ehefrau eines unter zweifachen Mordverdacht geratenden Malers. Der Film genießt die Finten und Fallen seines Plots mit bewährter Eleganz, doch das Besondere ist diesmal: Die geheimnisvollste Figur ist die Kommissarin. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Kultur din nach Berlin ziehen und dort auf ebenso kommunikationsbedürftige wie -unfähige Menschen treffen, auf Strukturen, die geselliges Leben schon im Ansatz verhindern. Für Hinterhäuser etwa gibt es im Berlin kurz nach der Wende keine Klingeln: Besucher gelangen so gar nicht erst ins Haus. Abgeschreckt durch solcherlei Schikane, beschließt die Heldin, nach Frankreich zu ziehen – ein Entschluss übrigens, den Vanderbeke selbst vor einigen Jahren traf. Die Beschreibung der französischen Verhältnisse gerät Vanderbeke allerdings häufig zum Klischee. Offensichtlich ist Frankreich ihr Seelenort, deswegen geht ihr hier die Distanz und damit auch ihr wohltuender Spott abhanden. Stattdessen schwärmt sie von freundlichen Nachbarn, Lehrern, Eltern, Kindern; in Frankreich ist alles gut – solange keine Besucher aus Deutschland kommen! Hier der Abgrund, dort das Paradies – ganz glaubwürdig ist diese Konstruktion nicht, und so beginnt das Buch viel besser, als es endet. L I T E R AT U R Flucht aus Absurdistan E in Satz, typisch Vanderbeke: „Immer wollte der Osten der Westen sein, und dann war er es, und als er es war, wollte er es nun plötzlich doch nicht sein wegen der Mieten und Arbeitslosen, und der Westen mochte den Osten nicht haben wegen der Krankenkassenreform und der Steuern … und also blieb der Osten der Osten und der Westen der Westen.“ Eine Analyse, typisch Vanderbeke: „Wenn etwas so ähnlich ist, wie man es kennt, aber man muss es trotzdem neu lernen, sieht man nicht ein, warum.“ Ein Buchtitel, typisch Vanderbeke: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ nennt die Autorin ihr neues Werk – ein treffender Titel nicht nur für die Erzählung, sondern vor allem für die Autorin selbst. So instinktsicher und klug wie schon in ihrer meisterhaften und hoch gelobten Erzählung „Alberta empfängt einen Liebhaber“ deckt Birgit Vanderbeke, 43, auch diesmal Absurditäten deutscher Seelenzustände auf; diesmal ist das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ihr Thema. Sie lässt ihre Hel- Birgit Vanderbeke: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“. Alexander Fest Verlag, Berlin; 128 Seiten; 29,80 Mark. KUNST Raben beim Schloss D FOTOS: R. MENSING ie drei Herren im Rokoko-Habit ähneln einander zum Verwechseln. Einer zwar, mit Zeichenblock auf den Knien, scheint den Zweiten zu porträtieren, dem Dritten bleibt die Zuschauerrolle. Doch: „Jeder ist der andere oder keiner“, erklärt der italienische Konzeptkünstler Giulio Paolini, der die Figuren vor das münsterländische Barockschloss Nordkirchen postiert hat. Nachdenkliche Betrachter sind gefordert – und mobile. Denn Paolinis Trio spielt bei einer ersten „Skulptur-Biennale im Münsterland“ mit, die ihr Publikum durch Park und Wald sowie auch über Land zu den nahen Adelssitzen Vischering und Westerwinkel lockt. Die vom Düsseldorfer Kulturministerium nebst etlichen Kommunen und Vereinen gestützte Unternehmung verpflanzt das seit 1977 bei „Skulptur-Projekten“ in Münster bewährte Prinzip ortsbezogener Freiluft-Kunst ins Umland; alle zwei Jahre bis 2005 ist ein neuer Schub geplant. Zum Start – aber auf Dauer – haben acht Künstler ihre Zeichen gesetzt, so der Amerikaner Mark Dion mit einer makabren „Wegkreuzung“, an der modellierte Raben auf einem Wagenrad und einem abgestorbenen Baum hocken, und der Schwede Henrik Håkansson mit einer Überwachungsanlage für wilde Kleintiere. Im Schloss Nordkirchen sind bis 27. September auch unverwirklichte Entwürfe ausgestellt. Paolini-Skulpturen „Drei mal drei“, Håkansson-Installation d e r s p i e g e l Am Rande Rechte Dunkelzone Viele Geheimnisse hat die Welt verloren. Vorbei ist die Zeit, in der sich Astronomen auf dem Sterbebett an der Vorfreude wärmen konnten, aus dem Jenseits endlich einmal die Rückseite des Mondes zu sehen. Raumfahrer und Raumsonden haben die Anschauungslücke längst ernüchternd gefüllt: Da hinten, zeigt sich, ist auch nicht mehr los als auf der sattsam angeschwärmten, erdwärts gekehrten Hälfte des Trabanten. Nun aber lenken, wie der Londoner „Independent“ groß herausstellt, australische „Wissenschaftler“ das Augenmerk der Gebildeten auf eine bis heute unangetastete Dunkelzone: Kein lebender Mensch hat noch die rechte Schläfe der mondgesichtig lächelnden Mona Lisa, doch auch so mancher anderen Schönheit aus der Kunstgeschichte erblickt. Wie konnte das passieren? Wohl nur so, antworten die forschenden Antipoden, dass Frauen in instinktiver Taktik dem Betrachter meist ihre linke, nämlich stärker gefühlsgeprägte Gesichtshälfte zuwenden. Die Auswertung von 1500 Gemälden sichert den Befund statistisch ab: 68 Prozent der porträtierten Frauen, aber nur 56 der Männer verhalten sich so; gezählt ist gezählt. Spielverderber könnten die Neuigkeit als saisonbedingtes Windei aus den Tiefen des Sommerlochs (das in Australien aber ein Winterloch wäre) abtun und vielleicht einwenden, dass eher der Maler als das Modell über dessen Pose zu bestimmen pflege. Feinfühlige Menschen indes denken wohl wieder einmal über das ewige Rätsel Weib nach, das, wie es sich auch dreht und wendet, stets eine verborgene Seite wahrt. Da hat die Wissenschaft noch vieles zu ergründen. Sollte sie auch? Am Ende sieht die rechte Wange der Mona Lisa ihrer linken so ähnlich wie die vordere Seite des Mondes der rückwärtigen. Also: weiter lächeln! 3 2 / 1 9 9 9 141 Kultur AU T O R E N „Den tiefsten Schmerz“ Marcel Reich-Ranicki hat seine Memoiren geschrieben. Unter dem schlichten Titel „Mein Leben“ erzählt er eine der ergreifendsten Lebensgeschichten dieses Jahrhunderts. Deutschlands wortmächtigster Literaturkritiker und TV-Entertainer überrascht durch stille Lakonik und das melancholische Fazit, trotz aller Erfolge ein Außenseiter geblieben zu sein. F riedrich Luft, der legendäre Berliner Theaterkritiker, nannte ihn einmal den „Vorleser der Nation“ – einen, der früher als das Publikum und an seiner statt die neuesten Romane liest (und bewertet), dies aber so eindrucksvoll und lautstark tut, als deklamiere ein Schauspieler vor einer großen Zuhörerschar. Vorleser der Nation ist jemand, der, indem er liest (und schreibt), sich reden hört. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, 79, ist mit dieser Porträtskizze gut getroffen. Und bis heute zehren davon die Kritiker des Kritikers, wenn sie, frei nach Eckhard Henscheids Vorlage, Reich-Ranicki sei unter den Buchbewertern bloß „der Lauteste“, immer wieder auf die Phonstärke, auf die – seit 1988 durch das „Literarische Quartett“ im ZDF – auch optisch mächtige Präsenz des Mannes zielen. Als beweise diese Präsenz an sich schon Grobheit und Gedankenschwäche. Wahr ist: Reich-Ranicki hat in den Jahren von 1958 – damals kam er aus Polen in die Bundesrepublik – bis 1992 638 Essays und Rezensionen über 226 Autoren veröffentlicht, vor allem in der „Zeit“ und in der „Frankfurter Allgemeinen“, ein stattliches, nicht gerade kleinlautes Meinungspaket. Wahr ist aber auch: Er veröffentlicht am 16. August „Mein Leben“, seine Autobiografie, an der er sechs Jahre gearbeitet hat*; und dieses Buch ist alles andere als lautstark und vollmundig: Es ergreift durch die tonlose Stille des Entsetzens, durch subtile Andeutungen, polemisches Verschweigen, durch Lakonik und Zärtlichkeit. Der Herr der Bücher, der viel gescholtene Literatur-Wüterich zeigt sich schwach, oft selbstkritisch und beinahe sprachlos, als unterläge er dem eigenen Leben. Nur herzlose Leser werden sich diesem Drama in Prosa entziehen können. Marcel Reich, der 1920 in Wloclawek an der Weichsel geborene Sohn jüdischer Eltern, besuchte in Polen zunächst eine deutschsprachige Volksschule. Dass er bei der Einschulung schon lesen konnte, habe, so schreibt er, „den Neid der Mitschüler erweckt. Von Anfang an fiel ich aus dem Rahmen, ich war ein Außenseiter. Dass es so Kritiker Reich-Ranicki, Ehefrau Teofila: Blitz-Heirat im Warschauer Ghetto * Marcel Reich-Ranicki: „Mein Leben“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 568 Seiten; 49,80 Mark. 142 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 M. KLIMEK Seinen „elfenbeinernen Turm“, in dem vens Quartett Opus 59, Nr. 3, C-Dur geer vor dem immer rüderen Antisemitismus spielt – es wurde im Ghetto vom Streichgeistige Zuflucht fand, bewohnten Schil- orchester besonders oft und „besonders ler, Shakespeare, Heine, Goethe, geradezu gut“, wie Reich-Ranicki schreibt, aufgegierig genoss er auch das Theater, vor allem führt. Wann immer er bei seiner Sendung das von Gustaf Gründgens. Er konnte 1938 diese Takte höre, denke er an die Musiker, gerade noch Abitur machen, wenngleich „die sie im Ghetto gespielt haben“. Nachseine Deutschnote nach unten korrigiert satz des Autors: „Sie wurden alle vergast.“ wurde, weil ein Jude in diesem Fach nicht Im Juli 1942 fuhr die SS vor; im Büro des mehr „sehr gut“ sein durfte. „Judenrates“ musste Reich die Anweisung Am 28. Oktober 1938 – wenige Tage vor protokollieren und übersetzen, die gesamden „Kristallnacht“-Pogromen – wurde te Ghetto-Bevölkerung werde fortan nach Marcel in seinem winzigen Zimmer in Ber- Osten „umgesiedelt“: das Todesurteil. lin-Charlottenburg vor 7 Uhr morgens von „Man muss“, so die „FAZ“ vorvergangene einem Polizisten geweckt. Der drückte ihm Woche in ihrer Einführung zum Teilabein Papier in die Hand – Ausweisung aus druck der Memoiren, „das vor sich sehen: dem Deutschen Reich – und hieß ihn sofort Wie Reich-Ranicki, dessen Leben aus Texmitkommen. Das sichtbare Reisegepäck ten besteht, diesen finalen Text aufschreibt des jungen Juden, der nun mit der Eisen- und übersetzt.“ Man muss das vor sich sebahn nach Warschau zwangsbefördert hen: Es ist unvorstellbar. wurde, bestand aus einer Aktentasche mit In den Viehwaggons, die ihre menschlieinem Reservetaschentuch und einem che Fracht zu den Vergasungsräumen und Balzac-Roman. Sein unsichtbares Gepäck, Krematorien von Treblinka transportierten, so schreibt er, war die deutsche Sprache – verschwanden auch Reichs Eltern. Die jüund die deutsche Literatur. dischen Ghetto-Verwalter wurden noch geAls Hitlers Truppen ein knappes Jahr spä- braucht und vorerst, mit ihren Ehepartnern, ter Polen überfielen und die Hauptstadt be- geschont. In einer Blitz-Zeremonie heirasetzten, lebte die Familie Reich, wieder ver- tete Reich seine Freundin Teofila, genannt einigt, in Warschau. Sie war bald, wie alle Tosia, um auch für sie Zeit zu gewinnen. 400 000 Juden der Stadt, Freiwild für BesatDas Ghetto war schon auf eine Restgrözer wie für polnische Denunzianten. In die- ße von etwa 35 000 geschrumpft, als auch ser Situation kam der 19jährige Marcel der gleichaltrigen Teofila aus der Nachbarschaft näher. Die Liebe seines Lebens begann unmittelbar, bevor die Nazis aus dem jüdischen Viertel jenes „Seuchensperrgebiet“ mit einer drei Meter hohen Mauereinfassung machten, das als „Warschauer Ghetto“ traurige Berühmtheit erlangte. An diesem Punkt setzt der zweiteilige SPIEGEL-Vorabdruck aus dem Erinnerungsbuch ein (Seite 145). Verwaltet wurde diese jüdische Großstadt auf Be- Kanzler Brandt in Warschau (1970): Tröstender Kniefall fehl der Besatzer durch einen „Judenrat“, der für den Schriftwechsel diese beiden im Januar 1943 in Richtung mit deutschen und polnischen Behörden ein „Umschlagplatz“ getrieben wurden. Es geKorrespondenzbüro unterhielt. Für ein be- lang ihnen, trotz der schussbereiten SS-Posscheidenes Entgelt leitete der sprachkundi- ten, gemeinsam aus der Kolonne auszuge Berliner Abiturient dieses Büro. scheren und dem Ghetto zu entfliehen. Das Demütigungen, Hunger, Krankheit ver- Geld, mit dem die Grenzposten bestochen schlimmerten sich fast täglich, stets muss- werden mussten, kam aus der Ghetto-Kasten die Bewohner gewärtig sein, über Tote se, die Mörder hatten es den Todgeweihten hinwegzusteigen. Musiker versuchten, zuvor abgepresst. sich mit Beethovens Violinkonzert oder Die Familie eines arbeitslosen polniMozarts Klarinettenkonzert auf der Stra- schen Setzers am Stadtrand von Warschau ße durchzuschlagen. Sogar ein Ghetto- riskierte alles, um das Leben des jüdischen Streichorchester wurde gegründet. Unter Paars zu retten; bis zur Ankunft der Roten dem Namen „Hart“ hat Reich damals re- Armee im Herbst 1944 versteckten sich die gelmäßig Konzerte rezensiert. beiden im Keller oder auf dem Dachboden. Als Vor- und Abspann für das „Literari- In der Nacht, während sie Zigaretten drehsche Quartett“ werden seit elf Jahren die ten, die der Setzer auf dem Schwarzmarkt ersten Takte des Allegro molto aus Beetho- gegen Nahrungsmittel, vor allem gegen d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 143 SVEN SIMON bleiben würde, konnte ich schwerlich wissen: … Ich passte nie ganz zu meiner Umgebung“. Ein Leitmotiv, das die eigentümliche Schüchternheit des Selbstbewussten begründet. Weil sein Vater als Kaufmann 1929 Bankrott ging, sah die Familie in Polen keine Zukunft mehr. Sie zog nach Berlin, wo ein wohlhabender Onkel als Anwalt lebte. Marcel sprach schnell besser deutsch als polnisch, der Gymnasiast war bald der Klassenbeste in Deutsch. Sehr früh liebte er die Literatur. Und kannte im Grunde nur einen Berufswunsch: Kritiker. ZDF Kultur Reich-Ranicki beim „Literarischen Quartett“ im ZDF mit Sigrid Löffler (l.), Hellmuth Karasek (r.)*: „Vorleser der Nation“ Wodka tauschte, unterhielt Reich seine Gastgeber mit populären Zusammenfassungen von Romanen, Theaterstücken oder Opern, an die er sich erinnern konnte – von „Werthers Leiden“ über „Wilhelm Tell“ bis „Rigoletto“. Nach der Befreiung aus dem Versteck schätzte ein Pole den gerade 24-jährigen Reich auf 50 Jahre. Der bot sich an, in der polnischen Armee am Kampf gegen Hitler teilzunehmen, war aber so unterernährt, dass er der militärischen Postzensur zugeteilt wurde. Im Jahr 1945 trat er der polnischen KP bei. Einige Jahre lang glaubte er den kommunistischen Verheißungen („ein ernster Fehler“), diente dem Auslandsgeheimdienst als „Hauptmann“ und brachte es in London zur Leitung des polnischen Generalkonsulats. Da sein Familienname, nach all dem deutschen „Reichs“-Wahn, dabei sichtlich störte, nannte er sich jetzt Ranicki. Den Doppelnamen Reich-Ranicki führte er erst nach 1958. Mit keinem Wort erwähnt er, dass er 1994 wegen seiner Geheimdiensttätigkeit unter dem Decknamen „Albin“ öffentlich angegriffen wurde; und verdächtigt, den von ihm in London observierten Exil-Polen ernsthaft geschadet zu haben. Seine Freunde wissen, wie sehr ihn diese Debatte damals deprimiert hat – ein paar Worte dazu aus heutiger Sicht läse man gern. In den Hamburger Jahren bei der „Zeit“ wurde die Freundschaft zu dem dichtenden Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens, so schreibt er, „die weitaus längste und wichtigste in meinem Leben“. Sie telefonierten fast täglich miteinander. Warum diese Freundschaft schließlich zerbrach, bleibt wiederum ungesagt: Jens wollte sich nicht von jener Fernsehsendung distanzie144 ren, in der sein Sohn Tilman das Geheimdienst-Kapitel erstmals eröffnet hatte. Die Attacken des Jahres 1994 vertieften, das war das eigentlich Dramatische für Reich, die Grunderfahrung des Kritikers: Ein weiteres Mal wurde er aus einer – tatsächlichen oder erhofften – Gemeinschaft ausgeschlossen, an den Rand gedrängt und bedrängt. Jenes würgende Ghetto-Gefühl, das ihn (wie seine Frau) lebenslänglich zum „Gezeichneten“ gemacht hat – es verfolgt ihn selbst da, wo er äußerlich sehr erfolgreich ist: Erst in der Literaten-„Gruppe 47“ („er blieb irgendwie ein Außenseiter“, meinte deren Chef Hans Werner Richter), dann in den Redaktionen der „Zeit“ („Wir fühlten uns ziemlich einsam, genauer: isoliert“) und sogar noch in der „FAZ“, deren Literaturteil er von 1973 bis 1988 so temperamentvoll wie expansiv leitet („Beinahe alle Redakteure und Sekretärinnen gaben sich nicht die geringste Mühe, vor mir zu verbergen, dass ich unwillkommen sei“). Gleich im ersten Jahr seiner Frankfurter Erfolgs-Ära erlebt Reich-Ranicki eine herbe Enttäuschung. Im September 1973 veröffentlicht Joachim Fest, der als „FAZ“Mitherausgeber Reich-Ranicki nach Frankfurt geholt hat, seine 1200-Seiten-Biografie „Hitler“; und zu einem Empfang in die Berliner Villa des Verlegers Wolf Jobst Siedler sind auch Marcel und Teofila Reich-Ranicki geladen. Im Mittelpunkt der Party steht ein Endsechziger in dunklem Anzug, der wie ein Ehrengast hofiert wird: Hitlers einstiger Rüstungsminister Albert Speer. Weder Siedler noch Fest hatten das Ehepaar Reich darauf vorbereitet. Jovial begrüßt der Adjutant des Massenmörders die beiden davongekommenen * Mit Gast Peter von Matt (2. v. l.), Universität Zürich. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Juden und macht ein wenig Konversation. Dann richtet Speer, wie Reich-Ranicki („Ich habe entsetzt geschwiegen“) sich erinnert, den Blick auf „das feierlich aufgebahrte Buch“ des Abends, das durch Umfang und Ausstattung Monumentalität suggeriert: „Er wäre zufrieden gewesen“, sagt schmunzelnd der Kriegsverbrecher, „ihm hätte es gefallen.“ Aus dieser ersten Irritation zwischen den Weggefährten wurde ein Riss, der bis heute nicht verheilt ist: im sogenannten Historikerstreit von 1986. Fest ließ einen Vortrag des Historikers Ernst Nolte drucken, der, so Reich-Ranicki, den Holocaust als Folge, „wenn nicht“ als „Kopie der bolschewistischen Schreckensherrschaft“ zu „bagatellisieren“ versuchte. Was der Kritiker vor allem übel nahm: Noltes Artikel wurde ihm nicht vorher gezeigt, es gab auch danach keinen substanziellen Gegenartikel im Blatt, Fest hat nicht einmal ihn, Reich-Ranicki, um einen derartigen Artikel gebeten. Bitteres Fazit einer Männerbeziehung: „Der Mensch, dem ich zum größten Dank verpflichtet bin, hat mir auch den tiefsten Schmerz zugefügt.“ Die Walser-Debatte – es ging ums „Wegschauen“ angesichts von Auschwitz-Bildern – im Herbst 1998, von Fests Nachfolger im Herausgeber-Amt zum publizistischen Event verdickt, empfand der Autobiograf als weitere „Provokation im Sinne des Mottos ,Ende der Schonzeit‘“. Kein Zweifel: Auch in den triumphalen „FAZ“-Jahren blieb Reich-Ranickis immerwährende „Sehnsucht nach einer Heimat“ ungestillt. Was hat ihn getröstet, was ihm die Heimat ersetzt? Der Kniefall Willy Brandts 1970 am Warschauer GhettoMahnmal; die Liebe seiner Frau Teofila und seine eigene Liebe – zur Literatur. M AT H IAS S CH RE I BE R , R AI N E R T RAUB Der Tot e un d sei n e Toch t er von marcel reich-ran ick i E s war am 21. Januar 1940, kurz nach dreizehn Uhr. Meine auf die sich unentwegt verbreitenden Gerüchte, die nicht immer Mutter rief mich in die Küche. Sie blickte aus dem Fenster falsch waren. Das ständige Bedürfnis nach Neuigkeiten, wenn schon nicht erund war offensichtlich beunruhigt, doch, wie immer, ganz beherrscht. Auf dem Hof sah ich mehrere Nachbarn, etwa acht freulichen, so doch wenigstens beruhigenden, ähnelte bald einer oder zehn an der Zahl. Sie gestikulierten lebhaft. Etwas musste Sucht. Eben damit hatten die gegenseitigen abendlichen Besuche innerhalb eines Hauses zu tun: Man traf sich bei einem der Nachgeschehen sein, etwas Aufregendes. Noch standen wir erschrocken und unschlüssig am Fenster, da barn, um das Allerneueste zu erfahren. „Was gibt es Neues?“ – läutete schon jemand an unserer Wohnungstür: Der Doktor sol- lautete die stereotype Frage. Ich habe sie mir bis heute nicht abgewöhnt. So war ich auch, meile sofort kommen, denn der Herr nen Vater begleitend, wenige Tage Langnas habe sich aufgehängt; zuvor eine Stunde oder zwei im vielleicht könnte man noch etZimmer der Familie Langnas gewas machen. Aber mein Bruder wesen. Dort hatten sich an diewar gar nicht zu Hause. Bevor sem Abend einige Personen verich auch nur einen Augenblick sammelt – um sich gegenseitig zu überlegen konnte, was ich tun bestätigen, dass die Deutschen sollte, sagte meine Mutter: „Geh ernste Sorgen hätten, dass sie mit sofort dahin, der Langnas hat den Juden im Generalgouvernedoch eine Tochter, ihrer muss ment vielleicht doch nicht so man sich jetzt annehmen.“ Schon grausam umsprängen, dass der auf der Treppe, hörte ich die Triumph der Alliierten sicher sei Stimme meiner Mutter: „Kümund dass das Ganze nicht mehr mere dich um das Mädchen!“ Ich lange dauern könne. habe diesen Satz, diese Ermahnung – „Kümmere dich um das Mädchen!“ – nie vergessen, ich amals also habe ich jene höre sie immer noch. Neunzehnjährige zum erDie Tür zur Wohnung, in der sten Mal gesehen. Da ich die aus Lodz nach Warschau gemich aber an der allgemeinen Unflüchtete Familie Langnas kürzterhaltung beteiligen wollte, lich Unterkunft gefunden hatte, konnte ich ihr nur wenig Aufwar halb offen. In der Diele bemerksamkeit zuwenden. Doch mühten sich zwei oder drei Perdas genügte, um mich von zweisonen um die laut und, wie mir erlei zu überzeugen: Sie konnte schien, feierlich, ja salbungsvoll Deutsch, und die Literatur war ihr klagende Frau Langnas. An der offenbar nicht gleichgültig. Das Wand lehnte, völlig aufgelöst, die weckte mein Interesse, das sich Neunzehnjährige, um derentwilvorerst noch in Grenzen hielt, das len ich gekommen war. Wir kannmachte sie mir, neben anderen ten uns schon, doch nur ganz Umständen, sympathisch. Wie flüchtig: Die Menschen, die zudenn – nur sympathisch? Ja, in sammen in einem Haus wohnten, der Tat. Das hatte einen einfachen lernten sich damals rasch kennen. Grund: Ich war gerade von einer Um zwanzig Uhr war die von den anderen Geschichte stark in Andeutschen Behörden verhängte spruch genommen. Einer erotiPolizeistunde, danach durfte man schen, einer sexuellen? Gewiss. Ranicki, Ehefrau Teofila in Miedzyzdroje, Polen (1950) das Haus nicht mehr verlassen. Aber ich erinnere mich an diese Man wollte unbedingt wissen, Geschichte mit gemischten Gewas sich auf der Welt abspielte: fühlen. Sie ist banal und ein wenig Davon hing ja, das war schon bald allen klar, unser Leben ab. Nur peinlich, und überdies lässt sich schwer darüber reden – vielleicht konnte man der einzigen zugelassenen Tageszeitung in polni- deshalb, weil sie immer wieder passiert ist und schon unzählige scher Sprache, einem erbärmlichen und allgemein verachteten Male erzählt wurde, besonders schön von Österreichern: von Presseorgan, abgesehen von den Meldungen des Oberkomman- Schnitzler etwa, Hofmannsthal und Stefan Zweig bis zu Joseph dos der Wehrmacht so gut wie nichts entnehmen – und der in Roth. Aber vergessen kann ich dieses Erlebnis auch nicht. deutscher Sprache erscheinenden „Warschauer Zeitung“ kaum Reife Dame verführt einen ehemaligen Schulfreund ihres Sohmehr. Alle Rundfunkapparate hatten wir schon im Oktober 1939 nes, einen Neunzehnjährigen, der sich aber bald von ihr abwenabliefern müssen. Also war man auf die von Mund zu Mund ge- det – natürlich um einer Jüngeren willen. So ließe es sich zusamhenden Nachrichten angewiesen, die nicht immer zutrafen, und menfassen. Die Dame stammte aus Sankt Petersburg, war Anfang D d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 145 Kultur T Das sollte mir schmeicheln. Aber es verfehlte seine Wirkung, weil ich sofort den Verdacht hatte, es sei frei erfunden. Dass Frauen nicht selten mit solchen Bekenntnissen ihren Partnern Genugtuung bereiten wollen, habe ich damals noch nicht gewusst. N ach zwei, drei Monaten begann mir Tatjanas melodramatische Selbstinszenierung, deren Zeuge ich täglich sein musste, ein wenig auf die Nerven zu gehen, ich wurde des zunächst so aufregenden Minnediensts allmählich überdrüssig. Was ich damals zu empfinden begann, begriff ich erst später: Ich sehnte mich insgeheim nach einer ganz anderen Beziehung, nach einer jungen Frau, vielleicht nach einer Gleichaltrigen. Es mag sein, dass ich mir dessen an jenem 21. Januar bewusst wurde, als mir plötzlich die Aufgabe zufiel, mich um ein weinendes Mädchen zu kümmern. Nach diesem Tag wurden meine Besuche bei der Frau, die mir die ersten Monate der Besatzungszeit erleichtert und verschönert hatte, seltener und hörten bald ganz auf. Wenige Wochen später traf ich sie zufällig auf der Straße. Sie sagte sofort: „Du hast mich allein gelassen, wegen einer Jüngeren.