Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion

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Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
9. August 1999
Betr.: Zwangsarbeiter, Dirigenten, Partys
N
ach langem Schweigen ist die Zwangsarbeit im Dritten Reich auch in Deutschland zum Thema geworden. Viele Beteiligte, so erlebte es SPIEGEL-Autor
Peter Bölke, 63, wissen zwar genug zu erzählen, wollen aber nicht zitiert werden.
Begreiflich: Die einen, Manager und Teilnehmer der Verhandlungen über eine Entschädigung der Zwangsarbeiter, wollen die Gespräche nicht gefährden. Die anderen, Opfer des Nazi-Regimes, möchten den Anschein vermeiden, es gehe ihnen nur
um materielle Vorteile. Tatsächlich aber geht es bei der Initiative deutscher Unternehmen, die den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern helfen soll, um eine
Menge Geld – um viele Milliarden Dollar. Wie viele, will niemand vorhersagen. Otto
Graf Lambsdorff, der Unterhändler der Bundesregierung, zu Bölke: „Wann immer
Zahlen genannt werden, wird laut geschrien“ (Seite 34).
A
A. SMAILOVIC
ls sich der Dirigent Sir Simon
Rattle, 44, und Redakteur
Klaus Umbach, 63, in Salzburg
zum SPIEGEL-Gespräch trafen,
brachen sie zunächst einmal in
Gelächter aus. Beiden kam spontan ihre erste Begegnung, 1990 in
Frankfurt am Main, in den Sinn,
als Rattle, damals noch nicht geadelt, ein heikles Malheur widerfuhr: Ihm lockerte sich, im Finale
der sechsten Sinfonie von Gustav
Mahler, die Hose und drohte zu Rattle, Umbach
rutschen. Genüsslich hatte Umbach damals geschildert, wie der junge Kapellmeister „das Fracksausen kriegte, die
Beine in weitem Winkel grätschte und auch obenrum nur das Nötigste bewegte“,
um sich nur ja keine Blöße zu geben (SPIEGEL 37/1990). Rattle heute: „The most
exciting Mahler of my life.“ Locker gab sich Sir Simon auch jetzt, als er erstmals
für ein deutsches Medium über „das wichtigste Ereignis meines Berufslebens“
sprach – die Berufung zum künftigen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker.
Fasziniert von der Stadt und der „unglaublichen Energie, die ich dort an jeder Ecke
spüre“, will er den traditionsreichen Klangkörper zu einem „durch und durch europäischen Orchester“ formen, Techno inklusive (Seite 152).
S
P. LOWE / MAGNUM
ie nennen sich Eventmanager, erwecken
alte Fabrikhallen zum Leben und sorgen
für Partystimmung in sterilen Discotheken.
Um die für Deutschland neue Branche und
ihre Protagonisten zu verstehen, machte Wirtschaftsredakteur Frank Hornig, 29, für zwei
Wochen die Nacht zum Tag. Er recherchierte
auf Partys und Firmenfeiern, begleitete die
Manager der Nacht in Hamburg zu einem GeHornig (l.) auf Londoner Party
lage im Stil der legendären New Yorker Disco
„Studio 54“ und feierte in London bei glühender Hitze eine Adventsfeier im Sommer – von Deutschen organisiert. Die Spaßmacher versprachen ein „flammendes Inferno“, und überall traf er auf Typen, denen er
sonst nie begegnet wäre: Transvestiten wie Olivia Jones und dutzende langbeinige Gogo-Girls. Unter diesen Bedingungen hätte Hornig gern noch weiter recherchiert: „Da
ist noch manches schrille Event“ (Seite 84).
Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft
Deutschland
Panorama: Bayern: die Landesbank-Affäre /
Vorwürfe gegen EU-Kommissar Fischler ......... 17
Konsum: Meinungsstreit ums
Sonntags-Shopping ......................................... 22
Millennium: Angst vor
dem Datumssprung ......................................... 28
Energiesysteme sind für den
Jahrtausendfehler besonders anfällig .............. 30
BND-Studie über
weltweite Daten-Probleme.............................. 32
Duty-free: Schnäppchen auf dem Haff ........... 33
Zwangsarbeiter: Was kostet Gerechtigkeit?... 34
Brandenburg: Der offensive Wahlkampf
des Ex-Generals Jörg Schönbohm................... 50
Grüne: Wie Gunda Röstel in Sachsen
ihre Partei retten will...................................... 54
Umfrage: Joschka Fischer,
der Liebling der Nation .................................. 58
Internet: Künftig Steuererklärungen online ... 64
Zivildienst: Sparpläne bedrohen
Pflegestationen ............................................... 66
Affären: Der Berliner Flughafen-Krimi .......... 67
Wirtschaft
Trends: Neckermann startet ins Geschäft
mit Discount-Reisen / Deutsche Milliarden für
Frankreichs Atomindustrie? / Wachsende
Einnahmen aus der Einkommensteuer ............ 71
Geld: Analysten prophezeien Take-off
am Neuen Markt /
Einstiegschancen bei Versicherungsaktien....... 73
Weltfinanzen: Kann US-Notenbankchef
Alan Greenspan den Crash verhindern? ......... 74
Steuern: Kanzler unterstützt den neuen
SPD-Rebellen Peter Struck ............................. 78
Kriminalität: Die Mafia unterwandert
das Baugewerbe.............................................. 80
Autoindustrie: DaimlerChrysler-Finanzchef
Manfred Gentz auf der Kippe......................... 82
Expo 2000: Peinliche Lobhudelei
auf die Marktwirtschaft .................................. 83
Entertainment: Die Manager der Nacht ........ 84
Kulturkampf um die Sonntagsruhe
Seite 22
Erbittert streiten die Deutschen um das Recht, am Sonntag einzukaufen. Kirche und
Gewerkschaften bangen um die Ruhe am Tag des Herrn, Warenhäuser versuchen, das
Verkaufsverbot zu unterlaufen. Die von der Verfassung garantierte Sonntagsruhe
aber ist schon lange durch zahlreiche Ausnahmen durchlöchert.
Kommt der Millennium-Crash?
DPA
Titel
Deutschland im Bann
der totalen Sonnenfinsternis ......................... 164
Interview mit Astronom Jakob Staude
über die Wirkung von Eklipsen
auf das menschliche Bewusstsein................... 170
Atomkraftwerk Biblis
Seite 28
Der Elektronik-Fehler zum
Jahrtausendwechsel sorgt für
Aufregung, ein Report der Bundesregierung lässt Schlimmes
befürchten. Die drittgrößte
Wirtschaftsmacht der Welt hinkt
hinterher im Kampf gegen das
Jahr-2000-Problem. Kommt es
etwa bei Atomkraftwerken zum
großen Millennium-Crash, oder
haben die Techniker bis Neujahr alles im Griff?
Joschka im Sommerhoch
Seite 58
Joschka Fischer ist der Som- Joschka Fischer
merliebling der Nation: Auf
Gerhard
der Emnid-Hitliste führt er
Schröder
mit Abstand. Die Werte für
die Regierungsparteien sind
dagegen katastrophal. Bei
den kommenden Landtagswahlen haben Fischers Grüne kaum Chancen: In Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegen sie unter
76
fünf Prozent (Seite 54). In
Brandenburg macht die
65
CDU der SPD die absolute
Mehrheit streitig (Seite 50). Emnid-Liste
Rudolf
Scharping
Wolfgang
Schäuble
Edmund
Stoiber
Kurt
Biedenkopf
Medien
Tina Browns „Talk“-Show
Gesellschaft
Szene: Fotokünstler Ingo Taubhorn
über die Kleider seiner Mutter /
Reise-Pannen im Internet................................ 95
Pädagogik: Erziehungstraining für Eltern...... 96
Mode: Wolfgang Joop über
schwulen Schick ............................................ 100
6
Seite 90
B. MASON / SIPA PRESS
Trends: Krisen-Reporter Friedhelm Brebeck
soll ARD-Star werden / Schlammschlacht
bei der Deutschen Welle ................................. 87
Fernsehen: Neue ZDF-Serie „Nesthocker“ /
„Playgirl“ schickte nackte Männer
in den Reichstag.............................................. 88
Vorschau ......................................................... 89
Magazine: Die neue Zeitschrift „Talk“
und ihre schrille Chefin Tina Brown ............... 90
Internet: Neuer Job für Ex-RTL-Chef
Helmut Thoma................................................ 93
Hurley, Grant, Brown
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Selten hat eine neue US-Zeitschrift
so viel Wirbel gemacht wie das
Magazin „Talk“. Mit einer frechen
Mischung aus Sex, Politik und
Reportagen will Chefredakteurin
Tina Brown die Zeitschrift erfolgreicher machen als ihre alten GlitzerBlätter „Vanity Fair“ oder den
„New Yorker“. Zum „Talk“-Auftakt feierte eine erlesene Star-Meute – von Madonna und Robert De
Niro bis zu Liz Hurley und Hugh
Grant – unter der New Yorker Freiheitsstatue das Heft und sich selbst.
Ausland
Panorama: Die Rückzugspläne der PKK /
EU-Kommission – Deutschlands
Nato-Botschafter als Generalsekretär?.......... 103
Balkan: Keine Hoffnung auf
multikulturelles Zusammenleben .................. 106
Interview mit Albaner-Führer Ibrahim Rugova
über die Zukunft des Kosovo
und den Machtkampf mit der UÇK............... 108
SPIEGEL-Gespräch mit Bodo Hombach
über seine Mission als Sonderkoordinator
des Balkan-Stabilitätspakts............................ 110
Südkorea: Drama bei Daewoo...................... 114
Iran: Der Gottesstaat ist reif für den Umsturz 116
Kolumbien: Friedensinitiative vor Kollaps .... 118
Russland: Wahlkampfauftakt mit
Medienkrieg .................................................. 119
Indien: Interview mit Außenminister Jaswant
Singh über die Spannungen mit Pakistan........ 120
Italien: Ein Rechter regiert Europas
rote Musterstadt Bologna .............................. 122
Die Macht des Mr. Dollar
Seite 74
B. SMITH / OUTLINE
VARIO-PRESS
New Yorker Börse
Börsencrash? Oder verspätete Sommerrallye? Wie hypnotisiert starrt die Finanzszene auf US-Notenbankchef Alan
Greenspan. Mit seinen oft kryptischen Äußerungen,
„Greenspeak“ genannt, bewegt Mr. Dollar die Weltbörsen. Greenspan
Balkan: Die Multikulti-Illusion
Seiten 106 bis 110
Der Westen kann seinen Traum von einer multikulturellen Gesellschaft auf dem Balkan nicht durchsetzen, die ethnischen Säuberungen werden nun von den Kosovo-Heimkehrern forciert. Albaner-Führer Ibrahim Rugova rechnet derweil schon mit der Unabhängigkeit des Kosovo: „Wir akzeptieren Serbien nur als befreundeten Nachbarstaat.“
M. KLIMEK
Reich-Ranickis Leben und Liebe
Die Monster kommen
Er ist wortgewaltig und witzig wie kaum
ein anderer Literaturkritiker, doch sein
neues Buch geriet still, ernst und voller
Selbstzweifel: Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“ erscheint
nächste Woche – mit erschütternden Details aus dem Warschauer Ghetto, für dessen „Judenrat“ der Autor gearbeitet hat.
Sie belegt eindrucksvoll die Außenseiterrolle des Erfolgreichen auch nach 1945. Im
SPIEGEL-Vorabdruck erzählt er, wie er
seine Frau Teofila traf und lieben lernte.
Seite 176
Selten war ein Computerspiel so erfolgreich wie
„Pokémon“ von Nintendo: Millionen Kinder in
Amerika und Japan gehen in der digitalen Fabelwelt auf Monsterjagd. Begleitprodukte wie Spielkarten, Plüschtiere und ein Kinofilm heizen das
Pokémon-Fieber weiter an. In diesem Herbst
sollen die Fabelwesen auch Deutschland erobern.
US-Kinder mit „Pokémon“-Plüschtier
Das Jahrhundert des Kommunismus:
Gorbatschow und das Ende
der Sowjetunion ........................................ 127
Porträt: Alexander Solschenizyn .............. 132
Standpunkt: Georgij Arbatow über
seine Begegnungen mit Gorbatschow ........ 136
Kultur
Szene: Britische Autoren lehnen Musicals ab /
Ausstellungsmacher Klaus A. Schröder
über seine Pläne für die Wiener Albertina .... 139
Autoren: Die Memoiren des Starkritikers
Marcel Reich-Ranicki .................................... 142
Wie Marcel Reich 1940 in Warschau
seine spätere Frau kennen lernte................... 145
Ausstellungen: Kunst-Großereignisse
zur Jahrtausendwende................................... 148
Film: Andreas Dresens „Nachtgestalten“ ...... 150
Dirigenten: SPIEGEL-Gespräch mit
Sir Simon Rattle, dem künftigen Chef
der Berliner Philharmoniker ......................... 152
Sprache: Wo das Hühnerauge
„okahinauke“ heißt....................................... 158
Bestseller..................................................... 159
Wissenschaft + Technik
Prisma: Kurze Laufzeiten von AKW /
Taschenlampe im Magen ............................... 161
Prisma Computer: Internet-Dienst für
Rollstuhlfahrer / Vielseitig verwendbarer
Chip von „Sun“ ............................................ 162
Computerspiele: Milliardengeschäft mit
Fabelwesen .................................................... 176
Medizin: Sind Ärzte bei der Bekämpfung
von Tropenseuchen überfordert? ................... 178
Luftfahrt: Vertrauliche Boeing-Empfehlungen
für den Brandfall an Bord.............................. 180
Tiere: Biologin stellt Schaben eine Falle ....... 181
Sport
A. RENAULT / GLOBE PHOTOS
Reich-Ranicki, Ehefrau Teofila
Seiten 142, 145
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Fußball: Die Macht der Spielervermittler ..... 182
Olympia: Fremdenfeindlichkeit in Sydney .... 186
Briefe ............................................................... 8
Impressum .............................................. 14, 188
Leserservice ................................................ 188
Chronik ......................................................... 189
Register........................................................ 190
Personalien .................................................. 192
Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 194
7
Briefe
„Sie haben ja den Dreh raus,
Spezialthemen für besonders spezialisierte Spezialisten so verständlich
aufzubereiten, dass ich, der nun wirklich
Anderes und Besseres zu tun hätte,
mich gedanklich seit Tagen mit der sogenannten Weltformel beschäftige.“
Hans-Joachim Sieg aus Berlin zum Titel „Gesucht: Die Weltformel“
Phantastischer Witz
Nr. 30/1999, Titel: Gesucht: Die Weltformel;
SPIEGEL-Gespräch mit Nobelpreisträger Steven
Weinberg über den Traum von der Weltformel
„Aber die ist ja voller Fehler“, rief er
schließlich. „Ich weiß“, sagte Gott lächelnd.
St. Michael-mihel (Österreich)
Gregor Kri∆tof
So ein Gruppenbild würde ich mir auch
von den Geisteswissenschaftlern wünschen! Wo sind die Philosophen, Theologen, Sprach-, Literatur- und Gesellschaftswissenschaftler unserer Zeit mit ihrer
Weltformel? Ich möchte auch von diesen
intelligenten Köpfen hören, was die Welt
im Innersten zusammenhält. Oder sind sie
etwa nur „so klug als wie zuvor“?
Ja, ja, alter Onkel SPIEGEL – vor einigen
Wochen noch mit der forschen Frage aufgemacht, ob nicht die Frauen
die Klügeren seien, und jetzt als
„klügste Köpfe der Gegenwart“
fast nur Männer abgebildet.
Mittelmäßig klug stecke ich
meinen Kopf da doch gern
hinter ein so fein ausgewogenes
Nachrichtenmagazin!
Groß-Gerau (Hessen)
Bonn
Dittmar Werner
Toll! Bald haben wir endlich die Weltformel; dann würde ich schon heute die Lottozahlen und Börsenkurse der nächsten
Woche kennen, ich wüsste, was in den
nächsten Folge der ,,Lindenstraße“ passiert, wäre glücklich und ausgeglichen,
könnte schnell ausrechnen, wie ich meinen Garten gestalten soll, könnte meinem
Bruder Rolf sagen, wann das beste Wetter
zum Heufahren sein wird, und ich könnte
den Politikern und dem Papst gute Tipps
geben, was gegen Krankheit, Hunger und
Überbevölkerung hilft. Danke, liebe Physiker!
Albersdorf (Schlesw.-Holst.)
Jens Tödter
Mit welchem Recht maßen Sie sich an, diese Wissenschaftler als die „klügsten Köpfe
der Gegenwart“ zu untertiteln. Zum einen
arbeiten auch in nicht naturwissenschaftlichen Disziplinen kluge Köpfe, zum anderen werden Frauen als weniger klug disqualifiziert, da diese ja nur circa zehn Prozent unter den „klügsten Köpfen der Gegenwart“ ausmachen.
Gießen
Andrea Fiedler
Auf Fragen wie, was, wenn die Weltformel
denn gefunden würde, gibt es einen phantastischen Witz.Als Einstein in den Himmel
kam, hatte er beim lieben Gott einen
Wunsch offen. Die Weltformel möchte er
endlich kennen, sagte Einstein. Der liebe
Gott begann eine lange Formel aufzuschreiben. Einstein wurde immer nervöser.
8
Wipperfürth (Nrdrh.-Westf.)
Willibert Pauels
Wenn die Erde in Dreck, Müll und Abgasen erstickt sein wird, hat die Physikergilde vielleicht als letzte menschliche Geis-
Stefan v. Holtey
Wenn man das Interview mit
dem Physiker Steven Weinberg
sorgfältig liest, dann merkt man
schnell, dass er sich in einem
Argumentationszirkel verfängt.
Die Wahrheit der Weltformel Teilchenbeschleuniger am Cern: Furchtbare Trostlosigkeit
erkenne man angeblich an ihrer Schönheit, und schön, folgt man den testat ergründet, was die Welt in ihrem
Worten des Gelehrten, sei gerade das Wah- Innersten zusammengehalten hat.
re. Dass auch die modernen Forscher sich Gaimersheim (Bayern) Wolfgang Silvester
von der angeblichen Schönheit die Sinne
vernebeln lassen, verwundert nicht. Das Der Universalschlüssel zum großen Uhrhat eine lange Tradition. Schließlich fand werk steckt in der 17. oder 23. Dimension,
man über 2000 Jahre Kreise schön und und irgendwer aus dem Club der 3000 Sukonnte sich deshalb partout nicht vorstel- perhirne wird ihn hoffentlich ergrübeln.
len, dass die Planeten auf Ellipsen um die Wir anderen halten uns an Erich Kästner,
Sonne wandern. Gottlob befinden letzt- der schon vor 45 Jahren die poetische Weltendlich nicht die Theoretiker über die Gül- formel entdeckte: ,,Noch wächst der Mond.
tigkeit ihrer Kopfgeburten, sondern die Noch schmilzt er hin. Nichts bleibt. Und
Menschen, die in der Lage sind, eine Mes- nichts vergeht. Ist alles Wahn. Hat alles
sung durchzuführen.
Sinn. Nützt nichts, dass man’s versteht.“
Tübingen
Dr. Marco Wehr
Hamburg
Adolph C. Benning
Vor 50 Jahren der spiegel vom 11. August 1949
US-Außenminister Dean Acheson zieht bedeutendsten Gesetzentwurf
der Truman-Ära durch Den „Foreign Military Assistance Act“ – Waffenhilfe für das Ausland. Nationalchinesische Soldaten ziehen sich vor
Maos Truppen nach Formosa zurück Auch Tschiang Kai-schek bringt sich
dort in Sicherheit. Milliardär Aga Khan ist eine der stärksten Stützen der
englischen Herrschaft in Ostafrika Für etwa 20 Millionen Muslime ist der
Imam die lebendige Verkörperung Gottes. Premiere des Goethejahr-Films
„Begegnung mit Werther“ Zweitteuerste Nachkriegsproduktion.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Der Frankfurter Bundestagskandidat Karl Schipper
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P. GINTER / BILDERBERG
SPIEGEL-Titel 30/1999
Wenn ich Steven Weinberg richtig verstanden habe, kann die Weltformel das
ganze Universum erklären, nur eines nicht:
welchen Sinn es hat. Seine Behauptung:
„Es gibt keinen Sinn.“ Welch furchtbare
Trostlosigkeit! Nicht nur Viktor E. Frankl
meint, dass – bewusst oder unbewusst –
keine Frage den Menschen mehr umtreibt
als die Frage nach dem Sinn seiner Existenz. Sollte ausgerechnet die tiefste Sehnsucht des Menschen ein absurder Irrtum
des Universums sein? Das innerste Wesen
der Religion ist eben nicht die Tradierung
des Blitze schleudernden Schöpfergottes
(Weinberg), sondern die Zusage, dass meine Sehnsucht nicht an der trostlosen Sinnlosigkeit eines vollkommen gleichgültigen
Universums zerschellt.
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Briefe
Merzhausen (Bad.-Württ.) F. Schmidt-Hieber
Die Gralshüter der faszinierenden Physik
gehen allein von unserer „menschengerechten“ Vorstellung und Erfahrung, von
„Anfang und Ende“ aus. Für Gott und mit
ihm für Zeit, Raum und Materie gelten jedoch nur Ewigkeit und Unendlichkeit. Ein
„Urgesetz“ der einheitlichen physikalischen Theorie des Kosmos – die 10- oder
11-dimensionale Raumzeit, eine Brücke
zwischen Gravitation und Quantentheorie, ein Standardmodell der Materie – ist,
Magie und Mysterium zugleich, nur ein interessantes Konstrukt. Es wird zu nichts
führen, wie Stephen W. Hawking vermutet.
Bonn-Bad Godesberg
Prof. Heinz S. Fuchs
Dialektische Routine
Freiburg
Ihr Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma ist
in vielerlei Hinsicht recht aufschlussreich.
Die dialektische Routine, mit der der eloquente Rhetoriker auch unmissverständlichen Fragestellungen auszuweichen versteht, ist bemerkenswert. Seine totale Immunität gegen Kritik ist kaum überhörbar.
Der gesellschaftspolitische Beitrag des Hamburger Instituts für Sozialforschung wäre
möglicherweise weniger skandalös ausgefallen, wenn sich der Sponsor dieses Instituts
nicht rund fünf Jahre zu spät an sein „weiter gefasstes Projekt“ erinnert hätte.
Otto Schmidt
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Hans Jörg Kimmich
Mit der 6. Armee habe ich 1942 bis zu meiner Verwundung an der Angriffsschlacht auf
Stalingrad teilgenommen, von dem Reichenau-Befehl habe ich in dieser Zeit selbst
als Offizier nichts gehört, wo doch nach
Reemtsma die Mannschaftsgrade besonders
ab der zweiten Hälfte des Jahres 1942 in angeblich bereitwilliger Befolgung dieses Befehls Verbrechen begangen haben sollen. Es
ist eine ungerechte, nicht verantwortbare
Verallgemeinerung, mit der die ehemaligen
Soldaten als Ausführende von Massenmorden nach Plan pauschal verunglimpft werden. Es ist diese Verallgemeinerung, die
mich veranlasst hat, mich zu Wort zu melden in Erinnerung an die mir unterstellt gewesenen Soldaten, von denen viele im Laufe des Krieges gefallen sind und die sich
selbst oder deren Angehörige sich nicht
mehr zur Wehr setzen können.
Nachdem die finnischen Soldaten, die auf
den Fotos zu sehen sind, dem Ausstellungsbesucher jahrelang als deutsche Sol- München
daten präsentiert wurden, gibt
Herr Reemtsma nun zu, dass zumindest auf einem Foto finnische Soldaten zu sehen waren,
um im gleichen Atemzug zu
behaupten, diese seien „Verbündete der Wehrmacht und unter
ihrem Kommando“ gewesen.
Diese pauschale Aussage ist
falsch, sie entspricht nicht den
historischen Tatsachen. Die Masse der finnischen Armee, die
1941 bis 1944 zwischen Louhi
und dem Finnischen Meerbusen
stationiert war, unterstand dem
finnischen Oberkommando unter Marschall Mannerheim und Ausstellungsmacher Reemtsma
war zu keinem Zeitpunkt des Totale Immunität gegen Kritik?
12
Günter Klein
Herr Reemtsma sagt: „Nicht alle Soldaten
haben Verbrechen begangen.“ Das ist wohl
wahr und bösartig zugleich. Denn hinter
dem „nicht alle“ steht unausgesprochen
„aber die meisten“. Es war aber umgekehrt: Die Zahl derer, die Verbrechen begingen, wird seriös auf nicht mehr als zwei
Prozent geschätzt.
Stuttgart
Nr. 29/1999, Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch mit
Jan Philipp Reemtsma über die Wehrmachtsausstellung und die Beweiskraft der Dokumente
Hamburg
Zweiten Weltkriegs der Wehrmacht unterstellt. Finnland war kein Quisling-Staat,
seine Soldaten waren keine Erfüllungsgehilfen der Wehrmacht. Es war auch zwischen 1941 und 1944 eine parlamentarische
Demokratie, ein Staat, in dem es keinerlei
antisemitische Gesetzgebung gab. Selbst
als die Deutschen größten Druck auf die
Finnen ausübten, weigerten sich diese, die
finnischen Offiziere jüdischen Glaubens
aus der Armee auszustoßen. Wenn Herr
Reemtsma meint, dass die finnischen Soldaten, die auf den Bildern zu sehen sind,
an Verbrechen beteiligt waren, muss er den
Beweis dafür erbringen. Die finnischen Historiker, denen ich die Fotos vorgelegt habe,
können sie nicht genau zuordnen, sie sind
in vielerlei Hinsicht interpretierbar.
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Gerhard Ulbert
M. SCHWARTZ
Welch altertümliche Gottesvorstellung hat
Steven Weinberg denn im Auge, wenn er
sagt: „Die Wissenschaft hat es dem Menschen möglich gemacht, nicht religiös zu
sein“? Gott, der als Lückenbüßer herhalten
muss, wo der Mensch etwas nicht versteht?
Wer Gott nicht in dem findet, was er versteht, der findet ihn auch nicht in dem, was
er jetzt noch nicht versteht.
Hochherrschaftliches Gebaren
Nr. 30/1999, Strom: Der Preiskrieg beginnt
A. BASTIAN / CARO
Dass man der Ampere AG die Bude einrennt, liegt nicht immer nur an der
„Schnäppchenmentalität“ ihrer Kunden.
Viele Kunden werden durch das hochherr-
Hochspannungsleitungen
Verschwenderischer Umgang
schaftliche Gebaren der jetzigen Stromlieferanten wie Stadtwerke und so weiter in
Scharen zu den neuen Stromverteilern getrieben. Einige Stadtwerke müssen wohl
erst hart am „(Kon)Kurs“ segeln, um den
Kunden als König zu begreifen. Bis jetzt
sind die Stromlieferanten Beispiele hochtrabender Bürokratie. Diesen Umstand
mussten wir leidvoll bei den Stadtwerken
Viersen erfahren, die uns bei der Durchführung unseres Bauvorhabens nicht gerade unterstützt haben.
Viersen (Nrdrh.-Westf.)
Stefan Erens
Der Run auf den billigsten Stromanbieter
wird vermutlich unheilige Folgen nach sich
ziehen: Je billiger Energie ist, umso verschwenderischer gehen die Menschen damit um. Vermutlich wird der Klima-GAU
dadurch noch ein wenig beschleunigt.
Denn sauberen Strom gibt es zur Zeit leider nur in begrenztem Umfang und auch
noch zu von der Masse der Menschen nicht
akzeptierten höheren Preisen. Irgendwann
werden wir dann schon alle merken, dass
Fernsehgucken im überfluteten heimischen
Wohnzimmer, verursacht durch die dem
Klimawandel folgenden Dammüberflutungen von Donau, Rhein und Oder, einfach
keinen Spaß macht. Aber wenigstens war’s
billig, in die Katastrophe zu rauschen.
Elmshorn (Schlesw.-Holst.) Werner Steinke
Robin Wood
Verheerende Situation
Nr. 29/1999, Medizin: Mobbing im Krankenhaus
verunsichert Assistenzärzte
In deutschen Kliniken herrscht ein menschenfeindliches Arbeitsklima.Verstöße gegen das seit 1996 auch für Klinikärzte geltende Arbeitszeitgesetz sind an der Tagesordnung. Krankenhausärzte mit hunderten
unbezahlter Überstunden stehen arbeitslod e r
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Briefe
müssen und wurde so
selbst zum stromlinienförmigen, bedingungslos gehorsamen Mediziner (nicht
Arzt), der nur noch wenig
Skrupel und noch weniger
Moral kennt. Einmal dann
in leitender Position, wird
kräftig nach unten getreten
und im Kreise der „Mitarbeiter“ menschlich ,,die
Sau rausgelassen“. An dieser verheerenden Situation
wird sich leider auch in Zukunft nichts ändern, solange das Spiel mit der Angst
vor Arbeitslosigkeit durch
Krankenhausärzte bei Operation: Ränkespiel von Intrigen
immer kürzer befristete Arsen Kollegen gegenüber. Dennoch gibt es beitsverträge nicht irgendwann vom GeAlternativen: nämlich dem deutschen Chef- setzgeber als sittenwidrig eingestuft wird.
arztsystem konsequent den medizinischen Regensburg
Robert Schmittinger
Nachwuchs und dessen Qualifikation zu
entziehen. Viele junge Ärzte gehen nach Zweifellos erschweren Druck und Schikane
Großbritannien, wo sie ein freundliches Ar- jegliches Arbeitsverhältnis. Durch das Überbeitsklima bei akzeptabler Arbeitsbelastung angebot an Jungakademikern entsteht aber
und angemessener Bezahlung vorfinden.
erst dieser Missstand. Generell gilt es zu hinterfragen, inwiefern es eine Argumentation
Sheffield (England)
Dr. Rolf Vogel
gibt, warum sich junge Ärzte nicht diesem
Die angesprochenen Missstände sind ge- Wettbewerb stellen sollten. Schließlich genau die Gründe dafür, dass sich hier in Nor- staltet sich für jeden Absolventen der erste
wegen immer mehr deutsche Mediziner an- Arbeitsplatz schwierig; ob bei Ärzten, Arsiedeln. Es ist kaum zu glauben, dass man chitekten oder Betriebswirten. Mit Magenunter so angenehmen Bedingungen in geschwüren, Nervosität oder Psycho-ProKrankenhäusern arbeiten darf. Deshalb rate blemen umgehen zu müssen, um sich am
ich allen Studierenden der Medizin, recht- Arbeitsmarkt zu behaupten, ist das Los, das
zeitig Norwegisch zu lernen und möglichst insbesondere jeder junge Akademiker zieht.
viel (Studien)Zeit hier zu verbringen.
Münster
Daniel Heyen
Völlig normal
Nr. 29/1999, Bundeswehr: Beziehungsprobleme bei
den deutschen Kfor-Soldaten
T. RAUPACH
Da es ganz offensichtlich Kostengründe
sind, die für einen solch langen Einsatz
sprechen, bin ich nicht bereit, die Folgen
für die Familie zu tragen. Unsere Männer
werden tagtäglich darin bestärkt, ihre Familien im Stich zu lassen, um für ein
„höheres Ziel“ einzutreten und sich für einen Auslandseinsatz zu melden. Wer tritt
denn für uns Familien ein? Wenn unsere
Männer aus dem Einsatz kommen, im Bewusstsein, etwas Großes geleistet zu haben, und sie werden nicht dafür bejubelt,
sondern sie sollen Windeln wechseln, dann
ist auch für sie die Diskrepanz kaum zu
überwinden. Uns steht dann kein Psychologe zur Seite, der vermittelnd eingreift.
Nicht nur den fern der Heimat stationierten Soldaten laufen die Frauen weg; auch
so mancher Zivilist weiß, nach berufsbedingtem Auslandsaufenthalt, ein Lied davon zu singen. Männer täten so etwas nie!
Erst auf dem Höhepunkt ihrer Karriere
schieben sie die Alte aufs Abstellgleis und
zaubern eine Jüngere aus dem Ärmel.
Frankfurt am Main
Detlev Byns
Der Bericht verschweigt die Normalität
der Belastung durch lange Abwesenheit
des Partners, die nicht zwangsläufig zu ei-
Dr. Annette Schmiz
Es wird sogar noch schlimmer werden.
Zeichnete sich die alte Garde der ,,Chefs“
häufig noch durch patriarchalisch-wohlwollende Zuwendung zu ihren Assistenten aus,
die zwar schuften mussten wie die Pferde,
dafür aber immer wieder einen freundlichen Klaps auf die Schulter erhielten und
dank guter Beziehungen irgendwann als
Oberarzt an ein anderes Krankenhaus weiterempfohlen wurden, ist der Typus des neuen leitenden Arztes ein anderer. Er hat jahrelang das Ränkespiel von Intrigen, Mobbing, Wegsehen und Stillhalten miterleben
Wundervolle Allegorie
Nr. 29/1999, Boulevard: Der Banker und die
Brandt-Witwe – Szenen einer Treibjagd
Was für eine wundervolle Allegorie des sterbenden Jahrhunderts: die schwarzweißrot
drapierte Witwe des letzten bedeutenden
Sozialdemokraten in Buhlschaft mit dem
Herrn und Mogul der D-Mark! Ich empfehle sie als Riesenfresko für das Foyer der
Deutschen Bank, vielleicht mit dem Spruchband Il Trionfo di Mammona. Durchgeführt
allerdings nicht in der Manier von Tiepolo,
sondern von George Grosz. Ein bisschen an
der Wahrheit wollen wir doch bleiben.
München
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Duty-free,Brandenburg,Grüne,Internet (S.64),Zivildienst,Kriminalität:
Ulrich Schwarz; für Konsum, Millennium, Umfrage, Expo 2000: Dr.
Gerhard Spörl; für Affären, Trends, Geld, Weltfinanzen, Steuern, Autoindustrie, Entertainment, Internet (S. 93), Südkorea: Gabor Steingart;
für Fernsehen, Magazine, Szene, Pädagogik, Mode,Autoren,Ausstellungen, Dirigenten, Sprache, Bestseller: Dr. Mathias Schreiber; für Panorama Ausland, Balkan, Iran, Kolumbien, Russland, Indien, Italien:
Dr. Olaf Ihlau; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für
Prisma, Titelgeschichte, Computerspiele, Medizin, Luftfahrt, Tiere,
Chronik: Olaf Stampf; für Fußball, Olympia: Matthias Geyer; für die
übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel:
Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun Patricia Pott; für
Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich
Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTO: Eclipse99Group/Seaton, England
Carl Amery
Der SPIEGEL würde das Thema nie von
sich aus aufnehmen, denn dazu ist er sich zu
schade. Nicht zu schade ist er sich darin, sich
des Themas durch eine zynische Konstruktion zu bemächtigen: Man berichtet ja nicht
direkt darüber, sondern nur über den „Boulevard“, der es eben aufgegriffen hat.
München
Martin Vogt
Wie Matthias Matussek den verlogenen
feministischen Zeitgeist entlarvt und ihn ins
Lächerliche zieht, ist einmalig. Weiter so.
Wien
14
Elke Lüke
Armin Pillhofer
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C. KOALL / LS-PRESS
Harstad (Norwegen)
Gescher (Nrdrh.-Westf.)
Deutscher Kfor-Soldat an albanischer Grenze
Kaum zu überwindende Distanz
ner höheren Trennungsrate führen muss.
Ich glaube nicht, dass die Frauen und
Freundinnen von Seefahrern so anders
sind. Für die Soldaten der Bundesmarine
gibt es das „Opfer an der Heimatfront“
schon lange, denn Seefahrten von mehreren Monaten Dauer sind völlig normal.
Eckernförde
Erhard Graf
Militärpfarrer bei der U-Boot-Flottille
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu
veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegt die
Beilage Ars Mundi (Brockhaus), Hannover, und die Beilage HumanitasBuchversand, Wiesbaden, bei.
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Deutschland
Panorama
Landesbank
als Zockerbude
N
euer Ärger für CSU-Chef und
Bayern-Premier Edmund Stoiber.
Nach den Millionenverlusten der Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft wird nun wieder die Affäre um
den Milliardenverlust der Bayerischen
Landesbank zum Thema. Bisher bekannt war: Die Landesbank hat
während der Asien-Krise rund 1,3 Milliarden Mark verloren. Verborgen
blieb bis jetzt, dass rund 800 Millionen
Mark durch wilde Zockerei verschwanden.
In einer Sitzung von Haushalts- und Stoiber, Huber
Finanzausschuss, über deren Details
nie öffentlich berichtet wurde, nahm Stoibers Finanzminister
Kurt Faltlhauser, der zum Zeitpunkt der Verluste keine Verantwortung für das Kreditinstitut trug, ausführlich Stellung. Aus
dem Sitzungsprotokoll wird deutlich, dass die Verluste durch
Kredite entstanden, die auf offenbar wertlose Aktien ausgezahlt wurden. Bankenüblich ist eine Beleihung von Wertpapieren zu maximal 60 Prozent, in Singapur wurde bis zu 100
Prozent beliehen. Kreditvergabe und Controlling seien nicht
getrennt erfolgt, ähnlich wie im Fall des Barings-Bank-Spekulanten Nick Leeson war damit keine zeitgleiche Kontrolle
möglich. Die Verluste seien „von der Niederlassungsleitung da-
Schiebereien ohne Ende
W
egen Geldverschwendung und
Missmanagement bei der milliardenschweren Agrarforschung gerät der
österreichische EU-Agrarkommissar
Franz Fischler, der auch für die neue
Kommissionstruppe vorgesehen ist, unter Druck. Nach einem vertraulichen
Report des EU-Rechnungshofes vom 20.
Juli wurden Forschungsprojekte doppelt
subventioniert und Vertragssummen ungerechtfertigt erhöht. Die Prüfer entdeckten massenweise rückdatierte Verträge, exzessiv überhöhte Gebührenabrechnungen und Personalmauscheleien,
von denen Fischlers Agrardirektion gewusst haben müsste. In der jetzt laufenden schriftlichen Befragung der Kommissionskandidaten Romano Prodis
wollen Europa-Abgeordnete wissen,
welche Verantwortung Fischler dafür
trägt.
Mögliche Affären aus der Vergangenheit
will das Parlament auch bei dem als
Außenhandelskommissar vorgesehenen
französischen Sozialisten Pascal Lamy
überprüfen. Lamy war zwischen 1985
und 1994 Kabinettschef des Kommissionspräsidenten Jacques Delors in
Brüssel und für den kommissionsintern
verrufenen Sicherheitsdienst verantwortlich. Gegen einige
der damaligen Sicherheitsleute ermittelt
heute die Brüsseler
Justiz wegen Ausschreibungsmanipulationen.
Weil sich die Kritik
am neuen Kommissionsteam häuft, hat
sich Prodi inzwischen
zu einer Spezialbefragung durch ein
„Grand Committee“
des Europaparlaments
bereit erklärt, nach
Abschluss der allgemeinen KommissionsHearings am 7. September. Wenig Ärger
haben dagegen die
Fischler
rot-grünen Kommissionskandidaten
Günter Verheugen und Michaele
Schreyer zu erwarten. Sie sollen derzeit
nur über ihre europapolitischen Positionen und ihre Fachgebiete berichten.
NEWS
EU-KOMMISSION
mals als geringfügig dargestellt“ worden, sagte Faltlhauser vor dem Parlamentsausschuss. Dennoch habe die
Zentrale am 21. Oktober 1997 beschlossen, das Geschäft mit den Aktienkrediten „unverzüglich einzustellen“. Doch die Niederlassung habe
„ohne Genehmigung oder Rücksprache mit der Zentrale im November 1997
noch größere Auszahlungen vorgenommen“.
Die Zustände vor Ort müssen abenteuerlich gewesen sein. Selbst eine Auflistung der Kunden haben die Münchner
von dort „nur durch Anweisung an den
Innenleiter erhalten“. Der Mann habe
als Entschuldigung gegenüber der
bayerischen Muttergesellschaft später
erklärt, dass für ihn quasi ein Redeverbot bestanden habe. Ihm sei „seitens
des Niederlassungsleiters eine Abmahnung angedroht worden, falls er direkten Kontakt nach München aufnehmen
würde“. Mittlerweile sind zumindest vor Ort die Konsequenzen gezogen, doch der damalige Asien-Chef der Bank stieg
anschließend weiter in der Landesbank auf. Verantwortlicher
Verwaltungsratschef zum Zeitpunkt der Affäre war der heutige Staatskanzleichef Erwin Huber.
In CSU-Kreisen wird vermutet, das erneute Aufflackern der Affäre sei eine Drohung an die SPD, denn Chef der Landesbank
ist heute der damalige Vize und Asien-Verantwortliche Alfred
Lehner, ein Genosse, der auch zugleich im Aufsichtsrat der
Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft saß, die durch
Grundstücksgeschäfte Millionen verlor.
DPA
B AY E R N
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Panorama
GRÜNE
Neue Mitte
ührende Grüne wollen ihren Flügelstreit beenden und ein neues „Zentrum“ der Ökopartei bilden. Am 28. August kommen sie auf Einladung des ehemaligen Bremer Umweltsenators Ralf
Fücks zu einem ersten Strategietreffen in
Berlin zusammen. Mit dabei sind unter
anderen die Berliner Spitzenkandidatin
Renate Künast, Bundesgeschäftsführer
Reinhard Bütikofer, Bundestagsabgeordnete, die niedersächsische Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms, ihr baden-württembergischer Kollege Fritz Kuhn, die
Hamburger Wissenschaftssenatorin Krista
Sager, der Frankfurter Umweltdezernent
Tom Koenigs sowie Gesundheits-Staatssekretär Erwin Jordan. Die neue Mitte
will, so eine Grüne, „das Interpretationsmonopol der Realos“ brechen, sich also
nicht länger vorschreiben lassen, was grüne Politik sei. Auf der Suche nach der
neuen Mitte der Ökopartei haben die
Zentristen bewusst darauf verzichtet,
Bonner Spitzenkräfte wie die Minister
DPA
F
Straßenbau in Brandenburg
FÖRDERMITTEL
Armes Sachsen
Künast, Kuhn
Joschka Fischer, Andrea Fischer und Jürgen Trittin oder die beiden Partei-Chefinnen Gunda Röstel und Antje Radcke einzuladen, weil die als festgelegt gelten. Als
einziger ausgewiesener Realo mit Bonner
Ambitionen wird Kuhn geduldet.
AT O M T R A N S P O R T E
Anträge unvollständig
D
as Bundesamt für Strahlenschutz
(BfS) sieht sich derzeit nicht in der
Lage, Anträge der Stromkonzerne auf
Abtransport von Brennstäben ins Ausland zu genehmigen. Die acht vorliegenden Anträge seien, „wie die Betreiber selbst feststellen, allesamt noch unvollständig“, kritisiert BfS-Präsident
Wolfram König: „Auf dieser Grundlage
kann und darf ich nicht abschließend
entscheiden.“ Wegen überhöhter Strahlung an den Behältern waren die Transporte von der alten Bundesregierung
gestoppt worden. Die Energieunterneh18
wischen den ostdeutschen Ländern ist ein Streit um EU-Fördergelder entbrannt. Sachsens Regierungschef Kurt Biedenkopf und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel fordern, dass die Brüsseler Strukturfondsmittel – etwa für
den Straßenbau – in Zukunft stärker nach „regionalem Wohlstand“ verteilt werden. Dabei sollen Einwohnerzahl und geringere Wirtschaftskraft mehr ins Gewicht
fallen. Die einwohnerstarken Länder Thüringen und Sachsen, beide CDU-geführt,
würden davon profitieren, während Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern,
beide SPD-geführt, auf EU-Geld verzichten müssten. In einem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hatte Biedenkopf sein Land arm gerechnet: Bei altem Verteilungsschlüssel erhalte Brandenburg „einen erheblich höheren Pro-Kopf-Betrag
an EU-Strukturfondsmitteln als die wirtschaftlich deutlich schwächeren Länder
Sachsen-Anhalt, Thüringen oder auch Sachsen“. Insgesamt werden in den Jahren
zwischen 2000 und 2006 Fördergelder in Höhe von 19,2 Milliarden Euro für den
Osten von Brüssel nach Deutschland überwiesen. Sollte sich die Linie der CDUgeführten Ost-Länder durchsetzen, müßte Mecklenburg-Vorpommern mit Einbußen von bis zu 140 Millionen Mark pro Jahr rechnen.
men befürchten, dass einige ihrer Meiler im kommenden Jahr abgeschaltet
werden müssen, weil die internen Abklingbecken dann keine weiteren verbrauchten Brennstäbe mehr aufnehmen
können.
Einige Kraftwerksbetreiber haben inzwischen mit Klagen gedroht, sollte das
Bundesamt nicht bis Ende des Monats
entscheiden. „Wenn die Anträge vollständig sind“, sagt König, „können
Transportgenehmigungen innerhalb von
vier Wochen erteilt werden.“ Er mag
sich nicht einschüchtern lassen: „Es
käme ja auch kein Pilot auf die Idee,
vom Tower vor Abschluss des Sicherheitschecks eine sofortige Starterlaubnis
zu verlangen.“
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AP
K. B. KARWASZ
Z
Strahlenkontrolle an Castor-Behälter
Deutschland
Rüttgers: Die Leute sind über die Politik
CDU
„Ein Stück ratlos“
Der stellvertretende Unions-Fraktionschef und nordrhein-westfälische Landesparteichef Jürgen Rüttgers, 48, über
die Strategie seiner Partei
B. THISSEN
SPIEGEL: Während Schröder versucht,
die SPD nach rechts zu steuern, mutet
manchen die Union schon links an.
Woran liegt das?
Rüttgers: Auslöser dieser neuen Unübersichtlichkeit ist das so genannte
Schröder-Blair-Papier. Das politische
Koordinatensystem hat es gründlich
durcheinander gebracht.
SPIEGEL: Wo bleibt Platz für die CDU?
Rüttgers: In der Mitte. Es gibt sicher ein
Stück Ratlosigkeit, wie die Union auf
Rüttgers
das Schröder-Blair-Papier reagieren soll.
Ein Grund dafür liegt darin, dass die
Union nach ihrer verheerenden Wahlniederlage bei der Bundestagswahl
zwar Wahlen gewinnt und erfolgreiche
Kampagnen führt. Mit der Neufundierung ihrer Politik hat sie aber gerade
erst begonnen.
SPIEGEL: Täuschen die erreichten Wahlsiege über die wahren Machtverhältnisse im Land hinweg?
LEBENSMITTEL
Sicheres Label
Z
um ersten Mal können Verbraucher
in nordrhein-westfälischen Supermärkten garantiert Gentechnik-freie
Produkte kaufen. Um die Lücken einer
europäischen Lebensmittel-Verordnung
zu schließen, hatte der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
(BUND) eine umfassendere Kennzeichnung entwickelt. Das Logo „Ohne Gend e r
der Regierung zutiefst verärgert; davon
profitiert die Union. Die CDU war auch
am Ende ihrer Regierungszeit nie so
schlecht wie Rot-Grün jetzt. Was ihr
aber zum Ende ihrer Regierungszeit
fehlte, war eine gesellschaftliche Perspektive. Daran mangelt es noch immer.
Wir müssen ran an die Wirklichkeit.
SPIEGEL: Ist sich die Union denn einig
bei der Beschreibung der Wirklichkeit?
Rüttgers: Es gibt Widersprüche zwischen der Politik der Union und der Lebenswirklichkeit der Menschen. Der
größte Fehler der CDU wäre es, sich
den Geist des Schröder-Blair-Papiers zu
eigen zu machen. Ziele und Werte der
„neuen Mitte“ sind Wirtschaftswerte.
Politik ist aber mehr. Sie muss an
Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert sein.
SPIEGEL: Solche Sätze könnte der SPDSozialexperte Rudolf Dreßler sagen.
Rüttgers: Das Neue, was die SchröderClement-SPD nicht sieht, ist das Ende
der Industriegesellschaft und der Beginn der Wissensgesellschaft. Der
Mensch ist erstmals nicht mehr Objekt
ökonomischer Strukturen. Er rückt mit
seinen Talenten in den Mittelpunkt.
SPIEGEL: Machen Sie den Grünen Konkurrenz?
Rüttgers: Eine neue Mehrheit wird die
Union nur erringen, wenn sie Antworten
für die Zukunft findet: auf die kulturelle
Revolution durch neue Kommunikationsformen, auf das Phänomen der alternden
Gesellschaft und vor allem auf den beschleunigten Strukturwandel von Arbeits- und Wirtschaftsleben. Wir brauchen eine Neubestimmung des Sozialstaats. Noch in diesem Jahr muss die Union eine neue Familienpolitik entwickeln.
SPIEGEL: Die Fluglinie Deutsche BA hat
sich auf einem Werbeplakat bereits
scherzend angeboten, Sie zum Kanzler
zu befördern. Wäre das im Ernst denkbar?
Rüttgers: Nein. Ich bewerbe mich als
Ministerpräsident in NRW. Ich gehe im
Mai 2000 nach Düsseldorf.
technik“ können nur Lebensmittel tragen, deren gesamter Produktionsweg
frei von gentechnischen Methoden ist –
einschließlich der Herstellung aller
Hilfs- und Zusatzstoffe. Diese verschärfte Kennzeichnungs-Verordnung war
1998 vom Bundesrat verabschiedet worden. In 33 Famila- sowie 58 CombiMärkten stehen jetzt die ersten „Ohne
Gentechnik“-Produkte in den Regalen.
Auch Tengelmann, Rewe sowie tegut
wollen laut BUND bei Eigenmarken auf
Gentechnik verzichten.
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Panorama
Deutschland
Am Rande
Schwanz mit Hund
20
Briten feiern die Aufhebung des Rindfleisch-Exportverbots mit kostenlosen Beef-Burgern
BSE
Brüssel gibt Zeit
D
ie Europäische Kommission lässt der Bundesregierung Zeit, die Einfuhr von britischem Rindfleisch zu erlauben. Zum August hatte Brüssel das Exportverbot für
Großbritannien aufgehoben, nun muss der Beschluss ins nationale Recht übernommen werden. Die Deutschen haben zwar angekündigt, hinhaltenden Widerstand zu
leisten, das aber nimmt in Brüssel niemand sehr ernst: Die Verordnung ist nach EURecht bereits wirksam. Wer wollte, könnte auch jetzt schon die Einfuhr von britischem Beef vor Gericht durchsetzen – auch wenn er Schwierigkeiten hätte, das
Fleisch hierzulande an den Mann zu bringen. Um die Vorgabe in deutsches Recht
umzusetzen, muss eine Regierungsvorlage erstellt und vom Bundesrat bestätigt werden. Der tritt aber erst am 24. September wieder zusammen. Vor dem Bann betrug
der Anteil britischen Fleisches auf dem deutschen Markt rund 0,1 Prozent.
MECKLENBURG-VORPOMMERN
Prechtels letzter Sieg
E
F. HORMANN / NORDLICHT
enn der Schwanz mit dem
Hund wedelt, dann zeigt
der Schwanz Charakter, und der
Hund hat ein Problem. Man werde die SPD-Regierung in Sachsen-Anhalt nicht ewig tolerieren,
drohte Gregor Gysi vergangene
Woche, spätestens nach der
nächsten Landtagswahl müsse die
SPD eine formelle Koalition mit
der PDS eingehen. Wenn nicht,
werde die PDS über
eine „andere Konstellation“ nachdenken. Eben noch
wollten die Postsozialisten Wähler
aus dem rechten
Spektrum anlocken, die eigenen
altersmüden Genossen mit vitalen DVU-Kämpfern und jungen
Republikanern aufmischen, nun
stellt Gysi der SPD Bedingungen
und macht sich daran, die SPD
zu beerben. „Zwölf Thesen für
eine Politik des modernen Sozialismus“ heißt das Programm, dessen Inhalt ebenso atemraubend
daherkommt, wie es schon die
Überschrift verspricht: „Gerechtigkeit ist modern“. Ja, wenn die
DDR nicht unerwartet untergegangen wäre, hätte Gregor Gysi
längst bewiesen, wie modern der
Sozialismus sein kann, vor allem,
wenn er sich mit Gerechtigkeit
verbindet. Da aber vor zehn Jahren die Zeit gerade reichte, die
SED in PDS umzutaufen, will er
das Versäumnis jetzt nachholen.
„Wandel durch Annäherung“,
hieß die Strategie mal bei den
Sozialdemokraten, nun läuft alles auf „Annäherung durch Übernahme“ hinaus. Und wenn die
PDS demnächst das „Godesberger Programm“ der SPD zu
ihrem eigenen Erbe erklärt, werden die Sozialdemokraten ganz
schön alt aussehen – die Modernisierungsverlierer der Berliner
Republik und – mit viel Glück –
Juniorpartner der PDS in Sachsen-Anhalt.
T. ANDREWS
W
inen Strafbefehl über sieben Tagessätze à 200 Mark (inzwischen rechtskräftig) hat die ehemalige Vorsitzende
der PDS-Fraktion im
Schweriner Landtag,
Caterina Muth, 41, erhalten. Ende 1998 hatte sie in einem Neubrandenburger Drogeriemarkt Wimperntusche und einen Eyeliner gestohlen – im
Prechtel
Gesamtwert von 22,90
Mark. Sie trat daraufhin zurück. Der in den einstweiligen Ruhestand versetzte Generalstaatsanwalt
von Mecklenburg-Vorpommern, Alexander Prechtel (CDU), hatte es abgelehnt,
das Verfahren wegen Geringfügigkeit
einzustellen. Als das Justizministerium
verfügte, dass Verfahren wegen Ladendiebstahls bei Ersttätern und Beutewert
bis hundert Mark eingestellt werden
können, plädierte Prechtel dagegen.
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Nachgefragt
Keine Hektik
Neben den bekannten Versorgern verkaufen jetzt auch neue
Anbieter Strom an Privathaushalte. Wie werden Sie sich
verhalten?
Ich werde so bald wie möglich zu
einem neuen Anbieter wechseln
Ich warte ab und
beobachte den Strommarkt
Ich bleibe bei meinem
bewährten Anbieter
4
61
31
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 3. und 4. August;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Kundenansturm beim Sonntagsverkauf*: Mit Etiketten-Schwindel den Umsatz gesteigert
KONSUM
Kampf um den Sonntag
Händler und Warenhauskonzerne in den Innenstädten, vor allem in Ostdeutschland,
brechen mit phantasievollen Aktionen das Tabu der Sonntagsruhe.
Die Kirchen fürchten um die letzte Bastion ihres Feiertags, die Kunden sind begeistert.
I
M. EBNER / MELDEPRESS
n deutschen Warenhäusern
renfetischismus den revolusollte die Revolution begintionären Kampf gegen die
nen. Im traditionsreichen
Staatsgewalt selbst aufgenomFrankfurter Kaufhaus Schneimen. Am vorvergangenen
der platzierten Andreas Baader
Sonntag setzte sich Günter Bieund Gudrun Ensslin 1968 zwei
re, 55, Geschäftsführer des
Brandsätze. „Wann brennen die
Kaufhofs am Berliner AlexanBerliner Kaufhäuser?“, fragten
derplatz, über alle Gesetze und
die Berliner Kommunarden
Verordnungen hinweg. Punkt 12
Fritz Teufel und Rainer LangUhr öffnete der zwirbelbärtige
hans auf Flugblättern, die später Minister Müller
Kämpe des Konsums („Ich
gerichtsmäßig als satirische Dohabe schon 1979 in Kleve für
kumente gewürdigt wurden. Mit Herbert die Fußgängerzone gekämpft“) die Türen
Marcuse im Hinterkopf galt der Kampf dem weit für die Kundschaft.
Konsumterror des kapitalistischen Staates.
Legal, illegal, scheißegal: Es ging gegen
Verlorene Schlachten, vergangene Zei- das letzte Tabu der Konsumgesellschaft,
ten. Nun aber haben die Manager des Wa- das Verbot des Verkaufs am Sonntag.
Listig wie einst der Apo-Teufel nahm der
* Am 1. August in Berlin.
Kaufhaus-Chef die neueste Rechtsverord22
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nung des Berliner Senats auf den Arm. Der
hatte die City zur Touristenzone erklärt
und damit den Verkauf von Reisebedarf
und Andenken auch am Sonntag erlaubt.
Als „Berlin-Souvenir“ kennzeichnete ein
grüner Aufkleber mit dem Brandenburger
Tor fast das gesamte Sortiment, von Würstchen aus Eberswalde über Calvin-KleinJeans bis zu Monatsbinden.
Der Etiketten-Schwindel lockte schon
in den ersten Minuten 5000 Shopper in den
Kaufhof, bis zum Ladenschluss um 17 Uhr
waren es 50 000 Besucher. In fünf Stunden
machte Biere soviel Umsatz wie sonst in
den elf Öffnungsstunden eines normalen
Tages.
Der Kampf gilt nicht mehr dem Konsumterror, sondern dem Terror gegen den
Konsumenten: dem Ladenschlussgesetz
Gottesdienst (in München): Ermahnung vom Papst
von 1956, das auch in der novellierten Fassung von 1996 von Montag bis Freitag die
Rollläden um 20 Uhr heruntergehen lässt
– und am Sonntag den Verkauf nur als Ausnahme gestattet.
Das Experiment der Öffnung wagen gerade im Osten immer mehr Kommunen.
In Leipzig tummelten sich zeitgleich zu
Berlin 100 000 Konsumenten in der offenen
Innenstadt. Auch Halle und Dessau machten mit. In Mecklenburg-Vorpommern erlaubt die „Bäderregelung“ schon seit längerem 192 Gemeinden die Ladenöffnung
am Sonntag.
Der Westen aber schaut zu und wartet
ab, wie die Gerichte und der Staat entscheiden.
Der Kampf um die offene Ladentür ist
wie kaum ein anderes Thema zum Symbol
für den schwierigen Weg der Deutschen in
eine neue Gesellschaft geworden. Flexibel,
Service-orientiert und offen für den Wettbewerb soll sie werden – und doch die alten Werte der sozialen Gerechtigkeit, des
Gruppenkonsenses und der kulturellen
Identität hochhalten. Ringsum in Europa,
von den USA gar nicht zu reden, ist die
Kauffreiheit schier grenzenlos – nur hier in
Deutschland gilt strikt: sonntags (fast) nie
(siehe Grafik Seite 25).
In einer heiligen Allianz wettern Gewerkschafter und Kirchen gegen die Sonnd e r
tagsschänder, als sei das christliche Abendland in Gefahr. Auf Flugblättern protestierte die Gewerkschaft Handel, Banken und
Versicherungen (HBV) in Berlin gegen die
„Verlotterung von Sitte,Anstand, Moral und
Gesetzestreue“. Der Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD), Manfred Kock, geißelte den sonntäglichen „Tanz ums goldene Kalb“.
Strenggläubige Sozialdemokraten vereinen sich im Horror vor dem offenen
Sonntag mit den Christen. Der Hamburger
Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) will
die Hansestadt am Tag des Herrn weiter geschlossen halten, auch wenn die treulosen
Konsumbürger in die offene Stadt Schwerin pilgern. Der bibelfeste Bundespräsident
Johannes Rau mahnte, der Sonntag sei
„kein beliebiger Tag“, man dürfe ihn nicht
„zur Verfügungsmasse für Konsum und
Verkauf“ machen.
Die Kirchen sehen schon seit langem
grämlich zu, wie ihr Feiertag durch weltliche Freizeitbeschäftigungen profanisiert
wird, die oft eine weitere Zunahme der
Sonntagsarbeit in den Dienstleistungsberufen nach sich ziehen. Vergangenes Jahr
mahnte der Papst in einer 111-seitigen Epistel „Dies Domini“ die „Sonntagspflicht“
zum Messebesuch an und gebot den katholischen Christen, alle Tätigkeiten zu vermeiden, die „mit der Heiligung des Sonn-
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Konsumkritiker Rau
„Kein beliebiger Tag“
ARIS
S. LAMBERT
F. HELLER / ARGUM
tags“ unvereinbar sind.
Denn „indem der Christ die
Ruhe Gottes ehrt, findet er
sich selbst voll und ganz“.
Erst mit dem Beginn der
Industrialisierung wurde in
Deutschland das jahrhundertelang unbestrittene dritte Gebot zur Sabbat- und
Sonntags-Heiligung („Da
sollst du keine Arbeit tun“)
regelmäßig missachtet. Nach
dem morgendlichen Kirchgang jedenfalls hatten die
Arbeiter in der Fabrik
zu erscheinen, auch wenn
in Norddeutschland der
Spruch ging: „Op Sünndagsarbeit folgt ken Glück un Segen.“ Erst 1891 wurde die
Sonntags-Tätigkeit für die
gewerblichen Arbeiter ausdrücklich per Gesetz verboten – ein symbolträchtiger
Sieg der Sozialdemokratie
und der Gewerkschaften gegen „das Kapital“.
Der Arbeitswoche einen
Rhythmus mit Ruhetag zu
geben ist auch vielen Irreligiösen ein Bedürfnis – trotz
oder gerade wegen der immer stärkeren Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Der
Kulturhistoriker Wolfgang
Schivelbusch etwa, als freier
Autor an keine Stundenregeln gebunden, verspürt doch die Neigung
zum Werk- und Sonntag-Rhythmus: „Das
hat etwas Dumpf-Solidarisches und ist beruhigend.“
Von einer „massiven Nachfrage“ nach
einer weiteren Liberalisierung des Ladenschlusses könne jedenfalls keine Rede sein,
sagt Uwe-Christian Täger vom Ifo-Institut,
das für die Bundesregierung ein Gutachten
zum Ladenschlussgesetz erstellt. Nach ei-
R. NOBEL / ARGUM
Deutschland
Einkaufsstraße Oxford Street in London (an einem Sonntag): Shoppen ohne Schranken
Ab 3000 v. Chr.
Bei den Babyloniern, Griechen
und später den Römern gilt die
Planetenwoche, ohne den „Tag
der Sonne“ hervorzuheben.
Um 1200 v.Chr. Das Alte
Testament schreibt in Exodus
34,21 vor, den siebten
Wochentag (Samstag) der
Ruhe zu widmen.
321 n. Chr. Konstantin
der Große erhebt den Sonntag
als Auferstehungstag Jesu
zum christlichen Feiertag und
verordnet das Ruhen aller
„knechtlichen Arbeit“.
24
Um 1250
Um 1530
Thomas von Aquin
überträgt die alttestamentarischen
Vorstellungen der
Sabbatheiligung
der Juden auf den
Sonntag („Sabbat des neuen
Bundes“). Das alte
katholische Kirchenrecht schreibt nun Messebesuch, Enthaltung von schwerer körperlicher Arbeit sowie Unterlassung von Gerichtsverhandlungen und öffentlichen
Märkten vor.
Martin Luther lehnt
die Übernahme des
Arbeitsverbots am
Sabbat auf den
Sonntag ab; den
Feiertag zu heiligen
bedeute, das Wort
Gottes zu hören.
Sein reformierter
Gegenspieler Johann
Calvin verkündet, der
Sonntag diene auch
der Erholung von der
Arbeit.
1522 Herzog Heinrich von Sachsen
Oliver Cromwell verhängt in England ein vollständiges Ruhegebot für den Sonntag.
A KG
Sonntags nie?
pflegung, 20 zusätzliche Ausbildungsplätze
sind ebenfalls mit im Paket.
Dennoch flog der Etiketten-Schwindel
vergangene Woche auf. Das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte ein Verbot des
allgemeinen Sonntagsverkaufs mitsamt
dem verhängten Zwangsgeld von 50 000
Mark, da die Deklarierung aller Waren
als Souvenirs „eine durchsichtige Umgehung“ sei und eine „negative Vorbildwirkung“ habe. Auch das vom Kaufhof angerufene Oberverwaltungsgericht sah das am
vorigen Freitag nicht anders. Das Warenhaus blieb am darauf folgenden Sonntag
zu. In Halle durfte die Kaufhof-Filiale dagegen zusammen mit anderen Händlern
dank einer vorläufigen Eilentscheidung
wiederum öffnen.
Zuvor hatte schon ein kleiner Teehändler vom Kurfürstendamm dem großen Konkurrenten eine Teilniederlage beigebracht.
Werner Schmitt, 59, vom „King’s Teagarden“ ließ Kaufhof den Verkauf von Tee
und Zubehör per einstweiliger Verfügung
verbieten. Der stadtbekannte Quertreiber
überprüfte die Einhaltung persönlich im
Sonntagsgewühl und konnte trotz abge-
verbietet das Arbeiten an Feiertagen.
d e r
Um 1640
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P. G L AS E R
ner Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap sind 62 Prozent der
Deutschen gegen die Sonntagsverkäufe,
bei jüngeren Konsumenten ist die Ablehnung allerdings weniger ausgeprägt als bei
Senioren.
Eingedenk der christlich-roten Einheitsfront hatte Kaufhaus-Manager Biere seinen Anschlag auf die Sonntagsruhe generalstabsmäßig vorbereitet. Schon 1997
versammelte er in diskreten Gesprächsrunden Gewerkschafter und Senatsvertreter zwecks Belebung der Innenstadt. Nach
vier bis fünf Runden verlor der quirlige
Manager Anfang 1999 allerdings die Geduld und ergriff allein die Initiative: „Bis
Jahresende ist der Ladenschluss gekippt.“
Betriebsratschef Klaus-Dieter Jahns,
pflichtgemäß grundsätzlich gegen Sonntagsarbeit, beugte sich schließlich dem
Spruch der Einigungsstelle – zu verlockend
war auch das Angebot: Die Ausgleichsregelung für die Sonntagsarbeit sieht einen
zweijährigen Kündigungsschutz vor, gewährt dem Verkaufspersonal Umsatzbeteiligung und 120 Prozent Sonntagslohnzuschlag sowie kostenlose Kantinen-Ver-
deckter Tee-Auslagen am Alex eine Kanne
im Wert von 69 Mark erstehen. Nun muss
der Kaufhof mit einem Ordnungsgeld von
500 000 Mark rechnen.