“ Ich wollte schon antwor- heatralisch klang auch ihr Name: Tatjana. Genauer: Sie hat sich dieses schönen, in Deutschland durch die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts populär gewordenen Namens ohne Reue bemächtigt. Ihr besonders hellblondes Haar war vermutlich kräftig gebleicht, ihre hellblauen Augen fielen durch ihre Größe auf. Ich habe nie schönere gesehen – oder sind sie nur in meiner Erinnerung so schön und groß geworden? Gern sprach sie von dem Luxus, in dem sie einst in Petersburg aufgewachsen war, und von den bedeutenden Männern, die sich in Berlin um ihre Gunst bemüht Straße im Warschauer Ghetto (1941) hatten. Beides war wohl stark übertrieben. Ihr Bruder sei in der Sowjetunion, erzählte sie mir hinter vorgehaltener Hand, eine Person höchsten Ranges, er sei Mitglied des Zentralkomitees oder Minister oder beides zugleich, doch riskiere sie ihr Leben, wollte sie mir seinen jetzigen Namen verraten. Ich war ziemlich sicher, dass sie diesen geheimnisvollen Bruder erfunden hatte. Was sie aber nicht erfunden hatte, das war ihr außerordentliches Charisma. Authentisch überdies war ihre bewundernswerte Gabe, die Menschen ihrer Umgebung, keineswegs nur mich, zumindest zeitweise zu faszinieren. Diese Tatjana besuchte ich nun beinahe täglich, stets von fünf bis sieben Uhr nachmittags. Für meine regelmäßigen Besuche hatte sie sich einen Vorwand ausgedacht: Sie beherrschte vier Sprachen, die fünfte aber, Englisch, nur ten: „So ist das Leben.“ Im letzten Augenblick habe ich mich dürftig. Ich sollte mit ihr englische Prosa lesen. Ich schlug Joseph beherrscht und ihr den Gemeinplatz erspart. Sie hat mein SchweiConrad vor und Galsworthy. Ihr war alles recht. Denn darauf gen richtig verstanden. Ich erschrak. Denn in ihren großen blaukam es ihr überhaupt nicht an: In Sachen Literatur überließ sie en Augen sah ich Tränen. die Entscheidung mir. Aber eben nur in Sachen Literatur. Sonst „Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden“ behielt sie, forsch und energisch, die Initiative. Ich hatte nichts da- – diese schlichte und harte Lehre aus dem „Tonio Kröger“ hatte gegen. sich mir, als ich die Liebe nur aus der Literatur kannte, fest einJeder Nachmittag nahm ungefähr den gleichen Verlauf: Es gab geprägt. Aber erst jetzt begann ich sie zu begreifen. Ich wusste zunächst Kaffee und vorzügliche Kuchen und auch noch andere nicht, was ich sagen sollte. Ich schaute mich um, ob nicht irgendLeckerbissen, die damals in Warschau sehr teuer, doch erhältlich eine Gefahr sich näherte, eine Razzia etwa. Dann hätte ich sofort waren. Dann lasen wir englische Prosa, doch so richtig konzen- fliehen können. Aber alles blieb ruhig, nur ich war unruhig und trieren konnten wir uns auf die Lesung nicht; sie dauerte denn zerstreut. Mir fiel nichts anderes ein, als zu murmeln, ich hätte es auch in der Regel nicht lange. „An jenem Tage lasen wir nicht wei- leider eilig. Sie lächelte traurig und verständnisvoll, wenn nicht ter“, berichtet Francesca da Rimini in der „Göttlichen Komö- gar mit einer Spur von Neid. Rasch ging ich weg, bemühte mich die“. Für uns, dieses ungleiche Paar, galt: „An jedem Tage lasen aber, nicht zu schnell zu gehen: Sie sollte nicht merken, dass ich wir nicht weiter.“ wegrennen, dass ich fliehen wollte. Der Geschichte dieser Verführung verdankte ich viele, sehr Erst im Februar 1946 traf ich sie wieder: in Berlin, in einem Café viele Erfahrungen. Eines Tages erzählte sie mir, sie habe seit lan- am Kurfürstendamm. Sie war niedergeschlagen. Das habe schon ger Zeit nur lesbische Verhältnisse gehabt, gelegentliche Versuche Gründe, über die sie nicht sprechen wolle und dürfe. Sie tat wiemit Männern hätten nichts daran geändert. Ich sei der erste, der der einmal geheimnisvoll. Ich stellte keine Fragen, und das mag ihr die Rückkehr zum männlichen Geschlecht ermöglicht habe. sie enttäuscht haben. Sie trug im Ausschnitt ein nicht kleines ova146 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 GAMMA / STUDIO X der zwanziger Jahre nach Berlin geflüchtet und im Sommer 1939 nach Warschau geraten. Sie war, nun knapp über vierzig, eine originelle und effektvolle Person, die man für eine Bühnenfigur mitten im trüben Alltag halten konnte. Ihre Garderobe, ihre temperamentvolle Gestikulation, ihr stets etwas pathetischer Tonfall – alles war theatralisch. Sie spielte unentwegt eine Rolle – und sie spielte sie, obwohl sie bisweilen outrierte, gar nicht schlecht. Sie hatte das dringende, das kaum verborgene Bedürfnis, möglichst allen Menschen ihrer Umgebung zu imponieren. Jetzt wollte sie vor allem mich beeindrucken. Und obwohl ich manches durchschaute, gelang ihr dies auf Anhieb. les Schmuckstück, vielleicht aus Bernstein. Es hing an einem Goldkettchen, das sie schon in Warschau getragen hatte. Überraschend nahm sie es ab und reichte es mir hinüber – mit einer etwas theatralischen Geste. Ich sah sie fragend an. Sie sagte bedeutungsvoll: „Schau dir die Rückseite an.“ Zu meiner Überraschung sah ich da auf einem goldenen Plättchen graviert: besorgen. Nach einer knappen Stunde kehrten sie zurück. Es war zu spät: Der von einem fröhlichen deutschen Soldaten geohrfeigt worden war, hing an seinem Hosengürtel. Die beiden Frauen schrien auf, die Tochter war dann schneller als die Mutter: Sie rannte aus dem Zimmer in die Küche, um ein Messer zu holen. Doch ihre Kraft reichte nicht aus, den Gürtel zu durchschneiden. Erst der Notarzt schaffte es, der sonst nichts mehr tun konnte. Da war ich schon in dieser Wohnung, von der weinenden Tochter des Toten in ein anderes Zimmer geführt. Jetzt saß ich neben ihr, neben Teofila Langnas, die ihrem ein wenig prätentiös klingenden Vornamen das schlichte Diminutiv Tosia vorzog. Plaisir d’amour ne dure qu’un moment, Chagrin d’amour dure toute une vie. Aber stimmt es denn, was diese poetische Inschrift behauptet? Sollte die Freude, die die Liebe bereitet, wirklich nur kurz und vergängTeofila Langnas (1940) lich sein und der Kummer ein ganzes Leben dauern? Oder ist es vielleicht gerade umge„W ER AM kehrt? Ich schwieg, das Gespräch wollte nicht mehr in Gang kommen. Wir verabschiedeten o unvergleichbar unsere Situation – wir MEISTEN LIEBT, uns – ganz ohne Groll und, wie mir schien, mit waren ihr beide nicht gewachsen, wir waIST DER Dankbarkeit auf beiden Seiten. Ich ging, sie ren beide überfordert. Sie wusste seit zehn wollte noch in dem Café bleiben. Minuten, dass sie keinen Vater mehr hatte. Sie U NTERLEGENE Als ich schon auf der Straße war, rief sie weinte, sie konnte nichts sagen. Und ich, was UND MUSS mich zurück. Aber wir wechselten nur noch sollte ich einem Mädchen sagen, das sich vor wenige Worte. „Bleibst du in Warschau?“ – zehn Minuten vergeblich bemüht hatte, ihren LEIDEN – DIESE „Ja.“ – „Und du glaubst wirklich, die Politik sei Vater vom Gürtel loszuschneiden? Wir, beide L EHRE HATTE dein Beruf?“ – „Ja.“ – „Du machst einen Fehneunzehn Jahre alt, waren gleichermaßen ratler. Dein Platz ist in Deutschland und nicht in los. Ich war mir der Dramatik des Augenblicks SICH MIR FEST Polen, dein Beruf ist die Literatur und nicht die bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den EINGEPRÄGT “ Politik.“ – „Die Literatur ist überhaupt kein Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre Beruf, sondern ein Fluch.“ – „Hör auf mit ZiTränen zu küssen. Sie nahm es, glaube ich, taten. Ich bin nicht Lisaweta Iwanowna, und kaum wahr. du bist nicht Tonio Kröger. Ich rate dir noch einmal: Verlasse PoUm sie wenigstens für Augenblicke abzulenken, fragte ich, was len …“. Ich habe diesen Ratschlag befolgt. Aber erst viel später, sie denn eigentlich in Lodz getan hatte. Sie antwortete stamerst zwölf Jahre nach diesem Gespräch. melnd. Ich verstand, dass sie vor einem halben Jahr das Abitur gemacht hatte und in Paris Grafik und Kunstgeschichte studieren hne Eile ging ich den Kurfürstendamm in Richtung Ha- sollte. Daraus war nun, des Kriegsausbruchs wegen, nichts gelensee. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich während worden. Ich meinte, ich müsste ihr jetzt etwas sagen. Vor einigen Jahren, noch in Berlin, hatte mir der Film „Traudes ganzen Gesprächs mit Tatjana an Tosia gedacht hatte. Und wieder kam mir, wie unzählige Male im Laufe der vergan- mulus“ gefallen, wohl deshalb vor allem, weil in der Verfilmung genen Jahre, jener Tag in den Sinn, der mein Leben änderte, je- dieses kurz nach der Jahrhundertwende geschriebenen Stücks ner 21. Januar 1940, der Tag, an dem der Herr Langnas aus Lodz von Arno Holz und Oskar Jerschke die Hauptrolle, den Lehrer, der nicht ohne Grund „Traumulus“ genannt wird, Emil Jannings seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Er war noch ein Kind, als seine Eltern starben. Ein Onkel sorg- spielte. An der Leiche seines Lieblingsschülers, der Selbstmord te für seinen Lebensunterhalt, sonst blieb er sich selber überlas- verübt hat, erklärt dieser Lehrer – so ungefähr hatte ich es im Gesen. Ein Selfmademan also und kein alltäglicher: Obwohl still dächtnis behalten –, wir seien dazu da, das Leben nicht von uns und zurückhaltend, obwohl von seinen Ellenbogen keinen Ge- zu werfen, sondern zu bezwingen. Eine schwülstige Phrase, gebrauch machend, war er geschäftstüchtig. Er wurde ein erfolgrei- wiss, aber sie schien mir noch erträglicher als die unheimliche Stilcher und wohlhabender Kaufmann, Mitinhaber einer florierenden le oder die übliche Redewendung: „Das Leben geht weiter.“ Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was mich selber Textilfabrik. Dennoch war sein Selbstbewusstsein nicht stark ausüberraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden geprägt – und vielleicht hing sein Tod damit zusammen. Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde er enteignet. für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich fasste sie plötzlich an, ich Das Betreten seiner Fabrik, die nun ein Treuhänder verwaltete, griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie war ihm untersagt. Am nächsten Tag hat ihn auf der Piotrkowska, sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick schien dankbar. Ich wollder Hauptstraße von Lodz, ein deutscher Soldat geohrfeigt, ein te sie küssen, ich unterließ es. Am nächsten Tag wurde Tosias Vater beerdigt. Noch wurden Jukräftiger junger Mann in bester Laune. Warum? Vielleicht hat er von dem Juden Langnas den Hitlergruß erwartet. Aber vielleicht den beerdigt, noch – denn bald gab es für sie, wie es in Celans kam es ihm gar nicht darauf an, nur hat er, weil er von seinem Vor- „Todesfuge“ heißt, nur „ein Grab in den Lüften“. Da man sich an gesetzten geärgert worden war, das Bedürfnis gehabt, jemanden die Selbstmorde von Juden vorerst nicht gewöhnt hatte, waren viezu prügeln. Damit begann der psychische Zusammenbruch des le Menschen zum Friedhof gekommen, zumal der stille Herr Herrn Langnas: Kaum nach Hause gekommen, sagte er, ihm blie- Langnas in seiner Heimatstadt nicht nur zu den angesehenen, sonbe jetzt nichts anderes übrig, als Selbstmord zu verüben – und dern auch zu den beliebten Kaufleuten gehört hatte. Ich begleitete und stützte Tosia. Am offenen Grab stand ich nesprach davon in den nächsten Wochen immer häufiger. Später, als Lodz Litzmannstadt genannt und dem „Reichsgau ben ihr. Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn Wartheland“ angeschlossen wurde, flüchtete die Familie, ähnlich eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter wie viele andere Juden aus Lodz, nach Warschau. Auch dort wa- des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas ren bei Herrn Langnas Anzeichen einer tiefen Depression zu be- ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Geobachten, doch von Selbstmordabsichten sprach er nicht mehr. danken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich, Man glaubte schon, er habe die Krise überwunden. Am 21. Janu- dass wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar ™ ar gingen seine Frau und seine Tochter in die Stadt, um etwas zu 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen. S O d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 147 Kultur ten eines weltweiten Jahrtausendwahns die Ausnahme. Doch so groß die Konkurrenz der KulturEvents sonst auch sein mag – viele Titel klingen trotzdem nur nach geklonter Einfallslosigkeit: Das Centre Pompidou gibt sich im Herbst 2000 den „Ansichten eines Jahrhunderts“ hin, Karlsruhe präsentiert schon ab Dezember 1999 „Jahrhundert- AU S S T E L L U N G E N Hoffnung und Endzeitangst Zur Jahrtausendwende trumpft die weltweite Kunstszene mit Mega-Events auf. Ist der Überdruss beim Publikum programmiert? KUNSTHAUS ZÜRICH 148 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 ULLSTEIN BILDERDIENST F ast hätte die Performance im nieder- Anlass auf, der nach einem bombastischen ländischen Utrecht als Kamikaze- Ausstellungstheater schreit. Umso dankaktion geendet – für die vier Tauben, barer wird die Jahrtausendwende als denen der deutsche Tier- und Objektkünst- Mega-Ereignis beschworen, das wahlweise ler Carsten Höller Videokameras um- mit bilanzierenden oder visionären Kunstschnallte. Mit dem Hightech-Rucksack soll- Events garniert werden muss. ten die Tiere in alle Himmelsrichtungen losflattern und dabei die historische Stadt aus ihrer Vogelperspektive filmen. Eine originelle Idee, hätte sie funktioniert. Aber das schwere Gerät ließ gleich den ersten Kameravogel rasant in die Tiefe sacken. Ein Tier schaffte es schließlich, zumindest einen Rundflug oberhalb der Utrechter Schornsteine zu absolvieren: Die filmische Ausbeute ist bis Anfang Oktober in der Ausstellung „Panorama 2000“ zu bewundern – der Monitor steht allerdings auf dem 112 Meter hohen Utrechter Domturm. Nur von dort aus ist auch der Rest der Schau zu genießen: Die meisten Werke – ob krakenartige Kreaturen aus PVC-Röhren, ganze Modellhäuser oder überdimensionale Fotos – Gemälde der Bosch-Schule: Teuflischer Frohsinn wurden auf nahen Dächern, So wird zu Fin de Siècle und Fin de Terrassen und an Hauswänden installiert. Inszeniert wurde die Höhenschau, zugleich Millénaire weltweit geprotzt. In jeder Hineine witzige Bestandsaufnahme zeitgenös- sicht. Das New Yorker Whitney Museum sischer Kunst, vom Centraal Museum in serviert in einer Überblickschau nicht nur Utrecht. Doch bei allem Einfallsreichtum: 1200 Kunstwerke und Zeugnisse aus den „Panorama 2000“ ist nur eines von vielen vergangenen Dekaden – es hat das 20. JahrSpektakeln, die dem neuen Jahrtausend hundert auch unbescheiden zum amerikanischen Jahrhundert verklärt. In „The aufwarten. Waren beim vergangenen Jahrtausend- American Century“ sollen Jazzmusik und schritt zumindest die teufelsgläubigen Andy Warhol illustrieren, wie progressiv Christen erleichtert, dass sich trotz pro- Amerika doch sein kann. Im April eröffnete das Whitney den ersphezeiten Weltuntergangs nichts Sensationelles abspielte, fürchtet das späte 20. ten Teil des patriotischen Flohmarktes, Jahrhundert höchstens, ohne höllisches Ende September folgt der zweite Akt. Brimborium über die Kalenderschwelle Schon ab Oktober will aber auch das New stolpern zu müssen. Bereits das wiederer- Yorker Museum of Modern Art 17 Monate weckte Modewort Millennium – mit dem lang einen „provokativen Blick“ auf das der Evangelienautor Johannes einst nur die Jahrhundert werfen – vorsichtshalber vor 1000 Jahre vor der erwarteten finalen Apo- allem auf Publikumsmagneten wie Matisse kalypse taufte – soll nun eine wundersame oder Picasso. Dass jemand wie Philippe de MontebelStrahlkraft entfalten: In den Londoner Spaßtempel „Millennium Dome“ soll es lo, Chef des Metropolitan Museum of Art in New York, „nicht daran denkt, sein Ausgar Millionen von Besuchern locken. Allzu selten drängt sich vor allem in der stellungsprogramm von der Arithmetik des sonst so bedächtigen Museumsszene ein Kalenders diktieren zu lassen“, ist in Zei- Museumschef Schuster „Das Publikum umhauen“ Millenniumkunst Das XX. Jahrhundert, 4. Sept. 1999 bis 9. Jan. 2000: Altes Museum, Neue Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof, Kunstbibliothek, Kunstgewerbemuseum, Kupferstichkabinett Global Art Rheinland 2000 Kunstwelten im Dialog, 5. Nov. 1999 bis 19. März 2000: Museum Ludwig Kulturräume, 7. Nov. 1999 bis 30. Jan. 2000, und Wege der Welt, 22. Febr. bis 23. April 2000: Wilhelm Lehmbruck Museum Zeitwenden. Rückblick und Ausblick, 4. Dez. 1999 bis 4. Juni 2000: Kunstmuseum, Kunst- und Ausstellungshalle Das fünfte Element, 28. Jan. bis 14. Mai 2000: Kunsthalle Ich ist etwas anderes, 19. Febr. bis 12. Juni 2000: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Expo 2000 (Auswahl) In-Between Architecture, 1. Juni bis 31. Okt. 2000: Expo-Gelände Fotografien des 20. Jahrhunderts, 15. Mai bis 6. Aug. 2000, und Aller Anfang ist Merz, 20. Aug. bis 5. Nov. 2000: Sprengel Museum The American Century II (1950 – 2000), 26. Sept. 1999 bis 13. Febr. 2000: Whitney Museum MoMA 2000: Teil eins bis drei, 7. Okt. 1999 bis 13. Febr. 2001: Museum of Modern Art Regards d’un siècle, 6. Sept. bis 27. Nov. 2000: Centre Pompidou Das Jahrhundert der Frau, 29. Sept. 1999 bis 2. Jan. 2000: Kunstforum wenden. Rückblicke in die Zukunft“, Bonn kontert mit der Schau „Zeitwenden. Rückblick und Ausblick“ – die Teil des Projekts „Global Art Rheinland 2000“ mit insgesamt sechs Ausstellungen ist. Parallel dazu bereitet ganz Bayern 2000 Jahre Landesgeschichte auf. Und schließlich droht noch die „Expo 2000“ in Hannover mit viel Kultur. Ist der Millenniumüberdruss programmiert? Kaum, glaubt Fritz-Theo Mennicken von der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen, Initiator der rheinischen Kunstoffensive. Das Bewusstsein für Kunst und Kultur, hoffen er und wohl auch alle anderen Veranstalter, werde durch das Ausnahmedatum 2000 erst sensibilisiert. Weil jetzt die Bundespolitiker nach Berlin gezogen seien, findet Mennicken, habe außerdem gerade das Rheinland besondere Gründe, ab sofort kulturell aufzutrumpfen. Peter-Klaus Schuster, neuer Generaldirektor der Staatlichen Berliner Museen, ist sich dagegen sicher, dass zum neuen Jahrtausend gerade von der Hauptstadt ein „bedeutender Auftritt“ erwartet wird. Er will dem Verlangen ab September mit seiner Schau „Das XX. Jahrhundert“ nachkommen: Die Ausstellung soll an sechs Stationen nicht weniger als alles präsentieren, was ab 1900 an Kunst in Deutschland wahrgenommen wurde. Schuster lässt nichts aus, weder Malerei, Skulptur, Design, Literatur, Theater noch gar die Musik. Ein Shuttle-Bus chauffiert die Besucher außerdem zu ausgewählten Bauwerken. In keinem Land, schwärmt der eifrige Kurator, war die Geistesgeschichte so aufregend wie in Deutschland. Er ist überzeugt, mit seiner Jahrhundertshow „das Publikum umhauen zu können“ angesichts dessen, „was die Deutschen in den vergangenen hundert Jahren so mit der Kunst gemacht haben“. Für sein Großvorhaben muss er sich allerdings weitgehend mit Werken und Objekten begnügen, die ohnehin in den Berliner Museen oder bei seinem vorherigen Arbeitgeber Bayerische Staatsgemäldesammlungen lagern – prominente Leihgaben zu ergattern sei wegen des weltweiten Ausstellungsrummels nahezu aussichtslos. Das Kunsthaus in Zürich versucht es trotzdem. Das Museum, auch vom Millenniumwahn infiziert, wagt eine teuflische Inszenierung – und holt sich Dämonisches aus dem Umkreis des Höllenmalers Hieronymus Bosch oder von Dauerexzentriker Salvador Dalí. Die Schau „Weltuntergang und Prinzip Hoffnung“, die Ende August startet, wurde von einem Buch über apokalyptische Visionen inspiriert. Kurator Harald Szeemann schwelgt schon jetzt in fröhlicher Endzeitstimmung: Zwar werde sich wohl während der Dauer der Ausstellung kein wirklicher Weltuntergang einstellen. Doch vergisst er nicht, darauf hinzuweisen, dass auch für das Ende dieses Jahrtausends eine Apokalypse prophezeit wurde. Ulrike Knöfel d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 FOTOS: MFA „Nachtgestalten“-Darsteller Susanne Bormann, Dominique Horwitz, Meriam Abbas: Lauter Verlierer mit Herz FILM Berlin ist dunkel, nass und kalt Außenseiter und Favorit bei den deutschen Filmpreisen: Endlich kommt Andreas Dresens „Nachtgestalten“ in die Kinos. W as bekommt man für angewiderte Gesichter zu sehen, seit vielen Monaten schon, wenn man Freunde auf einen neuen deutschen Film neugierig zu machen versucht! Sogar der Zahnarzt guckt ungläubig, und er hat ja Recht. Welche sonst oft erfreuliche Schauspielerin oder welchen gemeinhin schätzenswerten Schauspieler hätte man nicht lieber nicht gesehen, beim letzten Mal in einem deutschen Film? In der Not denkt man an Leute, von denen seit längerem weit und breit nichts zu sehen war, an Michael Gwisdek zum Beispiel, an Dominique Horwitz oder an Imogen Kogge. Und nun kommt mitten im Sommer des Trallala ein Film daher, in dem diese drei (und andere) einem ans Herz wachsen. Ein Film mit dem merkwürdigen Titel „Nachtgestalten“, in dem es dunkel, nass und kalt ist. Der nicht im Traum daran denkt, sich als neuer deutscher Film modisch mit einem englischen Titel zu schmücken, etwa „Cool City Night“. Und der, schlimmer noch, ein Berlin-Film ist, ohne davon zu reden, wie zupackend und toll Berlin jetzt eben drauf und dran ist, noch viel toller zu werden. Günstigstenfalls, da zwangsläufig ein paar Absperrungen und Baugruben ins Bild kommen, könnte „Nachtgestalten“ mit einem Gruß an den letzten ehrlichen Berlin-Film auch heißen: Das Leben ist immer noch eine Baustelle. Man lernt in dieser einen nasskalten Berliner Nacht zum Beispiel einen genervten Angestellten kennen, der am Flughafen eine hochwichtige Dame aus Japan 150 abholen soll, aber stattdessen rasch einen zehnjährigen Scheinasylanten aus Angola an der Hacke hat; oder ein Pennerpärchen samt Hund, das wenigstens einmal in einem warmen Bett schlafen möchte; oder eine dünne Süchtige vom Babystrich, die einen Bauernburschen aus der Neuruppiner Ecke abzockt; oder eine weiche, weich sächselnde Würstchenverkäuferin – lauter Figuren, die auf den ersten Blick ein bisschen klischeehaft aussehen, doch auf den zweiten, dritten, vierten Blick ein überraschendes und bewegendes Eigenleben entwickeln. Lauter Verlierer. „Nachtgestalten“ ist einer jener Filme, die nicht vorwärts preschen, sondern sich mit Geduld (nur selten ein wenig zu wortverliebt, zu pointiert) ausbreiten und verzweigen. Einer jener Filme also, die sich nicht leicht damit tun, innerhalb eines gegebenen Rahmens eine Hand voll Einzelschicksale ineinander zu flechten und dabei ein in sich stimmiges Gleichgewicht zu halten. Aha, Altman, sagt da natürlich jeder, denn Robert Altman, in der Tat, entfaltet in seinen Filmen, von „Nashville“ bis „Short Cuts“, diese Art von erzählerischem Patch-work mit Meisterschaft. Andreas Dresen ist längst daran gewöhnt, dass jeder sagt: Aha, Altman. Doch es gefällt ihm, wenn er hört: Es gibt zu seinen „Nachtgestalten“ ein sommersonnenhelles Gegenstück, ein ebenso anekdotischmelancholisches Geschichtengeflecht, das vor 70 Jahren in Berlin gedreht wurde: „Menschen am Sonntag“. Wer würde sich darauf nicht gern berufen? Andreas Dresen, 36, aufgewachsen in Schwerin als Sohn einer Schauspielerin und eines (früh in den Westen abgewanderten) Regisseurs, hat etwas von einem ewigen Theaterkind und inszeniert „aus Nostalgie“ gelegentlich in Cottbus. Er hat auch etwas von einem bedächtigen, eigensinnigen Provinzler und hält deshalb, auf vorsichtiger Distanz zum schönen neuen Berlin, an seinem Wohnsitz Potsdam fest. Und folglich hat er auch etwas von einem ewigen, unkorrumpierbaren Ossi, der auf dem Gefühlswert alter Utopien beharrt, also zum Beispiel nicht zulassen möchte, d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 dass die Identität stiftende Bedeutung des Amateurfilmwesens in der DDR (auch für seinen persönlichen Werdegang) im Allgemeinen großen Entwertungsprozess niedergewalzt wird, und der überhaupt die handwerklich professionellen Qualitäten seiner Ausbildung hochhält. Als Dresen Mitte der achtziger Jahre an die Babelsberger Filmhochschule kam, war längst Perestroika angesagt und Lothar Bisky als Rektor der tonangebende Freigeist. Der erste Spielfilm des Theaterkinds Dresen kam dann 1992 in die Kinos (im Westen nur in wenige); er hieß scheinheilig „Stilles Land“ und war auch so. Er erzählt, wie im Herbst 1989 im Stadttheater Anklam, der Strafkolonie des DDR-Schauspielwesens, an „Warten auf Godot“ herumprobiert wird und dann, statt Godot, die unglaubliche Nachricht von Massenprotesten und Mauerfall aus dem fernen Berlin eintrifft – der Film kam, mit seinem Scharfblick für die latente Komik der Wende, gleichermaßen zu früh und zu spät und ist nun längst Historie. In den Jahren seither hat Dresen ein paar Fernsehsachen gemacht, fast jede irgendwo preisgekrönt, darunter wohl als persönlichste den Film „Raus aus der Haut“: Er handelt vom Echo, das die Schleyer-Geiselnahme im Herbst 1977 in einem DDR-Provinzstädtchen findet – sie inspiriert, total unpolitisch, ein Gymnasiastenpärchen dazu, den verhassten Schuldirektor zu entführen. Wenn es nach Dresen geht – ein Ossi auch darin, dass er sich selber nicht als Ossi wahrnimmt –, sollen ihn DDR-Themen nun nicht mehr bewegen. Er hält Kontakt zu Überlebenden eines verdrängten Kapitels der deutschen West-Geschichte, zu Ex-Terroristen, und überlegt, wie davon in einem Film zu erzählen wäre. Da sagt er zum Beispiel: Wäre die Lorenz-Entführung nicht ein echter Komödienstoff? Das würde sich wohl kein Wessi trauen. Nun aber erst „Nachtgestalten“. Freunde, das ist ein deutscher Film, ohne Aber und Wenn, nur sieht man darin keine Faxenmacher, sondern so was wie wirkliche Menschen. U RS J E N NY Werbeseite Werbeseite Kultur S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ich will noch sehr viel lernen“ Sir Simon Rattle, der britische Stardirigent und künftige Chef des Berliner Philharmonischen Orchesters, über Virtuosität, Traditionsgeist und zeitgenössisches Engagement bei Deutschlands renommiertestem Klangkörper SPIEGEL: Sir Simon ... Rattle: … bitte kein Sir! Simon ist okay. SPIEGEL: Simon, sind Sie ein guter Tänzer? Rattle: Ein grauenhafter. Meine Frau sagt immer, mein Gefühl für Rhythmus ende unterhalb des Knies. SPIEGEL: Wie, Sie schwingen den Taktstock, nicht aber das Tanzbein? Rattle: Doch, aber wie! Beim letzten Philharmoniker-Ball in Wien stürzte Eliette von Karajan auf mich zu: „Kommen Sie, bevor mich der alte Kurt Waldheim auffordert.“ Kaum auf der Tanzfläche, nickte sie ver- ständnisvoll: „Ich sehe schon, ich muss mal vorgestellt, und das Orchester hätte führen.“ Und am Schluss tröstete sie mich: natürlich auch ein paar Minuten ohne mich „Ach, Simon, Herbert war ein noch viel gespielt. Aber mehr als ein chaotischer Beinsalat wäre meinerseits nicht dabei herschlechterer Tänzer als Sie.“ SPIEGEL: Im Finale der von Ihnen dirigier- ausgekommen. ten Rameau-Oper „Les Boréades“ bei den SPIEGEL: Wenn Sie dirigieren, wirken Sie diesjährigen Salzburger Festspielen hatten ungemein schmissig und schwungvoll, Sie wir den Eindruck, Sie würden jeden Moment auf die Bühne Sir Simon Rattle springen und sich in den Wirbel des Ensembles einreihen. zählt heute zu den begehrtesten Dirigenten der Welt. Der gebürtige Liverpooler und ausgebildete SchlagRattle: So etwas hatte sich der zeuger wurde zum Shootingstar des internationalen Regisseur tatsächlich auch Klassikbetriebs, nachdem er 1980 die Leitung des verlotterten City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hatte und diesen Klangkörper in 18-jähriger Arbeit zu einem Spitzenensemble formte. Mit seinem weit gefächerten Repertoire von Barockopern auf alten Instrumenten bis zu zeitgenössischen Experimenten in philharmonischem Technosound findet Rattle, 44, auch bei jungen Hörern spontane Zustimmung. Rattle hat, als Exklusivkünstler von EMI, schon über 60 CDs eingespielt, auch sie mit vielen Titeln jenseits des Standardkatalogs. Ende Juni dieses Jahres wählte das Berliner Philharmonische Orchester den geadelten Briten zu seinem künftigen Chefdirigenten. ARENA lächeln oft und lachen sogar. Ist der Job nicht so schwer, wie Ihre manchmal griesgrämigen Kollegen auf dem Podium vermuten lassen? Rattle: Doch, es ist ein schwerer und harter Job, aber er macht mir Freude.Wenn ich lächle oder gar lache, dann, weil ich den großen Spaß mitfühle, ja, koordiniere, den die Musiker etwa bei einem Menuett von Haydn oder bei dem grantigen Witz Beethovens empfinden. Die meiste Musik hat etwas ungeheuer Lustvolles, das verträgt doch keine Beerdigungsmiene. SPIEGEL: Dirigenten sind innerhalb der Interpretenzunft die Musiker mit dem meisten Charisma. Wieso eigentlich? Rattle: Vielleicht, weil man sie meist von hinten sieht. Nein, im Ernst: Dieses sogenannte Charisma ist entweder ein Bluff oder eine Schimäre. Eine Sängerin wie Cecilia Bartoli hat doch mehr Ausstrahlung als wir Dirigenten alle zusammen. Wenn es eine besondere Wechselwirkung zwischen Dirigent und Publikum tatsächlich geben 152 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Klaus Umbach. Werbeseite Werbeseite Kultur sollte, dann ist es, pathetisch gesagt, eine Liebesbeziehung, die der Dirigent zwischen der Musik und den Hörern aufbaut. Deshalb sind auch diejenigen Dirigenten die größten und bedeutendsten, die die meiste Liebe zur Musik und zu ihren Musikern verspüren und vermitteln. SPIEGEL: Wie wir beobachten konnten, küssen Ihnen die Damen doch geradezu die Füße. Ist Sexappeal bei einer Dirigentenkarriere nicht sehr hilfreich? Rattle: Stopp! No sex, please – we’re British! (lacht) SPIEGEL: Wir sind jedenfalls überzeugt davon, dass die spontane und quirlige Art Ihrer Auftritte Ihnen in Berlin, Ihrem künftigen philharmonischen Wirkungsort, sehr geholfen hat. Dort war das Publikum jedenfalls schlichtweg hingerissen von Ihnen. Rattle: Ja, das war wirklich toll. So eine Wärme, so ein Echo und Enthusiasmus – einfach überwältigend und für mich völlig überraschend, auch wenn die elektrisierende Spannung schon während des Konzerts spürbar wurde. SPIEGEL: Haben Sie erst die Berliner und danach die Philharmoniker erobert? Rattle: Ich glaube, die Sache liegt anders: Die außerordentliche Aufbruchstimmung in dieser Metropole überträgt sich auch auf die Philharmoniker und deren Publikum. Berlin ist eine Stadt für helle Köpfe und offene Sinne. Das spürt man auf dem Podium genauso wie auf der Straße. SPIEGEL: Die englische Zeitung „Daily Mail“ hat sich sehr gewundert, dass mit Ihnen ein britischer Dirigent an die Spitze des besten deutschen Orchesters berufen wurde; das sei so, „als ob ein Protestant Papst würde“. Rattle: Ach, die alte „Daily Mail“ führt doch immer noch den Ersten Weltkrieg. Das muss man nicht ernst nehmen. SPIEGEL: Den deutschen Blättern und ihren Kommentatoren dagegen war Ihre Nationalität weitgehend gleichgültig. Rattle: Deutschland ist einfach schon lange ein Teil Europas, England immer noch eine Insel. Und die Engländer müssen erst noch ein Gespür dafür bekommen, dass Musik eine internationale Sprache ist, mit Musikern als inter-, ja supranationalen Vermittlern. SPIEGEL: Was fasziniert Sie als künftigen Chefdirigenten beim Berliner Philharmonischen Orchester am meisten – dessen Tradition, dessen Virtuosität oder dessen großzügige Existenzsicherung durch die öffentliche Hand? Rattle: Die ersten beiden Faktoren. Mit Furtwängler, Karajan und Abbado als Kapitän wirkt dieses Orchester wie ein riesiger Dampfer, der in der stürmischen See der jüngeren Musikgeschichte viel geleistet hat. Aber so ein Dampfer – nur so macht er Sinn – muss sich auch weiter bewegen, zum nächsten Hafen. SPIEGEL: Ist so ein dicker Pott nicht manchmal unbeweglich und träge? Rattle: Kein Orchester der Welt vereinigt so viele ausgeprägte und fähige Individualisten wie die Berliner. Wenn ich etwas kritisiere, dann dies: Ich glaube, dass die Philharmoniker in den letzten Jahren das im klassischen Sinne klassische Repertoire vernachlässigt haben. Es würde mich wundern, wenn in der nächsten Saison überhaupt eine Sinfonie von Haydn oder Mozart auf dem Programm stünde. Aber, noch mal: Die können alles. SPIEGEL: In England, haben Sie kürzlich gewettert, seien „alle Orchester technisch bankrott, wursteln sich aber irgendwie durch“. In Berlin wird weniger gewurstelt als geklotzt. Rattle: Ich glaube, Berlin gibt für die Kultur mehr Geld aus als das gesamte Vereinigte Königreich. Das sagt doch alles. SPIEGEL: Hat es Sie beeindruckt, auf welch demokratische Weise die Philharmoniker Sie als Chefdirigenten gewählt haben? Rattle: Bei Karajan war das seinerzeit noch nicht so; der wurde von sich aus mit dem Senat handelseinig. Bei der Wahl Abbados als Karajan-Nachfolger waren die Musiker mit ihren Rechten und deren Prozedur noch nicht so vertraut. Diesmal war es wirklich ein orchester-demokratischer Vorgang. ACTION PRESS Rameau-Oper „Les Boréades“ in Salzburg: „O Gott, diese Scheuklappen“ SPIEGEL: Mit sehr leidenschaftlichem Wahlkampf und mit geheimer Abstimmung. Rattle: Mich hat besonders fasziniert, wie ernst die Musiker ihre Entscheidung genommen haben. Über Wochen ging es überhaupt nicht um Namen, sondern nur um Ziele und Programme: Was wollen wir, wohin wollen wir? Kann der deutsche Musiker-Typ, den es ja unbestritten gibt, bei uns überleben? Was wird aus der Tradition des vollen, satten Klanges und des weiten philharmonischen Atems? SPIEGEL: Und was wird unter Rattle daraus? Rattle: Ich will und muss von diesem Orchester vor allem noch sehr viel lernen. SPIEGEL: Der angesehene deutsche Feuilletonist Joachim Kaiser hat in der „Süddeutschen Zeitung“ gemäkelt, es scheine ihm „anfechtbar, den fabelhaften Rattle ausgerechnet mit den Berliner Philharmonikern zu verheiraten“. Also eine Mesalliance? Rattle: Ach, diese Musikkritiker! Was Mister Kaiser schreibt, ist insoweit völlig falsch, als er das für die Schallplatte produzierte mit dem live aufgeführten Repertoire einfach in einen Topf wirft und dann abschmeckt. Vielleicht sollte er besser noch abwarten. Die Berliner und ich sind ja noch nicht mal in den Flitterwochen. SPIEGEL: In Deutschland erwartet Sie eine Klassik-Szene, auf der strenger und dümmer als irgendwo sonst auf der Welt zwischen E- und U-Musik unterschieden wird. E ist die heilige Kuh, U das schwarze Schaf. Gibt das Ärger für Sie? Rattle: Es ist eine wahrhaft hirnrissige Trennung. Ganz typisch erscheint mir die Bemerkung einer älteren deutschen Dame nach den „Boréades“ in Salzburg. Ihr erster Satz: „Nein, war das alles phantastisch, allein die Kostüme!“ Zweiter Satz: „Aber mir schien es manchmal auch etwas kitschig.“ O Gott, diese Klischees und diese Scheuklappen! Ich ahne, dass da noch viele Schranken, viele Schlagbäume der Geschmacksverteilung niedergerissen werden müssen, auch von mir. Aber das mache ich aus Leidenschaft. SPIEGEL: Und mit Erfolg. Sie haben gerade bei EMI eine Neuaufnahme von Leonard Bernsteins „Wonderful Town“ vorgelegt. Für viele Deutsche ist Bernstein ein begabter Dirigent gewesen, der zufälligerweise bei der „West Side Story“ ein glückliches Komponisten-Händchen hatte. Rattle: Wir wissen alle, dass es eine Menge Bernsteins gibt. Aber da, wo seine Musik wirklich die amerikanische Kultur und Lebensart einfängt, ist sie zeit- und konkurrenzlos. Ein Beispiel, wie ich mir – auch ULLSTEIN BILDERDIENST Berliner Philharmonisches Orchester: „So ein Dampfer muss sich bewegen“ FOTOS: DPA demnächst in Berlin – moderne Orches- Rattle: Nein, verdammt noch mal: nein! terarbeit vorstelle: Wir haben vor Jahren in Mit acht habe ich sie total ignoriert. Der Birmingham am Abend den letzten Teil erste große Irrtum meines Lebens. der „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen SPIEGEL: In einem Interview mit der BBC aufgeführt und am nächsten Morgen mit sollen Sie gesagt haben, Sie hielten eine den Proben zu Bernsteins „West Side acht- oder neunjährige Vertragsdauer mit Story“ begonnen. Beide Stücke sind Meis- Berlin für angemessen, etwa wie die Amtsterwerke großer Komponisten. zeit eines Premierministers. SPIEGEL: Werden Berlins Philharmoniker Rattle: Alles Unfug. Ich habe bislang solche Wechselbäder schlucken? nicht mal eine Vorstellung, wie viel WoRattle: Bestimmt. Das ist ja eben kein Hau- chen ich in Berlin sein und wie viel Konfen von Gralshütern. Übrigens, als ich Ka- zerte ich dort dirigieren werde. Ich habe rajan zum ersten Mal traf, haben wir viel sogar keine Ahnung, ob ich da Geld über derlei Themen gesprochen, und er kriege. sagte zu mir: „Simon, wäre ich so jung wie Sie, würde ich dasselbe machen. Sie müssen genau das machen, was Sie für richtig halten.“ SPIEGEL: In den nächsten Wochen werden Sie mit Ihren alten Birminghamer Musikern und etlichen Jazz-Virtuosen eine neue CD mit Titeln von Duke Ellington aufnehmen. Trauen Sie derlei auch den Philharmonikern zu? Rattle: Warum nicht? Das hoffe Dirigenten Abbado, Karajan (1986) ich. Aber ich muss den Berlinern auch ein wenig Zeit lassen, bis sie SPIEGEL: Davon dürfen Sie ausgehen. Was swingen können. Ich will in Berlin aber passierte denn eigentlich, nachdem die baldmöglichst „Asyla“ von Thomas Adès Berliner Sie gewählt hatten? aufführen, eine Art philharmonischer Tech- Rattle: Ich wurde in Oxford angerufen, und nomusik. Übrigens bin ich in einem El- auch Claudio Abbado hat mir gratuliert. ternhaus aufgewachsen, wo Jazz groß ge- Gleich am nächsten Morgen bin ich mit schrieben wurde. Für mich ist Jazz kein meinen Kindern zur Safari nach Afrika geSubstantiv, sondern ein Verb. Jazz bedeu- flogen. Ich fange erst in drei Jahren an. Da tet das, was man aus und mit der Musik kann ich doch jetzt noch nicht vom Ende macht. reden. Bis 2002 will ich in Berlin vor allem SPIEGEL: Haben Sie in Ihrer Geburtsstadt aufmerksam zuhören. Liverpool eigentlich auch was von den SPIEGEL: In Birmingham haben Sie sage und Beatles mitgekriegt? schreibe 18 Jahre durchgehalten. Rattle: Es ist verrückt – nein! Dabei wohn- Rattle: Ja. Bislang war der Berliner Job ja ten wir im gleichen Viertel. sozusagen eine Lebensstellung, bis Claudio Abbado einfach eines Morgens gesagt hat: SPIEGEL: Sie haben sie nie live gehört? 156 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Okay, das reicht, das war’s. Warten wir ab. Ich kann, was Treue und Anhänglichkeit angeht, ein wahrer Dickhäuter sein. SPIEGEL: Dennoch geistert Ihr Name jetzt schon wieder bei der Kandidatenkür um die Nachfolge des Salzburger Festspielleiters Gerard Mortier durchs Alpenland. Rattle: Gehört habe ich auch davon, stimmen tut es nicht. Mit mir hat jedenfalls kein offizieller Vermittler darüber geredet. SPIEGEL: Als künftiger Chef der Berliner Philharmoniker sind Sie automatisch auch künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele. Rattle: So sieht es aus. SPIEGEL: Schon Pläne und Vorstellungen? Rattle: Lieber Himmel, ich habe ja meinen neuen Job noch nicht einmal angetreten. Ein bisschen wird man wohl nachdenken dürfen. SPIEGEL: Wenn Sie ihn angetreten haben, werden Sie viel Zeit in Deutschland verbringen und gewiss ein Leuchtturm auf der deutschen Musikszene werden. Wird Ihr Name möglicherweise auch mal auf dem Grünen Hügel erstrahlen, als Bayreuther Wagner-Dirigent? Rattle: Warum denn nicht? SPIEGEL: Ihre künftige Position in der neuen deutschen Hauptstadt lässt Sie womöglich zu einer Art Kapellmeister der ganzen Nation erstarken. Eine kuriose Vision? Rattle: Zumindest eine interessante Frage. Aber ich denke, wir wollen, bei allem Respekt vor der Tradition, vor allem ein durch und durch europäisches Orchester werden. SPIEGEL: Dann würden Sie ja sogar der Kapellmeister Europas. Rattle: Ja, aber einer, der nicht tanzen kann. SPIEGEL: Simon, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite Werbeseite Kultur Reise zum Orugasumusu Die Deutschen vernachlässigen gern ihre Sprache, zu Gunsten des Englischen. Doch die Welt liebt deutsche Lehnwörter, wie eine Münchner Linguistin zeigt. D ie traurige Anekdote handelt von Superman und Bakfis und einem Pudel, der beim Sitz-bath ertrunken ist. Erfunden und aufgeschrieben hat sie die Münchner Germanistin Andrea Stiberc, 41. Ironisches Fazit ihrer ungewöhnlichen Suche nach deutschen Wortspuren in aller Welt: Eigentlich sei es überflüssig, Fremdsprachen zu lernen – denn „im Grunde kommt man mit ein paar Brocken Deutsch überall durch“. Um die These zu illustrieren, bastelt sie schon mal kleine Geschichten aus exotischen Vokabeln, die sie in Idiomen entfernter Regionen aufgespürt hat. Stiberc untersuchte hunderte von linguistischen Quellen, sammelte Archivmaterial, informierte sich bei Muttersprachlern und Fremdwortspezialisten. Düsteren Prophezeiungen über das Ende der deutschen Sprache angesichts von Rechtschreibreform, Internet-Welsch und angelsächsischer Überfremdung setzt die Forscherin eine Recherche entgegen, die von Usbekistan bis nach Papua-Neuguinea germanische Spuren jenseits der Erfolgsnummern Sauerkraut und Kindergarten sichert. So ruft der Tierpfleger im Zoo von Taschkent seine Schützlinge zur futerovka, was auch deutschstämmige Käfigbewohner unschwer als Einladung zur Nahrungsaufnahme (Fütterung) verstehen. Das etymologische Erbgut, das evangelische Missionare aus Neuendettelsau im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Land oder auf dem Bismarckarchipel von Papua-Neuguinea hinterlassen haben, gibt Aufschluss über das Auftreten der Kolonialherren: Bis heute halten sich die Begriffe singen und strafe; balaistip und giripel (Bleistift und Griffel) sind bei der Befreiung vom Kolonialjoch leider ebenso verloren gegangen wie donaveta, rintfi und saise (Donnerwetter, Rindvieh und Scheiße). Zuweilen verraten die Wort-Vagabunden, welche Erinnerungen das Ausland mit germanischen Eindringlingen verbindet. Im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika halten sich hartnäckig die Wörter Bett, Schubkarre und Hühnerauge. Allerdings verzaubert der Otyi-Herero-Dialekt die prosaischen Überreste der Besatzer durch originelle Vorsilben in blumige Exoten: Der Afrikaner geht ins ombete, schiebt die okatjipikara und pflegt sein okahinauke. 158 d e r Erste Hinweise darauf, dass sich hinter so manchem Kauderwelsch ein verschollen geglaubter Lehnwortschatz verbirgt, fand Autorin Stiberc, deren ebenso amüsante wie informative Deutsch-Suche als Buch erschienen ist, bei Tante Ibolya*. Die in Ungarn geborene Verwandte der Philologin radebrechte sich zeitlebens durch ihre österreichische Wahlheimat. Erst die linguistischen Ermittlungen der Nachfahrin erwiesen, dass Ibolyas Gulasch vom sparhert keineswegs eine besonders knauserige Portion andeuten sollte, sondern dass sparhert noch in einem 1959 erschienenen ungarischen Wörterbuch als gebräuchliche Entsprechung für Küchenherd galt. Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ die deutsche Sprache erwartungsgemäß im Militärvokabular. Wahrhaft international hat sich der Blitzkrieg eingeprägt, schwedisch: blixtkrig, russisch: blickrig und ansonsten schlicht: blitz. Seit die Türken im Ersten Weltkrieg mit den Deutschen verbündet waren, fährt der feldmar≠al im akut (Notfall) mit dem panzer und schießt mit seiner filinta (Flinte). Der Russe verlässt sich an der Front zwar nur noch ungern auf die gaubica (Haubitze); aber der fligeladjudant hat sich zum Glück behauptet. M. FENGEL S P R AC H E Sprachforscherin Stiberc Schubkarre und Hühnerauge in Afrika Die eingangs erwähnte Story, die superman, bakfis und pudel im sitz-bath vereint, komponierte Sprach-Detektivin Stiberc mit Hilfe englischer, ungarischer, russischer und slowakischer Vokabeln, die ihre Herkunft unschwer erkennen lassen. Die Weltreise durch Geschichte und Beziehungen der Völker und Sprachen zeigt, wie belebend der Wortschatz der Dichter und Henker auf andere Kulturen zu wirken vermag. Das hätte Mark Twain nicht gedacht. * Andrea Stiberc: „Sauerkraut,Weltschmerz, Kindergarten und Co.“. Herder Verlag, Freiburg; 192 Seiten; 17,80 Mark. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Der wünschte „der schrecklichen deutschen Sprache“, sie möge „zu den toten Sprachen gestellt werden, denn nur die Toten haben genügend Zeit, um sie zu lernen“. Dabei wirkt deutsches Wortgut überaus possierlich, wenn es sich beispielsweise ins Japanische einnistet. Hier und da ein u, schon wird die Chose ganz romantisshu (romantisch). Gegen hisuteri (Hysterie) hilft bamukuhen (Baumkuchen) oder ein wina-shunittseru (na?). Und nimmt der Mann seine inpotentsu mit humoru, dann kommt es vielleicht doch noch – yoderu! – zum schönsten orugasumusu. Bettina Musall Bestseller Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (1) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 1 (1) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 2 (2) John Irving Witwe für ein Jahr 2 (2) Waris Dirie Wüstenblume Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark 3 (3) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 3 (3) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 4 (4) Henning Mankell Die fünfte Frau 4 (5) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark Zsolnay; 39,80 Mark 5 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 5 (4) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 6 (5) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 6 (6) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 7 (7) John Grisham Der Verrat 7 (7) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 8 (8) Marianne Fredriksson Simon 9 (9) Maeve Binchy Ein Haus in Irland 8 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Droemer; 39,90 Mark Rowohlt Berlin; 39,80 Mark W. Krüger; 39,80 Mark Der Manager, der aus der Vorstandskälte kam, fordert Visionen statt Bilanzen 10 (12) Paulo Coelho Der Alchimist Diogenes; 32 Mark 11 (13) John le Carré Single & Single 9 (10) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark C. Bertelsmann; 46,90 Mark 10 (8) Jon Krakauer In eisige Höhen Der Schriftsteller, der aus dem diplomatischen Dienst kam, legt einen neuen Thriller vor Malik; 39,80 Mark 11 (11) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 12 (11) P. D. James Was gut und böse ist Droemer; 39,90 Mark 12 (12) Gary Kinder Das Goldschiff 13 (10) Minette Walters Wellenbrecher Goldmann; 44,90 Mark 14 (15) Tom Clancy Operation Rainbow Heyne; 49,80 Mark 15 (14) Terry Brooks Star Wars – Episode 1: Die dunkle Bedrohung Blanvalet; 29,90 Mark Malik; 39,80 Mark 13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 14 (14) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 15 (15) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch Berlin; 39,80 Mark d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 159 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma Länger als nötig? AT O M K R A F T Geforderte Kernkraftwerks-Laufzeiten ... Lebensdauer begrenzt MÜLLER-PLAN: ATOMWIRTSCHAFT: B’90 /DIE GRÜNEN: 35 Jahre 42 Jahre 25 Jahre (rund 35 Volllastjahre inkl. Unterbrechungen) . . . und Laufzeiten der in den vergangenen fünf Jahren stillgelegten kommerziellen Anlagen D ie im Ausstiegspoker zwischen Bundesregierung und Stromwirtschaft derzeit verhandelten Laufzeiten kommerzieller Atomkraftwerke werden in der Realität praktisch nie erreicht. Das ergibt sich aus den soeben fertig gestellten Statistiken („Nuclear Power Reactors in the World“, Ausgabe 1999) der Internationalen Atomenergieagentur IAEA in Wien. 24 große Meiler, die in der vergangenen Dekade in den westlichen Industriestaaten vom Netz genommen wurden, kamen danach auf Betriebszeiten zwischen 12 und 28 Jahren. Seit Beginn der Kernenergienutzung wurden weltweit 87 kommerzielle Reaktoren eingemottet. Ihr Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der jeweiligen Stilllegung: rund 18 Jahre. Der Methusalem unter den Leichtwasserreaktoren, zu denen auch alle 19 deutschen Meiler zählen, ist derzeit das knapp 31 Jahre alte Kraftwerk Obrigheim am Neckar. Den Siedewasserreaktor Würgassen an der Weser hingegen schaltete sein Betreiber PreussenElektra 1995 ab – nur 23 Jahre nach der Inbetriebnahme. Auslöser des vorzeitigen Endes waren schwere Materialfehler im Innern des Reaktordruck- Leistung DPA Land Name Abriss am AKW Würgassen (1996) behälters, deren Behebung rund 400 Millionen Mark verschlungen hätte. Überall auf der Welt, so die Beobachtung von Fachleuten, gehen die Meiler zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr in die Knie. Dann rechnen die Betriebswirte aus, ob sich eine Nachrüstung noch lohnt. Das wird wohl immer seltener der Fall sein, weil Strom in den meisten westlichen Industriestaaten zunehmend unter harten Wettbewerbsbedingungen erzeugt wird. Die IAEA-Statistiken bestätigen diese Tendenz vor allem für die USA und Kanada, die zu den Pionierländern der kommerziellen Kernkraftnutzung gehören. In den USA hat- abge- Laufzeit 1998 1997 1997 1997 1997 1998 1998 1997 1995 1994 1998 1997 1998 1995 1996 28 (MW netto) schaltet Millstone 1 Pickering 1 Pickering 2 Pickering 3 Maine Yankee Zion 1 Zion 2 Pickering 4 Würgassen Bugey 1 Bruce 3 Bruce 1 Bruce 4 Bruce 2 Haddam Neck 641 515 515 515 860 1040 1040 515 640 540 848 848 848 848 560 26 25 24 23 22 21 20 19 Quelle: IAEA ten Ende 1996 noch 110 Meiler atomar erzeugten Strom geliefert, zwei Jahre später waren es lediglich 104. Noch tiefer ist der Einschnitt in Kanada, wo die Zahl der Kernreaktoren innerhalb von zwei Jahren von 21 auf 14 abstürzte. MEDIZIN U M W E LT Leuchtende Fratze Wespen gegen Kornkäfer E MASSACHUSETTS MEDICAL SOCIETY ine „tolle Überraschung“ erlebten zwei Mediziner am Wormser Kinderkrankenhaus bei der Untersuchung eines Zehnjährigen. Der Patient klagte über „diffuse Bauchschmerzen“, ehe er verschämt eingestand, einen „nicht näher definierten Gegenstand“ verschluckt zu haben. Da dieser Fremdkörper zu inneren Verletzungen hätte führen können, führten die Klinikärzte Tobias Wenzl und Heino Skopnik eine Gastroskopie durch. Durch die in den Magen eingeführte Optik „starrte mich plötzlich“, so Skopnik, „die Fratze einer Comicfigur an“. Den herausgeangelten Fremdkörper identifizierten die Mediziner als Spielzeugtaschenlampe, die den Aufenthalt im Säureumfeld des Magens unbeschadet überstanden hatte. Skopnik: „Sie ließ sich noch anknipsen.“ Der Patient wurde als geheilt entlassen. Spielzeugtaschenlampe im Magen d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Z oologen der Freien Universität Berlin arbeiten an der Entwicklung eines ökologisch unbedenklichen Schutzes von Getreidevorräten vor dem Kornkäfer. Bislang gehen Landwirte mit giftigen, meist brom- oder phosphorhaltigen Sprühmitteln gegen den seit biblischen Zeiten gefürchteten Schädling vor. Die Berliner Forscher glauben nun, dass eine nur millimetergroße Wespe, die ihre Eier in die Larven des Kornkäfers legt und diese dadurch abtötet, das Problem biologisch lösen könnte. Solche Erzwespen (Lariophagus distiguendes) waren, wie Projektleiter Johannes Steidle mitteilt, mit ihrem Spürsinn in der Lage, in einem Versuchssilo 200 befallene Körner aufzuspüren und ihre Eier darin abzulegen. Dabei war diese Aufgabe weit schwieriger als die buchstäbliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die Erzwespen mussten sich, um die 200 befallenen Körner zielsicher zu finden, durch 600 Millionen Körner wühlen. 161 Computer F. SCHUMANN / DER SPIEGEL Prisma MIKROCHIPS „Chance für Europa“ Tremblay: Bei „Majc“ unterscheidet der R. HOUSER Der Computerhersteller Sun Microsystems präsentiert nächste Woche einen völlig neuen Mikroprozessortyp. Mit „Majc“ (sprich „Magic“) will Sun-Entwickler Marc Tremblay, 37, die Vorherrschaft von Microsoft und Intel angreifen. Tremblay SPIEGEL: Warum entwickelt Sun einen neuen Prozessor? Haben die herkömmlichen PC nicht genug Reserven? Tremblay: Das nächste Jahrzehnt wird das Jahrzehnt der Multimedia-Angebote.Wir glauben, dass für Video, Audio, digitale Kommunikation und 3D-Grafiken eine völlig neue Generation von Mikroprozessoren notwendig ist. Sie muss sehr viel schneller sein, dabei aber erschwinglich bleiben. SPIEGEL: Wie wollen Sie das erreichen? Prozessor nicht mehr zwischen traditionellen Daten – wie zum Beispiel Texten – sowie Musik- oder Grafikdaten. Außerdem mussten wir bei der Entwicklung nicht darauf achten, dass das System kompatibel zu Vorgängern ist, was stets viel Leistung verbraucht. SPIEGEL: Bringt Sun demnächst eine Spielekonsole mit „Majc“-Chip heraus? Tremblay: Nicht Sun selbst, aber warum nicht andere Hersteller? Als Erstes produzieren wir einen Computerchip mit mehreren Prozessoren darauf, die sich die Arbeit teilen. Zu Hause erledigt der Chip zum Beispiel Spracherkennung, spricht, entschlüsselt Videodaten und zeigt Videokonferenz-Kanäle. SPIEGEL: Wollen Sie Intel und Co angreifen? Tremblay: „Majc“ ist eine Chance für Europa. Die Entwicklung ist unabhängig von der amerikanischen Microsoft-IntelVorherrschaft. Es ermöglicht neue Geräte und vor allem neue SoftwareAnwendungen, bei denen Europa sehr viel stärker ist als die USA. SPIEGEL: Sie haben sich schon einmal an einem Projekt versucht, bei dem ein Prozessor Java-Befehle versteht. Doch „Picojava“ gilt als gescheitert. Tremblay: Mit der neuen Entwicklung verfolgen wir einen pragmatischeren Ansatz. Auf „Majc“ laufen neben Programmen, die in Java programmiert sind, auch Anwendungen, die in der verbreiteten Programmiersprache „C“ oder „C++“ geschrieben wurden. Die Programmierer müssen sich also nicht umstellen. „Mozart’s Music Box“ U N T E R H A LT U N G S E L E K T R O N I K Komprimierte Lieder vom CD-Player M P3, die bekannte KomprimierungsTechnik für Musik aus dem Internet, hat einen entscheidenden Haken: Wer MP3-Aufzeichnungen hören will, braucht bislang stets einen PC. Jetzt bieten verschiedene Hersteller Geräte an, die ohne PC normale Audio-CDs ebenso abspielen können wie CDs mit MP3-Musikdaten. In „Mozart’s Music Box“ (449 Mark), vertrieben etwa von der Harrisleer Firma „ComLine“, steckt ein Rechner, der die Funktion des PC übernimmt. Das Gerät wird wie ein normaler CD-Player an die Stereoanlage angeschlossen. Für entsprechende MP3-CDs sorgt die Hamburger Agentur „cnt medien“. Ende des Monats erscheint das „Paradoxon Electronic Dance Archive“, acht Audio-CDs wurden auf eine einzige MP3-CD komprimiert. Noch weiter geht die amerikanische Firma Request. Ihr MP3-Player „Audiorequest“ (ab Herbst für 799 Dollar) wandelt automatisch Musik von Audio-CDs in MP3-Daten und speichert so bis zu 150 Stunden Lieder. LEBENSHILFE Online-Zentrale für Rollstuhlfahrer ie Recherche in eigener Sache scheitert mitunter schon am hürdenreichen Weg zum Buchhändler. Ohne physikalische Hindernisse hingegen finden Querschnittsgelähmte jetzt Informationen im Internet. Ende dieser Woche eröffnet der Hamburger Verein „startrampe.net e.V.“ das „erste umfassende deutschsprachige Online-Angebot“ für Rollstuhlfahrer. Neben Diskussionsforen und „Chats“ wollen die Betreiber ein laufend aktualisiertes redaktionelles An162 J. RILEY / TONY STONE D Rollstuhlfahrerin am Computer d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 gebot ins Netz stellen. Geplant sind unter anderem medizinische Informationen, die Veröffentlichung von spezifischen Gesetzestexten und eine Expertenvermittlung. Das Projekt wird vom CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble, dem ARD-Moderator Ulrich Wickert und der evangelischen Bischöfin Maria Jepsen unterstützt. Damit auch Spastiker von den Diensten profitieren können, fallen die Navigationselemente auf den Webseiten besonders großzügig aus. „Wir haben die technischen Möglichkeiten des Internet so weit wie möglich ausgenutzt“, sagt Miriam Wiese von der projektverantwortlichen Hamburger Agentur www.startrampe.net „GiveMe5“. Werbeseite Werbeseite Titel „Ich sehe Richtung Paradies“ MEIGNEUX / SIPA PRESS W enn das Licht ausgeht und Startenor Luciano Pavarotti trällernd aus der Kulisse steigt, ist meist große Oper angesagt. Diesmal geht es um mehr: Die Sonne selbst wird sich verdunkeln und der Sangesmann – was sonst? – „O sole mio“ anstimmen. Gleich gegenüber vom Parlamentspalast in Bukarest, erbaut vom letzten kommunistischen Fürsten der Finsternis, Nicolae Ceau≠escu, wurde eine Freilichtbühne aufgebaut. Pavarotti als Lichtgott, der Mond als düster heranrollender Beelzebub – 100 000 Gäste wollen den kosmischen Zweikampf miterleben. Auch andernorts dürfte Gedränge entstehen. Mittwoch dieser Woche ist der Tag der großen Eklipse. Mit mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit fegt ein schwarzer Blitz quer über die Kernlande Europas. Der Mond schiebt sich vor die Sonnenscheibe und wirft einen etwa 100 Kilometer breiten Schatten auf die Erde. Finsternisbeobachter mit Folienbrillen Ohne Schutz droht Erblindung d e r „Winde der Finsternis“ (ausgelöst durch den plötzlichen Temperaturabfall) werden in der Schattenschneise wehen. Millionen Schaulustige werden ihre Hälse recken. Wissenschaftler an Bord einer Concorde wollen hoch über dem Atlantik in den Kernbereich der Eklipse eintauchen. „Jahrhundertereignis“, „Jagd nach dem Schatten“, das „Sonnen-Versteckspiel“ – seit Tagen machen die Medien Stimmung für das fulminante Natur-Spektakel. Reiseveranstalter rechnen mit einer Völkerwanderung in die Zwielichtzone. München erwartet 200 000 Gäste, Stuttgart 500 000. „Die Nachfragen“, schreibt die „Stuttgarter Zeitung“, „brechen alle Rekorde.“ Die Massen lockt ein seltenes Zauberspiel. Irisierende Wolken, mystisch wirkende Farbeffekte sowie ein Gefühl kolossaler Fremdheit haben die Himmelsforscher angekündigt. Der Heidelberger Astronom Jakob Staude vergleicht das Phänomen gar mit dem Erlebnis des eigenen Todes (siehe Interview Seite 170). Zugleich mischt sich Grusel in das Hochgefühl. Ist es Zufall, dass die Eklipse mit s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 S. NUMAZAWA / ASTROFOTO Dunkeldeutschland überall: Am Mittwoch dieser Woche können die Bundesbürger die letzte Sonnenfinsternis des Jahrtausends bestaunen. Astronomen warnen: Eklipsen wirken betörend wie Rauschmittel. Die Polizei rechnet mit Verkehrschaos, Spökenkieker erwarten den Weltuntergang. 12:20 12:40 13:10 12:46 Moskau Paris Grad der Sonnenbedeckung in Prozent 12:23 Hamburg Berlin Hannover 92 Magdeburg Münster Leipzig Kassel 96 Köln Dresden Erfurt Koblenz Frankfurt am Main Karlsruhe 100 99 98 TSCHECHIEN Nürnberg Regensburg Stuttgart Augsburg München ÖSTERREICH 96 12:30 Uhr 12:35 12:40 Zeitpunkt der totalen Sonnenfinsternis (MESZ) Totale Sonnenfinsternis „Beten hilft immer“ Bukarest Außenministers werde demnächst durch „mächtige Feinde“ besiegelt. Beim Kanzler dagegen führe die Eklipse nur Mitteleuropäische zur „vorübergehenden Schwä12:43 Sommerzeit (MESZ) 13:10 chung seines Durchsetzungswillens“ – sie bleibt mithin folzwei Minuten 23 Sekunden in genlos. Doch selbst nüchterne Betrachter Transsilvanien, der Heimstatt kommen ins Grübeln. Ort und Zeitpunkt Draculas, am längsten dauert? der Eklipse besitzen eine merkwürdige Hat nicht der Mathematiker und Symbolkraft. Pünktlich zum Ende des MilHellseher Nostradamus (1503 bis lenniums huscht das Zwielicht quer über 1566) ausgerechnet für den Som- das christliche Abendland – und gemahnt mer 1999 einen „Schreckenskö- damit an dessen Wurzeln. Als der Heiland nig“ angekündigt, der vom Fir- starb, verdunkelte sich der Berg Golgatha von der sechsten bis zur neunten Stunde. mament herabsteigt? Bis ins Zentrum der politi- So steht es jedenfalls in der Bibel. Nicht minder sinnfällig deucht die Richschen Macht soll das vermeintlich fluchbeladene Phänomen tung, die der Pfad der Finsternis nimmt. seinen Einfluss nehmen. Der Gleichsam im Rückwärtsgang durchmisst bayerische Astrologe Jonas Her- der Mondschatten jene Strecke, über die zog hat das Sternbild von Josch- der Steinzeit-Mensch einst seinen zivilisaka Fischer untersucht. Seine torischen Siegeszug antrat: Zuerst vor der Diagnose: Das Schicksal des Ostküste Nordamerikas auftauchend, rast Rom Athen Bremen 98 99 100 Zone der totalen Finsternis Wien Kiel 88 Essen 13:07 Berlin London d e r s p i e g e l Verlauf der Sonnenfinsternis am 11. August 1999 3 2 / 1 9 9 9 165 chen und DaimlerChrysler in Stuttgart werden während der Finsternis keine Autos mehr montiert; in der Schwaben-Kantine gibt es „Schwarze Nudeln“. Der Triebwerkshersteller MTU lässt morgens am Werkstor Schutzbrillen verteilen. Der Computerriese IBM lädt seine Mitarbeiter zur außerplanmäßigen Betriebsfeier mit „mystischen Elementen“. Die Sternenforscher nehmen vor all dem Mummenschanz Reißaus. Im Schwarzen Meer liegt eine Armada von Kreuzfahrtdampfern auf der Lauer. Deutsche Sonnenphysiker reisen auf dem Traumschiff MS „Vistafjord“ Richtung Russland. Der Luxusliner „Stella Solaris“ läuft von Athen aus in den Bosporus ein. Mit an Bord: zwei hochkarätige Astronomen aus den USA. Nur im freien Feld, umgeben von einem hohen Himmel und unbebauter Natur, empfehlen Astronomen, sei der irritieren- F. STOCKMEIER / ARGUM er über die westliche Hemisphäre bis in die Türkei und nach Persien zurück – den Ursprungsländern des Ackerbaus. Ein solches Jahrtausend-Ereignis will gefeiert werden. Rechtzeitig zum kosmischen Blackout hat Paris auf der Place de la Concorde die weltgrößte Sonnenuhr (Höhe: 33 Meter) errichtet. Jordanien und Syrien erklärten den 11. August prompt zum Nationalfeiertag. Entlang der Linie Szombathely–Siófok–Szeged erwarten die ungarischen Behörden fünf Millionen Schaulustige. In der „Druidenlandschaft“ von Cornwall, übersät mit neolithischen Hünengräbern und Steinkreisen, werden illegale Festivals und Kult-Treffen befürchtet. Die Feldwege sind mit großen Steinen abgesperrt worden. Und schon balgt sich das Publikum um die besten Plätze. Rund um den Chiemsee wird ein Eklipsen-Ansturm erwartet. Das Afrikanische Volkstänzer* „Sonnenbeschwörung aus Ghana“ Dreh-Restaurant im Münchner Olympiaturm ist seit Monaten ausgebucht. Volle Hotels und Campingplätze melden die Veranstalter – nahezu alle Städte und Gemeinden Süddeutschlands, die in der Totalitätszone liegen, machen auf Event. Im Angebot sind Folklore, Feuerwerk und gute Laune. Saarbrücken hisst die Fahnen für ein „Fest der Sonne“ – die Stadt feiert zugleich ihr 1000-jähriges Bestehen. Filderstadt verspricht seinen Gästen „Sun and Fun“. In Göppingen marschiert das Volk im Sternenmarsch zünftig zum Hohenstaufen hoch, dem Stammsitz der Stauferkaiser. In Weil der Stadt, Geburtsort Johannes Keplers, toben Gaukler und Magier umher. Ein Sprecher: „Wir spielen hier Mittelalter.“ Auch die Thüringer flippen aus. In Weißensee soll, zur Feier des Tages, mit einer mittelalterlichen Steinschleuder eine brennende Kugel in den Himmel geschleudert werden. Und rund um den Weißwurstäquator stehen die Bänder still. Bei BMW in Mün* Proben für die Finsternisfeier; links: in Mühlhausen; rechts: im Münchner Olympiastadion; oben: in Weil der Stadt. Unten: aufgenommen von dem japanischen Forschungssatelliten „Yohkoh“. 166 T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Titel Gaukler und Magier* „Wir spielen hier Mittelalter“ lenrogen gebeizt“ – alles gelblich Ton in Ton. Zum Abschluss wird eine „Trilogie von Melonen auf Minzsoße mit Mangomark“ gereicht. Am Stadtrand, auf dem Flugfeld des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen, versammelt sich derweil die Elite deutscher Weltraumforschung. Gegen Mittag steigt das betriebseigene Forschungsflugzeug Falcon auf. An Bord befindet sich ein Kamerateam des ZDF, das den heransausenden Mondschatten live für eine Sondersendung im Fernsehen festhält. Auch RTL, Pro Sieben oder die Dritten Programme kennen am „Tag der schwarzen Sonne“ nur ein Thema. Sogar abends folgen noch ein ARD-„Brennpunkt“ und ein ZDF-„Spezial“. Keine Frage: Das große Menetekel am Himmel bringt die Massen in Bewegung, W. M. WEBER High Noon ist angesagt. Erwartungsschwanger schwelgt die Republik im „Sofi“-(Sonnenfinsternis-)Fieber. Niemand denkt bei dem Kürzel mehr an die betagte Miss Sophie, die alljährlich im TV am Silvesterabend 90. Geburtstag feiert. Auch der Begriff Dunkeldeutschland klingt plötzlich nicht mehr ossifeindlich. Auf breiter Front, auch außerhalb des Schattensaums, bietet sich ein ungewöhnlicher Anblick. In Hamburg (85,6 Prozent Bedeckung) steht die Sonne als schmale Sichel über dem Häusermeer. Die Badegäste in Palma de Mallorca (65,2 Prozent) und in Heraklion auf Kreta (71,1 Prozent) werden beim Bräunen gestört. Kanzler Schröder im Urlaub in Süditalien bekommt von dem Ereignis ähnlich wenig mit wie Oppositionsführer Wolfgang Schäuble in den Sylter Dünen. Guido Westerwelle hingegen kann sich mit Ethno-Musiker aus Australien* „Szenen der Massenverbrüderung“ YOHKOH / ASTRODIENST de Zauber einer Eklipse erlebbar. Aber der Talkessel von Stuttgart? Experte Staude: „Genauso gut könnten sie einen Sonnenaufgang in der U-Bahn beobachten.“ Solche Nörgeleien stören die Touristikmanager kaum. Rund 300 000 ausländische Besucher, darunter Japaner und US-Bürger, werden im Voralpengebiet erwartet. Stuttgart empfängt die Karawane laut Werbebroschüre mit „fetziger Partymusik“ und einer aus hundert Teleskopen bestehenden „Fernrohrstraße“. München ruft zur großen Show ins Olympiastadion. Geboten werden Drachentänze und „Sonnenbeschwörungen aus Ghana“. Unten auf dem Grün, wo sonst der FC Bayern kickt, wird eine opulente Festtafel aufgebaut. 580 Gäste, darunter Ex-Bundespräsident Roman Herzog, nehmen teil, um ein viergängiges „Sonnenmenü“ zu verspeisen: „Carpaccio vom Lachs“, „Forel- „Freunden in München“ von der Dunkelheit beeindrucken lassen. Der FDP-Mann hat es gut getroffen. Denn nur wer im Korridor des Kernschattens weilt, kann alle Akte des Himmelsschauspiels verfolgen. Alles beginnt ganz harmlos mit dem ersten „Biss“ (Astro-Jargon): Der Mond schiebt sich über den Sonnenrand und wandert langsam zum Zentrum vor. Dieser Vorgang dauert etwa 80 Minuten. Bis zu einer Bedeckung von etwa 90 Prozent jedoch ändert sich die Wahrnehmung kaum. Die Iris vergrößert sich, das Auge stellt sich auf den fehlenden Lichteinfall ein. Dann aber wandeln sich die Lichtverhältnisse rapide. Die warmen Töne verschwinden aus der Landschaft, blau-graue und silberne Farben stechen hervor. Bilder von Luftschlieren, die „fliegenden Schatten“, kriechen mit einer Geschwindigkeit von wenigen Metern pro Sekunde über den Boden – ein Effekt wie in der Disco. Sodann hebt das große Finale an: Die Sonnenscheibe verjüngt sich immer mehr, Röntgenbild der Sonne* Janusköpfiger Lebensspender 167 Titel bis schließlich nur noch vereinzelte Strahlen durch die Mondtäler fallen. Die Sichel zerfällt in eine Kette gleißender Punkte. Sekunden später bildet sich ein letzter Lichtpunkt, der wie weißschmelzendes Metall am dunklen Mondrand hervortropft. Dann erlischt das Tageslicht, „als würde das Licht mit einem Dimmer runtergedreht“ (der Freiburger Sonnenphysiker Hubertus Wöhl). Die nachfolgende Dunkelheit taucht den Betrachter in eine verkehrte Welt. Für einen kurzen Augenblick scheint die kosmische Ordnung gestört. Das Nachtgestirn triumphiert, die Temperatur nimmt um bis zu 5 Grad ab, eine leichte Brise kommt auf. In der Ferne, außerhalb des Schattens, leuchtet schwach der Erdhorizont. Gleichzeitig erstrahlen mitten am Tag die Sterne. Beteigeuze und Wega blinken am Himmel. Auch die Planeten Saturn und Venus lassen sich bei klarer Sicht beobachten. Besonderer Leckerbissen: Der kleine Merkur, sonst fast immer vom Solargestirn überstrahlt, zeigt sich am Firmament (siehe Karte Seite 171). Nur etwa zwei Minuten haben Hobbyfotografen in dieser entscheidenden Phase Zeit, um ihre Bilder zu schießen. Nicht selten gehen die Fotos in die Hose. „Die Minuten der Totalität sind derart phantastisch, dass schon manche nicht mehr wussten, wo sich der Auslöser der Kamera befindet“, sagt Andreas Verdun vom Astronomischen Institut der Uni Bern. Für 11.30 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit haben Nasa-Experten den „ersten Kontakt“ angekündigt. Gut 700 Kilometer östlich von New York berührt der Mondschatten die Ozeanfluten und rast in Richtung Europa. Etwa 40 Minuten später erreicht er die Britischen Inseln. Cornwall fällt in Dunkelheit. Die Sonne über London * Kupferstich von Bernard Picart um 1700. (Bedeckungsgrad: 96,8 Prozent) wird nahezu schwarz. Dann wandert der dunkle Kegel über den Ärmelkanal, durch die Normandie, schrammt knapp an Paris vorbei. 