Denn Biere streitet natürlich nicht selbstlos für die Konsumentenfreiheit. Die Sonntagsaktion ist Teil eines gnadenlosen Verteilungskampfes der Händler. Der Umsatz
im Berliner Einzelhandel schrumpft kontinuierlich seit sieben Jahren. 1998 ging der
Verkauf im Vergleich zum Vorjahr um 861
Millionen Mark zurück, in diesem Jahr befürchtet der Gesamtverband des Berliner
Einzelhandels ein weiteres Minus von zwei
Prozent.
Der gesamten Branche in Deutschland
geht es kaum besser, der Umsatz stagniert
seit Jahren bei etwa 720 Milliarden Mark.
Besonders den ostdeutschen City-Händlern machen die Einkaufszentren auf der
grünen Wiese zu schaffen, die Verkaufsflächen sind weit überdimensioniert.
Dem aufmüpfigen Teemann schlossen
sich vergangene Woche zahlreiche Einzelhändler aus Berlin an. „Im Viertelstundentakt“, so der Händler-Anwalt Bernd Nieding, schickten sie dem Kaufhof einstweilige Verfügungen wegen „wettbewerbswidrigen Verhaltens“.
Die Chancen der klagenden Händler stehen nicht schlecht. Denn die Verletzung
der Sonntagsruhe durch Kaufhof rennt gegen eine Norm an, die immerhin Verfassungsrang hat. „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage
der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“, heißt es in Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung,
der nach dem Grundgesetz ausdrücklich
weiterhin gilt. „Zwar stellt diese Norm kein
Bollwerk dar, das jegliche Gesetzesänderungen verhindert“, meint der Münsteraner Verfassungs- und Kirchenrechtler Dirk
Ehlers, „aber die Sonntagsruhe darf nach
dem Grundgesetz auch kein leeres Versprechen sein.“
Das Bundesverfassungsgericht hat 1992
und 1995 wiederholt festgestellt, dass der
Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet ist, durch gesetzliche Regelungen
Um 1790 Französische Aufklärer versuchen vergebens, die Sieben-Tage-Woche
mitsamt dem Sonntag abzuschaffen
und die zehntägige Woche einzuführen.
Um 1800 Mit der Industrialisierung
wird in Deutschland für weite Teile der
arbeitenden Bevölkerung die Sonntagsruhe abgeschafft.
1839 Preußen verbietet die Fabrikarbeit
von Minderjährigen an Sonn- und Feiertagen.
1849 Die Preußische Gewerbeordnung
bestimmt, dass niemand zur Sonntagsarbeit verpflichtet ist, die Vorschrift hat aber
praktisch wenig Auswirkungen.
1891 Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz verbietet ausdrücklich die
gewerbliche Sonntagsarbeit.
„die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen
zu schützen“.
Solche Regelungen finden sich im Arbeitszeitgesetz und im Ladenschlussgesetz.
Ihre klare Aussage: Sonntags bleibt zu –
von Ausnahmen abgesehen. Apotheken,
Tankstellen, Bäckereien, Blumenläden und
Zeitungskioske dürfen auch an Sonntagen
geöffnet haben ebenso wie Geschäfte für
Reisebedarf auf Bahnhöfen und Flughäfen.
Weitere Ausnahmen können die Bundesländer zulassen – genau dadurch droht jetzt
die Sonntagsarbeit zur Regel zu werden.
Die Berliner „Verordnung über den Ladenschluss in Ausflugs- und Erholungsgebieten“ legt seit 16. Juli fest, dass elf Berliner Stadtgebiete, darunter der „Innenstadtbereich mit zahlreichen touristischen
Anziehungspunkten“, als Ausflugs-und Erholungsgebiet gelten. In solchen Gebieten
dürfen nach dem Ladenschlussgesetz an
bis zu 40 Sonn- und Feiertagen im Jahr
Geschäfte für acht Stunden öffnen, die touristische Waren verkaufen: „Badegegenstände, Devotionalien, frische Früchte, alkoholfreie Getränke, Milch- und Milcherzeugnisse“ führt das Ladenschlussgesetz
einzeln auf, „Süßwaren, Tabakwaren, Blumen und Zeitungen sowie Waren, die für
diese Orte kennzeichnend sind“.
Was den Ort kennzeichnet, erklärte das
Regierungspräsidium Halle den SonntagsHändlern etwa so: Die einheimische Spezialität der Hallorenkugeln dürften sie verkaufen, nicht aber Mozartkugeln. „Dass
das gesamte Kaufhaus-Sortiment zum Gegenstand des Tourismus wird, ist sicher
nicht grundgesetzkonform“, meint Verfassungsjurist Ehlers, „denn sonst würde der
Sonntagsschutz zum bloßen Etikett verkommen.“
Doch längst hat der Gesetzgeber die soziale Errungenschaft von einst durchlöchert. 19 Ausnahme-Vorschriften zum
Verbot der Sonn- und Feiertagsbeschäftigung stellt allein das Arbeitszeitgesetz auf.
Damit wird Sonntagsarbeit bei Bundesligaspielen legalisiert, bei Messen, Volksfesten, in der Gastronomie, in Schwimmbädern, Museen, Theatern und Kinos,
1919 Der Schutz von Sonn- und Feiertagen wird in Artikel 139 der Weimarer
Verfassung garantiert.
1949 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernimmt das
Gebot der Weimarer Verfassung unverändert gemäß Artikel 140.
1956 Das Ladenschlussgesetz
regelt Ausnahmen vom Verbot der
Sonntagsarbeit.
1988 Immer mehr Unternehmen,
angeführt vom Computer- und ChipHersteller IBM, verlangen die Genehmigung, dass ihre Anlagen zur besseren
wirtschaftlichen Nutzung auch an
Sonntagen betrieben werden können –
bisher ist dies im Wesentlichen nur aus
technischen Gründen gestattet.
Shoppen ohne Hast Nationale Regelungen
bei den Ladenöffnungszeite
n*
Montag bis Freitag
Samstag
Sonntag
Dänemark
keine Einschränkung zwischen Montag
6 Uhr und Samstag 17 Uhr
Deutschland
6 Uhr bis 20 Uhr
6 Uhr bis 16 Uhr
Bäckereien ab 5.30 Uhr
Frankreich
keine Einschränkung
keine Einschränkung
Großbritannien
keine Einschränkung
Lebensmittelläden bis
12 Uhr, diverse Ausnahmen
keine Einschränkung
Italien
7 Uhr bis 22 Uhr
keine Einschränkung für
kleinere Läden, größere
von 10 Uhr bis 18 Uhr
wie werktags
Niederlande
6 Uhr bis 22 Uhr
im Prinzip geschlossen,
diverse Ausnahmen
wie werktags
Vereinigte
Staaten
keine Einschränkung
im Prinzip geschlossen,
diverse Ausnahmen
keine Beschränkung
keine Beschränkung
im Prinzip geschlossen,
Ausnahme: kleine Läden
OPEN
im Prinzip geschlossen,
vereinzelte Ausnahmen
*ohne Berücksichtigung der Vorweihnachtszeit-Regelungen
natürlich auch für Presse und Rundfunk,
nicht nur für Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr und Verkehrsbetriebe, in der Landwirtschaft, der Energieversorgung.
Das Wachsen der Freizeitgesellschaft
schwächt die alte Sonntags-Allianz von
Kirchen und Gewerkschaften und stärkt
damit die Unternehmen in ihrer Forderung
nach mehr Liberalisierung. Immer mehr
Arbeiten, die früher als reine Werktagstätigkeit galten, sind nun auch an Sonntagen erlaubt.
Der entschieden einfallsreichste Passus
des novellierten Arbeitszeitgesetzes von
1994 verpflichtet die Aufsichtsbehörden zur
Genehmigung von Sonntagsarbeit, wenn
im Vergleich zum Ausland „die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt
ist und durch die Genehmigung von Sonnund Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann“.
Mit diesem Paragraphen ist in der Praxis
fast alles möglich: Die Sachsenring Automobiltechnik AG in Zwickau beispielsweise, ein wichtiger VW-Zulieferer mit rund
1600 Beschäftigten, hat eine Genehmigung
zur Sonntagsarbeit – ebenso wie Volkswagen selbst. Denn auf globalen Märkten droht Konkur1994 Weitere Ausnahmen
renz aus dem Ausland imwerden durch das Arbeitsmer und überall. Alle Bereizeitgesetz legalisiert.
che von Dienstleistungen
1996 Verlängerung der
und Produktion zusammenLadenöffnung auf 20 Uhr,
samstags auf 16 Uhr.
genommen, arbeiten schon
1999 Das Land Berlin
über 20 Prozent der Bebringt im Bundesrat eine
schäftigten am Sonntag.
Novelle des LadenschlussNeun Bundesländer, auch
gesetzes ein, nach der die
das gottesfürchtige Bayern,
Öffnungszeit an Werktagen
haben durch eigene Verordbis 22 Uhr ausgedehnt wernungen die Ausnahmen für
den kann und weitgehende
Sonntagsarbeit noch ausAusnahmen vom Gebot der
geweitet. So dürfen nach
Sonntagsruhe möglich sind.
der „Bedarfsgewerbeverordnung“ des Landes Nordrhein-Westfalen Gärtner an
Sonntagen ebenso arbeiten
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wie Immobilienmakler und Beschäftigte in
Musterhaus-Ausstellungen, bei Auskunftsund Auftragsdiensten, die über Telefon und
Internet arbeiten, bei Brauereien, im Getränkegroßhandel und in Speiseeisfabriken.
Der Regensburger Arbeitsrechtsexperte
Reinhard Richardi hat im Auftrag der Gewerkschaft HBV diese Ausnahmeregelungen begutachtet. „Diese Verordnung ist ein
glatter Rechtsbruch“, stellt Richardi fest:
„Was eigentlich dem Schutz des Sonntags
dienen sollte, wird eingesetzt, um die Sonnund Feiertagsruhe auszuschalten.“
Die generelle Freigabe der Sonntagsarbeit, das meinen die meisten zuständigen
Minister in Bund und Land, ist „weder
wünschenswert noch durchsetzbar“, wie
es etwa der Düsseldorfer Wirtschaftsminister Peer Steinbrück (SPD) versichert. Die
werktäglichen Geschäftszeiten allerdings
werden wohl bald noch weiter in den
Abend ausgedehnt.
Der Berliner Senat hat eine Novelle in
den Bundesrat eingebracht, die das Ladenschluss- in ein „Ladenöffnungsgesetz (LadÖffG)“ umtauft und von montags bis samstags den Verkauf zwischen 6 und 22 Uhr
gestattet. Steinbrück sieht „gute Chancen“,
dass sich das „Berliner Modell“ auf der
nächsten Länder-Wirtschaftsministerkonferenz im Oktober in Freising durchsetzt.
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller möchte dagegen am Ladenschlussgesetz nicht rühren – doch nur mit dem Hintergedanken, die Kaufzeitreglementierung
vollends auszuhebeln. Das bestehende
Recht sehe genügend Ausnahmen vor wie
etwa für Kurorte: „Den Ladenschluss erledigt die kreative Kommune, dazu wird der
Wirtschaftsminister nicht gebraucht.“
Für ausreichende Lockerung, so Müllers
Tipp, genüge es schon, „einfach auf die Sehenswürdigkeiten hinzuweisen“.
Dietmar Hipp, Hendrik Munsberg,
Michael Schmidt-Klingenberg,
Adrienne Woltersdorf
25
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Gaspipeline (in Sibirien)
Atomkraftwerk (Grohnde)
Gefährdete Technik bei der Jahrtausendwende
MILLENNIUM
Die Nacht der Doppelnull
Legt ein Computer-Crash an Silvester die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt lahm? Die
Krisenszenarien der Bundesregierung, bei Behörden und Unternehmen
klingen dramatisch. Wirtschaftsminister Werner Müller würde trotzdem ins Flugzeug steigen.
I
* Am 1. Mai 1997 in der Microsoft-Zentrale bei Seattle.
28
fest zu machen. Doch der Aufwand bietet
keine Gewähr, dass auch der letzte veraltete Chip, das letzte überholte Programm
aufgerüstet worden ist.
Die Szenarien sind mal wüst, mal beschwichtigend (siehe Seite 30). Bundeskanzler Gerhard Schröder („Ist doch
harmlos“) und sein Wirtschaftsminister
Werner Müller neigen persönlich nicht zur
apokalyptischen Weltsicht. Nachdem sich
Müller erst einmal erklären ließ, dass das
international gebräuchliche Kürzel Y2K
(„Y“ für year, „K“ für Kilo = 1000) für
„Jahr 2000“ steht, winkte er heldenhaft
ab. Er würde sogar fliegen, verkündete der
parteilose Ökonom, obschon den Kabinettsmitgliedern nahe gelegt worden ist,
möglichst kein Flugzeug zur Jahrtausendwende zu besteigen.
Ähnlich locker gibt sich der einstige IBMMann Peter de Jager, der Mitte der Neunziger die erste Y2K-Hysterisierungswelle
mit auslöste – und prächtig daran verdiente. Jetzt, sagt er, sei das Problem praktisch
gelöst, weil die westlichen Industrieländer
ihre wichtigsten Rechner gecheckt und
nachgerüstet hätten (siehe Seite 32).
Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zum Jahr-2000-Problem ist da weniger optimistisch: Es bestehe „das Potenzial für weit reichende wirtschaftliche
Störungen“. Selbst bei penibler Prüfung
bestehe „ein Restrisiko für krisenhafte
Schadensereignisse mit breitflächigen, unvorhersehbaren Störungen“.
Doch eine Weissagung ist so gut wie die
andere. Denn die Propheten führen einen
Glaubenskrieg. „Was wirklich passiert“,
Microsoft-Chef Gates, Besucher Schröder*: „Ist doch harmlos“
M. DARCHINGER
n den letzten Wochen wurde Staatssekretärin Brigitte Zypries, 45, von Kollegen aus dem Bundesinnenministerium immer mal wieder auf ihre Pläne für
die Silvesternacht angesprochen.
Die Fragenden wissen natürlich, wo Zypries feiert – und spekulieren auf eine Einladung. Denn die Staatssekretärin bittet
zur schrägsten Millennium-Party der Republik. Wirtschaftsstaatssekretär Alfred
Tacke hat sich schon angemeldet.
Im Ministerium in Berlin-Moabit werden EDV- und Kommunikationsspezialisten bei Wasser, Saft und Kaffee sitzen
und vom späten Nachmittag an, noch vor
„Dinner for One“, auf Monitore und Fernschreiber starren.
Am anderen Ende der Welt passiert nämlich schon, was wenige Stunden später Europa ereilt: Die Uhren springen vom
31. 12. 1999 um auf den 1. 1. 2000. Ob die
weltweit geschätzten 40 Milliarden Mikrochips mitspringen, ist fraglich. Denn bei älteren Systemen wurde, um Speicherplatz
zu sparen, die Jahreszahl in zwei Ziffern
angegeben: 99 statt 1999.
Die Doppelnull aber werden viele der
elektronischen Bausteine nun als Jahr 1900
missverstehen und verrückt spielen: Was
nicht millenniumsfest ist, bringt womöglich Herzschrittmacher zum Stillstand,
lässt Bankdaten verschwinden und U-Bahnen blockieren – das Armageddon der Generation Microsoft.
Weltweit werden etwa 1500 Milliarden
Mark verpulvert, in Deutschland allein 10
Prozent davon, um Rechner jahrtausend-
Baby-Brutkasten in Klinik
Kampfjet (beim Betanken)
F. MAYER / MAGNUM / AGENTUR FOCUS (1); R. JANKE / ARGUS (2); FROMMANN / LAIF (3); MARKEL / GAMMA / STUDIO X (4)
sagt Staatssekretärin Zypries, „das können wir erst am Neujahrsmorgen sagen.“
Ein interner Bericht für den Berliner Innensenat bringt es auf den Punkt: „Die Spekulationen variieren zwischen ,vermutlich
alles im Griff‘ und ,totaler Zusammenbruch
des öffentlichen Lebens‘. Es ist derzeit noch
unklar, ob eher die optimistische oder eher
die pessimistische Prognose zutrifft.“
Der Report aus der Hauptstadt zeichnet
ein negatives Szenario: Werden die Befürchtungen wahr, fallen PC älterer Bauart
aus, ebenso Telekommunikationsanlagen
und Endgeräte; Kontrollchips befehlen
Fahrzeugen, Antrieben und Aggregaten die
Abschaltung, das Motormanagement, ABS
oder Zentralverriegelung bei Autos versagen. Bis zu 30 Prozent der elektromedizinischen Geräte sind bedroht, zudem warnt
das Dossier vor einem Zusammenbruch
des Strom- und Gasnetzes.
Allein die Gefahr durchgeknallter Computer könnte bis zum Winter eine Massenhysterie auslösen: Der Jahrtausendwechsel, von Medien, Gurus und Hysterikern
mystisch überhöht, schafft sich in Kombination mit dem Y2K-Problem seine eigene
surreale Panik, die durch die Wirklichkeit
nicht gedeckt, aber durch die Macht der
Phantasie kräftig befeuert wird. In den
USA wird bereits gehamstert, Waffen und
Notstromdiesel werden angeschafft.
Eine weitere Sorge treibt insbesondere
Firmen um: Unter den zahllosen Programmierern, die derzeit weltweit Rechnersysteme nachrüsten, könnten sich kriminelle Elemente befinden, die Viren installieren oder sich einen Dauerzugang zu
sensiblen Daten verschaffen. Denn in einem mittelständischen Unternehmen müssen 12 Millionen Programmzeilen geprüft
werden, weil sich viele Unternehmen ihre
Software und Netzwerke haben maßschneidern lassen.
Ob das Tuning geholfen hat, wird sich
zunächst schon am 9. September zeigen:
Ältere Software nimmt die Ziffernfolge
9999 im Datumsfeld als Signal zum Beenden des Programms.
Tests, die den Datumssprung simulieren, lassen Schlimmes befürchten:
π Als die Verantwortlichen in einem
Chrysler-Werk den Januar 2000 vorgaben, schlossen sich die computergesteuerten Sicherheitstore der Autofabrik –
stundenlang kam niemand hinein noch
hinaus.
π Bei Los Angeles brachte eine Simulation
des Jahrtausendwechsels eine Wasseraufbereitungsanlage zum Überlaufen,
mehr als 15 Millionen Liter ungeklärter
Abwässer überschwemmten mehrere
Straßenzüge und einen öffentlichen Park.
π Ein Test auf dem Containerschiff APL
„Singapore“ legte dessen Maschine lahm,
der 58 000-Tonnen-Gigant trieb steuerlos
auf den Hafen von Los Angeles zu.
Während sich Großunternehmen schon
seit Jahren mit dem drohenden Crash befassen, sind Mittelständler, Kommunen und
private Anwender eher arglos.
Insbesondere für Kleinbetriebe und Bürgermeister hat Kanzler Schröder seine Millenniums-Task-Force eingesetzt. Staatssekretärin Zypries und ihr Kollege Tacke sollen bis zum Jahreswechsel auch den letzten Deutschen vor der Gefahr warnen.
Doch der fünf Millionen Mark teure Informationsfeldzug mit Telefon-Hotline, Internet-Seite, CD-Rom und Broschüren wird
nicht alle erreichen. Der Innenminister hat
bereits die Parole „Eigenverantwortung“
ausgegeben: Otto Schily verzichtet bewusst
auf die Überprüfung der Industrie. Die
Angst um Daten und Geschäftsgang werde
schon disziplinierend wirken.
So ist es. Die Funktionäre der Autoindustrie, Deutschlands wichtigstem Wirtschaftszweig, haben nach US-Vorbild einen dicken Fragebogen entworfen, der
tausenden von Zulieferfirmen per Post ins
Haus flatterte. Die Autokonzerne, die von
der termingenauen Teile-Lieferung abhängen, wollen genau wissen, wie sich ihre
Zulieferer vor der Datumsfalle schützen.
Wer mit der Auskunft trödelt, bekommt
umgehend Besuch von Inquisitorentrupps
der Konzerne, die sich mit eigenen Augen
von der Krisenprävention überzeugen.
Das Desinteresse der Regierung an einer
Überprüfung der Wirtschaft hat bereits einige Oppositionsabgeordnete alarmiert. Im
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Vergleich zum 2. Bericht der US-Regierung vom April falle der Fortschrittsbericht
der Bundesregierung dürftig aus, kritisieren sie. Bei der Chemieproduktion, die in
den USA als hoch gefährdet gilt, heißt es
im Bundesbericht nur: „Spezielle, auf die
Chemiebranche beschränkte Problemlagen bestehen nicht.“
Etwa 50 000 deutsche Firmen haben sich
bislang überhaupt noch nicht um Y2K
gekümmert. Ein Leichtsinn: Denn die Europäische Kommission nimmt an, dass 15
Prozent aller Unternehmen die 2000-Hürde nicht schaffen und in Konkurs gehen.
Fast jedes 20. Unternehmen in Deutschland, darunter auch große Firmen, so das
Ergebnis einer geheimen Studie von Finanzdienstleistern, könnte durch die Jahrtausendwende ernsthaft in Zahlungsschwierigkeiten kommen.
„Wir können uns nicht um jeden PC in
Deutschland kümmern“, sagt Zypries.
Schließlich hat die Bundesverwaltung genug mit ihren eigenen 130 Großrechnern
und weit über 100 000 Tischgeräten zu tun.
Die Vorgänger-Regierung hatte das Problem nicht übermäßig ernst genommen.
Während US-Präsident Bill Clinton und
der britische Premier Tony Blair das Y2KProblem zur Chefsache erklärten und mit
gewaltigen Aufwand zu lösen begannen,
suchte Kanzler Kohl noch immer nach dem
Grünstreifen auf der Datenautobahn.
Ziemlich düster beschreibt der Bundesrechnungshof in einem internen Papier vom
März die Lage. Für den Bund seien „die
Rahmenbedingungen zur Bewältigung des
Problems sehr ungünstig: Die Software ist
in weiten Teilen überaltert, nach heutigen
Maßstäben ineffizient programmiert, die
Programmdokumentation ist mangelhaft“.
Zumindest die für die Bürger sensibelsten Daten scheinen sicher zu sein. Derzeit
werden etwa die Systeme der Bundesanstalt für Arbeit abschließend auf ihre Millenniums-Festigkeit getestet. Die Rentenversicherer haben Kontoführung und Leistungsberechnungen bereits 1998 auf die
vierstellige Jahreszahl umgestellt. Tests mit
simulierten 2000-Daten verliefen erfolgreich. So weit sind nicht alle Verwaltun29
Deutschland
Störung im Dunkeln
Energieversorger kämpfen darum, dass in der Silvesternacht nicht die Lichter erlöschen.
zeitig auftreten können“, etwa bei
einigen „Drehzahlmessumformern der
Hauptkühlmittelpumpen“, aber auch bei
Überwachungs-, Melde-, Zugangs- und
Kommunikationsrechnern sowie Brandschutzsystemen.
Akribisch prüft die rot-grüne Regierung in Kiel die Jahrtausendtüchtigkeit
ihrer drei Atommeiler. Dabei zeigt sich,
wie anfällig selbst deutsche Reaktoren
sind. Als im Kernkraftwerk Krümmel der
Datumssprung simuliert wurde, spielten
der Kernüberwachungsrechner (er prüft
den Abbrand der Uranstäbe im Reaktorkern) sowie ein Abgasrechner (er bilanziert die Jod- und Edelgasabgabe) verrückt. Beide wurden ausgetauscht.
Im Meiler Brunsbüttel, so heißt es in einem vertraulichen Bericht, wird „zum
Jahreswechsel vermutlich ein einmaliger
Eingriff erforderlich sein, um den störungsfreien Betrieb des Rechners fortzusetzen“. Bis zuletzt behält sich die Landesregierung vor, sie vorübergehend stillzulegen, obschon für die Sicherung der
drei Meiler insgesamt 15 Millionen Mark
investiert wurden.
Anfang 1998 stellte die Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar Gesellschaft
(GKN), Betreiberin der Atommeiler
Neckarwestheim 1 und 2, ein rund 20köpfiges „Projektteam Jahr 2000“ zusammen. Selbst die Drehkreuze am Kraft-
Reaktorwarte in Brokdorf: „Kettenreaktionen mit unabsehbaren Folgen“
werkseingang, so fürchteten die Experten, könnten zum Sicherheitsrisiko werden, wenn sie stundenlang den Zugang
zum Gelände verwehrten.
Rund tausend Aggregate und Geräte
überprüften die GKN-Fachleute bis heute. Jedes fünfte, das zeigten die Checks, ist
mit Chips und Prozessoren bestückt, die
mit Datumsangaben gefüttert werden und
deshalb zum Krisenherd mutieren könnten. Vorsichtshalber tauschten die Techniker inzwischen knapp 60 Geräte aus.
Genau überprüften die Experten die
Prozessrechner für Block 1 und Block 2.
Die beiden Mammut-Datenverarbeitungsanlagen erfassen während des Meilerbetriebs alle Temperaturen, den Druck
und die Füllstände und bereiten die Daten zu übersichtlichen Zahlenkolonnen
und Grafiken auf.
Fallen die Anlagen aus, spucken die
Drucker keine Zahlen mehr aus, werden
die Bildschirme schwarz. Bei Betriebsstörungen arbeiten die Kontrolllämpchen
und -anzeigen weiter, doch weil die
Protokolle fehlen, bleibt womöglich die
Chronologie der Störung im Dunkeln,
und das Kraftwerkspersonal droht den
Überblick zu verlieren. Prompt warf ein
Drucker eine fünfstellige Jahreszahl aus,
als die Techniker unlängst am Prozessrechner von Block 1 den Datumswechsel simulierten.
Gerüstet glauben sich die
GKN-Experten auch für den
Fall, dass das Stromnetz rund
um ihre Meiler ausfällt. Kollabiert es, so jedenfalls steht es
im Krisen-Drehbuch, schalten
die Meiler augenblicklich auf
Eigenversorgung um, damit
die internen Aggregate weiter
laufen können. Im Schnellgang wird dann beispielsweise
an Block 2 die Leistung von
1364 auf knapp 80 Megawatt
heruntergefahren.
Diskret stellen die Energieversorger derzeit die Notfallpläne auf. Leistungsreserven
und Personal sollen verdoppelt werden, in der heißen Zeit
um Mitternacht sind Telefonschaltkonferenzen zwischen
Kraftwerken und Umspannstationen anberaumt. Jedem
Atommeiler ist zudem je ein
S. ELLERINGMANN / BILDERBERG
I
n der kommenden Nacht zum Jahreswechsel können die Bosse der
deutschen Stromkonzerne bestenfalls mit Verspätung zum Feiern übergehen.
Denn wenn das Jahr-2000-Problem
tatsächlich auftauchen sollte, wäre ein
längerer flächendeckender Stromausfall
der heikelste aller anzunehmenden Unfälle: Vom Brutkasten bis zur Reaktorkühlung, von der Verkehrssteuerung bis
zu Alarmanlagen in Banken, von der Benzinpumpe bis zum Telefon – das Leben
könnte schlagartig lahm liegen.
Zwar gelten gerade deutsche Atomkraftwerke wegen ihrer überwiegend
computerarmen Relaistechnik als relativ
unanfällig. Aber die Komplexität der verwobenen Energie-, Computer- und Kommunikationsnetze „ist derart unübersichtlich“, so der schleswig-holsteinische
Energiestaatssekretär Wilfried Voigt,
„dass schon kleinste Ausfälle irgendwo
Kettenreaktionen mit ganz und gar
unabsehbaren Folgen nach sich ziehen
können“.
Laut einem Schreiben der Gesellschaft
für Reaktorsicherheit kann es „auch bei
den in deutschen Anlagen verwendeten
Computersystemen zu Schwierigkeiten“
kommen. Es bestehe „grundsätzlich
die Möglichkeit, dass Störungen und
Ausfälle in mehreren Systemen gleich-
Alphabet der Pannen
Eine Auswahl aus über 100:
Anrufbeantworter, Aufzugsteuerungen
Beleuchtungsanlagen, Brandmeldeanlagen
Chipkartenleser
Drucker, Druckmaschinen
Einbruchmeldeanlagen
Fahrscheinautomaten, Fernschreiber,
funktechnische Anlagen
Gateways, Generatoren
Heizungsanlagen
Kassensysteme, Klärwerkstechnik, Klimaanlagen, Krankenhaustechnik, Kühlanlagen
Leitstellen, Lichtzeichensignalanlagen
Medizinische Geräte, Modems
Netzkarten, Netzwerke, Notstrom-Aggregate
Parkautomaten, Postförderanlagen
Radargeräte, Rolltreppensteuerung
Scanner, Schließanlagen, Schreib- und
Lesegeräte für Kartensysteme
Tankanlagen, Telefonanlagen, Tresoranlagen
Uhrenanlagen
Verkehrsampeln, Verkehrsleitsysteme
Warenautomaten
Zählgeräte (Münzen u. Scheine), Zapfsäulen
gen. Dass es bei der Auszahlung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zu Verzögerungen kommt, gilt als ausgemacht.
Insbesondere in Berlin haben hinter den
Kulissen fieberhafte Vorbereitungen auf
die Silvesternacht begonnen. Innensenator Eckart Werthebach beziffert „das Restrisiko mit ein bis zwei Prozent“.
Der Berliner Feuerwehrchef Albrecht
Broemme bereitet seine Männer darauf
vor, „Brände auch dann zu löschen, wenn
unser Kommunikationssystem ausfällt“.
Dafür werden eigens Fahrzeuge zu Relaisstationen umgebaut. Das Technische Hilfswerk ist vorbereitet, ab Mitternacht vermehrt Menschen aus stecken gebliebenen
Fahrstühlen zu ziehen.
Der vorsorgliche Aktivismus hat seinen
Grund. Denn die Bevölkerung der Hauptstadt wird um mehr als eine Million ausgelassener Silvestergäste anwachsen. Die Feuerwehr befürchtet etwa 1000 Brände in den
ersten sechs Stunden des neuen Jahres.
Löschfahrzeuge werden an zentralen Orten
postiert, ein gefüllter Tankwagen steht bereit. In den Sommertagen üben die Einheiten schon mal „Löschwasserentnahme aus
offenen Gewässern und Brunnen“.
Hat sich das öffentliche Leben am 3. Januar, dem ersten Montag des neuen Jahrtausends, einigermaßen normalisiert, ist
das Millenniums-Problem allerdings noch
nicht ausgestanden. Zum einen droht am
29. Februar der nächste Crash. Denn dann
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W. SCHMITZ / BILDERBERG
konventionelles Kraftwerk zugeordnet,
das, falls die Notversorgung nicht funktioniert, „spätestens nach zwei Stunden
die externe Energieversorgung der Kernkraftwerke wieder herstellen soll“. Der
internationale Stromaustausch, empfiehlt
ein Bund-Länder-Papier, sollte tunlichst
vermieden werden.
Weitaus kritischer als bei den Nuklearmeilern scheint die Situation bei der Gasversorgung zu sein. Wenn im Fall eines
großen Stromausfalls viele Sicherheitsventile der großen Gaspipeline aus
Russland gleichzeitig schließen, muss das
über 148 000 Kilometer verschlungene
Röhrenwerk den Rückschlag aushalten.
Dann droht gleich das nächste Problem. Denn die Gasvorräte Hamburgs
sollen gerade mal für einen halben Tag
reichen.
Entspannter gibt sich die Essener Ruhrgas. Zwar wäre auch die Steuerung des
Netzes von einem Stromausfall betroffen, aber die Experten haben alle Verdichteranlagen, die den Leitungsdruck erhöhen und so den Fluss gewährleisten sollen, mit Notstromaggregaten ausgerüstet,
ebenso Gasspeicher sowie zentrale Messund Regelanlagen.
Selbst ein Totalausfall der russischen
Gaslieferungen schreckt die Essener
nicht. In ihren gewaltigen Untertagespeichern lagern angeblich Vorräte, um ihre
Kunden gemeinsam mit Extrabelieferungen aus Großbritannien, Norwegen und
den Niederlanden ein Vierteljahr lang mit
Gas zu versorgen. Doch auch bei Ruhrgas
sind für Silvester vorsichtshalber Zusatzschichten einbestellt. Eine 1000 Mann
starke Sondertruppe soll im Notfall zur
Stelle sein.
Verglichen mit Osteuropa nehmen sich
die deutschen Sorgen ziemlich harmlos
aus. Keiner der 29 russischen Reaktoren
gilt als datumsfest – und Abhilfe ist nicht
in Sicht. „Nukleare Alpträume“ befürchtet die Geheimdienst-Postille „Jane’s Intelligence Review“ allerdings weniger wegen der 70 von 134 Militärstützpunkten
mit Atomwaffen, die bei einer Überprüfung 1998 Probleme zeigten, sondern
wegen der absehbaren Stromausfälle in
den russischen Atomkraftwerken, die
einen Ausfall der Kühlung nach sich
ziehen können, weil die Notstromsysteme erfahrungsgemäß nicht immer
anspringen.
Die russischen Meiler allerdings ausgerechnet im tiefsten Winter vom Netz
zu nehmen gilt als wenig realistisch.
Ein Sprecher des Moskauer Atomministeriums kündigte bereits an, man wolle
mit der Lösung bis zum Jahr 2000 warten. Dann lassen sich die Probleme klarer
sehen.
Eine Checkliste des Bundesinnenministeriums
dokumentiert, welche Maschinen, Anlagen
und Einrichtungen zur Jahrtausendwende für
Fehlfunktionen anfällig sind.
Verkehrskreuzung (in Stuttgart)
„Weiterfressende Schäden“?
greift eine doppelte Schaltjahr-Sonderregel: Der Gregorianische Kalender sieht bekanntlich alle vier Jahre ein Schaltjahr vor,
lässt aber alle 100 Jahre den 29. Februar
ausfallen – alle 400 Jahre gibt es ihn allerdings doch. Daran dachten viele Programmierer nicht.
Zum anderen warten Heerscharen von
Anwälten auf eine Flut von Schadensersatzprozessen. Versicherungen, die Schutz
gegen Betriebsunterbrechungen anbieten,
so Frank Thyrolf vom Gesamtverband der
Deutschen Versicherungswirtschaft, „glauben, nach Silvester 1999 in Schadensmeldungen ihrer Kunden zu ersticken“.
Der Kölner Rechtsanwalt Friedrich Graf
von Westphalen hat zusammen mit zwei
Kollegen und einem EDV-Sachverständigen
in einem 600-Seiten-Wälzer die haftungsund versicherungsrechtlichen Aspekte des
Jahr-2000-Problems beschrieben: von der
Pflicht zum Risikomanagement über die
Haftung für „weiterfressende Schäden“
und Rückrufkosten bis zu Beweislastfragen. Die Autoren sehen in der Bewältigung
„für viele Unternehmen eine Pflichtaufgabe zum Überleben“.
Denn jede Firma kann sowohl Opfer eines im eigenen Haus oder bei Geschäftspartnern auftretenden Datumsfehlers werden, aber zugleich auch Täter – wenn sie eigenen Verpflichtungen nicht nachkommt
oder bei Kunden Schäden verursacht.
Manager können sich sogar strafbar machen, wenn durch den Computerfehler
Menschen zu Schaden kommen. Vorstände
und Geschäftsführer könnten vom eigenen
Unternehmen zur Kasse gebeten werden,
wenn unzureichende Risiko-Vorsorge zu
Produktions- und Ertragsausfällen führt.
Besondere Ansprüche drohen dem Bund
und den Ländern, wie ein internes Regierungspapier festhält: Es bestehe die Gefahr, dass Datumsstörungen „Fehler bei
der Aufgabenerledigung durch die Bediensteten hervorrufen, die wiederum Haftungsrisiken in sich bergen“. Kommt es zu
falschen Polizeieinsätzen, etwa einer längst
erledigten öffentlichen Fahndung, können
Geschädigte einen Anspruch gegen die öffentliche Hand gelten machen. Das Gleiche
31
Deutschland
gilt, wenn beispielsweise Ampelanlagen
ausfallen und deswegen Verkehrsunfälle
passieren.
Inzwischen versuchen weltweit Unternehmen, die wegen des zu erwartenden
Software-Debakels in die Pflicht genomEin Dossier des Bundesnachrichtendienstes dokumentiert
men werden könnten, sich der Verantwortung zu entziehen:
die weltweite Angst vor dem Silvester-Crash.
π Auf Druck von Hightech-Unternehmen
hat die amerikanische Regierung am 20.
ber international vagabundie- der Silvesternacht in die Luft begeben
Juli ein Gesetz zur Haftungsbegrenzung
rende Hard- und Software hat müssen.
für Computerzusammenbrüche wegen
sich der Jahrtausendfehler gloIn Europa gilt Russland als Sorgendes Jahr-2000-Fehlers verabschiedet;
balisiert. Eine Studie des Bundesnach- kind: Bei 60 Prozent aller behördlichen
π der Dachverband der spanischen Versirichtendienstes (BND) aus diesem Netzwerke müsse die Software erneucherer hat seinen Mitgliedern geraten, in
Frühjahr bewertet die weltweiten ert werden, stellen die BND-Autoren
den Versicherungsverträgen die Haftung
Bemühungen, den drohenden Daten- fest. Die Weltbank gab bislang einen
für den Jahrtausendfehler auszuschließen;
GAU zu vereiteln: „Fehlfunktionen bis Anti-Crash-Kredit in Höhe von 100 000
π deutsche Versicherer verlangen von ihren
zum Totalausfall sind nahezu überall Dollar, nötig wären aber schätzungsKunden Auskunft über deren Jahr-2000zu erwarten.“ Von weltweit geschätz- weise bis zu drei Milliarden.
Fitness. Schildern sie die Situation zu opten 40 Milliarden Chips seien 800 MilEin zufälliger Start von Interkontitimistisch, droht ihnen der Verlust des
lionen nicht getestet, 93 Prozent aller nentalraketen gilt als „unwahrscheinVersicherungsschutzes – malen sie die
Personalcomputer, die vor 1997 gebaut lich“, dennoch haben Bill Clinton und
Lage zu düster aus, riskieren sie dasselbe.
wurden oder aber mit älteren Chips Boris Jelzin ein gemeinsames FrühwarnDer weltweit führende Software-Produbestückt sind, gelten als gefährdet.
zentrum in Colorado Springs mit direkzent Microsoft hielt sich in Deutschland mit
Angst herrscht laut BND-Dossier in ter Leitung in den Kreml verabredet.
Aufklärung zum Datumsden Kontrolltürmen der Flughäfen. So
fehler auffallend zurück.
habe die internationale zivile LuftDie Firma begründete dies
fahrtorganisation ICAO angeregt, die
damit, dass sie haften müsAbstände zwischen Starts und Lanse, wenn durch unzutreffendungen zu vergrößern.
de Auskünfte ein Schaden
Auch der Weltwirtschaft soll ein
entsteht: Selbst Microsoftschwarzer Januar erspart werden. WilBenutzer, die bis dahin nicht
liam McDonough, Chef der New Yorker
in einem Vertragsverhältnis
Notenbank, glaubt, dass der Datumsmit der Firma standen, so
sprung „für Konzerne und ganze Märkdie Furcht, könnten womögte eine Frage des Überlebens ist“. Die
lich klagen und SchadensBörsen in London und New York gelten
ersatz verlangen.
als vorbildlich vorbereitet, die Pariser
In den Vereinigten StaaBörse weigere sich wie auch Singapur
ten ist dieses Informationsbislang, konkrete Informationen zu lieHindernis beseitigt worden:
fern. Wer in Bangkok nicht seine JahrSeit Oktober 1998 ist dort
2000-Aktivitäten offen lege, werde ausgesetzlich garantiert, dass
geschlossen. Die britische Regierung
aus einer Erklärung, die eine
überlege, die Banken fünf Tage lang zu
Firma über die Jahr-2000-Sischließen.
Börse in Singapur: „Eine Frage des Überlebens“
cherheit ihrer Produkte abSelbst die Rechner der westlichen
gibt, keine neuen Haftungsansprüche geStreitkräfte scheinen noch nicht krisenIn den USA ist das Jahrtausendprowonnen werden können. Microsoft-Chef
fest: So hätten sich wegen eines Soft- blem Chefsache des Präsidenten. Die
Bill Gates wünschte sich, als er im Februar
ware-Problems im Ernstfall die nieder- Streitkräfte seien laut BND beruhigt,
in Bonn zu Besuch war, einen solchen Freiländischen F-16-Kampfflugzeuge nicht seit bei einer Übung im Sommer 1998 in
brief auch von Bundeskanzler Schröder –
in der Luft betanken lassen, führen die New Mexico der 1. Januar 2000 simuvergeblich. Mittlerweile vertreibt Microsoft
Experten des deutschen Geheimdiens- liert wurde, ein F-4-Bomber von umgein Deutschland eine CD-Rom mit Informates an. Neun von zehn Rechnern der stellten Computern gesteuert worden
tionen zum Thema – ob das eigene Probritischen Marine galten als anfällig, bei und alles nach Plan gelaufen sei. Die
gramm eine Aktualisierung benötigt, muss
einem Test sei das Luftabwehrraketen- US-Notenbank druckt bereits Banknoder Kunde dann selbst ermitteln.
system Rapier vollständig ausgefallen. ten im Werte von 50 Milliarden Dollar,
Gates könnte zu denen gehören, die für
Laut BND zählt China zu den am um den absehbaren Run auf Bargeld
die Misere zahlen müssen. Den Softwareschlechtesten vorbereiteten Nationen. zu befriedigen, weil die Menschen ihren
und Elektronikherstellern drohen HafDer wilde Mix von Hard- und raubko- Plastikkarten nicht vertrauen.
tungsansprüche aus Kauf-, Werk-, ServiceVorbildlich erscheint dem BND Kapierter Software erschwere die Vorbeund Beratungsverträgen sowie aus der Proreitung erheblich. Die Rechner der 40 nada. Für Polizei und Armee seien Urdukthaftung.
heimischen Fluglinien mit ihren 17 000 laubssperren teilweise bis Mitte März
Vor einem dürfte der reichste Mann der
Terminals seien „von gravierender erlassen worden, die Streitkräfte befänWelt allerdings sicher sein: Gerhard SchröY2K-Anfälligkeit“ – Y2K ist das ameri- den sich in Alarmbereitschaft, Regieder. Der Bundeskanzler ist einer der milkanische Kürzel für die Jahrtausend- rungsmitglieder kämen Silvester in eilenniumssichersten Bürger der Republik:
wende. Die Staatsführung soll verfügt nem Lagezentrum („war room“) zuEr benutzt keinen Computer.
haben, dass alle Fluglinienchefs sich in sammen.
„Bis zum Totalausfall“
ACTION PRESS
Ü
Dietmar Hipp, Georg Mascolo,
Hendrick Munsberg, Hajo Schumacher
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FOTOS: G. SCHLÄGER
Inzwischen hat auch die
Konkurrenz gemerkt, dass
auf der Oder viel Geld zu
verdienen ist: Seit sieben
Wochen fährt die „Jan van
Cuijk“ der Oderhaff-Seetours-Reederei regelmäßig
den Törn – sehr zum Missvergnügen von Inge Bocklage. Doch sie wird sich gegen
Mitbewerber kaum wehren
können. Die Häfen am
Stettiner Haff sind öfPommersche 10 km
Bucht
fentlich-rechtlich. Jeder,
der Lust hat, kann anUsedom
und ablegen, sooft er
Altwarp Stettiner
will. Vorausgesetzt, es ist
Platz da. Probleme gibt
Haff
es vor allem in der
Butterdampfer im Altwarper Hafen: Lizenz zum Gelddrucken
Ueckermünde
Nacht. „Wir haben nicht
Neuwarp
genügend Liegeplätze“,
nen – was kaum einer macht.
D U T Y- F R E E
sagt Wolfgang Körting,
„Die Leute“, sagt ein Kapitän, D E U T SC H L AN D P O L E N
43, Leiter des Ordnungs„wollen ihr Schnäppchen maamts in Ueckermünde.
chen und nicht nach Polen.“
Aus ganz Europa haben in den verganDie Idee mit den Butterfahrten an der
Ostgrenze hatten die Adler-Reeder am genen Wochen Interessenten bei Körting
Stammsitz auf Sylt bereits vor sieben Jah- angefragt. Als vorerst Letzter hat Godske
ren. Schon damals, sagt Bocklage, sei klar Hansen, 66, Reeder aus dem ostholsteinigewesen, „dass irgendwann Schluss ist“ mit schen Heiligenhafen, einen Liegeplatz in
Nach dem Aus der Duty-freeden billigen Einkaufstouren auf den Ge- Ueckermünde ergattert. Hansen ist mit seiReisen zwischen Deutschland
wässern zwischen den Mitgliedsstaaten der nem ganzen Betrieb in die, wie er sagt,
und Dänemark kommen
EU, vor allem zwischen Deutschland und „letzte Oase des Duty-free-Handels“ umButterfahrten über die deutschDänemark. Als geeignete Basis für neue gesiedelt. Einmal am Tag nimmt er zumeist
Routen entdeckten die Manager das halb- alte Stammkunden aus Wolfsburg, Hildespolnische Grenze in Mode.
verfallene Hafenbecken von Altwarp – kei- heim oder Bielefeld an Bord. Früher fuhie Geschäftsführerin des Schifffahrts- ne 20 Meter vor der Mole verläuft die ren sie nach Heiligenhafen, jetzt ans Stettiner Haff – die um mehrere Stunden länunternehmens ist sauer aufs Fern- Grenze.
Im Halbstundentakt pendeln hier in- gere Anfahrt schreckt kaum ab.
sehen. Im NDR-Regionalprogramm
Inzwischen haben auch die Polen die
für Mecklenburg-Vorpommern stellte kürz- zwischen fünf Dampfer ins polnische Neulich ein Reporter nüchtern fest, die Adler- warp. Bis Ende des Jahres wird der Alt- Marktlücke erkannt: Sie kassieren von
Reederei im vorpommerschen Altwarp habe warper Hafen für 7,2 Millionen Mark sa- den deutschen Butterdampfern Anlegedie Lizenz zum Gelddrucken. „Ich hätte niert. 90 Prozent zahlt Brüssel. In der gebühren von bis zu 250 Dollar pro Fahrt.
Wie lange das Geschäft an der Ostden Fernseher einschlagen können“, erregt strukturschwachen Nordost-Ecke der Republik sind die Reedereien die größten Ar- grenze der Europäischen Union noch läuft,
sich die resolute Inge Bocklage, 42.
Über Geld und Gewinn redet die Kauf- beitgeber. „Der zollfreie Einkauf ist eine ist ungewiss. Spätestens wenn Polen
frau nicht gern. Immerhin gibt sie zu, dass Chance für uns“, sagt Heinz Kunath (PDS), Mitglied der EU wird, ist es auch hier
Bürgermeister der 800-Einwohner-Ge- mit dem zollfreien Einkauf vorbei. Doch
„es nicht schlecht“ läuft.
Körting ist sicher, dass der billige HanRund eine Million Fahrgäste fuhren 1997 meinde mit 35 Prozent Arbeitslosigkeit.
Tag für Tag karren Busse der Reederei del dann anderswo blüht: „Zwischen Giauf den Schiffen der Adler-Reederei zwischen Altwarp am Stettiner Haff und dem die Kundschaft aus einem Umkreis von braltar und Nordafrika wird es weiterpolnischen Neuwarp am gegenüberliegen- rund 100 Kilometern an. Der riesige Park- gehen.“
Florian Gless
den Ufer. In diesem Jahr dürfte sich die platz am Hafen ist von morgens bis
Zahl verdoppeln: Seit die EU den zollfrei- abends ausgelastet. Viele aus der Umen Einkauf innerhalb der Gemeinschaft gebung nutzen die Dampfer zum reweitgehend gestoppt hat, boomt das Ge- gelmäßigen Einkauf. „Hier ist das bilschäft mit Schnaps und Zigaretten an den liger als in Polen“, schwärmt KorneAußengrenzen der Union im deutschen lia Meske aus dem anderthalb Autostunden entfernten Greifswald. Im
Osten.
Kreuz und quer tuckern die weißen But- Supermarkt kostet die Stange Zigaterdampfer über das bis zu 50 Kilometer retten an die 50 Mark, in den polnibreite Stettiner Haff, immer zu einem Ziel- schen Märkten hinter der Grenze
ort jenseits der Grenze. „Wer da rüber- rund die Hälfte. An Bord muss die
fährt, macht zollrechtlich das Gleiche, wie arbeitslose Bauzeichnerin dagegen
wenn er nach Amerika fliegt“, erklärt gerade mal 15 Mark berappen. Am
Diana Müller, 40, Chefin im Zollamt Ende hat Familie Meske zwei Stangen
Zigaretten, ein Pfund Markenkaffee,
Ueckermünde.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen drei Literflaschen Schnaps und drei
für den Duty-free-Einkauf müssen Passa- Stangen Schokolinsen in der Tüte –
giere am anderen Ufer an Land gehen kön- alles zusammen für 68,94 Mark.
Duty-free-Kundin Meske: „Billiger als in Polen“
Schnäppchen
auf dem Haff
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AP
Häftlinge aus dem KZ Dachau in einem Rüstungsunternehmen (1943): „Das Sterben fand außerhalb der Industriebetriebe statt“
Z WA N G S A R B E I T E R
„Viel Zeit bleibt nicht“
Deutsche Unternehmen, von US-Anwälten mit Klagen unter Druck gesetzt, wollen
ehemalige Zwangsarbeiter entschädigen. Es wird um Milliarden gepokert, und die Vertreter
der Industrie verlangen Schutz vor künftigen Prozessen. Von Peter Bölke
34
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK
Z
wei- oder dreimal die Woche
schreckt er nachts schweißgebadet
hoch. Er weiß, dass er geschrien
hat. Es war ein Alptraum.
Immer wieder drängt aus dem Unterbewussten die Vergangenheit nach oben.
Dann sieht er die Leichen, die dürren Gestalten in ihren gestreiften Anzügen, wie
sie zusammengekrümmt am Boden liegen,
verhungert oder erfroren. Sie werden auf
Karren geworfen, wenig später sind sie verbrannt, ausgelöscht, ein Nichts.
Jack Jacobson war Zwangsarbeiter, einer
von Millionen, die das Nazi-Regime versklavt und ausgebeutet hatte. Er ist einer
von ein paar hunderttausend, die jetzt darauf hoffen, dass nach mehr als fünf Jahrzehnten Unrecht als Unrecht gesehen wird
und die Opfer in einer großzügigen Geste
entschädigt werden.
Das soll nun geschehen. Zum Ende des
Jahrhunderts will die deutsche Industrie
das leidige Thema erledigt haben. Lange
wurde geschwiegen, vor Gericht abgewiegelt, auch vertuscht. Nun wird es ein Milliardending.
Doch was ein selbstverständliches Anliegen sein sollte, ein Stück Menschlichkeit, wurde in monatelangem Gezerre zu
einem kalten Poker um Geld. Amerikanische Anwälte, die ihre Geschäftstüchtigkeit gut hinter der Fassade von Schuld und
Rüstungsminister Speer, Chef Hitler
Klare Entscheidung für Zwangsarbeit
Sühne zu verstecken wissen, setzen deutsche Unternehmen mit überzogenen Forderungen unter Druck. Jüdische Organisationen streiten vor allem für die Opfer des
Holocaust. Opferverbände und Regierungen im Osten Europas fordern Gerechtigkeit und meinen Mark.
Die größten und bekanntesten deutschen Unternehmen sind von den Klagen
amerikanischer Anwälte bedroht und müssen mit feindseligen Kampagnen in den
USA rechnen. Es geht gegen Chemiekonzerne wie Bayer und Hoechst, gegen die
Großbanken und die Allianz, DaimlerChrysler, VW, Veba und Siemens. Im Nad e r
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men von ehemaligen Zwangsarbeitern wollen die US-Kanzleien über so genannte
Sammelklagen (class actions) Milliarden
erstreiten.
Und die deutsche Industrie wird zahlen.
Sie hat keine andere Wahl.
Wie viel gezahlt werden soll und an wen
– darüber sind die Unternehmen mit ihren
Gesprächspartnern längst noch nicht einig.
Seit Monaten verhandeln deutsche Firmenvertreter, mal in Bonn, mal in Washington, mit den Interessenvertretern der
Nazi-Opfer. Es geht letztlich nur um Geld,
aber über Geld, so behaupten alle Beteiligten, wurde bislang überhaupt noch nicht
gesprochen.
„Erst müssen wir uns über die sachlichen Fragen verständigen, und die sind
schwierig genug“, sagt Otto Graf Lambsdorff. Der frühere Wirtschaftsminister war
als neuer Koordinator der Bundesregierung Ende Juli zum ersten Mal in Washington dabei.
Eine Verständigung ist in der Tat so
schwierig, dass die Unterhändler keineswegs wie angestrebt zum 1. September,
dem Jahrestag des Kriegsbeginns, eine Lösung gefunden haben. Nun soll es, so hofft
Lambsdorff, bis Jahresende so weit sein.
„Es gibt keine Erfolgsgarantie, aber Erfolgsaussichten“, sagt Lambsdorff. „Daran
arbeiten wir.“
Deutschland
Das bedrückende Thema Zwangsarbeit
verleitet auch so manchen dazu, den Boden
nüchterner Argumentation zu verlassen.
Die klagenden Anwälte sehen sich moralisch im Recht und appellieren an Emotionen, sie nutzen die Schrecken des Dritten
Reiches und das Leid seiner Opfer für ihre
Zwecke. „Als Beklagter hat man da schlechte Karten“, sagt Manfred Gentz, Finanzvorstand des DaimlerChrysler-Konzerns.
Gentz ist Sprecher einer Gruppe von
Unternehmen, die ein „Zeichen der Versöhnung“ setzen möchten. Über eine Stiftung wollen sie Geld aufbringen, mit dem
ehemalige Zwangsarbeiter – die wenigen,
die noch leben – schnell und unbürokratisch Geld erhalten sollen.
Die überlebenden Opfer sind im Durchschnitt 75 Jahre alt. „Wir sollten diese Leute nicht ohne einen Akt der Anerkennung,
der Versöhnung und der Hilfe sterben lassen“, sagt Lutz Niethammer, Historiker an
der Universität Jena und Berater der Bundesregierung.
Unterhändler Lambsdorff, Eizenstat: „Es gibt keine Erfolgsgarantie, aber Erfolgsaussichten“
Die deutschen Unternehmen, so Gentz,
wollten ihrer historischen und moralischen zehnten des Schweigens bewirkt, dass in gebens. Das Europa-Parlament forderte die
Verantwortung nicht ausweichen. Die Wirt- deutschen Unternehmen mit einem Mal Industrie 1986 auf, Entschädigungen zu
schaft sei unter nationalsozialistischer wieder über das böse Kapitel Zwangsarbeit zahlen. Nur wenige waren dazu bereit.
Nun sollen über eine Industrie-Stiftung
Herrschaft in ein Unrechtssystem „verwo- gesprochen wird. Die Fachleute in den
ben“ gewesen, unter dem die Zwangsar- Rechtsabteilungen der Unternehmen er- Milliarden aufgebracht und verteilt werklären ihrem Vorstand gern, dass für kla- den. Mit einem Mal sprechen alle von Gebeiter gelitten hätten.
Bisweilen muss der Mensch der histori- gende Zwangsarbeiter vor den Gerichten rechtigkeit, die nun endlich den Opfern wischen Verantwortung mit Barem gegen- nichts zu holen sei. Doch die Männer an derfahren soll, und wissen doch, dass es
übertreten. Das ist jedenfalls vernünftiger, der Spitze wollen nicht vor Gericht Recht sie nicht geben kann. Zu schwer begreiflich
ist heute das Unrecht, zu lange ist es her,
als beispielsweise im Herzen der Haupt- behalten.
„Die haben begriffen, zu viele Interessengruppen zerren in alle
stadt mit gewaltigem Aufwand ein monströses Holo- ZWANGSARBEITER 8 bis 10 dass ein gewonnener Pro- Richtungen.
Doch nicht nur die Suche nach Gerechcaust-Mahnmal zu errich- im Deutschen Reich Millionen zess ein verlorener sein
kann“, meinte der frühere tigkeit macht den Weg zur Aussöhnung mit
ten, das den Toten nicht von 1939 bis 1945
Kanzleramtsminister Bodo der eigenen Vergangenheit so schwierig:
gerecht wird und den Le- heute noch
benden nicht hilft.
LEBENDE ehemalige 1 bis 1,2 Hombach, der vor Lambs- Die Stiftungsinitiatoren verlangen nach
Die Sammelklagen der ZWANGSARBEITER Millionen dorff in den Gesprächen „dauerhaftem Rechtsfrieden“. Wenn sie
zwischen Industrie, An- schon zahlen, um Klagen abzuwehren,
Opfer haben nach Jahr- davon:
wälten und Opferverbän- dann möchten sie – einleuchtend genug –
ehemals in der
600 000 den die Bundesregierung nicht später wieder wegen ähnlicher AnINDUSTRIE
„Verwertung
Beschäftigte
vertrat.
sprüche verklagt werden.
der Leiche“
Wie
viele
von
den
eheDie Fragen jedoch, die schon am Anfang
alle Zahlen geschätzt
maligen Zwangsarbeitern aller Verhandlungen standen, werden bleiKalkulation der SS für den
noch Ansprüche anmelden ben. Wie konnte es geschehen, dass mitten
Einsatz von KZ-Häftlingen
EINNAHMEN AUSGABEN
könnten, kann niemand in Europa, im 20. Jahrhundert, ein System
in Reichsmark
präzise
sagen. Professor Niet- der Sklaverei errichtet wurde, in dem MenTäglicher Verleihlohn
hammer hat für die Bundesre- schen gequält, erniedrigt und getötet wurdurchschnittlich
6,00
gierung die Zahlen geschätzt. den? Wer hat mitgewirkt und warum? Und
abzüglich Ernährung
0,60
Er rechnet mit etwa 600 000, warum hat es fast 55 Jahre gedauert, bis
abzüglich Bekleidungsvon denen etwa 150 000 wie manche Unternehmen und Politiker ihre
amortisation
0,10
Sklaven im KZ unter den Verantwortung zu erfassen scheinen und
schlimmsten Bedingungen ar- sich, mit einer materiellen Geste, dazu bedurchschnittliche Lebensdauer
9 Monate = 270 x 5,30 RM
1431,00
beiten mussten, Juden vor al- kennen wollen?
lem, Zigeuner und politisch
Jack Jacobson hat seine Alpträume nie in
Erlös aus rationeller Verwertung
Verfolgte. Die übrigen 450 000 Geld umgerechnet, und er weiß, dass er
der Leiche: Zahngold, Kleidung,
waren Deportierte aus Ost- sie nie wieder loswird. Aber ein bisschen
Wertsachen, Geld
europa.
Geld „für damals“ wäre ihm schon recht.
2,00
abzüglich Verbrennungskosten
Die Jewish Claims Confe- „Viel Zeit bleibt mir ja nicht.“ Er ist 75.
NETTOGEWINN durchschnittlich
200,00
rence, die sich für die Opfer
Damals war Jack Jacobson noch Jakob
des
Holocaust
einsetzt,
verJakubowicz,
ein gebürtiger Pole, Jude. Er
GESAMTGEWINN nach 9 Monaten 1631,00
sucht seit den fünfziger Jahren, war 17, als ihn die SS verhaftete und in ein
zuzüglich Erlös aus Knochenvon deutschen Unternehmen Arbeitslager brachte. Für die Firma Pound Ascheverwertung
Geld für ehemalige Zwangsar- lensky & Zöllner schuftete er zunächst
Quelle: B. Klewitz, „Die Arbeitssklaven der Dynamit Nobel“
beiter zu erhalten, zumeist ver- beim Bau der Reichsautobahn, von 1942
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Deutschland
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REUTERS
ACTION PRESS
REUTERS
20 000 Menschen aus der Sowbis Kriegsende verrichtete er
jetunion nach Deutschland verZwangsarbeit für eine Textilfaschleppt.
brik. Er lebte in einem bewachDoch die ausgehungerten
ten, mit Stacheldraht umzäunund erschöpften „Ostarbeiter“
ten Lager. Im Februar 1944, so
brachten nur einen Bruchteil der
erinnert er sich, wurde aus dem
Leistung, die von deutschen ArLager ein KZ: Häftlingskleidung,
beitern erwartet wurde. Die Ungeschorene Köpfe, Essen in Hunternehmen drängten, und das
gerrationen, Schikanen des
Regime gab trotz ideologischer
Wachpersonals. „Viele sind einBedenken nach: Es gab das Pofach umgefallen“, sagt Jacobson.
tenzial an Arbeitskräften frei,
Das Hitler-Regime hat die
über das die SS verfügen konnSklaverei, die in Deutschland
te – die Häftlinge in den KZ.
seit 1871 unter Strafe gestellt ist,
Die SS zögerte zunächst, weil
neu erfunden – brutaler als je
ihre Führung weniger an Prozuvor. Willkürlich wurden Milduktivität als an Terror und Verlionen von Menschen verhaftet,
nichtung dachte. Anfang 1942
eingefangen, verschleppt, in Laaber schickte sie mehr und
ger gesteckt und zur Arbeit unmehr Häftlinge in die Betriebe.
ter teilweise mörderischen BeRüstungsminister Albert Speer
dingungen gezwungen. Millio- US-Anwalt Fagan: Über Geld will bislang niemand reden
überredete schließlich seinen
nen haben es nicht überlebt.
Arbeit unter Druck und gegen den Wil- zwungen. Nur die SS setzte in ihren eige- Führer zu einer klaren Entscheidung. Adolf
len des Betroffenen war es immer, aber nen Wirtschaftsbetrieben KZ-Häftlinge ziel- Hitler wies die SS an, der Industrie KZnicht alle Zwangsarbeiter litten unter der strebig ein. Rassische Bedenken sprachen Häftlinge zur Verfügung zu stellen.
Es war ein Programm, das einerseits vom
täglichen Todesdrohung. Vor allem in der nicht dagegen, die Menschen in SteinLandwirtschaft lebte mancher unter nahe- brüchen und Ziegeleien zu quälen. Ansons- Mangel an Arbeitskräften diktiert wurde,
sich andererseits aber auf zynische Weise
zu normalen Bedingungen. In Einzelfällen ten sollte das Reich „judenfrei“ werden.
Schon vor 1939 fehlten jedoch wegen mit den mörderischen Plänen des Regimes
konnten auch in die Industrie verschleppte Ausländer in erträglicher Umgebung der forcierten Rüstungsproduktion über- verbinden ließ: mit der Ermordung von
Menschen, die aus der Sicht der Nazis als
arbeiten.
nicht lebenswert galten.
Der 21jährige Gabriel Decors wurde im
Die Nazis selbst prägten den Begriff
März 1943 von der Polizei in Lyon zum
„Vernichtung durch Arbeit“. Der HistoriService de Travail Obligatoire abgeholt und
ker Manfred Grieger, der mit Hans Mommin einem größeren Transport zusammen
sen die Geschichte des Volkswagenwerks
mit anderen Landsleuten nach Dijon geaufgearbeitet hat, zitiert als Beleg die Akbracht. Dort übernahm die SS das Komtennotiz über ein Gespräch zwischen Promando und deportierte die Franzosen nach
pagandaminister Joseph Goebbels und
Dachau.
Justizminister Otto Georg Thierack vom
Decors hatte Glück, ein französischer
14. September 1942:
Ingenieur bei BMW nahm ihn als techni„Hinsichtlich der Vernichtung asozialen
schen Zeichner in seine Gruppe auf, die
Lebens steht Dr. Goebbels auf dem StandFlugzeugmotoren entwarf. Die SS behel- Gesprächspartner Gentz, Hombach
ligte die Franzosen wenig, drohte nur hin „Als Beklagter hat man schlechte Karten“ punkt, dass Juden und Zigeuner schlechthin, Polen, die etwa 3 bis 4 Jahre Zuchthaus
und wieder, sie würde jeden, der sich etwas
zu Schulden kommen lasse, ins nahe gele- all Arbeitskräfte. Im Verlauf des Krieges, zu verbüßen hätten, Tschechen und Deutinsbesondere nach den ersten Niederla- sche, die zum Tode oder lebenslänglichem
gene KZ schicken.
Die deportierten Franzosen lebten in gen in der Sowjetunion, wurde der Man- Zuchthaus oder Sicherungsverwahrung
einem bewachten Barackenlager nahe gel immer gefährlicher. Die deutschen verurteilt wären, vernichtet werden sollDachau. Zu essen gab es kaum mehr als Männer waren an der Front, und beson- ten. Der Gedanke der Vernichtung durch
dünne Suppen. Die zerschlissene Kleidung ders die Rüstungsindustrie sollte auf Hoch- Arbeit sei der beste.“
Heinrich Himmler, Reichsführer SS, bewurde immer wieder geflickt, unter den touren laufen.
Das Regime entschloss sich, einen seiner kräftigte dann wenige Tage später diesen
Schuhen waren bald keine Sohlen mehr.
Zehn Stunden Arbeit täglich war die Grundsätze zu Gunsten ökonomischer Not- Gedanken, der Goebbels so hervorragend
Norm. Decors wusste, dass er noch glimpf- wendigkeit aufzugeben: Auch sowjetische erschienen war: Er verlangte die „Auslielich davonkam. Er sah die Menschen in den Kriegsgefangene sollten in Deutschland ar- ferung asozialer Elemente aus dem StrafZügen, die ins Todeslager Dachau gebracht beiten. Der Beschluss konnte allerdings vollzug an den Reichsführer SS zur Verwurden, und er erlebte Tag für Tag, wie kaum die Probleme der Industrie lösen, nichtung durch Arbeit“.
Die Zahl der KZ-Häftlinge, die zur Arandere Lagerbewohner, Ukrainer vor al- denn die Mehrheit der Gefangenen,
schreibt der Freiburger Historiker Ulrich beit in deutschen Unternehmen gezwunlem, geprügelt und gedemütigt wurden.
Mit den Deportierten aus osteuropäi- Herbert lakonisch, „stand für einen Ar- gen wurden, ist nicht einmal zu schätzen.
schen Staaten sprang die SS von Anfang an beitseinsatz gar nicht mehr zur Verfügung“. Die Toten wurden nicht gezählt. Der Hisbrutaler um als mit Franzosen, Niederlän- Von gut drei Millionen Kriegsgefangenen toriker Herbert setzte die durchschnittliche
dern, Italienern. Viele kamen wegen der Ende 1941 ist mehr als die Hälfte verhun- Arbeitsfähigkeit und damit die Lebenserwartung der Sklavenarbeiter auf allenfalls
wahnwitzigen rassischen Vorstellungen des gert, erfroren oder ermordet worden.
So folgte der nächste Schritt in der Ent- zwei Jahre an.
Regimes gleich in Vernichtungslager.
Die meisten Zwangsarbeiter aus den KZ
Vor Beginn des Krieges wurden vor al- wicklung der Sklaverei: Zivilisten wurden
lem deutsche Juden in die KZ geschickt, aus der Sowjetunion als „Ostarbeiter“ ins starben an Unterernährung, Krankheiten,
selten indes zu produktiven Arbeiten ge- Reich deportiert.Woche für Woche wurden wurden zu Tode geprügelt oder erschossen,
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M. SPECHT / ARGUS
Deutschland
Zwangsarbeiter-Demonstration (in Berlin): Fast alle Klagen wurden abgewiesen
V. KOHLBECHER / LAIF
Schon früh forderte auch das
Volkswagenwerk unter der Leitung von Ferdinand Porsche
Häftlinge für Bauarbeiten an.
Später wurden tausende von Arbeitskräften aus den SS-Lagern auch in der Produktion einZwangsarbeiter-Aktion*: Die Fragen bleiben
gesetzt.
Als die Zeiten der deutschen Blitzsiege
wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Viele mussten auf dem Boden unter vorbei waren, begann das Regime, wichtifreiem Himmel schlafen, andere stunden- ge Produktionen unter Tage zu verlagern.
lang im Wasser arbeiten, ohne sich hinter- Die VW-Führung wollte die Herstellung einer Flugbombe in einem lothringischen
her umziehen oder wärmen zu können.
In Deutschland gab es 1942 mehr als 80 Bergwerksstollen unterbringen. Dafür forAußenlager mit KZ-Häftlingen, und es wur- derte Ferdinand Porsche persönlich beim
den ständig mehr. Anfang 1945 waren es Reichsführer der SS Häftlinge an. Der
bereits mehr als 660, bei Kriegsende 1000. Arbeitskräftemangel und die „moralische
Zu den Firmen, die als erste KZ-Häft- Abstumpfung“ der Betriebsleitung, so der
linge beschäftigten, gehörte die IG Farben. Historiker Grieger, habe eine UnternehDer Chemiekonzern, der den Bau eines
Buna-Werkes plante, entschied sich 1941
Die „Verweildauer“ der
für den Standort Auschwitz in OberschleHäftlinge
auf der Baustelle
sien – nicht zuletzt wegen des KonzentraAuschwitz
war kurz
tionslagers, das die SS dort ausbaute.
Im Dezember 1944 arbeiteten fast 4000
Häftlinge am Buna-Werk Auschwitz, wie menspolitik hervorgebracht, „die zu einer
der Historiker Manfred Pohl ermittelte. fortschreitenden Entmenschlichung der ArDie „Verweildauer“, so Pohl, sei kurz ge- beitskräfte führte“.
Das Argument, die von den Unternehwesen, „denn die Sterblichkeitsrate war
enorm“. Von 35 000 Zwangsarbeitern auf men angeforderten Häftlinge hätten so weder Buna-Baustelle seien von 1943 bis 1945 nigstens eine bessere Überlebenschance
gehabt, klingt unter diesen Umständen
etwa 23 000 gestorben.
Pohl, Leiter des Historischen Instituts der nicht sehr überzeugend. Kranke oder völDeutschen Bank, hat die Geschichte des lig erschöpfte Häftlinge wurden ja nicht
Bauunternehmens Philipp Holzmann auf- geschont oder etwa in ein Krankenhaus
gearbeitet. „Die Beteiligung Holzmanns am verlegt, sondern aus der Produktion abgeBau des Buna-Werkes in Auschwitz“, so zogen und ins Konzentrationslager zurückPohl in einem neuen Buch, „wird weder in geschickt. „Das eigentliche Sterben“, so
Vorstandsprotokollen noch in den Nach- Grieger, „fand außerhalb der Industrieberichtenblättern von Holzmann erwähnt.“** triebe statt.“
Eine zynische Kalkulation der SS über
* In Hamburg.
die
Rentabilität der ausgeliehenen Häft** Manfred Pohl: „Philipp Holzmann. Geschichte eines
linge zeigt deutlich, wie gering die ÜberBauunternehmens. 1849 – 1999“. Verlag C. H. Beck;
lebenschance am industriellen Arbeitsplatz
480 Seiten; 58 Mark.
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war. Die Rechnung, die auf einen Gewinn
von 1631 Mark pro Häftling kommt, „zuzüglich Erlös aus Knochen- und Ascheverwertung“, setzt die durchschnittliche Lebensdauer der arbeitenden Häftlinge mit
neun Monaten an (siehe Grafik Seite 35).
Wie viele Menschen letztlich zur Arbeit
für ein Regime gezwungen wurden, das
menschliches Leben willkürlich und selbstherrlich in wert und unwert einteilte, ist
nicht präzise zu sagen. Immer wieder
taucht die Zahl von insgesamt zehn Millionen auf; vielleicht waren es mehr.
Nicht nur auf dem Lande und in der
Industrie fehlten während des Krieges
Arbeitskräfte. Auch der Staat war auf die
Hilfe der SS-Sklaven angewiesen. Jeder
größere Bauernhof, fast jeder Betrieb, jede
Kommune beschäftigte Zwangsarbeiter.
Die SS kassierte in der Regel für jeden
ausgeliehenen KZ-Häftling pro Tag vier bis
sechs Reichsmark. Die Zwangsarbeiter bekamen wenig oder nichts.
Die Bundesrepublik hat bereits, unter
anderem über das Bundesentschädigungsgesetz, mehr als 100 Milliarden Mark als
Wiedergutmachung und Entschädigung für
die Verbrechen des Nazi-Regimes gezahlt.
Der größere Teil der Gelder floss an jüdische Opfer und an Israel.
Die Zwangsarbeiter jedoch waren – wie
auch die Kriegsgefangenen – in der Regel
nicht gemeint, wenn von Opfern und Entschädigungen die Rede war. Manche haben geklagt, fast alle Klagen wurden abgewiesen. Entweder hieß es, die Ansprüche
seien verjährt, die Kläger kämen also zu
spät. Oder die Gerichte verwiesen darauf,
dass kriegsbedingte Schäden erst nach
Abschluss eines Friedensvertrags mit
Deutschland reguliert werden könnten, die
Kläger kämen also zu früh.
Einen Friedensvertrag gibt es immer
noch nicht. Aber der Zwei-plus-Vier-Ver-
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trag, der die deutsche Einheit ermöglichte,
eröffnete ehemaligen Zwangsarbeitern die
Möglichkeit, ihre Ansprüche doch noch gerichtlich durchzusetzen. Zwei Prozesse haben bereits mehrere Instanzen durchlaufen; nun muss der Bundesgerichtshof über
die Revision entscheiden.
Nur die Entlohnung für geleistete Arbeit, meint Karl Brozik, Repräsentant der
Jewish Claims Conference, sollten die Opfer und ihre Vertreter nicht fordern, weil es
materiell nichts bringt. Verlangt werden
müsse vielmehr eine Entschädigung für das
Leid, das den Menschen angetan wurde.
Viele Manager in deutschen Unternehmen scheinen inzwischen der gleichen Meinung. Bis vor wenigen Jahren indes sah es
so aus, als hätten Deutschlands Industrieunternehmen, Banken, Versicherungen vor
1945 auf eine eigene Geschichte verzichtet.
Erst in jüngster Zeit stellen sich viele Firmen ihrer Vergangenheit während des Hitler-Regimes.
Einige wenige Unternehmen wollten zudem nicht auf einen Friedensvertrag oder
eine generelle Lösung warten und boten
deshalb ehemaligen Zwangsarbeitern Geld
an. Krupp gehört mit 10 Millionen Mark
dazu und Siemens mit 20 Millionen; Volkswagen hat im vergangenen Jahr einen
Fonds über 20 Millionen Mark aufgelegt,
aus dem bislang ohne bürokratischen Aufwand an mehr als 700 ehemalige Zwangs-
Opfer-Vertreter Witti*: Rechnung mit vielen Milliarden
arbeiter je 10 000 Mark gezahlt wurden.
Auch die Firma Diehl, die früher in Schlesien deportierte Frauen beschäftigte, hat
den meisten der noch lebenden eine Entschädigung gezahlt.
Nicht alle Manager, deren Unternehmen
etwas für die Opfer taten, handelten aus
höherer Einsicht. Die IG Farben in Liquidation legte gegen ein Urteil, das 1953 einem früheren KZ-Häftling Entschädigung
zusprach, Revision ein. Erst als unter
Druck der Claims Conference langwierige
Verhandlungen begannen, gab die Liqui* Vor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main.
dationsgesellschaft nach und stellte schließlich 30 Millionen Mark für ehemalige
Zwangsarbeiter zur Verfügung.
Der alte Friedrich Flick, im Nürnberger
Kriegsverbrecherprozess zu sieben Jahren
Haft verurteilt, zeigte sich besonders uneinsichtig. In einer Munitionsfabrik der
Dynamit Nobel, die nach dem Krieg lange zum Flick-Imperium gehörte, wurden
während des Krieges tausende von Häftlingen aus den KZ Buchenwald und
Groß-Rosen zur Arbeit gezwungen. In
den sechziger Jahren handelte Flicks Vertreter im wieder aufgebauten Konzern, Fabian von Schlabrendorff, mit der Claims
Conference eine Entschädigung von fünf
Millionen Mark aus. Flick lehnte die Unterschrift ab.
Erst 1986 überwies das Unternehmen,
das nunmehr Feldmühle Nobel AG hieß,
fünf Millionen Mark an die Claims Conference. Friedrich Karl Flick, Sohn des
starrköpfigen Alten, hatte seine Anteile
an Dynamit Nobel an die Deutsche
Bank verkauft, und die sorgte sich um
ihren Ruf.
Dass Unternehmen eine Verantwortung
mit Blick auf die Geschichte haben, auch
wenn die heutigen Manager dafür nicht
verantwortlich waren – diese Einsicht ist
erst in jüngster Zeit gewachsen.
Vor gut zehn Jahren, im Sommer 1988,
warb Jan Philipp Reemtsma, Leiter der
Hamburger Stiftung zur Förderung von
Wissenschaft und Kultur, für seine Idee,
das ehemalige Vernichtungslager Neuengamme als Gedenkstätte zu erhalten und
auszubauen. Er schrieb mehrere Dutzend
Firmen sowie einige norddeutsche Behörden an und bat um Unterstützung dieses
Projekts.
Allein die Drägerwerke sagten uneingeschränkt Unterstützung zu; Volkswagen
äußerte sich zumindest zustimmend. Die
Baufirmen Hochtief, Philipp Holzmann,
Wayss & Freytag sowie Rheinmetall antworteten überhaupt nicht. Andere wiederum, so etwa MAN, wiesen darauf hin, dass
DPA
Deutschland
Kanzler Schröder (r.), Cromme, Breuer
Um das Image der Unternehmen besorgt
sie doch gar nicht gemeint sein könnten,
weil sich die Gesellschaftsverhältnisse inzwischen geändert haben. Continental hatte angeblich gar keine Häftlinge aus Neuengamme beschäftigt.
Beim Batterie-Produzenten Varta gerieten Reemtsmas Briefe zunächst „in die
falsche Ablage“. Dann erlaubte sich das
Unternehmen, seiner Antwort einen
Scheck über 5000 Mark beizulegen. Als
Reemtsma den lächerlichen Betrag für einen bedauerlichen Irrtum hielt, bat Varta
um eine Spendenbescheinigung. Reemtsma
schickte den Scheck zurück.
„Was Schuld hieß“, so Reemtsma damals verbittert, „hat man wertberichtigt,
und keiner rechnet mehr damit, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“
Zwangsarbeiter, die während des Krieges aus Mittel- und Osteuropa deportiert
worden waren, erhielten keine Leistungen
nach dem Bundesentschädigungsgesetz.
Erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands stellte die Bundesregierung eigens
hierfür in Osteuropa gegründeten Stiftungen 1,5 Milliarden Mark zur Verfügung, die
auch Zwangsarbeitern zu Gute kamen.
Der größte Teil (500 Millionen) wurde
an Polen überwiesen. Die russische und die
ukrainische Stiftung erhielten je 400 Millionen, Weißrussland 200 Millionen Mark.
Wie viel davon bei den Opfern angekommen ist, kann niemand sagen.
Vor allem aber wurde der Meinungswandel, das neu erwachte Gefühl für die
„historische und moralische Verantwortung“ offenbar durch die spektakulären
Aktionen amerikanischer Anwälte verstärkt. Beflügelt durch den schönen Erfolg
gegen Schweizer Banken, die vergebens
ihre Schuld in Sachen Raubgold bestritten
hatten, ging nach und nach eine ansehnliche Schar von Juristen aus US-Kanzleien
mit Sammelklagen massiv gegen deutsche
Unternehmen vor.
Solche Klagen sind für die Firmen gefährlich. Als Entschädigung werden phantastische Summen verlangt. Ergeht ein Urteil zu Gunsten der Kläger, können die auf
das Eigentum des beklagten deutschen Unternehmens in den USA zurückgreifen –
Deutschland
K. B. KARWASZ
was etwa für DaimlerChrysler oder
Siemens überaus unangenehm wäre.
Die amerikanischen Anwälte verstehen sich überdies auf das Geschäft
mit der Publicity. Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten in
den USA Boykottdrohungen gegen
deutsche Produkte laut. Große Firmen fürchteten um ihr Image.
Ein Scheitern der Verhandlungen
könnte zudem ärgerliche Folgen auf
dem Kapitalmarkt haben. Unternehmen wie DaimlerChrysler oder
Veba werden an amerikanischen
Börsen gehandelt, und Aktienkurse
reagieren sensibel auf schlechte Angeklagter Flick*: Entschädigung abgelehnt
Nachrichten oder böse Propaganda.
Edward Fagan ist einer der lautesten un- Ende vergangenen Jahres trafen sich deutter den amerikanischen Anwälten. Der De- sche Spitzenmanager, darunter Jürgen
gussa beispielsweise hat er gedroht, dass sie Schrempp (Daimler), Gerhard Cromme
ihr ganzes Vermögen verlieren könnte, (Thyssen-Krupp) und Rolf Breuer (Deutwenn er mit seinen Klagen durchkäme. sche Bank), mit Bundeskanzler Gerhard
Deutsche und Dresdner Bank verklagt er Schröder und teilten ihm ihre Sorgen weauf 18 Milliarden Dollar.
gen der Sammelklagen in den USA und
Der Verdacht, dass Fagan auch an sein lauter werdender Boykottdrohungen mit.
Honorar denkt, wenn er von gequälten
Der Kanzler beauftragte seinen VerMenschen spricht, ist nahe liegend. US- trauten Bodo Hombach mit der Aufgabe, in
Anwälte kassieren Erfolgshonorare, im Fal- Gesprächen mit der Industrie, den Amerile eines Vergleichs können das bis zu zehn kanern und Israel nach einer Lösung zu
Prozent der Vergleichssumme sein.
suchen, die den Zwangsarbeitern gerecht
Fagan behauptet, etwa 70 000 ehema- wird, ihre Anwälte befriedigt und die deutlige Nazi-Opfer zu vertreten, die sich sei- schen Unternehmen von der Bürde der
nen Sammelklagen angeschlossen hätten. Vergangenheit befreit. Das vorläufige ErWenn die Fälle vor Gericht verhandelt gebnis ist die Stiftungsinitiative „Erinnewürden, so sagt er selbst, würden die be- rung, Verantwortung und Zukunft“.
klagten Unternehmen zu Zahlungen verDie Stifter haben sich keineswegs freuurteilt, für die es auf der ganzen Welt nicht dig erregt zusammengefunden. Sie sind in
genug Geld gebe.
vielen Punkten uneins, weil ihre Interessen
Die massive Kampagne der Anwälte ge- verschieden sind. Die Industrie will das
gen die deutsche Wirtschaft, die ein ernstes Thema Zwangsarbeit aus der Welt schaffen,
Anliegen – die Entschädigung der Nazi- die Banken müssen sich dem Thema AriOpfer – oft in ein absurdes Spektakel sierung jüdischen Vermögens stellen, Ververwandelt, hat Wirkung gezeigt. Schon sicherer sollen erklären, wie sie mit den
Gedenkstätte Neuengamme: „Was Schuld hieß, hat man wertberichtigt“
44
d e r
s p i e g e l
Policen von KZ-Opfern umgegangen sind.
Einig sind sich die Stiftungsinitiatoren, dass Klagen auf Entschädigung der Zwangsarbeiter keinen Erfolg hätten. Deshalb wollen sie aus
humanitären Gründen – freiwillig,
wie ihre Sprecher immer wieder betonen – Geld für die Menschen aufbringen, die während des Nazi-Regimes in ihren Betrieben zur Arbeit
gezwungen wurden.
Wie viele Milliarden müssen da
bei deutschen Unternehmen eingesammelt werden? Auch wenn
Lambsdorff und die Vertreter der
Industrie bisher nicht in Zahlen zu
denken wagen – schon bald werden sie die
Zahl der möglichen anspruchsberechtigten Opfer mit dem durchschnittlichen Entschädigungsbetrag multiplizieren müssen.
Oder sie nennen eine Summe, das Volumen des vorgesehenen Fonds, und erklären: Mehr geht nicht.
Soll jedes der angenommenen 600 000
Opfer 10 000 Mark erhalten, ergibt sich bereits ein Volumen, das jeden Vertreter der
deutschen Wirtschaft zusammenzucken
lässt. Doch ihre Gegenspieler rechnen noch
ganz anders.
Zwischen 15000 und 35000 Mark, so kalkuliert der Münchner Rechtsanwalt Michael Witti, der eng mit Fagan zusammenarbeitet, sollten die ehemaligen Zwangsarbeiter erhalten. Nimmt er nur den
Durchschnittswert von 25 000 Mark, so ist
er in etwa bei der Größenordnung, die den
US-Anwälten angemessen scheint.
Der Vorschlag der deutschen Stiftungsinitiatoren enthält zudem Bedingungen,
die zu einer großzügigen Haltung schlecht
passen. So sollen „Antragsteller“ nur dann
Geld aus dem Fonds erhalten, wenn sie
„auf Grund ihrer heutigen Lebenssituation
bedürftig sind“. Damit soll, so meinen die
Initiatoren, der „humanitäre Charakter“
der Stiftung unterstrichen werden. Überzeugend klingt das nicht.
Die Opfer verlangen vor allem, daß in einer eindeutigen Geste anerkannt wird, was
ihnen angetan wurde. „Unrecht bleibt Unrecht“, sagt der ehemalige Häftling Nummer 16026 des KZ Bergen-Belsen.
Er will nicht, dass sein Name genannt
wird: „Sonst heißt es wieder, der Jude will
nur Geld.“ Es ging ihm jedoch, so sagt er,
nicht um Geld, als er sich einer Entschädigungsklage anschloss. In der Nähe von
Breslau hatte er mehr als 20 Monate in einer Munitions- und Gasfabrik geschuftet.
„Was dieser Jude ausgehalten hat“, sagt
er, „glaubt mir kein Mensch.“
Für die Zeit im KZ hat ihm der deutsche Staat etwas gezahlt. Für 20 Monate
Zwangsarbeit hat er nie Lohn erhalten. Er
war Sklavenarbeiter, aber bedürftig ist er
nicht: Er hat nach dem Krieg ein einträgli* Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, 1947.
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AP
Deutschland
Israelische Jugendliche im KZ Auschwitz-Birkenau: Fondsgelder für die Zukunft
ches Unternehmen in Deutschland aufgebaut.
Wer die Opfer in bedürftige und nicht
bedürftige einteilen soll, ist noch nicht klar.
Die humanitäre Aktion wird noch komplizierter, weil die Stiftungsinitiatoren zudem
feine Unterschiede bei denen machen wollen, die dann schließlich etwas bekommen
sollen. Ehemalige Kriegsgefangene werden
ohnehin ausgeschlossen.
Zahlungen an Zwangsarbeiter, so heißt es
in den Vorschlägen der deutschen Unternehmen, sollen sich am Rentenniveau des
Landes orientieren, in dem der Antragsteller heute lebt. Die unterschiedliche Kaufkraft wird berücksichtigt.Wer eine Rente in
New York bezieht, soll mehr bekommen
als ein ehemaliger Zwangsarbeiter, der etwa
in der Ukraine mühsam sein Leben fristet.
Diese „differenzierte“ Betrachtung, sagt
DaimlerChrysler-Vorstand Gentz, sei gerechter als die Zahlung eines einheitlichen
Betrages an alle Opfer. „Lasst uns den
Menschen helfen, die heute in Not sind.“
Vergangenes Unrecht sei ohnehin nicht
wieder gutzumachen. Um einen Lohnaus46
gleich ginge es auch nicht; in vielen Fällen
haben die Unternehmen damals ja in der
Tat für die Zwangsarbeiter gezahlt – wenn
auch zumeist an die falschen, vor allem die
SS oder die Organisation Todt, einen der
Arbeitgeber des Nazi-Regimes.
Die Stiftungsinitiatoren wollen deshalb
nicht nur den noch lebenden ehemaligen
Zwangsarbeitern helfen. Ein Teil des vorgesehenen Geldes soll verwaltet und für
künftige Projekte verwendet werden – für
Jugendaustausch, internationale Begegnungen, historische Forschung, die Pflege
von Gedenkstätten.
In Verhandlungen mit den Sprechern der
Opfer, mit ihren Anwälten, der Jewish
Claims Conference und dem ehemaligen
US-Staatssekretär Stuart Eizenstat, heute
stellvertretender Finanzminister, werden
die deutschen Unternehmen noch einige
ihrer Bedingungen zurücknehmen müssen,
wenn sie das Thema Zwangsarbeit nicht
den Gerichten überlassen wollen. Und das
können sie nicht wollen – langwierige Prozesse, begleitet von Boykotten gegen deutsche Produkte, könnten Ruf und Umsatz
d e r
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gefährden. Eine humanitäre Geste, einmal
versprochen, lässt sich nicht zurücknehmen wie die Ankündigung einer höheren
Dividende.
Wenn wirklich etwas für die Menschen
getan werden soll, die als Zwangsarbeiter
gelitten haben, meint Karl Brozik von der
Claims Conference, dann sei es gleichgültig, wo der Einzelne wohne, und die Frage
der Bedürftigkeit belanglos. Nur die barbarischen Bedingungen, unter denen die
KZ-Häftlinge gequält wurden, müssten im
Vergleich mit anderen Zwangsarbeitern
berücksichtigt werden.
Überdies, sagt Brozik, sei die Bezugsgröße Rentenniveau nicht brauchbar. Die
Rentensysteme in den verschiedenen Ländern seien einfach nicht vergleichbar.
Am 24. August wollen sich die Gesprächspartner wieder treffen, diesmal in
Bonn. Es wird wieder um die entscheidende Frage gehen, die auch beim letzten Treffen in Washington nicht restlos geklärt werden konnte: Wie kann den deutschen Managern die Sorge genommen werden, dass
sie nach einer Einigung, die teuer genug
wird, nicht doch noch wegen der alten Geschichten verklagt werden?
„Ohne Rechtssicherheit wird nicht gezahlt werden.“ Der Satz stammt von
Gentz, und er wird wahrscheinlich wünschen, ihn nie gesagt zu haben.
Die Stiftungsinitiatoren können nicht
mehr zurück, die Sammelklagen bleiben,
und da steht das Renommee der Unternehmen, wenn nicht gar das Ansehen der
Republik auf dem Spiel. Gesucht wird ein
Kompromiss, und die Experten meinen,
ihn gefunden zu haben.
Kluge Anwälte hatten ihn schon vor Monaten skizziert: Zwischen der deutschen
und der amerikanischen Regierung wird
ein Executive Agreement geschlossen, das
die Gründung der Stiftung beinhaltet. Der
US-Präsident gibt ein Statement of Interest
ab, mit dem er den Gerichten seines Landes empfiehlt, sich mit Klagen wegen
früherer Zwangsarbeit nicht zu befassen.
Kanzler Schröder, so Unterhändler
Lambsdorff, habe ihn ausdrücklich ermächtigt, den Amerikanern eine Bundesstiftung zuzusichern, die auch ehemalige
Zwangsarbeiter in Kommunen und in der
Landwirtschaft entschädigen soll. Ohne
diese Stiftung sei das Abkommen mit Washington nicht zu haben.
Mit diesem Abkommen, das sieht auch
Lambsdorff, können künftige neue Ansprüche gegen die deutsche Wirtschaft
zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nach
Ansicht amerikanischer Juristen gering.
Offenbar haben sich die Vertreter der
deutschen Industrie ebenfalls zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Das Problem der
Rechtssicherheit, meint einer der Verhandlungspartner, könnte man auch flexibel angehen: Es müssten ja nicht hundert
Prozent sein.
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Deutschland
BRANDENBURG
Feldzug im Reich des roten Königs
C. DITSCH / VERSION (l.); A. FROESE / CARO (r.)
Angeführt von Ex-General Jörg Schönbohm, zieht die CDU ihren Wahlkampf in Brandenburg
nach den Regeln einer militärischen Offensive durch. Der SPD könnte sie die
absolute Mehrheit abjagen, doch zum Mitregieren mangelt es bislang an kompetentem Personal.
Kontrahenten Schönbohm (2. v. l.), Stolpe*: Den gefährlichen Gegner lange totgeschwiegen
I
n dem Neubau gleich gegenüber von
Manfred Stolpes Staatskanzlei in Potsdam sieht es aus wie im Briefing-Raum
der deutschen Kfor-Soldaten im Kosovo:
An der Wand hängt eine Karte des „Einsatzgebietes“, daneben „Analysen“ über
die örtlichen Gegebenheiten wie Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Parteienstruktur.
Markierte Punkte weisen strategisch wichtige Standorte aus.
Davor steht der Oberst a. D. Walfried
Beyl, 62, mit dem bei Militärs unvermeidlichen Teleskopstab in der Hand, und schildert in knappen Worten die „Operation 25
plus x“. Als „One-Dollar-Man“ plant Pensionär Beyl in der CDU-Wahlkampfzentrale den friedlichen Feldzug eines alten
Kameraden – General a. D. Jörg Schönbohm, 61. Der „Auftrag“: „Den Bekanntheitsgrad des Kandidaten so zu erhöhen,
dass er gewählt wird.“
Halten sich die Umfragen, ist der Auftrag
so gut wie erfüllt: Danach hat Schönbohm,
seit sieben Monaten Landesvorsitzender
der CDU-Brandenburg und Herausforderer des „roten Königs“ Manfred Stolpe,
fast 30 Prozent der Wähler auf seine Seite
gezogen, die SPD ist dagegen von 54 Prozent vor fünf Jahren auf 42 Prozentpunkte abgefallen. Das Wahlkampfziel der
Christdemokraten, bei der Landtagswahl
am 5. September die absolute Mehrheit
Stolpes zu brechen und künftig in Potsdam mitzuregieren, ist durchaus realistisch.
Die generalstabsmäßige Offensive der
Ex-Militärs im märkischen Sand hat die
Fünf Jahre allein regiert
Ergebnis der Landtagswahl
in Brandenburg 1994
Stimmen in Prozent
SPD
54,1
CDU
18,7
PDS
18,7
Bündnis 90/Die Grünen
2,9
FDP
2,2
Sonstige
3,3
SPD
51 Sitze
Links: am 24. Juli bei einem Besuch des Schützenvereins
Beelitz-Dorf; rechts: mit Arbeitsministerin Regine Hildebrandt am 26. Juni auf dem SPD-Landesparteitag.
50
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CDU
18 Sitze
Fraktionslos 1 Sitz
PDS
18 Sitze
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SPD unruhig gemacht. Lange hat Stolpe
den gefährlichen Konkurrenten totgeschwiegen. Vorvergangene Woche attackierte er ihn erstmals – an seiner
schwächsten Stelle: Er forderte Schönbohm auf, endlich seine Riege potentieller
Minister zu benennen: „Wenn er mitregieren will, müsste er dem Wähler schon sagen, wie und mit wem er es machen will.“
Die Personaldecke in der CDU ist dünn.
Der General und seine Wahlhelfer sind
vornweg in die Schlacht um Brandenburg
gezogen – doch hinter ihnen befinden sich
kaum Parteisoldaten.
Seit Januar braust Schönbohm fast täglich im Auto durch die Provinz. Zwischen
Prenzlau, Perleberg und Cottbus hat er jeden Kilometer abgefahren, es gibt keinen
CDU-Kreisverband und keinen Landkreis,
den der Stolpe-Herausforderer noch nicht
inspiziert hat. Er besucht Spargelfeste, diskutiert auf Polizeistationen mit Wachtmeistern und vor Ort mit Angestellten von Gurkeneinlegereien. Dem Kandidaten ist kein
Anlass zu gering. Und allen Mühseligen
und Beladenen verspricht er zu „prüfen,
was sich machen lässt“.
Am Südwestfriedhof der Gemeinde
Stahnsdorf trifft er auf einen kleinen Kreis
engagierter Bürger, die für den Erhalt der
historischen Ruhestätte kämpfen. „Der Tod
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Deutschland
J. H. DARCHINGER
C. DITSCH / VERSION
Am Berliner Maybachufer, wo viele Ausländer wohnen, sei „nicht mehr Deutschland“, sagte er ein andermal.
Dabei war Schönbohm nie wirklich bloß
ein schnarrender Rechtsaußen. Als einer
von wenigen Senatoren befürwortete er
von Beginn an die Love-Parade, diskutierte im SPIEGEL mit Autonomen über Hausbesetzungen, Drogen und Polizeigewalt.
Im Gegensatz zu seinem politischen Gegner Stolpe („Ich hasse Wahlkampf“) sucht
er den Streit als politische Methode.
„Er macht die falsche Politik, aber die
macht er gut“, urteilte der Berliner
Grünen-Fraktionschef Wolfgang Wieland
über den Berliner Innensenator, der Schönbohm bis November des vergangenen Jahres war.
Der konservative Patriot, der das literaCDU-Wahlplakat in Brandenburg: „Dem Mann würde ich was anvertrauen“
rische Werk Ernst Jüngers schätzt, findet
und das Leben gehören zusammen, und
Aufmerksam, ganz alte Schule, rückt einfach Gefallen daran, die Schmerzgrenwir als Lebende können nicht zusehen, wie Schönbohm der Dame des Hauses den zen seiner Freunde und Feinde zu erkundie Substanz dieses Friedhofs verfällt“, sagt Stuhl zurecht, bevor er sich auf eine Ziga- den. Auf Wahlkampftour in Brandenburg
Kirchhofsverwalter Olaf Ihlefeldt, 31 – und rillo-Länge in die Runde setzt. Nach dem erntet er jetzt wieder Beifall für seine Forder Wahlkämpfer nickt.
zweiten Glas, bei dem die „investitions- derung nach Erhöhung der Polizeipräsenz
In Neustadt (Dosse) beklagen Arbeiter feindliche Ansiedlungspolitik“ der SPD und nach „Kopfnoten“ in der Schule, Zendes Müllfahrzeug-Herstellers Hüffermann, diskutiert wird, schwärmt Witwe Egerland: suren für „Fleiß“ und „Betragen“.
Im Schnitt absolviert Schönbohm elf
dass eine Autowerkstatt für Jugendliche „Diese zupackende Art, dem Mann würde
Termine täglich; nicht selten sieben Tage
nur deshalb dichtgemacht wurde, weil es ich was anvertrauen.“
keine Toilette und kein fließendes Wasser
Das tut sie schließlich auch, Wahlkampf die Woche folgt er der Parole, auf die er seigibt. „Das darf doch nicht wahr sein“, er- ist teuer. Fast überall werden Schönbohm ne Helfer eingeschworen hat: „Die eigene
regt sich Schönbohm, „da kümmern wir bei seinen Besuchen im Land weiße Cou- Truppe mobilisieren, den Gegner verunsiuns drum, versprochen.“ Er meint es ernst. verts zugesteckt – Parteispenden. Von den chern, die Bevölkerung überzeugen.“
So einte er den zerDenn er glaubt selbst an sein Wahlkampf- 1,2 Millionen Mark Wahlstrittenen Brandenburmotto: „… nicht reden – handeln!“
kampfkosten hat der
ger CDU-Haufen, der
Der Mann hört zu, auch denen, die von Kandidat schon 500 000
seit der Wende fünf
der gesellschaftlichen Mitte ausgestoßen aufgetrieben.
Landesvorsitzende verscheinen. Er fährt zu den Rechtsradikalen
In zeitlos grauer Anschlissen hat und bei
im Cottbuser Jugendclub „Flash 29“, um zughose, kurzärmeligem
der letzten Landtagsmit ihnen über Ausländer zu sprechen, Hemd und Krawatte verwahl mit gerade 18,7
oder lauscht einem Mann mittleren Alters, mittelt der kleine Mann
Prozent die Quittung
der bei einer öffentlichen Diskussion in ei- mit dem grauen Haarbekam – ebenso viele
nen wirren 15-Minuten-Monolog darüber kranz jenen PragmatisStimmen bekam die
verfällt, wie übel ihm die Stasi einst mit- mus, der unsicheren
PDS. Zwei Legislaturgespielt hat. Diejenigen für sich zu gewin- Menschen fehlt. Interesperioden lang zehrte
nen, die ihren Platz im Leben verloren und siert, doch stets ungedulStolpe von seinem
nicht wiedergefunden haben, gehört zu dig, nimmt Schönbohm General Schönbohm (1991)
Image als Schutzpatron
Schönbohms Strategie.
auf, was ihm vorgetragen
Und er will die kleinen Unternehmer wird – um dann sofort die Lösung zu nen- der Brandenburger vor dem bösen Westen.
auf seine Seite ziehen, die sich bei ihm nen und sich unruhig zum Aufbruch zu Nun fürchten die Sozialdemokraten eine
täglich über zu hohe Abwassergebühren, wenden. Das Wahlkampfteam verlängerte Art „Bonn-Backlash“ – die Wähler könnschleppende Bauverfahren und nervende bereits die Verweilzeit bei Schönbohms ten am 5. September Schröders Politik abBürokratie beklagen. Arbeitgeber wie der Terminen. „Sonst haben die Leute den Ein- strafen und Stolpe treffen, indem sie aus
Bauunternehmer Peter Weiß, 44, aus druck, der schreitet nur seine Truppen ab“, Protest Schönbohm ihre Stimme geben.
Sollte die absolute Mehrheit verloren
Stahnsdorf nutzen die Begegnung mit sagt ein Mitarbeiter aus der Wahlkampfdem Kandidaten, um ihren allgemeinen zentrale „Bravo“, was für „Brandenburg sein – und darauf stellen sich die Genossen
bereits ein – , gilt eine Große Koalition als
Frust loszuwerden: „Wir wollen eine voran“ steht.
härtere Gangart, dass die Zügel angezoDie Armee, der Schönbohm 35 Jahre beinahe sicher. „Die PDS ist nicht mehr ungen werden in der Innen- und Sicherheits- diente, ließ ihn zu einem effizienten Stra- ser natürlicher Partner“, zerstreut SPDpolitik.“
tegen werden: „Es gibt nur zwei Bewe- Landesvorsitzender Steffen Reiche schon
Auch bei reiferen Frauen kommt der Ex- gungsformen – stehen oder vorwärts.“ Nie- jetzt Spekulationen, eine Tolerierung durch
General an. Felicitas Egerland, 69, Senior- derlagen sind nicht vorgesehen. Und doch die SED-Nachfolgepartei sei für die Sozis
Chefin eines Unternehmens für Fahr- hat er im Brandenburgischen viel von je- das kleinere Übel.
Selbst wenn er sein Ziel, die Teilhabe an
zeuglogistik in Neuseddin, empfängt ihn nem Politiker verloren, der als Berliner Inim blauen Wildseidenkostüm. Vor der nensenator mit polternden Parolen Stim- der Macht im Land, verfehlen sollte –
Werksbesichtigung gibt es Champagner mung machte. Die Bosnier sollten „nicht Schönbohm wird Brandenburg erhalten
und die Aufforderung, zur „Marsch- hier die Hand aufhalten, sondern zu Hau- bleiben. Der Christdemokrat ist in Kleinerleichterung“ möge der Gast doch das se Hand anlegen“, begründete er damals machnow nahe Potsdam sesshaft geworden:
Jacket ablegen.
die Abschiebung von Kriegsflüchtlingen. „Mein letzter Standort.“ Susanne Koelbl
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Werbeseite
GRÜNE
Eine zum
Anfassen
Auf absteigendem Ast
Ergebnisse der Grünen in Sachsen
5,6%
4,1%
LANDTAGSWAHLEN
14. Okt.
1990*
5,9%
11. Sept.
1994
19. Sept.
1999
4,8%
4,4%
16. Okt.
1994
27. Sept.
1998
BUNDESTAGSWAHLEN
2. Dez.
1990
5,6%
2,7%
EUROPAWAHLEN
*Listenvereinigung
54
12. Juni
1994
13. Juni
1999
Grünen-Spitzenkandidatin Röstel*: Bewährungsprobe ohne Netz und doppelte Quote
Die, die das bewirken soll, ist 37 Jahre
alt, einen Meter achtzig groß, trägt vorzugsweise Mini-Röcke, ist bekannt aus
Funk und Fernsehen und kommt an diesem
Tag erst einmal zu spät: Gunda Röstel,
Bundessprecherin von Bündnis 90/Die
Grünen, ist im Stau hängen geblieben. Als
sie schließlich gegen Viertel vor fünf auf
dem Waldheimer Marktplatz ankommt, haben die Händler bereits mit dem Abbau
ihrer Stände begonnen. Die grüne Frontfrau, von der Burdas Ost-Postille „Super
Illu“ einst zu berichten wusste, mit ihr sei
„die gute Laune in die Umweltpartei eingezogen“, grämt das nicht. Röstel greift
sich ein paar Flyer und macht sich, immer
lächelnd, als sei sie gerade einem Werbespot entstiegen, ran an die wenigen Passanten.
Sie freut sich wie ein Starlet, wenn sie erkannt wird. „Sie sind doch die aus dem
Fernsehen“, sagt eine Rentnerin, nimmt
das Flugblatt mit dem grünen Programm
für die Landtagswahl und steckt es ungelesen weg. „Die Leute sind immer so überrascht, wenn eine Bonner Politikerin ganz
ohne Personenschutz kommt“, sagt Röstel
kokett und reißt die Augen auf, „ich bin
eben eine Politikerin zum Anfassen.“
Mangelndes Selbstbewusstsein würde
wohl niemand der für die Politik beurlaubten Sonderschullehrerin aus der sächsischen Provinz bescheinigen. Weil sie die
Dreifachquote (Frau, aus dem Osten und
Reala) erfüllte, wählte die Partei sie 1996 an
ihre Bundesspitze. Im April kürten die
Sachsen-Grünen sie zu ihrer Spitzenkandidatin für die Landtagswahl.
Aus allem, was die gelernte Pädagogin
dieser Tage in Sachsen unternimmt, spricht
dieselbe Botschaft: Wenn es einen Grund
gibt, am 19. September grün zu wählen,
dann lautet er Gunda Röstel. „Ich werfe
schließlich mein Amt und meine Popula-
rität in die Waagschale“, sagt die von sich
überzeugte Kandidatin.
Die Partei, mit knapp über 1000 Mitgliedern der stärkste Landesverband in der
grünen Diaspora Ostdeutschland, hat sich
dem Personenkult gefügt: Der Wahlkampf
ist ganz auf Röstel zugeschnitten. Als
einziges Großplakat wird das Konterfei
der Spitzenkandidatin geklebt. Motto:
„Charme und Energie für Sachsen“. Ob
Wahlplakate, Termine oder Auftritte – alles dreht sich um Gunda.
Außer auf sich setzt die Parteisprecherin
nur noch auf den grünen Übervater Joschka Fischer. Der populäre Außenminister
soll ihr in der heißen Phase des Wahlkampfs die Säle füllen. Umweltminister
Jürgen Trittin und Gesundheitsministerin
Andrea Fischer dürfen zwar im Lande auftreten, doch die Kandidatin zweifelt, ob
ihr das Punkte bringt: „Die anderen Bundespromis erreichen doch in Sachsen auch
nicht mehr Leute als ich.“
Der Partei bleibt bei dieser Inszenierung
die Rolle des Kulissenschiebers. „Wer mit
der Zweit- oder Listenstimme Grüne wählt,
stimmt für Gunda Röstel und ihr Team“,
heißt es unmissverständlich auf Röstels
Homepage im Internet. Auf der erinnert
ohnehin nichts mehr an die Öko-Partei.
MARUNG+BAEHR VISUELLE MEDIEN
W
aldheim im mittelsächsischen
Kreis Döbeln, das ist zuallererst
das Gefängnis. Der ungeschlachte Kasten thront über der Stadt am Fluss
Zschopau; wer nach Waldheim kommt,
kann den Knast nicht übersehen. Dann gibt
es noch die Kosmetikmarke Florena, im
Osten so bekannt wie im Westen Nivea.
„Bei uns zu Hause werden nur FlorenaProdukte verwendet“, sagt Holger Saß mit
einem Hauch von Ironie in der Stimme,
„das verbindet.“ Der 33jährige kommt aus
Leipzig, am Gymnasium im PlattenbauViertel Grünau unterrichtet er Geographie,
und in Waldheim kandidiert er für die Grünen zur Landtagswahl am 19. September.
Unter den elf Parteifreunden im Landkreis
fand sich keiner für die Kampfaufgabe. Bei
der letzten Bundestagswahl war der Leipziger schon einmal Zählkandidat im Mittelsächsischen.
Saß weiß, dass er auch diesmal auf verlorenem Posten kämpft. Bei den Europawahlen im Juni kam die Ökopartei im Kreis
Döbeln auf gerade 1,5 Prozent. Für die
Landtagswahlen in knapp sechs Wochen
lassen die Umfragen bestenfalls vier Prozent erwarten. Saß: „Nur ein Wunder kann
uns wohl noch helfen.“
S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM
Die Grünen, im Osten kaum
noch existent, setzen auf die
Bundessprecherin Gunda Röstel:
Sie soll in Sachsen die Partei
wieder ins Parlament hieven.
Wahlplakat der sächsischen Grünen
* Am 21. Juli auf dem Waldheimer Marktplatz.
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Optimismus mit Gute-Laune-Gunda
Deutschland
Die Oberfläche zeigt ein weich gezeichnetes Porträt der Spitzenkandidatin vor Sonnenuntergangsfarben.
Zwar geht einigen Sachsen-Grünen „der
Gunda-Kult“ gehörig gegen den Strich.
Doch auch die Kritiker des PersonalityWahlkampfs klammern sich an diese vielleicht letzte Chance für das grüne Projekt
in Ostdeutschland. Die Ausgangslage für
die Ost-Grünen, die außer in Sachsen im
September auch in Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen zu bestehen haben, könnte schlimmer kaum sein. In keinem Parlament der neuen Länder ist die
Partei derzeit vertreten. Bei den Kommunalwahlen im Juni flogen grüne Ratsherren reihenweise aus den Rathäusern.
Urgrüne Themen wie Umweltschutz,
Bürgerrechts- und Flüchtlingspolitik lösten
beim von Existenzängsten gebeutelten Ostbürger schon immer eher Kopfschütteln
als Begeisterung aus. Ein Übriges taten die
Chaos-Tage zu Beginn der Bonner rot-grünen Regierung. 630-Mark-Gesetz, Ökosteuer und der zähe Hickhack um den
Atomausstieg verschafften den Grünen
nicht gerade den Rückenwind, den sie im
Osten dringend brauchen.
Kontraproduktiv war auch der KosovoKrieg. Reihenweise schmissen in den Geschäftsstellen von Dresden, Erfurt und
Magdeburg über „den Kriegskurs“ erboste
Ost-Grüne ihre Mitgliedsbücher hin.
Aus diesem Tief will Gute-Laune-Gunda
ihre Partei herausführen: Die Parteisprecherin dreht in Freital, vor den Toren Dresdens, im Solarmobil ein paar Runden, lädt
zur Rave-Party in die Landeshauptstadt
und sucht junge Mittelständler heim. Röstel
setzt auf Optimismus: „Wir müssen den
Bürgern vermitteln, wir haben die richtigen
Konzepte, wir tun etwas für innovative Unternehmen.“ Alles erinnert ein bisschen an
die FDP – nur schadstoffarm.
Von einem Erfolg der grünen Frontfrau
in Sachsen träumen auch die seit der hessischen Landtagswahl frustrierten Manager
der Grünen im Bund. Der Realo Matthias
Berninger begeistert sich: „Wenn Gunda es
schafft, die Grünen im Osten zurück ins
Spiel zu bringen, ist das ein ähnlicher Erfolg
wie der von Joschka Fischer 1985.“ Damals
durften die Grünen zum ersten Mal in einem Bundesland mitregieren, Fischer wurde hessischer Umweltminister.
Doch so recht glauben mag kaum einer
der Parteifreunde, dass Röstel es tatsächlich stemmt. Verpasst die Partei wie schon
1994 den Einzug in den Landtag, dürfte ihr
Ende nur noch eine Frage der Zeit sein.
„Dann können wir den Laden zumachen“,
sagt Eberhard Hall, Grünen-Geschäftsführer im sächsischen Kreis Döbeln.
Auch für Gunda Röstels Karriere wäre
eine Niederlage daheim kaum förderlich.
Sachsen, hämt ein grüner Röstel-Feind, sei
für die Parteisprecherin die „erste richtige
Bewährungsprobe ohne Netz und doppelte Quote“.
Andreas Wassermann
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Umfrage
Joschka Fischer
Gerhard
Schröder Rudolf
Scharping
Veränderungen bis zu –+3 liegen im Zufallsbereich. Sie werden deshalb nicht ausgewiesen.
Wolfgang
Schäuble
Edmund
Stoiber
Kurt
Biedenkopf
Volker
Rühe
Heide
Simonis
Hans
Eichel
Manfred
Stolpe
76
Angela
Merkel
Otto
Schily
35
34
Wolfgang
Clement
65
62
61
53
52
49
44
40
37
31
„Wichtige Rolle“ seltener
gewünscht als im Mai
Dieser Politiker ist
mir unbekannt.
–7
–5
4
15
9
11
4
22
im Mai
nicht auf
der Liste
–7
–6
27
16
4
13
16
40
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 30. Juli bis 3. August 1999; 1500 Befragte
Sonntagsfrage
Wichtige politische Aufgaben...
„Welche Partei würden Sie wählen,
wenn am nächsten Sonntag
Bundestagswahl wäre?“
Umfrage Mai
„Welche der folgenden politischen
Aufgaben halten Sie für besonders
wichtig?“
August
mit „Ja“ antworteten im August
45%
Bundestagswahl
vom 27. September
1998
Die Arbeitslosigkeit
bekämpfen
74
43
60
40,9
Die Renten sichern
35
6
6
5
31
Die Wirtschaft
ankurbeln
50
Bürger wirksamer vor
Verbrechen schützen
35%
40
48
Für soziale
Sicherheit sorgen
40
48
Die Gesundheitsvorsorge sichern
6
5
5
im Mai
50
5%
29
Alle Angaben
in Prozent
Für gleiche Lebensbedingungen
in Ost und West sorgen
Das Zusammenleben
mit Ausländern regeln
25
58
30
40
38
6,7
6,2
5,1
25
40%
40
35,1
...und wie Rot-Grün sie bewältigt
„Sind Sie mit der bisherigen Arbeit
der Bundesregierung auf diesen
Gebieten zufrieden?“
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34
34
43
49
43
49
48
53
50
51
Deutschland
Liebling
der Nation
Superstar Fischer
Emnid nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern.
Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige
Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und
die Veränderungen zur letzten Umfrage im Mai.
J
Alle Angaben in Prozent
Guido
Westerwelle
Walter
Riester
24
23
Wolfgang
Gerhardt
Gregor
Gysi
21
21
Jürgen
Trittin
Werner
Müller
21
Roland
Koch
19
15
–5
20
38
32
8
4
60
9
61
im Mai nicht
auf der Liste
Kanzler okay, Regierung mau
„Sind Sie, alles zusammen betrachtet, zufrieden ...
„Nein“ 59
45
„Ja“ 39
. . . mit der Arbeit der
Bundesregierung?“
41
Union im Aufwind
für keine
Partei
69
52
11
8
...mit der Arbeit von CDUChef Wolfgang Schäuble?“
Verteilte Gunst
für die
CDU/CSU
13
38
... mit der Arbeit von
. . . mit der Arbeit
Bundeskanzler Schröder?“ der Opposition?“
„Für welche Partei ist die Stimmung im
Augenblick besonders günstig?“
für die SPD
55
53
53
24
„Wenn die Union jetzt einen
Kanzlerkandidaten für die
Bundestagswahl aufstellen
würde, wen sollte sie nehmen?“
Wolfgang
Schäuble
Edmund
Stoiber
Volker
Rühe
Ergebnis der
Mai-Umfrage
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24
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oschka Fischer ist der Held der Saison. Der grüne Außenminister führt
die Hitliste der deutschen Politiker –
vom Bielefelder Emnid-Institut im SPIEGEL-Auftrag ermittelt – mit beträchtlichem Vorsprung an: 76 Prozent (Mai: 73)
der Befragten billigen ihm eine herausgehobene Rolle zu.
Der hingebungsvolle Jogger ist derzeit
der Darling der Nation, er genießt über
alle Parteigrenzen hinweg Respekt: 89 Prozent der SPD-, 73 Prozent der CDU/CSUund 75 Prozent der FDP-Anhänger finden
ihn gut.
Ins Bild passt, dass 62 Prozent der Deutschen den Grünen raten, die Doppelspitze
als Führungsprinzip aufzugeben – und von
diesen sprechen sich 82 Prozent für Fischer
als alleinigen Parteichef aus. Unter ferner
liefen: Jürgen Trittin (5 Prozent), Kerstin
Müller (6).
Gerhard Schröders neueste Werte fallen
eher gemischt aus. Einerseits liegt der
Bundeskanzler im SPIEGEL-Ranking nicht
schlecht an zweiter Stelle. Andererseits
ist sein Rückstand auf Fischer deprimierend groß (elf Prozentpunkte), zudem
lag Schröder im Mai bei 72 Prozent und ist
jetzt auf 65 gefallen. An dritter Stelle in der
Rangliste der Politiker steht nach wie vor
Rudolf Scharping.
Als Person schätzen die Befragten
Schröder durchaus: 53 Prozent bescheinigten ihm gute Arbeit. Auch in seiner
Eigenschaft als SPD-Vorsitzender findet
der Kanzler Unterstützung: 76 Prozent
plädieren für eine Erneuerung der SPD
à la Schröder.
Das Trio an der Spitze ist identisch mit
dem herausgehobenen Kriegskabinett –
eine Bestätigung für Schröders Überzeugung, die im Kosovo-Konflikt erprobte
Kombination aus Entschiedenheit und
Besonnenheit komme im Volk gut an.
Darüber hinaus sind 62 Prozent der von
Emnid Befragten der Meinung, die deutsche Vergangenheit solle im Verhältnis zu
anderen Staaten nicht länger eine so wichtige Rolle spielen. 65 Prozent treten zudem dafür ein, dass Deutschland eine
Führungsrolle in Europa übernehmen solle. Auch insoweit darf sich Schröder bestätigt fühlen.
Der Kosovo-Konflikt zeitigt allerdings
alarmierende Nebenwirkungen. Der
Kanzler und seine beiden wichtigsten
Minister werden als Politiker aus eigenem
Recht wahrgenommen – als ob sie weder
der Regierung noch einer Partei an59
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Deutschland
Die Erwartungen der Bürger an die amtierende Koalition sind überaus konkret:
Obenan steht der Rückgang der Arbeitslosigkeit, gefolgt von der Sicherheit der
Rente und der Ankurbelung der Wirtschaft.
Die harten ökonomischen Faktoren dominieren eindeutig, der Wunsch nach
Annäherung der Lebensverhältnisse im
Osten an die des Westens fällt dagegen in
der Prioritätenliste deutlich ab.
Im übrigen will eine Mehrheit der Deutschen, dass noch in dieser Legislaturperi-
gehörten. Denn die rot-grüne Koalition
steht keineswegs in der Gunst des Publikums: Klägliche 39 Prozent sind mit der
Arbeit der Bundesregierung zufrieden,
69 Prozent der Befragten erachten die
politische Stimmung im Lande als günstig für CDU/CSU und nicht etwa für
die SPD.
Wenn heute Wahlen wären, landete die
SPD bei 35 Prozent und die Union bei 43,
die Grünen würden es auf 6 und die FDP
würde es auf 5 Prozent schaffen, ebenso
wie die PDS.
Umfrage vom 30. Juli bis 3. August.
1500 Befragte; alle Angaben in Prozent,
an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
ode ein Kernkraftwerk abgeschaltet wird;
außerdem soll das Kriterium Gerechtigkeit
in der Steuerpolitik stärkere Berücksichtigung finden.
Und wen sollte die Union zu ihrem
Kanzlerkandidaten erheben? Die von Emnid Befragten hegen keine klare Präferenz:
Wolfgang Schäuble (33 Prozent) liegt
knapp vor Edmund Stoiber (27) und Volker
Rühe (24). Falls Rühe nach der FebruarWahl Ministerpräsident in Kiel werden
sollte, dürften seine Chancen erheblich
steigen.
™
Mehr Gerechtigkeit
„In der SPD ist ein Streit zwischen Gerhard Schröder und den Linken über die grundsätzliche Ausrichtung der Partei ausgebrochen. Glauben Sie, dass die rot-grüne
Regierung – zum Beispiel in der Steuerpolitik – den Grundsatz der Gerechtigkeit
ausreichend berücksichtigt?“
ja
Anhänger von
SPD
22
71
CDU/ B’ 90/
CSU Grüne
FDP
PDS
34
13
49
20
8
60
82
50
74
85
nein
Mehr Schröder,
weniger SPD
Mehr für die Umwelt
erneuern
„Muss sich die SPD erneuern,
wie Schröder meint, oder
sollte sie im Prinzip so
bleiben, wie sie ist?“
76
18
„Hat die rot-grüne Regierung ihr Versprechen, die
Umwelt stärker in den Mittelpunkt der Politik zu
stellen, bisher ausreichend umgesetzt?“
ja
bleiben, wie sie ist
22
73
Selbstbewusster Auftritt
nein
„Der Bundeskanzler und seine Regierung treten gegenüber
dem Ausland immer selbstbewusster auf. Meinen Sie, wie
auch Gerhard Schröder, dass ...
... die deutsche Vergangenheit im Verhältnis zu anderen Staaten nicht mehr so eine
wichtige Rolle spielt?“
ja
nein
62
35
... Deutsch bei allen Treffen der EU Verhandlungssprache sein soll?“
... Deutschland in Europa eine Führungsrolle übernehmen soll?“
ja
nein
65
32
„Welchen Forderungen stimmen Sie zu?“
Es soll ein Tempolimit bei Sommersmog geben
67
ja
nein
62
35
Die Industrie soll Altautos kostenlos zurücknehmen
83
Noch in dieser Legislaturperiode soll ein
Atomkraftwerk abgeschaltet werden
58
Joschka Fischer
82
Lieber einer als zwei
Antworten der
934 Befragten,
die sich für einen
grünen Parteichef
aussprachen
Joschka voran
„Die Grünen debattieren über ihre Parteiführung, was meinen Sie?“
Es soll bei der
Doppelspitze bleiben
26
62
„Wer soll Parteichef
der Grünen werden?“
Anhänger von
CDU/ B’ 90/
SPD
CSU Grüne
FDP
PDS
24
24
49
19
40
68
62
48
68
54
Es soll einen Parteichef geben
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6
5
2
Kerstin Müller
Jürgen Trittin
Gunda Röstel
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INTERNET
Gläsernes Amt
Behörden rüsten für BürgerService im World Wide Web: Bauanträge oder Steuererklärungen
online sollen Wartezeiten vor den
Büros verkürzen.
M. JÜSCHKE / HAMBURGER ABENDBLATT
A
ls der Ansturm der Tennis-Fans den
Computer der Mannheimer Stadtverwaltung lahm legte, war das ein
schöner Tag für die Internet-Spezialisten
des Amtes. „Unsere Leute sind online“,
schwärmt Jörg Blumenthal, 53, „mehr als
in jeder anderen Stadt, die ich kenne.“
Kölner Internet-Seite: Per Mausklick in die Stadtbibliothek
Deshalb war das Malheur im Rechnernetz absehbar: Steffi Graf hatte beim Fe- Einwohner-Stadt rund
deration-Cup wegen einer Verletzung ab- eine halbe Million Mal
gesagt, entsprechend schleppend verkauf- genutzt.
Der professionelle
ten sich die Karten für das Turnier in der
Mannheimer Stadthalle. Prompt bot das Auftritt im Internet,
Sportamt den städtischen Angestellten auf glaubt Thorsten Bullerseiner Homepage Gratiskarten an, um die diek vom NiedersächSitzreihen beim Turnier weniger leer er- sischen Städte- und Ge- Mannheimer Internet-Seite: „Unsere Leute sind online“
scheinen zu lassen. Schon einige Minuten meindebund, werde „in
nach Dienstbeginn loggten sich an die 2500 den nächsten Jahren die Regionen dieser akte“ ist mit Programmen von SoftwareMitarbeiter ein, der Rechner klappte zu- Republik in Gewinner und Verlierer Anbietern wie dem deutschen Branchentrennen“. Beamte oder Angestellte, die primus SAP längst machbar. „Technisch
sammen.
mit dem Web immer noch ist das gläserne Amt kein Problem
Für den Internet-Fachnicht umgehen können, mehr“, sagt SAP-Manager Dietmar
mann Blumenthal ist die
sind möglicherweise schon Pfähler: „Wo es hakt, das sind Bürokratie
Episode der Beweis, dass
bald reif für Schulung und Personalräte.“
Mannheims Beamte ihre Eoder Frühpensionierung.
Denn bei manchen Beamten und KomMail-Adressen und InterDenn kaum irgendwo munalpolitikern stößt der bürgerfreundlinet-Zugänge am Bürocomlässt sich das Netz so gut che Fortschritt auf Widerstand. „Viele Verputer tatsächlich nutzen.
nutzen wie da, wo ohne- waltungschefs in den Kommunen glauben
Das „virtuelle Rathaus“
hin nur Papier bearbeitet immer noch, das Internet sei nur ein Spielmit freiem Zugang für Bür- Zugangs-Chipkarte
wird.
zeug“, sagt Computer-Spezialist Bullerger und Unternehmen, das
Bullerdieks Ziel ist das komplett ver- diek, der seit Jahren Bürgermeister und
in vielen anderen Städten und Gemeinden derzeit aufgebaut wird, funktioniert in netzte Rathaus, das die meisten der heute Stadtdirektoren für die vernetzte Zukunft
der Neckar-Stadt bereits immerhin zu ei- noch notwendigen Behördengänge für Bür- schult. Anfangs seien die Politiker zu Senem Teil. Bürger können online etwa ihre ger und Investoren überflüssig ma- minaren mit ihren EDV-Fachleuten oder
Biotonne bei der Stadtreinigung bestellen chen könnte. Nervtötendes Schlange ste- der Sekretärin angereist, „nach dem Motoder ihren Hund anmelden. Pro Monat hen auf dem Linoleum von Behördenfluren to: Ich verstehe nichts davon, schreiben Sie
wird der Computer-Service in der 300 000- soll dann der Vergangenheit angehören: das mal mit.“
Bauanträge, UmzugsZwar ist längst fast jede Stadt zwischen
meldungen oder Steuer- www.kiel.de und www.kempten.de per
erklärungen könnten Homepage im Internet vertreten. Doch oft
per verschlüsselter E- ist kaum mehr zu sehen als ein Foto vom
Mail ins Amt geschickt Rathaus und die auf viele Internet-Nutzer
und dort über ein in- vorsintflutlich wirkende Post-Adresse der
ternes „Intranet“ von Stadtverwaltung.
einem Sachbearbeiter
Das Internet, klagt Fachmann Bullerzum nächsten verschickt diek, verkomme so zum reinen Anschlagwerden.
brett. Dass es besser gehen kann, zeigen
Mehr noch: Jeder An- Angebote einzelner Städte. So können
tragsteller soll durch den Bürger
Blick auf den heimischen π in München ihre Meldebestätigung onComputerbildschirm jeline bestellen;
derzeit ablesen können, π im fränkischen Landkreis Kitzingen ihr
auf welchem BeamtenWunschkennzeichen fürs Auto reservieschreibtisch sein Antrag
ren, den Sperrmüllwagen bestellen oder
gerade liegt – oder liedie Daten einer öffentlichen Ausschreigen geblieben ist. Die
bung für ein neues Dach der Berufselektronische „Bürgerschule abrufen;
Hamburger Finanzrichter Grotheer: Klage via E-Mail
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Deutschland
π in Kölns Stadtbibliothek per Mausklick
Bücher oder Musik-CDs auswählen und
sich nach Hause liefern lassen.
In Hamburg demonstriert das Finanzgericht mit einem Pilotprojekt, „dass auch
die Gerichte modern und zukunftsweisend
arbeiten wollen“, so Gerichtspräsident Jan
Grotheer. Seit Anfang des Monats können
Steuerberater und Rechtsanwälte ihre Klagen via E-Mail einschicken. Aktentransporte entfallen, die Richter sollen jederzeit
auf die Daten zugreifen und „so schneller
Auskunft geben können“, sagt Grotheer.
Wo sie sinnvoll eingesetzt wird, kann
die Computer-Post helfen, Zeit zu sparen.
Ab Herbst sollen etwa die Anträge für Pässe und Personalausweise in Köln, Siegburg
und Hamm per Datenleitung an die Bundesdruckerei nach Berlin versendet werden. Passfoto und Unterschrift des Bürgers
sollen vor Ort im Meldeamt eingescannt
und verschlüsselt werden. Der Online-Versuch, so hofft die Druckerei, werde die
Wartezeit der Bürger auf ihre Ausweispapiere deutlich verkürzen.
Heikel ist noch vor allem der Transfer
von persönlichen Daten zwischen Behörde und Heim-PC, solange die Identität des
Internet-Kunden nicht ausreichend sicher
festgestellt werden kann. Derzeit behilft
sich etwa das Mannheimer Computer-Projekt bei Bürgern, die eine Biotonne ordern,
mit einem schlichten Anruf beim Besteller,
„um zu verhindern, dass jemand seinen
Nachbarn mit unerwünschten Mülltonnen
ärgert“, so Projektleiter Blumenthal.
Von Januar nächsten Jahres an jedoch
soll das lästige Telefonverfahren durch eine
Chipkarte ersetzt werden, mit der sich jeder Bürger online bei der angewählten
Behörde ausweisen kann. Eine Code-Karte dient auch schon beim Hamburger Justiz-Projekt dazu, die hochsensiblen Steuerdaten so zu verschlüsseln, dass nur die
beteiligten Anwälte und Justizbeamten Zugriff darauf haben.
„Gerade bei Dienstleistungen für die
Wirtschaft“, glaubt Bullerdiek, „werden
sich auch kleine Städte im Internet große
Vorteile verschaffen können.“ Entscheidend werde beispielsweise sein, wo ein Investor die schnellsten und zuverlässigsten
Planungszusagen für sein Unternehmen erhält – aber auch, wo die Angestellten privat den modernsten Service bekommen
können.
Die Kommunen müssten deshalb neben
virtuellen Behördengängen verstärkt auch
ganz alltägliche Bedürfnisse bedienen,
glaubt Stefan Hauf von der Stadt München.