5000 französische Gemeinden versinken in Schummerlicht. Dann folgen Südbelgien und Luxemburg, ehe der finstere Strahl um 12.29 Uhr deutschen Boden trifft (siehe Kasten Seite 165). Zehn Minuten später ist der Schatten bei Altötting schon wieder über die Landesgrenze gesprungen. Schließlich überzieht die Totalitätszone das Schwarze Meer und den Iran, ehe sie im Golf von Bengalen wieder ins Weltall abhebt. Insgesamt drei Stunden dauert der Spuk – eine 14 000 Kilometer lange Spur quer durch Orient und Okzident. Doch wird das Firmament überhaupt lumineszieren, und werden die Flammenzungen der Sonnenkorona aufleuchten? Die letzte totale Sonnenfinsternis in Deutschland – sie fand am 19. August 1887 frühmorgens statt – geriet zur Pleite. Schwere Wolken versperrten den Blick. Unter solchen Bedingungen wird es nur kurz schummrig. Diesmal geben die Meteorologen Hoffnung. Nach trüben Tagen mit Schauern und Gewittern werde sich, so prophezeite der Deutsche Wetterdienst in Offenbach, pünktlich zur Wochenmitte ein Hoch über Süddeutschland breit machen. Dennoch müsse am Finsternistag überall mit Wolken gerechnet werden. Am besten könne die Eklipse wahrscheinlich im Saarland betrachtet werden. Doch gerade wenn der Himmel strahlt, ist Gefahr angesagt. Das Zentralgestirn, Spender von Leben und Wärme, ist zugleich ein bösartiger Leuchtkörper. Wer die Kugel ohne Schutz betrachtet, erblindet. Zum Zeitpunkt der Finsternis, mittags um halb eins, steht die Sonne 55 Grad steil am Horizont. Unter diesen Bedingungen reicht SONNE Lunas Lightshow Die Entstehung der Sonnenfinsternis Da die Entfernung der Erde zur Sonne in etwa dem 400fachen der Erde-Mond-Entfernung entspricht und der Mond einen rund 400mal kleineren Durchmesser als die Sonne hat, erscheinen Sonne und Mond von der Erde aus etwa gleich groß. Zu einer Sonnenfinsternis kann es bei Neumond kommen, wenn der Mond zwischen Erde und Sonne steht. Aber nicht bei jedem Neumond gibt es gleichzeitig auch eine Finsternis: Da die Mondbahn gegenüber der Erdbahn um rund fünf Grad geneigt ist, fällt eine „Expositionszeit von weniger als einer Minute“, um auf der Netzhaut Schäden hervorzurufen, warnt Wolfgang Schrader von der Universitäts-Augenklinik in Würzburg. Bereits Mitte letzten Monats wandte sich der Berufsverband der Augenärzte Deutschlands an über 10 000 Schulen. Nur spezielle Folienbrillen, heißt es in dem Brandbrief, würden hinreichenden Sichtschutz bieten. Wer das Schauspiel mit dem Opernglas, durch CDs oder gar mit zugekniffenen Augen verfolge, müsse mit einer „fotochemischen Reaktion“ auf der Retina rechnen. Das Gewebe hinter der Pupille reißt auf und vernarbt. Galileo Galilei und Isaac Newton büßten ihre Neugierde fürs Solargestirn mit schlimmen Läsionen im Augapfel. Kaiser Konstantin VII. von Byzanz (959 nach Christus vergiftet) verlor beim Blick in den AKG (l.); ROGER-VIOLLET (r.) Historische Sonnenfinsternis in Peru*, Endzeitprophet Nostradamus: „Menschen rennen wie lebende Fackeln durch die Straßen“ Während der meisten NeumondPhasen fällt der Mondschatten an der Erde vorbei. SONNE MONDBAHN ERDBAHN ERDBAHN MOND Gasball auf beiden Augen an Sehkraft. Nach einer partiellen Finsternis am 17. April 1912 diagnostizierten deutsche Ärzte bei mehr als 3000 Patienten Augenveränderungen. 1970 erblindeten in den USA 145 Personen. Selbst routinierte Hobbyastronomen müssen auf der Hut sein. Die „Vereinigung der Sternfreunde e. V.“ sorgt sich um einen Wärmekollaps in den Teleskopen. Wer das Fernrohr ohne abzublenden aufs Solargestirn ausrichte, müsse mit einer „Hitzeentwicklung im Tubus“ rechnen. Das gebündelte Sonnenlicht könne „die Verkittung zwischen den Linsen zum Schmelzen“ bringen. Kein Wunder: Die Sonne, meist nur indirekt als Beleuchtungsorgan wahrgenommen, hängt wie ein kolossaler Feuerball am Himmel. Im Mittel 150 Millionen Kilometer ist das Zentralgestirn von der Erde entfernt, sein Durchmesser beträgt knapp 1,4 Millionen Kilometer. Aus der körnigen Oberfläche schießen Protuberanzen hervor, im Inneren befindet sich jener magische Ort, an dem sich Materie in Licht verwandelt. Wodurch diese gigantische Energiequelle gespeist wird, blieb lange ein Rätsel. Erst in diesem Jahrhundert kamen Wissenschaftler dem Phänomen auf die Spur. Der Gasball verschmilzt permanent – ähnlich wie eine Fusionsbombe – Wasserstoff zu Helium. Dabei verliert er pro Sekunde 4,3 Milliarden Tonnen an Masse. Im universellen Maßstab gilt die Sonne als „Zwergstern“. 100 Milliarden Sterne existieren allein in der Milchstraße – manche sind 100-mal größer als die Sonne, welche die Menschheit erhellt. Für die Entwicklung von Leben auf dem Planeten Erde sind die Bedingungen ideal. Ohne ihre Wärme gäbe es auf dem Gesteinsklumpen Erde kein Leben von solcher Vielfalt. Sonnenlicht lässt Bäume und KERNSCHATTEN des Mondes ERDE Knoten MONDBAHN (rund 5° gegen die Erdbahn geneigt) Gräser wachsen, die dann andere Lebewesen mit Luft zum Atmen versorgen. Auch als Nahrung und Brennstoff dienen die Pflanzen – jedes Stück Holz, jede Tonne Kohle und jedes Fass Öl ist konservierte Sonnenenergie. Fast auf jedem Quadratkilometer Festland müsste ein Kernkraftwerk vom Typ Biblis B stehen (insgesamt 140 Millionen Reaktoren), um eine Energieflut über die Erde auszuschütten, wie sie die Sonne gratis liefert. Und dabei ist das auf der Erde ankommende Sonnenlicht nur ein winziger Bruchteil der insgesamt ausgesandten Strahlung. Die geballte Sonnenhitze würde ausreichen, sämtliches Wasser der Ozeane in weniger als zehn Sekunden verdampfen zu lassen. Sonnenenergie ist auch der Kraftstoff, der den Klimamotor rattern lässt. Sonnen- hitze treibt die Winde und lenkt die Meeresströmungen, sie wärmt den Boden und bringt das Wasser der Ozeane zum Verdunsten, das dann über dem Land wieder abregnet. Von der Sonne hängt es ab, ob die Ernte üppig oder karg ausfällt – oder gar eine neue Eiszeit ausbricht Der Lebensspender ist auch sonst ein Januskopf. Unter dem Bombardement von Lichtteilchen erhöht sich der menschliche Sexualtrieb – aber auch die Gefahr, an Hautkrebs zu erkranken. Und noch immer ist der Glutball nicht enträtselt. Auf seiner Oberfläche ist es nur rund 6000 Grad heiß. In der Korona, die das Gestirn wie einen Schleier umgibt, werden dagegen „ständig neue Hitzerekorde gemessen“, wie der Astrophysiker Wöhl sagt. Neuen Theorien zufolge explodieren in der Gashülle unentwegt sogenannte Mini-Flares. In Himmelskult der Babylonier: Lauf der Sterne berechnet ihrem Umfeld steigt die Hitze auf bis zu drei Millionen Grad. Bei Verfinsterungen wird der brodelnde Strahlenkranz in seiner ganzen Pracht sichtbar. Etliche Millionen Kilometer reicht die Korona ins All hinaus. „Ihr Anblick ist etwas vom Schönsten, was eine totale Sonnenfinsternis zu bieten hat“, schwärmt der Sternenforscher Verdun. Bei starker Protuberanzentätigkeit kommt noch eine rötliche Färbung dazu. Dann, so Verdun, herrsche im Kernschatten auf der Erde „Götterdämmerung“. Auch der wissenschaftliche Blick kann nun mal das große Staunen nicht G. DAGLI ORTI / MUSÉE DU LOUVRE der Schatten des Mondes meist an der Erde vorbei (siehe Grafik oben). Nur wenn sich der Trabant bei Neumond nahe bei einem Knoten befindet – einem der Punkte, in denen die Mondbahn die Ebene der Erdbahn durchstößt –, verdeckt der Mond tatsächlich die Sonne. Folglich kommt es nur durchschnittlich knapp alle zwei Jahre irgendwo auf der Erde zu einer totalen Sonnenfinsternis. Knoten 169 Titel „Nur noch mit dem Tod vergleichbar“ Staude, 54, arbeitet am Max-PlanckInstitut für Astronomie in Heidelberg und ist Chefredakteur des Fachmagazins „Sterne und Weltraum“. Er beschäftigt sich vor allem mit der Entstehung von Sternen und Planetensystemen. SPIEGEL: Ihr Arbeitsplatz in Heidelberg liegt knapp außerhalb der Totalitätszone. Verfolgen Sie das Spektakel vom Büro aus? Staude: Auf keinen Fall. Ich werde mit Zelt und Wanderschuhen in die Schwäbische Alb ziehen, die liegt im Kernschatten. Dort suche ich mir eine Bergkuppe mit Blick auf einen freien, unverstellten Horizont. SPIEGEL: Haben Sie keine Lust auf SofiPartys? Die süddeutschen Städte wollen mit Musik und Tanz Millionen anlocken. Staude: Wer dem Ruf folgt, begeht einen großer Fehler. Sonnenfinsternisse sind Naturereignisse. Was Menschen dazu beitragen, ist kläglich – vor allem, wenn die Veranstaltungen unter Dunstglocken stattfinden und 170 d e r Häuserzeilen die Sicht zum Himmel chen. Aber emotional läuft etwas viel versperren. Tiefgreifenderes ab. Hirnforscher erSPIEGEL: Lohnt sich der Weg in den klären die Wirkung mit der Störung unserer Wahrnehmung. Aus Erde, HimSchattenstreifen? Staude: Unbedingt. Ich habe am 15. Fe- mel, Sonne bauen wir uns die Realität, bruar 1961 in Florenz eine totale Son- und das seit Jahrmillionen. Bei einer nenfinsternis miterlebt. Mein Vater war Sonnenfinsternis wird uns diese verMaler, ich ging dort zur Schule. Es war traute Welt schlagartig unter den Füßen Aschermittwoch, wir hatten frei. Ich weggezogen. Das Licht erlischt am hellkletterte auf die vermoosten Dachzie- lichten Tag. Dieser Effekt ist nur noch gel meines Elternhauses und sah nach mit dem Tod vergleichbar. Wenn der Osten die ganze klassische Kulisse: Fel- Mensch stirbt, glaube ich, vollzieht sich der, Bauernhöfe und ganz hinten die etwas Ähnliches, nur enorm verstärkt. Apennin-Kette. Es war morgens um SPIEGEL: Ist so der Untergangsgrusel zu 8.30 Uhr, die Sonne stand eine Hand erklären, den Astrologen derzeit im Inbreit über dem Horizont. ternet verbreiten? SPIEGEL: Und dann? Staude: Mag sein, aber Nostradamus Staude: Zuerst passierte gar nichts. Der interessiert mich nicht. Am 11. August Mond schob sich von Westen aus übers steigt kein Schreckenskönig herab. Zentralgestirn. Aber mit zunehmender SPIEGEL: Himmelsmechaniker haben anVerdunkelung wurde die Szene immer gekündigt, dass es mit dem kosmischen irrealer. Die Landschaft leuchtete in Schauspiel irgendwann vorbei ist. grauvioletten Tönen. Dann fingen die Staude: Richtig, der Mond entfernt sich Hunde plötzlich zu jaulen an. In der jedes Jahr um wenige Zentimeter von Nähe lag ein Nonnenkloster mit einem der Erde. Ist der Abstand zu groß, Kindergarten. Auch dort erhob sich im reicht es nur noch für ringförmige FinsAugenblick der Totalität ein unglaub- ternisse. liches Geschrei. SPIEGEL: Wie schade … SPIEGEL: Der Dichter Adalbert Stifter Staude: Seien Sie nicht betrübt, im Kosnannte den Eindruck „herzzermal- mos ticken die Uhren anders. Für die mend“. nächsten 150 Millionen Jahre reicht die Staude: Das Gefühl von Fremdheit ist Bedeckung noch aus. überwältigend. In der Nähe von Florenz wurde damals der Historienfilm Dreharbeiten für Historienfilm „Barabbas“ (1961): „Barabbas“ gedreht. 1000 Komparsen standen auf dem Feld. Als die Finsternis eintrat, rief der Jesus-Darsteller: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, so, wie es in der Bibel steht. SPIEGEL: Ein großer Satz, prächtig beleuchtet … Staude: Ja, aber der Regisseur hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Szene wirkte so intensiv, dass alle drei am Kreuz hängenden Schauspieler ohnmächtig wurden. Die sind richtig aus den Latschen gekippt. Auch unter den Schaulustigen brach Chaos aus. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass wir hier über etwas reden, was die meisten von uns nie zuvor erlebt haben. SPIEGEL: Physikalisch gesehen, huscht doch nur der Kernschatten des Mondes über die Erdkugel. Staude: Richtig. Das wussten, wie Plutarch berichtet, schon die alten Grie- s p i e g e l PWE VERLAG Astronom Staude F. STOCKMEIER / ARGUM Der Astronom Jakob Staude über die Wirkung von Sonnenfinsternissen auf das menschliche Bewusstsein und die erwartete Völkerwanderung Richtung Süddeutschland 3 2 / 1 9 9 9 schmälern – im Gegenteil. Eklipsen gemahnen an ein ungleiches Billardspiel: Der Mond hat einen 400-mal kleineren Durchmesser als die Sonne. Im Prinzip muss ein Stecknadelkopf einen Medizinball abdecken. Das gelingt nur, weil das Zentralgestirn – merkwürdiger Zufall – 400-mal weiter entfernt seine Bahn zieht. Kein anderer der über 60 Monde im Planetensystem ist zu solch einem Verdunkelungsmanöver in der Lage. Weder Uranus, Mars oder Pluto werden je von ihren Trabanten in Schwärze gehüllt. Es scheint, als habe sich die Natur das Sofi-Spektakel für den einzigen Planeten aufgespart, auf dem Geschöpfe leben, die es bewundern können. Liegt in dem irdischen Schattentheater mithin ein tieferer Sinn? Die meisten Wissenschaftler mögen an solche Spekulationen nicht glauben. Sie halten sich streng an die Gesetze der Planetenbewegungen, und die sind kompliziert genug. „Die Mondbewegung zu berechnen gehört zu den schwierigsten Problemen der Himmelsmechanik“, sagt Sergej Klioner vom Lohrmann-Observatorium in Dresden. Mal zerren die Gasriesen Jupiter und Saturn an dem kleinen Erdbegleiter. Dann wieder gerät er mit voller Wucht ins Schwerkraftfeld der Sonne. Im nächsten Punkt („Perigäum“) ist der Trabant nur 356 410 Kilometer entfernt, im Apogäum beträgt die Distanz 406 740 Kilometer. Was die Finsternis-Prognosen weiter erschwert: Die Mondbahn ist um fünf Grad gegen die Erdumlaufbahn geneigt – meistens schießt der Trabant deshalb an der Linie Sonne–Erde vorbei (siehe Grafik Seite 169). Entsprechend selten stehen die drei Himmelskugeln passgenau in einer Reihe. Im langfristigen Mittel treten pro Jahr 1,54 Mond- und 2,38, meist partielle, Son„Alle drei Darsteller fielen in Ohnmacht“ entlocken. Einer der letzten großen Coups gelang im Jahr 1919 dem Briten Arthur Eddington. Während einer Eklipse N maß er, dass das Licht der nenfinsternisse auf. Im Sterne von der verfinsterSchnitt knapp alle ten Sonne abgelenkt zwei Jahre kommt wurde. es irgendwo auf der Der Physiker AlErde zur totalen bert Einstein triSonnenfinsternis – umphierte. Denn oft in abgelegein seiner 1916 verJupiter Arktur nen Weltgegenöffentlichten AllSaturn O W gemeinen Relatiden. Eklipsen lassen vitätstheorie hatKastor BeteiSONNE geuze Pollux sich heute sekunte er diesen Effekt Merkur dengenau vorhervorhergesagt. Venus sagen. Jeder auf Heute sind beRigel den Mond einwirschwerliche AstroSirius kende Störfaktor ist Karawanen in ferne entschlüsselt, Computer Länder nicht mehr nötig. helfen beim Durchrechnen Unter der Regie der Sonder labyrinthischen Zahlenkonenphysiker sausen rund ein S horten. Als Bibel der astronomischen halbes Dutzend Beobachtungsstationen Prognostik gelten die Nasa-Bulletins und durchs All: darunter die Sonden „Ulysses“, der „Canon“ des „Astronomischen Büros“ „Trace“ und „Yohkoh“. Als schlagkräftigsin Wien. In dem Wälzer stehen 10774 frühe- tes Werkzeug gilt das „Solar and Heliore und zukünftige Finsternisse. Die letzte spheric Observatory“ („Soho“). Wie ein darin verzeichnete findet im Jahr 2526 nach Mini-Planet umschwirrt der Detektor das Christus statt. Zentralgestirn, er liefert Daten über TeilNatürlich lassen sich die Himmelsfor- chenwinde und koronale Massenauswürfe. scher die seltene Gelegenheit nicht entgeAn Faszination hat das nun anstehende hen, um die ausgefranste Gaswolke zu in- Verdunkelungsmanöver gleichwohl nicht spizieren. So werden sich Astro-Teams aus verloren. Jost Jahn, Sprecher der Vereiniüber 15 Ländern entlang der Totalitätszo- gung der Sternfreunde, gibt zu: „Ganz ne aufstellen und das Licht der Korona mit gleich, mit wie viel Vorwissen man das NaKameras aufnehmen. Von Frankreich bis turschauspiel betrachtet, der Anblick ist nach Indien reicht die Phalanx der Beob- überwältigend – und zugleich ziemlich geachter. spenstisch.“ Dieter Herrmann, Chef des Im Prinzip jedoch ist die Zeit der großen Zeiss-Planetariums in Berlin, musste einiForschungsfahrten passé. Im 19. Jahrhun- ge Mitarbeiter dienstverpflichten: „Sonst dert reisten Astronomen, wuchtige Fern- rennen alle in die Totalitätszone.“ rohre im Gepäck, bis in die Südsee, um „Verwirrten und betäubten Herzens“ hat dem Heliumriesen seine Geheimnisse zu Adalbert Stifter im Jahr 1842 in Wien eine totale Finsternis erlebt. Der Dichter fühlte sich umgeben von einer „namenlos tragischen Musik von Farben und Lichtern“. Den Mond nahm er als ein „unheimliches, klumpenhaftes, tief schwarzes, vorrückendes Ding“ wahr. „Gott redete, und die Menschen horchten“, schrieb Stifter. „Erhabenheit“ hat Immanuel Kant diese Erschütterung genannt. Sie stelle sich ein, so der Denker aus Königsberg, wenn der Mensch sich der fremden, unbändigen und alles verschlingenden Kraft von großen Naturschauspielen bewusst werde. Ähnlich euphorische Berichte liegen von Eclipse-Chasern vor, Finsternisjägern, die, süchtig nach dem himmlischen Blackout, den halben Erdball bereisen. „Nikotin, Alkohol, Glücksspiel mögen als Laster gelten“, gestand der Solar-Junkie Glen Schneider dem Magazin „Sky and Telescope“, „aber vom Schatten des Mondes abhängig zu sein, ist schlimmer“. Elf Sofis hat der in der Schweiz lebende Olivier Staiger abgepasst – die schönste in Iguaçu (Brasilien). „Ich falle auf die Knie, Tränen in den Augen“, notierte er nach der Der Sternenhimmel über Deutschland während der totalen Sonnenfinsternis 171 Düsterheit, „es sieht so aus, als habe eine übermenschliche Macht den Himmel geöffnet, und ich sehe Richtung Paradies.“ Ähnlich aufgewühlt gibt sich die Tier- und Pflanzenwelt in der Phase der Dunkelheit. Fledermäuse beginnen ihre Flüge, Nachtfalter schwirren aus, Hunde fangen an zu jaulen, Blumen schließen ihre Kelche. Das österreichische Fernsehen will zusammen mit der ARD auf einem Bauernhof in Oberösterreich eine Kamera postieren. Sie soll die Reaktion von Hühnern, Forschungssatellit „Soho“ (Fotomontage) Pferden, Enten und Kühen „Ständig neue Hitzerekorde gemessen“ festhalten. Anderes Beispiel: Zwischen Anfang Auch über die Abhängigkeit des Menschen von den Gestirnen ist wenig be- März und Mitte April nimmt die Tageskannt. Nur wenige Experten, Chronobio- lichtdauer in Europa am stärksten zu. Die logen genannt, beackern dieses Spezial- Tage werden sprunghaft länger. In dieser gebiet. „Homo sapiens ist ein tagaktives Zeit stieg auch die Befruchtungsquote an, Tier“, sagt Till Roenneberg vom Institut wie die Auswertungen von historischen für Medizinische Psychologie der Univer- Geburtsregistern beweisen. Der Forscher sität München, „unser gesamter Biorhyth- Roenneberg: „Neun Monate später, im Dezember und Januar, erfolgt der Babymus ist von der Sonne abhängig.“ Alkoholabbauende Enzyme etwa wer- boom.“ Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert den im Körper verstärkt erst in den Abendstunden ausgestoßen. In der Nacht erhöht wurden überproportional viele Kinder am sich die Konzentration an Dopamin im Ge- Jahresende geboren. Mittlerweile hat sich hirn. Zugleich regelt die Sonne den ge- das Phänomen bis zur Unkenntlichkeit versamten Schlaf-Wach-Rhythmus. Experi- wischt. Schuld ist die Elektrifizierung. „Die mente ergaben, dass der Zyklus etwa 24,9 Menschen halten sich kaum noch in natürStunden dauert – das Intervall muss stän- lichen Lichtverhältnissen auf“, sagt Roendig an der Sonne geeicht werden. Blinde neberg. Der Kontakt mit dem sonnenohne funktionierende Netzhaut haben die gesteuerten Lichtrhythmus geht verloren. In früheren Zeiten war dem Menschen Neigung, sich jede Nacht etwa eine Stunweit stärker bewusst, wie abhängig er de später ins Bett zu legen. ESA / ASTRODIENST Titel von der gleißenden Kugel am Himmel ist. In vielen Kulturen wurde die Sonne als Gottheit verehrt, meist als gerechtes und allwissendes Überwesen. Sonnenkulte gab es bei Ägyptern, Römern wie Indern. Für ein Zeichen heraufziehenden Unheils hielten es die Menschen, wenn sich die Sonne verfinsterte – und sich ihre Gottheit somit gleichsam von ihnen abwandte. Ängstlich standen die Untertanen dann im Sofi-Schatten – und reimten sich Mythen zusammen. Die Chinesen etwa deuteten den herankugelnden Mond als Himmelsdrachen. Nach Ansicht der Germanen machten sich bei Eklipsen die wolfsgestaltigen Riesen Hati und Sköll übers Tageslicht her. Das Pharaonenreich am Nil, sonst ein Motor des Fortschritts, zeigte an dem Naturereignis erstaunlich wenig Interesse. Aus Ägypten ist nur ein einziges EklipsenDokument erhalten. Nüchtern beschreibt dort ein Priester eine Finsternis aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Wo aber begann die Fähigkeit zur Vorhersage? Welches Volk trat dem unheilträchtigen Vorgang als erstes mit kühler Logik entgegen? Seit kurzem sind wieder mal die Erbauer von Stonehenge als Kandidaten im Gespräch. Klaus Meisenheimer, 47, vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg hält das steinzeitliche Megalith-Heiligtum in Südengland für ein prähistorisches Observatorium. Auf sechs Seiten breitet der Astrophysiker in einem Sonderheft des Fachblatts „Sterne und Weltraum“ die abenteuerlich klingende Theorie aus. Sternwarten im Holozän? Neolithische Baumeister als Entzauberer des Kosmos? NSO / ASTRODIENST Gasausbrüche auf der Sonne: In jeder Sekunde verliert der Glutball 4,3 Milliarden Tonnen an Masse Werbeseite Werbeseite Titel * Zeichnung einer astronomischen Beobachtungsstation. 174 VCL / BAVARIA ASTRODIENST Mit reiner Erkenntnis- von den Gestirnen als physische Körper lust hatte das Streben der im Raum.“ Orientalen nichts zu tun. Diese revolutionäre Einsicht gelang erst Was sie trieb, war schiere den Griechen. Der Mond bestehe aus erdAngst. Alle alten Astro- ähnlicher Substanz, erfassten im 5. vorTexte aus dem Zweistrom- christlichen Jahrhundert die Philosophen land sind Omina – Him- Anaxagoras und Empedokles. Sie hatten melswahrsagungen, kombi- das Firmament als Vollkugel erkannt. Überniert mit Übel abwehrender raschendes Fazit: Die Sterne setzten nach Magie. dem Untergang ihren regelmäßigen Lauf Wie tief die Furcht vor unter der Erde fort. Ergo muss die Erde im den Sternen verwurzelt Raum schweben. war, zeigt ein Vorgang, den Doch es gab auch Feinde des Fortvor rund 2700 Jahren Kö- schritts. Schon die Propheten des Alten nig Asarhaddon einfädelte. Testaments hatten als Wahlspruch verkünFür sein 7. Regierungsjahr det: Finger weg von Gottes Sternenzelt. hatten die königlichen Jahwe ist groß und unerklärlich. Hofastronomen eine totaDen Bibel-Autoren galt die SonnenfinsEklipse in Indien 1898*: „Fliegende Schatten“ le Mondfinsternis vorher- ternis als Ausdruck des göttlichen Zorns. „Die Idee klingt absurd“, gesteht der Ex- gesagt – eine schreckliche Prophezei- „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond perte, „aber die Beweislast ist er- ung. Denn sie bedeutete den Tod des Herr- in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn drückend.“ Sein Fazit: Stonehenge sei eine schers. Um diesem Schicksal zu entgehen, ver- kommt“, heißt es etwa beim Propheten „Finsternisuhr zur präzisen Vorhersage von fiel der Monarch auf einen Trick. Flugs ließ Joel, Ähnliches droht Jesaja an. Auch in Sonnen- und Mond-Eklipsen“. Den meisten Fachleuten hingegen gilt er einen Untertanen den Thron besteigen der Offenbarung des Johannes („die Sondas Zweistromland zwischen Euphrat und und suchte das Weite. Als die Eklipse ne wurde finster wie ein schwarzer Sack“) Tigris als erstes großes Sternenlabor der wirklich eintrat, wurde der Strohmann verdustert sich das Himmelslicht. Berühmt – und wissenschaftlich heftig Menschheit. Mit Akribie brachten die dort ermordet, der Regent kehrte zu seinen siedelnden Babylonier Maß und Ordnung Amtsgeschäften zurück. Dokumentiert in umstritten – ist die Eklipse, die während ins Sternenwirrwarr. Die Astronomen dort Keilschrift-Briefen, ist der Vorfall auf die der Kreuzigung Christi auf den Berg Golgatha fällt. Farbenprächtig hat der Evanunterteilten den Tierkreis in 30-Grad- Nachwelt gekommen. Die babylonische Sternenkunde weist gelist Lukas die Hinrichtungsszene ausgeSegmente und erfanden die dazugehörinoch einen weiteren Mangel auf: Die Mor- malt. Todwund hängt Jesus am Kreuz, im gen Symbole. Nach 1000 vor Christus – in Griechen- genländer blickten zum Firmament wie ge- Moment des Sterbens – kurz nach Mittag land dichtete gerade Homer – legt die gen eine platte Zimmerdecke, auf der die – erstirbt auch das Tageslicht. Bis in die Neuzeit wurden Sonnenfinsbabylonische Sternenkunde ein rasantes Sterne Kreise drehten. „Kein Wort von der Tempo vor. Im großen Stil beginnen die Tiefendimension“, sagt der Heidelberger ternisse häufig als Zeichen heraufziehenMorgenländer in den Metropolen Baby- Philologe Herwig Görgemanns, „kein Wort den Unheils gewertet. Der Finsternis entlon, Ninive und Uruk, das Firmament auszukundschaften. Die dänische Alt- Steinzeit-Heiligtum Stonehenge in Cornwall (Südengland) bei Sonnenuntergang: Mit mehr als orientalistin Ulla Koch-Westenholz stuft das Unternehmen als „frühest dokumentierten Fall einer wissenschaftlichen Revolution“ ein. Aus der Zeit König Assurbanipals (668 bis etwa 627) liegen unzählige astrologische Berichte vor – mit Keilschrift auf Tontafeln geritzt. Insgesamt 36 Aufgänge von Fixsternen sind in den Referenzwerken verzeichnet, ihr stetes Wandern am Himmel wurde mit Wasseruhren vermessen. Als Observatorien dienten möglicherweise riesige Tempeltürme. Eines dieser Art, der Turm von Babel, reichte 90 Meter in die Höhe. Auch die Mondbahn geriet in den Fokus der Beobachtung. Über Generationen hin sammelten die Priesterastronomen riesige Datenmengen, dann gelang eine historische Großtat. Die Babylonier entdeckten den „Saros-Zyklus“, jenen gut 18 Jahre dauernden Rhythmus, den der herumtaumelnde Mond braucht, ehe er sich wieder in derselben Position zwischen Erde und Sonne befindet. Mit dieser Formel ließen sich Eklipsen – zumindest ungefähr – vorhersagen. strömten Pestilenz und Giftwolken, hieß es etwa im Mittelalter. Den Tod Karls des Großen sollen mehrere Sonnenfinsternisse angekündigt haben. Sein Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, verschied angeblich infolge einer Eklipse – vor Schreck. Doch zur Überheblichkeit der NeuzeitMenschen besteht kein Anlass. Bis heute geht von dem Himmelsspektakel eine beängstigende Wirkung aus. Bei vielen werden verschüttete Urängste wieder wach, wenn es plötzlich duster wird. Die Vorstellung, dass die Sonne eines Morgens nicht mehr aufgehen könnte, scheint eine tief verwurzelte Menschheitsfurcht zu sein. Entsprechende Resonanz finden die Grusel-Prophezeiungen der Astrologen. Rechtzeitig zum Dunkel-Event stapeln sich in den Buchhandlungen die Sonderhefte der Astro- und Esoterikzeitschriften. Im Internet salbadert ein „Graf des Grauens zum Jüngsten Tag“. An der Uni Wien treibt Geologie-Emeritus Alexander Tollmann sein Unwesen. Der Professor hat für den August 1999 den 3. Weltkrieg anberaumt mit einer „Endschlacht bei Köln“. Die französisch-schweizerische Wahrsagerin Elizabeth Teissier glaubt, dass die Nasa-Sonde „Cassini“ (Brennstoff: 33 Kilogramm Plutonium) auf die Erde stürzt und „200 000 durch die Strahlen ausgelöste Krebserkrankungen“ verursacht. Auch der Mode-Designer Paco Rabanne heizt die Stimmung an. In seinem Buch „Das Feuer des Himmels“ lässt er die Raumstation „Mir“ auf Frankreich zerschellen. „Panik überall“, lautet Rabannes Szenario für den 11. August, „Menschen, die brennenden Fackeln gleichen, irren durch die Straßen.