So soll elektronischer Service die Bezahlung der Monatskarte für Bus und Bahn
vom Heim-PC aus ebenso ermöglichen wie
die Planung von Abendterminen auf einem
täglich wechselnden Kulturkalender der
städtischen Homepage – mit anklickbaren
Links zu Kinos und Theatern, wo dann die
Eintrittskarten direkt geordert und bezahlt
werden könnten.
Hans-Jörg Vehlewald
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ZIVILDIENST
K. B. KARWASZ / ARGUS
Angst
vor der Lücke
Jede fünfte Zivildienststelle
will das Familienministerium bis
2003 einsparen. Schon im nächsten Sommer kann es auf Pflegestationen dramatisch werden.
Wacht im Nationalpark Wattenmeer
Null Bock auf die Bundeswehr
Zivildienstleistende im Jahresdurchschnitt
in Tausend
137 138
128
130
130
115
120
99
80
40
1992
66
1993
1994
1995
1996
1997
1998
H. OBERÜCK / ARGUS
D
Betreuung behinderter Kinder
L. SCHMIDT / JOKER
er junge Mann auf Burg Altena hat
sich bisher vor keiner Arbeit gedrückt. Wann immer Zimmer und
Toiletten in Deutschlands ältester Jugendherberge gereinigt werden müssen, Geschirr gespült oder in der sauerländischen
Kleinstadt am Fuße der Burg für das
Abendessen eingekauft werden soll, packt
der Zivildienstleistende Habib Youssofy,
20, nach dem Urteil von Herbergsmutter
Hendrine Groothusen „ordentlich mit an“.
Ein paar hundert Kilometer nördlich, in
der Jugendherberge im schleswig-holsteinischen Niebüll, serviert der Zivildienstleistende (Zivi) Moritz Müller, 20, Kindern
ihr Lieblingsgericht: Nudeln mit Tomatensauce und Hackbällchen. Ohne den gelernten Koch, der auch Türen streicht und
die Zimmer putzt, „könnten wir den Laden
dichtmachen“, sagt Herbergsvater John
Isernhagen.
So kann es kommen. Vom 1. Juli nächsten Jahres an will Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) die Kosten
für die im Jahresdurchschnitt 138 000 Zivis
drastisch senken und unter anderem ihre
Zahl bis zum Jahr 2003 auf 110 000 verringern; bereits im Haushaltsjahr 2000 sollen
15 000 Kriegsdienstverweigerer weniger
einberufen werden.
Weil die Ministerin den Rotstift vor allem bei den Zivi-Arbeitsplätzen in Handwerk und Verwaltung sowie in der Grünpflege ansetzen will, sind die Stellen der
Haushaltshilfe bei einer Gehbehinderten
Zivildienstleistende im Einsatz
Ordentlich mit anpacken
1800 Zivildienstleistenden in den 604 deutschen Jugendherbergen, so Bernd Dohn
vom Deutschen Jugendherbergswerk,
„akut von der Streichung bedroht“. Etliche
der kleinen Herbergen mit weniger als 40
Betten wie auf Burg Altena und in Niebüll
stünden ohne die billigen Arbeitskräfte
„vor dem Aus“.
Die Entscheidung, wo en détail gestrichen wird, fällt frühestens Mitte September bei einem Treffen zwischen Bergmanns Beamten und Vertretern der Wohlfahrtsverbände. Aber schon jetzt steht fest,
dass die Zivis um ihre attraktivsten Arbeitsplätze fürchten müssen. Dazu zählen
neben den Jobs in idyllisch gelegenen Jugendherbergen so exotische Hilfsarbeiten
wie das Zählen von Ringelgänsen im
schleswig-holsteinischen Nationalpark
Wattenmeer oder ein gemächlicher Hausmeisterdienst beim DRK oder einer Kirchengemeinde.
Um die Sparvorgaben von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) im Rahmen des „Zukunftsprogramms 2000“ zu
erfüllen, hat Ministerin Bergmann gleich
mehrere Sparvorgaben erarbeiten lassen,
um den Jahresetat für den Zivildienst von
derzeit 2,7 Milliarden Mark zu reduzieren:
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π Jede fünfte Zivildienststelle wird in den
nächsten Jahren gestrichen; die 90 000
Plätze in Betreuung und Pflege Kranker, Älterer oder Behinderter sollen der
Zahl nach erhalten bleiben;
π den sozialen Einrichtungen und Verbänden, die Zivildienstleistende beschäftigen, werden statt bisher 75 nur 70 Prozent des Soldes erstattet; das Finanzministerium hatte sogar dafür plädiert,
nur noch die Hälfte der Kosten zu übernehmen;
π die Träger der Zivi-Stellen müssen sich
am Entlassungsgeld in Höhe von 1500
Mark mit 450 Mark beteiligen, und
π die Dauer des Zivildienstes wird zum
1. Juli 2000 um zwei auf elf Monate
gekürzt und liegt damit nur noch einen
Monat über dem Wehrdienst.
Allein im kommenden Jahr spart Bergmann mit diesem Katalog nach ihrer
Hochrechnung 660 Millionen Mark ein.
Bei den Trägern der Zivildiensteinrichtungen macht sie sich damit kaum Freunde. Ulrich Schneider, der als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes 9000 Organisationen
aus dem Sozialbereich mit rund 40 000
Zivildienstleistenden vertritt, hält den
Vorstoß der Ministerin schlicht für „Unsinn“.
Die Mehrbelastungen von rund 100 Millionen Mark, die nun auf die deutschen
Wohlfahrtsverbände insgesamt zukämen,
könnten kleine karitative Vereine nicht verkraften. „Die müssen sich das Geld für die
Zivis von den Kommunen holen“, sagt
Schneider. Tatsächlich wälze die Bundesregierung einmal mehr Kosten auf die
Städte und Gemeinden ab.
Auch die geplante Verkürzung der
Dienstzeit würde Krankenhäusern, Pflegediensten und Umweltschutzorganisationen
schwer zu schaffen machen: Zivildienstleistende können ihre Nachfolger dann
kaum noch angemessen einarbeiten, Pflegebedürftige und Ältere, die sich an einen
jungen Zivi gewöhnt haben, müssen sich
öfter als bisher auf eine neue Bezugsperson einstellen. Schneiders Gegenvorschlag:
Die Dienstdauer bei 13 Monaten lassen
und jährlich 170 Millionen Mark durch die
Streichung der staatlichen Einführungslehrgänge für die Zivis sparen.
Elfriede Stumböck, Geschäftsführerin
der Vereinigung Integrationsförderung in
München, fürchtet sich schon jetzt vor dem
Sommer nächsten Jahres. Etliche Zivis, die
120 Alte und Behinderte ambulant betreuen, scheiden im Mai aus – ihre Nachfolger
kommen vermutlich erst im Herbst, weil
das Familienministerium tausende Kriegsdienstverweigerer aus Kostengründen verspätet einberufen will.
Unter der „katastrophalen Versorgungslücke“, so Stumböck, litten vor allem sozial
Schwache, „die es sich nicht leisten können, mal eben einen privaten Pflegedienst
in Anspruch zu nehmen“. Carsten Holm
Deutschland
A F FÄ R E N
Spionage für den Sieger?
Der Berliner Flughafen-Skandal weitet sich aus: Nach Belegen
der Staatsanwälte waren in einer vom Staat beauftragten
Beratungsfirma Mitarbeiter des siegreichen Konsortiums tätig.
M. FENSCH / ACTION PRESS
I
n den feinen Kreisen der Bundeshauptstadt ist Herbert Märtin, 50, ein bekannter Mann. Prominente Politiker
fragen den asketischen Ingenieur gern um
Rat, wenn in Berlin wieder einmal ein millionenschweres Großprojekt ansteht.
Lädt der Chef der WIB-Ingenieurberatungsgesellschaft in seine Firmenvilla in
Grunewald ein, schauen auch hochrangige
Parteifreunde gern auf einen Schampus
vorbei. Schließlich war Märtin, bevor er
sich als Unternehmensberater selbständig
machte, selbst mal Abteilungsleiter beim
Berliner SPD-Wissenschaftssenator.
Doch neuerdings gehen immer mehr Genossen auf Distanz zu dem Geschäftsmann. Märtin scheint die Schlüsselfigur in
einem gigantischen Wirtschaftskrimi zu
sein, der die Steuerzahler Milliardenbeträge kosten könnte. Verwickelt sind rund
ein dutzend Politiker und Topmanager, die
bei der Planung des neuen Großflughafens
in Berlin-Schönefeld mitmischen.
Ein spektakuläres Urteil des Brandenburger Oberlandesgerichts wirbelte am
Dienstag vergangener Woche sämtliche
Zeitpläne für den Airport-Ausbau durcheinander – die entscheidende Endphase des
aufwendigen Auswahlverfahrens muss auf
Geheiß der Richter wiederholt werden.
Zwei Konsortien hatten sich bis zum
Schluss um das Sechs-Milliarden-Projekt
beworben. Auf der einen Seite kämpfte der
Essener Baukonzern Hochtief, eine Tochter
des Stromunternehmens RWE, im Verbund
mit der Frankfurter Flughafengesellschaft
(FAG), einer ABB-Tochter und der Berliner
Bank. Auf der Gegenseite hielt bis zuletzt
der Bonner Mischkonzern IVG mit. Er hatte sich mit der Wiesbadener Beratungsfirma Dorsch, dem Wiener Flughafen und
der französischen Caisse de Depots liiert.
Obwohl die Bonner das angeblich pfiffigere Konzept vorlegten, bekam vor knapp
einem Jahr die Hochtief-Truppe den Zuschlag. Die überwiegend deutsche Bewerbergruppe, argumentiert Burkhard Kieker,
Sprecher der Airport-Projekt-Planungsgesellschaft PPS, „hatte zunächst einen
höheren Preis geboten und gilt dank ihrer
Mutter RWE als besonders finanzstark“.
Die Brandenburger Richter ließen sich
davon nicht beeindrucken. In ihrem Urteil
stellen die Juristen den Airport-Planern
mitsamt der Muttergesellschaft BBF (Berlin-Brandenburg Flughafenholding GmbH)
ein verheerendes Zeugnis aus. Manager
Airport-Aufseher Fugmann-Heesing, Diepgen
Verheerendes Zeugnis ausgestellt
Schein“, die Essener könnten deshalb bevorzugt worden sein, müsse vermieden
werden, monierten die Richter.
Auch Märtins Firma WIB erwähnen die
Richter in ihrer Urteilsbegründung, allerdings nur kurz. Gegen den Ingenieur läuft
ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsverdachts. Der bestreitet alle Vorwürfe.
Die Strafverfolger vermuten, dass Märtins Firma eine Art Scharnier zwischen
dem öffentlichen Airport-Auftraggeber und
den privaten Interessenten um Hochtief
gebildet hat. Dabei waren Kontakte zwischen den staatlichen Flughafenplanern
und den Bietern nach den Ausschreibungsbedingungen streng verboten.
Anfang Juli durchsuchten Staatsanwälte
unter anderem das Büro von WIB-Geschäftsführer Märtin sowie die HochtiefZentrale in Essen. Vor zwei Wochen filzten
die Ermittler erstmals auch Büros in der
FAG-Zentrale.
Jetzt rückten die Fahnder erneut in
Frankfurt ein. 20 Beamte mit neun Durchsuchungsbeschlüssen in der Tasche sichte-
Modell des künftigen Berlin-Airports: Dreiste Kungelei um lukratives Großprojekt
und Aufsichtsräte der BBF und PPS, darunter hohe Politiker wie Berlins Regierender
Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU),
waren für Organisation und Kontrolle des
Privatisierungsverfahrens zuständig.
Doch die waren offenbar überfordert.
Die Richter rügen unter anderem, dass die
Berliner Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) sowie zwei Vertreter
der Bundesregierung im Aufsichtsrat der
Flughafenfirmen als auch in Kontrollgremien von Mitgliedsunternehmen des Hochtief-Konsortiums saßen. Allein der „böse
d e r
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ten Ende vergangener Woche zentnerweise Akten und nahmen vier Kartons Material mit. Durchsucht wurden zwei Büros
und sieben Privathäuser – darunter die
Diensträume und das Haus von Flughafenchef Wilhelm Bender.
Sollte sich herausstellen, dass über die
WIB tatsächlich sensible Informationen in
die falschen Kanäle geflossen sind, wird es
nicht nur eng für Märtin. Auch FAG-Chef
Bender oder Hochtief-Chef Hans-Peter
Keitel könnten in Bedrängnis geraten.
Branchenkenner erwarten, dass spätestens
67
T. PFLAUM / VISUM
B. BOSTELMANN / ARGUM
Hochtief-Chef Keitel
Großflughafen Schönefeld (Computer-Simulation): Steilvorlage für Wahlen in Berlin und Brandenburg
dann das teure Verfahren neu aufgerollt
werden muss, mit verheerenden Folgen.
Scheidet das Hochtief-Konsortium als Anbieter aus, muss der Staat neue Bieter finden, um nicht erpressbar zu werden.
Doch das kostet Zeit. Und die haben die
Flughafenmanager nicht mehr. Im Oktober läuft ein Teil der BBF-Kredite aus. Ist
bis dahin kein Käufer in Sicht, müssen der
Bund, Berlin und Brandenburg neues Geld
nachschießen – eine Steilvorlage für die
Opposition vor den Landtagswahlen in
Berlin und Brandenburg im Herbst.
Vergangene Woche versuchten Politiker
und Flughafenplaner in Berlin, den Richterspruch herunterzuspielen. „Wir prüfen,
ob wir die Unterlagen für die Planfeststellung selbst einreichen“, erklärt PPS-Sprecher Kieker. Regierungschef Diepgen
möchte trotz des Ermittlungsverfahrens gegen Märtins WIB schon bald neue Verhandlungen mit beiden Bietern aufnehmen.
Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten.
Schon jetzt sickern immer neue Details
über anrüchige Praktiken bei dem Verfahren durch, die PPS-Chef Götz Herberg
schon bald zu einem Ausschluss der WIB,
der FAG oder von Hochtief zwingen könnten. In Berlin wurde darüber vergangene
Woche schon heftig diskutiert.
Wohl nie zuvor gab es im Kampf um ein
lukratives Großprojekt eine derart dreiste
Kungelei wie im Fall der Berliner Flughafenprivatisierung. Bereits vor Monaten
deckte die „Berliner Zeitung“ erstmals
Querverbindungen zwischen der WIB, dem
Flughafen Frankfurt und Hochtief auf.
Märtin ist mit der Berliner Airport-Tochter PPS schon seit Jahren gut im Geschäft.
Im Sommer 1997 bekam er unter anderem
den attraktiven Auftrag für den Entwurf
68
des Grob-Layouts und der Verkehrsanbindung für den neuen Flughafen.
Trotzdem bemühte sich Märtin schon
wenig später bei Hochtief um den Zuschlag
für einen Auftrag am Düsseldorfer Flughafen. Dabei waren den PPS-Beratern
Kontakte zu einem der Bieter untersagt.
Im Oktober 1998, kurz nachdem die Vorentscheidung zugunsten des Hochtief-Konsortiums gefallen war, erhielt Märtins WIB
zudem von der Hochtief-Schwester RWE
Aqua einen attraktiven Beraterauftrag. Seit
Mai dieses Jahres dürfen Märtins Leute für
Hochtief auch noch ihr Flughafenkonzept
an das Modell der PPS-Planer anpassen,
das sie selbst miterstellten.
Wie eng die Bande zwischen Märtin und
Mitgliedern des Hochtief-Konsortiums
sind, zeigt auch ein anderes Beispiel. Um
sich zusätzliches Know-how zu sichern,
fragte der WIB-Chef 1996 und 1997 bei der
FAG an, ob die Frankfurter ihm Spezialisten aus ihrem Haus vermitteln könnten.
Die hessischen Manager, die zu diesem
Zeitpunkt schon Interesse am Berliner
Großflughafen bekundeten, zeigten sich
großzügig. Mindestens vier Mitarbeiter
durften „im Nebenerwerb“ und „in ihrer
Freizeit“ (Flughafensprecher Klaus Busch)
bei Märtins WIB aushelfen. Für ihren Sondereinsatz, der bis in die heiße Phase des
Wettbewerbs andauerte, sollte die Task
Force angemessen belohnt werden. So sind
zwei der WIB-Leiharbeiter bereits für attraktive Geschäftsführer-Posten beim Berliner Flughafen benannt. Das geht aus
einem von allen vier FAG-Vorständen
unterzeichneten internen Schreiben vom
9. Juli dieses Jahres hervor.
Die Frankfurter Manager fertigten für
die Auserwählten sogar eigens tabellarid e r
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FAG-Chef Bender
sche Lebensläufe an. Aus ihnen ging klar
hervor, sagen die FAG-Manager, dass die
Topleute nach wie vor auf der Gehaltsliste
in Frankfurt standen.
Laut PPS-Chef Herberg kam bei ihm jedoch eine andere Version an. Aus der habe
er schließen müssen, bei den Experten
handle es sich um WIB-Beschäftigte. Als
der Planungschef bei Märtin nachfragte,
habe der gesagt, es seien „seine eigenen
Leute“, versichert Herberg. WIB-Mitarbeiter Stephan Paß erklärt dagegen, „die
PPS wurde von uns über den Einsatz von
Mitarbeitern der FAG informiert“.
Märtin selbst wehrt sich vehement gegen
den Verdacht, über die Frankfurter U-Boote könnten wertvolle Informationen an das
Hochtief-Konsortium geflossen sein. Mitglieder der Arbeitsgruppe, die beide Angebote auswertete, erinnern sich jedoch,
dass bei einer ganztägigen Sitzung über
das IVG-Konzept im Juli vergangenen Jahres ein WIB-Mann teilnahm.
Arbeitnehmervertreter der FAG möchten nun endlich Licht in das Korruptionsdickicht bringen. Auf einer außerordentlichen Aufsichtsratssitzung am kommenden
Donnerstag wollen die Kontrolleure
klären, wer den Leiharbeitern die Erlaubnis für ihren Zweitjob erteilte.
Sollte Frankfurts Flughafenchef Bender,
ein Sozialdemokrat, von dem ungewöhnlichen Personaltransfer gewusst oder ihn gar
gebilligt haben, könnten die Tage des
Topmanagers gezählt sein. Dann hätte Hessens Ministerpräsident Roland Koch
(CDU), im Nebenberuf Aufsichtsratschef
der FAG, endlich die Chance, Bender loszuwerden und einen Mann seiner Wahl an
die Spitze des Flughafens zu setzen.
Dinah Deckstein, Dietmar Pieper
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
B. BOSTELMANN / ARGUM
Trends
Beeser
Condor-Flugzeug
NECKERMANN
Neue DiscountTochter
D
er zweitgrößte deutsche Touristikveranstalter Neckermann, der zusammen mit der Lufthansa-Tochter
Condor neuerdings unter C&N-Touristik
DEUTSCHE BÖRSE
STEUERN
Harter Sparkurs
Mehr Geld für Eichel
erner Seifert, der Vorstandschef
der Deutschen Börse, hat einen
harten Sparkurs durchgesetzt. So müssen die Vorstände nach ihrem Umzug in
die neue Frankfurter Zentrale auf
eigene Büros verzichten. Stattdessen
werden die Börsenchefs, auch „um
innerbetriebliche Kommunikation zu
fördern“, gemeinsam mit ihren Mitarbeitern Großraumbüros beziehen. „Das
hat im Vorstand für erhebliche Spannungen gesorgt“, berichten Vertraute
Seiferts. Doch auch die Mitarbeiter
müssen sparen. So will der ehemalige
McKinsey-Partner die Dienst-Handys
aller Angestellten, die nicht zur unmittelbaren Führungsebene gehören, abschaffen. Die entsprechenden Personallisten geht Seifert persönlich durch.
Eingezogen werden auch die so genannten Palm-3-Terminplaner – die Taschencomputer haben einen Wert von je
600 Mark. Die Belegschaft zeigt wenig
Verständnis: Immerhin erwirtschaftet
die Deutsche Börse eine Umsatzrendite
von knapp 35 Prozent.
B
undesfinanzminister Hans Eichel darf sich über unerwartete Einnahmen freuen.
Erstmals seit Jahren ist das Steueraufkommen in Deutschland wieder kräftig angestiegen – und zwar noch weitaus stärker, als es die meisten Experten prophezeit
haben. In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen legten die Steuereinnahmen in
den ersten sechs Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum um rund zehn Prozent
zu. Noch zögern Eichels Beamte aber, diesen Trend aufs ganze Jahr hochzurechnen –
denn im Juli vermeldeten viele Finanzämter schon wieder ein deutlich geringeres
Einnahmewachstum. Das Plus im ersten Halbjahr verdankt Eichel vor allem dem
steilen Anstieg bei der Einkommensteuer: Einzelne Finanzämter meldeten hier
Mehreinnahmen von 50, teils
sogar 70 Prozent. Dies liegt
daran, dass viele Schlupflöcher
gestopft wurden; für Reiche
und Selbständige wurde es so
schwieriger, mit Abschreibungsmodellen ihre Steuern
zu mindern. Dagegen stieg das
Aufkommen aus der Lohnsteuer in vielen Ländern nur um
etwa acht bis neun Prozent,
die Körperschaftsteuer, die
von Unternehmen entrichtet
wird, sogar nur um drei bis
Eichel
vier Prozent.
REUTERS
W
firmiert, läutet eine neue Runde im Preiskampf der deutschen Urlaubsriesen ein.
Am Donnerstag nächster Woche wollen
die C & N-Manager erstmals einen Billigkatalog vorstellen, in dem sie die Preise ihrer Hauptwettbewerber TUI und
LTU um bis zu 20 Prozent unterbieten
wollen. Als wichtigstes Schlachtfeld hat
Neckermann die Dominikanische Republik ausgemacht, wo dann zwei Wochen
Urlaub inklusive Flug und Hotel schon
für weniger als 850 Mark zu haben sind.
Ähnlich günstige Angebote hatte der
Münchner Preisbrecher FTI erst kürzlich
in einem Sonderprospekt angeboten.
Auch die Billigtöchter von TUI („1,2 fly“)
und LTU („smile & fly“) offerieren
in ihren Winterprogrammen besonders
günstige Urlaubstrips. Weil die C & NManager, anders als die großen Konkurrenten, noch immer keinen gesonderten Billigableger gegründet haben und
ihrer Stamm-Marke Neckermann nicht
schaden wollen, sollen die neuen Discount-Angebote bei der weniger bekannten Tochter Air Marin erscheinen.
Der Mittelmeer-Spezialist fuhr in den
vergangenen Jahren nur Verluste ein,
weil er nach Aussagen von NeckermannChef Wolfgang Beeser zu viel Personal
an Bord hatte.
d e r
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71
Trends
AT O M W I R T S C H A F T
T- A K T I E
Unmoralisches Angebot
Deal mit
Risiken
V
ie Übernahme der britischen Mobilfunkgesellschaft One2One für knapp 20
Milliarden Mark durch die Deutsche Telekom birgt in den Augen vieler Analysten zwar Chancen, aber auch erhebliche Risiken. Die könnten das Unternehmen teuer zu stehen kommen. Sommer
„Der Kauf ist ein Schritt in die
Zukunft, doch die Telekom hat sich da- lekom europaweit nur 12 Millionen Momit nicht nur 2,7 Millionen Kunden ein- bilfunk-Kunden, der deutsche Hauptgekauft“, sagt Michael Schatzschneider konkurrent Mannesmann dagegen 15
von der BHF-Bank, „sondern auch Ver- Millionen. Für den Kauf spricht jedoch,
luste im zweistelligen Millionenbereich dass Telekom-Chef Ron Sommer damit
– und das für mindestens drei Jahre.“ den Sprung ins internationale Geschäft
Hinzu komme, dass One2One praktisch geschafft habe, betont Experte Schatzkein Eigenkapital habe, die Telekom in- schneider, „zumal der britische Markt
vestiere deshalb fast den gesamten derzeit etwa um 70 Prozent im Jahr
Kaufpreis in den Namen und die Zu- wächst“. Die amerikanische Investkunft der Marke. Obendrein müsse das mentbank Goldman Sachs stufte unUnternehmen „in die Expansion von mittelbar vor Bekanntgabe des Deals
One2One investieren“, so Thierry die Aktie der Telekom zum Market
Magnan von SG Securities, schließlich Outperformer hoch. Die Börsianer
stehe die übernommene Firma selbst im jedoch reagierten zurückhaltend: Die
britischen Markt nur an vierter Stelle. T-Aktie fiel am Freitag gegen den Trend
Auch nach der Übernahme hat die Te- um 0,4 Prozent zurück.
Ryan: Das Web ist für mich nicht in er-
WERBUNG
„Wir organisieren
den Traffic“
Brendan Ryan, 56, Chef der Werbeagentur Foote, Cone & Belding Worldwide, über Werbung im Internet
A. KULL / VISION PHOTOS
SPIEGEL: Wie wichtig ist das
Internet für die Zukunft der
Werbung?
Ryan: Ich glaube, die Auswirkungen werden enorm sein –
nicht nur für die Werbung.
Wir bekommen übers Netz
endlich komplexe Informationen über die Konsumenten. Dadurch können wir
viel besser verstehen, wer
Ryan
der Kunde ist. In Zukunft
können Sie mit objektiven Daten sagen,
auf welchem Weg eine Zielgruppe am
effizientesten zu erreichen ist.
SPIEGEL: Was unterscheidet Werbung im
Internet von TV- und Printkampagnen?
72
ARGUM
D
or einer heiklen Entscheidung stehen die deutschen Stromkonzerne.
Bereits im Herbst will der französische
Strommonopolist Electricité de France
(EdF) einen neuen Atomreaktor bestellen. Etwa sechs bis zehn Milliarden
Mark soll der vom französischen Reaktorbauer Framatome gemeinsam mit
Siemens entwickelte EPR-Meiler kosten. Die deutschen Energieunternehmen könnten sich, so die EdF-Offerte,
mit 30 bis 40 Prozent an der Investition
in die Zukunft des Atomstroms beteiligen. Damit stecken die Konzernchefs in
der Zwickmühle. Im politischen Kampf
haben sie immer wieder die Notwendigkeit der Reaktorfortentwicklung betont.
Doch in Frankreich arbeiten wie in
Deutschland schon jetzt zu viele Kraftwerke. Die meisten deutschen Energieproduzenten vertrauen zudem nicht auf
die Siemens-Zusicherung, der neue
Atomgigant werde die Kilowattstunde
Strom deutlich billiger als das moderns-
ster Linie ein Werbeinstrument. Nehmen Sie unseren Kunden Amazon. Wir
wollen Ihnen nichts verkaufen, sondern
Sie nur dazu bringen, die AmazonHomepage zu besuchen. Dort liegt es
dann an Ihnen, ob Sie Bücher kaufen.
Das heißt, wir organisieren den Traffic,
den Verkehr in den virtuellen Shop.
SPIEGEL: Macht es Sinn, auch
für normale Produkte wie
Bier oder Waschpulver im
Internet zu werben?
Ryan: Ich kenne kein sinnvolles Beispiel. Einer meiner
Kunden wollte eine eigene
Website für ein Fertiggericht.
Ich habe ihn gefragt: Wer hat
die Zeit, eine solche Seite zu
besuchen, und was sollen wir
den Kunden dort erzählen?
Es gibt Websites für Produkte, da kann man sich nur wundern. Das
kommt daher, dass Sie wie ein Dinosaurier wirken, wenn Sie auf eine CocktailParty gehen und keine eigene Website
vorweisen können.
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Leichtwasser-Reaktor (Computer-Simulation)
te Gas- und Dampfkraftwerk produzieren. Nehmen die deutschen Stromherren das französische Angebot an, setzen
sie sich dem Vorwurf aus, das Geld ihrer Aktionäre in unrentablen Prestigeprojekten zu verpulvern. Lehnen sie ab,
verärgern sie Siemens und Framatome,
belegen aber zugleich, dass sie selber
dem Atomstrom keine Zukunft geben.
Das würde ihre Position bei den im
Herbst wieder beginnenden Ausstiegsgesprächen verschlechtern. Die Hoffnung, die Bundesregierung werde ihnen
aus der Klemme helfen, hat Wirtschaftsminister Müller zerschlagen. Schadenfroh ermunterte der Minister die Atombosse zum Nukleareinstieg im Nachbarland. Der ehemalige Veba-Manager, der
genau weiß, wie schlecht die Branche
von der Rentabilität der Rieseninvestition denkt: „Ich verspreche Ihnen ausdrücklich, die Bundesregierung wird Ihnen keinen Stein in den Weg legen.“
Geld
VERSICHERUNGSAKTIEN
Potenzial nach oben
V
hält den Einstieg in Versicherungsaktien noch „für verfrüht“,
traut ihnen aber langfristig Potenzial zu. Denn ähnlich wie die
Banken könnten auch die Versicherungen von den ab 2001 geplanten deutlich niedrigeren Körperschaftsteuern profitieren.
Favorit vieler Analysten ist zur Zeit die Münchener Rück. Der
größte Rückversicherer der Welt soll demnächst in den Aktienindex Euro Stoxx-50 aufgenommen werden. Viele Fondsmanager, die den Index der 50 teuersten Firmen in Europa
nachbilden, müssen die Papiere dann kaufen.
erglichen mit anderen Branchen haben sich die Aktien
von Versicherungen seit Jahresbeginn in ganz Europa besonders schlecht entwickelt. In Deutschland gingen die Kurse
bis zu 30 Prozent zurück. Schlechte Karten haben die Versicherer vor allem wegen der steigenden
Zinsen. Durch sie sind die Kurse der fest Aktien großer Versicherungsunternehmen 1. Januar 1999 = 100
verzinslichen Wertpapiere, die einen
Allianz
Axa Colonia
Ergo
Münchener
Großteil der Kapitalanlagen von Versicherern ausmachen, deutlich gesunken. 110
110
110
110
Rück
Doch spekulativ eingestellte Anleger wie
der New Yorker Fondsmanager Heiko 100
100
100
100
Thieme preisen den größten deutschen
Versicherer Allianz bereits wieder zum
90
90
90
90
Kauf an. Denn die ebenfalls gefürchtete,
von der Bundesregierung angekündigte
80
80
80
80
Besteuerung von Kapitalerträgen aus Lebensversicherungen sei bereits in den Kur1999
1999
1999
1999 Quelle: Datastream
sen verarbeitet. Brian Shea, VersicheJ F M A M J J A
J F M A M J J A
J F M A M J J A
J F M A M J J A
rungsexperte bei Salomon Smith Barney,
leger spiegelt sich im V-Dax
wider, der seit fünf Wochen
dramatisch ansteigt. Er wird
von der Deutschen Börse alle
zehn Sekunden auf der Basis
verschiedener Optionen auf
den Dax und mittels einer
ie Angst vor steigenden
komplizierten mathematiZinsen und einer deutlischen Formel berechnet. Der
chen Korrektur an den FiV-Dax ist ein Maßstab für
nanzmärkten im Herbst bedie Volatilität, also für die
lastet den deutschen AktienSchwankungsbreite, die Anleindex. Die Nervosität der Anger für den Dax in den
folgenden 45 Tagen er30 %
warten. Wer die zu er28 %
28,99% wartenden Ausschläge
genau berechnen will,
26 %
muss den Dax-Wert mit
dem V-Dax-Wert und
24 %
dem Faktor 0,0035 mulV-Dax
tiplizieren. Bei einem
22 %
Dax von 5010 und ei20 %
nem V-Dax von 29 Prozent am FreitagnachJuli
August
18 %
mittag rechnen die
Marktteilnehmer also
damit, dass der Dax in
5600
den kommenden 45 Ta5500
gen um bis zu 509
5400
Punkte ausschlägt und
Dax
somit zwischen 4501
5300
und 5519 Punkten
5200
schwankt. Auf dem
Höhepunkt des Crashs
5100
vom vergangenen Jahr
Quelle: Datastream
5010
5000
hatte der V-Dax sein
Allzeithoch von über
4900
Juli
August
52 Prozent erreicht.
AKTIENMARKT
NEUER MARKT
Index
der Nervosität
Schwergewichte mit
Kursphantasie
D
d e r
s p i e g e l
R
osige Zeiten prophezeien Aktienexperten den fünf
nach ihrem Börsenwert wertvollsten Unternehmen des
Neuen Marktes. Die vom Finanzdienst Bloomberg veröffentlichten Analysten-Einschätzungen zeigen ein klares
Bild: Bei jedem Titel überwiegen die Kaufempfehlungen
(siehe Grafik). Das Medienunternehmen EM-TV steht
nach dem Kurseinbruch der vergangenen Wochen von über
20 Prozent ganz oben auf der Hitliste. „Die Firma könnte
eine deutsche Walt Disney werden“, glaubt Jan Herbst
von Sal. Oppenheim. Auch den Discount Broker Consors
halten die Analysten nach dem Kursrückgang für ein
Schnäppchen. „Die Aktie ist ungerechtfertigt heruntergezogen worden“, sagt Britta Graf von der Banque Nationale de Paris, „weil Händler die Rückschläge amerikanischer Online-Broker eins zu eins übertragen haben.“ Die
Analystin rechnet damit, dass Consors am 16. August
„ganz hervorragende Zahlen präsentieren wird“. Bei der
Telefonfirma Mobilcom überzeugen Franz Rudolf von der
HypoVereinsbank vor allem „die Stärke im Vertrieb, das
innovative Marketing sowie das Engagement im Internet“.
Auch dem Software-Unternehmen LHS sowie dem Elektronik-Dienstleister Medion trauen die Analysten große
Wachstumsraten zu.
LHS-Group
Mobilcom
Analystenurteile
zu Aktien am
Neuen Markt
EM-TV
Consors
Medion
3 2 / 1 9 9 9
Quelle: Bloomberg
kaufen
halten
verkaufen
73
Wirtschaft
W E LT F I N A N Z E N
„Greenspan, hilf!“
US-Notenbankchef Alan Greenspan ist der Superstar der Finanzszene. Er steuert die Weltmärkte
mit einer Nuschelprosa, die vieles im Unklaren lässt – und von den Experten dennoch präzise verstanden wird. Neuerdings droht er wieder mit Zinserhöhungen: Die Börsen zittern schon.
E
beitstag für den US-Notenbankchef Alan
Greenspan, 73, immer dann, wenn er sich
mit seinen Gouverneuren mal wieder über
die Höhe der Zinsen unterhalten muss.
Draußen im Land verfolgen Trader, Broker
und Spekulanten am TV-Schirm den Auftritt
und versuchen, ihre Schlüsse zu ziehen.
Durchzogen Sorgenfalten das Gesicht
des großen Vorsitzenden, oder war da
s ist kurz vor neun im Stadtzentrum
von Washington, die TV-Leute warten gebannt hinter ihren Kameras.
Gleich wird hier ein hagerer Herr mit ergrautem Haar erscheinen, der aussieht wie
Woody Allen nach einem Friseurtermin.
Der Senior wird mit flinkem Eulenblick
durch seine Brillengläser hindurch die
Straße entlangpeilen, die hier C Street
heißt, ein Blick nach rechts, ein Blick nach
links. Dann wird er mit knöchrigen Händen
seine Aktentasche noch ein bisschen fester
packen. Er wird sich vom Bürgersteig abstoßen, federnd über den Asphalt laufen
und Sekunden später hinter der Tür der
Zentralbank verschwinden.
Mit dem stummen Trab vor den Kameras
der Nachrichtensender beginnt der Ar-
6600
6. 12. 96
Nach wiederholten Rekordständen des
Dow warnt
6400
Greenspan vor
irrationalem
Überschwang an
der Wall Street
Tagesminus
0,9 %
2.
6. Dezember
6200
Die Macht der Worte
Einfluss von Notenbankchef Alan Greenspan auf den Dow Jones
4750
18. 7. 95
Greenspan deutet an,
dass es keine weiteren
Zinssenkungen gibt
4700
Tagesminus
4650
1,05%
17. Juli
4600
21.
1996
3834
74
AP
Broker an der New Yorker Börse
1995
nicht
doch ein
verschmitztes Lächeln? Und war sein
Schritt schleppend oder eher
schwungvoll? Quollen Papiere aus
seiner schwarzen Ledermappe oder war
sie eher dünn? Kurzum: Wird er die Börse
nach oben treiben oder in den Abgrund
stoßen?
Achtmal im Jahr wiederholt sich dieses
Ritual, treffen sich zwölf führende Herren
der Zentralbank zu ihrer wichtigsten Sitzung. Dann beraten sie über die Höhe der
amerikanischen Leitzinsen, und das ist wie
wenn die Offiziere des größten Supertankers der Welt mit ihrem Kapitän über Kurs
und Geschwindigkeit für die nächsten
Wochen debattieren.
Höhere Zinsen verteuern das Geld, und
das bedeutet weniger Treibstoff für die
Wirtschaft: weniger Mittel für Konsum und
Investitionen, aber dafür keine Inflationsd e r
s p i e g e l
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gefahr.
Gleich bleibende Zinsen, das heißt:
weiter wie bisher. Niedrigere Zinsen dagegen bedeuten:
Volldampf voraus.
Am Dienstag in zwei Wochen ist es wieder so weit. Selten fieberten Manager, Spekulanten und Kleinanleger einer Sitzung
des mächtigsten Finanzgremiums der Welt
so entgegen wie diesmal. Die Börsenkurse zucken seit Wochen schon, allerorten
herrscht Unsicherheit.
„Die Leute sehnen sich nach Orientierung“, sagt Andy Brooks, Aktienhändler
bei der Fondsgesellschaft T. Rowe Price in
Baltimore. Und ein Kleinanleger, der in
den vergangenen Wochen um ein paar
zehntausend Mark ärmer wurde, schrieb
verzweifelt auf einem Online-MessageBoard: „Greenspan, hilf!“
Doch ob das Orakel in Washington beruhigend auf die Zitterbörse wirken wird, ist
fraglich. Plötzlich zeigen sich bedrohliche
Signale, deuten ökonomische Kennzahlen
auf Inflation hin, in Amerika vergangene
Woche gleich zweimal: Erst stieg die Produktivität langsamer als erwartet, dann
zogen auch noch die Beschäftigungszahlen
an, was eine Verknappung der Arbeits-
11 400
börsen immer schneller sackten
bis hin zum Crash im Oktober.
Wie damals sinkt der Wert
1,6
%
des amerikanischen Dollar ge8200
genüber dem japanischen Yen
11 000
10714 und den europäischen Währungen neuerdings rapide, die AkQuelle: Datastream
tienkurse sind gefolgt. Der
Tages8000
26. Juli 30.
deutsche Dax entfernt sich imminus
10 600
mer mehr von seinem Höchst1,0 %
1999
stand im Juli vergangenen Jahres. Einst heiß begehrte Inter6.
10.Oktober
netfirmen verloren nicht selten
7800
über die Hälfte ihres Börsenwertes: Amazon.com minus 55
Prozent, America Online minus
50 Prozent. Paradoxerweise bedroht auch der zaghafte Aufschwung
in Asien und Europa das Finanzgefüge. In
den vergangenen drei Jahren hatten die
1998
kraft
Amerikaner nicht unwesentlich von Kriund
damit sen in anderen Ecken der Welt profitiert.
drohende Lohnstei- Das Asiendesaster bescherte ihnen billige
gerungen signalisiert.
Importe, günstige Rohstoffe und jede Men8600
Sah es noch vor wenigen ge Anlagekapital.
TagesWochen nach einem granNun steigen die Rohstoffpreise wieder,
plus
8400
diosen Finanzsommer aus, ist Ausländer und Amerikaner legen mehr
4,1%
die Siegesstimmung an der Geld in anderen Weltteilen an, weil sie sich
1997
8200
Wall Street, in Frankfurt oder dort höhere Renditen versprechen.
London fürs erste verfloUm den Dollar zu stabilisieren, Kapi15. 10. 98
gen. Schon ziehen Analysten tal anzulocken und drohender Inflation
Greenspan kündigt 8000
Parallelen zum Sommer 1987, entgegenzuwirken, bleibt Greenspan kaum
weitere Zinssenkungen
12.Oktober
16.
der US-Notenbank an 7800
als die Aktien an den Welt- eine andere Wahl, als die Zinsen anzuheben. Mit fein gedrechselten
Sätzen bereitet der Zentralbankchef seit einigen Wochen die Märkte darauf vor.
„Greenspeak“ nennen sie
an der Wall Street die ungewöhnliche Sprechweise des
Bankiers.
Es ist eine verschnörkelte
Nuschelprosa, voller Nebensätze, Relativierungen,
Leerphrasen, getragen von
der Sorge, mit direkteren
Worten unnötiges Unheil in
den Börsensälen anzurichten. Denn Mr. Dollar will
die Märkte nicht schubsen,
sondern sanft geleiten. Am
Grad seiner sprachlichen
Unschärfe können geübte
Wall-Street-Analysten ziemlich präzise erkennen, was
Greenspan wirklich meint
und welche Reaktionen er
von den Märkten erwartet.
„Debatten über unseren
Geldwert“, lautet ein typischer Satz in einer Rede, die
zum Absacken der Kurse
führte, „spiegeln Erwägungen über die Art und Weise
wider, wie wir uns entschieden haben zu regieren, und
vielleicht noch fundamentaler, Diskussionen über
die Grundwerte, die unsere
Redner Greenspan: „Seit ich Zentralbanker bin, habe ich gelernt, bedeutungsvoll zu murmeln“
Tagesminus
29. 7. 99
Greenspan äußert,
dass die Kurse
nicht ewig steigen
können
AP
8. 10. 97
Greenspan warnt vor
aufgeblähten Kursen
d e r
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3 2 / 1 9 9 9
75
Wirtschaft
DPA
Gesellschaft bestimmen sollen.“ Kenner der schlimmsten Finanzkrise der Nach- schen Preissteigerungen geplagt sein: Vollhorchten auf: Hier ging es um Kritik an kriegszeit, als nirgendwo auch nur die beschäftigung, Börsenrekorde, Konsumum sich greifender Gier und Übermaß.
kleinste Hoffnung auf Erholung keimte, rausch und strammes Wachstum, so eine
„Seit ich Zentralbanker bin, habe ich senkte Greenspan überraschend die Zin- Mischung kann es laut Lehrbuch ohne Ingelernt, bedeutungsvoll zu murmeln“, sag- sen. Diese Order und die zwei weiteren im flation eigentlich nicht geben. Dennoch ließ
te Greenspan einmal. Doch wie sehr der Oktober wirkten, als habe jemand mit ei- Greenspan die Wirtschaft laufen, hielt die
Bankier auch murmeln mag, seine Reden ner gigantischen Kanüle Traubenzucker in Zinsen flach, so lange es irgend ging.
Greenspan ist ein hölzerner Zahlenbewegen die Märkte, vernichten Milliar- den Kreislauf der Weltwirtschaft injiziert.
denwerte oder schaffen Aktiengewinne –
„Danke, danke Alan Greenspan“, lobte freak, er verschlingt Statistiken, Indikatozumindest kurzfristig. Am langfristigen das US-Wochenblatt „U. S. News & World ren und Marktanalysen wie andere einen
Aufwärtstrend der Börse haben auch Report“ ehrfürchtig. Und das Wochenblatt Hemingway-Roman. Er wendet die Daten
seine Kurswarnungen bisher nichts ge- „Fortune“ schrieb: „In einer Welt des Auf- hin und her, nur um seine Entscheidungen
ändert.
ruhrs und der Unsicherheit ist es schön zu schließlich doch aus dem Bauch zu fällen.
Seine Lebensgewohnheiten sind den
Wenn der Chef spricht, herrscht ge- wissen, dass wenigstens einer das Steuer in
Amerikanern bestens bekannt, wie sonst
spannte Ruhe in den Tradingrooms der der Hand hält.“
Investmentbanken. In sorgfältiger VorSein kunstvoller Kurs, die Inflation zu die der Hollywood-Stars. Viele wissen:
arbeit haben die Profis Szenarios für mög- bändigen, ohne die Wirtschaft abzuwür- Allmorgendlich lässt sich der mächtigste
liche Äußerungen erarbeitet. Fallen Schlüs- gen, hat ihm sogar Lob von der europäi- Bankier der Welt anderthalb Stunden in
selworte, wie etwa abstrakte Erläute- schen Linken eingetragen, die ihn zeitwei- der Badewanne treiben, bis er die neuesten
rungen zur Geldentwertung, wird es lig als Vorbild für die allzu neoliberale Bun- Tabellen und Finanzstudien durchgesehen
hektisch.
desbank pries. Oskar Lafontaine fand die hat. Im Wasser noch kritzelt er an seinen
Reden herum und bearbeitet die
„Wenn die Knappheit des ArPost. In der Badewanne „ist mein
beitsmarktes nicht durch weiter
Intelligenzquotient um 20 Punksteigende Produktivitätszuwächte höher als am Schreibtisch“,
se ausgeglichen wird, entstehen
sagt er.
notwendigerweise inflationäre
„Er ist einer dieser Menschen,
Tendenzen“, sagte Greenspan
die genau wissen, wie viele
Ende Juli vor dem US-Senat, verFlachkopfbolzen in einem 1964er
steckt in einer zweistündigen
Chevrolet stecken“, beschreibt
Rede. Am nächsten Tag sackte
ihn ein Freund, „und was es für
der Dow Jones um bis zu 200
die amerikanische Wirtschaft bePunkte.
deuten würde, wenn man drei
Kein Spekulant der Welt traut
davon wegließe.“
sich, gegen „Greenspeak“ zu
Ein Mann des Volkes ist er
wetten. Als drehe er an einem
dennoch nicht, nur selten zieht
feinen Rädchen, steuerte der Noes ihn hinaus in die wirkliche
tenbanker in den vergangenen
Welt. Die Elendsviertel der ameJahren mit seinen Reden den
rikanischen Großstädte kennt er
Geldfluss an den Finanzmärkten.
fast nur vom Hörensagen, selten
Im Dezember 1996 warnte
besucht er Fabriken, Einkaufser – für seine Verhältnisse deutzentren oder Fast-Food-Restaulich – vor dem „irrationarants. Seine Gesprächspartner
len Überschwang“ an der Wall
sind die Ökonomen der ZentralStreet; sofort stürzte der Dow
bank und die Wirtschaftseliten
Jones zeitweilig um 166 Punkte
des Landes: Finanzminister, Maab. Knapp drei Monate später Präsident Clinton, Greenspan: Immer ein bisschen abwesend
nager, Investmentbanker.
kündigte er eine mögliche
Auf Empfängen gibt er sich als Antistar,
Zinserhöhung an – die Kurse sackten sechs Politik des Amerikaners „weitsichtig“, im
Wochen lang nach unten. Im Herbst 1997 Gegensatz zum Wirken seiner deutschen schrullig, verloren, unansprechbar. Still
mahnte er, die Wirtschaft sei auf einem Kollegen, die aus übertriebener Inflations- trabt er seiner zweiten Frau Andrea
Kurs, der „nicht durchzuhalten“ sei: Die angst die Zinsen viel zu hoch hielten und Mitchell hinterher, einer NBC-Reporterin,
Börse brach ein.
deshalb für die hohe Arbeitslosigkeit mit- die er 1997 nach über drei Jahrzehnten
als Single heiratete. Sein bevorzugter AufGreenspan, der sich während des Stu- verantwortlich seien.
diums sein Geld als Saxofonspieler einer
Natürlich ist Greenspan kein Förderer enthaltsort sind die Saalecken, immer ein
Swingband verdient hatte und sich heute des europäischen Versorgungsstaats und bisschen abseits vom Trubel und immer
mit Tennis fit hält, bestimmt seit 1987 die schon gar kein Freund der Sozialdemo- ein bisschen abwesend. Als ein JournaGeschicke der amerikanischen Notenbank. kratie: „Ob es gut ist oder schlecht, ein list fragte, wie es ihm gehe, antwortete
Für Spekulanten, Banker und Kleinak- nachhaltiger kapitalistischer Prozess treibt Greenspan: „Das darf ich Ihnen nicht
tionäre ist er eine Art Übervater geworden, uns zu mehr Wohlstand.“ Es werde immer sagen.“
Wie lange er noch im Amt bleibt, ist under ihnen bei allzu viel Übermut gutmütig schwerer für einzelne Nationen, einen Fürauf die Finger klopft und sie in Finanzkri- sorgekapitalismus zu betreiben: „Stattdes- gewiss. Seine Amtszeit läuft im nächsten
sen vor dem Schlimmsten bewahrt. Das sen, so scheint es, öffnen sich Nationen zu- Jahr aus, ob Präsident Bill Clinton sie noch
amerikanische Magazin „Time“ erklärte nehmend dem vollen Wettbewerb, auch einmal verlängert, ist nicht gesichert.
Würde Greenspan vom Volk direkt geihn zusammen mit dem ehemaligen US- wenn dies rau ist, um auf den Weltmärkten
wählt, wäre ihm wohl eine Mehrheit siFinanzminister Robert Rubin und seinem bestehen zu können.“
heutigen Nachfolger Larry Summers zum
Richtig ist, dass er stets etwas mutiger cher: Der Chef einer Investmentbank sagt,
„Komitee zur Rettung der Welt“.
war als seine deutschen Kollegen. Nach was zumindest alle an der Wall Street denZum Superstar wurde er im vergange- traditioneller Lehre müsste die boomende ken: „Hoffentlich wird er nie pensioniert.“
nen Herbst. Am 29. September, mitten in amerikanische Wirtschaft längst von raMathias Müller von Blumencron
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Werbeseite
Werbeseite
MELDEPRESS
Steuerreformer Struck: „Nicht immer sagen – das geht nicht!“
STEUERN
„Schröders Minenhund“
Die Gewerkschaften sind entsetzt, die Wirtschaft ist begeistert.
Doch auch in der SPD wächst die Unterstützung
für die radikalen Steuerpläne von Fraktionschef Peter Struck.
78
AP
D
er CDU-Bundestagsabgeordnete
Gunnar Uldall galt selbst in der eigenen Partei lange als Störfall. Mit
seiner Idee einer radikalen Steuerreform,
die alle Ausnahmen beseitigt und die Steuersätze drastisch senkt, erntete der Finanzexperte viel Spott und Häme.
Vergangene Woche kam für Uldall ganz
überraschend die Stunde der Genugtuung.
Ausgerechnet SPD-Fraktionschef Peter
Struck griff die Idee auf. Strucks Traum:
„Ein ganz einfaches System mit höchstens
drei Steuersätzen: 15, 25 und 35 Prozent –
und dann Schluss!“
Die Genossen waren verschreckt, die
Opposition ziemlich baff, nur der Steuerrevoluzzer Uldall nahm’s gelassen. Denn
schon vor zwei Jahren hatte Struck ihm
anvertraut: „Wenn wir beide zusammen
eine Steuerreform machen müssten, dann
könnten wir uns ruck, zuck einigen.“
Struck erging es nun wie einst Uldall. Als
sei der Fraktionschef irgendein durchgeknallter Hinterbänkler, wurde er von den
eigenen Leuten abgemeiert. „Neoliberal“
und „absurd“ sei das Konzept, wetterte
Strucks Stellvertreter Joachim Poß. Die
Gewerkschaften waren wieder einmal entsetzt. Nur Wirtschaftsverbände und Ökonomen klatschten Beifall.
Doch es war kein Ausrutscher in der Hitze des Sommers, der Struck da widerfahren war. Der SPD-Fraktionschef steht zu
seiner Empfehlung. Und er möchte sie,
wenn auch erst nach der nächsten Wahl,
umsetzen: „Wir können doch nicht immer
genug. Finanzminister Hans Eichel, derzeit
im Urlaub auf Langeoog, vergatterte deshalb vergangene Woche telefonisch die
Koalitionsspitzen und die rot-grünen
Steuerexperten zum Stillhalten. Zwar sympathisieren Eichels Ministeriale ebenfalls
mit einer radikalen Reform, doch eine verfrühte Diskussion, glauben sie, könnte alles
torpedieren. In seinem Rundruf mahnte
Eichel: Heizt die Debatte nicht weiter an!
Zu spät. Der Streit über Strucks Modell
hat sich längst zu einer Grundsatzdebatte
über den künftigen Kurs der Koalition ausgeweitet. Auch der Verursacher des Disputs sieht nicht ein, warum er nun schweigen sollte – sehr zum Ärger des Finanzministers. Im Fraktionsvorstand raunzte
Struck seinen Stellvertreter Poß an: „Ich
muss euch nicht fragen, wenn ich mich zu
irgendeinem Thema äußere.“
Und so scharen sich, nach anfänglichem
Zögern, immer mehr Unterstützer hinter
Struck. Die SPD, fordert Bremens Bürgermeister Henning Scherf, dürfe vor dem
Thema „nicht weglaufen“. Er empfiehlt einen Schulterschluss mit der Union: „Ohne
die wird das ganz schwierig.“ Auch der
Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck zeigt
Sympathie: „Wir brauchen auf mittlere
Sicht ein einfacheres Steuersystem.“
Breite Zustimmung findet die Radikalreform insbesondere beim SPD-Nachwuchs. „Der Steuerdschungel
muss ein Ende haben“, findet der
Abgeordnete Christian Lange, 35,
der zu den reformfreudigen Jungen der SPD-Bundestagsfraktion
zählt. Und die Grünen-Vordenker
Oswald Metzger und Klaus Müller
bemängeln allenfalls, dass die Einsicht bei den Genossen doch sehr
spät erfolge. Müller: „Es wäre
schön gewesen, die SPD hätte
schon während der Koalitionsverhandlungen so gedacht.“
Bei vielen gestandenen Sozialdemokraten überwiegen aber die
alten Reflexe. Da gilt jeder Versuch, die Steuersätze für Besserverdiener kräftig zu senken, als
Verrat. Schließlich hatte Oskar Lafontaine,
als er mit Union und Liberalen über deren
Steuerkonzept stritt, den Spitzensatz von
53 Prozent lange für nicht verhandelbar
erklärt. Auch Struck wetterte damals gegen
die „Ungerechtigkeiten“ der Petersberger
Steuerreform. Das Ende der Steuerfreiheit
bei den Schichtzuschlägen – für ihn damals „absolut unakzeptabel“.
Heute hält es Struck, ebenso wie die
Mehrheit der Ökonomen, für eine Mär,
dass ein höherer Spitzensatz automatisch
ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit bringt.
Tatsächlich führt das geltende Recht mit
seinen Sonderregeln dazu, dass vor allem
Vielverdiener ihre Abgabenlast trickreich
minimieren können. Eine radikale Reform
könne deshalb wieder ein Stück Gerechtigkeit herstellen, glaubt Struck: „Besser
Italien-Urlauber Schröder: Richtige Richtung
die automatische Sperre hochziehen und
sagen: Das geht nicht!“
Der Pfeifenraucher erfreut sich dabei
der Unterstützung des Kanzlers. Zwar gab
es in den Tagen vor dem Coup keine direkte Abstimmung, doch schon vor Wochen hatte Gerhard Schröder in kleiner
Runde signalisiert, dass er ähnlich denke.
Der Vorstoß, befand denn auch Schröders
Staatsminister Hans Martin Bury, „geht in
die richtige Richtung“. Friedrich Merz, der
Finanzexperte der Unions-Bundestagsfraktion, spöttelt schon: „Der Struck mutiert zu Schröders Minenhund – so wie
einst Möllemann bei Genscher.“
Dennoch, so beharren Strucks Kritiker,
komme die Debatte zur Unzeit: Renten,
Sparpaket, Bündnis für Arbeit – all dies
strapaziere den Koalitionsfrieden schon
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Weniger Subventionen, Steuergeschenke
und Schlupflöcher...
Eine Auswahl wichtiger direkter Zuschüsse und steuerlicher
Erleichterungen, die der Staat heute gewährt:
Volumen in Milliarden Mark
Ehegattensplitting
Degressive Abschreibung
für Betriebe
Kilometerpauschale und
Arbeitnehmerpauschale
bei 500 Mark Begrenzung
Eigenheimzulagengesetz
Absatzzuschüsse für die
deutsche Steinkohle
Tarifbegrenzung gewerblicher
Einkünfte
Absetzbarkeit der Kirchensteuer
Sonderausgabenabzug für
eigengenutztes Wohneigentum
Steuerbefreiung der Zuschläge
für Nachtarbeit u.a.
Steuerbegünstigung für Strom
bei bestimmten Unternehmen
Sparerfreibetrag
Investitionszulage für
Ausrüstungen
Umsatzsteuerermäßigung für
kulturelle u.a. Leistungen
40,0
Zuweisungen an die neuen Länder für betriebliche Investitionen
Zinszuschüsse für Wohnraummodernisierung in
Ostdeutschland
Gemeinschaftsaufgabe
Agrarstruktur
Kinderkomponente im Rahmen
der Wohneigentumsförderung
Umsatzsteuerermäßigung für
Umsätze der Zahntechniker
Wohnungsbau-Prämiengesetz
Absetzbarkeit der Beiträge
an Parteien
Dieselverbilligung Landwirtschaft
Zuschüsse an landwirtschaftliche Unfallversicherung
Eigenkapitalhilfeprogramm zur
Gründung selbständiger
Existenzen
Zuschüsse an den Steinkohlenbergbau zum Ausgleich von
Kapazitätsanpassungen
12,6
8,5
9,2
7,5
4,9
4,7
4,6
3,6
3,5
3,3
3,0
1,6
1,4
1,3
1,2
1,0
1,0
1,0
0,8
0,5
0,4
0,4
2,5
... stattdessen niedrigere Steuern
SPITZENSTEUERSATZ
55,9 %
Steuertarife für Unverheiratete
geltendes Recht, einschließlich Solidaritätszuschlag
Reformvorschlag Struck, Uldall, FDP
50 %
38,7 %
40 %
EINGANGSSTEUERSATZ
25,2%
30 %
35 %
SPITZENSTEUERSATZ ab 60 000 Mark
25 %
20 %
bei 20 000 bis 60 000 Mark
15 % EINGANGSSTEUERSATZ
10 %
GRUNDFREIBETRAG 13 000
0%
0
20
40
60
Mark
80
100
120
Mark
Mark
zu versteuerndes Jahreseinkommen in tausend Mark
ein Höchstsatz von 35 Prozent, der auch
bezahlt wird, als ein theoretischer Satz von
53 Prozent, der nur auf dem Papier gilt.“
Der Kahlschlag würde zudem eine enorme Vereinfachung der Steuerregeln bringen. „Jeder könnte seine Steuererklärung auf einer Postkarte abgeben“, glaubt FDP-Finanzexperte
Hermann Otto Solms.
Dazu trägt auch der Stufentarif bei.
Selbst Eichels Ministeriale lobten jüngst in
einer Studie, dass sich das Modell „relativ
einfach darstellen“ lasse und „leicht verständlich“ sei. Die Bundesrepublik, die sich
als einzige große Industrienation an eine
komplizierte „linear-progressive“ Tarifkurve klammere, stelle „international eine
Ausnahme“ dar.
Trotzdem schrecken viele Politiker vor
der Stufenlösung zurück. Denn sie fürchten, dass es zu Sprüngen in der Steuerbelastung komme: Wer nur ein paar Mark
mehr verdiene, der müsse plötzlich 25 statt
15 Prozent zahlen. Die Kritiker verkennen
freilich, dass der höhere Satz nicht für das
gesamte Einkommen gilt – sondern nur für
jenen Teil, der die Grenze überschreitet.
Wer also etwa über ein zu versteuerndes
Jahreseinkommen von 30000 Mark verfügt, zahlt auf die ersten 13000 Mark,
das Existenzminimum, überhaupt
keine Steuern. Für die nächsten 7000
Mark zahlt er 15 Prozent, also 1050
Mark. Jene 10 000 Mark, die jenseits der
20 000-Mark-Grenze liegen, werden mit 25
Prozent belastet, also mit 2500 Mark.
Noch aber ist all dies graue Theorie. Um
die Debatte mit Zahlen zu unterfüttern,
will Struck seine Reform nun von den Experten des Finanzministeriums und der
Fraktion durchrechnen lassen.
Bislang gibt es allein Schätzungen der
Opposition. Demnach würde das Drei-Stufen-Modell ein Loch von über 100 Milliarden Mark in die Staatskasse reißen. Gleichzeitig ließen sich aber, wie Gunnar Uldall
errechnete, rund 60 Milliarden Mark durch
die „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“ einsammeln, wie das Streichen von
Ausnahmen im Finanzdeutsch heißt.
Welchen Proteststurm solch ein Kraftakt
entfachen würde, muss der Regierung spätestens nach ihren ersten zaghaften
Reformschritten klar sein. Schon ihr
Vorhaben, auf die Teilwertabschreibung zu verzichten oder Bewirtungsspesen nicht mehr anzuerkennen, provozierte Protest – mit der Folge, dass die Regierung prompt zurückschreckte.
Peter Struck ist dennoch zuversichtlich,
dass sein Versuchsballon nicht zerplatzen
wird: „Man kann den Ballon ja auch
wieder einholen“, sagt er, „und irgendwann wieder steigen lassen.“ Dem Kanzler, glaubt Bremens Regierungschef Scherf,
wird das gefallen: „Der lauert auf eine radikale Reform. Schröder will doch zeigen,
dass er zu großen Schritten fähig ist.“
Horand Knaup, Ulrich Schäfer
79
Wirtschaft
K R I M I N A L I TÄT
„Ganz heiße Kiste“
Das Bundeskriminalamt schlägt Alarm: Nach Erkenntnissen
der Ermittlungsbehörden unterwandert die
italienische Mafia systematisch das deutsche Baugewerbe.
S
als Angehörige der Mafia. In den Akten
der Italiener tauchen sie im Zusammenhang mit Waffenhandel, Rauschgiftschmuggel und Mord auf.
Mit Sorge beobachten die Landeskriminalämter, dass italienische Mafia-Clans
Deutschland zunehmend als Operationsgebiet nutzen. Immer häufiger stoßen deutsche Behörden neuerdings auf dubiose
Baufirmen, die ihre Leistungen zu Dumping-Preisen anbieten, aber weder Steuern noch Sozialabgaben bezahlen und
blitzschnell von der Bildfläche verschwinden, wenn sie ins Fadenkreuz polizeilicher
Ermittlungen geraten. Diese Erkenntnisse
haben das Bundeskriminalamt derart alarmiert, dass die Beamten inzwischen eine
eigene Projektgruppe mit dem Arbeitsnamen „Casa“ einsetzten. Ihr Auftrag: die
Mafia-Aktivitäten in der deutschen Bauwirtschaft aufzuklären.
„Es gibt kaum noch eine größere Baustelle, die sauber ist“, klagt Bernhard Nimscholz, Abteilungsleiter im Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen. Die Baubranche sei in Ballungszentren bereits von
einer kriminellen Subunternehmerszene durchsetzt. Das sei
eine „ganz heiße Kiste, weil wir
es hier mit Organisierter Kriminalität zu tun haben“. Das
„Netzwerk von inkriminierten
Subunternehmen“ ist laut BKA
besonders im „Holz- und Bautenschutzgewerbe, beim Einbau
genormter Baufertigteile, Oberbodenverlegung und Fugenarbeiten“ aktiv.
Nach den Erkenntnissen des
BKA verlagern die Italiener ihre
Aktivitäten nach Deutschland,
seit die italienische Polizei die
Bekämpfung der Organisierten
Hausdurchsuchung bei L.: Fuhrpark mit Ferrari
Kriminalität (OK) verstärkt hat.
Die Bau-Mafia bildete in der Bundesrepublik überall da Stützpunkte, wo sich in den
sechziger Jahren italienische Gastarbeiter
angesiedelt hatten. Von den etwa 600 000
Italienern in Deutschland leben zwei Drittel seit mehr als zehn Jahren hier. Fast
200 000 wohnen in Baden-Württemberg, in
Nordrhein-Westfalen 150 000.
Casa-Auswerter haben sieben Ermittlungsverfahren in Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen und Baden-Württemberg analysiert, in die MafioBei L. beschlagnahmtes Bargeld
si verwickelt sind.
70 000 Mark in irakischer Währung
KÖLNER EXPRESS
KÖLNER EXPRESS
ie nennen ihn den „Milliardär“. Der
47-jährige Carmine L., der aus der
’Ndrangheta-Hochburg im süditalienischen Kalabrien stammt, machte jahrelang diesem Namen alle Ehre: Er wohnte
in einer luxuriösen Villa in Pulheim bei
Köln, zu seinem Fuhrpark gehörten Traumautos von Ferrari und Mercedes.
Derzeit lebt der Mann bescheidener – er
sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Steuerhinterziehung und Abgabenverkürzung.
Die Ermittlungsgruppe der Kölner Kripo mit dem Decknamen „La Punta“ (die
Spitze) beschlagnahmte Vermögenswerte
des „Milliardärs“ in Deutschland, Italien
und den Niederlanden im Wert von 18 Millionen Mark, darunter auch einen Koffer
mit 70 000 Mark Bargeld in irakischer
Währung in seiner Pulheimer Villa.
Carmine L., so der Vorwurf, gehöre zu
den führenden Köpfen einer Organisation,
die dabei ist, die deutsche Baubranche zu
unterwandern. Einige Mitglieder sind den
italienischen Behörden bestens geläufig –
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Bauarbeiten an ICE-Trasse Köln–Frankfurt: Bei
Die Staatsanwaltschaft Hagen führt ein
Großverfahren gegen zeitweise bis zu 20
Beschuldigte, die nach Angaben des Hagener Staatsanwalts Schlüter innerhalb der
letzten zehn Jahre mit Hilfe von Scheinfirmen und Schwarzarbeitern Steuern und
Sozialabgaben „im dreistelligen Millionenbereich“ abgezockt haben sollen. Unter den
Beschuldigten, von denen neun in Haft sitzen, sind acht Italiener. Die Szene sei, so
Schlüter, „sehr konspirativ angelegt und
kriminell verfestigt. Das System basiert darauf, dass in Deutschland Arbeit teuer ist“.
DPA
J. GIRIBAS
schäftsgebaren abrupt. Der Betrieb kenbach und Straßenüberführung an der
schließt zu Dumpingpreisen Werkverträge Kreisstraße 20 – sprinteten Arbeiter eines
mit Generalunternehmen auf Großbau- Subunternehmens aus Halle, überwiegend
stellen ab, schickt überwiegend Schwarz- Albaner, in die Wälder, wenn die Fahnder
arbeiter und zahlt fortan weder Steuern vom Arbeitsamt zur Kontrolle kamen.
noch Sozialabgaben. Im Gegenteil: Mit Diese Firma, so Honsberg, sei eine „reine
Hilfe von Scheinfirmen werden „scarichi“, Briefkastenfirma“, geführt von dem Itasogenannte Abdeckrechnungen, ausge- liener Giuseppe F., dem „Kontakte zu kristellt, die Einnahmen auf dem Papier auf minellen Organisationen in der Heimat“
Null drücken und bisweilen sogar das nachgesagt würden.
Finanzamt, das mittlerweile eine Unbe„In manchen Bereichen“, sagt auch
denklichkeitsbescheinigung ausgestellt Konrad Freiberg von der Gewerkschaft
hat, zur Erstattung nie gezahlter „Vor- der Polizei, „ist die illegale Beschäftisteuer“ veranlassen. Wenn der Schwin- gung so weit fortgeschritten, dass nach
del auffliegt, ist die Firma nicht mehr marktwirtschaftlichen Maßstäben legal arexistent und der Geschäftsführer ver- beitende Firmen kaum noch existieren
schwunden.
können.“ Erfolgreiche Ermittlungen geFinanzermittler der Kripo entdecken im- gen die Szene, klagt Freiberg, würden immer häufiger in der Baubranche Geldflüs- mer noch durch das Kompetenzgerangel
se in Größenordnungen, die mit normaler zwischen Arbeits- und Ordnungsämtern,
Geschäftstätigkeit nicht mehr erklärbar Zoll, Finanzämtern und Polizei sowie
sind. „Die Namen der Akteure lassen den Schluss zu, dass Beziehungen zur italienischen OK bestehen“, so ein Fahnder. Die CasaLeute stießen bei ihren Recherchen
beispielsweise auf einen MafiaClan aus dem Südosten Siziliens,
der dort zu den führenden Familien
in der traditionell mafios unterwanderten Bauwirtschaft zählt und
jetzt offenbar in Deutschland aktiv
ist. Aussteigern oder Verrätern in
den italienischen Subunternehmen
drohen laut BKA „Sanktionen bis
zum Mord“.
Die Lage der deutschen Bauwirtschaft erleichtert der Mafia das
kriminelle Geschäft: Viele Firmen Razzia auf Berliner Baustelle: Suche nach Illegalen
haben in den vergangenen Jahren
Personal abgebaut. Ohne Subunternehmen durch unzureichenden Datenaustausch ersind sie heute kaum noch in der Lage, schwert.
einen Großauftrag abzuwickeln. Da ArDie Hauptstadt Berlin ist bislang die einbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe zige Kommune, in der sich eine gemeinsaillegal ist, vergeben sie ganze Werkauf- me Ermittlungsgruppe um die Schwarzarträge, für die sie wiederum Rechnun- beit kümmert. Nachdem auf den dortigen
gen von den Subunternehmern erhalten. Baustellen immer häufiger illegale JugosGanz legal.
lawen mit falschen italienischen Pässen
Im Saarland ermittelt die Staatsanwalt- aufgefallen waren, ermittelte die Arbeitsschaft gegen 70 überwiegend italienische gruppe „Doku“ in den vergangenen zwei
Beschuldigte und einen deutschen Unter- Jahren in 370 Fällen wegen Handels und
nehmer, der gemeinsame Sache mit den Besitzes gefälschter Ausweise, die alle aus
kriminellen Subunternehmern gemacht ha- Neapel stammten.
ben soll. Es geht um Dumpingpreise und
Kriminaloberrat Holger Bernsee von der
hinterzogene Steuern in Millionenhöhe. Berliner Kripo: „Die Spur führte zu einem
Durch die Machenschaften geriet ein Pizzeria-Besitzer in Berlin, der sich ganz
ganzer regionaler Bereich der Baubranche offen als Camorra-Angehöriger ausgab.
ins Wanken.
Der Mann hatte auch Führerscheine,
Auch die Gewerkschaften sind inzwi- Falschgeld, Waffen und Rauschgift im
schen aufgeschreckt. Im Baugewerbe, Angebot.“
Inzwischen dehnt sich die Mafia auch im
glaubt Bernd Honsberg von der IG Bau,
werde durch kriminelle Banden „mittler- Osten aus.Auseinandersetzungen verschieweile genauso viel Geld gemacht wie im dener Mafia-Familien untereinander und
die Rezession am italienischen ArbeitsDrogen- und Frauenhandel“.
Gewerkschafter informierten das Ar- markt hätten, so das BKA, dazu geführt,
beitsamt Koblenz im Juni über Schmu dass die ursprünglich nur in Westdeutschbeim Bau der ICE-Trasse Köln–Frankfurt. land operierenden Bosse „ihre kriminellen
An drei Baustellen – Landschaftsbrücke geschäftlichen Aktivitäten in die neuen LänLogebachtal, Stützwand Mülldeponie Lin- der“ verlagerten.
Andreas Ulrich
Kontrollen sprinteten Arbeiter in die Wälder
Kriminelle gründen, meist mit Hilfe eines italienischen Strohmanns, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Für die
notwendige Eintragung in die Handwerksrolle suchen sie einen korrupten deutschen
Handwerksmeister, der gegen Schmiergeld
seinen Titel hergibt. Diese GmbHs stellen
anfangs einige Arbeiter legal ein, melden
sie bei der Kranken- und Sozialversicherung an und zahlen brav Abgaben und
Steuern.
Sobald die „legale“ Aktivität der Firma
aktenkundig ist, ändert sich das Ge-
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81
Wirtschaft
AU T O I N D U S T R I E
Daimler unter
Druck
Konzernchef Schrempp will
den Vorstand des deutsch-amerikanischen Autoriesen deutlich
verkleinern. Ein mögliches Opfer:
Finanzvorstand Gentz.
Der Absturz
Die DaimlerChrysler-Aktie seit der Fusion
im Vergleich zum Dow-Jones-Index
16. November 1998 = 100
125
120
115
110
105
Dow-JonesIndex
100
1998
95
N
82
DaimlerChrysler
D
1999
J
F
M
A
M
J
J
A
DPA
S
o liebt es Jürgen Schrempp. Alle Vorstände des DaimlerChrysler-Konzerns sind nervös, sorgen sich um Zukunft und Job. Sie wissen, dass von 17
wahrscheinlich nur 12 übrig bleiben.
Aber nur Schrempp weiß, wie die
Führungsmannschaft des zweitgrößten Autokonzerns der Welt demnächst aussieht.
Er hat den Coup exakt so vorbereitet wie
bei der letzten großen Umorganisation, als
Mercedes-Benz und Daimler-Holding miteinander verschmolzen wurden. Er ließ
eine kleine Truppe von Vertrauten mehrere Führungsmodelle entwickeln. Dann
wird ein Modell, das der Chef präferiert,
den Medien zugespielt. Alle Positionen
sind eingezeichnet, nur die Namen der Manager, die sie ausfüllen sollen, fehlen.
Sofort setzt unter Vorständen eine Debatte über die Logik der Struktur ein. Ist
das Modell weitgehend akzeptiert, kann
anschließend keiner aufbegehren, wenn
sein Name auf keinem oder auf einem etwas kleineren Kästchen auftaucht.
Bei der letzten großen Neuorganisation
fiel, aus rein sachlichen Gründen versteht
sich, der Posten des Mercedes-Vorsitzenden weg. Der Schrempp-Rivale und damalige Mercedes-Chef Helmut Werner konnte entweder einen Posten ohne Einfluss annehmen oder gehen. Werner ging.
Diesmal könnte, aus sachlichen Gründen, der von Schrempp wenig geschätzte
Konzernchef Schrempp*: Rücksichtnahmen auf die Chrysler-Manager?
Finanzvorstand Manfred Gentz seinen einflussreichen Posten verlieren. Ihm würde
dann das Personalressort angeboten.
Dass die Reform an der Spitze nötig ist,
kann keiner bestreiten. Nach der DaimlerChrysler-Fusion wurden die Vorstände einfach zusammengefügt. Auf Dauer ist der
Konzern so nicht zu steuern.
Die neue Führungsstruktur sieht vor, das
Geschäft in fünf Fahrzeugklassen – Personenwagen, Großraumlimousinen, Geländewagen, leichte Nutzfahrzeuge und
schwere Lastwagen – aufzuteilen. Bei den
Personenwagen wird es einen Verantwortlichen für die Chrysler-Marken und einen
für Mercedes-Benz geben. Daneben gibt
es zentrale Ressorts wie Finanzen, Einkauf
und Personal.
Konzernchef Schrempp muss bei der Besetzung vor allem auf die Chrysler-Leute
achten: Die amerikanischen Manager hatten sich massiv darüber beklagt, dass die
Deutschen die Macht im Konzern übernommen hätten.
Bislang kommen 10 von 17 Vorständen
aus Deutschland. Das Verhältnis wird sich
ohnehin weiter zu Lasten der US-Manager
verschieben, weil der gleichberechtigte
Konzernvorsitzende Bob Eaton spätestens
in einem Jahr zurücktritt.
Beim jetzt anstehenden Revirement soll
deshalb der zweite Mann bei Chrysler, Tom
Stallkamp, eine zentrale Position besetzen.
Die beiden wichtigsten Ressorts sind die
des Finanzvorstands und des Chefs von
Mercedes-Benz. Mercedes soll von einem
deutschen Vorstand geführt werden, weil es
nicht zum Image passen würde, wenn ein
* Mit Lebensgefährtin Lydia Deininger am 31. Juli am
Hockenheimring.
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Chrysler-Manager, der zuvor Kleinwagen
wie den Neon konstruierte, die Luxuslimousinen entwickelt. Jürgen Hubbert, der
mit der neuen S-Klasse gerade großen Erfolg hat, wird diese Position wohl behalten.
Stallkamp könnte nur aufgewertet werden, wenn er entweder zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden ernannt
wird – ein Modell, dem Schrempp-Vertraute wenig Chancen geben – oder wenn
er das Finanzressort übernimmt.
Der bisherige Finanzchef Gentz ist seit
dem Kurssturz der DaimlerChrysler-Aktie
ohnehin mächtig unter Druck. Im ersten
Halbjahr steigerte der Konzern seinen Gewinn zwar um zwölf Prozent auf 9,9 Milliarden Mark, doch die Analysten hatten
deutlich mehr erwartet. Der Kurs sackte
nach Verkündung der Zahlen auf den tiefsten Stand seit der Fusion.
Verantwortlich für die Information der
Analysten ist die Abteilung Investor Relations, die Gentz untersteht. Sie hätte rechtzeitig vor den übertriebenen Erwartungen
warnen müssen, um bei der Bekanntgabe
der Zahlen nicht einen Schock an der Börse auszulösen.
Zudem wird Gentz an anderer Stelle
dringend gebraucht: Personalvorstand Heiner Tropitzsch gilt als krasse Fehlbesetzung. Gentz hatte vor Jahren bereits einmal diesen Posten ausgefüllt – zur allseitigen Zufriedenheit.
Damit die Unruhe nicht zu lange währt,
hat Schrempp den Termindruck für die
Umorganisation erhöht. Vom 5. bis 7. Oktober ist ein Treffen aller Führungskräfte in
Washington anberaumt, bei dem über die
Strategie des Konzerns debattiert wird. Bis
dahin, so ein Schrempp-Vertrauter, „ist der
Sack zu“.
Dietmar Hawranek
ter Sprechgesang von drei Sekunden Dauer, dargeboten von der Gruppe Kraftwerk,
stolze 400 000 Mark kostet. Und nun steht
Ärger wegen der ziemlich albernen Fabeln
zur Verherrlichung der Marktwirtschaft an.
„Tief im Dschungel“, so beginnt eine
Geschichte, „leben eine Möwe und ein Papagei“, die beide in Käfige gesperrt sind.
Dazwischen hockt in „Briefträgeruniform“
der faule Drontevogel. Der „singt und
tanzt“, anstatt Briefe und Pakete auszutragen, die ihm Möwe und Papagei verzweifelt zustecken.
EXPO 2000
Eisbär auf dem
Snowboard
Mit Tier-Trickfilmen will die Weltausstellung die Marktwirtschaft ins
rechte Licht rücken. Erste Drehbuchleser waren nicht amüsiert.
„Zwei junge Eisbären rutschen mit ihren
Snowboards einen Abhang herunter und
steigen mühsam wieder auf. Vom Wipfel
eines Baumes aus beobachtet sie der
Adler wohlwollend“, beginnt die Fabel. Der
nette Greif fliegt zu den Bären herunter,
um ihnen eine Sprungschanze zu bauen.
Die Bären sind begeistert.
Die Wohltat des
Adlers war nicht
umsonst, er verlangt
Steuern: Die Bären
DPA (g.)
V
erlegenheit kann der Bonner Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke
in schallendem Gelächter ersticken.
Kollege Erwin Jordan aus dem Gesundheitsressort hüllt sich lieber in Schweigen.
Auch Michael Naumann zieht stille Verdrängungsarbeit vor. Der Staatsminister
fürs Kulturelle, berichten Vertraute, habe
sich einfach „mit Grausen abgewandt“.
Das Unbehagen, das die drei Herren
derzeit plagt, entspringt derselben Quelle:
Von Amts wegen müssen sie mitbestimmen, wie Deutschlands Unternehmer bei
der Expo 2000 in Hannover ab kommenden Juni einem Millionenpublikum ihre
Weltsicht offenbaren.
Dafür zeichnet Wilfried Prewo, Geschäftsführer der Expo-Beteiligungsgesellschaft der Deutschen Wirtschaft, verantwortlich. Im Hauptberuf ist er Chef der Industrie- und Handelskammer HannoverHildesheim.
Prewo hatte sich auf die Suche nach
Drehbuchautoren gemacht, die auf Trickfilmtechnik spezialisiert sind. Sie sollten
sechs kurze Fabeln schreiben und damit
Expo-Besuchern „zwischen 18 und 80“ illustrieren, wie segensreich die
Marktkräfte wirken. Der
Auftrag erging an amerikanische Autoren ohne
große Namen. Über die
Kosten schweigt man sich
bei der Expo aus.
Die Tiergeschichten
dienen als Vorlage für 90Sekunden-Filmchen, die
in mannshohe „TheaterPrewo
kioske“ projiziert werden,
um eine 3D-Fabelwelt entstehen zu lassen.
Vom 1. September an soll im Aufsichtsrat
der Trägergesellschaft Deutscher Pavillon
(TDP) die Entscheidung über Prewos Fabeln fallen, die bisher nur in Textform vorliegen – eine heikle Angelegenheit für die
TDP-Aufsichtsräte Naumann und Jordan
und für Tacke, den Koordinator zwischen
Regierung und Wirtschaft in Sachen Expo.
Denn die erste Weltausstellung auf deutschem Boden – Gesamtkosten: rund drei
Milliarden Mark – kommt ja ohnehin nur
schwer aus den unerfreulichen Schlagzeilen heraus. Zuletzt war sie im Gerede, weil
die Expo-Erkennungsmelodie, ein verzerr-
Deutscher Expo-Pavillon (Computer-Simulation), Expo-Logo: Unsichtbare Hand
Szenenwechsel: „Die Hand des Marktes
erscheint und zieht an einer Liane, und als
ob es sich um die Schnur an einer Lampe
handelt, leuchten auf einmal alle Früchte
des Baumes hell auf.“ Möwe und Papagei
entkommen ihrem Gefängnis und folgen
ihrem drängendsten Trieb – sie entwickeln
neue Postversandtechniken: „Papierflieger“ und „ein extravagantes Fluggerät mit
Tragflächen aus Geldscheinen“. Sogar der
Drontevogel reißt sich zusammen; er erfindet das Morseverfahren, den Computer
und dazu Disketten.
Was die Autoren damit sagen wollen?
„Deregulierung und die Abschaffung überkommener Monopole“, so die dröge Vorgabe vom Auftraggeber, „stärken die Dynamik der Wirtschaft.“
Zum Test-Rezipienten auserwählt wurde Christian von Kienlin. Doch der Referent für Mittelstandspolitik im Bundeswirtschaftsministerium erwies sich als Bedenkenträger: „Der wirtschaftlich nicht
vorgebildete Besucher“, warnte von Kienlin, „versteht nicht, wer die Hand ist und
was sie hier bewirkt.“ Prewo erwiderte ungehalten, jedermann kenne doch die „unsichtbare Hand“, mit der Adam Smith, der
Urvater aller Ökonomen, die Wirkung freien Unternehmertums pries.
Die US-Autoren erhoben die „Hand des
Marktes“ zum Star ihrer Fabeln. Die wendet auch eine andere Story zum Guten:
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müssen ihre Schals herausrücken, was sie
erst einmal wenig stört. Denn schon bald
tummeln sie sich in einem blühenden Ferienort mit „Schneemobilen“ und einem
„Slalomkurs“. Bis die Bären „in ihrer
Unterwäsche dastehen“ und ihnen der
Adler „auch noch die Snowboards“ abnimmt.
Da naht der Erlöser: „Die Hand des
Marktes erscheint über den Bäumen und
hebt mahnend den Zeigefinger.“ Der Adler „begreift, wie überzogen sein Handeln
war“. Er verkriecht sich in seinen Baum.
Ob das nicht ein „sehr fragwürdiges Bild
vom modernen Staat“ sei, fragte von Kienlin. Den Ministerialen beschlichen grundsätzliche Zweifel: In keiner Geschichte sei
von Arbeitslosigkeit die Rede. „Auf einer
Weltausstellung“, hielt Prewo dagegen, sei
es besser, „Themen von der positiven
(Chancen-)Seite anzugehen statt von der
negativen (Bedrohung).“ Ludolf von Wartenberg, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)
und Aufsichtsratschef der Expo-Beteiligungsgesellschaft, sah das auch so.
Christoph Stölzl, Chef des Deutschen
Historischen Museums in Berlin, ist da weniger zuversichtlich: Um sein Urteil gebeten, mochte er „einen Realisierungsauftrag
nicht empfehlen“. Stölzl: „Mir wäre nicht
darum bang, hier andere, attraktive Formen zu finden.“
Hendrik Munsberg
83
Wirtschaft
E N T E R TA I N M E N T
Manager der Nacht
FOTOS: M. WITT
Mobile Partyveranstalter machen den etablierten Gastronomen Konkurrenz –
mit schrillen Events in Fabrikhallen und Dorfdiscos.
Disco-Event*, Veranstalter Froschauer: „Ekstase, Abfahrt, Rausch“
J
eden Freitagvormittag ist in der Hamburger Szenedisco „La Cage“ mächtig
was los. Ab 10 Uhr morgens übernimmt Partyveranstalter Thomas Leh für
24 Stunden das Kommando: Seine mobile
Einsatztruppe rückt 40 rote Plüschsofas in
die düstere Tanzhöhle, legt Teppiche aus,
verhängt Decken und Wände mit orientalischen Tüchern.
So wird die sterile Großraumdiscothek
zum Kiezclub umgerüstet, der dem Publikum einen Hauch jener Amüsierromantik
verleiht, die einst den Mythos der Sexmeile begründete. Im Konzeptpapier von Lehs
„Park Projekt Communikation und Marketing GbR“, mit dem er die Ausschreibung des Discothekeninhabers gegen zehn
weitere Eventagenturen gewann, wird eine
„Fegefeueratmosphäre“ versprochen.
Abends dann, wenn das Szenevolk den
Türsteher passiert hat, lässt Leh jene
* Im Hamburger „Shark-Club“.
84
Musik laufen, die er
für „schwer angesagt“ hält
– House und „chilligen Lounge-Sound“. Der
Eigentümer der Discothek
profitiert vom Getränkeumsatz, der Partymacher kassiert die Eintrittsgelder.
Leh, 25, gehört zur Schar junger Eventveranstalter, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. In ihrem Leben, so hat „Celebration“-Autor Rainald Goetz die neuen
Spaßmanager beschrieben, drehe sich alles
um „Musik und Tanz, Ekstase, Abfahrt,
Rausch“.
Diese Jungunternehmer besitzen in der
Regel weder Club, Kneipe noch Café, sie
veranstalten einfach nur drei oder vier
Events im Monat. Sie holen das Leben
zurück in abgewrackte Animierbars, sie
bringen verstaubte Fabrikhallen wieder
zum Hämmern, sie sorgen dafür, dass die
Firmenfeier zur Sause wird – und sie beleben das flaue Geschäft der Discotheken.
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Denn der stationäre Frohsinn birgt
für die Betreiber von Gaststätten und Tanzhallen enormes Absturzpotenzial: Die
Gastronomie klagt über Umsatzeinbußen,
minus 3,2 Prozent allein im vergangenen
Jahr; in vielen deutschen Discotheken
brummt die Anlage, aber nicht das Geschäft.
In den schon reichlich besetzten Markt
drängen die Eventmanager. Sie sind für die
Etablierten, die ihr Geld in Mobiliar, Haus
und Soundanlage investiert haben, oft genug Ärgernis und Rettung zugleich. Einerseits helfen sie, die großen Amüsiertempel
zu füllen. Gleichzeitig entsteht da eine
Konkurrenz, über die etablierte Gastronomen sich genauso ärgern wie die Telekom
über jene Telefonfirmen, die kein Netz besitzen und allein mit peppigem Marketing
ihre Dienstleistung verkaufen.
Die Manager der Nacht gehen nicht weniger planvoll zu Werke als ihre Kollegen
in der Telefonbranche. Alle Aufgaben sind
professionell verteilt: Marketing macht der
Mann, der die Einladungen – die Flyer – entwirft,
der Einkaufsleiter bucht
Discjockey und Veranstaltungsort, der Vertriebschef
bestimmt, wen der Türsteher sofort reinlässt, wer
warten muss und wer auf
Nimmerwiedersehen abblitzt.
Der Ton in der jungen
Branche ist rau, fast proletarisch. Das Erbe der 68er,
der sanfte Diskurs über alles und nichts, gilt hier als
megaout. Wenn Leh übers
Business redet, dann in jenem Chefton, der
keinen Widerspruch duldet: „Werbung ist
absolut wichtig, stimmt der Flyer nicht, ist
auch die Party scheiße.“
Diese Unternehmer sind Draufgänger,
die es im normalen Beruf nicht weit gebracht haben, wohl auch, weil die traditionelle Karrierelaufbahn deutscher Firmen –
vom Assistenten über den stellvertretenden Abteilungsleiter bis zum Bereichsverantwortlichen – sie nicht reizen kann. Der
Kampf um Titel und Dienstwagen hat für
sie den Charme eines Kurkonzerts.
Ihren Biografien fehlt daher meist jene
Gradlinigkeit, wie sie Personalchefs lieben.
Partymacher Eric Froschauer, 32, etwa hat
beim Kaufhof in Freiburg seine Kaufmannsausbildung absolviert und später für
FOTOS: M. WITT
Besten, sagt Castelli, dürften
wiederkommen.
Wie auf den Finanzplätzen
herrscht auch in der Partybranche ein ehernes Gesetz:
The trend is your friend. Ein
hektischer Wechsel der Moden prägt den Markt; wer die
nächste Welle verpasst, steht
schnell auf dem Trockenen.
Nutellabrote zu HouseMusik lockten eine Zeit lang
das Hamburger Szenevolk ins
Reeperbahn-Café Keese. Vergessen, vorbei, out. Dann
wieder schickten die Partymacher Transvestiten ins Rennen; Castelli bietet seinen
Kunden eine 166 Kilo schweOertzen: Hektischer Wechsel der Moden
re Tunte. Ulla Trulla, wie sich
Café mit Parkterrasse, das der Koloss nennt, brachte auf einer Feier
im Sommer stark besucht des Heinrich-Bauer-Verlags die Gäste in
war. Nur im Winter blieb Stimmung, im Domina-Kostüm brüllte sie
„Peitsch mich“ in den Saal.
die Kundschaft aus.
Castelli hat seine Verkaufsschlager – aufUriz von Oertzen setzte
auf Provokation, engagierte getakelte Tunten und hochgestylte TänPerformance-Künstler wie zergruppen – in italienischen Clubs gePeter Sempel, der in den funden, als in Deutschland noch NebelAchtzigern mit einem frisch werfer zu Phil Collins’ „In the Air Tonight“
geschlachteten Pferdekopf für Stimmung sorgten. Die Masche hat zudas Publikum schockte. erst in Mannheim, dann in Hamburg funkDen ganzen Abend tropfte tioniert; jetzt lässt der ehemalige Jaguardas Blut auf den Kneipenboden, das Sze- Verkäufer seine „Fancy Dancers“ im
„Chinawhite“ in London tanzen – vor aranevolk fand’s schaurig-schön.
Oertzen kapierte schnell: Wichtig ist bischen Scheichs und anderen Celebrities,
nicht die Kneipe, sondern das Konzept. die dafür 100 Mark Eintritt zahlen.
Andere haben ihre große Zeit schon
Mittlerweile organisiert er über hundert
hinter sich. Der stets braun gebrannte
Events pro Jahr.
Der Job als Partyveranstalter kennt kei- Michael Ammer etwa: Mit seiner genialne Freizeit. Die Macher und ihre Helfer einfachen Geschäftsidee hatte er in den
ziehen auch nachts durch die Städte, stän- frühen Neunzigern großen Erfolg. Ammer
dig auf der Suche nach neuen Trends, ori- war der Erste, der es allein dadurch zur
ginellen Veranstaltungsorten, schrillen Ty- Schlagzeile brachte, dass er Models einlud
pen. Trinkfestigkeit gehört zum Berufs- und frei verköstigte.
Mit A- und B-Promis aus seiner Kartei
ethos wie der Respekt vor Albanern, die im
sorgte er für ein bisschen Glanz im Amüdeutschen Amüsierbetrieb mitmischen.
Das vermutlich wichtigste Kapital jedes sierbetrieb: Dieter Bohlen, Heiner LauterVeranstalters sind seine Kontakte – zu den bach und Jenny Elvers machten das HamGastronomen und zu prominenten Gästen. burger „Traxx“ (inzwischen geschlossen)
3000 Namen hat Oertzen in seiner Kartei, unter dem Jubel der Presse zu ihrem zweiPromis oder einfach schöne Gesichter. ten Wohnzimmer. „Ammer ohne FettWird ein Event zu männerlastig, reicht ein kinn“, titelt inzwischen die „Hamburger
Anruf bei der größten Modellagentur der Morgenpost“ nach einer SchönheitsoperaStadt: Die Mädchen aus der Modewerbung tion über den „damaligen Party-König“.
Die Epoche der ganz großen Partys ist
kommen überall umsonst rein.
Bei den Kerlen wird genauer hinge- ohnehin vorbei, glauben viele. Zu zerschaut, denn die Mischung im Publikum, splittert sei die Szene, als dass sich alle
ein bisschen schrill, nur nicht zu viele Män- noch auf das eine Großereignis stürzten.
ner, gilt als entscheidend für den Erfolg. „Sektenartige Gebilde“ hat Poptheoretiker
„Der Mainstream“, sagt Partymacher Leh, Diedrich Diederichsen in den Subkulturen
„scheitert an unserer hart-herzlichen Se- der Großstädte ausgemacht.
Eric Froschauer verlässt sich daher nicht
lektion.“
Sein Konkurrent Raffaele Castelli, 29, allein auf die Metropolen, seine aufwendig
hat die zuweilen rabiate Auslese noch ver- einstudierten Bühnenshows ziehen nach
feinert. Wenn der italienische Gastarbei- der Premiere noch monatelang über die
tersohn aus Mannheim in London eine Dörfer. Nur so würden sich die InvestitioParty veranstaltet, laufen Hostessen durch nen in das Go-go-Ballett rentieren: „Die
die Menge, sprechen Gäste an und teilen Großstadtszene“, sagt Froschauer, „dankt
sie später in Coolness-Grade ein; nur die es uns nie.“
Frank Hornig
Firmenfeier*, Partyveteran
Außendienstvertreter Seminare über Verkaufspsychologie gehalten. Ein Job
wie geschaffen für ein Leben im karierten Zweireiher-Sakko. „Nach drei Jahren war ich ausgebrannt“,
erinnert er sich der „stupiden Tätigkeit“.
Jetzt residiert Froschauer
in einer Hamburger Fabrikhalle, wo seine Akteure
ihren Auftritt üben. Für zahlungskräftige
Kunden tanzen Go-go-Girls in mobilen
Riesenaquarien – die Glascontainer werden zum Partyort verfrachtet, die Damen
tanzen im Tanga und mit Tauchermaske.
Froschauer ist einer der Macher der Firma Liquid Dancer’s, die sich als PartyDienstleister versteht. In Discotheken und
auf Firmenfeiern lässt er seine bunte Truppe antreten. Das Komplettprogramm:
Vorgefahren wird im firmeneigenen RollsRoyce, die Show-Dancer bieten eine einstudierte Tanzrevue, weitere Firmenmitarbeiter mischen sich unters Partyvolk, um
als Eintänzer auf Tischen und Lautsprecherboxen für Stimmung zu sorgen.
So oder so ähnlich betreiben auch die
anderen Unternehmen der Partyszene ihr
Geschäft. Uriz von Oertzen, 50, gilt als
der Veteran der Eventmanager. In einem
umgebauten Pferdestall planen er und
die Mitarbeiter seiner Firma Hi-Life ihre
Veranstaltungen, darunter die Echoverleihung, der Oscar der deutschen Musikindustrie.
Gestartet ist Oertzen als Freak, ohne feste
Lebensplanung, geregelter Broterwerb war
nicht seine Sache. Noch heute schwärmt er
von den Siebzigern, „als man sich keine
Sorgen machen musste“, als er jahrelang
einfach „viel durch die Welt gereist“ ist.
Später schlug er sich als Schiffsmakler
durch, gelernt habe er dabei nichts, außer
„morgens pünktlich zur Arbeit zu kommen“. Schließlich pachtete er sein eigenes
* Im Hof einer ehemaligen Hamburger Pianofabrik.
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Werbeseite
Werbeseite
Medien
Trends
FERNSEHEN
Neuer Job für Brebeck
A
ACTION PRESS
RD-Reporter Friedhelm
Brebeck, bekannt durch
seine sympathisch-kauzige
Balkan-Berichterstattung,
wird auch nach seiner Pensionierung auf dem Bildschirm erscheinen. In einigen
Monaten soll der Mann mit
der rauchigen Stimme, der im
Juli den Bayerischen Rundfunk in Richtung Ruhestand
verließ, für den WDR aktiv
werden. Der Kölner Sender
will im Jahr 2000 verstärkt
Dokumentationen zeigen
und hat dafür am Sonntagabend den besten Sendeplatz
um 20.15 Uhr in seinem Drit- Brebeck, Brebeck-Bericht
ten Fernsehprogramm reserviert. Auch im Ersten Programm will der WDR öfter als bisher
journalistische Stücke präsentieren. Für diese Offensive werden
Autoren gesucht – Brebeck, 65, gilt als erste Wahl, eine Vereinbarung ist aber noch nicht unterzeichnet. Dem WDR-Chef
Fritz Pleitgen schwebt eine Reihe von „Hochglanz-Reportagen“
vor, die das Renommee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
stärken sollen, nach dem Vorbild der Reise-Reportagen von
WERBUNG
DEUTSCHE WELLE
Teurer Anzeigenkrieg
„Faules Dreckschwein“
n der Übernahmeschlacht der französischen Großbanken BNP, Paribas und
Société Générale steht ein Gewinner
längst fest: Die Medien- und Werbeindustrie machte glänzende Geschäfte.
165 Millionen Franc (49 Millionen Mark)
ließen sich die Banken den wohl erbittertsten Werbekrieg kosten, den die Finanzwelt seit langem gesehen hat. Am
vergangenen Freitag endete die Umtauschfrist für Aktionäre. Zuvor warb
die BNP in französischen und internationalen Zeitungen mit ganzseitigen Anzeigen für ihren feindlichen Übernahmeversuch: „Geben Sie so schnell wie
möglich Ihr Umtauschangebot ab.“ Das
gegnerische Lager („Say No to BNP“)
konterte mit einem „worst case scenario“ und zeigte ein Puzzle, bei dem nur
das BNP-Teil nicht passen wollte. Der
harte Wettbewerb setzte sich auf Agenturseite freilich nicht fort: Sämtliche Anzeigen stammen aus derselben Agentur;
die Werber der Pariser Euro RSCG verteilten die drei Banken einfach auf verschiedene Abteilungen – und kassierten
den Gesamtetat.
A
uffallend ausfallend reagiert Dieter
Weirich, Intendant der öffentlichrechtlichen Deutschen Welle (DW),
wenn er auf den früheren Repräsentanten seines Senders in Washington angesprochen wird. Gerhard Besserer sei
das „faulste und kriminellste Dreckschwein“, das ihm untergekommen sei,
soll der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Weirich im November 1998 am
Rande des CDU-Parteitages in Bonn
gesagt haben. In einer eidesstattlichen
Versicherung bestritt Weirich kurz darauf diesen Verbalausfall, der von seinem
Gesprächspartner kolportiert worden
war. Doch das Landgericht Koblenz entschied jetzt in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil, es sei sehr wahrscheinlich, dass der Intendant sich entsprechend geäußert habe. Gegenüber dem
SPIEGEL hatte Weirich Besserer ebenfalls 1998 als „stinkende Ruine“ bezeichnet. Hintergrund: Der Intendant vermutet, dass Besserer als Informant hinter
einer Reihe kritischer Berichte über den
Sender steht. Im vergangenen Jahr versuchte er, seinem Washington-Repräsentanten dreimal fristlos zu
kündigen, obwohl dessen Vertrag wenige Wochen später ohnehin
ausgelaufen wäre. Das
Arbeitsgericht Köln hat
die Kündigungen inzwischen wegen Formfehlern für wirkungslos erklärt. Das Verhalten
Weirichs stößt bei vielen Mitgliedern der
DW-Aufsichtsgremien
auf Unverständnis.
DPA
I
Gerd Ruge. Den TV-Zuschauern ist Brebeck, der mit 15 ohne
Schulabschluss von zu Hause durchbrannte, als Kriegsreporter
bekannt. Er berichtete von der Revolution in Iran, dem Bürgerkrieg im Libanon und den Wirren in Sarajevo und im Kosovo. Das Verhältnis zu seinem Haussender, dem Bayerischen
Rundfunk in München, geriet in Schieflage, nachdem eine geplante Moderation der ARD-Spätnachmittagsnews platzte.
Weirich
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Medien
rutig liegt die Hitze über dem
Lande, die Menschheit lechzt
nach Erfrischendem. Aber auf
niemanden ist mehr Verlass.
Selbst Nessie, das launische Ungeheuer aus dem schottischen
Hochland, hat sich abgemeldet.
Da müssen halt die Alten ran. In
Ehren erblondet, verwittert und
so oft durchs Medien-Dorf getrieben, dass es keine Sau mehr
graust, hat sich unser aller Dieter
Bohlen geopfert. Sein Rottweiler
Dickie, „immer ein braver, zuverlässiger Hund“, biss erst ein
Reh, dann die Haushälterin und
schließlich sein Herrchen. Bei
„Bild“ fand Bohlen ein offenes
Ohr für sein Hundedrama: „Zärtlich schleckte er mir über den
Arm, dann biss er unvermittelt
zu! Mitten in mein Gesicht.“ Notaufnahme! Eine Naht mit 12 Stichen! Und die bissfeste Schlagzeile: „Bohlen: Gesicht vom eigenen Rottweiler zerfleischt“.
Vielleicht hätte Dickies Dieter die
Sache diesmal lieber für sich behalten sollen. Denn eine Nachricht ist nur so gut wie die News,
die am Tag danach die neidische
Konkurrenz zustande bringt. Und
so sprang die „Hamburger Morgenpost“ prompt ihre Leser mit
der Frage an: „Dieter Bohlen: Tollwut?“ Der Rüde
Dickie und der rüde
Dieter durch ein tückisches Virus vereint? Das schaumspuckende Ende einer verdienstvollen
Karriere im Dienste
von Frau Musica und
freier Presse? O nein, der Mann
hat noch Möglichkeiten. Der
Neurologe Juan Gomez-Alonso
weist ihm den Weg in eine blutige Zukunft. Der Spanier hat die
„logische“ Theorie entwickelt,
wonach der Vampir Graf Dracula
nur deshalb so blutrünstig war,
weil er an Tollwut litt. Vom Virus
zum Vampirismus, weist Dr. Gomez-Alonso nach, ist es nur ein
Katzensprung. Graf Dietula – das
wär’s. Und Bohlen und „Bild“
hätten immer was zu beißen.
88
14,3
Das Clubschiff
OP. Schicksale
im Klinikum
14,0
Reeperbahn
Die Fahrschule
13,5
Geburtsstation
ZDF
RTL
RTL2
ZDF
Sat1
Arte
8,2
Der wahre Kir Royal
5,8
Ein Kaufhaus steht Kopf
1,8
Hochzeitsfieber
Arte
Arte
Arte
1,0
0,6
0,3
„Das Clubschiff“ (RTL) und „Reeperbahn“ (RTL 2) enttäuschten. Mehr Erfolg brachten nur die aufwendigeren
ZDF-Doku-Soaps „OP. Schicksale im
Klinikum“, „Frankfurt Airport“ und
„Die Fahrschule“ auf Sat 1. RTL 2 startet trotzdem am 23. August „Ibiza ’99 –
Gute Zeiten, sexy Zeiten“.
QUOTEN
Flop der Billig-Dokus
D
as Format sollte Quote bringen
und Kosten sparen: „Doku-Soap“–
Dokumentationen, die wie Seifenopern
konzipiert sind. Doch Marktanteile für
S K A N DA L E
Wirbel um Nacktenklau
E
in schöner kleiner Sommerloch-Skandal war es, den die sechs nackten Männer unter der Reichstagskuppel ausgelöst
hatten: Fernsehen und Zeitungen berichteten flugs, und Politiker empörten sich, als
die Schwulenzeitschrift „Männer aktuell“
die Nacktenbilder in ihrer August-Ausgabe
veröffentlichte. „Wir als Schwule haben
immer noch nicht die gleichen Rechte.
„Playgirl“-Aktion im Reichstag
Darum steigen wir den hohen Herren
nackt aufs Dach“, verkündete der Chefredakteur Andreas Tölke – und schmückte
sich mit fremden Federn. Die Aktion hatte in Wahrheit die Zeitschrift „Playgirl“ konzipiert: Vier Fotografen hatten die Models am Tag der Love-Parade an verschiedenen
Plätzen Berlins abgelichtet, „um die Toleranz des Regierungssitzes zu zeigen“, so
„Playgirl“-Chef Bernhard Hausner. Die Bilder sollten im Oktober, zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, erscheinen. Einer der Fotografen verscherbelte seine Aufnahmen jedoch vorab an „Männer aktuell“ – ohne Tölke aufzuklären. Die Bildserie wird
trotzdem in „Playgirl“ zu sehen sein.
PROJEKTE
Wenn die Kinder
zweimal klingeln
F
amilienserien sind im Vorabendprogramm rar geworden. Populäre Ausnahme: „Eine schrecklich
nette Familie“, die US-Endlos-Comedy um Al Bundys
Chaos-Clan auf Pro Sieben. Doch auch die heimische
Konkurrenz schläft nicht länger, seit vergangener Woche dreht die Kölner ZDF-Tochter Network Movie für
ihren Sender die Vorabendserie „Nesthocker“. Mutter Brandt ist gerade geschieden, die Kinder sind aus Akteure Postel, Wunderlich
dem Haus, und endlich könnte das schöne Leben beginnen – wenn nicht alle wieder plötzlich an der Haustür klingelten, um es sich im
warmen Nest gemütlich zu machen. Mit ihrem ersten Serienprojekt legt die neue Firma einen flotten Start vor. Sie heuerte erfolgreiche Serienstars an: Als geplagte Mutter agiert Sabine Postel („Nicht von schlechten Eltern“), der Teenie-Held Christian
Wunderlich („Verbotene Liebe“) spielt den Sohn, Tanja Wedhorn („SK Babies“) die
Tochter. In weiteren Rollen: Helmut Zierl und Nina Hoger.
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M. BÖHME
B
Frankfurt Airport
H. v. BERG
Dickies Dieter
Durchschnittliche Marktanteile von Doku-Soaps in Prozent
Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Aprilkinder
Dienstag, 23.15 – 0.40 Uhr, ZDF
Wilhelmsburg ist der Hamburger Stadtteil mit dem höchsten türkischen Bevölkerungsanteil. Hier wohnen Cem,
Mehmet und Dilan mit ihren Eltern.
Cem arbeitet im Schlachthof, Mehmet
dealt mit Heroin, ihre Schwester Dilan
träumt vom deutsch-türkischen Popstar
Tarkan. Das Drama beginnt, als die
Verwandten beschließen, dass Cem seine Kusine heiraten muss. Deren Dorf
in Kurdistan kooperierte mit der PKK
und wurde zerstört. Dabei ist Cem in
eine deutsche Prostituierte verliebt.
Die Geschichte klingt, als habe Regisseur Yüksel Yavuz alle Klischees in ein
Drehbuch gestopft; doch tatsächlich ist
dem ausgebildeten Dokumentarfilmer
ein melancholischer, tiefgründiger Film
gelungen. Besonders überzeugend: Erdal Yildiz als depressiver Cem.
Auslandsjournal
Donnerstag, 21.15 – 21.45 Uhr, ZDF
Alle paar Jahre erschüttern Bilder von
Tiertransporten die Öffentlichkeit, und
manchmal werden auf Grund der allgemeinen Empörung Richtlinien verschärft. Dass dies den Pferden, die von Polen aus quer
durch Europa zu Schlachthöfen reisen, trotzdem
nichts nützt, beweist diese
ZDF-Reportage: Ein Team
des Senders begleitete die
Tiere auf ihrem Weg nach
Italien und dokumentierte
ihr Elend – eingezwängt, miserabel versorgt, von
Tierärzten an den Grenzen
ignoriert, quälen sie sich
ihrem Tod entgegen.
Tatort: Bienzle und der
Zuckerbäcker
Sonntag, 20.15 – 21.40 Uhr, ARD
Ein Hauch von Chabrol mitten in Stuttgart: Hinter der
Szene aus „Aprilkinder“
„Tatort“-Szene mit Steck, Radszun
zuckrigen Fassade aus Cremetorten
stößt Kommissar Bienzle (Dietz-Werner Steck) auf Abgründe. Konditormeister Theo Hasselt (Alexander Radszun),
der tags süße Kunstwerke schafft, geht
nachts schaurigem Treiben nach. Das
Katz-und-Maus-Spiel im Krimi von
Felix Huby (Regie: Hans-Christoph
Blumenberg) ist wenig spannend. Warum der Mörder von den schrecklichen
Taten nicht lassen kann, erklärt der
Film nicht, aber das macht nichts, der
Killer selbst hat sich auch nie verstanden. Allerdings wirft die Geschichte interessante Blicke auf die Melancholie
und innere Einsamkeit von Jäger und
Gejagtem. Hobby-Psychologen werden
in diesem „Tatort“ aufschlussreiche
Hinweise finden: Die Bösen und die
Schwachen sind Raucher, und je böser
und je schwächer sie sind, desto mehr
Zigaretten rauchen sie.
Ausschalten
Liebe und Verhängnis
Das Fenster zum Hof
Mittwoch, 20.30 – 22 Uhr, ARD
Samstag, 20.15 – 22.00 Uhr, RTL
Eine junge schöne Cellistin (Jeanette
Hain) verliebt sich in den kühlen Neurologen Dr. Georg Ellis (Richy Müller).
Sie wird schwanger, aber das Kind wird
zu früh geboren und stirbt. Dieses traurige Ereignis treibt das Traumpaar
auseinander – und Paula hin zu dem
Rockgitarristen Leonard Wittkoff (Martin Feifel), der die Musikerin ganz
schrecklich liebt. Eine Dreiecksgeschichte beginnt, die, begleitet von viel
Cello-Musik, natürlich tragisch endet.
Konzipiert war das Fernsehspiel (Regie: Sherry Hormann) ursprünglich für
die „Melodram“-Reihe im Ersten, mit
der im kalten Januar vergangenen Jahres die Zuschauerseelen aufgewärmt
werden sollten. Doch aus dem Drama
wurde eine Kolportage, und für die ist
eine warme Sommernacht wirklich zu
schade.
Einen Tag, nachdem Hitchcock 100 Jahre alt geworden wäre, zeigt RTL das
Remake seines Klassikers. Im Original
spielt James Stewart einen Fotografen,
der nach einem Unfall im Rollstuhl
sitzt, Nachbarn beobachtet und einem
Mord auf die Spur kommt. Zwei Drehbuchautoren transponierten den Stoff
Reeve in „Das Fenster zum Hof“
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in die Gegenwart, ersetzten Anrufe
durch E-Mails und schnitten das Skript
auf den Ex-Superman-Darsteller Christopher Reeve zu, der seit seinem Reitunfall vom Hals an abwärts gelähmt ist.
Über sein Schicksal hat Reeve Interviews gegeben, das war erschütternd
und informativ. Es aber als Spielfilm zu
inszenieren muss schief gehen. Aus dem
Fotografen wird ein Erfolgsarchitekt,
der langatmige Anfang zeigt Klinikaufenthalt und Rehabilitation, es folgen
Anklagen gegen das US-Gesundheitssystem und den Kapitalismus im Allgemeinen. Dann stolpert eine schlecht
blondierte Daryl Hannah in viel zu
großen Jacketts durch die Szenen und
versucht vergeblich, Sex und Spannung
in die Geschichte zu bringen. Trotz des
Respekts für Reeves Engagement und
Durchhaltevermögen: Ein Dokumentarfilm über sein Leben nach dem Unfall
wäre spannender gewesen.
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Medien
M AGA Z I N E
Bezaubernde Domina
Tina Brown gilt als die beste und umstrittenste Chefredakteurin Amerikas. Nach ihren
Erfolgen bei den Zeitschriften „Vanity Fair“ und „The New Yorker“ stellte sie jetzt ihr neues
Magazin „Talk“ vor – mit einer spektakulären Party. Von Thomas Hüetlin
90
DPA
E
s fing schön kaputt an. Als der Abend
das Wasser vor Manhattan schwarz
färbte, die Partygäste auf die Schiffe
stiegen, um hinüberzufahren zur gemieteten Insel der Freiheitsstatue, versank die
Sonne und ließ den Himmel blutrot strahlen. „Wie auf einem der kolorierten Hollywood-Filme der fünfziger Jahre in Cinemascope“, sagte einer der Gäste. „Zum
Glück gibt es heutzutage Smog“, antwortete die Art-Direktorin. „Da kann man sich
das Nachkolorieren sparen.“
Es ging schön kaputt weiter. Obwohl nur
die sogenannte A-Liste der starbesessenen
Vereinigten Staaten von Amerika eingeladen war, gab es auch hier sofort eine Hierarchie, die die Festgemeinde zerriss in ganz
Wichtige und ganz, ganz Wichtige – eine
Einteilung, die sich in Manhattan beinahe
stündlich ändern kann.
Auf dem dicken Dampfer der ganz
Wichtigen zum Beispiel stand mit offenem
Hemd und offenem Mund der Schriftsteller Salman Rushdie. Herabgestuft, seitdem
Iran sich von der Fatwa distanziert hat. Auf
dem kleinen Schnellboot der Ganz-ganzWichtigen dagegen die Rocksängerin Debbie Harry, lässig und siegesbewusst, in einem Kaftan und mit Badeschlappen. Wie
schön. Ihre neue Platte verkauft sich also
gut. Es ist kein halbes Jahr her, da sahen
wir sie noch auf dem Weg nach Los Angeles in der Economy Class sitzen.
Auf der Insel, unter gelben, blauen und
roten Lampions, waren Kissen ausgebreitet, und als wäre so ein Gelage eine Selbstverständlichkeit, mischten sich Politgrößen
wie Henry Kissinger und Ed Koch mit
mächtigen Medienmoguln wie Michael
Eisner und Barry Diller, mit Stars wie
Madonna, Paul Newman, Robert De Niro,
Lauren Bacall und Demi Moore.
Eine Besetzung wie bei einer Oscar-Verleihung – nur dass es unter der Freiheitsstatue nichts zu gewinnen gab außer dem
Ruhm, dabei gewesen zu sein bei der wahrscheinlich exklusivsten Party, die in diesem Jahr in New York gegeben werden
wird. Einmal angekommen, gab es erst mal
keine Möglichkeit zur Flucht. Von Wasser
umringt, wurde das kleine Stück Land mit
der Fackel der Freiheit drauf ein Alcatraz
für Schöne, Reiche und Berühmte. Wenn
einer die Nase voll Ärger oder Koks hatte,
konnte er nicht einfach ein Taxi anhalten.
„Talk“-Chefredakteurin Brown
Eiskalter Engel der Medienwelt
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Die A-Liste hatte sich freiwillig ins
Luxusgefängnis begeben, weil es die
Premiere einer neuen Zeitschrift zu
feiern gab. Einer neuen … wie bitte? Richtig, Zeitschrift. Hunderte werden davon
jedes Jahr in den USA gegründet und
viele genauso schnell wieder eingestellt.
Nur bei dieser soll alles ganz anders sein.
Warum? Weil die Chefredakteurin Tina
Brown heißt. Eine Frau, die in der Medienwelt und im Rest der Vereinigten Staaten als die beste Zeitschriftenmacherin
überhaupt gilt.
Tina Brown, 45, leitet seit 20 Jahren nicht
nur Magazine – sie prägt sie. Und sie tut es
mit einer Rücksichtslosigkeit, einer Besessenheit, einer Amoral und einer Brillanz,
die im Zeitalter der Karrierefunktionäre
und Nischenverwalter fast ausgestorben
ist. Sie sieht aus wie eine sanftmütige Lady
Di, aber sie gilt als eiskalter Engel, der,
wenn es darauf ankommt, unwiderstehlich
sein kann mit dem, was Amerikaner „Megawatt-Charme“ nennen. Ein früherer Kollege sagt über sie: „Eine Holly Golightly, in
der sich Margaret Thatcher versteckt“, ein
anderer nennt sie „einen Eisenfuß in Manolo-Blahnik-Pumps“. Tina Brown ist die
bezaubernde Domina des amerikanischen
Zeitschriftengewerbes.
Was sie anpackt, wird umgebaut, bis es
zu ihr passt. Sie ändert das Layout, die
Schreiber, die Haltung – alles muss Tina
sein. „Wer meine Identität nicht leiden
kann, wird auch mein Magazin nicht mögen“, hat sie einmal gesagt. In Tinas Welt
ist ein Editorial nichts anderes als ein Diktatorial.
In ihren Magazinen vermischt sie Huldigungen an Hollywood-Stars mit politischen Hintergrund-Reportagen, stiftet sie
seriöse Schriftsteller dazu an, Pornostars zu
porträtieren, zieht sie die White-Trash-Ikone Roseanne als Ratgeberin für ein Feminismusheft heran, bildet sie den einst unter Mordverdacht stehenden Claus von
Bülow als Dandy in Ledermontur ab,
während dessen Frau im Koma liegt. Tina
Brown gibt sich nicht damit zufrieden, alte
Magazinstrukturen einzureißen, sie zertrümmert die Mauern zwischen Jahrmarkt
und Salon, zwischen Hollywood und
Weißem Haus, was natürlich willkommen
ist in einem Land, wo Präsidenten erst einmal Schauspieler sein müssen.
F. BERRETT / GLOBE PHOTOS
AP
Titelseite von „Talk“, Miramax-Chefs Bob und Harvey Weinstein: Ein Jahr Pulp Fiction
diese dahin wie Museumsstücke. Als
Brown sie führte, wurden sie zum „talk of
the town“. Und als die Zahlen sich schwarz
zu färben drohten, begann Brown sich zu
langweilen – Zeit für die nächste Herausforderung.
Jetzt also „Talk“ – die erste Zeitschrift,
die Tina Brown von Seite 1 bis Seite 254
selbst erfinden musste. Und tatsächlich –
nie sah man die Chefin, assistiert von ihrer
Art-Direktorin Lesley Vinson, unverschämter zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur herumorgeln. Neben langen
Reportagen über Wohnwagensiedlungen
oder eine tödliche Touristenexpedition in
Uganda posiert Hollywood-Engel Gwyneth Paltrow mit Lederbikini und Peitsche;
schreibt Oscar-Gewinner Tom Stoppard
darüber, was es heißt, ein Jude zu sein. Dazwischen natürlich der Scoop – ein intimes Porträt über Hillary Clinton, in dem
diese erstmals darüber spricht, warum sie
trotz der Lewinsky-Affäre bei ihrem Mann
blieb. „Es waren enorme Schmerzen, ein
enormer Ärger, aber ich habe mein halbes
Leben mit ihm verbracht, und er ist ein
sehr, sehr guter Mann.“ Eine Woche bevor
„Talk“ am Kiosk erschien, zierte diese
Story alle Boulevardtitel Amerikas. Bessere Werbung gibt es nicht. Bessere Zeitschriften – wenig. „Talk“ ist rau, direkt und
ziemlich sexy.
Auch die Anzeigen passen: Dom Pérignon, Lancôme, Burberry, Evian. Herausgeber Ronald A. Galotti beschied vorsichtige Kunden, die nur die erste Ausgabe
buchen wollten: entweder die ersten vier
oder gar nicht. Bei einer störrischen Firma
wie Louis Vuitton wurde er deutlicher und
ließ einen Mülleimer voll mit „Vanity Fair“und „New Yorker“-Heften vor die Haustür
stellen. Dazu ein Brief. „Wir haben uns die
Freiheit genommen, den Müll auf Ihrem
Media-Plan ein wenig zu sortieren.“
Wird „Talk“ ein Erfolg, wartet auf Tina
Brown echter Reichtum, erstmals in ihrer
M. CURTIS / DMI (1); D. ALLOCA / DMI (2-4)
Längst lässt Tina Brown nicht mehr nur
über Berühmtheiten, Machtzentralen und
Mythen des modernen, chaotischen und
widersprüchlichen Lebens berichten – sie
hat es inzwischen geschafft, selbst eine Legende zu werden. Tina Brown selbst ist
A-Liste am US-Mythenfirmament. Eine
Marke. So wie King Kong und Hillary Clinton, wie Batman und O. J. Simpson, wie
Kenneth Starr und Coca-Cola. Tina Brown
ist eine Anzeige.
Und das Schönste an dieser Anzeige ist,
dass sie lebt und immer eine Nachricht wert
ist. Die Leute interessieren sich für die Tatsache, dass sie jeden Morgen um 5.30 Uhr
aufsteht und nach nur fünf Stunden Schlaf
den Tag im Fitnessstudio beginnt. Sie wollen wissen, von welchen Designern ihre
dunkelblauen Kostüme entworfen sind. Ist
es Calvin Klein oder Helmut Lang? Sie
klatschen darüber, wenn sie wieder einmal
das Manuskript eines bekannten Schriftstellers wie eine Frisbeescheibe durch die
Redaktion geworfen hat. War es das von
Salman Rushdie oder das von Martin Amis?
Und sie rätseln über die Sitzordnung, die
Tina Brown für ihre Dinnerpartys entwerfen lässt, als wäre sie ein Orakelspruch.
„Carolyn Bessette war die Prinzessin
von New York“, sagt einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter, „Tina ist die Königin.“ Bevor sie mit den Arbeiten zu ihrem neuen
Magazin „Talk“ begann, ging das Gerücht
um, sie, die mit den Clintons und den Blairs
gut befreundet ist, werde die neue britische
Botschafterin in Washington.
Es ist nicht unbedingt der wirtschaftliche
Erfolg, der Tina Brown zur Legende hat
werden lassen. Es sind ihre Hochglanzprovokationen, die im Zeitalter des Fernsehens und des Internet fortwährend in das
urbane Gemurmel hineinrieseln. Bis sie die
Zeitschriften „Tatler“, „Vanity Fair“ und
den „New Yorker“ übernahm, dämmerten
Quentin Tarantino
Demi Moore, Madonna
Kate Moss, Freund
Pierce Brosnan, Freundin
Party-Gäste bei der „Talk“-Premiere in New York: Ein Alcatraz unter der Freiheitsstatue für Schöne, Reiche und Berühmte
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AP
Medien
„Tatler“
„Vanity Fair“
AP
Times“-Chef Harry Evans, TakKarriere arbeitet sie nicht als
tik, sie lernte Kälte, sie lernte,
Angestellte, sondern ist Teilhadass die beste Idee nichts wert ist,
berin, zusammen mit der Filmfirwenn man sie nicht verkaufen
ma Miramax („Shakespeare in
kann, und sie machte „Vanity
Love“) und dem Verlagsgiganten
Fair“ zur meistbeachteten ZeitHearst. „Die Tatsache, dass mir
schriftenneugründung der achtzidas Ganze mitgehören solle, hat
ger Jahre. Noch heute läuft jemich angelockt“, sagt Brown.
der neue „Stern“-Chefredakteur
Viel Ambition – aber für eine
durch die Gänge und sagt, wenn
wie Brown nicht genug. Mit
ihn einer nach seinem Konzept
„Talk“ will sie außerdem Holfragt: „So ein bisschen wie ,Vanilywood erobern und aus ihrer
ty Fair‘.“
Zeitschrift, die sie eine „kulturel- „The New Yorker“
Danach, Anfang der Neunzile Suchmaschine“ nennt, Stoffe Blattmacherin Brown, Objekte: Sitzordnung wie beim Orakel
ger, der „New Yorker“. Wieder
für Bücher, Fernsehsendungen
und Kinofilme herausdestillieren. Aber das genannten Gin-und-Jaguar-Gesellschaft Renovierungsarbeiten, wieder Aufstand,
ließe sich noch steigern. Warum hat ei- auf, ihr Vater produzierte die frühen wieder überstanden. Natürlich auf höchgentlich noch niemand an Vergnügungs- Agatha-Christie-Filme, ihre Mutter endete stem Niveau. 30 Millionen Dollar soll sie im
als Klatschkolumnistin an der spanischen Jahr an Redaktionsbudget ausgegeben haparks gedacht? Wie wär’s mit Tina-Land?
Aber bei aller Liebe zur Synergie – eins Costa del Sol. Tina Brown wollte mehr. Sie ben. Schreiber nahmen die Concorde und
hat Brown gleich klargestellt: Die Chefin suchte den Weg zur Macht, und zwar di- ließen sich per FedEx das Gepäck ins Hodes Magazins ist sie und nur sie. Selbst Mi- rekt. Das fiel sogar dem Vater auf, der sag- tel senden.
Als sie ging, war der Besitzer des Verramax-Chef Harvey Weinstein, sonst als te: „Sie hatte ein Engelsgesicht, und sie
cholerischer Rabauke berüchtigt, der an- war das einzige Mädchen, das einen echten lags Condé Nast, der 71-jährige Si Newgeblich nachts die Filme seiner Regisseure Pelzmantel besaß. Wenn wir eine Party house, einer der reichsten Männer der
eigenhändig umschneidet, musste schon gaben, saß sie am Ende auf dem Schoß des USA, schwer verstört – wissend, dass ihn
die Renovierungsarbeiten seiner geliebversprechen, in Magazindingen den Mund wichtigsten Mannes im ganzen Raum.“
Wahrscheinlich nennt man so etwas In- ten Chefredakteurin zwar rund 150 Milzu halten. Nur im Sport habe er ein Vorschlagsrecht. Ansonsten musste der Mann stinkt, und dieser Instinkt war es, dem sie lionen Dollar gekostet, aber auch das
schwören: „Es gab nur eine Person, die ich treu blieb. 1973 gewann sie sowohl einen Prestige seines Verlages enorm gesteigert
nicht anschrie – meine Mutter. Dasselbe Theater- als auch einen Journalisten-Preis. haben.
Sie hatte Reportagen geschrieben, darNatürlich kam Si Newhouse nicht in diegilt jetzt für Tina.“
Ob sich das Schwergewicht aus Brooklyn über, wie es ist, als Go-go-Girl auf Tischen ser Nacht auf die Insel der Freiheitsstatue.
an solche Sätze morgen noch erinnert, ist in New Jersey zu tanzen oder sich mit Po- Und deshalb endete der Abend so, wie er
natürlich fraglich, aber wenigstens während lizisten in L. A. auf ein Date zu treffen. ausgehen musste: schön kaputt. Als Mader Premierenparty überließ er Tina Brown Der Star ihrer Geschichten hieß stets: Ich. donna schon längst zu Hause war und auf
Mit 25 bekam sie die englische Zeit- dem ablegenden Schiff die Rapperin Queen
schnell die Bühne, von der aus sie sich bei
ihm dafür bedankte, dass sie die letzten schrift „Tatler“, mit 30 das wiederaufge- Latifah und der Regisseur John Waters mit
zwölf Monate seines Lebens in ein einziges legte amerikanische „Vanity Fair“, und die Pocketkameras Erinnerungsfotos voneinPulp Fiction verwandeln durfte. Schließ- New Yorker Gesellschaft tat das, was sie am ander schossen, klang von der Insel der
lich blickte sie traumverloren auf die Frei- besten kann – sie ließ das englische Wun- Hit „I will survive“ herüber, und Tina
heitsstatue und sprach: „Ein großes Sym- derkind gegen verschlossene Türen laufen. Brown stand noch immer unter der Freibol für die Immigranten.“ Sie könne das Wenn sie trotzdem einmal eingeladen wur- heitsstatue.
„New York ist keine Stadt zum Verliebeurteilen. Schließlich sei sie auch einge- de, gaben sich die Leute überrascht. „Kind,
wandert. „Aus London, Anfang der acht- was machst du denn hier – ich dachte, sie ren“, hat sie einmal gesagt, „keine Stadt,
ziger Jahre“, sagt sie. „Mit der Concorde.“ hätten dich schon längst die Toilette hin- wo einem die Energie auch nur für kurze
Zeit fehlen darf. Hätte ich meinen Job nicht
Im Grunde verlief ihr ganzes Leben bis untergespült.“
Tina Brown lernte von ihrem Mann, – ich würde hier abhauen. In weniger als
jetzt in Überschallgeschwindigkeit. Sie
™
wuchs 30 Kilometer von London in der so- dem 25 Jahre älteren ehemaligen „Sunday 20 Minuten.“
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In diesem TV würden, so der RTL-Gründer, die herkömmlichen Kanäle des Pay-TV
verschwinden, die gegen eine monatliche
Abo-Gebühr angeboten werden. „Warum
soll ich mir im Fischer- und Jägerkanal des
Abo-Fernsehens eine Stunde lang eine
Aussöhnung zwischen der
Sendung über den weißen Hai anschauen,
Bertelsmann-Führung und Helmut
wenn ich Forellen fangen möchte“, sagt er.
Thoma: Der Ex-RTL-Chef
Sein Ausweg: Am Computer oder am Fernbekommt neue Aufgaben – und
seher das Stichwort „Forelle“ anklicken
und alle Informationen sofort abrufen.
verzichtet auf Schmähkritik.
Im neuen Job hat es Thoma wieder mit
seinem alten Sender RTL zu tun – Reibung
eden Abend klickt sich Helmut Thoma,
nicht ausgeschlossen. Als eine Art Sonder60, neuerdings ins Internet. Der
botschafter soll er nun die RTL-Prolangjährige Chef des TV-Senders RTL
grammschätze sowie die Inhalte der Konliest seit kurzem per Computer die Tageszernzeitschriften – von „Stern“ bis „Geo“
zeitungen vom nächsten Tag, am liebsten
– fürs neue Fernsehen bergen.
die aus seiner österreichischen Heimat. Er
Dabei kooperiert er künftig mit dem
sei ein „Spätberufener“, sagt er.
Multimediamanager und Middelhoff-VerGrund der neuen Leidenschaft ist eine
trauten Bernd Schiphorst. Der lässt in eiAbmachung zwischen dem Bertelsmannnem Bürohochhaus an der Hamburger
Konzern und dem offenherzigen Wiener.
Reeperbahn schon mal die Anwendungen
Vor drei Wochen traf sich Thoma im Güdes neuen Fernsehens vorführen. Die wurtersloher Hauptquartier mit Vorstandschef
den entwickelt von einer eigens gegründeThomas Middelhoff, TV-Vorstand Michael
ten „Broadband Group“, in der auch ThoDornemann und Fernsehmanager Rolf
ma-Sohn Harald mitwirkt.