“ Derzeit sitzt der Kleidermacher in der Bretagne und spendet einen letzten Funken Hoffnung: „Beten hilft immer.“ „Endzeitfieber“ habe die Republik erfasst, konstatiert der Leiter des Fuldaer Diözesanreferats für Sekten und Weltanschauung, Ferdinand Rauch. „Apokalypse 2000 – Teilen wir das Schicksal von Atlantis?“, titelt ein Esoterikblatt. Auch die Zeugen Jehovas erwarten natürlich den Weltuntergang. In München bietet eine Gruppe „Lichtarbeiter“ ein Überlebenstraining an. Manche Bürger wollen am Tag der Finsternis in verbarrikadierten Kellern biwakieren – Alu-Folie vor den Fenstern. Die Atmosphäre aus Panik und Party, Untergangsstimmung und kosmischem Hochgefühl, verteilt auf Trauben von Schaulustigen in der Totalitätszone, könnte böse Folgen haben. Schon im Vorfeld, das scheint sicher, dürfte der Verkehr zusammenbrechen. Ein Tohuwabohu ist vorprogrammiert. Die französischen Behörden haben deshalb vorsorglich ein landesweites Fahrverbot für Lkw erlassen; die Fernfahrer protestieren. In Deutschland wären solche Verkehrsbeschränkungen kaum durchsetzbar. Stuttgart plant lediglich, den Anreiseverkehr in den Morgenstunden großräumig abzuleiten. „Hunderte von Kollegen“, sagt der Polizeisprecher Hermann Karpf, würden an dem Tag zum Sondereinsatz abkommandiert. doppelter Schallgeschwindigkeit fegt ein schwarzer Blitz quer über die Kernlande Europas Vor allem die Phase der Dunkelheit, in Stuttgart sind das 137 lange Sekunden, bereitet Kopfzerbrechen. Was tun, wenn die Autofahrer im Moment der Finsternis anhalten und zum Himmel schauen? Karpf befürchtet eine „hochgefährliche Situation auf den Autobahnen“. Überlegungen, alle Ampeln während der Totalitätsphase auf Rot zu stellen, wurden verworfen. Karpf: „Wenn die Behörden gezielt eingriffen, müssten sie bei Unglücken auch haften.“ In München warnt die Polizei zudem vor „dunklen Gestalten“. Wenn die Bürger minutenlang gebannt zum Himmel starren, so die Befürchtung, könnten Taschendiebe und Einbrecher leichtes Spiel haben. Keine Frage: Im Süden der Republik braut sich eine Ausnahmesituation zusammen. Niemand kann abschätzen, wie viele Menschen am Ende wirklich in die Totalitätszone strömen. Womöglich endet das Spektakel wie der Schlussakkord aus Beethovens 9. Symphonie. Der Chronobiologe Roenneberg jedenfalls rechnet für den schwarzen Mittwoch mit „Szenen der Massenverbrüderung“. Noch einmal kann sich der Mensch bewusst machen, dass er auf „einer im grenzenlosen Raum frei schwebenden Kugel“ lebt, auf der „ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat“ (Arthur Schopenhauer). Danach, im Jubel des wiedererstrahlenden Lichts, marschiert das Abendland ins 3. Jahrtausend. Oder es regnet, und die Party fällt aus. Matthias Schulz Technik COMPUTERSPIELE Jagd auf den Donnervogel Das Spiel „Pokémon“ schlägt in den USA und Japan alle Rekorde. Millionen Kinder betreiben regen Handel mit virtuellen Monstern. Begleitprodukte, vom Kinofilm bis zur Sammelkarte, sind zum Milliardengeschäft geworden. Jetzt kommen die Fabeltiere nach Deutschland. A uf den Schulhöfen dieser Welt versammeln sich neuerdings die Geschäftsleute von morgen. Bei jeder Gelegenheit ziehen sie ihre Spielcomputer, die Game Boys, aus der Tasche, stecken die Köpfe zusammen und feilschen. Es geht um heiße Ware, in den Game Boys ist sie gespeichert. Die Kinder handeln mit Fabelwesen aus eigener Aufzucht. Pelzige Springteufel kommen hier auf den Markt, gestachelte Greifvögel und rauflustige Knoblauchknollen. Wenn zwei Handelspartner sich einig sind, stöpseln sie ihre Game Boys zusammen, und schon schlüpfen ein paar digitale Kreaturen von einem Gerät ins andere. Die Tiere hausen in einem Spiel namens „Pokémon“, das die Firma Nintendo für ihren Spielcomputer herausgebracht hat. In Japan und den USA ist es zu einem gewaltigen Erfolg geworden, mehr als 15 Millionen dieser Game-BoyModule wurden bereits verkauft. Jetzt soll Deutschland von den Pokémons heimgesucht werden. Auch hierzulande könnte das Spiel zum Renner werden. Kinder lieben es, durch die Fabelwelt der Pokémons zu schwei- fen. Ihre Aufgabe besteht darin, die wunderlichen Tiere aufzustöbern, die sich dort im Terrain versteckt halten. Ist ein Pokémon erst einmal gefangen, gehorcht es dem Spieler und lässt sich trainieren für die Jagd auf die eigenen Artgenossen. 150 Tierarten bevölkern die Spielwelt – ein wimmelndes Bestiarium, das die Jäger über Wochen auf Trab hält. Das Spiel ist zu Ende, wenn von jeder Spezies ein Exemplar gefangen wurde. Allerdings kommen manche Arten überaus selten vor, und kein Modul enthält alle Pokémons auf einmal. Wer seine Sammlung komplettieren will, muss also mit anderen Spielern Handel treiben. Diese hübsche Idee hat eine regelrechte Kinder-Ökonomie hervorgebracht. Knirpse kalkulieren Tauschwerte und hecken Erwerbsstrategien aus. Fleißige Spieler trainieren ganze Herden von Pokémons eigens für den Markt, zumal hie T. EVERKE P. FRISCHMUTH / ARGUS Game Boy mit Pokémon-Spiel und da sogar Bargeld winkt. Ein seltenes, besonders kampfstarkes Untier kann leicht fünf Dollar erlösen. Die Gewinner sind, wie im wahren Geschäftsleben, nicht immer die Guten. Gerissenen Kleintierjägern fällt es leicht, einem Erstklässler die Allerweltsratte Rattata für den seltenen Donnervogel Zapdos anzudrehen – wenn der Betrug auffliegt, fließen Tränen. Manche Schulen in den USA haben den virtuellen Viehhandel deshalb schon vom Gelände verbannt. An diesem Spiel entzünden sich leicht die Leidenschaften; es geht nicht nur um Waren. In den besten Pokémons stecken viele Stunden Training. Die Spieler lassen ihre gezähmten Tiere, um deren Kampfkraft zu steigern, möglichst oft gegen freilaufende Artgenossen antreten. Dann bewerfen die Unholde einander symbolisch mit Schlafpulver, Giftstacheln oder Donnerkeilen. In Wirklichkeit aber duellieren sich nur zwei Punktetabellen. Der Wert jedes Pokémons bemisst sich nach Leistungspunkten, die bestimmen, wie viel es austeilen und einstecken kann, welche Kampftechniken es beherrscht und wie gut es darin ist. Ein erfolgreicher Angriff vermindert die Kampfkraft des Gegners und erhöht die eigene. Mit einem Wort: Dieses Spiel hat alles, was Kinder sonst hassen. Sie müssen ständig kopfrechnen, um die Punktekonten ihrer Menagerie möglichst effektiv hoch zu treiben. Für das umfangreiche Regelwerk ist ein Handbuch dringend erforderlich. Aber nicht einmal das schreckt ab. Zahlreiche Bücher zum Spiel sind bereits er- US-Spielzeugladen mit Pokémon-Artikeln, Werbeautos 176 T. EVERKE T. EV ER KE M. ZERBY / STAR TRIBUNE dacht waren, dämmerte ohnehin, so schien es, der Vergessenheit entgegen. Die neuesten Computerspiele prunkten mit kinoreifen Filmsequenzen und gleißenden Effekten. Der Game Boy nahm sich daneben dürftig aus: ein piepsendes Billigteil mit einem Monitor von der Größe einer Wohlfahrtsmarke. Aber langsam eroberten sich die Pokémons eine Gemeinde, und noch im selben Jahr kam das Getier mit einer Zeichentrickserie ins Fernsehen. Die TVProduktionsfirma war entzückt von der Fülle der 150 Charaktere. Ein solches Ensemble verhieß Stoff für ungezählte Episoden. Diese Fernsehserie flankierte im Herbst vergangenen Jahres die Einführung der Pokémons auf dem US-Markt. Allmählich erkannte der Spielegigant Nintendo, welcher Reichtum in der Horde seiner Untiere steckte: ein Genpool, Nintendo-Verkaufsshow*: 44 000 Besucher angelockt der womöglich imstande war, schienen, und das „Official Pokémon immer neue Produkte und Spiele hervorHandbook“ hält sich, man ahnt es, seit Wo- zubringen. Warum sollte die Idee auf den Computer beschränkt bleiben? chen in den US-Bestsellerlisten. Der entscheidende Schritt zur TotalverDer zuständigen Industrie ist die Begeisterung nicht entgangen. Es gibt inzwischen marktung gelang, als die Pokémon-SamFruchtriegel, Poster und Plüschtiere zum melkarten auf den Spiel, ferner Comics, Bettwäsche und Markt kamen. Damit Videos – insgesamt rund 1500 Produkte, können die Kinder die den kindlichen Furor des Habenwollens ähnliche Duelle ausanstacheln. Der Gesamtumsatz mit Li- tragen wie in der zenzgeschäften liegt mittlerweile bei neun elektronischen Welt Milliarden Mark. Pokémons begegnen den des Game Boy – aber Kindern im Imbiss und im Bekleidungsla- auf ganz altmodische den und bald auch im Kino. Mitte Novem- Weise in einem Karber startet in den USA ein Zeichentrickfilm tenspiel. Die Karten zeigen mit einem gentechnisch hochgezüchteten Pokémondie Fabeltiere mitsamt Spielkarten Super-Pokémon in der Hauptrolle. Einen solchen Rummel hätte noch vor ihren Kampfwerten. Zudrei Jahren niemand für möglich gehalten. satzkarten, gleichsam die Joker im Spiel, Anfang 1996 kam das Spiel in Japan auf stehen für vielerlei Angriffstechniken und den Markt – es erregte keinerlei Aufsehen. magische Winkelzüge bereit. Wenn ein Die kleine Firma Game Freak hatte es Spieler angreift, zieht er sein Pokémon mitmit bescheidenem Budget produziert. Und samt den passenden Zusatzkarten. Erweist der Game Boy, für den die Pokémons ge- er sich als überlegen, wird das Pokémon des Gegners als geschwächt markiert. Die Kinder begriffen schnell, welche Vorteile das bot: Plötzlich war für das Spiel gar kein Computer mehr nötig. Auch das geliebte Handeln und Feilschen ging mit den Karten ebenso gut, ja sogar besser, denn es war nicht mehr nötig, mit Game Boy und Kabel zu hantieren. Damit übersprang die Epidemie die Gattungsschranke. Inzwischen sind weltweit über 500 Millionen Pokémon-Karten in Umlauf. Die Kinder schleppen sie in dicken Sammelmappen zum Tausch mit sich herum; manche erledigen ihre Transaktionen auch von Nintendo: Kampf der Knoblauchknollen * Im Einkaufszentrum Mall of America in Bloomington, Minnesota. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 schon einfach per Post. Tauschbörsen im Internet ermöglichen den Handel in globalem Maßstab. Allein das OnlineAuktionshaus eBay hat mehr als 10 000 Pokémon-Artikel von Privatleuten und Händlern im Angebot. Karten aller Preisklassen sind hier zu ersteigern, seltene Exemplare wechseln für 50 Dollar oder mehr den Besitzer. Die Post liefert sie überall hin. Den Großteil der Kundschaft machen Erwachsene aus, die Karten für ihre Kinder suchen oder gar selbst von der Sammelwut erfasst worden sind. Manche der Bieter sind aber auch Händler, die sich anders nicht mehr eindecken können. Die US-Firma Wizards of the Coast, die das Kartenspiel produziert, schürt die Nachfrage, indem sie die Ware knapp hält. Vor sechs Jahren hat sie das legendäre Spiel „Magic: The Gathering“ auf den Markt gebracht. „Magic“ besteht mittlerweile aus mehr als 4000 verschiedenen Karten; immer noch kommen neue hinzu. Viele Motive werden nur in geringer Auflage oder als Sondereditionen gedruckt, die bald wieder vom Markt verschwinden. Es ist eine Marter, die niemals endet. Wer nicht nachkauft, kann gegen die neuesten Wunderkarten bald kaum mehr bestehen. Das ist der Kapitalismus als Kartenspiel. Mit den neuen Pokémon-Serien erschließt er sich nun auch den Kindern. Als Erstes lernen sie oft genug den Ruf nach Subventionen. Ein kampfstarkes Sortiment von Pokémon-Karten kostet leicht 200 Dollar. Da müssen die Eltern ran. In den USA strömen die Kleinen nun mit Mom und Dad zu den Verkaufsshows, die Nintendo veranstaltet. Mitte Juli, zum Auftakt einer Werbetour durch 19 Städte, kamen mehr als 44 000 Besucher in ein riesiges Einkaufszentrum bei Minneapolis. In Deutschland beginnt der Zirkus in knapp drei Wochen auf der Berliner Funkausstellung. Ab September sendet dann RTL 2 im Nachmittagsprogramm eine Pokémon-Zeichentrickserie, in der es jede Menge Tipps zum Spiel gibt. Im Oktober, wenn die Kinder konditioniert sind, kommen die ersten Game-Boy-Module auf den Markt, im November folgen die Karten. Noch zwei bis drei Jahre hofft Nintendo, die weltweite Begeisterung nähren zu können – eine Ewigkeit in der Welt der Computerspiele, wo die meisten Sensationen schon nach kurzer Zeit verglüht sind. Allerdings hat die Spielefirma offenbar Zweifel, ob die 150 Pokémons es allein so lange packen werden. Die Tüftler von Game Freak sind schon wieder am Werk. Ihr Auftrag: Erschafft 120 neue Fabeltiere. Manfred Dworschak 177 Wissenschaft selten“, lautet ein Credo der Medizinerzunft. Mit diesem Satz im Kopf, so MEDIZIN Schwarz, hätte die richtige Diagnose schneller gestellt werden können. Ebola ist in der Elfenbeinküste nur ein einziges Mal aufgetreten, als sich 1994 eine Schweizer Forscherin bei der Sektion von Affen infizierte. Sie wurde in der Schweiz Der tragische Gelbfieber-Tod eines Kameramanns weckt behandelt und geheilt. Das von Moskitos Zweifel am deutschen Medizinbetrieb: Sind Ärzte hinreichend übertragene Gelbfieber hingegen kommt in Westafrika häufig vor – vor allem da, wo vorbereitet für die Bekämpfung eingeschleppter Seuchen? Affen leben. Die Haut des Affen-Filmers Ullmann war enn du das Licht des zehnten übersät von Mückenstichen. Tages erblickst“, so beschreibt Während Ullmann am ein afrikanisches Sprichwort die Dienstagabend in die SeuKrankheit, „hast du es geschafft.“ Olaf chenabteilung 59 des Berliner Ullmann, 40, überlebte das Gelbfieber nur Virchow-Klinikums geflogen halb so lang. wurde, räumte Stationsleiter Mehr als zwei Wochen war der KameraThomas Klotzkowski die Stamann mit seiner Frau Kordula durch den tion leer. Er folgte hierbei dem Regenwald der Elfenbeinküste gezogen, um oft trainierten Notfall-Plan. Tierfilme für Kinder zu drehen. Am SonnLehrbuchmäßig wurde der tag vorletzter Woche kehrte er mit heißer Sterbenskranke isoliert – die Stirn in sein Haus in Frankfurt (Oder) Maßnahme war geboten, weil zurück. Fünf Tage später war er tot. Er starb Ebola- oder Lassa-Verdacht isoliert, aber im Zentrum des Medienbestand. Bei Gelbfieber hingeinteresses, auf grausige Weise – die Leber gen ist eine Isolation unnötig: aufgelöst, die Nieren zerfetzt, das Gehirn Für geimpfte Ärzte und Pfleger entzündet; aus seinen Adern leckte Blut. hätte keine Gefahr bestanden. Mit dem Tod Ullmanns ist eine an HysUllmann lag nun in einem terie reiche Woche in Deutschland zu Ende luftdichten Zelt, seine Atemluft gegangen. Seit Mittwoch früh, als die wurde von Viren gereinigt.Ärz„Bild“-Zeitung den „Ebola-Alarm!“ auf te und Pfleger fassten ihn nicht dem Titel trug, fürchteten viele das an: Sie hantierten mit armlanSchlimmste: dass an Bord eines Flugzeugs gen Plastikhandschuhen, als arein Killerkeim eingedrungen war, der schon beiteten sie an einem nukleaMitreisende und Angehörige befallen hatte. ren Brennstab. Dem Patienten Ein Seuchen-GAU schien greifbar nahe. Gelbfieber-Opfer Ullmann: Tödliche Stiche auf der Haut ging es immer schlechter. Diesmal blieb die Katastrophe aus, eine Am Dienstagabend, um 23.30 Uhr, trafen Tragödie war es trotzdem. Ullmann litt an vorbereitet sind auf den Ausbruch exotiGelbfieber in seiner schlimmsten Form. Er scher Seuchen. Es fehlt an Fachwissen, im Hamburger Tropeninstitut die Blutprohatte keine Chance, die Krankheit zu über- Gerät und Personal, um eingeschleppte ben von Ullmann ein. Nach Erregern von Lassa, Ebola und Marburg sollte der Viroleben. Eine Therapie gibt es nicht, erfah- Viren wirksam zu bekämpfen. Mit ihrem Anfangsverdacht „hämorrha- loge Herbert Schmitz fahnden. „Auch ich rene Ärzte auch nicht: Nie zuvor seit Beginn der Seuchenstatistik 1946 ist Gelbfie- gisches Fieber“ lagen die Ärzte in Frankfurt habe an Ebola geglaubt“, sagt er. Insge(Oder) noch richtig. Unter diesen Oberbe- samt testete er ein Dutzend möglicher ber in Deutschland gemeldet worden. Ullmanns Schicksal macht deutlich, dass griff fallen die grausamsten Seuchen dieser Viren durch, der Sicherheit halber gleich die deutschen Mediziner nur unzureichend Welt – Ebola, Lassa, Krim-Kongo, Marburg zweimal, denn eine falsche Entwarnung und eben auch Gelbfieber. Ullmanns Ärz- hätte bei Ebola, das von Mensch zu Mensch te hatten die Möglichkeit einer Gelbfieber- übertragen wird, entsetzliche Folgen haErkrankung jedoch rasch verworfen, denn ben können. sowohl Ullmann als auch seine Frau gaben Erst Donnerstagabend kam Schmitz auf an, dagegen geimpft zu sein. die richtige Fährte – Gelbfieber. „Das ErAllzu unkritisch, so zeigte sich, sind die gebnis hätte man früher erwartet“, moMediziner mit dieser Auskunft umgegan- niert der Würzburger Mediziner Schwarz. gen. Sie hatten es versäumt, sich Ullmanns In den Labors der amerikanischen Centers Impfpass vorlegen zu lassen, der in der Ru- of Disease Control (CDC) in Atlanta, der brik Gelbfieber gar keinen Eintrag enthielt. weltweit führenden Seuchenpolizei, hätte Offenbar, glaubt der Würzburger Viren-Ex- das richtige Resultat, so Schwarz, kaum 24 perte Tino Schwarz, hatten die Ullmanns Stunden auf sich warten lassen. „Gelbfieber mit Gelbsucht verwechselt“. Schmitz hingegen sagt, er habe alles Von nun an zog niemand mehr Ull- Mögliche getan: „Wir haben drei Leute, manns tatsächliche Erkrankung in Be- die CDC hat 300.“ Rund um die Uhr liefen tracht. „Viel zu früh“, sagt der Tübinger in Hamburg die Analysemaschinen. Weil Tropenmediziner Jürgen Knobloch, „wur- Berliner Labors sich zudem weigerten, de hier ‚Ebola‘ geschrien“; viel zu früh Blutbilder des vermeintlich Ebola-Kranauch sei die Presse informiert worden. ken anzufertigen, hat Schmitz in seinem Dabei war Gelbfieber von Beginn an Hochsicherheitslabor diese Arbeit auch Isolierzelt im Berliner Virchow-Klinikum „Viel zu früh wurde hier Ebola geschrien“ nahe liegend. „Häufig ist häufig, selten ist noch übernommen. Falscher Verdacht BZ - BERLIN P. PLEUL W 178 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 DPA Als die Diagnose eintraf, lag Ullmann bereits im Koma. Einen Moment überlegten die Mediziner, ob sie ihm eine neue Leber transplantieren sollten. Sie verwarfen die Idee, als er auch noch eine Gehirnhautentzündung bekam – eine typische Komplikation bei Gelbfieber. Ullmann starb am Freitagmorgen um 7.24 Uhr. Beim nächsten Seuchenalarm könnten viele sterben. Immer massiver drängen Viren aus den Tropen bis nach Rügen oder Passau – Impf-Leichtsinn und LastMinute-Reisen bahnen ihnen den Weg, dazu eine Reiselust, die immer mehr Deutsche bis in den Dschungel, in die Wüste oder in viel frequentierte Bordelle führt. Viren entern das Land auch in den Bäuchen von Flugzeugen, in Frachtlieferungen aus Übersee oder im Exoten-Obst. Über 30 neue Viren sind in den letzten Jahrzehnten neu aufgetaucht (darunter der weltweit grassierende Aids-Erreger HIV). Vorbereitet ist Deutschland auf den Viren-Ernstfall nicht. Es mangelt an Expertise: Tropenmedizin wird kaum gelehrt an deutschen Unis, Medizinstudenten kommen mit dem Fach nur selten in Kontakt; schon Malaria-Fälle werden häufig zu spät erkannt. Infektionskrankheiten, durch Impfungen und Antibiotika totgeglaubt, sind fälschlich als Bedrohung vergessen worden. In ganz Deutschland gibt es nur zwei Hochsicherheitslabore, wo gefährliche Viren untersucht werden können. Beide – in Hamburg und Marburg – sind mit Personal und Gerät nur ungenügend ausgestattet. Manfred Dietrich, TroDietrich penmediziner am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut, hält deshalb die Errichtung einer speziellen „Tropical Task Force“ für unverzichtbar. Ihm schwebt ein Team von erfahrenen Tropenmedizinern vor, die ähnlich wie die Epidemiologen des Berliner Robert-Koch-Instituts innerhalb weniger Stunden überall in Deutschland per Hubschrauber samt Ausstattung landen könnten. „Wir wären in diesem Fall gern in Frankfurt an der Oder dabei gewesen“, sagt Dietrich. Die Isolation von Ullmann hätte sich dann schnell erübrigt, „denn wir hätten die Diagnosen ausgeweitet“. Die große Angst in der Bevölkerung wäre vermieden worden – Ullmanns Tod nicht. Der Hamburger Viren-Fahnder Schmitz hat seine Maschinen unterdessen erneut anwerfen müssen. Am Freitag vergangener Woche wurden ihm Blutproben aus Frankreich geliefert. Ein Mann, der in Westafrika war, liegt dort mit Fieber und Blutungen im Krankenhaus. Der Verdacht: Lassa. Marco Evers d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 L U F T FA H R T Erst landen, dann löschen Der Luftfahrtkonzern Boeing zieht Lehren aus dem Swissair-Absturz: Bei Rauch und Feuer sollen Piloten ihr Flugzeug schnell herunterbringen. A SYGMA ls Swissair-Flug 111 im September vergangenen Jahres auf der Route von New York nach Genf plötzlich Rauch im Cockpit meldete, begann für die Piloten Urs Zimmermann und Stephan Loew ein verzweifelter Kampf. Hoch über dem Atlantik, gut 100 Kilometer südwestlich der kanadischen Stadt Halifax, versuchte die Crew die Quelle des bedrohlichen Qualms zu lokalisieren. Elf Minuten nach dem ersten Notsignal fiel die Bordelektronik aus. Sechs Minuten darauf stürzte das Großraumflugzeug vom Typ MD-11 mit 229 Menschen an Bord ins nachtdunkle Meer. Der „tragische Absturz“, so erklärt Boeing jetzt den Kunden des Flugzeugtyps MD-11 in einem vertraulichen Bulletin I. WAGNER Bergung von Swissair-111-Wrackteilen: „Rauch ist NICHT normal“ Brandübung für Flugzeug-Crews Verhängnisvoller Drill? (MD-11-99-04), habe den Luftfahrtkonzern veranlasst, noch einmal alle Prozeduren für Rauch/Feuer-Notfälle an Bord zu überprüfen. Leider gebe es „keine Ideallösung“ für solche Notfälle, schreibt Boeing-Cheftestpilot Tom Melody, der Verfasser des Berichts. Doch dann stellt er den Piloten die rhetorische Frage, wo sie sich bei einem Brand an Bord wohl besser aufgehoben fühlten: „am Boden oder in der Luft“? Ganz vorsichtig geht Boeing damit offenbar auf Distanz zu den Swissair-Piloten, die versuchten, die Quelle der Rauchentwicklung in der Luft zu bekämpfen. Bis heute ist die Untersuchung des Unglücks nicht abgeschlossen. Als sicher gilt, 180 dass ein Kabelbrand das Desaster auslöste. Trotz des elektronischen Blackouts gehorchte der Jet wohl bis zuletzt den Ruderbefehlen der Crew. Denn die wichtigsten Steuerelemente werden nicht elektrisch, sondern mechanisch betätigt. Zum Verhängnis wurde Flug SR 111, dass die Piloten „sich genauso verhalten haben, wie sie es gelernt hatten“, so ein ehemaliger Lufthansa-Jumbopilot, „und das war falsch“. Die Swissair-Crew hätte genug Zeit gehabt, die rettende Piste von Halifax im Notsinkflug direkt zu erreichen. Doch Zimmermann und Loew entschieden sich für einen normalen Sinkflug. Um die zu große Höhe für einen Direktanflug zu verringern, drehten sie deshalb von Halifax weg auf den Atlantik hinaus und verloren dadurch wertvolle Minuten. Die Piloten kündigten dem Tower zudem an, Treibstoff abzulassen, um das hohe Gewicht der Maschine zu reduzieren. Eine bei einem vorzeitigen Landeanflug übliche, aber in lebensbedrohenden Situationen unnötige Maßnahme: „Boeing“, heißt es in dem MD-11-Bulletin, „hat demonstriert, das Landungen mit dem maximalen Startgewicht“ ohne Strukturschäden der Maschine möglich sind. Zimmermann und Loew folgten einem Drill, den sie dutzendfach im Flugsimulator geübt und erfolgreich gemeistert hatten. Im Sinkflug griffen sie, wie die Auswertung der Cockpitgeräusche und Gespräche belegt, zum sogenannten Rauchschalter („Smoke Switch“), um die drei Hauptstromkreise der MD-11 nacheinander ab- und wieder anzuschalten. Auf diese Weise hofften sie, die Rauchquelle zu isolieren und der unheimlichen Bedrohung Herr zu werden. „Abhängig von der Art und dem Ausmaß der Rauchentwicklung“, warnt nun das Boeing-Bulletin, könne es „30 Minuten und länger dauern“, die erforderlichen Notfallmaßnahmen auszuführen. Die Crew „dürfe dabei nicht zu schnell zwischen den d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Schalterstellungen wählen, weil sonst eine Rauchquelle unentdeckt bleiben könnte“. Wie Piloten sich künftig in einem ähnlichen Katastrophenfall verhalten sollen, darauf bleibt Boeing eine klare Antwort schuldig. Leider sei „die Liste der Variablen zu groß“, bedauert der MD-11-Hersteller, um ein eindeutiges Procedere vorzugeben. Es bleibe dem Kapitän überlassen, die „optimale Handlungsweise“ zu finden. Bislang lehrten Hersteller wie Boeing und Airbus den Piloten, in Notfällen zunächst einmal das jeweilige Problem zu analysieren und den Flug solange wie möglich fortzusetzen. Die meisten technischen Notlagen, so das gängige Hersteller-Credo, seien mit Hilfe moderner Flugtechnik zu meistern. Entsprechend gestaltet sich der Piloten-Drill: Sie werden trainiert, eine Notlage zu analysieren und sodann Gegenmaßnahmen einzuleiten. Erst dann wird eine Notlandung erwogen. Das Unglück bei Halifax erfordert nach Einschätzung von Experten nun eine Abkehr von diesem Prinzip. Die Lehre aus dem MD-11-Absturz, meint ein ehemaliger Airline-Sicherheitspilot, müsse lauten: „Ist ein Flughafen in erreichbarer Nähe, dann nichts wie runter.“ Zu dieser Einsicht kommt letztlich auch Boeing. „Eines ist sicher“, resümiert Boeing-Testpilot Melody, „Rauch ist NICHT normal.“ Daher sollten Piloten in „allen Fällen, wo Rauch entdeckt wurde und die Quelle nicht klar geortet und behoben werden kann“, ihren Jet „as soon as possible“ landen. Die gleiche Empfehlung gelte „in allen Fällen, wo Feuer an Bord entdeckt wird, oder eine elektrische Fehlfunktion auftritt und deren Auswirkungen auf andere Bordsysteme von der Crew nicht analysiert werden können“. Nachdem „die Landeentscheidung getroffen wurde“, solle die Crew die Maschine im „Notsinkflug“ auf die nächstgelegene Piste drücken. Tim van Beveren, Ulrich Jaeger Wissenschaft TIERE Sauberer als der Mensch FOTOS: I. GAWRILOW / RUFA-PRESS Eine Moskauer Biologin entwickelt Methoden, um Schaben auszurotten. Dennoch mag die Giftmischerin ihre Opfer. B ei ihren Experimenten hat Nina Alescho, 54, schon über tausendmal getötet. Leicht ist es der Biologin nie gefallen. Vor jedem neuen Versuch spricht sie deshalb mit ihren Opfern und entschuldigt sich: „Ich bin froh, dass ich sie nicht mit meinen eigenen Händen umbringen muss.“ Seit 27 Jahren mischt Alescho im Moskauer Forschungsinstitut für Desinfektion immer neue Giftcocktails, mit denen Schaben ausgerottet werden sollen. Längst kann sie auf den ersten Blick Männlein und Weiblein voneinander unterscheiden oder erkennen, wie alt das jeweilige Krabbeltier ist. Sie hat auch gelernt, dass Schaben mit Vorliebe Quark, Bananen oder Brot fressen, gelegentlich sogar mal ein bisschen Watte. Auch hat sie entdeckt, dass den Allesfressern zu viel Wurst und Fleisch auf Dauer nicht bekommt. Und in all den Jahren des Beobachtens hat Alescho die Tiere in ihr Herz geschlossen. „Schauen Sie doch nur, was für ein Schönling, was für ein Prachtkerl“, schwärmt sie, während eine fingernagelgroße Schabe über ihre Hand kriecht. „Diese kleinen Kerle leben seit vielen Millionen Jahren auf der Erde“, sagt Alescho. „Sie haben alles überstanden: Eiszeiten, Hitzeperioden, Erdbeben – wie kann ich sie da nicht achten und lieben?“ Bisher haben die Biologen 4000 verschiedene Schabenarten identifiziert, 10 davon leben mit dem Menschen und von seinen Abfällen – vor allem für diese interessiert sich die Moskauer Forscherin. In einer Kammer neben ihrem Büro züchtet die zierliche Dame ihre Insekten, angefangen bei der Deutschen Schabe („Blattella germanica“), bis zur sieben Zentimeter langen Madagaskar-Schabe, deren Panzer wie polierter Nussbaum schimmert. Sie alle leben in kniehohen Einmachgläsern, in welche die fürsorgliche Forscherin gefaltete Pappstreifen gelegt hat: „Darunter können sich die lichtscheuen Tiere verstecken. Außerdem können sie auf der Pappe nach oben spazieren – sonst langweilen sie sich zu Tode.“ Sobald Alescho den Raum betritt, hebt ein großes Rascheln an, die Luft ist warm und riecht nach ungeputzter Wohnung. „So duften Schaben nun mal“, verteidigt die Forscherin ihre Lieblinge, im Übrigen Biologin Alescho mit Schaben: „Ekelt sich etwa ein Chirurg?“ Forschungsobjekt Schabe „Was für ein Prachtkerl!“ seien sie „sehr saubere Tierchen. Jedenfalls sauberer als der Mensch. Sie putzen sich ununterbrochen mit ihrem eigenen Speichel.“ Leider nützt das nicht sehr viel: Müllschlucker und Badezimmer bedeuten für Schaben nun einmal das Paradies, und Kot aller Art ist für sie ein wahrer Leckerbissen. Die flachen Krabbler gelten als Allergieauslöser und Träger von Krankheitskeimen wie Salmonellen oder Diphtheriebakterien. Zum Schutz der menschlichen Gesundheit sucht Alescho deshalb Verfahren, um die Schaben auszumerzen. So hat sie eine Falle mit einer hormonähnlichen Substanz entwickelt, die den Häutungsprozess der Larven stört. Die jungen Schaben können kein Chitin für ihren Panzer ausbilden und gehen jämmerlich zu Grunde. Diese Tötungsmethode haben Alescho und das Moskauer Institut patentieren lassen. Aber am Ziel sind die Schädlingskiller damit noch lange nicht. Die Schaben sind wahre Meister darin, gegen Insektizide resistent zu werden. Also setzt Alescho immer wieder aufs Neue ihre Tiere in glänzende Metallwannen, wirft ihnen Brocken voller Gift hin und beobachtet, was passiert: Kommt das d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Versuchstier anmarschiert, oder wird es durch den Geruch des Tötungsmittels abgeschreckt? Schmeckt der Köder so gut, dass die Schabe auch tatsächlich eine tödliche Dosis davon frisst? Bleibt das Lockmittel auch lange genug anziehend, oder zerfällt es, wenn es zu lange mit Sauerstoff und Feuchtigkeit in Berührung kommt? Mindestens drei Monate lang muss eine Falle ihre Wirkung entfalten, bevor das Moskauer Institut sie zur serienmäßigen Produktion freigibt. Gleichwohl glaubt die Giftmischerin nicht, dass die Kerbtiere wirklich besiegt werden können. Das beweise schon deren Fortpflanzungstempo; so vermag ein einziges Paar der Deutschen Schabe unter idealen Lebensbedingungen in einem halben Jahr bis zu 20 000 Kinder und Enkel zu produzieren. „Wir Menschen denken immer, wir seien die Krone der Schöpfung“, sagt die Forscherin. „Alles Unsinn. Ich glaube, die Natur hat uns die Schaben gegeben, damit wir nicht allzu hochmütig werden.“ Schon als Kind habe sie nichts spannender gefunden, erzählt Alescho, als herauszufinden, wie aus einem glitschigen Ei irgendwann ein Frosch wird, weshalb Schmetterlinge ihre Köpfe in Blumen stecken und wie die Ameisen sich verständigen. Da war es nur konsequent, Biologie zu studieren. Sie spezialisierte sich auf die Insektenkunde und erforschte schließlich die Wirkung von verschiedenen Insektiziden auf Fliegen. Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt zu den Schaben. Aber hat sie sich niemals geekelt? „Nein, nie!“ erklärt Nina Alescho mit fester Stimme. „Ekelt sich etwa ein Chirurg, wenn er in menschlichen Eingeweiden herumgräbt? Man muss doch seine Arbeit lieben!“ Dennoch ist sie froh, wenn sie abends nach Hause gehen kann in ihre, wie sie versichert, schabenfreie Wohnung – die einzige im ganzen Haus. Irina Schedrowa 181 Sport FUSSBALL „Auf dem Pferdemarkt“ Vor der neuen Saison hat die Bundesliga erstmals mehr als 200 Millionen Mark in neue Spieler investiert. Noch nie kassierten die Vermittler so viel Provision wie diesmal – und noch nie arbeiteten sie so trickreich für ihr Geld. Neben Paulinho, den er ohne Erfolg per Fax in Deutschland anbot, führte der Kaiserslauterer Hans Lamberz auch den Brasilianer Tanielton im Sortiment. „Ein Mann mit Power! Ungeheuer der Antritt“, hieß es über ihn, als handele es sich um eine Wurfsendung für Energiedrinks – außerdem sei er „leicht zu lenken“. Als es das vermeintliche Schnäppchen ins Vorstellungstraining beim Zweitligaclub Fortuna Köln geschafft hatte, kam dessen Kotrainer Ralf Minge zu einem eher verheerenden Urteil: „Ein Volkssportler.“ Wenn die Fußball-Bundesliga am kommenden Wochenende in ihre neue Saison geht, hat sie mal wieder ihre eigenen Rekorde gebrochen. Mehr als 200 Millionen Mark, so viel wie noch nie, investierten die 18 Vereine der Ersten Liga in neues Perso- nal. Und noch nie war dabei so augenfällig, dass die Vermittler im Hintergrund für solche Geschäfte unentbehrlich geworden sind. Nie verdienten sie so viel Geld, nie war ihr Wirken so trickreich und verwinkelt, und nie kamen sie in so großer Zahl daher. Gerhard Mayer-Vorfelder, dem Präsidenten des VfB Stuttgart und ehemaligen Minister, kommt das Gedränge am Verhandlungstisch bisweilen vor, „als ginge es um einen Staatsvertrag“. Mit der Zahl der Vermittler, Kleinhändler und Fußballgrossisten ist keineswegs die Qualität der Angebote gestiegen. 45 von weltweit 489 gemeldeten Spieleragenten haben für Deutschland die Lizenz zum * Beim Ligapokalspiel gegen Bayern München (0:1) am 14. Juli in Augsburg. Top-Investor Borussia Dortmund* 41,5 Millionen Mark zur Verstärkung GES D er junge Mann mit dem „enormen Aktionsradius“ muss eine richtige Granate sein. Nur weiß das bisher noch keiner. Selbst unter Wasser würde er vermutlich noch leichtfüßig dribbeln – so jedenfalls liest sich ein Exposé, das sein Berater neuerdings wahllos über den deutschen Markt verschickt. Paulo Henrique Barbosa alias „Paulinho“, ein „Konditionswunder“, obendrein mit brasilianischem und portugiesischem Pass, wird in dem Schriftstück als „echter Reißer ohne jegliche Arroganz“ gerühmt – besondere Vorzüge: „Bescheiden, religiös, verheiratet“. Dass ein solches Jahrhunderttalent bis jetzt unerkannt in der ersten Liga Ecuadors bei Deportivo Quevedo schlummerte, geschah laut Katalog „auf eigenen Wunsch zur Abhärtung“. A. HASSENSTEIN / BONGARTS Vermitteln vom Weltverband Fifa erworben. Die Liste umfasst ehemalige Kickprofis, Pressesprecher, je einen Grill-Gastronomen und Schmuckwarenproduzenten. Darüber hinaus bewegen sich nach Schätzungen des Berliner Anwalts und Agenten Uwe Kathmann „rund 500 bis 1000 Illegale“ auf dem Markt. Die Finessen sind in der Branche bekannt. Mit den üblicherweise unverlangt eingesandten Videos, weiß Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund, „machen die aus jeder Pflaume einen Weltklassemann“. Das Millionenspiel Fußball mit seinen explodierenden Spielergehältern weckt Be- L. BAADER Ligachef Mayer-Vorfelder, Berater Becker, Manager Calmund: „Keine Messdienerausbildung“ Spieler Riedle, Berater Vöge gehrlichkeiten. Honorare von bis zu zwölf Prozent des Jahresbruttogehalts sind bei Vertragsabschluss des Spielers gemäß deutscher Arbeitsvermittlerverordnung erlaubt. Der Ludwigsburger Anwalt und Szenekenner Christoph Schickhardt meint jedoch mehr zu wissen: Erstmals in der Bundesliga erreichten Vermittlerprovisionen für einzelne Transfers nach seinen Schätzungen diesen Sommer „die Millionengrenze“. Und manchmal würden von Agenten schon Gebühren „nur fürs Kommen“ berechnet. Manch einer hat der guten Verdienstmöglichkeiten wegen eine Umschulung auf sich genommen. Einen der spektakulärsten Clubwechsel dieser Transferperiode, den des Jungnationalspielers Michael Ballack vom 1. FC Kaiserslautern nach Leverkusen, fädelte in Michael Becker ein Vereinsmitglied der Pfälzer ein. Für die einträglichere Vermittlertätigkeit ließ sich der Berater und Anwalt als Beamter beim Europäischen Rechnungshof beurlauben. Im fremden Gewerbe hofft auch der Betriebswirt Thomas Steiner im hessischen Haiger auf beschleunigten Geschäftsgang. Der Vorstandsvorsitzende einer Unternehmensberatungsgesellschaft mit sechs Angestellten – „Doktor Steiner, wenn Sie es genau haben wollen“ – hat derzeit drei Spieler aus der algerischen Liga sowie fünf Tschechen im Angebot. Quereinsteiger Steiner, 33, will „50 000 bis 100 000 Mark“ in Sprachkurse, Kost und Logis für seine mobilen Anlageobjekte investiert haben und ahnt, „dass irgendwann mal ein Kracher dabei ist“. Der Vermitt- R. DAHMEN Unregelmäßigkeiten eingeräumt Vermittler Figer Steuergünstig umgeleitet lungsnovize muss jetzt nur noch Acht geben, dass er sich in der unübersichtlichen Welt des Fußballs nicht verirrt. So will er Kontakte zu „führenden österreichischen Vereinen“ geknüpft haben – nämlich „Luzern und Basel“. Im internationalen Spielerverkehr ist mit Komplikationen immer zu rechnen. „Ganze Busladungen mit Spielern aus dem Balkan“ hat Anwalt Schickhardt Richtung badenwürttembergische Oberliga vorbeifahren sehen, deren Chauffeure „mit einer Fuhre 150 000 Mark verdienen“. Als der Präsident Jean Löring bei Fortuna Köln zwei von sieben offerierten Kroaten zum Probetraining einbehalten und nach sechs Wochen wieder heimgeschickt hatte, bekam er sie vom nächsten Vermittler erneut angeboten. Mancher Kollege inseriert sogar im Internet. Dort bietet der lizenzierte Agent Gerd Butzeck über seine Agenturen vornehmlich Spieler zu Dumpingpreisen an. Für nur 50 000 Mark Ablöse etwa einen Schwalbenkönig aus Albanien („In dieser Saison provozierte er vier Elfmeter“); und mit dem Eintrag „100,– DM wäre schön“ in der Spalte „Gehaltsvorstellungen“ geht ein deutscher Linksaußen online. Der sucht freilich nur einen Club in der Kreisklasse. Dass die Fifa seit viereinhalb Jahren Lizenzen vergibt, hat außer Unübersichtd e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 lichkeit wenig gebracht. Manager Calmund hat „das Gefühl, dass man damit einige schräge Vögel noch legalisiert hat“, obwohl er von Spielervermittlern ohnehin „keine Messdienerausbildung“ erwartet. Für Ballack-Berater Becker ist „die Bratwurst-Lizenz der Fifa nicht mehr wert als ein Freischwimmerzeugnis“. Das entsprechende Reglement ist außerdem rechtlich umstritten. Weil Vertragsverhandlungen bei Transfers Anwälten vorbehalten sind, musste der Vermittler Wolfgang Fahrian vor dem Kölner Landgericht eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgeben. Was Verhandlung, Anbahnung, nur Beratung oder schon Vermittlung ist, lässt sich nur schwer auseinander halten. Ob etwa Giovane Elbers italienischer Agent Giovanni Branchini – nicht im Besitz einer Vermittlungserlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit – wirklich aktiv wurde, war nicht zu beweisen: Der Signore aus Mailand wurde nie im Verhandlungszimmer von Bayern München, sondern nur auf dem Oktoberfest gesehen; hier verzehrte er im Beisein des Bayern-Managers Uli Hoeneß eine Schweinshaxe, ein halbes Hendl und ein halbes Dutzend Schweinswürste. Weit verbreitet ist das Strohmann-Prinzip zur Verschleierung unerlaubter Vermittlung: Die Berater bringen zur Unterzeichnung einen Anwalt mit – denn der darf in jedem Fall Verhandlungen führen. Die besten Finten sind im Ball-Business längst nicht mehr auf dem Rasen zu bestaunen. Wenn der Spielerberater Klaus Gerster, wegen seiner Vertragsgestaltung für Andreas Möller von der Fifa vorübergehend zur Persona non grata erklärt, jetzt seinen Klienten Manfred Binz zu Kickers Offenbach lotste, nimmt daran kein Verband Anstoß – obwohl Gerster gleichzeitig Manager des Zweitligaclubs ist. Welche Vereinsmitglieder ins Transfergeschäft verwoben sind, bleibt meistens im Dunkeln. Argwöhnisch bestaunt wird in 183 Sport Millionen-Elf Die teuersten Einkäufe der neuen Bundesliga-Saison Spieler Zahlung von drei als Leihgebühr deklarierten Jahresraten à 3 Millionen Mark liegen die Transferrechte bei Leverkusen. der Branche die enge Verbindung zwischen Kaiserslauterns Trainer Otto Rehhagel und dem Vermittler Wolfgang Vöge. Der Agent mit Sitz im schweizerischen Winterthur war im vergangenen Jahr wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung vorübergehend festgenommen worden und hatte laut seinem Münchner Anwalt in zwei von sechs Transferfällen „Unregelmäßigkeiten“ eingeräumt. In dem Trainer-Doyen hat Vöge einen treuen Fürsprecher gefunden. Mehrfach habe ihm Rehhagel den Freund als Berater aufzudrängen versucht („Machen sie es mit Wolfgang Vöge“), berichtete der Nationalspieler Marco Reich. Doch der begab sich dann lieber in die Obhut des Konkurrenten Gerster. Verwundert über die Ratschläge des Trainer-Vertrauten, wandte sich auch Ballack von Vöge ab. Denn: Üblich ist mittlerweile bei Vertragsverlängerung die Zahlung eines Handgelds in Höhe einer fiktiven Transfersumme. Vöge schlug Ballack nach dessen Angaben aber vor, diese so genannte Buy-out-Summe mit Kaiserslautern zu teilen. Daraufhin lief der Spieler zu Berater Becker über, der ihm zum gewünschten Handgeld verhalf – überwiesen von Leverkusen, das darüber hinaus noch acht Millionen Mark Ablöse zahlt. Nun ist Ballack in der Pfalz als fahnenflüchtig verrufen. Dabei, erinnert Becker, habe der FCK doch in der Hoffnung auf höheres Transfergeld versucht, den Spieler zu Bayern München zu verschieben – „ja, sind wir denn auf dem Pferdemarkt?“ Immer häufiger mischen sich Trainer ins rätselhafte Maklergeschäft. Nach dem Einkauf des Mazedoniers Sgrjan Zaharievski, vom Übergangscoach Wolfgang Rolff empfohlen, hatte der VfB Stuttgart noch letzte Fragen an den Spielerberater Fahrian. Unter dessen Telefonnummer meldete sich aber nicht der Agent, sondern Rolff. 184 Ablösesumme in Millionen Mark nach Der Nigerianer Victor Ikpeba, neuer Star der diesmal mit 41,5 Millionen Mark besonders investitionsfreudigen Dortmunder Borussia, erklärte jetzt, warum er einst mit seinem früheren Nationaltrainer Clemens Westerhof aneinander geriet: Er habe sich damals geweigert, die angebotenen Vermittlerdienste Westerhofs in Anspruch zu nehmen. „Niemals“ will der niederländische Coach an Transfers seiner Spieler verdient haben. Beim Einkauf des Stürmers Markus Feldhoff musste der damalige Mönchengladbacher Manager Rolf Rüssmann ein Honorar an dessen früheren Jugendtrainer Wolfgang Maes vom KFC Uerdingen zahlen. Es war eine Art Schweigegeld – dafür, dass er das Gladbacher Angebot nicht an Dritte ausplauderte. Maes bestreitet den Zahlungseingang. R. DAHMEN * Nach Transfer von Profi Ballack Als fahnenflüchtig verrufen d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Rüssmann hat in dem Gewerbe internationale Vermittlerringe kennen gelernt sowie Leute, „die ständig drei Akkus in der Tasche haben, damit ihr Handy nicht ausgeht – und wenn die nachts in der Stadt das Rotlicht sehen, wird es für die Clubs teuer“. Auch beim Zahlungsverkehr bedienen die Vereine mittlerweile alle Wünsche der Vermittler. Der Uruguayer Juan Figer, Marktführer in Brasilien, erwirbt in der Regel selbst die Transferrechte an seinen Klienten und lässt sie auf Clubs in seinem Heimatland überschreiben. Da sind die Transfers steuergünstig abzuwickeln, und daher muss auch Bayer Leverkusen die Raten für seinen neuen Brasilianer Robson Ponte nach Montevideo überweisen. So kommen die „Provisionsjäger“, wie der frühere Torwart Jürgen Rollmann die Vermittler nennt, zunehmend in Verruf. Der Agent Ljubomir Barin wurde von einem französischen Gericht wegen Betrugs und Schiedsrichterbestechung im Auftrag von Girondins Bordeaux sogar zu zwei Jahren Haft verurteilt. Weil sie sich meistens selber das Handwerk legen, sind solche Gauner für den Kollegenkreis gar nicht mal das größte Problem. Gefürchtet sind vielmehr Trittbrettfahrer, die das Geschäft ruinieren. Als Arminia Bielefelds Manager Heribert Bruchhagen in der Wechsel-Angelegenheit Andrzej Kubica mit dessen polnischem Berater in Verhandlungen stand, meldete plötzlich auch Vöge telefonisch Honoraransprüche an. Der Transfer platzte. Erfolgreicher trat Vöge beim Wechsel des Spielers Ansgar Brinkmann von Eintracht Frankfurt zu Tennis Borussia Berlin auf den Plan. Dabei hatte der Spieler einen Beratervertrag mit dem Autohändler Michael Jankowski. Einen Alleinvertretungsanspruch gibt es nicht, und wer nicht über genügend Kontakte verfügt, hat verloren. „Die richtigen Zahlen zu fordern setzt Marktkenntnis voraus“, weiß Vermittler Becker. „Eine Million in Ulm sind viel, eine Million in Dortmund zahlt der Platzwart.“ Obwohl mit solchen Feinheiten nicht vertraut, trat auch Helmut Kohl einmal unvermutet in der Branche Spielervermittlung auf. Als Leverkusen kurz nach dem Mauerfall Andreas Thom verpflichtete und auch mit Matthias Sammer und Ulf Kirsten handelseinig wurde, hörte der damalige Kanzler bei einem Besuch in Dresden die Klagen über die Raffgier des großen Westkonzerns. Ein Anruf in der Führungsetage der Bayer AG aus dem Kanzleramt bewog ClubManager Calmund, Kirsten und Sammer zum Krisengespräch an den Chiemsee zu bestellen. Aus dem gemeinsamen Transfer, eröffnete er den Profis, werde bis zur Änderung der politischen Großwetterlage nun leider nichts. Sammer blieb bis Saisonende in Dresden, ehe er beim VfB Stuttgart eine neue Heimat fand. Jörg Kramer Werbeseite Werbeseite T. GROMIK / SIPA PRESS vier Prozent aller Einwanderer heute aus Asien kommen. Doch im Bundesstaat Queensland zog bei den Wahlen im vergangenen Sommer die fremdenfeindliche Partei „One Nation“ mit 23 Prozent der Stimmen in die Regionalkammer ein. Und Premier John Howard konnte den Marsch der Rechten ins Bundesparlament nur dadurch verhindern, dass er sich deren Parolen zu Eigen machte. Öffentlich warnte er, dass die Einwanderung zu vieler Asiaten „Probleme“ schaffe. Dieser Sicht der Dinge haben sich offenkundig auch die Olympier Australiens angeschlossen. An die Spitze der Bewegung setzte sich ein Kapellmeister aus der australischen Provinz: Victor Grieve, Musikdirektor der „Golden Kangaroo Marching Band“, überhäufte die australischen Medien mit einer unzweideutigen Kampagne: „Stellt euch vor“, so Grieve, „die Musikgruppe, die zur Eröffnung der Olympiade in Australien aufOlympiastadion in Sydney: „Die marschieren wie Soldaten“ spielt, ist mit Japanern besetzt – unmöglich.