Schmidt-Holtz. Am Ende war sich die RunDer Aufgabenwechsel zum Ende der
de einig: Der Profi soll als Berater für neue
Karriere verschafft Thoma neue Posten. So
Formen des Fernsehens, die mit dem Inwird er bald Aufsichtsrat der Berliner Multernet verbunden sind, aktiv werden.
timediaagentur Pixelpark. Die Firma, die
„Wir wollen auf das Know-how von
unter anderem für die Technik des InterHerrn Thoma nicht verzichten“, sagt eine
net-TV zuständig ist, will Bertelsmann im
Sprecherin. Es gebe Gespräche über „einiOktober an die Börse bringen.
ge konkrete Projekte“. Dafür behält der
Nebenbei ist Thoma noch Aufseher der
Ex-RTL-Boss die konzernüblichen InsiTelefonfirma Mobilcom, der TV-Produktignien der Macht – Geld, Großbüro und Posonsfirma Typhoon, des Kochbücher-Verlags
ten. Der Friedensschluss bedeutet auch,
Vemag sowie Beirat des Versidass Thoma künftig auf öffentlicherungskonzerns Axa Colonia
che Schmähkritik verzichtet, die
und Vorstand der theaterwissenvor allem seinen Nachfolger,
schaftlichen Sammlung Schloss
RTL-Chef Gerhard Zeiler, und
Wahn – „ein kleiner Gemischtimmer wieder auch Fernsehvorwarenhandel“, sagt er selbst.
stand Dornemann genervt hatte.
Ein bisschen wird er sich wohl
Der Konzern-Stratege hatte
konsolidieren müssen. Denn für
ihn vorzeitig aus dem Sender
zwei Tage pro Woche ist er auch
bugsiert. Frustriert registrierte
noch bei seinem Freund, dem
der alte Patron Thoma, dass sein
nordrhein-westfälischen MinisRat nicht mehr gefragt war. Die
terpräsidenten Wolfgang CleFolge: Er trat auch als Chef des
ment, als honorarfreier Berater
Gesellschafterbeirats von RTL
im Wort. In seinem vollverglasab und gab fortan böse Interten Büro im elften Stock der
views.
Düsseldorfer Staatskanzlei, diIm Wiener Magazin „News“
rekt über dem Kabinettssaal, arkrittelte er, Zeiler führe den
beitet der NRW-MedienbeaufSender wie ein „Polit-Sekretär“,
tragte an guten Kontakten zu
er sei nicht ansprechbar und
den US-Medienmultis.
lade sich zu viel auf. In der
Nächsten Monat reist Thoma
ARD-Talkshow von Reinhold
wieder in die USA, dann trägt er
Beckmann beantwortete er die
die Wünsche von Clement vor –
Frage, ob Zeiler nur ein „besseund fahndet für die Bertelsrer Abteilungsleiter“ sei: „Oa
männer nach Filmhits fürs Abbesserer is’ dös net.“
ruf-Fernsehen.
Bei Bertelsmann schüttelten
Die Kritik am Digital-TV und
viele den Kopf über die Rempe„denen in Gütersloh“ ist für
leien ihres prominentesten Beihn Historie. Der neue Helmut
raters, der bis Ende 2004 imThoma: „Das ist Schnee von
merhin rund 1,5 Millionen Mark
gestern, das habe ich gestripro Jahr von der Konzern-TVchen.“
Tochter CLT-Ufa erhält. Dass Internet-Berater Thoma: Sonderbotschafter im Konzern
Hans-Jürgen Jakobs
INTERNET
Stichwort Forelle
J
auch Dornemann immer wieder zur Zielscheibe der Thoma-Kritik wurde, wollte
die Konzernzentrale nicht hinnehmen.
Dornemanns Pläne im Pay-TV nannte
Thoma noch als RTL-Chef „digitalen Rinderwahnsinn“. In Gütersloh, monierte er
oft, würden Kreative wie er missachtet.
Und dass der TV-Vorstand seiner Meinung
nach vom Fernsehen wenig verstehe,
gehörte ebenfalls zum Standardrepertoire.
Dornemann rächte sich, indem er seinen
Hauptkritiker links liegen ließ.
Die Zeit der Fouls soll nun vorbei sein.
Thoma gibt in Kürze sein Büro bei RTL
auf und bezieht ein neues im Stadtzentrum von Köln.
Wieder einmal fühlt er sich als Geburtshelfer – so wie 1984, als der Jurist aus Wien
in der Luxemburger Provinz das damalige
Garagenfernsehen RTL startete. Er habe
„schon mal bewiesen, wie man mit den
richtigen Stoffen zum Zuschauer kommt“,
sagt er, „ein ähnlicher Durchbruch ist erneut zu schaffen“.
Der frisch gebackene Internet-Prophet
sieht zwei Sorten von TV: das herkömmliche „Einschaltfernsehen“ mit Sendern
wie ARD, RTL oder Pro Sieben, bei denen
TV-Macher eine Vorauswahl fürs Publikum
treffen, sowie das „Bestellfernsehen“ mit
dem Zuschauer als Souverän. Dabei sollen
die TV-Gucker über spezielle Zusatzgeräte
aktuelle Spielfilme, einzelne Folgen ihrer
Lieblingsserien oder auch etwa Musiktitel
nach ihrer Wahl abrufen. Dieses System
entwickele sich in sechs Jahren zu einem
neuen Massenmarkt, glaubt Thoma.
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Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
Szene
FOTOGRAFIE
Rollenspiel mit Mutter
Der Berliner Fotograf Ingo Taubhorn,
41, über seine Serie „Die Kleider
meiner Mutter“
I. TAUBHORN
jahrelang in den Kleidern Ihrer Mutter
fotografiert, um deren Alltag zu dokumentieren. Was hat Sie dazu bewogen?
Taubhorn: Ich wollte mich respektvoll
und zugleich ironisch mit der Identität
meiner Mutter beschäftigen.
SPIEGEL: Hat Ihre Mutter die Arbeit
unterstützt?
Taubhorn: Sie war es, die die Kleiderkombination zusammenstellte. Darüber
hinaus hat sie die für sie typischen
Gesten vorgeführt und erläutert.
SPIEGEL: Sie bezeichnen
Ihre Bilder-Serie als einen
Versuch, sich mit Ihrer
kleinbürgerlichen Herkunft auseinander zu setzen. Ist der Versuch gelungen?
Taubhorn: Auf jeden Fall.
Mit Kleinbürgerlichkeit
assoziiert man Intoleranz,
Taubhorn
Spießigkeit, sexuelle Verklemmtheit. Wenn sich ein Sohn nun als
seine Mutter präsentiert, kehrt das die
negativen Attribute ins Gegenteil. Der
Betrachter der Bilder begreift, dass er
es mit einer Familie zu tun hat, die über
sich lachen kann.
SPIEGEL: Wollten Sie sich mit dieser
Arbeit aus Ihrem Milieu befreien?
Taubhorn: Ich wollte das Rollenspiel. Ich
leugne meine Herkunft nicht, aber ich
beschönige sie auch nicht. Zu der monumentalen Schrankwand, der Sitzecke
oder dem Kupferstich, alles Dinge im
Leben meiner Mutter, habe ich die
größtmögliche Distanz. Aber kaputtschlagen muss ich diese Dinge auch
wieder nicht.
D. KRÜLL / LAIF
SPIEGEL: Herr Taubhorn, Sie haben sich
Huber, Leder vor ihrer Installation; prämiertes Modell
MODE
London in Loden
L
oden hat Tradition. Schon die Wikinger sollen ihn hergestellt haben,
seit dem Mittelalter kleidet er vornehmlich Alpenbewohner. Manchen
Menschen fällt bei seinem Anblick Edmund Stoiber ein. Mit der Londoner
Mode-Avantgarde bringt man Loden
eher nicht in Verbindung. Das müsse
geändert werden, entschied der Salzburger Bekleidungshersteller Alfons
Schneider, 62. Anfang des Jahres übergab er den Studenten des Londoner
Central St. Martins College of Art and
Design mehrere Ballen und den Auftrag,
REISEN
Sandflöhe am
Traumstrand
rlauber mit Erfahrung misstrauen
Hochglanz-Reiseprospekten. Häufig ist die Hotelbeschreibung geschönt,
die Fotos lügen den Himmel zu blau
und den Strand zu sauber. Abhilfe bietet eine Internetseite, die Erfahrungen
von Reisenden veröffentlicht. Globetrotter können hier das elektronische
Pendant zum Dia-Abend inszenieren.
H. SCHWARZBACH / ARGUS
U
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Auch wer zu Hause bleiben muss, lernt
was dazu. Etwa dass die vermeintlichen
Traumstrände im Norden Madagaskars
sandflohverseucht sind und dass die 19
Gorillas in ihrem neuen Domizil mitten
in der New Yorker Bronx sich guter Gesundheit erfreuen. Das kostenlose Forum soll sich in Zukunft über Werbeeinnahmen finanzieren. Harry Weiland, 33,
Projektleiter des Angebots, formuliert
die Geschäftsidee so: „Alle reden vom
Reisen, aber nur wer vor Ort war, hat
was zu sagen.“
www.cabana.net
Urlauber auf Mallorca
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„Loden zeitgenössisch zu interpretieren“. 30 Entwürfe wurden letzte Woche
auf der Düsseldorfer Modemesse ausgestellt, die ambitionierte Installation
unter dem Motto „Beamtentum und
Jagd“ erdachten die Studenten Alexander Huber, 29, und Frank Leder, 25. Der
bisher eher für klassischen Landhausstil
bekannte Initiator Schneider ist vom
„Feuerwerk an Ideen“ begeistert. Demnächst zieren die Modelle sein Salzburger Stammhaus, und der Kontakt zu den
Londonern wird noch verstärkt – als
„Investition in die Zukunft“.
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Gesellschaft
PÄ DA G O G I K
Wenn die Kleinen „nö“ sagen
Nie war sie so wichtig wie heute: Erziehung. „Triple P“ heißt ein in Australien erprobtes Trainingsprogramm, das nun in Deutschland eingeführt werden soll. Es gibt gestressten Eltern
eine Orientierung – denn sie schwanken allzu oft zwischen Drill und Schmusekurs hin und her.
Kinder in der Grundschule mit Lehrerinnen: „Ordnung und Disziplin sind üble, reaktionär belegte Begriffe und gleichzeitig wichtig im
E
ltern produzieren sie, ohne Risiken
und Nebenwirkungen zu bedenken,
und nach neun Monaten werden
sie frei Haus geliefert – ohne Gebrauchsanweisung. Dann sind sie da, die süßen
Kleinen. Manchmal dürfen sie mit ins Restaurant, wo sie sich, unbeeindruckt von
sämtlichen Ermahnungen, mit Pommes
bewerfen, den Kellnern die Zunge herausstrecken, vor Vergnügen kreischen. Andere
Restaurantbesucher, vornehmlich solche
ohne Kinder, erteilen Ratschläge aller Art,
und je mehr davon sie zum Besten geben,
desto weniger kann man sie leiden, diese
Klugscheißer.
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„Wenn Paare Kinder bekommen, sind
sie nicht automatisch Experten in Sachen
Erziehung“, sagt Professor Kurt Hahlweg
vom Institut für Psychologie der Technischen Universität Braunschweig.
Die Braunschweigerin Brigitte Oppermann, 37, Mutter von Helen, 5, und Niko,
7, interessiert sich schon lange für die Frage, ob und wie sich Erziehungsverhalten
optimieren lässt. Sie nahm an einem Trainingsprogramm für entnervte Eltern teil,
das die Christoph-Dornier-Stiftung zusammen mit der Technischen Universität
Braunschweig jetzt in Deutschland einführt. „Triple P“ (Positive Parenting Prod e r
s p i e g e l
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gram) heißt das in Australien entwickelte
Elterntraining, das seit kurzem auch von
den stiftungseigenen Instituten in Dresden,
Marburg und Münster angeboten wird.
Zwölf Jahre forschte die Arbeitsgruppe
um den Psychologen Matt Sanders an der
Universität von Queensland, Australien, in
enger Zusammenarbeit mit Familien. Das
Ziel war, praxisnahe, pragmatische Erziehungshilfen zu finden für die Situationen,
die den alltäglichen Elternnotstand bestimmen: nächtliches Schreien, Wut- und
Trotzanfälle, Schlagen anderer Kinder, Ungehorsam, Einschlafprobleme. Auch bei
fortgesetztem Bettnässen, Schulschwierig-
mit viel Lob und positiver Verstärkung,
aber auch mit klaren „Strafen“ bei Ungehorsam und Wutanfällen.
Eine Chance, das Programm auch in
Deutschland zu verbreiten, besteht nur,
wenn etliche Erzieher, Lehrer, Kinderärzte, Psychologen und Pädagogen an speziellen Ausbildungskursen teilnehmen und
ihre Kenntnisse dann weitergeben.
Hahlweg findet ein Elterntraining unerlässlich, denn schnell wüchsen sich kindliche Macken zum Terror für die ganze
Familie aus. Tatsächlich ist der Bedarf an
Beratung groß: Fast zwei Millionen Alleinerziehende mühen sich um die richtige
SÜDD. VERLAG
K. ZIMMERMANN / ACTION PRESS
Zusammenleben“
gut genug, um den Charakter eines Kindes zu formen“, schrieb
Neill. Einer Generation, die auf
zwei Weltkriege zurückschaue
und dennoch drauf und dran sei,
einen dritten vom Zaun zu brechen, dürfe man nicht mal „die
Charakterbildung einer Ratte“ anvertrauen.
Neills optimistische Empfehlung
lief mehr oder weniger darauf hinaus, seine Kinder zu lieben, zu respektieren, nicht zu verprügeln und
Teenager-Clique: „Erziehung ist ein Handel“
ohne rüde Disziplinierung gedeiMischung aus Strenge und Nachsicht, rund hen zu lassen. Die für ein Zusammenleben
15 Prozent aller deutschen Kinder leben unerlässliche Disziplin würden sich die
unter der Armutsgrenze – ein Umstand, lieben Kleinen selber beibringen, „Selbstder Erziehung sicher erschwert.
regulierung“ nannte Neill das. Die entBereits ein Viertel aller Kindergarten- sprechenden Experimente überforderten
kinder von drei bis sechs Jahren zeigt Ver- Eltern und Kinder und endeten nicht selten
haltensauffälligkeiten wie Aggressivität, mit Nervenzusammenbrüchen und chroniKonzentrationsprobleme sowie Ängstlich- scher Erschöpfung.
keit. Das ergab eine Kindergartenstudie
„Ordnung und Disziplin sind üble, reder Dornier-Stiftung und der Stadt Braun- aktionär belegte Begriffe und gleichzeitig
schweig. Und kindliches Fehlverhalten wichtig im Zusammenleben“, sagt der
wachse sich nicht einfach irgendwie aus, so Münchner Schriftsteller Joseph von WestHahlweg, sondern chronifiziere sich – bis phalen, „setzen Sie dieses Paradoxon mal
hin zur Kriminalität. Auch der Berufsver- in einem fortschrittlichen Haushalt durch.“
band der Ärzte für Kinder- und Jugend- Von Westphalen, Vater zweier Kinder, hat
psychiatrie schätzt die Zahl der „Pro- gerade den amüsanten Ratgeber „Wie man
blemkinder“ auf rund eine Million. Die Er- seine Eltern erzieht“ veröffentlicht, der
ziehungskompetenz der Eltern ist nicht be- entnervten Teenagern beibringt, die jeweisonders ausgeprägt, wie 2419 Opfer von ligen Erzeuger auf Vordermann zu brinKindesmisshandlung (36 davon mit Todes- gen. Eine der Erkenntnisse von Westphafolge) im letzten Jahr zeigen. Immer mehr lens: „Erziehung ist ein Handel.“
Kinder werden straffällig, die Zahl der TatKardinalfehler der heutigen Elterngeneverdächtigen unter 14 Jahren stieg im ver- ration sei der Hü-und-hott-Erziehungsgangenen Jahr um 5,9 Prozent auf rund stil, der zwischen Strenge und Nachgie150 000.
bigkeit schwanke, sagt auch Jugendforscher
Früher wurden Kinder mit dem Rohr- Klaus Hurrelmann, der an der Universität
stock verprügelt oder weggesperrt, wenn Bielefeld unterrichtet. „Wankelpädagogik“
sie nicht spurten, dieses Verfahren wurde nennt die Schweizer Jugendpsychologin
als „schwarze Pädagogik“ diskreditiert und und Buchautorin Eva Zeltner elterliche
in den bewegten sechziger Jahren von der Unentschiedenheit. „Das Geheimnis erantiautoritären Erziehung abgelöst, als de- folgreicher Erziehung besteht in einer
ren Gründer der Schotte Alexander gewissen Konsequenz, die Klarheit verSutherland Neill gilt. „Keiner ist weise oder mittelt.“ Genau das will Triple P, so Hahlweg, der davon überzeugt ist, dass das
Programm vielen Eltern eine Orientierung gibt. Hahlweg: „Die meisten Eltern
wurschteln sich halt so durch, sind mal
konsequent und mal nicht.“
Mutter Oppermann etwa wollte, dass
Helen, 5, lernt, ihr Zimmer aufzuräumen.
Helen sagte „nö“, bis ihre Mutter eine Karte in ihrem Zimmer aufhängte, auf der
nach jedem erfolgreichen Aufräumen ein
lustiger Aufkleber gepappt wurde. Helen
räumte auf. Nach zehnmal Zimmeraufräumen gibt es eine Belohnung für Helen, etwas, was sie sich dringend wünscht, etwa
Kuchen backen mit ihrer Mutter oder ein
Zoobesuch mit ihrem Vater.
Auch wird Helen, sollte sie einen ihrer
beeindruckenden Schreianfälle bekommen, zwei Minuten auf einen Stuhl gesetzt,
um sich „runterzukühlen“, wie ihre Mutter sagt. Helen wird in dieser Zeit ignoErziehungsmittel Prügelstrafe (1873)
riert. Anfangs sei ihr die Maßnahme „Stil„Große Entschiedenheit“
B. GEILERT / G.A.F.F.
keiten, Ängsten oder Aggressionen verspricht das Konzept Hilfe.
Triple P ist ein umfangreiches Programm, das die verschiedenen Entwicklungsphasen der Kinder berücksichtigt. Die
Überlebenshilfe für Eltern ist nicht neu,
wurde aber noch nie so konsequent ausgearbeitet: eine kompakte Lektion in Form
von Videokassetten, Broschüren, Einzeloder Gruppentraining bis hin zu intensiven
Familientherapien. Wichtigster Grundsatz:
Konsequenz. Um sie zu erreichen, müssen
sich die Eltern einig sein. Triple P arbeitet
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Gesellschaft
MODE
Letzter Kick: schwuler Schick
Von Wolfgang Joop
100
D
käufer in der Boutique besser als mit ihrer
Partnerin.
Trotzdem sind alle Versuche zur politischen Emanzipation von Homosexuellen
bisher gescheitert. An der gesellschaftlichen Außenseiterrolle konnten weder die
Menschenrechte etwas ändern noch die
nahe liegende Erkenntnis, dass auch gleichgeschlechtliche Liebe gott- oder naturgewollt ist. Der englische Schauspieler und
Schriftsteller Stephen Fry glaubt sogar, dass
es nur die Liebe sei, die die Heteros den
Homos neiden. Eine Liebe ist wohl gemeint, die sich über Konventionen und Erziehung hinwegsetzt.
Der Trend der Mode – diese einzig noch
echte, weil schnelle gesellschaftliche Bewegung – ebnet nun alle Unterschiede wenigstens optisch ein. Das weiche, feminine
Gesicht bei Männern und Frauen ist das
„image du jour“, so das US-Blatt „Harper’s Bazaar“. Ultrafemininität bestimmt
das Erscheinungsbild der Mode- und Popszene.
Teenager-Popstars wie die Hanson-Brüder und Schauspieler wie Brad Pitt, Gwyneth Paltrow, Winona Ryder und Leonardo DiCaprio spiegeln die gesellschaftliche
Obsession, unschuldig-jung aussehen zu
Vivienne-Westwood-Top
Vivienne-Westwood-Rock
N. McINERNEY
as britische Magazin „The Face“
fragte jüngst in seiner Titelzeile:
„Wish you were queer?“, übersetzt
ungefähr: „Wärst du gern schwul?“ Weiter
hieß es: „Bist du schwul? Etwa nicht? Jeder ist es!“
Fehlt einem heutzutage die Neigung
zum eigenen Geschlecht, muss man wohl
ein Elternteil oder zumindest seinen Psychoanalytiker konsultieren: Schwulsein ist
plötzlich keine Angelegenheit sexueller
Orientierung mehr, es ist ein beneidenswerter Vorzug oder, wie Pastor Fliege es
anlässlich des Christopher Street Days
politically correct äußerte: „eine Gabe“.
Drehbücher für Filme und Seifenopern haben kaum noch eine Chance ohne Lesbenoder Schwulenauftritte.
Heterosexuelle Akteure brillieren in
gleichgeschlechtlichen Kuss-Szenen, können als „Drag-Queens“ ohne Übung auf
Stilettos trippeln und gestatten ihrer lange
versteckten femininen Seite unbeschwert
Auslauf. Schon lange hatten Heteros
Homos im Verdacht, mehr Spaß zu haben:
Heißt „gay“ doch übersetzt so was
wie „fröhlich“. Millionen von Männern
verstehen sich heute mit ihrem Friseur,
ihrem Fitness-Trainer oder ihrem Ver-
C. MOORE
W. BARTSCH
ler Stuhl“ schwer gefallen, so Oppermann,
„ich dachte, ich sei zu hart“.
Ihr schlechtes Gewissen schwand in dem
Maße, in dem Helen sich mit den verschiedenen Belobigungs- und Bestrafungsmaßnahmen anfreundete und aus Wutund Trotzanfällen „viel schneller herauskam“, wie ihre Mutter beobachtete.
Auch das Braunschweiger Ehepaar Krieger nahm an dem Elterntraining teil, weil
es seine drei Kinder „ohne ständige Brüllerei“ mit Erfolg erziehen wollen. Schauen die Kinder verbotenerweise fern, gibt
es eine Woche Fernsehverbot, für alle.
Manscht Mark, 6, mit den Fingern im
Essen herum und schaut dabei träumerisch
in die Gegend, ermutigt und verstärkt die
Mutter jede Geste, die
zu der Hoffnung Anlass
gibt, er werde nun doch
einen Bissen zu sich
nehmen. Nimmt Mark
die Gabel in die Hand,
fängt Sonja Krieger an
zu loben, isst Sven drei
Bissen schnell und zügig, lobt sie weiter. Die
Reaktionen ihres verträumten Kindes seien
verblüffend positiv. Krügers Bilanz: weniger
Motzerei, weniger Ärger
Hahlweg
bei Tisch und eine sehr
viel geregeltere Nahrungsaufnahme als
bisher.
Wie wenig sie ihre Kinder gelobt hätte
und wie wenig sie mit ihnen spielte und
kuschelte, sei ihr erst durch das Programm
klar geworden, sagt Krieger. Insgesamt
seien die Kinder viel ausgeglichener, und
die ganze Familie sei stärker zusammengerückt.
Es sei ein gefährlicher Gedanke, sagt
Psychologin Zeltner, „Grenzsetzung mit
Liebesentzug zu verwechseln. Kinder müssen lernen, dass sie nicht alles erreichen –
und deshalb trotzdem geliebt werden“.
Kinder sind nicht die Kumpel ihrer Eltern,
sie sind keineswegs immer teamfähig,
manchmal buhlen sie mit renitentem Geschrei um Aufmerksamkeit, manchmal trödeln sie herum, manchmal verprügeln sie
andere Kinder. Eltern können nicht jede
ihrer Forderungen endlos debattieren.
„Früher hab’ ich viel zu viel geredet und
herumargumentiert“, sagt Frau Oppermann, „heute handle ich schneller und mit
großer Entschiedenheit.“ Dass ihr dabei
auch mal Fehler unterlaufen, nimmt sie
sich nicht mehr so übel. Eltern müssen weg
von dauernden Schuldgefühlen – auch das
lehrt Triple P.
In Australien lief das Überlebenstraining
für Eltern als Serie im Fernsehen sehr erfolgreich. Hahlweg sucht nun auch in
Deutschland nach einem Sender. Denn via
Bildschirm, sagt Hahlweg, „könnte sich das
Ratgeberprogramm am schnellsten verbreiten“.
Angela Gatterburg
Feminine Männer-Mode: Dem Macho die Potenz genommen
d e r
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wollen. Das Phänomen hat bereits einen
Namen: „Pretty Principle“. Vergessen ist
der aggressive, athletische Look der achtziger Jahre, in denen der Schwule deutlich
männlicher aussah als der Hetero. Die Kopie und Travestie des Macho-Mannes nahmen dem Original die letzte Potenz. Nur
noch schwule Porno-Stars benötigen unbedingt drei unerlässliche Attribute: „Den
Blick der Verheißung, den Körper zum
Träumen und den Schwanz, der Angst
macht“ (Vox – „Wahre Liebe“).
Nach dem Willen der Modedesigner
trägt man im nächsten Winter Pelze über
nackter und möglichst schmaler Brust
(Gucci). Dazu bestickte Hosen oder gar
anmutige Herrenröcke (Comme des
Garçons). Ja, richtig gelesen: Röcke für
Männer, da die Damen längst die Hosen
anhaben. Und im nächsten Sommer geht
nichts mehr außer Haus, was nicht glitzert
oder glänzt.
Heimlich beneideten die Männer die
Frauen schon lange um ihre Kosmetika,
ihre Haartönungen, ihren Schmuck – und
sogar um ihr Vorrecht auf die Menopause,
diese geheimnisvolle Lebenssituation, in
der man so richtig unberechenbar sein
darf: Man darf Launen haben, durchbrennen, durchdrehen und das Leben oder
den Look radikal ändern. Masken und
Verkleidungen zu tragen ist heute gängige Alltagskunst, die einfach jeder beherrschen muss: schillernde Illusion gegen öde
Realität.
Ist sie vorbei, die Angst der Schwulen
vor den Heteros? Oder kehrt sich die Situation sogar um? Boy George, androgyner Popsänger vom Culture Club, gesteht:
„Ich bin ein Hetero-Hag (Hag = Anmacher). Ich pfeife Männern hinterher, ich bin
ein schwuler Chauvinist.“
Auf Love- und Gay-Pride-Paraden feiert
eine ganze Gesellschaft ein homogenes Coming-out. Erwachsene benehmen sich kollektiv wie hysterische Teenager. Der Grund
der fröhlichen Übertreibung mag in der
Wehmut liegen – so vermutet das haupt-
E. MULHOLLAND
Ist der Schwule das neue
gesellschaftliche Schoßhündchen,
das ultimative Party-Mitbringsel?
José-Castro-Rodríguez-Jacke
d e r
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sächlich für Schwule geschriebene Magazin
„Attitude“, dass die bittersüßen Romanzen, die den Hetero-Teens so selbstverständlich sind, den Homos von den Eltern
und der Gesellschaft verwehrt geblieben
sind. Gleichgeschlechtliche Sexualität überfällt den Heranwachsenden ohne Vorwarnung und Vorbild.
Der Umgang mit den Waffen der Schwulen will allerdings gelernt sein: Es braucht
dazu eine scharfe Zunge und Schlagfertigkeit, modisches Bewusstsein und körperliche
Selbstkontrolle. Dazu kommen eine neue
politische Wachsamkeit und das Machtgefühl einer solidarischen Minderheit.
„Die diesjährige Supernova in Sachen
Sex ist schwules Selbstbewusstsein“, behauptet „The Face“. Womit endlich der
letzte Schritt „in die Homosexualisierung
der britischen Kultur“ getan sei. Ist der
Schwule das neue gesellschaftliche Schoßhündchen, das ultimative Party-Mitbringsel? In Klischees steckt immer Wahrheit.
Für Konservative heißt es wachsam sein!
Längst schon findet man Homosexuelle
in allen Berufsgruppen und nicht nur in
der Haute Couture, unter Friseuren und
Floristen.
Doch Mitläufer sollten sich Schwulsein
nicht so einfach vorstellen. Ein Leserbriefschreiber erklärte im britischen LifestyleMagazin „Attitude“, drei Eigenschaften
seien fürs glückliche Schwulsein Voraussetzung: Brillanz, viel Sex und immer im
Mittelpunkt stehen – selbst bei der Geburtstagsparty anderer Leute.
Das gelingt nur, wenn vor dem Spaß der
Schmerz kommt: Sit-ups, Push-ups, Piercing, Prada!
™
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Ausland
Panorama
EU-KOMMISSION
J. WALKER / GAMMA /STUDIO X (g.): SIPA PRESS (k.)
Trostpflaster für
die Union
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er deutsche Nato-Botschafter in
Brüssel, Joachim Bitterlich, 51,
möchte gern Generalsekretär der EUKommission und damit Nachfolger des
amtierenden Niederländers Carlo Trojan werden. In Brüssel gilt es als wahrscheinlich, dass der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi sich
nach seiner formellen Wahl im September von Trojan trennen wird, um einen
klaren Schnitt zur alten, kollektiv
zurückgetretenen Santer-Kommission
zu machen. Die Chancen des ehemaligen außenpolitischen Beraters von Bundeskanzler Helmut Kohl, Trojan zu beerben, stehen nicht schlecht. Prodi hat
keine Einwände gegen den CDU-Mann.
Außenminister Joschka Fischer hatte
Bitterlich, nachdem der wenige Monate
auf dem Nato-Posten amtierte, überraschend die Absetzung im Rahmen einer
größeren Personalrochade angekündigt.
Bitterlich lehnte es jedoch ab, Botschafter in Tokio oder Madrid zu werden. Er
will in Brüssel bleiben. Der Posten des
EU-Generalsekretärs würde zur beruflichen Vita Bitterlichs passen. Zudem
sind die Deutschen beim Postenschacher in der EU in letzter Zeit nicht gut
bedient worden. Auch die CDU-Mitgliedschaft muss Bitterlich keineswegs
PKK-Demonstration, inhaftierter Öcalan (r.)
TÜRKEI
Nationalisten gegen
Kurden-Kompromiss
M. DARCHINGER
M
Bitterlich, Kohl
schaden. Durch die Benennung von
zwei Koalitionspolitikern als EU-Kommissare hat Bundeskanzler Gerhard
Schröder die bei der Europawahl siegreichen Konservativen verprellt. Prodi
muss sich seitdem mit dem Vorwurf plagen, seine Kommission sei politisch unausgewogen komponiert. Mit der Bestallung Bitterlichs als EU-Generalsekretär könnte Schröder die CDU/CSUMitglieder des Europaparlaments besänftigen und Prodi die Anhörungen im
Parlament Anfang September leichter
machen.
it einer neuen Serie antikurdischer Maßnahmen reagiert das nationalistische
Establishment Ankaras auf die jüngsten Friedensaufrufe Abdullah Öcalans und
die Bereitschaft der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zum Rückzug „hinter die
Grenzen“. Dem Abgeordneten Mehmet Fuat Firat von der islamistischen TugendPartei (FP) wurde vorigen Donnerstag untersagt, Kurdisch als seine dritte Fremdsprache in die Homepage des türkischen Parlaments einzutragen. Das Kurdische sei
„keine Sprache, sondern nur ein Dialekt, ein Akzent“, wetterte ein Abgeordneter
der ultrarechten Regierungspartei MHP. Auch Harold Koh, Unterstaatssekretär im
US-Außenministerium, wird seit Tagen scharf attackiert. Koh hatte vergangene
Woche den türkischen Südosten bereist, um die Menschenrechtssituation im Krisengebiet zu prüfen. Der links-nationalistische Politiker Ali Kar≠ilayan empfahl, Koh
solle „schleunigst des Landes verwiesen werden“. Die türkischen Sicherheitsbehörden rechnen damit, dass Kader der PKK sich in den kommenden Monaten
vermehrt ins europäische Ausland absetzen werden, weil die traditionellen Rückzugsbasen im Nordirak und in Iran keine sichere Zuflucht mehr bieten. Syrien, wo
Öcalan bis zu seiner Flucht im vergangenen Oktober sein Hauptquartier hatte, begegnet der PKK inzwischen mit offener Feindseligkeit. Der türkische Generalstab,
das Innenministerium und der Geheimdienst MIT erwarten deshalb einen Abzug
der PKK-Kämpfer über den griechischen Teil Zyperns in die europäischen Nachbarländer der Türkei, vor allem nach Griechenland und Rumänien.
nach
DEUTSCHLAND
Fluchtziel Europa
RUMÄNIEN
JUGOSLAWIEN
ASERBAIDSCHAN
Schwarzes Meer
ARMENIEN
Istanbul
ITALIEN
GRIECHENLAND
TÜRKEI
Kurdische
Siedlungsgebiete
IRAN
Athen
SYRIEN
Mittelmeer
Larnaka
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IRAK
200 km
103
Panorama
G R O S S B R I TA N N I E N
300 km
Tierische Erleichterung
SIMBABWE
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Atla
egen Weniges haben die Briten
höhere Barrikaden errichtet als gegen die Gefahren, die von jenseits des
Kanals drohen: Tollwut, Rechtsverkehr
und Sozialismus. Jetzt soll, fast 100 Jahre nach ihrem Aufbau, eine dieser
Schranken fallen. Vom 1. Januar an, so
sieht es ein Pilotprojekt vor, werden
britische Haustiere, die auf dem Autoreisezug durch den Kanaltunnel zurückkehren, nicht mehr für sechs Monate in
Zwangsquarantäne eingewiesen. Die
vorsichtige Öffnung gegenüber dem
praktisch tollwutfreien Kontinent sowie
den ehemaligen Kolonien Australien
und Neuseeland war durch den Protest
prominenter Briten erzwungen worden,
die sich nicht von ihren Lieblingen trennen wollten. Gleichwohl ist die neue
Reisefreiheit noch immer an beachtliche Hürden gebunden. Für ausreisende
Tiere werden zur Identifikation ein Mikrochip-Implantat Pflicht sowie ein
Pass, der alle vorgenommenen Impfungen nachweist. Obligatorisch ist auch
ein Bluttest vor Verlassen der Insel, der
belegt, dass die Tollwutimpfung wirksam ist. 24 bis 48 Stunden vor der Rückkehr müssen die Tiere von staatlich zugelassenen Veterinären im Ausland eine
Wurm- und Zeckenbehandlung erhalten. Der Aufwand wird etwa 200 Pfund
kosten, ein Zehntel dessen, was für die
Quarantäne zu zahlen war. Bewähren
sich die neuen Vorschriften, sollen sie
bis April 2001 schrittweise ausgeweitet
werden – auch auf Tiere von Ausländern. Dann droht die Zwangseinweisung nur bei der Einreise aus Ländern
wie Kanada oder den USA, wo noch
Tollwut auftritt.
n
Windhuk
CapriviZipfel
BO T SWAN A
SÜDAFRIKA
Gewaltsame
Abspaltung
S
eparatisten sorgen für Unruhe in einem der bislang stabilsten Länder
Afrikas. Bewaffnete Aufständische fielen
in der Nacht zum vergangenen Montag in
Katima Mulilo ein, der Hauptstadt der
namibischen Caprivi-Region. Sie fordern
die Unabhängigkeit des schmalen, 450
NAHOST
„Wir verhandeln nicht
über den Golan“
Der syrische Informationsminister Mohammed
Salman, 54, über die
Chancen eines Friedens
mit dem Erzfeind Israel
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104
N AMI B I A
NAMIBIA
T. MELVILLE / PA
Tierschutzbeamtin, Mikrochip-Lesegerät
SAMB I A
Katima Mulilo
AN G O L A
SPIEGEL: Nach seinen
jüngsten Äußerungen
scheint Israels RegieSalman
rungschef Ehud Barak
bereit, mit Damaskus Frieden zu schließen. Wann beginnen die Verhandlungen?
Salman: Ihre Wiederaufnahme ist durchaus möglich – wenn Jerusalem die Gespräche genau dort fortsetzt, wo sie 1996
abgebrochen wurden. Premierminister
Barak muss die Verpflichtungen des ehemaligen Regierungschefs Jizchak Rabin
respektieren, der die israelischen Truppen auf ihre Positionen vom 4. Juni
1967, unmittelbar vor Ausbruch des
Sechs-Tage-Kriegs, zurückziehen wollte.
SPIEGEL: Für wie seriös halten Sie die
vermeintliche Bereitschaft Baraks zum
Rückzug vom Golan?
Salman: Bis jetzt ist noch nichts Greifbares in Sicht. Baraks Behauptung, er
strebe einen umfassenden Frieden auf
Grundlage der Uno-Resolutionen 242
d e r
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Erschossene Rebellen nach dem Aufstand in
Kilometer landeinwärts ragenden Korridors im Nordosten des Landes. Das Gebiet war 1890 der damaligen Kolonialmacht Deutschland im Rahmen des „Helgoland-Sansibar-Vertrags“ zugeschlagen
und nach dem Reichskanzler Leo Graf
von Caprivi benannt worden. Seither
und 338 an, wird durch die Erklärungen
seiner Minister verwässert. Die sprechen von Kompromisslösungen wie einem Teilrückzug auf dem Golan, nicht
aber von einer völligen Räumung und
behaupten, dass es keine Rückkehr zu
den Grenzen von 1967 geben werde.
SPIEGEL: Hegen Sie Zweifel an der ehrlichen Verhandlungsbereitschaft Baraks?
Salman: Er hat nur gesagt, er werde
Rabins Politik fortführen, den arabischisraelischen Jahrhundertkonflikt beenden und sich vorrangig um die Verwirklichung eines globalen Friedens
bemühen. Wir werden jeden Schritt,
den Jerusalem in diese Richtung tut, mit
einem Schritt unsererseits beantworten.
SPIEGEL: Und wenn Barak eine Rückkehr zu den 67er Grenzen ausschließt?
Salman: Wer glaubt, dass er im Schatten
des Friedens möglichst viel Land herausschlagen kann, ist nicht redlich. So
jemand ist schwerlich an einer wirklichen Lösung interessiert und missachtet
das Prinzip „Land gegen Frieden“.
SPIEGEL: Sehen Sie absolut keinen Raum
für einen territorialen Kompromiss?
Salman: Über den Golan verhandeln
wir nicht, das ist für uns kein Thema.
Das ist bereits in der Amtszeit Rabins
geklärt worden. Wir hätten damals keinen Fortschritt erzielt, wenn Rabin
nicht bereit gewesen wäre, die israelischen Truppen auf die alten Grenzen
zurückzuziehen.
Ausland
POLEN
den vorigen Oktober aufgedeckt, als Namibias Sicherheitskräfte geheime
militärische Ausbildungslager im Caprivi-Zipfel
aushoben. Die Rebellen
flohen nach Botswana;
ihr Anführer Mishake
Muyongo, 59, einst Vorsitzender der größten Oppositionspartei Namibias
und königlicher Abstammung, fand in Dänemark
Asyl.Von dort meldete er
sich jetzt unversöhnlich
zu Wort: Der Kampf
werde noch lange dauern,
niemals werde Caprivi
wieder von fremden
Mächten regiert. Eine Untergrundbewegung in Sambia, die Patriotische Front der Barotse, hat bereits Unterstützung zugesagt. Sollte sich zudem
bestätigen, dass angolanische Unita-Rebellen am gescheiterten Überfall beteiligt
waren, steht Namibia vor der größten
Krise seit der Unabhängigkeit 1990.
Bomben vor
Swinemünde
I
REUTERS
m Hafenbecken Mulnik vor Swinemünde (Swinoujście) wurden in
den vergangenen drei Jahren 15 alte
deutsche Seeminen und 11 Bomben gehoben und entschärft, behauptet die
Schiffsbergungsgesellschaft Polskie
Ratownictwo Okretowe aus Gdingen.
Für jeden Einsatz habe sie rund 50 000
Mark von der Stadt kassiert. Swinemündes seit acht Monaten amtierender
Bürgermeister Stanislaw Mozejko wirft
der Firma hingegen vor, die Sprengkörper selbst gelegt zu haben, um öffentliche Gelder zu erschleichen. Zum Beweis entschärfte der ehemalige Werft-
Katima Mulilo
spaltet die kuriose Grenzziehung das einstige Königreich des Barotse-Stammes. Der
lebt heute auf Namibia, Sambia und Botswana verteilt, doch seine Führer träumen
immer noch von einem autonomen Barotse-Land. Erste Vorbereitungen für eine
gewaltsame Abtrennung der Region wur-
INDIEN
Auf Sparkurs in die Katastrophe
V
W. DUSZENKO / AGENCJA GAZE
iele Leichen waren so entstellt, dass die Helfer am Unglücksort nicht unterscheiden konnten, „ob es Männer oder Frauen waren“. Eines der schwersten Eisenbahnunglücke in der Geschichte Indiens forderte vorigen Montag im westbengalischen Gaisal mindestens 285 Tote und über 300 Verletzte. Vordergründig war menschliches Versagen die Ursache des Zusammenpralls zweier Fernzüge. Doch der Rücktritt von Eisenbahnminister Nitish Kumar verweist auf strukturelle Probleme; jährlich
ereignen sich rund 400 Unfälle auf dem längsten Schienennetz der Welt (62 000 Kilometer). Shanti Narain, Staatssekretär im Eisenbahnministerium, gestand, dass nur
300 Streckenkilometer pro Jahr erneuert werden, obwohl 1000 das Minimum wären.
Auch fehlt, wie das Desaster von Gaisal zeigt, ein effizientes Kommunikationssystem
für Lokführer, das zum Beispiel eine Warnung ermöglicht, wenn ein Zug unterwegs
liegen bleibt. Y. P. Anand, ehemaliger Vorsitzender des Eisenbahnministeriums, kritisiert die „Wohlfahrtsmentalität“ der Behörden, die überfällige Investitionen verhindere: Die Fahrpreise für die täglich etwa zwölf Millionen Passagiere würden künstlich niedrig gehalten. Nach offiziellen Angaben beträgt der Einnahmeverlust durch
Billigtickets und Schwarzfahrer pro Jahr rund 1,4 Milliarden Mark. Die Kosten für die
Modernisierung der indischen Bahn werden mit jährlich mehr als 7 Milliarden Mark
beziffert, tatsächlich wurden 1998 nur 4,2 Milliarden aufgewendet.
Mozejko, entschärfte Bombe
REUTERS
Zugunglück in Gaisal
elektriker persönlich, ohne jede Vorsichtsmaßnahme, einen 980 Kilogramm
schweren Blindgänger und präsentierte
ihn im Rathaus: Die eingestanzte Identifizierungsnummer zeige, dass die
Bombe aus einem Depot der polnischen
Kriegsmarine in Darlowo stamme. Mozejko, ein notorischer Antikommunist
und Solidarność-Mitglied der ersten
Stunde, wittert eine Verschwörung der
früher in Swinemünde regierenden Nomenklatura, der Staatsanwaltschaft, der
Kriegsmarine und der Polizei: „Hier auf
Usedom herrschen sizilianische Verhältnisse.“ Kritiker werfen ihm indessen
vor, seine eigenwillige Aktion habe die
Bevölkerung gefährdet. Polens Justizministerin Hanna Suchocka schaltete die
Generalstaatsanwaltschaft ein.
105
Ausland
BALKAN
Zuchtmeister im Völkerkäfig
Morden im Kosovo, Mauern in Bosnien: Das Ziel des Westens, in seinen
Balkan-Protektoraten gemischte Gesellschaften zu erzwingen, scheint wenig realistisch.
Und für eine Erziehungsdiktatur fehlen den Statthaltern die Machtmittel.
M
it Hammer und Meißel können die
anstelligen Muslimkinder auch im
Dunkeln umgehen. Von einem
Steinkreuz der Orthodoxen, das als Symbol serbischer Unterdrückung angegangen
wird, ist bald nichts als ein Häufchen
Schutt übrig. Und im Innern der Feindeskirche haben junge Albaner den Verputz so
kräftig mit Eisenstangen traktiert, dass im
Licht der Taschenlampen nur noch nackter
Ziegelstein zu sehen ist.
Am Morgen darauf, bei der Wiedereröffnung einer Schule im nordkosovarischen Mitrovica, fehlen die Serbenkinder –
die meisten wohl deshalb, weil ihre Familien die Flucht ergriffen haben. Nur einige
serbische Lehrer sind erschienen und stehen mit vorwurfsvollen Gesichtern herum.
Als ein albanischer Knirps gefragt wird, ob
er seine früheren Spielkameraden nicht
vermisse, antwortet er mit ernster Miene:
„Ich hoffe, sie kommen nie wieder.“
Die aus Kindermund grausam klingenden Worte könnten nicht nur im Kosovo,
sondern über weiten Landschaften des
früheren Jugoslawien in Granit gemeißelt
stehen. Ob in der kroatischen Krajina, in
Bosnien und der Herzegowina oder im nun
fast schon „serbenreinen“ Kosovo: Die Frage nach einer eventuellen Rückkehr der
Vertriebenen weckt überall nur bedächtiges Kopfschütteln oder Abwehrgesten.
Westliche Präsenz – im Kosovo seit
sieben Wochen, in Bosnien seit über drei
Jahren – kann an dieser Haltung wenig ändern. „Die Nato verwaltet eine expandierende Föderation balkanischer Ghettos, deren Bewohner sich nichts sagen lassen, aber
für Devisen stets dankbar sind“, höhnt
der türkisch-albanische Journalist Dzabir
Derala im mazedonischen Skopje.
Jedenfalls dürfte die gewaltsame ethnische „Entmischung“, die in diesem Jahrzehnt im zerfallenden Vielvölkerstaat Jugoslawien vorgenommen wurde (und die
im Kosovo unter den Augen der westlichen
Truppen weitergeht), ohne neue Gewalt
kaum rückgängig zu machen sein. Nach
der blutigen Vertreibung von Millionen nun
eine neue, aber geordnete Zwangsumsiedlung, die die Geflüchteten allmählich in
Westliche Kfor-Schutztruppe,
Albaner (in Mitrovica)
Grausam klingende Worte
106
ihre früheren Häuser, Dörfer, Stadtviertel
zurückbringt?
Die Rechnung ist ohne den Hass gemacht, den die Massaker dieses Jahrzehnts
hinterlassen haben. Solange im Kosovo
noch Massengräber ausgehoben und Gebeine gezählt werden, solange in Bosnien, Kroatien und Serbien ein Bruchteil
der Kriegsverbrecher ausfindig gemacht
ist, die an der Ermordung von zehntausenden Schuld tragen, klingt das Gerede
von der „Wiederherstellung multi-ethnischer Gemeinschaften“ weltfremd und
hohl.
Beispiel Srebrenica: In der ostbosnischen
Stadt, wo im Juli 1995, unter den Augen
niederländischer Uno-Truppen, über 7000
muslimische Zivilisten von den Serben
weggetrieben und später abgeschlachtet
wurden, sind erst 45 der Opfer identifiziert. Die Skelette von über 5000 Erschossenen stecken noch in Plastiksäcken in einem Betontunnel bei Tuzla.
Gleichwohl konnte in Srebrenica 1997 –
mit den Stimmen der bosnischen Vertriebenen in Westeuropa und dem Balkan – ein
„multi-ethnischer“ Gemeinderat gewählt
werden, der jetzt im Juni sogar zu seiner
Eröffnungssitzung zusammenkam. Doch
diesem gemischten Gemeinderat entspricht
noch längst keine „multi-ethnische“ Stadtbevölkerung: Die Voraussetzungen für eine
R. HAVIV / SABA (l.); S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV (r.)
Massengrab in der Nähe von Srebrenica, Beisetzung ermordeter Serben: Skelett-Reste im Betontunnel verwahrt
Sarajevo umgesiedelt. Hierfür gibt es Geld
– jede Gemeinde, die zu einer solchen Aktion bereit ist, wird vom Westen großzügig
belohnt.
Aber auch eine unbegrenzte Milliardenfülle könnte die ethnischen Verschiebungen nicht rückgängig machen, die
Bosniens Landkarte revolutioniert haben.
Umgeben von einer rein serbischen „Republika Srpska“ und einer Kolonie Kroatiens, die sich einmal „Herceg-Bosna“
nannte, bietet sich Zentralbosnien als eine
Steppdecke von zehn muslimischen und
kroatischen Kantonen dar, mit eigenen Ministerpräsidenten.
SYGMA
Rückkehr der Vertriebenen sollen erst noch
geschaffen werden, mit den Jahren, mit viel
Geld.
Natürlich gibt es punktuelle Erfolge. Es
wäre verwunderlich, wenn in Bosnien auch
Jahre nach den Gewaltorgien nicht auch
ein Dorf wie Sokolac zu finden wäre: 40
Kilometer von Sarajevo entfernt sind drei
Bauunternehmer – zwei Serben und ein
Muslim – dabei, von serbischer Soldateska
zerstörte Häuser wieder aufzubauen. 30
muslimische Familien werden sich in die
serbisch beherrschte Gegend zurückwagen, dafür 30 serbische, die in Sokolac Zuflucht gefunden hatten, in ihre Heimatstadt
Geht es auf diesen Flecken nach dem
Wunsch der heute dort vorherrschenden
Mehrheiten, dann werden sich hunderttausende ihrer früheren Nachbarn und
Mitbürger, die mit Gewalt entwurzelt und
vertrieben wurden, dort nie wieder blicken lassen: aus dem Auge, aus dem Sinn,
aus dem Weg – für immer. Entsprechend
ist die Obstruktion aller Rückführungsversuche.
Wofür aber hätte die westliche Wertegemeinschaft dann einen aufwendigen,
Milliarden verschlingenden Krieg geführt?
Auf dem gesamten Balkan wurde eine Botschaft formuliert: „Wir lassen etwas so
Teuflisches wie ethnische Säuberungen
nicht geschehen, wir stellen uns dem entgegen“ – so die US-Außenministerin
Madeleine Albright im SPIEGEL (30/1999)
über die Kriegsmotive der Supermacht.
Die Rettung des Kosovo als multi-ethnisches Gebiet sollte aber auch den Bemühungen, in Bosnien für die Vertriebenen
die frühere Ordnung wiederherzustellen,
neuen Schwung geben.
Ganz in diesem Sinne hat Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als erster westlicher Regierungschef ins Kosovo reiste,
den Führern der dortigen Albaner-Mehrheit eingeschärft, dass sie die „multi-ethnische Prägung“ ihres Landes nicht gefährden dürften.
Das müssen die Albaner-Führer überhört oder nicht weitergesagt haben. Denn
ihre Anhänger haben sich erst gar nicht dabei unterbrechen lassen, im Kosovo Serben
umzubringen und deren Häuser in Brand
zu stecken – so, wie paramilitärische Einheiten des Serben-Regenten Slobodan
Milo∆eviƒ es monatelang an den KosovoAlbanern vorexerziert hatten.
Und die westlichen Truppen, die einmarschiert waren, um der Vertreibung der
albanischen Kosovaren Einhalt zu gebieten, können seither offenbar nur machtlos
beim erzwungenen Exodus der KosovoSerben zuschauen. Der britische Oberkommandierende General Sir Michael
Jackson wirkt immer düsterer und hilfloser:
Nach jeder Bluttat muss er betreten einräumen, dass seine Soldaten „nicht überall
gleichzeitig“ sein könnten.
Schon hat ein wütender Menschenrechtler von Human Rights Watch in der
107
Ausland
„Die Vorstufe zur Unabhängigkeit“
Albaner-Führer Ibrahim Rugova über die Zukunft des Kosovo
Rugova, 55, Literaturwissenschaftler
und 1998 von den Kosovo-Albanern
zum „Präsidenten“ gewählt, wird
von der Befreiungsarmee UÇK nicht
anerkannt.
Bis dahin hat uns die Nato versichert,
unsere Schutzmacht zu sein.
SPIEGEL: Der von den USA favorisierte
Premier und UÇK-Führer Hashim
Thaçi wird von Ihnen nicht anerkannt.
Fürchten Sie ihn als Rivalen um das
Präsidentenamt?
Rugova: Thaçi hat ohne unsere Billigung eine Regierung gebildet. Dies war
nur vorgesehen für den Fall, dass die
Verträge von Rambouillet unterschrieben werden. Bis zu den Wahlen unterstützen wir – also die Demokratische
Liga – die Regierung Bukoshi.
Beide Regierungen sowie ein breites
Spektrum aller Parteien werden jedoch
mit der internationalen Administration
zusammenarbeiten. Ich bin weiter der
Präsident des Kosovo und bestehe auf
einer Direktwahl kurz vor oder nach
den Wahlen. Eine Ernennung durch das
Parlament lehne ich ab.
SPIEGEL: Bis zu den Wahlen, voraussichtlich im Frühjahr, liegt die alleinige
Entscheidungsvollmacht bei der inter-
SPIEGEL: Damit stünde einer Verei-
AFP / DPA
nigung mit Albanien nichts mehr im
Weg.
Rugova: Darüber müsste die Bevölkerung zu einem späteren Zeitpunkt in einem Referendum entscheiden. Aber
Wirtschafts- oder Zollunionen mit anSPIEGEL: Herr Rugova, das Kosovo ist
deren Staaten werden wir nach Konfür eine Übergangsperiode internatiosultationen mit der internationalen Genales Protektorat. Was folgt danach?
meinschaft sehr schnell eingehen. Wir
Rugova: Dies ist die Vorstufe zur Unabwerden Großobjekte wie das Bergwerk
hängigkeit. Spätestens in drei Jahren
Trep‡a, die Elektrizitäts- oder Eisenwerden wir ein Referendum abhalten.
nickelindustrie rasch in Betrieb setzen
Danach können die Serben nur noch
und der Welt beweisen, dass wir auch
unsere Unabhängigkeit akzeptieren.
als Kleinstaat selbständig handeln und
SPIEGEL: Die serbische Opposition will
überleben können.
die Bevölkerung überzeugen, dass mit
Milo∆eviƒs Entmachtung das Kosovo
SPIEGEL: Sie versprachen den Serben
weiter Teil Serbiens bleibt.
des Kosovo stets Schutz, falls die Albaner die Provinz wieder selbständig verRugova: Keine Chance. Die Serben hawalten. Jetzt werden die Serben brutal
ben nach diesem Krieg und den Masvertrieben, ihre Wohnungen geplündert
sakern ihrer Spezialpolizei und Paoder zerstört. Wie wollen Sie solche
ramilitärs kein Recht mehr auf das
Übergriffe verhindern?
Kosovo. Kein jugoslawischer Soldat
wird mehr das Kosovo betreten. Auch
Rugova: Dies sind Vergeltungsaktionen
in die künftige Kosovo-Polizei werden
einiger Individueller oder Banden, die
nur lokale Serben intedie Chance einer noch imgriert sein. Wir akzeptieren
mer unübersichtlichen Siein demokratisches Sertuation nutzen. Aber ich
bien allenfalls als befreungarantiere, dass niemand
deten Nachbarstaat. Hätte
den Serben ihre WohnunMilo∆eviƒ die Vereinbarung
gen oder Häuser nehmen
von Rambouillet unterwird. Sobald sich die Lage
schrieben, wäre die Situaberuhigt hat und die intertion für Belgrad weit vornationale Polizei eintrifft,
teilhafter.
werden wir offene Eigentumsfragen klären. Die
SPIEGEL: Die UÇK-BefreiAuswanderung muss geungsarmee sträubt sich
stoppt werden. Alle Serben
weiter gegen ihre Auflökönnen zurückkehren und
sung und Entwaffnung.
werden von uns geschützt.
Rugova: Die UÇK hat die
Wir haben auch nichts daDemilitarisierung selbst
gegen, wenn sie den Vizeunterzeichnet. Also muss
präsidenten oder Vize-Presie sich daran halten. Einimier stellen. Aber natürlich
ge ihrer Führer haben aber
werden die Gerichte auch
offensichtlich politische
prüfen, wer von ihnen im
und militärische Ambitio- Rugova bei Rückkehr nach Pri∆tina: „Ich bin der Präsident“
Krieg Verbrechen verübte.
nen. Der Krieg ist beendet,
die Euphorie abgekühlt. Unsere Bevöl- nationalen Zivilverwaltung. Was pas- SPIEGEL: Milo∆eviƒ ist als Kriegsverbrekerung suchte bisher die Freiheit, jetzt siert danach?
cher angeklagt. Sehen Sie in ihm den
geht es um die Gestaltung der Zukunft. Rugova: Dann werden die Kompetenzen Hauptverantwortlichen für die MassaSPIEGEL: Können Sie langfristig über- auf die gewählte Regierung des Kosovo ker und Vertreibungen im Kosovo?
übergehen. Wir werden unsere eigenen Rugova: Die Anordnungen wurden vom
haupt auf eine Armee verzichten?
Rugova: Auf keinen Fall. Doch diese Gesetze, Justiz, Verfassung und Außen- Zentrum erteilt. Ziel war die endgültisollte neben UÇK-Kämpfern auch an- politik haben – völlig unabhängig von ge Vertreibung der Albaner. Dies konndere junge Männer des Kosovo ein- Belgrad. Die Grenzen zu Mazedonien te nur durch die Nato-Intervention verschließen, die bis zum Abzug der in- und Albanien werden auch künftig nur hindert werden. Doch ich fürchte, dass
ternationalen Schutztruppen von der von der Kfor kontrolliert werden, nicht Milo∆eviƒ nicht so leicht zu stürzen ist.
Kfor militärisch ausgebildet werden. von der jugoslawischen Armee.
Interview: Renate Flottau
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MC NAMARA-ZAMUR / GAMMA / STUDIO X
gegenüber einer der gekosovarischen Hauptstadt
bärfreudigsten BevölkePri∆tina den Verdacht ausrungsgruppen der Erde.
gesprochen, der KommanBereits Anfang der
deur der Kfor-Truppen sei
zwanziger Jahre waren bejedem Serben dankbar, der
nachbarte Vielvölkerstaasich der ethnischen Säubeten dazu übergegangen,
rung durch Flucht nach
Probleme des ZusammenSchrumpfjugoslawien fülebens durch Zwangsumge. Die These hat einiges
siedlungen zu lösen: wie
für sich: Je schneller das
nach dem griechisch-türkiKosovo ethnisch homogen
schen Krieg, der 1923 mit
wird – homogener noch als
Bevölkerungstransfers in
das „gesäuberte“ Kroatien
großem Stil zu Ende ging.
des Nationalisten Franjo
Für den späteren US-PräTudjman –, desto früher Flüchtende Muslime in Srebrenica (1995): Balkanische Ghettos
sidenten Herbert Hoover
hört auch das Morden auf.
Am Samstag vorletzter Woche musste immer wieder zu grotesken Verwick- waren Vertreibungen „heroische Heilmitselbst der britische Premier Tony Blair, ne- lungen: Westendorp hat im März den tel“. Die Medizin hat allerdings viele tauben Albright wohl der entschiedenste Be- Präsidenten der serbischen „Republika sende von Menschenleben gekostet.
Als der kommunistische Marschall Tito
fürworter des Nato-Angriffs gegen Jugo- Srpska“, einen chauvinistischen Volksslawien, in Pri∆tina seinen Triumphalismus tumspolitiker, für abgesetzt erklärt (wozu gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die
mäßigen: „Wir haben für die Sicherheit al- er als eine Art Erziehungsdiktator durchaus Macht im Vielvölkerstaat Jugoslawien erler Menschen im Kosovo gekämpft – und befugt ist). Doch der Serbe kommt nach oberte, hatte das Land unter der brutalen
nicht dafür, dass jetzt eine andere ethni- wie vor jeden Tag in seine Diensträume in deutschen Besatzung zwei Millionen seiner
Menschen verloren, fast ein Zehntel der
sche Gruppe unterdrückt wird.“
Banja Luka und waltet seines Amtes.
Die Antwort auf Tony Blair erfolgte
Bernard Kouchner macht im Kosovo Bevölkerung. Weit mehr als die Hälfte daprompt in der Nacht zum Sonntag: Auf die eine ähnliche Erfahrung unter gravieren- von kam allerdings in dem mit ungeheurer
orthodoxe Kathedrale der kosovarischen deren Umständen: Er soll ein multi-ethni- Grausamkeit geführten Bürgerkrieg um,
Serben in Pri∆tina, die sich noch im Bau be- sches Kosovo retten – doch vor seinen Au- der sich unter den Augen der Besatzer vollfindet, wurde ein Sprengstoffanschlag ver- gen ziehen zu tausenden die Serben da- zog. Monarchistische serbische Tschetniks,
übt. Wären – statt nur zwei – alle sechs von, denen er keinen hinreichenden faschistische kroatische Ustaschen und die
Sprengsätze explodiert, dann hätte die Schutz bieten kann. 200 000 Serben sollen kommunistischen Partisanen Titos gingen
Hauptstadt des Kosovo, zwei Monate nach die Provinz verlassen haben – das wären mit der Zivilbevölkerung äußerst blutrünsden Nato-Bombardierungen, eine weitere über 90 Prozent. Und da sich die Gele- tig um – und säten viel von dem Hass, der
das Land bis heute zerreißt.
sehenswürdige Ruine erhalten.
Nur Titos Diktatur, die nationalistische
Etwas angeschlagen wirkt mittlerweile
Umtriebe unterdrückte – und sein Geauch Bernard Kouchner, 60, seit fünf Woschick, wie ein „roter Habsburger“ die verchen Statthalter im Kosovo. Offiziell als
schiedenen Nationalitäten gegeneinander
Repräsentant des Uno-Generalsekretärs
auszuspielen und in der Balance zu halten
Kofi Annan, versucht der französische Arzt
–, hat dem Völkerkäfig danach 35 Jahre
und Politiker, der den Sozialisten von MiFrieden und allerhand Prosperität genisterpräsident Lionel Jospin nahe steht,
bracht. Und als Tito 1980 starb, erhielt auch
das inoffizielle Nato-Protektorat Kosovo
seine multi-ethnische Föderation den Tozumindest medienwirksam zu verwalten.
desstoß; der großserbische Nationalismus
Dabei muss Kouchner eine Erfahrung
des Slobodan Milo∆eviƒ besorgte den Rest.
machen, die den bisherigen westlichen
Und wenn nun auch die letzten Serben
Zuchtmeistern in Bosnien-Herzegowina
aus dem Kosovo verschwinden? Mag das
(derzeit der Spanier Carlos Westendorp,
Belgrader Regime von Milo∆eviƒ vielleicht
in wenigen Tagen der Österreicher Wolfsogar diesen Schock verkraften – das Ideal,
gang Petritsch) nun schon seit Jahren bitim früheren Jugoslawien die multi-ethniter vertraut ist: Der Hohe Repräsentant,
sche Gesellschaft zu retten, überlebt ihn
wie sein offizieller Titel lautet, besitzt nämwohl kaum. Wolfgang Petritsch, der als
lich keine Machtmittel, um seine VorstelHoher Repräsentant fortan in Bosnien
lungen und die Ziele der westlichen Werherrschen wird, hat sich nach eigenem, ditegemeinschaft durchzusetzen.
Gräuel von Ustascha-Truppen*
plomatisch formuliertem Bekenntnis von
Wie in Bosnien gibt es auch im Kosovo Krieg unter den Augen der Deutschen
„gewissen Illusionen“ von 1995 schon inkein ausgebildetes „überethnisches“ Polizeikorps, das den Anweisungen des west- genheit für Vertreibungen nun einmal bie- nerlich verabschiedet.
Und Gerhard Schröder hat vorletzte Wolichen Verwalters zur Durchsetzung ver- tet, werden auch gleich die nirgends behelfen könnte, und über die Truppenkon- liebten Zigeuner von den Albanern ver- che in Sarajevo, nach der Unterzeichnung
tingente der Nato oder Uno hat er ohnehin jagt. Das multi-ethnische Kosovo ist somit des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, die
idealistischen Töne seiner Kosovo-Visite
keine Befehlsgewalt. (Vor allem die Ame- nur noch eine Fiktion.
rikaner wünschen nicht, dass die FriedensKurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte nicht wiederholt.
Stattdessen übte der Kanzler sich in fast
truppe in örtliche Auseinandersetzungen das jugoslawische Königreich versucht, die
hineingezogen wird – wie schon im Krieg muslimischen Kosovo-Albaner gegen Bar- schon brutal anmutender Nüchternheit:
dürfen sich auch im Frieden keine US-Sol- geld an die Türkei loszuwerden, à 15 000 „Entweder wir schaffen es, den Menschen
daten in Lebensgefahr begeben.)
Dinar pro Familie – eine Abwehrreaktion hier unten Arbeit und Brot zu geben, oder
wir werden sie als Flüchtlinge aufnehmen
In Bosnien-Herzegowina führt die
müssen.“
Machtlosigkeit des Hohen Repräsentanten * Im Zweiten Weltkrieg.
Carlos Widmann
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Ausland
SPIEGEL-GESPRÄCH
„Serbien muss erst seine
politischen Probleme lösen“
Bodo Hombach über Chancen und Grenzen seiner Mission als
Sonderkoordinator für den Balkan-Stabilitätspakt
heit, demokratische Entwicklung, Wirtschaft, äußere Sicherheit.
SPIEGEL: Woher dann die Enttäuschung?
Hombach: Der Stabilitätspakt kann nicht
mit unbegrenzten Finanzmitteln alle Probleme dieser gebeutelten Länder lösen. Es
gibt kein Füllhorn, aus dem sich jeder bedienen kann. Die Erfahrungen mit dem
Aufbau von Bosnien-Herzegowina zeigen,
dass ein allein auf staatliche Programme
gestützter Aufbau zu wenig bewirkt. Voraussetzung für einen Erfolg ist die Zusammenarbeit der Südosteuropa-Staaten, die
Aktivierung eines Mittelstandes und kleiner Unternehmen sowie sichere Rahmenbedingungen für ausländische Investoren.
SPIEGEL: Genau diese Voraussetzungen aber
sind nicht gegeben. Haben Sie denn irgendeinen Hebel, um Serben, Kroaten, Albaner, Muslime und Christen einzubinden?
Hombach: Das bereitet in einigen Ländern
noch Mühe. Doch der Hebel ist da. Die Perspektive lautet erstmals: Integration in die
euro-atlantischen Strukturen. Wir knüpfen
die Bereitschaft der Industriestaaten zur
Hilfe an die Bereitschaft vor Ort, Toleranz
Bodo Hombach
gab beim Gipfeltreffen der 35 Staatsund Regierungschefs am vorletzten
Freitag in Sarajevo als Sonderkoordinator der EU für den Wiederaufbau
auf dem Balkan seinen Einstand. Der
gebürtige Mülheimer, 46, und gelernte Fernmeldetechniker, trat dafür von
seinem Amt als Gerhard Schröders
Kanzleramtsminister zurück.
zu üben und eigene Anstrengungen zu unternehmen. Die Helferstaaten treten nicht
nur als Zahlmeister an. Diese Erwartung
haben sie auch niemals erweckt.
SPIEGEL: Mit ähnlichem Anspruch scheiterte der Westen in Bosnien. Dreieinhalb Jahre nach dem Friedenspakt von Dayton ist
noch immer nicht zu erkennen, dass die
drei Volksgruppen dort miteinander leben
wollen.
Hombach: Die Analyse der Entwicklung in
Bosnien ist eine Sache. Die Tatsache, dass
Balkanstaaten, die bis vor kurzem kaum
miteinander redeten, im Vorfeld der Sarajevo-Konferenz sich bereits auf grenzübergreifende Projekte einigten, werte ich
als eine Wende, ein positiv stimmendes
Zeichen.
SPIEGEL: Alle Großprojekte zum Wiederaufbau der Verkehrswege, die bislang erörtert werden, führen sorgfältig um Serbien
herum. Ohne Serbien aber kann es keine
Stabilität auf dem Balkan geben.
Hombach: Jeder weiß, dass Serbien in eine
dauerhafte, friedliche und ökonomische
Stabilisierung einbezogen werden muss. Es
besteht aber auch Einigkeit, diesen Weg
nicht gemeinsam mit dem jetzigen Präsidenten Slobodan Milo∆eviƒ zu beschreiten. Der Stabilitätspakt will keine Mauer
um Serbien ziehen. Das Angebot heißt: In
der Sekunde, in der Serbien seine politischen Probleme selbst gelöst hat, ist es Mitglied im Stabilitätspakt. Die Ehre, ihre VerAP
chefs der Geberländer für den Balkan-Stabilitätspakt preisen sich dafür, in Sarajevo
überhaupt zu einem Gipfel zusammengekommen zu sein; die Staaten der Region
aber murren über bloße symbolische
Gesten.
Hombach: Viele Anrainerstaaten haben
durch den Kosovo-Krieg erhebliche volkswirtschaftliche Verluste erlitten. Sie hatten
die Sorge, der Westen werde seine Hilfe auf
das Kosovo konzentrieren und sie danach
vergessen. Diese Sorge aber konnte auf der
Sarajevo-Konferenz zerstreut werden.
SPIEGEL: Die Rumänen beispielsweise empfanden diese Konferenz gleichwohl als „kalte Dusche“ – der Rubel rollt nicht, außer
Spesen und Appellen nichts gewesen?
Hombach: Die Bereitschaft Europas, sich
zu Hilfen in Milliardenhöhe zu verpflichten, ist zweifellos da. Aber der Stabilitätspakt ist nicht in erster Linie ein Verein zur
Geldverteilung. Seine Bedeutung gewinnt
er durch den erstmaligen Versuch, die gesamte Palette der Probleme auf dem Balkan koordiniert anzugehen: innere Sicher-
REUTERS
SPIEGEL: Herr Hombach, die Regierungs-
Zerstörte Donau-Brücke*: „Aus lokalen Konflikten wurden europäische Kriege“
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* Bei Novi Sad.
Das Gespräch führten die Redakteure Winfried
Didzoleit und Olaf Ihlau.
Werbeseite
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Ausland
SPIEGEL: Das klingt etwas naiv.
Hombach: Ist es aber nicht. Die Neigung
der Staaten, im Krieg wie im Frieden bilateral zu agieren, hat die Geschichte des
Balkans bestimmt. So wurden aus lokalen
Konflikten auf dem Balkan europäische
Kriege, die europäischen Mächte führten
Stellvertreterkriege auf dem Balkan. Diese Erfahrung ist heute, zum Ende des Jahrtausends, das prägende Prinzip bei der Geburt des Stabilitätspaktes.
Im Kosovo-Krieg ist es erstmals gelungen,
durch Abstimmung und Koordination gemeinsam einen Konflikt einzukapseln. Diese historische Erfahrung wird niemand um
finanzieller Vorteile willen
aufs Spiel setzen.
SPIEGEL: Noch ist der Balkan
lange nicht befriedet, und
beim Wiederaufbau in Bosnien war vom Altruismus der
Geber nichts zu merken. Es
galt das Prinzip der nationalen Profitmaximierung.
Hombach: Jetzt aber ist es anders. Ich bin auf niemanden
gestoßen, der die endlich gefundene Gemeinschaft nicht
bewahren möchte. Der Stabilitätspakt wirkt nicht nur
koordinierend in der Region,
er wirkt auch innerhalb der
europäischen Institutionen
und Staaten koordinierend.
SPIEGEL: Von der ordnungsstiftenden Wirkung Ihrer Berufung sind andere weniger überzeugt. Sie
befürchten einen Kompetenzwirrwarr …
Hombach: Der Koordinator hat erklärt, dass
er nichts macht, was andere besser können, dass er Reibungsverluste nicht will
und schon gar keine Kompetenzstreitigkeiten …
SPIEGEL: … der ausgeschiedene Kommissionspräsident Jacques Santer warnte in
einem Brief an die Regierungschefs vor
einer „Multiplikation der Strukturen ohne präzise Kompetenzen“, vor fehlender
Transparenz und der Gefahr, die Finanzkontrolle zu verlieren.
TASIC / SIPA PRESS
hältnisse selbst zu lösen, kann man den hindert, weil sie die Bedingung stellen,
gleichzeitig müssten auch die Brücken wieSerben nicht nehmen.
SPIEGEL: Und was ist, wenn Milo∆eviƒ sich der hergerichtet werden. Das lehnt die
Mehrheit der Stabilitätspakt-Länder ab.
nicht abservieren lässt?
Hombach: Das brächte Jugoslawien in eine SPIEGEL: Solange Milo∆eviƒ am Ruder ist,
kritische Lage.Viele Serben, die ich kennen bleibt die Donau also blockiert?
lerne, fürchten eine solche Entwicklung, Hombach: Es gibt Bemühungen, den Schiffssuchen nach anderen Lösungen. Serbische verkehr wieder zu ermöglichen. Wie die
Unternehmer, die Milo∆eviƒ gestützt ha- enden, weiss ich nicht.
ben, fühlen sich ebenso unbehaglich wie SPIEGEL: Sie wollen das Hilfsangebot der
orthodoxe Kirchenführer. Kenner der Sze- Geberländer nutzen, um die Empfängerne reden nicht mehr darüber, ob Milo∆eviƒ länder zu Toleranz und Demokratie zu
sich halten kann, sondern wie lange.
drängen. Gleichzeitig soll von dem SpenSPIEGEL: In der Zwischenzeit werden Fak- dengeld auf dem Weg über Aufträge mögten beim Wiederaufbau geschaffen, die lichst viel an die eigene Industrie fließen.
Serbien ausklammern: ein eigenes Energiesystem im Kosovo, Straßen und Eisenbahnen. Die Helfer umgehen
selbst das jugoslawische Bankensystem und meiden den
Dinar. Der Euro wird als Ersatzwährung …
Hombach: … nicht der Euro,
die Mark.
SPIEGEL: Gut, vorerst noch
die Mark. Serbien bleibt also außen vor. Das Ziel, die
Einheit Jugoslawiens zu bewahren, verschwindet am
Horizont.
Hombach: Auch in Serbien
wird trotz Milo∆eviƒ sofort
humanitäre Hilfe geleistet.
Das deute ich bewusst prag- Serben-Demonstration gegen Milo∆eviƒ*: „Kritische Lage“
matisch. Der Aufbau eines
Krankenhauses gehört eindeutig dazu. Ein Wieso sollte etwa Frankreich jetzt auf eiKrankenhaus braucht aber auch Elektri- nen lukrativen Auftrag verzichten, nur weil
zität, Wasser, Zugangsstraßen. Das gehört der Koordinator Hombach sagt, das Empfür mich zur humanitären Hilfe, ist aber fängerland zeige noch zu wenig Toleranz?
noch umstritten. Die Grenze ziehe ich da, Hombach: Keiner braucht zu befürchten,
wo Milo∆eviƒ Hilfe als Unterstützung sei- dass ich mich sachfremden Erwägungen
ner Machtposition ausbeuten kann.
anschließe. Doch Ihre Analyse stimmt. SolSPIEGEL: Etwa bei den zerbombten Donau- chen Streit aber wird es gerade wegen des
Brücken? Deutsche, Bulgaren und Rumä- Stabilitätspakts in Zukunft nicht geben.
nen möchten zur Wiederaufnahme der Der Zwang zum Gespräch, zur Einigung
Schifffahrt die Trümmer gern rasch beisei- wird das verhindern.
te räumen. Warum geht das nicht?
Hombach: Bisher haben die serbischen * Aufmarsch von Anhängern des Chefs der Serbischen BeMachthaber den Beginn der Arbeiten ver- freiungsbewegung,Vuk Dra∆koviƒ, am 17. Juli in Kragujevac.
BALKAN-HILFE
Uno
EU
BALKAN-HILFE
stellen. In den reichen Staaten
überlasse man sich willig den
Vertreter der Geberländer
Freuden des Sommerurlaubs. So
Westliche Industriestaaten,
und internationaler Finanzgroß scheint die Opferbereitorganisationen, Vorsitz: EU
Russland, außerdem Vertreter von Uno, Nato u.a.
und Weltbank
schaft nicht zu sein.
Hombach: Diese Kritik trifft einiKOSOVO-HILFE KOSOVO-HILFE
ge Länder, die sich mit der EntKoordinator:
Gemeinsames
Wiederaufbauagentur
UNMIK Uno-Mission im
sendung zu viel Zeit lassen und
Bodo Hombach
Kosovo, Koordinator:
Koordinierungsbüro
für das Kosovo
Sekretariat in Brüssel setzt
damit die Übernahme polizeiliBernard Kouchner
Weltbank und EU
Einsatzgruppe vor Ort
Stabilitätspakt um
cher Aufgaben, die jetzt das MiQuelle: Handelsblatt
litär erledigt, erheblich verzöRegionaltisch
Wirtschaftlicher
gern. Für Deutschland aber gilt
Runde der Außenminister
Wiederaufbau (EU)
das ausdrücklich nicht.
Vorsitz: Bodo Hombach
Verwaltung
SPIEGEL: Besteht die Gefahr, dass
Thessaloniki,
Griechenland
nach Bosnien und dem Kosovo
Tisch für DemoAufbau Zivildie Staatengemeinschaft auch in
kratisierung und
verwaltung (Uno)
Menschenrechte
Albanien und anderswo zur Ordnungsmacht wird, der ganze
Einsatzzentrale
Pri∆tina, 200 bis 300
Balkan zum internationalen
Tisch für
Flüchtlinge
Mitarbeiter setzen EUwirtschaftlichen
Protektorat?
Programme um
(UNHRC)
Wiederaufbau
Hombach: Dieses Risiko muss vermieden werden. Der StabilitätsAufbau demokratipakt ist darauf angelegt, dass die
Tisch für
Tummelplatz der Helfer Geberstaaten in Bosnien und im
scher Institutionen
Sicherheit
(OSZE)
Wiederaufbauhilfen für die Balkan-Region
Kosovo auf mittlere Sicht Verantwortung übernehmen. Sie
wollen helfen, die gesamte ReHombach: Meine Aufgabe ist, die Arbeit al- Hombach: Ich bin noch nicht mal Kö- gion zu stabilisieren. Das soll sich nicht
ler, die grenzübertretend tätig werden, zu- nig. Meine politische Erfahrung sagt mir verstetigen und verewigen.
sammenzuführen. Um zu vermeiden, dass aber, dass gerade dies Voraussetzung SPIEGEL: Schreckt Sie nicht das Beispiel
durch die neue Institution der Überblick für eine erfolgreiche Koordinierung ist. Bosniens, wo die Aussöhnung nicht voranerschwert wird, habe ich beispielsweise mit Wenn niemand fürchten muss, von einer kommt, keine wirkliche Zusammenarbeit
Javier Solana, dem künftigen „Hohen Be- neuen Institution bedrängt zu werden, der drei Volksgruppen klappt?
auftragten“ für Außen- und Sicherheitspo- ist man eher geneigt, dem anderen zu- Hombach: Ich sehe die Risiken, aber was ist
litik der EU, informelle Abstimmungsver- zuhören, seine Ideen unvoreingenommen die Alternative? Wie lange hat Europa gefahren besprochen. Das hat es früher nicht zu prüfen.
braucht, Europa zu werden? Wir haben keigegeben.
SPIEGEL: Sollten beispielsweise die Ein- nen Grund zur Hochnäsigkeit. Der StabiSPIEGEL: Gleichwohl bleibt der Eindruck, fuhrhindernisse der EU für landwirt- litätspakt kann nur über langes Wirken
dass hier schlicht zu viele Köche am Werk schaftliche Produkte vom Balkan fallen, seinen Beitrag leisten. Mehr Dialog, mehr
Gemeinsamkeit lässt sich nicht über Nacht
um den Staaten dort zu helfen?
sind.
Hombach: Wenn die Köche arbeitsteilig vor- Hombach: Selbstverständlich kommen die erzwingen und sichern. Gleichzeitig aber
gehen und sich gegenseitig unterstützen, Europäer an dem Thema nicht vorbei. Das muss eine Subventionsmentalität verhindann kann die Aufgabenstellung in dieser ist sehr schwierig. Der amerikanische dert werden.
großen Region gewiss viele helfende Hän- Präsident hat in Sarajevo immerhin schon SPIEGEL: Wie lange wird Bodo Hombach
de vertragen.
Handelspräferenzen für die südost- sich auf dem Balkan tummeln wollen oder
müssen?
SPIEGEL: Sie haben doch außer der Wucht europäischen Staaten angeboten.
Ihrer Persönlichkeit keine Instrumente, SPIEGEL: Der Uno-Administrator im Koso- Hombach: Wenn es sein muss, bis zur PenIhre Partner zum Mannschaftsspiel zu be- vo, der Franzose Bernard Kouchner, be- sionsgrenze.
wegen. Sind Sie nicht ein „König ohne klagt, dass die Europäer ihm nicht die drin- SPIEGEL: Herr Hombach, wir danken Ihnen
Land“?
gend benötigten Polizisten zur Verfügung für dieses Gespräch.
Stabilitätspakt
Südosteuropa
Lenkungsgruppe
AP
tige Daewoo-Boss gibt sein Imperium offenbar noch nicht verloren.
Wie eine Parabel symbolisiert Kims Erfolgsgeschichte den nationalistisch geprägten Aufstieg des eigenen Landes aus den
Ruinen des Koreakrieges zum elftgrößten
Industrieland. Nach und nach stieß der Firmenchef mit seinem Konzern in immer
neue Geschäftssparten vor: Zunächst Textilien, dann Elektronik, Kosmetik, Baugewerbe, Schiff- und Autobau.
Wie andere Konzernbosse wählte Kim
dubiose Methoden der Geldbeschaffung.
Tochterfirmen bürgten gegenseitig für Kredite. Oder die Regierung drängte staatliche
Banken zur Geldverleihung.
Neue Technologien kauften DaewooFirmen fast immer auf Pump. So startete
Kim seine Autoproduktion mit in Lizenz
nachgebauten Modellen von Opel Rekord
und Opel Kadett.
Streikende Daewoo-Werftarbeiter*: „Gelegenheiten wachsen aus Gefahren“
Auf Befehl von Ex-Diktator Park Chung Hee baute
überwunden zu haben. In der
SÜDKOREA
Kim die Fischerinsel Okpo
Hoffnung auf ökonomische
im Süden des Landes zur
Erholung strömten ausländimodernsten Schiffswerft der
sche Anleger in die TigerlänWelt aus. Als dem verwegeder zurück. Die Börsen feinen Projekt Anfang der Achterten neue Höchststände.
ziger die Pleite drohte, spranDoch die Zitterpartie um
gen Banken auf Druck der
Daewoo zeigt: Südkorea –
Regierung als Retter ein.
und
andere
Tiger
–
haben
das
Die Krise bei Daewoo könnAuch in der aktuellen Kristrukturelle Erbe der Asiente zum Crash in Südkorea führen. krise längst nicht bewältigt.
se hofft Kim offenbar immer
Der Konzern mit seinen 260 000
noch auf ein Wunder. Doch
An der Börse in Seoul drückt
Beschäftigten steht am Rande des die Daewoo-Krise die Kurse
im Zuge der vom Internationalen Währungsfonds geseit Mitte Juli um sechs ProRuins, der Boss ist uneinsichtig.
steuerten Reformen kann
zent. Und die Finanzmärkte Daewoo-Chef Kim
sich Koreas Regierung die
ie Durchhalteparole kam per Fax: machen sich auf noch schlim„Erfüllt Eure Pflichten am Arbeits- mere Überraschungen gefasst. Denn ob einstige Vetternwirtschaft nicht mehr leisplatz“, flehte die Führung des süd- selbst Daewoo-Boss Kim Woo Choong, 62, ten: Das Management der Großkonzerne
koreanischen Mischkonzerns Daewoo in die wahre Höhe seines Schuldenbergs verhalte sich „wie die Bulldozer“ und
schade so der Wirtschaft, kritisiert Finanzder vergangenen Woche das Personal an. kennt, ist eher zweifelhaft.
Von den Korea-Riesen expandierte Kim und Wirtschaftsminister Kang Bong Kyun.
„Wir können diese Krise überwinden.“
Zwar haben heimische Banken Daewoo
Der hilflose Appell sollte die „Daewoo- am aggressivsten. Allein die Autotochter
Familie“ beruhigen. Stattdessen führte er Daewoo Motors kaufte oder gründete 14 erneut kurzfristig fällige Schulden von
den 260 000 Beschäftigten im In- und Aus- Fabriken, darunter in Polen, Rumänien, rund 5,9 Milliarden Dollar gestreckt und
land die dramatische Lage erst so richtig Usbekistan, Indien und Vietnam. Doch eine frische Kredite zugeschossen. Im Gegenzug
vor Augen: Koreas zweitgrößtes Konglo- konsolidierte Gruppenbilanz, die Soll und musste Daewoo große Teile seines Impemerat, dessen 22 Tochterfirmen vom Kühl- Haben des Firmen-Dschungels auflistet, riums verkaufen und sich aufs Autogeschäft
und den Handel konzentrieren. Der Grünschrank bis zum Supertanker fast alles her- hielt Kim offenbar für überflüssig.
Seit Monaten drängt der Präsident des dervater selbst gelobte sich nach Abschluss
stellen, steht am Rande des Ruins.
Falls der Riese strauchelt, könnte er ganz Landes die vier größten Konglomerate – der Rettungsaktion zurückzuziehen. Einen
Asien in eine neue Krise reißen: Daewoo Hyundai, Daewoo, Samsung und LG –, ihre Kollaps von Daewoo will die Regierung
ist bei in- und ausländischen Banken mit Schulden zu senken und sich auf gesunde auf keinen Fall zulassen.
Auch die ausländischen Gläubiger wolmindestens 50 Milliarden Dollar verschul- Kerngeschäfte zu beschränken. Die Firmen
det. Das ist mehr als fünfmal so viel, wie reagierten wie gewünscht – bis auf Daewoo. len durch einen geordneten Verkauf von
die Gruppe an Eigenkapital besitzt, und
Typisch Kim: Längst zum eigenen My- Daewoo-Teilen möglichst viel von ihrem
mehr als ein Land wie Malaysia an Aus- thos erstarrt, lässt sich der Patriarch täglich Geld retten. Alle blicken jetzt gespannt auf
landsschulden aufweist.
mit knietiefen Verbeugungen von seinen den 11. August: Dann soll Daewoo einen
Ähnlich wie der Taifun Olga, der ver- Untergebenen huldigen. Im sechsten Stock neuen Sanierungsplan vorlegen.
Die Geldgeber erwarten radikale Saniegangene Woche weite Teile Südkoreas der klotzigen Daewoo-Zentrale in Seoul
heimsuchte, hält Daewoo zur Zeit die Kri- marschiert das gesamte Führungspersonal rungsschritte, die Beschäftigten hoffen, gesenmanager der koreanischen Regierung täglich an jener Wand vorbei, die unzähli- nau dies verhindern zu können.Vorsorglich
in Atem. Denn mit Daewoo erhebt sich das ge Ausgaben seines Buches schmücken. Ti- wird schon gedroht wie bei den ArbeiterGespenst der Asienkrise plötzlich wieder, tel: „Jede Straße ist mit Gold gepflastert“. aufständen vor drei Jahren. Ein Angestellböse Erinnerungen werden wach. Diesen
Dieser Tage scheint Kim vor allem nach ter bei Kims Tochterfirma Daewoo TeleAlptraum glaubten die Asiaten glücklich Kapitel 23 seines Buches zu handeln: „Ge- com gibt sich entschlossen: „Wenn die unlegenheiten erwachsen aus Gefahren oder: sere Jobs kaputtmachen, machen wir die
* Am 20. April im südkoreanischen Koje.
Wieland Wagner
Warum Krisen gut sind“. Denn der mäch- kaputt.“
AFP / DPA
Wie die
Bulldozer
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Werbeseite
Werbeseite
AFP / DPA
Das alles haben die Mullahs
verspielt.“
Resa ist auf der verzweifelten Suche nach einem Arbeitsplatz. Als Demonstrant
festgenommen zu werden,
kann er sich nicht leisten.
Während das Sommersemester vor vier Wochen in den
Tumulten der Proteste zu
Ende ging, büffelte er fleißig
für die Abschlussprüfung.
Auf dem Heimweg schlich er
mit schlechtem Gewissen an
seinen demonstrierenden
Kommilitonen vorbei.
Als er am vierten Protesttag nach Hause kam, beschämte ihn schließlich sein
eigener Vater. Der pensionierte Abteilungsleiter der
Stadtverwaltung hatte gehört, dass am Palästina-Platz
zwei Autobusse in Flammen
stehen. Da hielt es den alten Revolutionär nicht mehr zu Hause.
„Bleib daheim“, warnte ihn sein Sohn, „die
schießen mit scharfer Munition.“ Er habe,
antwortete der Vater, schon vor 20 Jahren
keine Angst gehabt. Drei bange Stunden
warteten sie auf Kawiani senior. Um halb
drei Uhr früh kam er zurück, zwei bandagierte Studenten im Schlepptau. Sie diskutierten bis zum Morgengrauen, der Vater
führte das Wort.
Auch er habe schon vor Jahren mit dem
Staat Chomeinis gebrochen, offenbarte der
Veteran von 1979. Und für ein paar Tage
habe er während der jüngsten Studentenproteste tatsächlich an eine neue Revolution geglaubt. Doch es sei eine Illusion gewesen: „Als wir vor 20 Jahren demonstrierten, haben wir den Schah gehasst.
Euch gehen die Mullahs heute nur auf die
Nerven. Das reicht nicht.“
Studentenprotest in Teheran*: „Bleib daheim, die schießen mit scharfer Munition“
IRAN
„Die Mullahs haben
alles verspielt“
Die Demonstrationen tausender Studenten offenbarten:
Der Gottesstaat ist reif für den Umsturz. Doch das
Fundamentalisten-Regime behauptet das Gewaltmonopol.
D
reißig Laufmeter Garderobe hatte
das Kaiserpaar einst zurückgelassen – Uniformen, Reitstiefel und
französische Maßhemden der Schah; Seidenblazer und Kordsamtkostüme, den
ganzen rosa- und orangefarbenen Plüsch
der siebziger Jahre seine Frau Farah Diba.
Fereschte, eine 20-jährige Englischstudentin aus Isfahan, verbirgt ihre Tränen
nicht, als sie mit ihrer Mutter an der Klamottenpracht des kaiserlichen Umkleidezimmers im Teheraner Niawaran-Palast
vorüberschreitet, die Finger versonnen an
den überdimensionalen Kleiderschränken
entlangziehend. Man darf wieder ungeniert weinen im Angesicht der Herrlichkeiten, die aus imperialen Tagen in den
tristen Gottesstaat herüberglänzen.
Aber vorsichtig muss man sein. Die
finster patrouillierenden Museumswärter
gehören zur anderen Seite. „Mag ja sein“,
sagt Fereschte und blickt sich um, „dass
das alles ein bisschen übertrieben war damals. Aber schauen Sie sich doch den Iran
von heute an. Ist das etwa besser?“
Nein, Fereschte war nicht dabei, als tausende Studenten der Universität von Te* Am 11. Juli.
116
heran Anfang Juli gegen das Mullah-Regime demonstrierten. Die Tochter eines
Speditionsunternehmers besucht eine so
genannte Asad-Universität. Das ist eine
Privathochschule, in der die Gebühren ein
bisschen höher sind, der Numerus clausus
ein bisschen gnädiger und die Stimmung
nicht ganz so rebellisch.
Doch das Lebensgefühl ihrer zornigen
Altersgenossen vom Campus der Staatsuniversität meint sie genau zu kennen.
„Wir haben es satt, uns von ungebildeten
Revolutionswächtern maßregeln zu lassen,
nur weil wir offene Sandalen tragen und
uns die Zehennägel lackieren.“
Resa Kawiani, mit 28 Jahren kurz vor
dem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums,
hat den Notendurchschnitt für die Staatsuni leicht geschafft. Die monarchistischen
„Zuckerpüppchen“ von den Privathochschulen sind ihm zuwider. Dass auch er
nunmehr ein gutes Wort für den Schah
übrig haben würde, hat er sich vor Jahren
„nicht einmal träumen lassen“.
Doch nach zehn Semestern Studium,
sagt er, sei es allzu deutlich: „Unter dem
Schah war Iran ein Land voller Ungerechtigkeit, aber wirtschaftlich und technologisch waren wir auf der Höhe der Zeit.
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Verwüstetes Studentenzimmer, Demonstranten
Ausland
AFP / DPA
A. DUCLOS / GAMMA / STUDIO X
charismatischer Vorgänger Chomeini einst der Region um Täbris versteht er hervorden Schah aus dem Land jagte.
ragend Türkisch. Der Blick hinaus zu den
„Chomeini habe ich geliebt“, sagt Akbar 25 üppigen Fernsehkanälen des westlichen
Hosseini, 49, „und ich verehre ihn immer Nachbarn war sehr unterhaltsam im Vernoch.“ Seinetwegen war der in Dänemark gleich zum drögen Staatsfernsehen – aber
ausgebildete Bauingenieur 1978 nach Iran auch deprimierend. „Iran ist das reichste
zurückgekehrt und hatte Wohnung, Auto und großartigste Land im Nahen Osten.
und Ausbildungsplatz für immer an der Doch wenn wir nicht gerade in den Irak
Nordsee zurückgelassen.
schauen“, klagt Hosseini, „zeigt uns jeder
Heute hat Hosseini
einen mittleren Posten
im Verteidigungsministerium, verdient 200
Mark im Monat und
kann Frau und Kinder
nicht mehr ernähren.
Er begann wie so viele,
nach Dienstschluss bei
einer Taxi-Agentur zu
arbeiten, um sein Gehalt aufzubessern und
seiner Ältesten das Studium zu finanzieren.
Noch in den letzten Widersacher Chamenei, Chatami: Hilfloser Schlingerkurs
Tagen des Schah-Regimes hat er gut viermal so viel verdient Blick über die Grenzen, dass wir in einem
wie heute, und die meisten Preise waren Armenhaus sitzen.“
damals niedriger. Ein neuer Paykan, das
Die Mullahs, so empfinden es viele, steuiranische Standardauto, kostet heute sieben ern das stolze Iran mit angezogener HandMillionen Tuman, das sind knapp 15 000 bremse ins neue Jahrtausend. Sie unterMark. „Ich bin 49, da tut es weh zu wissen, drücken jede Initiative und verspielen wirtdass ich mir einen solchen Wagen nie mehr schaftliches Potenzial.
werde leisten können.“
Er werde seinen kleinen Laden bald wieHosseinis Kollegen im Ministerium blieb der zusperren, beschwert sich Human, ein
nicht verborgen, dass der Familienvater ab junger Modedesigner aus Teheran; seinen
und zu resignierte Witze über den Mullah- vollen Namen mag er nicht nennen. „Ich
Staat macht; seither fühlt er sich wie auf könnte gute, moderne und günstige Ware
der Abschussliste. Vor drei Monaten stan- für den Westen produzieren“, sagt Human,
den plötzlich olivgrün uniformierte Pas- doch die Staatsbürokratie stelle ihm ein
daran vor seiner Tür und montierten die Hindernis nach dem anderen in den Weg.
auf dem Balkonboden verschraubte Satel- Sich mit einem Ausländer zu treffen und
litenschüssel ab. Als Denunzianten hat er übers Geschäft zu reden, rufe jedes Mal
Kollegen im Verdacht.
misstrauische Inquisitionen hervor – von
Hosseinis Antenne war Richtung Ana- Reisen nach Deutschland oder Großbritolien gerichtet, wie die meisten Iraner aus tannien ganz zu schweigen.
Human, selbst im Studentenalter, hat
Anfang Juli auf dem Enghelab-Boulevard
mitprotestiert; sein Laden liegt nur ein paar
Straßen weiter. Doch auch er kehrte nach
fünf Tagen Demonstrationen resigniert in
seine Schneiderei zurück: „Das war ein
Signal, aber mehr auch nicht.“
Wie es komme, dass die Generation seines Vaters einst einen der mächtigsten
Potentaten der Welt vom Thron gestürzt
habe, er und seine zehn Millionen Altersgenossen gegen die Mullahs jedoch keinen
Schritt weiterkommen?
Das sei ganz einfach, antwortet Human:
„In diesem Regime werden Menschen aus
politischen Gründen umgebracht.Wir trauen uns immerhin schon auf die Straße, aber
vor dem letzten Schritt haben wir Angst.“
Angst freilich hätten auch die Väter gehabt.
„Doch was die vor 20 Jahren hatten, war
eine Alternative – jemand, der den ganzen
Zorn gebündelt hat. Das ist es, was uns
heute fehlt: Wir brauchen einen anderen
Chomeini.“
™
auf dem Universitätsgelände: „Vor dem letzten Schritt haben wir Angst“
Es war tatsächlich nicht so sehr die Fundamentalkritik am islamischen Staatswesen, welche die Studenten auf die Straßen
getrieben hatte, als vielmehr die Summe
kleinlicher Machtdemonstrationen der
rechtsislamistischen Gefolgsleute des religiösen Führers Ajatollah Ali Chamenei:
Zuerst die Inhaftierung des Teheraner
Bürgermeisters Karbastschi, der die Hauptstadt zu einer der gepflegtesten Städte
des Nahen Ostens gemacht hatte; dann
das Anziehen der moralischen Daumenschrauben, mit denen Schriftsteller, Filmregisseure und einfache Jugendliche gepiesackt werden, je nach Laune der Revolutionswächter; und zuletzt, am 7. Juli, die
Verschärfung des Pressegesetzes und das
Verbot der liberal-islamischen Tageszeitung „Salam“ – alles Maßnahmen, die nicht
nur sture Reaktionärsgesinnung zum Ausdruck brachten, sondern auch den Reformkurs des Staatspräsidenten Mohammed Chatami torpedieren sollten.
Die kurze Studentenrevolte, so scheint
es, führte den Ultras zumindest vor Augen, wie unbeliebt sie tatsächlich sind. Dass
die Botschaft angekommen ist, zeigt der
ungewöhnliche Schlingerkurs, den Chamenei seither fährt.
Er betrachte, so sagte der Chomeini-Erbe
noch während der Demonstrationen, die
Studenten als „seine Kinder“; kurz darauf
ordnete er, in guter alter Schah-Manier,
eine zentral gesteuerte Gegendemonstration an. Beim ersten Freitagsgebet nach den
Unruhen ließ er die Revoluzzer als vom
Ausland gesteuerte Terroristen brandmarken; später wiederum empfing er dutzende
Studenten, die er zum Zeichen der Versöhnung umarmte und küsste.
Doch die antiwestliche Propaganda verfängt nicht mehr. Der innere Zirkel um
Chamenei hat auch die Masse jener tief
gläubigen Kleinbürger entfremdet, mit deren millionenfacher Unterstützung sein
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KOLUMBIEN
Höchste Not
Der Friedensinitiative von Präsident Pastrana droht der
Kollaps. Doch Bernd Schmidbauer
agiert weiter als Vermittler.
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AP
REUTERS
er Guerrillero bittet freundlich zur
Ausweiskontrolle. Ein Blick in den
Kofferraum, dann winkt er die Besucher weiter. Willkommen bei den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc),
grüßt ein Schild am Straßenrand. Zwei
Kilometer weiter liegt San Vicente del
Caguán.
Der Ort im Südwesten Kolumbiens ist
die Hauptstadt eines Guerrilla-Staats. Kolumbiens Präsident Andrés Pastrana hat
den Farc im November vorigen Jahres das
Gebiet von der Größe der Schweiz als Gegenleistung für die Aufnahme von Friedensgesprächen überlassen.
Besuchern führen die Guerrilleros ein
revolutionäres Musterländle vor: Sie asphaltieren Straßen, renovieren Schulen
und haben eine Sperrstunde verhängt.
Äußerlich herrscht Frieden: Salsa-Musik dröhnt über den Hauptplatz; Straßenhändler verhökern Ché-Guevara-T-Shirts.
Nur wenn sie sich unbeobachtet fühlen,
klagen Einwohner über Repressalien.
Schon Elfjährige werden zum Dienst in
der Revolutionsarmee gezwungen. Jüngst
richteten die Rebellen elf Bauern hin. Die
hatten angeblich Spitzeldienste für die
paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen geleistet, die ärgsten Feinde der Guerrilla. In ihrem Herrschaftsgebiet bereiten
die Rebellen Bombenanschläge und militärische Offensiven vor.
Die Regierung will, dass die Vorfälle von
einer internationalen Kommission untersucht werden. Darauf habe sich Präsident
Pastrana bei einem Treffen mit dem legendären Farc-Chef Manuel Marulanda, genannt „Tirofijo“ (Sicherer Schuss), verständigt. Die Guerrilla bestreitet das und
vertagte die vorgesehenen Verhandlungen.
Unterhändler Schmidbauer, Guerrilleros
Zur „humanitären Aktion“ in den Busch
118
An dem Streit droht
jetzt der gesamte Friedensprozess zu scheitern.
Nunmehr rächt es
sich, dass Pastrana
überstürzt und planlos
vorging. Während des
Wahlkampfs im vergangenen Jahr hatte er
sich überraschend mit
Tirofijo getroffen und
damit nach 40 Jahren
Bürgerkrieg Friedenshoffnungen geschürt.
Experten warnten
damals vor übertriebe- Bombenanschlag in Medellín: Alptraum der US-Regierung
nen Erwartungen, Friedensinitiativen früherer Präsidenten sind lern genommen haben. Pastrana will erst
gescheitert. Pastranas Vorstoß droht ein mit den Rebellen über Frieden verhandeln,
ähnliches Schicksal. Kritiker bemängeln, wenn die Gefangenen bedingungslos freider Präsident habe sich auf Gespräche ein- gelassen worden sind.
Eine Hoffnung richtet sich auf Bonn:
gelassen, ohne vorher auf einen Waffenstillstand zu bestehen. Die Guerrilla nutzt Der ehemalige Kanzleramtsminister Bernd
das aus, um ihre Verhandlungsposition mit Schmidbauer vermittelt seit zwei MonaMilitäraktionen zu stärken. Bei einer Of- ten in dem Geiseldrama. Das ELN besteht
fensive Anfang Juli trug sie den Krieg bis auf dem umstrittenen CDU-Politiker, offenbar mit Unterstützung ihres Vertrauin die Nähe der Hauptstadt.
Vergangene Woche legten die Farc das ensmanns, des Privatagenten Werner
Städtchen Nariño in Schutt und Asche, an Mauss.
Präsident Pastrana akzeptiert Schmiddie 50 Menschen kamen ums Leben. Auch
ein Bombenattentat Ende Juli in Medellín, bauers Vermittlung als „humanitäre Akbei dem 10 Menschen starben, legt die Re- tion“, obwohl die Bundesregierung schwere Bedenken gegen das Duo Schmidbaugierung den Rebellen zur Last.
Die Streitkräfte bereiten sich auf eine er/Mauss hat. Aber Schmidbauer ist anEskalation des Konflikts zum offenen Krieg scheinend Pastranas einziger Mittelsmann
vor. Ohne Hilfe von außen wäre der aller- zu den Rebellen.
Allerdings ist Schmidbauer ohne Mauss
dings kaum zu gewinnen. Bogotá bat
Washington um 500 Millionen Dollar in Kolumbien hilflos. Der umtriebige Agent
Militärhilfe. Kolumbien sei „in höchster habe „Kontakte, die ich nicht besitze“, beNot“, befand der US-Drogenbeauftragte kannte Kohls vormaliger Geheimdienstaufseher in der „Süddeutschen Zeitung“.
Barry McCaffrey.
Juan Gabriel Uribe, Präsident Pastranas
300 US-Berater sind derzeit in Kolumbien im Einsatz. Die meisten sollen bei Abgesandter für die Gespräche mit dem
der Eindämmung des Drogenhandels hel- ELN, war jüngst mehrere Tage bei Schmidfen. Doch Rauschgiftbekämpfung und bauer in Bonn zu Gast, um die Chancen für
Guerrillakrieg sind längst nicht mehr zu ein Abkommen auszuloten. Die Forderungen der Rebellen seien „rein politischer
trennen.
Washington sieht ein Alptraumszenario Natur“, beteuerte der Emissär nach seiner
heraufziehen: einen kommunistischen Auf- Rückkehr.
Hohe kolumbianische Geheimdienststand, der mit Drogengeldern finanziert
wird. Die Guerrilleros kontrollieren das kreise versicherten dem SPIEGEL jedoch,
größte Coca-Anbaugebiet Südamerikas. dass die Guerrilleros Lösegeld fordern. Sie
Die Rauschgifthändler müssen Tribut ab- hätten die Gefangenen je nach Einkomführen, mit dem Geld kaufen die Rebellen mensverhältnissen in verschiedene „Zahlungsklassen“ eingeteilt.
Waffen.
Schon einmal war eine Freilassung an
Weil die Gespräche mit den Farc festgefahren sind, sucht Präsident Pastrana jetzt Lösegeldforderungen gescheitert. Präsident
Kontakt zum Nationalen Befreiungsheer Pastrana frohlockte voreilig, die Rebellen
(ELN), der zweitgrößten Guerrilla des Lan- würden keine Bedingungen stellen.
Dann meldete sich plötzlich ELN-Boss
des. Militärisch ist das ELN in Bedrängnis:
Anders als die Farc verfügen die ELN-Re- Nicolás Rodríguez telefonisch: Es sei
bellen nicht über eine eigene Herrschafts- „überhaupt nicht sicher“, dass das ELN
auf Lösegeld verzichte.
zone.
Jens Glüsing
Bislang scheiterten Gespräche an der
Geiselfrage. Seit Monaten hält das ELN
über 60 Menschen gefangen, die sie bei
Angriffen auf eine Kirche, ein Verkehrsflugzeug und eine Gruppe von Sportangd e r
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Ausland
Guter Rat vom
kleinen Prinzen
Finanzjongleur Beresowski drängt
den Kreml zum Medienkrieg
und zum letzten Gefecht gegen
Herausforderer Luschkow.
G
REFLEX
leich zum drittwichtigsten Mann im
russischen Staat wurde Boris Beresowski, 53, von den Meinungsforschern einer Tageszeitung erhoben. Die
ist von ihm selbst finanziert und heißt daher die „Unabhängige“.
Die frohe Botschaft der „Nesawissimaja gaseta“, ihr Patron rangiere seit letzter
Woche als „führender Politiker“ zwischen
Boris Jelzin (Platz eins) und dessen Tochter Tatjana (Platz fünf), muss den ebenso
Woloschin, ist ein alter Bekannter aus Zeiten, als Beresowski mit seiner Allrussischen
Auto-Allianz den kleinen Leuten ein preiswertes Volksmobil versprach. Woloschin
diente dem Projekt einst als Konsultant:
Er sammelte bei der Bevölkerung rund
50 Millionen Dollar ein, blieb den Billigwagen aber bis heute schuldig.
Der alte Kamerad, erst im März auf seinen Kreml-Posten gehievt, war dem milliardenschweren Ritter des obskuren Konstantin-Ordens nun bei seiner neuesten
Akquisitionskampagne nützlich. Als der
außer Menschen auch Medien sammelnde
Tycoon Beresowski öffentlich die Konkurrenzgruppe Media-Most seines Rivalen
Wladimir Gussinski als „Finanzpyramide“
anschwärzte, die längst fällige Kredite
schuldig bleibe, legte Woloschin noch nach:
Die Most-Medien betrieben „journalistische Erpressung“, um vom Staat geborgte 61 Millionen Dollar nicht zurückzahlen zu müssen; insgesamt hätten sie 800
Millionen Kredit-Dollar verschleudert.
Ein Most-Mann schimpfte Jelzins Haus-
Tycoon Beresowski mit Präsident, Plakat-Mahnung an Jelzin: „Eine schreckliche Saat“
spendablen wie ehrgeizigen Handelsherrn
gefreut haben: Nun könne ihm, spottet ein
politischer Gegner, „die regierende Familie doch gleich den Kreml überschreiben“.
Doch der Meister russischer Hofintrige,
den Freunde wie Feinde BAB nennen,
schert sich nicht um buchhalterische Sicherheiten: Boris Abramowitsch Beresowskis wahre Leidenschaft und eigentliches Kapital sind einflussreiche Kader,
die er sich gewogen machen, hegen und
pflegen kann – und abstoßen, wenn sie keinen Nutzen mehr versprechen.
Das Gemäuer am Roten Platz interessiert ihn wenig, solange er sich dem jeweiligen Chef der Kreml-Administration nahe
weiß: Und der gegenwärtige, Alexander
meier daraufhin einen „Lügner“. Der
Kreml konterte mit der Entlassung des letzten Gussinski-Lobbyisten aus dem Präsidialamt: Sergej Swerjew, bis Mitte letzter
Woche einer von Woloschins Stellvertretern, berichtete nach seinem Rauswurf, in
Jelzins Wagenburg werde zunehmend nach
der Losung „Wer nicht für uns ist, ist gegen
uns“ gedacht und gehandelt.
Die gegenwärtig gefährlichsten Gegner
sieht Drahtzieher Beresowski im Wahlverein des Moskauer Oberbürgermeisters Jurij
Luschkow versammelt, dem gerade auch
noch die Vereinigung mit dem Regionalbündnis „Ganz Russland“ gelang: Gewinne Luschkow im kommenden Jahr die Präsidentenwahl, werde es zu einem „Blutd e r
s p i e g e l
bad“ im Lande kommen. Dechiffriert lautet die Botschaft für den derzeitigen
Kreml-Hausherrn: Vom Moskauer Stadtvogt als Nachfolger seien kaum Garantien
für ein ruhiges Altenteil in allen Ehren und
mit sämtlichen Pfründen zu erwarten. Und
die Missetat des 1996 noch auf Jelzin-Wahlhilfe eingeschworenen Most-Konzerns mit
einer Tageszeitung, zwei Wochenblättern,
einem Radiosender und dem Fernsehkanal
NTW besteht denn auch allein darin, diesmal mit Luschkow den falschen Favoriten
gewählt zu haben. „Ich bin keine Kreatur
Beresowskis“, verlautbarte Woloschin inmitten der Grabenkämpfe, aber es sei
„doch dumm, eine feindliche Struktur zu
finanzieren“.
Boris Beresowski hingegen hat unter Anspielung auf elf Unfälle und Anschläge, die
er bereits überlebt habe, Widerstand bis
zum Letzten angekündigt: „Mich kann
man aus der politischen Arena nur entfernen, wenn man mich umbringt.“
Dabei ist BAB das Personal-Schach noch
nie so prächtig geglückt wie seit diesem
Frühjahr: Kaum hatte
Russlands damaliger Premier Jewgenij Primakow
im April die Staatsanwaltschaft von der Leine gelassen, um Beresowskis undurchsichtige Firmenbeteiligungen und Finanzen
durchleuchten zu lassen,
gab der heimliche Reichsverweser die Losung aus:
„Primakow zerstört Russland.“ Einen Monat später
feuerte Präsident Jelzin
seinen allzu selbständigen
Regierungschef.
Auch Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow, der
es gewagt hatte, den
Polit- und Profitmanövern
des milliardenschweren
Drahtziehers nachzuspüren, kam ganz zufällig
über ein in die Öffentlichkeit lanciertes Pornovideo
zu Fall. Sein Stellvertreter, der die lästigen Ermittlungen partout fortführen wollte, wurde in ein justizfernes Amt verbannt.
Also eigentlich nur Grund zur Freude
für BAB, wäre da nicht die Sache mit BaoBAB. Geistreiche Gegner nämlich haben
auf der Jelzin-Route zwischen Staatsdatscha und Kreml große Plakate mit
Saint-Exupéry-Zitaten kleben lassen – mit
einem guten Rat des kleinen Prinzen für
den alten Zaren:
„Auf dem Planeten des kleinen Prinzen
gab es fürchterliche Samen … und das
waren die Samen der BaoBABs. Der Boden des Planeten war voll davon. Aber
einen Bao-BAB kann man, wenn man
ihn zu spät angeht, nie mehr loswerden.“
Jörg R. Mettke
P. KASSIN
RUSSLAND
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Ausland
14 Monaten haben die USA unsere Sicherheitsinteressen und unsere stabilisierende
INDIEN
Funktion in Asien besser begriffen und auch
ihr Verhältnis zu Pakistan kritisch überprüft.
SPIEGEL: Immerhin schickt Washington in
Kürze einen Abrüstungsexperten nach
Neu-Delhi – damit Indien noch dieses Jahr
das Atomteststopp-Abkommen unterAußenminister Jaswant Singh über das gespannte
zeichnet?
Verhältnis zu Pakistan und die Rolle der USA als Vermittler
Singh: Ich kenne die amerikanische Haltung in dieser Frage. Es wäre falsch, unseSPIEGEL: Herr Singh, im Fe- brüllen, kann es keine gescheiten Ge- re Beziehungen zu den USA auf dieses
eine Thema zu reduzieren.
bruar waren Indien und spräche geben.
Pakistan noch auf Versöh- SPIEGEL: Pakistan wünscht einen neutralen SPIEGEL: Nach US-Erkenntnissen sucht der
nungskurs, aber seit Mai Dritten, etwa die USA, als Vermittler. War- Terrorist Ussama Ibn Ladin den Absprung
herrschte neun Wochen um beharrt Indien auf einer bilateralen aus Afghanistan, und Indien gilt als potenlang Krieg in Kaschmir. Lösung?
zielles Ziel seiner terroristischen AktiviWas lief da schief?
Singh: Wir benötigen keinen Dolmetscher. täten. Würden Sie bei seiner Ergreifung
Singh: Das weiß ich auch Das würde die ohnehin komplexe Situation helfen?
nicht. Wir hatten die Frie- nur noch schwieriger machen.
Singh: Ich möchte das Thema des grenzdensinitiative ergriffen, wir SPIEGEL: Indien betont stets die Bedeutung überschreitenden Terrorismus nicht persoSingh
wollten den Feindseligkei- der Uno, blockiert aber immer noch die nalisieren. Auf jeden Fall ist es eine interten nach 52 Jahren endlich ein Ende setzen. Resolution von 1948, die eine Volksab- nationale Aufgabe, den Rückfall ins MitDass Pakistan trotzdem Freischärler ein- stimmung in Kaschmir fordert.
telalter zu bekämpfen, den Fundamentamarschieren ließ, auch reguläre Truppen, Singh: Die Resolution verlangt als Vorbe- lismus, das Afghanistan-Syndrom.
ist unbegreiflich. Klar ist aber: Ein solches dingung den Abzug jeglicher pakistani- SPIEGEL: Die USA dürften allerdings wenig
Abenteuer war nur möglich durch die scher Truppen aus Kaschmir, und der ist bis erfreut sein, dass Indien gerade jetzt seine
rückhaltlose Unterstützung des gesamten heute nicht erfolgt. Außerdem hat es in Beziehungen zum Irak verbessert. Es heißt,
Regierungsapparats.
Kaschmir mehrere faire und freie Wahlen Ibn Ladin könnte dort untertauchen.
SPIEGEL: Verteidigungsminister George Fer- gegeben, zum Regionalparlament und zur Singh: Wir entscheiden nach unseren nanandes, Ihr Kabinettskollege, sieht das an- indischen Nationalversammlung. Die Ver- tionalen Interessen und pflegen traditionell
ders. Er sagt, Pakistans Premier Nawaz hältnisse haben sich gründlich verändert, gute Beziehungen zum Irak, unabhängig
Sharif war in die Pläne seiner Militärs nicht die alten Maßstäbe gelten nicht mehr.
von der internationalen Stimmungslage,
SPIEGEL: Voriges Jahr im Mai, nach den in- aber unter Beachtung der Uno-Resolutioeingeweiht.
Singh: Nach allem, was in Kaschmir pas- dischen Atomtests, waren Ihre Beziehun- nen. Wir leisten verstärkt humanitäre Hilsierte, halte ich die Frage für akademisch, gen zu den USA auf dem
fe, denn die Bevölkerung
ob es in der pakistanischen Führung viel- Nullpunkt. Das hat sich
leidet sehr.Wenn der Irak
200 km
leicht Dissonanzen oder einen Meinungs- mit dem Kaschmir-Krieg
einem wie Ussama Ibn
INDIEN
verbessert?
streit gegeben hat.
Ladin Unterschlupf geCHINA
SPIEGEL: Wurde seit Mai bei offiziellen Singh: Wir sind ein zu
währen würde, so wäre
unter
Kontakten mit Pakistan erwogen, die wichtiges Land, um auf
das eine Sache zwischen
pakistanischer
Demarkationslinie in Kaschmir aufzu- Dauer das schwarze Schaf
dem Irak und den USA.
unter
chiVerwaltung
nesischer
werten?
zu spielen. In den letzten Waffenstill- K
SPIEGEL: Trotz diplomatiVerwaltung
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Singh: Nein. Wir haben Pakistan
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Srinagar
lediglich aufgefordert, ihre UnZeit droht Ihrer Koalim i
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unter indischer
verletzlichkeit zu bestätigen.
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N. RAI
„Wir brauchen keine Aufsicht“
Pakistanisches Militär in Kaschmir
„Von jedem Dach Parolen“
120
Islamabad
PAKISTAN
Verwaltung
Wahlen im September
eine Niederlage. Bereitet
Ihnen das Sorgen?
INDIEN
Singh: Wir haben in anderthalb Jahren zwei gewaltige Herausforderungen gemeistert –
die Sanktionen nach den Atomtests und
die Kaschmir-Invasion. Was sollte uns beunruhigen?
SPIEGEL: Verteidigungsminister Fernandes
hat China immerhin als „prinzipielle Bedrohung“ bezeichnet.
Singh: Zwei so alte Kulturen sollten im
Stande sein, als reife Staaten einander zu
achten und zu koexistieren.
SPIEGEL: Moskau hält sogar einen russisch-chinesisch-indischen Block für wünschenswert.
Singh: Ich glaube nicht an die Notwendigkeit von Blöcken. Staaten müssen ihre Belange souverän verfolgen können. Ohne
Aufsicht einer Supermacht.
REUTERS
Das erhebt sie aber nicht in den
Rang einer international anerkannten Grenze.
SPIEGEL: Indien macht nun die
Wiederaufnahme von Gesprächen von einer solchen Garantie abhängig und erwartet zudem ein Versprechen Pakistans,
den grenzüberschreitenden Terrorismus nicht weiter zu unterstützen. Das wird Islamabad
kaum akzeptieren.
Singh: Wir stellen keine Bedingungen, sondern bezeichnen
die notwendigen Zutaten eines
weiteren Dialogs. Solange die
andere Seite diesen Terrorismus fördert und dazu ermuntert, jeden Tag von jedem
Dach antiindische Parolen zu
Interview: Padma Rao
Werbeseite
Werbeseite
ROPI
Bürgermeister Guazzaloca, Altstadt von Bologna: Plötzlich sind die traditionellen Bastionen der Genossen in Gefahr
I TA L I E N
Hackfleisch aus der Linken
Ein halbes Jahrhundert galt „Bologna la rossa“ als Musterstadt
der Linken in Europa. Jetzt wurde ein Rechter dort Bürgermeister, weil die
soziale Idylle längst nur noch ein schöner Schein war.
N
och ist Karl Marx nicht ganz ausgemustert. Im Flur steht er noch,
in drei Bänden. „Das Kapital“, auf
Italienisch natürlich, dominiert das kleine
Bücherbord im ersten Stock des Palazzo
d’Accursio, dem prächtigen Rathaus von
Bologna. Auch Sigmund Freud steht tröstend bereit für den, der hier länger auf seinen Termin warten muss. Und Kafka.
Alles wie immer also. Vor seiner Tür. Dahinter freilich ist nichts mehr, wie es war:
Da sitzt Giorgio Guazzaloca, 55, und der
ist gar kein Genosse.
54 Jahre lang regierten die Kommunisten und ihre Verbündeten das in der
linken Zeitgeschichte geradezu mythische
Bologna. Sozis von Straßburg bis Stockholm pilgerten ins heilige Bologna, um
eigenen Auges zu sehen, dass dergleichen tatsächlich funktioniert: wirtschaftlicher Wohlstand mit sozialem Gesicht, geschaffen von demokratisch gewählten
Kommunisten.
122
Und nun holt ein Rechter bei den Kommunalwahlen 50,7 Prozent. Ein gelernter
Metzger eroberte, getragen von der bürgerlichen Sammelbewegung Pol der Freiheiten, die rote Musterstadt.
„Witze haben sie über mich gemacht“,
erinnert sich Guazzaloca, „sich für unbesiegbar gehalten.“ Kein Wunder, auch er
glaubte ja nicht ernsthaft daran, die rote
Elite schlagen zu können.
Mit 15 verließ er die Schule und lernte
beim Vater das Schlachterhandwerk. Dann
hat er es bis zum Handelskammerpräsidenten gebracht. Hätten die Linken ihn im Januar 1998 nicht aus dem Job gedrückt, um
einen parteinahen Wirtschaftsmann zu platzieren, „nicht im Traum“ hätte er daran gedacht, als Bürgermeister zu kandidieren.
Nun hat „Schlachter Guazzaloca aus der
Linken Hackfleisch gemacht“, spottete die
römische Tageszeitung „Il Messaggero“.
Dabei ist er alles andere als martialisch.
Im Gegenteil, der füllige Grauhaarige ist
d e r
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der Idealtyp des gut situierten Nachbarn:
nett, Vertrauen erweckend, jovial, meistens
eher schüchtern-bescheiden als selbstbewusst-protzig.
Sein Vorgänger thronte im großen
Barockzimmer mit Blick auf die mittelalterliche Piazza Maggiore, mitten im
„Mekka für Stadtplaner“ („Bauwelt“).
Guazza, wie ihn seine Kumpel aus Jugendund Fußballerzeiten nennen, beschied sich
mit einem kleinen dunklen Büro zum Innenhof.Von dort schallt der Lärm von Baumaschinen herauf: Bologna wird fürs
Jahr 2000 herausgeputzt, zur „Kulturstadt
Europas“.
„Einen festen Plan“, was er anders machen will, hat Guazza nicht. Braucht er
auch nicht. Die Strafen für die Freier von
Prostituierten hat er wieder gestrichen.
Aber sonst? Das Modell seiner Vorgänger
gefällt ihm ja im Großen und Ganzen gut.
Man dürfe „die Vergangenheit nicht dämonisieren“, dämpft er die Erwartungen
schritts. Der Lebensstandard der Bürger
stieg unaufhörlich, die sozialen und öffentlichen Systeme waren vorbildlich. Busse fuhren schon in den siebziger Jahren
gratis, die Kindergärten galten als die besten der Welt.
Revolutionär war die – weitgehende –
Vertreibung der Autos aus der historischen
Altstadt, ein später dutzendfach kopiertes
Modell. Die Innenstadt wurde mit viel
Geld und Behutsamkeit aufpoliert – eine
gelungene Verbindung von Schönheit und
Nützlichkeit. Der historische Kern Bolognas gehört zu den aufregendsten Italiens.
Besser, lobte Umberto Eco noch eine Woche vor der Wahl, könne man eine Stadt
nicht regieren.
Immer war Bologna anders und meistens den anderen voraus. In der zweiten
Hälfte des 11. Jahrhunderts entsteht hier
Europas erste Universität, „studio Generale“ genannt. „La dotta“, heißt die Stadt
seither, „die Gelehrte“.
Als die Fanfaren der Französischen
Revolution durch die Alte Welt schallen,
ist Bologna ganz vorn mit dabei. Als es
1848 darum geht, die Ideen bürgerlich demokratischer Freiheiten in die Realität
umzusetzen, verjagen allen voran Bologneser die österreichische Besatzungsmacht. Und in Bologna wurden kurze
Röcke und kurze Hosen getragen, als
Rest-Italien dergleichen noch für Teufelszeug hielt.
„Drei Pfeiler tragen diese Stadt“, so Silvia Bartolini, „der Bürgermeister, der Universitätsrektor und der Kardinal.“ Denn
die Bologneser sind nicht nur traditionell
links. Sie sind ebenso treue Katholiken. Jedes Jahr, Ende Juli, am Tag des heiligen
Christophorus, lassen sie selbst ihre Autos
segnen.
Das Muster hat Giovanni Guareschi in
seinem weltbekannten Roman „Don Camillo und Peppone“ beschrieben: hemdsär-
ROPI
im rechten Lager. So schlecht hätten die
Roten nun auch nicht regiert.
Die sind sechs Wochen nach dem Wahldebakel immer noch fassungslos. Guazzaloca-Vorgänger Walter Vitali „kann es einfach nicht glauben“. Silvia Bartolini, die
das Vitali-Erbe antreten sollte, doch gegen
Guazza unterlag, schüttelt noch heute
ihren roten Lockenkopf, als wolle sie einen
Alptraum verjagen, wenn sie über den
Wahltag redet: „Sehr schmerzlich, äußerst
schmerzlich.“
„Love“ und ein Yves-Saint-LaurentLogo zieren ihren Rucksack. Ein unbewusster Reflex auf die Attacken gegen sie?
Viele Parteifreunde haben die historische
Schlappe der 38jährigen Aktivistin von der
Linksdemokratischen Partei DS zugeschrieben. Aber es ist ja viel schlimmer:
Eine Epoche geht zu Ende.
Über ein halbes Jahrhundert war Bologna ein europäisches Sozial- und PolitLabor. Eine weltweit bewunderte Spezies
von Parteifunktionären und Politologen,
Architekten, Stadtplanern und Schriftstellern, bis hin zum großen Umberto Eco
(„Der Name der Rose“), entwarf eine konkrete Alternative zur korrupten Parteienherrschaft von Christdemokraten und
Sozialisten in Rom. Und darüber hinaus:
„Die Pazifizierung von Kommunismus und
Katholizismus hat hier stattgefunden“, gibt
auch Guazzaloca gern zu.
Doch bei alledem, stets das Wohl der
Menschheit im Blick, hat sich Bolognas
progressive Elite so weit von den Menschen
entfernt, dass sie nun den einen, eher rechten, immer verhasster und den anderen,
eher linken, zunehmend gleichgültig geworden ist.
Die Welt, die Stadt und deren Bewohner
haben sich verändert – die roten Regenten,
vertieft in ihre internen Gutmenschen-Debatten, haben es nicht gemerkt.
Knapp 400 000 Köpfe zählt die Stadt am
südöstlichen Rand der Poebene, in der reichen norditalienischen Region Emilia-Romagna. Aber täglich werden es weniger.
Wer Geld hat, kauft sich im Umland ein
Häuschen. 100 000, behauptet der neue
Bürgermeister, seien in zehn Jahren abgewandert. Dafür kommen andere – aus Sizilien und Apulien, aus Ländern Osteuropas, Afrikas oder Asiens. Doch die etwa
30 000 Neubürger verleiden den Alt-Bolognesern die Stadt noch ein wenig mehr:
Die Graffiti im Zentrum nehmen zu, die
Kriminalitätsrate steigt. Das Wir-Gefühl in
der Musterstadt kommt so abhanden. Die
Toleranz vergangener Jahre schwindet.
Dabei war die Nachkriegsgeschichte Bolognas lange Zeit ein Märchen ewigen Fort-
S. CAROFEI / SINTESI
P. RIGHI / SINTESI
Ausland
Unterlegene Bartolini, Aufmarsch der Kommunisten (1996): „Äußerst schmerzlich“
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Ausland
melige Priester und kommunistische Bürgermeister eines kleinen Städtchens vor
den Toren Bolognas.
„Jeder hier in der Gegend“, meint
Guazzaloca, „ist ein bisschen Peppone und
ein bisschen Don Camillo.“ Und das Ergebnis ist, so sieht es Silvia Bartolini, „eine
fruchtbare Verbindung von sozialer Politik
und sozialem Katholizismus“.
Beispielsweise in den „centri sociali“,
von denen es etwa 50 in der Stadt gibt. Jedes anders, aber alle ähnlich, wie „villa
torchi“ im Viertel Navile.
Ein kleiner Platz, drei, vier schmucke
Häuser darum: ein Altenzentrum, ein Kindergarten, eine Stiftung für Menschen, die
am Down-Syndrom leiden, Fest- und Versammlungssaal, Boccia-Anlage.
Alte Menschen ziehen mit ihren Stühlen
dem Schatten nach, im kleinen Park spielen Kinder, die Mütter schwatzen derweil,
ein geistig behindertes Paar hat sich aufs
Gras vor ein Blumenbeet gesetzt, einander
fest an den Händen haltend. Zwei Buben
schießen ihren Ball gegen die Festsaalmauer. Die Stimmung ist fröhlich – nichts
vom trostlosen Muff steriler deutscher
Sozialeinrichtungen.
In der kühlen Bar im Altenzentrum servieren zwei ältere „baristi“ Eis und kalte
Drinks. In weißem Hemd und Fliege, wie
es sich für Profis gehört. Doch die beiden
sind längst pensioniert, arbeiten hier ohne
Lohn, aus Spaß. Alle tun hier irgendwas:
Der eine putzt, der andere räumt, der dritte repariert. Die Stadt hat ihnen die Häuser geschenkt, erhalten müssen sie das Zentrum selber. Mal kochen sie ein Galaessen
für die Nachbarn oder laden zum Tanzabend – mit den Einnahmen zahlen sie
Licht und Heizung oder auch den neuen
Belag für die Boccia-Bahn. Der Präsident,
der Boss im Laden, wird jährlich neu gewählt.
„Das Herz Bolognas“ ist für Claudio
Mazzant, Vorsteher des Stadtbezirks Navile, diese „konkrete Demokratie vor Ort“.
Auch die städtischen Parks und die Freiflächen zwischen den grauen Acht-StockNeubaublöcken werden von Freiwilligen
gepflegt. Überall in Bologna wieseln Komitees, für Gemeinnütziges oder gegen
Umweltschädliches: ein Idyll für die Fans
der Bürgerbeteiligung.
Für das allerdings, was unter der sozialen Patchwork-Decke seit langem brodelte, so das Magazin „L’Espresso“, war die
Stadtregierung „taub und blind“.
Die Alten jagten die Jugendlichen aus
den Sozialzentren, weil die ihnen zu laut
und zu aufsässig waren. Nun randalieren
die auf Spielplätzen oder Kirchentreppen.
In der Innenstadt sanken die Umsätze der
Händler, weil die Verkehrsberuhigungskomitees die Kunden vertrieben. In den
Neubauvierteln am Stadtrand schrumpfte
der Lebensstandard, weil Steuern, Abgaben und vor allem die Mieten die Löhne
auffraßen.
1200 bis 1500 Mark kostet heute ein
80-Quadratmeter-Apartment in der
Hochhaussiedlung, gut die Hälfte des
durchschnittlichen Familieneinkommens.
Im Zentrum werden Schlafplätze im
Zwei- oder Dreibettzimmer, etwa für
Studenten, von 500 Mark aufwärts gehandelt.
Mehr als alles andere aber schreckte die
Bürger Bolognas die zunehmende Kriminalität. Acht Prozent mehr Autos, sechs
Prozent mehr Geldbörsen als 1997 wurden
1998 gestohlen. Die Zahl der Raubüberfälle ging um fast 20 Prozent hoch. Die Bologneser fürchteten sich, fühlten sich plötzlich fremd daheim.