“ O LY M P I A Damit trat der selbst ernannte Patriot eine Welle der Empörung los, die sich in die Leserbriefspalten der australischen Medien ergoss. Im „The Australien“ etwa war zu lesen: „Wie können sie es wagen, diese zum AusIn Sydney häufen sich die rotten verfluchten Yanks anPannen – nach Korruption und zuschleppen oder Japsen, Umweltsünden fallen die die wir im Krieg bekämpft Australier jetzt durch Fremdenhaben?“ Als Verantwortlicher am feindlichkeit auf. nationalen Unglücksfall war schnell der Art-Director it Feierlichkeiten der aufwendigen Australische Olympiabewerber*: Mangel an Patriotismus Birch ausgemacht – dem fehArt kennt sich der Australier Ric Birch bestens aus. Schon 1984 hat- ein siebenminütiger Auftritt zugesagt wor- le erkennbar „der nötige Patriotismus, te er die Schlussfeier der Olympischen den war. Die Lokalzeitung „Register“ im genügend australische Kinder auftreten Spiele in Los Angeles inszeniert, acht Jah- südkalifornischen Orange County, wo die zu lassen“. Dann wurde Birch, dem in seiner Heire später war er für die Eröffnungszere- meisten der ausgeladenen Darsteller hermonie in Barcelona zuständig. Und auch kommen, notierte: „Australier haben mal mat der Ruf vorauseilt, arrogant zu sein, für die Olympia-Ouvertüre im nächsten wieder bewiesen, dass sie nichts als ni- weil er zu lange an feinen englischen Hochschulen studiert hat, in eine rechte Talkveaulose Ratten sind.“ Jahr hatte er genaue Vorstellungen. Gut ein Jahr bevor die olympische Flam- show gezerrt – und dabei brach er endgülZum Empfang der sportiven Weltjugend wollte der künstlerische Direktor me in Sydney entzündet werden soll, sind tig mit seinem Auftraggeber. Er vertrat die der Spiele von Sydney eine 2000-köpfige diese Jahrtausendspiele um einen peinli- Auffassung, die heimischen Kids seien oh„Marching Band“ auftreten lassen. Das chen Skandal reicher. Nachdem die Ver- nehin für derlei Aufgaben gänzlich unsind Jugend-Blasorchester, die nach ame- anstalter bereits wegen Korruption und geeignet – „denn sie marschieren wie rikanischem Vorbild in Miniröckchen und Umweltpannen ins Gerede gekommen wa- Soldaten“. Vom Socog wurde Birch unwiderruflich Paradeuniform über den Rasen marschie- ren, haben sie nun ihr vermeintlich weltren und die Stimmung in die Höhe trei- offenes Land mit einem neuen Kapitel of- zur Umgestaltung der Zeremonie verdonben. Neben 500 australischen Darstel- fenkundiger Fremdenfeindlichkeit in Verruf nert. Das Motto zum Empfang der Sportwelt heißt jetzt: Musiziert australisch. lern sollten 1500 aus dem Ausland auf- gebracht. Für die ohnehin schwindsüchtig finanDer Beschluss der rigiden Olympier fügt laufen. Doch der schöne Plan ist nun dahin. Auf sich in die politische Gemengelage des Lan- zierten Spiele, denen noch mehrere hunmassiven Druck der australischen Öffent- des. Zwar verdrängt die liberale Elite in dert Millionen Mark Sponsorengelder fehlichkeit fasste das Vorbereitungskomitee den Großstädten gern die „White Austra- len, könnte das eine kostspielige Fehlent(Socog) einen delikaten Beschluss: 1300 Ju- lian“-Politik der sechziger Jahre, als der scheidung werden. Rechtsanwälte, die verprellte US-Kids gendliche aus den USA und 200 aus Japan Kontinent für asiatische Einwanderer gewurden zu Gunsten ausschließlich einhei- schlossen blieb. Sie verweist darauf, dass vertreten, verlangen nicht nur Schadensersatz für bereits bezahlte Flugtickets und mischer Akteure vom dreistündigen Festakt im September nächsten Jahres ausge- * Nach der Vergabe der Spiele an Sydney am 23. Sep- Hotels. Sie fordern auch „Schmerzensgeld für entgangene Träume“. schlossen, obwohl ihnen vertraglich bereits tember 1993 in Monte Carlo. Jürgen Kremb DPA Yanks im Röckchen M 186 d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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(0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Ba≠kurt Sokak No. 79/4, Beyoğlu, 80060 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. 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(004202) 24220138, Fax 24220138 R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 WA S H I N G T O N Michaela Schießl, 1202 National Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 31. 7. BEGRÄBNIS Die Raumsonde „Lunar Prospector“ schlägt planmäßig am Südpol des Mondes ein und deponiert dort die Asche des US-Astronomen Eugene Shoemaker. FLÜCHTLINGE Der chinesische Dissident Xie Wanjun, der ins US-Konsulat von Wladiwostok geflüchtet war, trifft an Bord eines südkoreanischen Flugzeugs in New York ein. SONNTAG, 1. 8. FLEISCH Großbritannien feiert die Locke- rung des Exportverbots von britischem Rindfleisch mit Grillpartys und SteakSandwiches für Reisende vom Kontinent. HAFT Wegen angeblicher Fluchtgefahr wird der in Iran gegen Kaution freigelassene deutsche Geschäftsmann Helmut Hofer erneut inhaftiert. EINKAUFEN Halle, Dessau und Berlin er- klären sich zu Touristenzentren und hebeln den sonntäglichen Ladenschluss aus. MONTAG, 2. 8. RAKETEN China demonstriert mit dem Start der neuen Langstreckenrakete „Ostwind 31“ atomare Transportfähigkeit; die USA melden den erfolgreichen Testflug einer Antiraketenrakete. DIPLOMATIE Israels Premier Ehud Barak reist nach Moskau, um Jelzin zur Vermittlung im Nahostkonflikt zu gewinnen. VERKEHR Im nordostindischen Gaisal stoßen zwei vollbesetzte Züge frontal zusammen – knapp 300 Passagiere kommen um, ebenso viele werden verletzt. DIENSTAG, 3. 8. FEHLSTART Brandenburgs Oberlandesrichter erklären das Vergabeverfahren zum 31. Juli bis 6. August Bau des Berliner Maxi-Airports in Schönefeld für rechtswidrig; damit sind auch die Pläne für die Privatisierung der Berliner Flughäfen gefährdet. REISEN Das US-Außenministerium ent- schärft die Blockadepolitik gegen Kuba und erlaubt Charterflüge aus Los Angeles und New York ins Castro-Reich. SPIEGEL TV MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 SPIEGEL TV REPORTAGE Operation Frieden – Die Bundeswehr und der Krieg im Kosovo MITTWOCH, 4. 8. BÜNDNIS Die ständigen Nato-Botschafter nominieren den britischen Verteidigungsminister George Robertson zum neuen Generalsekretär der Allianz. LEBENSMITTEL Veterinäre der EU verschärfen die Auflagen für den Export von belgischem Rindfleisch. DONNERSTAG, 5. 8. UNGLÜCKE Zur Abwendung langwieriger Prozesse bieten die Firmen Swissair und Boeing den Hinterbliebenen des MD-11Absturzes einen Vergleich an. RÜCKZUG Die PKK folgt dem Aufruf ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan; sie will den bewaffneten Kampf beenden und sich aus der Türkei zurückziehen. BALKAN Die Regierung Montenegros ver- langt von den Serben ultimativ die Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien. FREITAG, 6. 8. ÜBERNAHME Die Deutsche Telekom kauft den britischen Mobilfunkanbieter One2One für knapp 20 Milliarden Mark. SPORT Der beim Rennen in Silverstone verunglückte Ferrari-Pilot Michael Schumacher wird nicht beim Großen Preis von Ungarn starten. Seine Ärzte rieten von Testfahrten dafür ab. Panzer auf dem Weg nach Prizren BMVG Dokumentation über den ersten Kriegseinsatz deutscher Truppen seit 1945. SPIEGEL-TV-Reporter waren dabei, als deutsche Panzer über die Grenze rollten: Sie dokumentierten das Flüchtlingselend und die Überwachung des serbischen Rückzugs, begleiteten Feldjäger bei der Sicherung von Massengräbern und erlebten die Bundeswehr als Ordnungsmacht im serbisch-albanischen Konflikt – der noch auf Jahre vom gegenseitigen Hass beider Volksgruppen bestimmt sein wird. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Tattoos – Gemälde für die Ewigkeit Maradona hat eins, ebenso Jean-Paul Belmondo und sogar Ötzi. Auch in Deutschland werden die einstigen Statussymbole zünftiger Seemänner immer beliebter: Mehr als zwei Millionen Menschen, so wird geschätzt, haben ihre Körper bereits mit einer Tätowierung verziert. SAMSTAG 22.10 – 23.15 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Die Weißen Nächte von St. Petersburg Mafia, Korruption, Rubelkrise – in der Fünf-Millionen-Stadt hat das Leben ohnehin zu viele Schattenseiten. Umso glücklicher sind die Bewohner, wenn einmal im Jahr wenigstens eine finstere Macht besiegt wird: in den Mittsommernächten. SONNTAG 22.15 – 23.00 UHR RTL AP SPIEGEL TV MAGAZIN Nach dem Weltuntergang – Reportage von den Schauplätzen der Jahrhundertfinsternis; Glücksspiel am Computerschirm – die riskanten Börsengeschäfte der Day-Trader; „High Noon“ auf dem Asphalt – illegale Autorennen in Berlin. Im belgischen Seebad Zeebrugge entsteht eine der größten und höchsten Sandskulpturen der Welt – 14 Meter hoch, 80 Meter lang. Thema des Bauwerks: Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 189 Gestorben Haupt-Macher der „Lindenstraße“: Bei 186 Folgen hat er Regie geführt, und auch an den übrigen war er als Co-Autor beteiligt. Der Amerikaner Moorse, der Ende der fünfziger Jahre als Beat-Poet und Bohemien in Deutschland sesshaft geworden war, verstand seinen TV-Serienjob als Handwerk, das ihm unabhängige und extravagantere Unternehmungen ermöglichte, zuletzt etwa einen essayistischen Film über den jungen Goethe auf dem Brocken. Als junger Filmemacher war Moorse Ende der sechziger Jahre zum einen durch verspielte Schwabinger Zeitgeist-Komödien („Kuckucksjahre“, „Liebe und so weiter“) bekannt geworden, zum andern durch zwei bildstarke Literaturfilme: „Der Findling“ nach Kleist, 1967, und „Lenz“ nach Büchner, 1971 (Bundesfilmpreis und Silberner Löwe von Venedig). Später wandte er sich, auch mit Dokumentationen und Popmusik-Shows, mehr und mehr der TV-Regie zu. George Moorse starb am 30. Juli in Köln an den Folgen eines Herzinfarkts. TEUTOPRESS George Moorse, 63. Er war einer der Bernhard Quandt, 96. Die robuste Gesundheit war das größte Kapital des gelernten Eisendrehers. Der streitlustige Kommunist überlebte die Raufereien der Weimarer Republik, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und erlitt von 1939 bis 1945 die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau. Zurückgekehrt in seine mecklenburgische Heimat machte sich der gebürtige Rostocker sofort an die Enteignung der Großagrarier. Mit der ihm eigenen Tatkraft versuchte der Arbeitersohn als Landwirtschaftsminister Mecklenburgs (1948 bis 1951) und als Ministerpräsident (1951 bis 1952), später als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin einen „realen Sozialismus“ herbeizuzwingen. Auch im Zentralkomitee der SED, dem Quandt 31 Jahre lang angehörte, galt er nicht als zimperlich. Im Herbst 1989, als die DDR wegen Konkursverschleppung kollabierte, schlug er vor, die „Verbrecherbande des alten Politbüros“, die „unsere Partei in eine solche Schmach gebracht hat“, sofort „standrechtlich zu erschießen“. Als auch daraus nichts wurde, resignierte er und trat dem „Rat der Alten“ der PDS bei. Bernhard Quandt starb vergangenen Montag in Schwerin. Liselott Schindling-Rheinberger, 71. Sie Nirad Chandra Chaudhuri, 101. Be- DPA 190 d e r kannt wurde er, indem er sich als Unbekannter vorstellte: „The Autobiography of an Unknown Indian“ machte den völlig unbedeutenden bengalischen Verwaltungsbeamten und Journalisten im Alter von 53 Jahren mit einem Schlag zu einer umstrittenen Berühmtheit. Churchill nannte es eines der besten Bücher, die er je gelesen habe. Wie ein indischer Karl Kraus setzte sich der sarkastische Winzling mit der Realität seines Landes auseinander und machte – nur vier Jahre nach der indischen Unabhängigkeit – keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die britischen Kolonialherren. Querköpfig bis zur Querulanz, von enzyklopädischer Bildung und ein Meister der englischen Sprache dazu, glänzte Chaudhuri vor allem mit polemisch-autobiografischen Werken. In Oxford, wohin er 1970 gezogen war, wurde er im November vorletzten Jahres an seinem hundertsten Geburtstag enthusiastisch gefeiert. Nirad Chandra Chaudhuri starb am 1. August in Oxford. H. SYKES / NETWORK kippte eine der letzten Männerdomänen des Sports. Als Liselott Linsenhoff gewann sie 1972 bei den Olympischen Spielen in München auf dem Hengst Piaff die Goldmedaille in der Dressur – was zuvor noch keiner Frau gelungen war. Auch nach ihrer Wettkampf-Laufbahn blieb die Frankfurter Unternehmer-Tochter, die schon 1956 ihren ersten großen internationalen Erfolg hatte und von 1977 bis 1982 dem Nationalen Olympischen Komitee angehörte, dem Pferdesport erhalten: In ihrer Reitanlage in Kronberg im Taunus trainierte die deutsche Dressur-Equipe. Liselott Schindling-Rheinberger starb vergangenen Mittwoch in ihrem französischen Domizil bei Antibes. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 CAMERA PRESS Register Werbeseite Werbeseite Personalien OUTLINE / INTER-TOPICS (o.); R. BAUER / ACTION PRESS (u.) J. MEYER / FOTEX Mike Oldfield, 46, britischer Popstar („Moonlight Shadow“), versetzte Schwedinnen im heiratsfähigen Alter in helle Aufregung. Der „46-jährige, angenehme, gut aussehende, erfolgreiche Musiker in geordneten finanziellen Verhältnissen“ (Selbstdarstellung) schaltete im Stockholmer Boulevardblatt „Expressen“ eine Kontaktanzeige: Der Multimillionär (geschätztes Vermögen: rund 80 Millionen Mark) sucht eine „treue, wunderbare Frau im Oldfield Alter zwischen 25 und 35 Jahren für ein romantisches Leben zu zweit“, so der Text der Gratis-Annonce. Als herauskam, wer dort nach einer ständigen Begleiterin suchte, konnte sich „Expressen“ vor Interessentinnen kaum retten. „Von der Krankenschwester über die Politesse bis hin zur EU-Sekretärin war alles vertreten“, berichtete „Expressen“Redakteurin Caroline Stein. Eine ähnliche Annonce hatte Oldfield bereits mehrmals zuvor in der Londoner „Sunday Times“ unter der Rubrik „Lonely Hearts“ geschaltet – ohne die Richtige gefunden zu haben. Der Popmusiker steht offenbar mehr auf Skandinavierinnen. In einem Interview schwärmte der Engländer vieldeutig: „Die Schwedinnen sollen ja so besonders nett sein.“ In Bezug auf Nordeuropäerinnen ist Oldfield einschlägig vorbelastet. 1994 wurde er von der norwegischen Schlagersängerin Anita Hegerland geschieden, mit ihr hat er zwei Kinder. Stone Sharon Stone, 41, amerikanische Schauspielerin und skandalträchtiger „Basic Instinct“-Star, gibt sich neuerdings als gläubige Methodistin. Stone, die sonst eher spärlich bekleidet (zuletzt im Film „Gloria“) Aufmerksamkeit erregt, fesselte diesmal in hochgeschlossenem Dress: Von der Kanzel der United Methodist Church in San Francisco hielt die regelmäßige Kirchgängerin, angefeuert von ihrem Mann, dem Journalisten Phil Bronstein, eine derart mitreißende Predigt, dass die Gläubigen in den Kirchenbänken ihr immer wieder begeistert zujubelten. Baudouin von Flüchtlingen informierte, selbst am Hotel ab. Beim Einladen von Hardrahts Gepäck klemmte die Kofferraumhaube. Baudouin griff unter den Rücksitz und zog einen langen Metallstab hervor, mit dem sie das Kofferraumschloss so lange bearbeite192 d e r te, bis der Schließmechanismus wieder funktionierte. Improvisationen dieser Art ist sie gewohnt: Die Botschaftsrätin war bereits im nordbosnischen Banja Luka eingesetzt, dann in Mazedonien und jetzt als Koordinatorin für die deutsche humanitäre Hilfe in Prizren. Für die gefährlichen Auslandseinsätze wurde sie mit einem gepanzerten Dienstwagen ausgestattet; Baudouin ist damit die einzige deutsche Diplomatin, die – nach einem Spezialtraining – auch selbst ans Steuer darf. s p i e g e l AP K. MÜLLER Ingrid Baudouin, 40, Botschaftsrätin im Kosovo, verblüffte letzte Woche den sächsischen Innenminister Klaus Hardraht, 57, mit handwerklichem Geschick. Mangels Mitarbeiter holte die Diplomatin den CDU-Politiker, der sich über die Rückkehr 3 2 / 1 9 9 9 Salvatore „Sammy The Bull“ Gravano, 54, schwatzhafter, 19facher Mafia-Killer, dessen Aussagen seinen ehemaligen Boss John Gotti und 36 andere Mafiosi 1992 lebenslänglich hinter Gitter gebracht haben, fürchtet keine Rache. Vom FBI mit einer neuen Identität ausgestattet, war die „Königsratte“, wie Gravano in der Szene fortan hieß, nach nur dreijähriger Haft entlassen worden. Nachdem er schon wegen öffentlicher TV-Auftritte für sein Bestseller-Buch „UnderGravano boss“ das offizielle Zeugenschutzprogramm verlassen hatte, gab er jetzt weitere Details aus seinem neuen Leben preis: Er arbeite in der Baubranche, wohne mit Hund und Sandsack in einem Bungalow im sonnigen Arizona und trinke Kaffee mit den Nachbarn. Einige seiner FBI-Bewacher seien gute Kumpel geworden, und die restliche Mafia sei so unterwandert, dass er rechtzeitig Wind von einem Mordauftrag bekommen würde. „Ich war Boxer. Ich weiß, was es heißt zu kämpfen. Man verliert dabei seine Angst.“ Bedingung: Die Operation darf live im Internet verbreitet werden. Sie habe keine Angst davor, den Eingriff öffentlich zu machen, sagt Arabella Churchill, in zweiter Ehe mit einem 14 Jahre jüngeren Mann verheiratet. „Ich bin, wie mein Großvater, ziemlich mutig.“ Whitney Houston, 36, US-Popdiva, die live stets einen leblosen, unnahbaren College-Girl-Appeal verströmte, präsentiert in letzter Zeit mehr Charakter und Persönlichkeit auf der Bühne. Die Mutter einer das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, hat die politische Konkurrenz ersucht, ihn im „sehr schwierigen Wahlkampf“ zu unterstützen. In einem Brief, der auch die bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig erreichte, bittet Momper „für meinen persönlichen Wahlkampf um finanzielle Unterstützung“. Und wer „auch wieder ganz persönlich im Wahlkreis helfen“ wolle, der könne vor dem Urnengang am 10. Oktober Wahlwerbung verteilen: „Eine genauere Mitteilung über Zeit und Ort wird noch rechtzeitig erfolgen.“ Der Bittbrief, so ein Sprecher Mompers, sei an rund 2500 Personen geschickt worden, die „irgendwie signalisiert haben, dass sie den SPD-Bewerber unterstützen wollen“. An solch ein Signal kann die bündnisgrüne EichstädtBohlig sich allerdings nicht entsinnen. Sie wünsche der SPD, die Umfragen zufolge derzeit bei 25 Prozent liegt, „in den eigenen Reihen ein bisschen mehr Power: Auf mich wird Momper nicht rechnen können“. Arabella Churchill, 49, Enkelin des ehe- P. BORLAND / WOMANS JOURNAL UNIVERSAL PICTORIAL PRESS, LONDON maligen britischen Premierministers Winston Churchill, mag sich nicht mehr im Spiegel betrachten. Unglücklich darüber, dass sie ihrem Großvater immer ähnlicher sieht, möchte sie durch ein umfassendes Lifting die ererbten markanten Gesichtszüge korrigieren lassen. Und weil das frühere „Vogue“-Model zwar einen großen Namen trägt, ansonsten aber knapp bei Kasse ist, will ein Schönheitschirurg aus Beverly Hills seine Skalpellkünste kostenlos unter Beweis stellen. Werbewirksame Enkelin Churchill (1970 und 1999), Churchill d e r D. BENETT / ALPHA / GLOBE PHOTOS Walter Momper, 54, SPD-Kandidat für Houston sechsjährigen Tochter – in der Vergangenheit immer wieder damit beschäftigt, die Handgreiflichkeiten ihres Ehegatten Bobby Brown zu dementieren – überraschte ihre Fans zu Beginn ihrer ersten Tournee nach fünf Jahren nicht nur mit einem zu jedem Song wechselnden knisternden Dolce-&-Gabbana-Outfit und veritablem Soul. Die Gesangs-Queen zeigte sich auch publikumsnah mit familienbewusstem Charme. Als sie eine Zuhörerin in der ersten Reihe im Universal Amphitheatre in Los Angeles mit einem Handy telefonieren sah, unterbrach sie ihre Show und fragte gut gelaunt, mit wem die Frau spreche. Als Houston zur Antwort bekam, es seien die Kinder der Konzertbesucherin, beugte sich der Star über den Bühnenrand und sang den Kleinen am anderen Ende der Leitung einen persönlichen Gruß. s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9 193 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Badischen Zeitung“ unter der Überschrift „Kein Interesse an autofreiem Wohnen im Rieselfeld“: „Dazu suche man nach Möglichkeiten, die Autos innerhalb der Wohnungen oder in Tiefgaragen unterzubringen.“ Zitate Aus „Bild“ Überschrift in der „Tageszeitung“: „Göttinger Wissenschaftlerin behauptet: Deutsche Arbeiter sind toleranter als der Rest der Bevölkerung. In der Ablehnung von Asylbewerbern und Aussiedlern sind sich Deutsche, Türken und Frauen jedoch einig.“ Aus der „Saarbrücker Zeitung“ Aus dem Kölner „Express“: „Angetrunken und ohne Führerschein hat die Polizei in Rheda-Wiedenbrück einen 40-jährigen Mann aus Polen angehalten.“ Aus der Schweizer Zeitung „Blick“: „Normalerweise erfolgt die Seligsprechung frühestens fünf Jahre nach dem Tod, und wer heilig werden will, muß noch viel länger warten.“ Aus der „Dithmarscher Landeszeitung“: „‚An dem Bahnübergang besteht dringender Handlungsbedarf, die Sicherheitsvorschriften sind einfach nicht mehr zeitgemäß‘, sagte Olaf Drevsen von der Unabhängigen Wählergemeinschaft Dingen (UWD). Für den Kommunalpolitiker steht fest: ‚Das ist schon der fünfte Unfall an diesem Bahnübergang und zum ersten Mal ein tödlicher. Die Bahn muß Vernunft zeigen. Es müssen ja keine teuren Lösungen sein. Es genügt, wenn die Lok anhalten würde.‘“ Aus „Bild“ Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Die 3,4 Kilometer lange Tunnelstrecke vom Bahnhof Ohlsdorf bis zu den FlughafenTerminals soll überwiegend unterirdisch verlaufen.“ 194 Die „Berliner Zeitung“ über Oskar Lafontaines Buch-Projekt und das SPIEGEL-Gespräch mit Kanzler Gerhard Schröder „Steine ins Kreuz“ (Nr. 31/1999): Die beste Werbung für das Buch macht … zurzeit der Mann, der schon früher einmal sagte, man müsse Oskars Rundumschlag fatalistisch ertragen wie ein Gewitter: Gerhard Schröder. Mit jeder kritischen Bemerkung zur Politik seines früheren Kollegen macht es der Kanzler dem Saarländer noch leichter, richtig zuzuschlagen.Auch die Warnung Schröders in einem SPIEGEL-Interview, es sei nicht zu empfehlen, „denen, die schwere Arbeit machen, Steine ins Kreuz“ zu werfen, schreckt Lafontaine nicht … Lafontaine setzt zudem darauf, genügend Zitate aufgetrieben zu haben, mit denen er belegen kann, dass auch sein früherer Kabinettschef Schröder die Deutsche Bundesbank zu Zinssenkungen aufgefordert und die Währungshüter in Frankfurt an ihre Mitverantwortung für die Beschäftigung im Lande ermahnt hat. Im SPIEGEL-Gespräch … wollte der Kanzler nämlich von einer konzertierten Kritik der einstigen Männerfreunde an der Notenbank nichts mehr wissen: „Ich habe die Auseinandersetzung mit der Bundesbank immer für unsinnig gehalten. Doch ich habe nichts gesagt.“ Die „Stuttgarter Zeitung“ zum selben Thema: Schröder hat im viel zitierten SPIEGEL-Interview den Wunsch geäußert, dass der ehemalige Bundesgeschäftsführer und heutige Bundesverkehrsminister Franz Müntefering als erster unter seinen Stellvertretern fungiert und eine ,,besondere Verantwortung für die innere Organisation kriegt“. Das geht an die Substanz des amtierenden Bundesgeschäftsführers. Schröder betonte zwar, Schreiner sollten nicht die Kompetenzen beschnitten werden. Schreiner aber sieht die Sache doch skeptischer … Er sei bereit, einiges mitzutragen – „aber nicht alles“. Die „Neue Zürcher Zeitung“ zum Kommentar von Rudolf Augstein „Madeleines Krieg“ (Nr. 22/1999): Wer allerdings glaubt, das deutsche Engagement entspringe einem genuinen Atlantizismus, der irrt. Deutschland konnte sich diesem Krieg im Kosovo nicht einfach entziehen, ohne zum Paria zu werden. Aber die Regierung Schröder lässt inzwischen keinen Zweifel daran, dass sie sich künftig nicht mehr in amerikanische Kriege – „Madeleines Krieg“ (Rudolf Augstein) – verwickeln lassen will, sondern im europäischen Verbund … die politischen und militärischen Entscheidungen suchen will. d e r s p i e g e l 3 2 / 1 9 9 9