Der Fremde kann das kaum nachempfinden. Traulich umschlungen spazieren
nächtens Liebespaare durch die engen, verwinkelten Altstadtgassen, vorbei an dunklen Palazzi aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Beschwingt musizieren Jugendliche
aus aller Welt bis weit nach Mitternacht
auf der Piazza Maggiore. Und schon beim
ersten Sonnenstrahl quälen sich einsame
Frühjogger den vier Kilometer langen Arkadengang zum Heiligtum San Luca entlang, steil bergauf unter 666 Bögen. Heimelig wirkt die Stadt, nicht unsicherer als Florenz oder Freiburg.
ROPI
EU-Kommissionspräsident Prodi, Ehefrau
Karrierestart in Bologna
Statistisch ist der Zuwachs an Kriminalität, so der „Repubblica“-Lokalchef Aldo
Bassanelli, tatsächlich kaum mehr als „ein
Anstieg zur Normalität europäischer Städte“. Doch für die Bewohner Bolognas war
es „ein Schock“. Hier herrschte eben über
Jahrzehnte nicht die „Normalität“ der
übrigen Welt.
Wenn der Bologneser von einem der
schiefen Zwillingstürme im Zentrum der
Stadt – Garisenda und degli Asinelli – auf
die eng gedrängten roten Giebel der Stadt
schaute, die Zinnen der mittelalterlichen
Palazzi, die Kuppeln der Kirchen, da wurde ihm warm ums Herz. In seiner Stadt
war es ruhiger, sicherer als andernorts.
Und immer wurde hier gut gelebt. Die
Auslagen der Fisch- und Gemüsehändler,
der Käse- und Schinkenläden waren üppiger als irgendwo sonst: „Bologna la grassa“,
die Fette, hieß es – und die Bürger hörten
es voller Stolz. Eine gelungene Symbiose
von Kommunismus und Konsum.
Vorbei, einstweilen zumindest. Die Helden wurden immer zerstrittener, das Stück
„Bologna la rossa“ immer langweiliger.
„Unsere Wähler“, hat Silvia Bartolini zu
spät erkannt, „hatten keine Lust mehr.“
Die Wahlbeteiligung rutschte ab auf 40
Prozent. Nicht die Attraktivität der Rechten, die Abnutzung der Linken brachte den
Wandel.
Nun ist die Angst groß. Auch in anderen
Hochburgen, etwa in Padua, verlor Links in
diesem Sommer – und Rechts kam an die
Macht. Plötzlich sind die traditionellen
Bastionen der Genossen in Gefahr und damit die Mitte-Links-Mehrheit in Rom. Bei
Umfragen Mitte Juli kam die DS, die Partei von Ministerpräsident Massimo D’Alema, gerade noch auf 17 Prozent.
„Ein, zwei, hundert Metzger“, spottete
„L’Espresso“ über die euphorische Suche
der Rechtsparteien nach Kandidaten wie
Guazzaloca. Die wittern Morgenluft nach
langer Nacht. So wie in Bologna wollen sie
jetzt überall, jubelt Mario Valducci von
der Berlusconi-Partei Forza Italia, „in der
bürgerlichen Gesellschaft fischen“. Bologna als Menetekel der Linken?
Hier startete 1995 der Uni-Professor und
Industriemanager Romano Prodi sein „Ulivo“-(Ölbaum)Projekt – ein breites Wahlbündnis von Katholiken bis Kommunisten.
Ein Jahr später gewann er damit die Wahlen, wurde Italiens Regierungschef und
Hoffnungsträger. Der Ulivo-Schwung half
Italien über die Maastricht-Hürden in den
Euro-Club.
Heute ist Prodi gestürzt, abgeschoben
nach Brüssel als EU-Kommissionspräsident. Und um sein Mandat als Parlamentsabgeordneter reißt sich nun die noch amtierende EU-Kommissarin Emma Bonino.
Sie soll Bologna auch im Parlament auf die
rechte Seite bringen.
Der Name ihrer Partei klingt ganz nach
dem alten Bologna: „Die Radikalen“.
Doch das politische Glaubensbekenntnis der populären Kandidatin ist eher
global-liberal als kuschelig-sozial, eher
FDP-vulgär als revolutionär, eher Guido
Westerwelle als Karl Marx.
Hans-Jürgen Schlamp
Werbeseite
Werbeseite
A. HERNANDEZ (l. o.); SIPA PRESS (l. u.); GAMMA / STUDIO X (r. o.); F. HIBON / SYGMA (r. u.)
X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS: 1. Lenin und die Oktoberrevolution (29/1999);
2. Stalin und der Gulag-Staat (30/1999); 3. Das Sowjetimperium (31/1999);
4. Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion (32/1999)
Feier nach dem Putschversuch (1991); Gorbatschow (1987); Gesprächspartner im Kaukasus (1990); Sowjet-Rückzug aus Afghanistan (1989)
Das Jahrhundert des Kommunismus
Gorbatschow und das
Ende der Sowjetunion
Mit radikalen Reformen wollte Michail Gorbatschow die
Sowjetunion erneuern. Er versprach Demokratisierung und Abrüstung,
er beendete den Kalten Krieg und die Zweiteilung
der Welt – und er zerstörte das kommunistische System.
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Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
Neues Denken, schöne Träume
JÜRGENS PHOTO
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Michail Sergejewitsch Gorbatschow / Von Jörg R. Mettke
Ehepaar Michail, Raissa Gorbatschow im Pionierlager (1985)*: „Die Dinge sind in Gang gekommen“
* Mit Enkelin Oksana.
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Der erste und letzte gewählte Staatspräsident der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat Kredite, Spenden, Vortragsund Buchhonorare und auch die halbe
Dollar-Million fürs Werbe-Essen mit Enkelin bei „Pizza Hut“ in diesen Palast gesteckt.
Noch in diesem Jahr will er ihn eintauschen
gegen seine bescheidene Untermieterschaft
bei der Russischen Finanzakademie ein paar
hundert Meter die Straße hinunter.
Michail Gorbatschow, Ehrenbürger von
Berlin, Aberdeen, Bologna, Piräus, El Paso,
Florenz, Sesto San Giovanni und Karda-
mylla auf der griechischen Insel Chios,
dazu Träger des Großkreuzes der heiligen
Agatha von San Marino, der Goldmedaille der Athener Prometheus-Universität und
anderer ähnlicher Bürden, ist ein beneidenswerter Mann.
Er lebt in seinem russischen Land wie
die personifizierte Zeitenwende. Geschätzt, gehasst wie nur einer, der keinen
Stein eines alten Gemäuers auf dem anderen ließ, der sich jedem in die Erinnerung
ätzte mit seiner Sechs-Jahre-Herrschaft, als
habe sie Jahrzehnte gedauert. Und der einen Aufbruch gewagt, ein Zeichen gesetzt, eine Lehre hinterlassen hat.
Seine politischen Schalmeien hat er der Sowjetgesellschaft so oft und so lange vorpfeifen lassen, bis sich die rote
Macht taumelnd von der Weltbühne verabschiedete. Sein
Credo hat Platz in einem russischen Zwei-Wörter-Satz, den
das Volksgedächtnis als Quintessenz des Gorbianismus aufbewahrt: poöecc noøoë, ProP. KASSIN
A
m Leningrader Prospekt Nr. 30 in
Moskau wächst ein ausladendes,
noch ohne Putz bereits auf Pracht
angelegtes Gebäude fünf Geschosse hoch,
mal in Backstein und mal Beton – mit Säulen rechts und links und einem Paradeeingang in der Mitte.
Kaum einer der Passanten weiß, wer hier
so herrschaftlich residieren will in wirtschaftlich schwerer Zeit. Nur ein Polizist
gibt Bescheid: „Hier baut doch euer Gorbi sein Stiftungshauptquartier mit einem
Millionenkredit der Deutschen Bank.“
Das ist auf knappe Weise
die historische Jahrhundertbilanz deutsch-russischer Beziehungen: zum Beginn die
von der kaiserlichen Heeresleitung organisierte Reise
Lenins aus der Schweiz nach
Russland, gegen Ende ein günstiger Zinsfuß aus Frankfurt am
Main für Michail Sergejewitsch
Gorbatschow und seine feste
Burg.
Gorbatschow-Stiftung in Moskau: Feste Burg
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AFP / DPA
zess poscholl, die Dinge sind in Gang ge- Für die Mütterchen an Russlands Kir- gegängelte Wahl von Arbeitsplatz und Aufkommen. Bewegung war ihm beinahe alles. chentüren, die so behände das Kreuz schla- enthaltsort, Material- und ErsatzteilliefeViel hat er angestoßen, ans Ende gebracht gen und dabei ihre Bettel-Kopeken in der rungen für die Produktion, Waren für die
beinahe nichts – bis auf die beiden Saurier Schürzentasche verschwinden lassen kön- Geschäfte, Saatgut und Dünger für die
nen, war der neue „Gensek“ (Generalse- Landwirtschaft, Benzin für die KraftfahUdSSR und KPdSU.
Die von Gorbatschow ausgelösten, mit kretär, im Sowjetjargon) der Partei schon rer, Milch für die Kinder, selbst Särge und
seinem Namen verbundenen Wirkungen 1985 ein alter Bekannter: ein Geweissagter, Begräbnisplätze für die Toten.
Von Brot allein, das drei
sind jedermann sichtbar. FriedKopeken kostete Mitte der achtrich Engels muss den vorwärts
ziger Jahre – heute vier Rudrängenden Russen vorausgebel –, mochte das Sowjetvolk
ahnt haben mit seinem altersvier Jahrzehnte nach Kriegsende
weisen Satz, in der Politik strebnicht länger leben. Andere Kost
ten immer alle nach dem Besten,
war Mangelware oder ungenießaber heraus komme, was keiner
bar: Wer eine einzelne Zeitung
gewollt habe. „Wesentliche Verstudiert hatte, der hatte sie zuänderungen sehe ich nicht“, bigleich alle gelesen. Radio und
lanzierte Gorbatschow im verFernsehen gaben rund um die
gangenen Jahr den weiter anhalUhr propagandistischen Schein
tenden Verfall seines Vaterlanfür die Wirklichkeit aus. Die Sodes, „aber ich hoffe.“ Und die
wjetunion, deren Geburt „die
Hoffnung, sagen die Russen,
Welt erschüttert“ hatte (so USstirbt als Letztes.
Augenzeuge John Reed), litt
Negative Veränderungen freizwei Jahre vor ihrem Siebzigsten
lich spüren die meisten. Auch
an allen Gebresten des Greiwer bis heute Gorbatschow für
senalters:
die Befreiung des Bewusstseins
Ideologisch und militärisch zu
durchaus Kredit gibt, kreidet ihm
Tode gerüstet, ihre widerspenstidie Verelendung des Seins umgen Geister ins innere Exil, in Irso heftiger an. Landauf, landrenanstalten oder per Ausbürab teilen die Russen inzwischen
gerung ins Ausland verbannt,
ihre neueste Geschichte ein in
ihre jungen Soldaten in den mör„vor Gorbatschow“, „während
derischen Afghanistan-Krieg geGorbatschow“ und „nach Gorpresst, ihre Bodenschätze gegen
batschow“.
Dollar und Getreidelieferungen
Hat er die Demokratie geverschleudert, ihre gesellschaftbracht – oder nur das Volk um
lichen Verhältnisse versteinert,
seinen bescheidenen Wohlstand?
ihre Partei-Nomenklatur zu eiHat er einträgliche Reichsterriner korrupten Clique herabgetorien verschleudert und Russsunken – nichts war geblieben
lands Supermacht-Status dazu?
von den sozialistischen VerHat er Deutschland die WiederAbbau eines Lenin-Denkmals*: Die Völkerunion zerfiel
heißungen der frühen Jahre, die
vereinigung geschenkt, der „beste Deutsche“, wie ihn daheim einige ver- ein von Gott Gesandter. Er hatte das Blut- einst Proletarier aller Länder in ihren Bann
mal auf der Stirn und Besessenheit in der gezogen hatten.
ächtlich nennen?
Selbst die schiere staatliche Existenz der
Der Mann, der das alles und noch mehr Stimme, die nach südrussischem Dorf
geleistet haben soll nach Meinung wech- klang und nach Schicksalsträchtigkeit – was Sowjetunion wurde im Inneren, so urteilt
selnder Mehr- und Minderheiten, „der denn auch rasch Gorbatschows liebste der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm, „nur noch durch ein System aus
Mann, der die Welt verändert hat“ (so die Vokabel wurde.
Ein Beweger von der Art Gorbatschows Protektion, Vetternwirtschaft und Barzahamerikanische Gorbatschow-Biografin Gail
Sheehy), reist zu den Symposien dieser war erwartet worden wie der Messias, lung zusammengehalten“.
Dazu hatte die KPdSU-Spitze in etwas
Welt, hat zu allem etwas zu sagen in den schon lange. Nicht nur von den Alten, die
Gazetten von Japan bis Italien und ver- noch an Gott glaubten, sondern vor allem mehr als zwei Jahren gleich dreimal einen
zehrt seine Rente nun schon länger, als er von den aktiven 30- bis 50-Jährigen, welche Chef an der Kremlmauer begraben müsregiert hat – wie ein Napoleon, der nach die Partei in eine lichte Zukunft zu führen sen: Im November 1982 starb Leonid
dem großen Aufmischen Europas unfrei- versprochen hatte: Gerade sie spürten Tag Breschnew, der Vater allen Stillstandes, mit
willig, aber nicht unglücklich den Vorsitz für Tag in ihren Fabriken, Kolchosen, Äm- 75 Jahren; im Februar 1984 Jurij Androeines Pariser Museumsvereins übernom- tern und Kontoren, wie und in welchem pow, 69, der das Land mit strenger Tschemen hätte zur Erforschung der eigenen Maße sich das sowjetische Regime er- kistenhand hatte kurieren wollen, und am
schöpft hatte und sozialistische Glaubens- 10. März 1985 dessen schon bei der Wahl
Bedeutung.
Aufzuklären ist noch vieles rund um das sätze zu Gemeinplätzen staatlicher Selbst- hinfälliger Nachfolger Konstantin Tschernenko, 73.
Phänomen Gorbatschow, um diesen lu- beweihräucherung verkommen waren.
Alles stockte, stagnierte, wurde defizitär:
Einen Tag später war Michail Gorbapenreinen Typ eines politischen, von Politik umgetriebenen Funktionärsmenschen. das freie Wort, der aufrechte Gang, die un- tschow am Ziel. Seine Genossen in Politbüro und Zentralkomitee wählten ihn,
Schon zu Beginn wurde Gorbatschow von
einen studierten Juristen wie Wladimir
vielen als mythische Figur wahrgenommen. * 1991 im litauischen Vilnius.
„Ich sehe in Gorbatschow den größten Reformer des Jahrhunderts.“
Alexander Jakowlew, Gorbatschows Vertrauter, 1995
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Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
Käuferschlange vor einer Moskauer Bäckerei (1992): Der Brotpreis stieg von drei Kopeken auf vier Rubel
Uljanow, zur Nummer eins der Partei
Lenins.
„Die Zeit der Wirren ist vorbei, die Gerontokratie zu Ende“, schrieb der SPIEGEL, als der 54-Jährige ans Werk ging und
den ungeheuren Satz sprach, sein Land
brauche die Demokratie „so notwendig
wie die Luft zum Atmen“.
Doch die Wirren für Russland sollten
mit ihm, dem Ketzer in der Maske des agilen Managers, erst richtig in Gang kommen. Dass weniger als zehn Jahre später
die Welt ein ruiniertes Rest-Russland
glaubte abwickeln zu müssen, ohne dass es
dabei sich selbst und anderen zur Gefahr
wird, ahnte damals niemand – so stark,
vielleicht zu stark war die Faszination, die
vom neuen Mann im Kreml und seinen ersten Absichtserklärungen ausging.
Gorbatschow glaubte zunächst noch unbeirrbar an die Renovierbarkeit des sozialistischen Staates. Er wollte, „dass unsere
sowjetische Heimat noch reicher und
mächtiger wird“ und „in das neue Jahrtausend als eine große und gedeihende
Macht eintritt“.
Für jene, die damals als Erste im Westen
seine Bekanntschaft machten, war gerade
das keine angenehme Zukunftsvision. Die
meisten von ihnen hatten es noch gut ein
Jahr zuvor, beim Amtsantritt des greisen
Tschernenko, eher mit dem ehemaligen
US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski
gehalten, der dieser „denkbar besten
Wahl“ applaudierte, weil damit „der am
wenigsten kompetente“ Kandidat an die
Spitze des US-Rivalen gerückt war.
Gleichwohl fand Michail Gorbatschow,
der mit dem doppelten Anspruch des Bewahrers und Erneuerers antrat, sofortigen
Beifall. Den einen galt er als Reinkarnation
des großen Zaren Peter I., der im 18. Jahrhundert die Fenster nach Westen aufgestoßen und seinen reformfaulen Bojaren
die Bärte zum Teil persönlich abgeschnitten hatte. Andere hofften, die Sowjetunion
werde sich mit Hilfe des neuen Bewegers
sozialdemokratisieren und darüber an internationalistischer Aggressivität verlieren.
Freilich: Die meisten Gorbatschow-Bewunderer der ersten Stunde waren vornehmlich fasziniert durch die Art und Weise, wie er Dinge sagte, durch die Lebendigkeit seiner Gebärden, die suggestive
Kraft seiner braunen Augen, die warme
persönliche Hinwendung zu Gesprächspartnern, welche Menschlichkeit ausdrückte, Verständnis, Realitätsnähe und
zugleich demonstrative Abkehr vom bislang gewohnten Funktionärtypus aus der
grauen Partei-Retorte.
Was der neue KPdSU-Chef hingegen öffentlich aussprach, unterschied sich zunächst kaum von den Neuerungstiraden
seiner Vorgänger: Er predigte „Unversöhnlichkeit gegenüber uns fremden Ansichten“ und Treue zum „unerschütterlichen bolschewistischen Prinzip“, beschul-
digte „den Kapitalismus“ pauschal als
weltweiten Produzenten von „Krieg“ und
„Terror“, lobte die Heimat als Hort „wahrer Freiheit und Demokratie“ und forderte zur Korrektur „negativer Erscheinungen“ auf – durch „strenge Arbeits-, Parteiund Staatsdisziplin“. Verbal klang aus dem
Osten nichts Neues.
Doch zu diesem Zeitpunkt waren solche parteifrommen Sprüche, wie er seinem
Bonner Besucher Helmut Kohl am 15. Juli
1990 gestand, schon lange nur noch Camouflage seines neuen Denkens. Diese
Schlüsselepisode am Rande der Wiedervereinigungsgespräche im Kaukasus, bei
einer Rundfahrt durch Gorbatschows Heimatstadt Stawropol, hat Horst Teltschik,
damals außenpolitischer Kanzlerberater,
aufgezeichnet:
„Gorbatschow erzählt von einem Spaziergang mit Schewardnadse, den er in
Stawropol kennen gelernt habe. Bei diesem
Spaziergang 1979 seien sie sich einig gewesen, dass sie das Land retten müssten,
weil alles verfault sei. Besonders deutlich
sei ihnen das nach dem militärischen Einmarsch in Afghanistan geworden. Aus dieser Zeit des Leidens sei die Perestroika geboren worden.“
Im Jahr 1979 waren beide Parteifürsten
– Gorbatschow als ZK-Sekretär für Landwirtschaft und vormaliger Gebietsparteichef in Stawropol, Eduard Schewardnadse
im benachbarten Georgien – und damit
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Gorbatschow zu DDR-Staatschef Erich Honecker in Ost-Berlin am 7. Oktober 1989
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BILDERBERG
che Pfründe, und zu der gehören der Nomenklatur liebste Kurorte im Vorkaukasus
mit ihren heilenden Quellen.
1978 wird er nach Moskau beordert,
als ZK-Sekretär für Landwirtschaft. Die
verlotterte sowjetische Agrarproduktion
bringt zwar auch der neue Mann nicht nach
vorn. Aber trotz katastrophaler Missernten
in den sieben Jahren seiner Amtsführung
übersteht er unbeschadet einen Job, der
seit Stalin als beliebter Beerdigungsort für
hochfliegende Karrierepläne galt.
Er wird von Andropow als Gegengewicht zum Breschnew-Clan ins Politbüro
gehievt und auch sonst von seinem Gönner
immer deutlicher ins Vertrauen gezogen –
vor allem, nachdem dieser selbst zur
Nummer eins aufgestiegen ist. In seiner
Autobiografie gibt Gorbatschow an, von
Verfallendes Nickel-Kombinat in Sibirien: „Alles verfault“
Andropow bereits kurz nach dessen Amtsprivilegierte Führungskader, deren ge- toren-Ausleihstation. Doch er will heraus antritt auf die Kronprinzenrolle vorbereischmeidige Anpassung an die Parteilinie aus der provinziellen Enge und nach oben. tet worden zu sein: „Weißt du, Michail“,
weithin bekannt war, nicht zuletzt auch Er bewirbt sich erfolgreich an der renom- habe der gestrenge Generalsekretär schon
Ende 1982 zu ihm gesagt, „du musst jetzt
der ZK-Personalverwaltung. Schon Mitte mierten Lomonossow-Universität.
1953, in seinem vierten Studienjahr, er- so handeln, als ob du eines Tages alle Verder siebziger Jahre hörte Professor Georgij Arbatow vom damaligen KGB-Chef lebt er zunächst die schleichende Pogrom- antwortung übernehmen müsstest.“
Ein 13 Monate lang waltender GeneralJurij Andropow erstmals rühmend den Na- stimmung wegen eines von der Geheimmen Gorbatschow (siehe Seite 136) als aus- polizei frei erfundenen Komplotts jüdi- sekretär Tschernenko war nach Andropows
sichtsreichen Kandidaten für eine Mos- scher Ärzte gegen Stalin. Hitzig verteidigt Ableben der letzte Versuch der sowjetikauer Karriere: ein Mann von unten, aus er seinen Freund Wladimir Liberman gegen schen Nomenklatura, mit den klassischen
den Niederungen des Landes und der einen Denunzianten, ein, so Gorbatschow, Methoden des Poststalinismus – gewalt„Vieh ohne Rückgrat“. Diese Szene be- tätigem Festhalten an der alten Ordnung –
Partei.
1931, während der Stalinschen Zwangs- stätigt eindrucksvoll die Gesamteinschät- die Fassade der östlichen Supermacht von
kollektivierung der Landwirtschaft, wurde zung seines tschechischen Mitstudenten innen notdürftig abzustützen. Michail GorMichail Sergejewitsch im Dorf Priwolnoje Zdenek Mlyná≤, der 1977 nach Wien emi- batschow hatte bei diesem Flick- und
bei Stawropol geboren. Sein Großvater grieren musste: Gorbatschow sei „einfach Blendwerk ein halbes Leben lang mitgemütterlicherseits, Pantelej Gopkalo, leite- keine Persönlichkeit mit Autorität“, er sei tan –, wie viele seiner Generation anfangs
te den Kolchos „Roter Oktober“ im Nach- vielmehr „offen, neugierig, hat die Fähig- mit Enthusiasmus, mit wachsender Verantbarort, las Marx, Lenin, Stalin, aber keit, zuzuhören, zu lernen, sich anzupas- wortung und Erfahrung, aber auch mit
Großmutter Wassilissa achtete darauf, dass sen“ – und alles zusammen bilde „die wachsenden Zweifeln.
Zugleich hatte er sich – und hat sich
die Lampe neben der Ikone nicht verlosch. Wurzel seines Selbstvertrauens“.
Nach Studienabschluss erhält er in bis heute – eine Art diffuser Dankbarkeit
Der Knabe Mischa erlebte „zwei friedlich
nebeneinander existierende Welten“, wie Stawropol einen Posten beim kommunisti- gegenüber dem System bewahrt, das ihn,
den Knaben aus kleinen Verer sich später als Anwalt des
hältnissen, aus dem depripostsowjetischen Pluralismierenden Landleben hermus erinnerte. Und erhielt
ausgeführt, zum Studium
vom Opa eine elementare
geschickt, auf verantworpraktische Weisheit mit auf
tungsvolle Posten gestellt
den Lebensweg: „Das Wichhat. So blieb Gorbatschows
tigste für den Menschen ist
Kritik systemimmanent.
bequemes Schuhwerk, das
Mit der viel gerühmten
die Zehen nicht quetscht.“
Auslandserfahrung des 1985
Gopkalo wird 1937 wegen
gewählten Generalsekretärs
angedichteter „rechtstrotzwar es nicht weit her: Ein
kistischer“ Umtriebe verStaatsbesuch in England,
haftet. Andrej Gorbatschow,
Stippvisiten in Belgien,
den anderen Großvater, hatFrankreich, Italien, Kanada
ten NKWD-Leute bereits
und Portugal, eine frühe
1934 eingesperrt – als anDeutschlandreise 1975 auf
geblichen „Saboteur“ wähBeisetzung Andropows, Nachfolger Tschernenko (M.): „Beste Wahl“
Einladung der DKP – darin
rend der schweren Hungersnot, bei der mehr als ein Drittel der Be- schen Jugendverband Komsomol, wird Agi- erschöpfte sich seine Bekanntschaft mit dem
völkerung von Priwolnoje starb, darunter tationssekretär, später Ortsleiter, 1961 Ge- angeblich siechenden Kapitalismus.
bietsjugendführer. Sieben Jahre später
Aber Gorbatschow hatte das Tauwetter
nicht wenige Gorbatschow-Verwandte.
Als im Krieg die Deutschen kommen, ist steigt er zum Personalchef der Gebiets- nach Stalins Tod in lebhafter Erinnerung,
Michail Gorbatschow elf Jahre alt. Mona- parteileitung auf, 1970 wird er deren Chef. an dessen Einschätzung er bis heute festNun endlich kann Gorbatschow Verbin- hält: „Chruschtschow gab der Gesellschaft
telang herrschen die fremden Eindringlinge in Priwolnoje. Später wird Michail Ernte- dungen knüpfen, Beziehungen pflegen, sich einen Schluck Freiheit, aber danach drehhelfer und Hilfsarbeiter der örtlichen Trak- erkenntlich zeigen – er hat eine ansehnli- te er den Hahn selbst wieder zu.“ Er wolld e r
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LASKI / SIPA PRESS
„Prawda“-Leser in Moskau (1990)
Freiheit als Kettenreaktion
V. SICHOV / SIPA PRESS
te es im Kreml anders machen; die von
ihm gewährten Freiheiten sollten nicht sogleich zurückgenommen, sie sollten zur
Triebkraft werden für eine Kettenreaktion
selbsttätiger, nicht aufhaltbarer Veränderungen.
Dieser Vorsatz entsprang Gorbatschows
Neigung zum demokratischen Interessenausgleich, zum Kompromiss. Schon als Student hatte er in Diskussionen stets empfohlen, Probleme „dialektisch anzugehen“.
Er wollte Knoten aufdröseln, nicht abhacken; zum Diktator war er ungeeignet.
Zum anderen ahnte er wohl, dass ein
Modernisierungsschub für die abgeschlagene Sowjetunion an der Schwelle von
Globalisierung und dritter industrieller Revolution abermals einen neuen Menschen
brauchen würde: Kader mit Initiative, Entscheidungsspielräumen, Mut zu Risiko und
Verantwortung – eine am Ende der Stagnationszeit von Breschnew bis Tschernenko fast ausgestorbene Spezies.
Er proklamierte, in der Geschichte dürfe es keine „weißen Flecken“ geben. Zusammen mit seinem engsten Vertrauten
Alexander Jakowlew, dem ideologischen
Hirn und Blockadebrecher der Perestroika, riss er Denkverbote nieder: Jahrelang
zurückgehaltene Bücher und Filme gelangten in die Öffentlichkeit, es gab die
ersten Einreisevisa für ins Ausland verbannte Dissidenten. Und historische Alternativen wie die liberale Neue Ökonomische Politik (NEP) der zwanziger Jahre
wurden freigelegt, deren auf Stalins Befehl
Reformer Jakowlew
Gorbatschows ideologisches Hirn
ermordeter Propagandist Nikolai Bucharin
rehabilitiert.
Doch das Aufbrechen von Tabus, die
jahrzehntelang unangefochten gegolten
hatten, war nicht das eigentliche Ziel der
Gorbatschowschen Offenheitskampagne:
Die neue Transparenz (Glasnost) sollte
dem Reformer an der KPdSU-Spitze vor
allem das Instrument sein, abgebrochene
Entwicklungswege erneut begehbar zu
machen – wobei ihm ein großer Sprung
nach vorn, ein rasches Aufschließen zur
industriellen Potenz und sozialen Wohlfahrt der USA und Westeuropas schlicht
unrealistisch erschien.
Und so folgte der intellektuellen NEPDiskussion sogleich die revolutionäre Entscheidung, individuelle Wirtschaftstätigkeit
wieder zu erlauben: Die ersten Kooperativen bildeten sich. In Handel, Handwerk,
Ausbildung und im Dienstleistungsbereich
entstanden schmale nichtstaatliche Sektoren, Produktionsmittel kamen in private
Hände, die bis dahin illegale Schattenwirtschaft wagte sich Schritt für Schritt ans
Tageslicht. Russlands Oligarchen, die den
Reichtum des Landes unter sich aufteilten
und binnen weniger Jahre Dollarmilliarden
zusammenrafften, erlebten ihre Gründerzeit; sie müssten dafür noch heute Gorbatschow dankbar sein.
Kaum eine andere Neuerung während
der Ära Gorbatschow entwickelte vergleichbare Sprengkraft, mobilisierte stärker
den Widerstand reformfeindlicher Kräfte in
der Sowjetunion. Sie begriffen rasch, dass
PORTRÄT
Alexander Solschenizyn
Der Mahner
In Ostpreußen fand die sowjetische
Feldpost Anfang 1945 private Briefe des
Rotarmisten Alexander Solschenizyn
mit Bemerkungen über Stalin, die den
Autor für acht Jahre ins Straflager brachten. Nach Stalins Tod 1953 verbannt,
verfasste er seinen erschütternden Lager-Bericht: „Ein Tag im Leben des
AFP / DPA
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
Solschenizyn (1994)
132
Iwan Denissowitsch“. Chruschtschow
las Teile des Manuskripts und ließ
es veröffentlichen, während unter
Breschnew seit 1966 in der UdSSR
keine Texte Solschenizyns mehr gedruckt wurden.
Der Autor protestierte gegen die
Zensur, flog aus dem Schriftstellerverband und durfte 1970 den Nobelpreis
für Literatur nicht selbst entgegennehmen. Also schleuste er seine epochale Abrechnung „Archipel Gulag“
ins Ausland. Das detaillierte Protokoll
der Sklaverei, ein Welt-Bestseller, riss
den Westen aus den letzten Illusionen und erledigte den Sowjetkommunismus moralisch: Aus den KP des Westens traten massenhaft die Genossen
aus, Rudi Dutschke veröffentlichte ein
sowjetkritisches Buch „Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche
Linke“.
Nach Verhaftung und Ausbürgerung
wurde Solschenizyn mit Bonner Re-
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gierungshilfe aus der UdSSR abgeschoben, fand bei Heinrich Böll Unterschlupf und versteckte sich seit 1976 auf
einer Farm in Vermont. Dort arbeitete
er an dem historischen Zyklus „Das
rote Rad“, einem Werk von schwächerer literarischer Qualität.
Erst 1990 gab Gorbatschow dem Verbannten sein Bürgerrecht zurück, der
Generalstaatsanwalt entschuldigte sich;
vier Jahre später kehrte Solschenizyn,
nun ein christlicher Fundamentalist,
heim. Der empfindsame Patriarch, der
politischen Ehrgeiz zeigte, bereiste
Russland, redete vor dem Parlament
und bestritt ein eigenes TV-Magazin mit
Klagen über die Unmoral, „Russlands
Absturz“ (Titel seines letzten Buches)
und Verwestlichung, fand aber wenig
Resonanz. Präsident Jelzin verlieh ihm
zum 80. Geburtstag den Orden des heiligen Apostels Andreas, den er vom vermeintlichen Urheber des Niedergangs
aber nicht annahm.
Fritjof Meyer
verbraucher mitunter wie ein komisches
Panoptikum.
Statt sich von den Gestrigen deutlich zu
distanzieren, setzte Gorbatschow bis zu
seinem politischen Ende auf die Reformierbarkeit der KPdSU: Zwar zwang er
die verknöcherte Hierarchie, halbdemokratische Wahlen und Alternativ-Kandidaten zu akzeptieren, aber als eine Demokratische Plattform jüngerer Genossen seine klare Unterstützung benötigt hätte, lavierte er zwischen den Fronten und schlug
sich schließlich zum orthodoxen Flügel.
Zwar holte er den Mahner Andrej Sacharow aus der Verbannung in Gorki zurück,
doch auf dem ersten fast frei gewählten
Seine Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“, die ersten sowjetischamerikanischen Gipfeltreffen nach mehr
als sechsjähriger Pause in Genf und
Reykjavik, die bilateralen Dialoge mit
Großbritannien, Frankreich, Deutschland,
Italien, das vorsichtige Abtasten der Europäischen Gemeinschaft – all das verlief
schon zu Beginn nach der Grundformel
der ein Jahrzehnt zuvor erfolgreich erprobten deutschen Ostpolitik „Wandel
durch Annäherung“.
Gorbatschow wusste, dass sein Land
unbedingt nicht nur aus dem Wettrüsten,
sondern aus der Ost-West-Konfrontation
überhaupt aussteigen musste, wenn die
FOTOS: AFP / DPA
der neue Führer sich anschickte, die ehemalige Kommandokette der Bürokratie an
einer entscheidenden Stelle zu unterbrechen – und damit die eigentliche Machtfrage stellte: Produkt- und Preisentscheidungen waren künftig am Markt zu treffen
statt per Diktat zentraler Planbehörden.
Und Gorbatschow selbst hatte seinen
Widersachern gleich zu Beginn seiner
Amtszeit ein massenwirksames Gegenargument frei Haus geliefert. Seine Kampagne „zur Überwindung von Trunksucht
und Alkoholismus“, untermauert durch
entsprechende Partei- und Staatsbeschlüsse, war kläglich gescheitert: Die Staatseinnahmen sanken, der Wodka wurde rar, die
Partner Reagan, Gorbatschow in Reykjavik (1986); Zerstörung sowjetischer Atomraketen (1994): Ein globaler New Deal
Preise stiegen, das Volk murrte – und trotz
alledem wurde weitergezecht.
Bis heute begreift er nicht das Ausmaß
dieses Fiaskos: Der Aufbruch in die Schimäre allgemeiner Nüchternheit kostete ihn
das Vertrauen des Volkes. Seine Gegner
hatten es fortan einfacher, seine immer
noch mit Charme und Charisma vorangeboxten Wirtschaftsreformen zu torpedieren: Wartet nur ab, sagten sie den für
Andeutungen empfänglichen Sowjetmenschen, es wird wieder so werden wie mit
dem „trockenen Gesetz“.
Ebenso wie die instinktiven Ängste der
Bevölkerung vor Neuerungen, die Teuerung und Verelendung im Gefolge haben
mochten, unterschätzte Gorbatschow den
Autoritätsverfall der Partei. Sie war im letzten Stadium angekommen, welches die Geschichte für selbst ernannte Eliten bereithält: Sie war lächerlich geworden. Ihr Leitungspersonal wirkte auf Iwan Normal-
Kongress der Volksdeputierten 1989 trat er
der wütenden Funktionärsmeute, die über
den aufrechten Kernphysiker herfiel wie
über einen Vaterlandsverräter, mit keinem
Wort entgegen.
Gorbatschow versuchte das Kunststück,
den Kuchen gleichzeitig zu essen und zu
behalten. Und eine Zeit lang schien es, als
könne er das schaffen. Heute weiß er, welchen Illusionen er nachhing: Sein „größter
Fehler“ sei gewesen, „die Partei für reformierbar zu halten“. Jedenfalls hat er dieser
Fiktion gegen Ende der achtziger Jahre in
immer größerem Maße seine Glaubwürdigkeit an der sowjetischen Basis geopfert.
Je mehr er im Inneren des Riesenreichs
auf Widerstand stieß, umso mehr wuchs
sein Renommee im Westen. Er vollzog den
Ausstieg aus Wettrüsten und Kaltem Krieg,
setzte den Truppenabzug aus den Warschauer-Pakt-Staaten durch und die Freigabe der DDR.
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Sowjetwirtschaft nicht ihre letzte Genesungschance versäumen sollte. Er kannte
aber auch die Gefahr westlicher Hybris.
Trotz aller Hoffnungen auf eine neue Weltordnung konnte vor allem in den USA
leicht das Gefühl um sich greifen, aus dem
Kalten Krieg als Sieger hervorgegangen zu
sein und deshalb die Bedingungen für den
Frieden diktieren zu dürfen. Analog dazu
keimte in der Sowjetunion die reaktionäre Trotzhaltung, die geradewegs in eine
neue Selbstisolation der größten Territorialmacht des Planeten münden könnte.
Deshalb schlug Gorbatschow Ende 1988
in einer Aufsehen erregenden Rede vor der
Uno-Vollversammlung in New York den
neuen Sicherheitspartnern einen dritten
Weg vor: Alle Großmächte sollten zu absolutem Gewaltverzicht verpflichtet, die
internationalen Beziehungen „entideologisiert“, „humanisiert“ sowie an „allgemein menschlichen Werten und Ideen“
133
unbekannt. Gorbatschow schwört, von den
Schießbefehlen erst nachträglich erfahren zu haben: In beiden Fällen sei es
zu „Handlungen“ gekommen, „die vollständig der Linie der Führung widersprachen“.
Doch das war ja das Dilemma: Diese
„Linie der Führung“ war schon seit langem
nicht mehr zu erkennen. Der „Baumeister
Europas“ (Hans-Dietrich Genscher über
Gorbatschow) genoss höchste Anerken-
BLANCHE / GAMMA / STUDIO X
ausgerichtet werden. Alle sollten nach
vorn, niemand mehr zurückblicken: Damit würden sich, so hoffte der große Anreger aus Moskau, die Unterschiede zwischen Erster und Zweiter Welt abschleifen
– und es der Sowjetunion erspart bleiben,
in die Dritte abzusinken.
Es war ein schöner Traum, er scheint
nun ausgeträumt.
Die Botschaft wurde vernommen, die
Aufforderung zu einem globalen New Deal
Unabhängigkeitsdemonstration in Baku (1988): Eine Welle des Aufbegehrens
allenthalben verstanden: Die „Washington
Post“ lobte überschwänglich „Offenheit,
Ehrlichkeit und Mut“ des Redners, die
„New York Times“ pries den Vortrag als
ebenbürtig „der Verkündung der AtlantikCharta durch Franklin Roosevelt und
Winston Churchill im Jahre 1941“.
Man war gerührt, nichts weiter. Dann
musste Gorbatschow hastig abreisen: In
Armenien hatte ein schreckliches Erdbeben getobt.
Die erzwungene Rückkehr in sein niedergehendes Reich hatte etwas Symbolisches: Fortan waren es meist politische Katastrophen, die Michail Gorbatschow immer häufiger zum Abstieg aus den Wolken
der Weltbeglückung zwangen.
Die nichtrussischen Sowjetrepubliken
fügten seinem neuen Denken neues, souveräneres Handeln hinzu. Politisch-ethnische Konflikte flammten auf: Vom georgischen Tiflis (April 1989) über Baku in
Aserbaidschan (Januar 1990) bis ins litauische Vilnius (Januar 1991) zog sich eine
Welle des Aufbegehrens. Und die Partei,
deren führende Rolle längst aus der Verfassung gestrichen war, kannte keine anderen Mittel, sie zu brechen, als die alten:
Gewalt.
Für den Militäreinsatz in Baku gab es einen Politbüro-Beschluss. Wer für das Morden in Tiflis und Vilnius die entscheidenden Kommandos erteilte, ist bis heute
134
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nung in der Welt und erhielt im Oktober
1990 auch den Friedensnobelpreis. Doch
daheim saß er zwischen halbfertigen, mitunter wieder einstürzenden Neubauten –
und zugleich zerfiel unaufhaltsam die alte
Völker-Zwingburg Sowjetunion, für deren
Erhalt sich noch im März 1991 über 113
Millionen Menschen, 76,4 Prozent der
Wähler, ausgesprochen hatten.
Von Gorbatschow enttäuscht, verbündeten sich die demokratischen Aktivisten
der überregionalen Parlamentarier-Gruppe
mit den Nationalisten in den Republiken –
gegen den lästigen Vormund und Übervater im Kreml, der die Oberaufsicht über die
Union, freilich eine neue, behalten wollte.
Doch nicht über diese neuen Gegner stürzte der sowjetische Präsident – seine alten
Freunde und falsch gewählten Verbündeten
kamen ihnen zuvor:
Am 18. August 1991 setzten sie Michail
Gorbatschow in seinem Krim-Urlaubsort
Foros fest. Mit von der Putsch-Partie: sein
Stellvertreter und der Verteidigungsminister, der KGB-Chef und der Ministerpräsident.
Aber die Verschwörung war, trotz der
vielen Fachleute, nicht professionell inszeniert, sondern luftige Operette, die schon
nach drei Tagen wieder abgesetzt werden konnte. Gorbatschow kam zurück aus
seiner, wie er es seitdem nennt, „Gefangenschaft“. Doch es war keine Heimkehr
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Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
ESTLAND
LETTLAND
LITAUEN
Kaliningrad
BELORUSSLAND
UKRAINE
Moskau
R U S S L A N D
MOLDAWIEN
GEORGIEN
ARMENIEN
USBEKISTAN
TURKMENISTAN
1000 km
Russland
KIRGISIEN
ehemalige Sowjetrepubliken
TADSCHIKISTAN
im Triumph, sondern die Repatriierung
eines Geschlagenen, an dem nun auch kleinere Präsidentenkollegen aus den Republiken ihr Souveränitäts-Mütchen kühlen
konnten.
Keine vier Monate später, am 8. Dezember 1991, verabredeten Russland, die Ukraine und Belorussland auf Betreiben Boris
Jelzins einen separaten Staatenbund und
ließen dem Kreml wie der Welt kühl mitteilen: „Die UdSSR als Völkerrechtssubjekt
und geopolitische Realität hört auf zu bestehen.“ Am ersten Weihnachtsfeiertag des
Jahres 1991 trat Gorbatschow von
einem Posten zurück, den es nur
noch auf dem Papier gab.
Wenn sich überhaupt ein
Mensch messbare Meriten erworben hat bei der Beendigung
des Kalten Krieges und der atomaren Teil-Entwaffnung der
Menschheit, bei der Einebnung
von Grenzen und der Überwindung von Denkverboten, so ist
dies Michail Gorbatschow. Nur:
Dieser Prozess, als er an Tempo
gewann, zerstörte das Imperium,
welches Gorbatschow vor allem
hatte retten wollen.
* Nach dem Putschversuch im August 1991.
Der Zerfall der Sowjetunion
Seine Glasnost zerlöcherte die Autorität
im Lande, zuletzt auch seine eigene. Seine
Perestroika zerschlug die bis dahin recht
und schlecht funktionierende Sowjetwirtschaft, ohne der Bevölkerung im freien Fall
ihres Lebensstandards wirkliche Alternativen zu bieten. Und schließlich: Seine Öffnung nach Westen brachte jene Jungradikalen der letzten Komsomol-Generation
an die Macht, deren neoliberale Rezepte
jämmerlich versagten und bei vielen eine
endgültige Abkehr vom westlichen Demokratie-Modell bewirkten.
Entsprechend wenig galt der Weltveränderer lange Zeit im eigenen Lande. Als er
sich vor drei Jahren um die russische Präsidentschaft bewarb, mochten ihm gerade
0,5 Prozent der Wähler (386 000) ihre Stimme geben: „Träumer“, so bekannte sich
die renommierte Moskauer Schriftstellerin Tatjana Tolstaja zu ihrem GorbatschowKreuz, „die jene helle, aber kurze Periode
nicht vergessen haben, als eine Kette nach
der anderen zerbrach, als jeder Tag mehr
Freiheit und Hoffnung brachte, als Leben
wieder einen Sinn bekam.“
Doch die Zahl jener, die sich
erinnern wollen, wächst: Als die
Moskauer Radiostation Echo
Moskwy in diesem Sommer aus
einer Zehner-Liste – Lenin/Stalin
inklusive – die russische Persönlichkeit des Jahrhunderts auszuwählen bat, stimmten 40 Prozent
der Hörer für Gorbatschow.
Der bedankte sich für die
Ehrung auf lateinisch mit der
wichtigsten Lehre, die ihm sein
Leben erteilt habe: Errare humanum est.
SHONE / GAMMA / STUDIO X
ASERBAIDSCHAN
KASACHSTAN
Gorbatschow, Nachfolger Jelzin*: Ein Imperium zerstört
LITERATUR
Jurij N. Afanassjew (Hrsg.): „Es gibt keine Alternative zu Perestroika: Glasnost, Demokratie, Sozialismus“. Greno Verlag, Nördlingen 1988; 760
Seiten – Einschätzungen sowjetischer Reformer
aus der Frühphase von Michail Gorbatschows neuer
Politik.
Rafael Biermann: „Zwischen Kreml und Kanzleramt.
Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang“. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1998 (2. Aufl.);
800 Seiten – Ausführlichste Studie zur sowjetischen
Deutschlandpolitik seit 1985.
Michail Gorbatschow: „Erinnerungen“. Siedler Verlag, Berlin 1995; 1220 Seiten – Autobiografie des letzten Generalsekretärs der KPdSU.
Eric Hobsbawm: „Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Hanser Verlag,
München 1995; 784 Seiten – Gorbatschow und das
Ende des Kommunismus in der Sowjetunion.
Gail Sheehy: „Gorbatschow. Der Mann, der die Welt
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Jörg R. Mettke, 56, ist seit 1987
Korrespondent des SPIEGEL in
Moskau.
verändert hat“. List Verlag, München 1991; 440 Seiten
– Eine amerikanische Erfolgsautorin über den letzten Präsidenten der UdSSR.
Horst Teltschik: „329 Tage“. Siedler Verlag, Berlin 1991;
384 Seiten – Der außenpolitische Sprecher Helmut
Kohls beschreibt die Verhandlungen mit den Sowjets.
Anatolij Tschernajew: „Die letzten Jahre einer Weltmacht“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1993;
480 Seiten – Insider-Bericht des außenpolitischen
Gorbatschow-Beraters.
135
Das Jahrhundert des Kommunismus: Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
STANDPUNKT
„Wir lernten, frei zu atmen“
D
Von Georgij Arbatow
zugehen, manchmal sogar auf eine Menge zumarschieren. Er verkörperte einen
neuen Anfang und einen neuen Stil, er
war offener und menschlicher als seine
Vorgänger. Er zeigte, dass er keine Angst
vor dem Volk hatte, sondern sich mit
ihm direkt unterhalten wollte. Seine
Popularität wuchs, besonders unter den
Intellektuellen: eine wirkliche Popularität, nicht durch aufdringliche Propaganda von oben gepflanzt.
Es war eine unvergessliche Zeit. Wir
alle lernten, frei zu atmen. Die Angst,
mit der jeder von uns seit seiner
Kindheit lebte, verflüchtigte sich.
Zum ersten Mal konnten viele von
uns frei sprechen und auf ihr Land
stolz sein; zum ersten Mal hatten
sie Vertrauen in die Führung und
wurden sich ihrer Verantwortung
bewusst.
Gorbatschow hat Großes geleistet, er ist einer der bedeutendsten
Politiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden. Zu den Aufgaben, die er nicht mehr bewältigen konnte, für die seine Zeit
oder sein Augenmaß nicht mehr
gereicht haben, gehörte leider
das Heranziehen eines würdigen
Nachfolgers, welcher den beschrittenen
Weg hätte weitergehen können.
Das Gegenteil trat ein: Er fand in Boris Jelzin seine Nemesis; einen Mann,
der entschlossen war, den politischen
Kurs abzuwandeln, ja zurückzurudern.
Als Jelzin auf einer Plenartagung des
ZK der KPdSU im Oktober 1987 seinen
Rücktritt anbot, hielt Gorbatschow ihn.
Er hätte ihn mit Dank ziehen lassen sollen. In zwei oder drei Monaten wäre
der Name Jelzin in Vergessenheit geraten.
P. KASSIN
Spiegel des 20. Jahrhunderts
en Namen Gorbatschow hörte er, bereits schwer krank, Ende 1983
ich zum ersten Mal 1974 oder durch einen Brief an das Politbüro
1975 von Jurij Andropow, dem Nachdruck zu verschaffen, über den er
damaligen KGB-Chef. Ich hatte in ei- auf der ZK-Plenartagung zu diskutieren
nem Gespräch mit Andropow, mit dem bat: Gorbatschow sei für den verantmich seit Ende der sechziger Jahre wortungsvollsten Posten prädestiniert.
Doch das Politbüro beherrschten
gute, ja freundschaftliche Beziehungen
verbanden, ärgerlich gefragt, weshalb greise Funktionäre, die Angst vor jedie Partei nicht bessere, zukunftsorien- dem Wandel hatten. Sie verheimlichtiertere Menschen in leitende Positio- ten der Plenartagung und erst recht der
nen bringe. Der sonst sehr ruhige und Partei den Andropow-Brief. Und sie
reservierte Andropow brauste förmlich sorgten dafür, dass nach dem Ableauf: „Weißt du denn nicht, was für kom- ben Andropows einer der Ihren die
petente junge Kader in der Provinz heranwachsen? Hast du zum
Beispiel den Namen Gorbatschow
schon einmal gehört?“
Der Name sagte mir nichts. Das
nächste Mal hörte ich ihn ein paar
Jahre später, wieder von Andropow. Mitten in einem Gespräch
sagte er ganz unvermittelt: „Die
Schurken wollen um jeden Preis
verhindern, dass Gorbatschow
nach Moskau kommt.“ Er meinte
einige seiner Kollegen im Politbüro, die Gorbatschow, damals
Stawropoler Gebietschef, nicht auf
dem Posten des ZK-Sekretärs für Arbatow
Landwirtschaft sehen wollten.
Im September 1978 verbrachte Jurij Nachfolge antreten konnte: der damals
Andropow wie häufig seinen Urlaub 72-jährige, ebenfalls gesundheitlich anin der Region Stawropol. Und auch geschlagene Konstantin Tschernenko.
KPdSU-Chef Leonid Breschnew mach- Dessen Herrschaft dauerte gerade ein
te dort Station. Bei dieser Gelegen- Jahr – ein Jahr, das an Langeweile und
heit überzeugte Andropow offenbar Farblosigkeit in der nachstalinschen
Breschnew davon, dass er in Gor- Periode jedes andere übertraf. Man
batschow einen treuen Anhänger ge- musste sich für das eigene Land schämen. Mehr noch: Ich empfand es als
winnen könne.
Drei Monate später lernte ich Gorba- großes Unglück.
Allerdings gewann damals in der Partschow in Moskau kennen. Er machte
einen netten, gewinnenden Eindruck, tei, mit ihren fast 20 Millionen Mitglieaber ich weiß nicht mehr, worüber wir dern, das Grundverständnis immer stärsprachen: Von Landwirtschaft verstand ker an Raum, dass es so nicht weitergeich nichts, an Außenpolitik zeigte er hen konnte, sondern radikale Reformen
fast in allen Bereichen Not taten.
kein Interesse.
Wir alle waren damals stark beein1982 wurde Andropow Generalsekretär der KPdSU und setzte ganz of- druckt von dem neuen Mann als Nachfensichtlich auf Gorbatschow als seinen folger Tschernenkos: Gorbatschow
Nachfolger. Diesem Wunsch versuchte konnte frei sprechen und auf Menschen
Arbatow, 76, war bis 1993 Direktor des
Instituts für die Vereinigten Staaten
und Kanada bei der Moskauer Akademie der Wissenschaften und außenpolitischer Berater des Zentralkomitees der KPdSU.
DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. DAS JAHRHUNDERT DES KOMMUNISMUS;
XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Szene
T H E AT E R
Unsterbliche Musicals
B
AP
ritische Autoren und Regisseure fürchten, dass eine neue
Flut von Musicals dem britischen Theater die Luft abwürgt. Die aufwendigen Produktionen blockieren die großen
Aufführungshäuser im Londoner Westend zum Teil für Jahre
und verdrängen Schauspiele, mit denen nicht so viel Geld zu verdienen ist. Autor Simon Gray, dessen jüngstes Stück verabredungswidrig nicht im Londoner Gielgud-Theater aufgeführt wurde, weil ein Musical namens „Boyband“ höhere Einnahmen versprach, ist überzeugt, dass ernsthaftes Theater ganz
aus dem Westend verschwindet. Nicht nur große BroadwayProduktionen wie Disneys „The Lion King“ oder das TanzMusical über den US-Choreographen Bob Fosse kommen in
den nächsten Monaten auf die Londoner Bühnen, sondern auch
Theaterversionen alter Filme, die als Musicals Wiederauferstehung feiern, darunter „Die Hexen von Eastwick“ oder „Ein
Pyjama für Zwei“. Selbst das subventionierte britische Nationaltheater hat damit begonnen, seine Kasseneinnahmen regelmäßig durch Musicals aufzubessern. Neue Stücke, glaubt
Peter Shaffer, Autor des Mozart-Dramas „Amadeus“, haben
gegen die Tingeltangel-Konkurrenz kaum noch Chancen: „Die
annähernde Unsterblichkeit dieser Musicals ist einfach
widerlich.“
Disney-Musical „The Lion King“
Schröder: … das vom Publikum nicht
„Nur noch Erinnerung“
Klaus Albrecht Schröder, 43, Leiter des
Kunstforums der Bank Austria in Wien,
über seine Berufung zum Direktor der
Graphischen Sammlung Albertina
SPIEGEL: Herr Schröder, Ihr Karrieresprung aus dem privaten Ausstellungsbetrieb an die Spitze eines Weltmuseums befremdet viele Fachleute. Sind
Sie der neue Direktorentyp: mehr Marketing, weniger Wissenschaft?
Schröder: Ich glaube, meine Publikationen von Donatello bis
Schiele genügen jedem Forschungsanspruch. Nur werden
von Museumsdirektoren heute
auch Management-Fähigkeiten,
offensive PR und kaufmännische Effizienz erwartet.
SPIEGEL: Beim Kunstforum feiern Sie Publikumserfolge. Was
erwartet Sie in der Albertina?
Schröder: Zunächst eine
Schröder
schwere Krise. Weil es 1994
hieß, vorliegende Umbaupläne würden
rasch realisiert, ist das Haus seitdem geschlossen. Für viele ist es nur noch eine
große Erinnerung.
SPIEGEL: Die Kunsthistoriker arbeiten
doch weiter, es gibt einen Studiensaal
und ein Quartier für Ausstellungen …
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angenommen wird. Die Besucherzahlen
sind zum Teil kaum mehr messbar.
SPIEGEL: Was muss geschehen?
Schröder: Der begonnene Erweiterungsbau muss rasch vollendet werden, der
Altbau braucht die Sanierung und einen
neuen Nutzungsplan. Und das Ausstellungsprogramm muss generell auf Albertina-Niveau gebracht werden.
SPIEGEL: Über die laufende RaffaelSchau kann man wirklich nicht klagen.
Schröder: Da will ich mich nicht einmischen. Bei längerfristiger Planung hätte
man aber auch London mit
den Raffael-Sammlungen des
Königshauses und des British
Museum zur Zusammenarbeit
gewinnen können. Solche Kooperationen werde ich forcieren, ich will außerdem die
Albertina zur Gegenwart öffnen, und ich möchte kulturhistorische Projekte betreiben,
die keine reinen Grafikausstellungen zu sein brauchen.
SPIEGEL: Wenn Sie am 1. Januar Ihr Amt antreten, finden
Sie noch den bisherigen Direktor Konrad Oberhuber vor, der erst Ende 2000
in Pension gehen muss und der noch eigene Ausstellungspläne hat. Wie ist der
Konflikt zu lösen?
Schröder: Das ist eine Frage an das zuständige Unterrichtsministerium.
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M. HETZMANNSEDER / FORMAT
MUSEEN
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POP
Rum und Bass
N
ach dem Erfolg der kubanischen
Altstars vom Buena Vista Social
Club versucht derzeit fast jede Plattenfirma, einen eigenen Latino-Star am
Markt zu platzieren. Nun hat der emsige New Yorker Bassist und Produzent
Bill Laswell mit seinem französischen
Kompagnon Jean Touitou eine KubaCD herausgebracht, die aus den üblichen Samplern hierzulande völlig unbekannter Bands herausfällt. Das Doppelalbum „Havana Mood“ enthält auf der
ersten CD Original-Stücke von Ignacio
Piñeiros Septeto Nacional, die Laswell
und Touitou auf der zweiten CD als
Dub neu gemischt haben. „Rhum &
Bass“ nennen die beiden ihren tief
wummernden Cocktail, der auch bei
exzessivem Genuss keine Kopfschmerzen bereitet.
CD „Havana Mood“
Szene
Kubrick-Fotos von Montgomery Clift (1949), Betsy von Fürstenberg (1950)
FOTOGRAFIE
Kubricks Look
S
tanley Kubrick, der spätere Filmregisseur, war ein exemplarischer
Schulversager und schaffte nur mit
Mühe den High-School-Abschluss, weil
er sich offenbar ausschließlich fürs
Fotografieren interessierte – dafür
aber mit auffälligem Talent. Schon als
16-Jähriger, 1945, verkaufte der Arztsohn ein Foto an die Illustrierte „Look“
und wurde wenig später ins feste Fotoreporterteam von „Look“ übernommen. 1951 gab er den Job auf, um seinen
ersten kurzen Dokumentarfilm zu drehen. Sein fotografisches Frühwerk, das
ihm offenbar später nichts mehr bedeutete, ist erst in den letzten Jahren durch
deutsche Initiative im ungeordneten
„Look“-Archiv in der Library of Congress in Washington ans Licht geholt
worden. Bis Ende August ist nun erstmals eine imposante Auswahl in der
Kieler Kunsthalle zu sehen, vom September an im Kölner Kunstverein. Der
Katalog dazu, „Stanley Kubrick: Still
Moving Pictures“, herausgegeben von
Rainer Crone und Petrus Graf Schaesberg (Verlag Schnell & Steiner, Regensburg; 232 Seiten; 68 Mark), ist ein aufwendiger, mit Liebe gemachter Bildband – Kubricks visuelle Energie ist
darin durchaus schon zu erkennen.
Kino in Kürze
und nach wachsen auf beiden Seiten Respekt und Zuneigung;
für den vierjährigen Sohn der Kalmans entwickelt Chaja sogar
mütterliche Gefühle. Das macht sie verwundbar. Ein schwieriges Sujet hat sich der niederländische Schauspieler Jeroen
Krabbé für sein Regiedebüt ausgesucht, und manchmal dominiert denn auch dokumentarischer Eifer die eher schlicht gestrickte Geschichte. Doch die hervorragenden Darsteller – neben Fraser und Krabbé selbst Isabella Rossellini sowie Marianne
Sägebrecht – machen dieses Manko mehr als wett.
BUENA VISTA
„Die Farbe der Lüge“. All die patenten deutschen TV-Kommis-
Szene aus „Kalmans Geheimnis“
„Kalmans Geheimnis“. Antwerpen 1972: Die Studentin Chaja
(Laura Fraser) heuert als Kindermädchen bei den Kalmans an
– einer Familie strenggläubiger chassidischer Juden. Anfangs
lässt die selbstbewusste junge Frau in der durch strikte religiöse
Regeln geprägten Umgebung keinen Fettnapf aus. Aber nach
140
d e r
sarinnen sollten sich vielleicht mal einen Abend freinehmen
und sich ansehen, wie ihre Filmkollegin Valeria Bruni Tedeschi
in einem bretonischen Dorf Dienst tut: mit einer Schläfrigkeit,
mit einem dickköpfigen Phlegma, das sie von Szene zu Szene
unwiderstehlicher wirken läßt. Die rasche, zupackende Frau in
diesem jüngsten Krimi von Claude Chabrol (angeblich seinem
50. Film) ist wieder einmal Sandrine Bonnaire, hier als Krankenpflegerin und Ehefrau eines unter zweifachen Mordverdacht geratenden Malers. Der Film genießt die Finten und Fallen seines Plots mit bewährter Eleganz, doch das Besondere ist
diesmal: Die geheimnisvollste Figur ist die Kommissarin.
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Kultur
din nach Berlin ziehen und dort auf
ebenso kommunikationsbedürftige wie
-unfähige Menschen treffen, auf Strukturen, die geselliges Leben schon im
Ansatz verhindern. Für Hinterhäuser
etwa gibt es im Berlin kurz nach der
Wende keine Klingeln: Besucher gelangen so gar nicht erst ins Haus. Abgeschreckt durch solcherlei Schikane,
beschließt die Heldin, nach Frankreich
zu ziehen – ein Entschluss übrigens,
den Vanderbeke selbst vor einigen Jahren traf.
Die Beschreibung der französischen
Verhältnisse gerät Vanderbeke allerdings häufig zum Klischee. Offensichtlich ist Frankreich ihr Seelenort, deswegen geht ihr hier die Distanz
und damit auch ihr wohltuender Spott abhanden. Stattdessen schwärmt sie von freundlichen Nachbarn, Lehrern, Eltern, Kindern; in Frankreich ist
alles gut – solange keine Besucher aus Deutschland kommen!
Hier der Abgrund, dort das Paradies – ganz glaubwürdig ist
diese Konstruktion nicht, und
so beginnt das Buch viel besser,
als es endet.
L I T E R AT U R
Flucht aus Absurdistan
E
in Satz, typisch Vanderbeke: „Immer wollte der Osten der Westen
sein, und dann war er es, und als er es
war, wollte er es nun plötzlich doch
nicht sein wegen der Mieten und Arbeitslosen, und der Westen mochte den
Osten nicht haben wegen der Krankenkassenreform und der Steuern … und
also blieb der Osten der Osten und der
Westen der Westen.“ Eine Analyse, typisch Vanderbeke: „Wenn etwas so ähnlich ist, wie man es kennt, aber man
muss es trotzdem neu lernen, sieht man
nicht ein, warum.“ Ein Buchtitel, typisch Vanderbeke: „Ich
sehe was, was Du nicht siehst“
nennt die Autorin ihr neues
Werk – ein treffender Titel
nicht nur für die Erzählung, sondern vor allem für die Autorin
selbst.
So instinktsicher und klug wie
schon in ihrer meisterhaften und
hoch gelobten Erzählung „Alberta empfängt einen Liebhaber“ deckt Birgit Vanderbeke,
43, auch diesmal Absurditäten deutscher Seelenzustände auf; diesmal ist
das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ihr Thema. Sie lässt ihre Hel-
Birgit Vanderbeke: „Ich sehe was, was Du nicht
siehst“. Alexander Fest Verlag, Berlin; 128 Seiten;
29,80 Mark.
KUNST
Raben beim Schloss
D
FOTOS: R. MENSING
ie drei Herren im Rokoko-Habit
ähneln einander zum Verwechseln.
Einer zwar, mit Zeichenblock auf den
Knien, scheint den Zweiten zu porträtieren, dem Dritten bleibt die Zuschauerrolle. Doch: „Jeder ist der andere oder
keiner“, erklärt der italienische Konzeptkünstler Giulio Paolini, der die Figuren vor das münsterländische Barockschloss Nordkirchen postiert hat. Nachdenkliche Betrachter sind gefordert –
und mobile. Denn Paolinis Trio spielt
bei einer ersten „Skulptur-Biennale im
Münsterland“ mit, die ihr Publikum
durch Park und Wald sowie auch über
Land zu den nahen Adelssitzen Vischering und Westerwinkel lockt. Die vom
Düsseldorfer Kulturministerium nebst
etlichen Kommunen und Vereinen gestützte Unternehmung verpflanzt das
seit 1977 bei „Skulptur-Projekten“ in
Münster bewährte Prinzip ortsbezogener Freiluft-Kunst ins Umland; alle zwei
Jahre bis 2005 ist ein neuer Schub geplant. Zum Start – aber auf Dauer – haben acht Künstler ihre Zeichen gesetzt,
so der Amerikaner Mark Dion mit einer
makabren „Wegkreuzung“, an der modellierte Raben auf einem Wagenrad
und einem abgestorbenen Baum hocken, und der Schwede Henrik Håkansson
mit einer Überwachungsanlage für wilde Kleintiere. Im
Schloss Nordkirchen
sind bis 27. September
auch unverwirklichte
Entwürfe ausgestellt.
Paolini-Skulpturen
„Drei mal drei“, Håkansson-Installation
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Am Rande
Rechte Dunkelzone
Viele Geheimnisse hat
die Welt verloren. Vorbei ist die Zeit, in der
sich Astronomen auf
dem Sterbebett an
der Vorfreude wärmen konnten, aus dem
Jenseits endlich einmal
die Rückseite des Mondes
zu sehen. Raumfahrer und
Raumsonden haben die Anschauungslücke längst ernüchternd gefüllt: Da hinten, zeigt sich, ist auch
nicht mehr los als auf der sattsam
angeschwärmten, erdwärts gekehrten Hälfte des Trabanten. Nun aber
lenken, wie der Londoner „Independent“ groß herausstellt, australische „Wissenschaftler“ das Augenmerk der Gebildeten auf eine
bis heute unangetastete Dunkelzone: Kein lebender Mensch hat noch
die rechte Schläfe der mondgesichtig lächelnden Mona Lisa, doch
auch so mancher anderen Schönheit aus der Kunstgeschichte erblickt. Wie konnte das passieren?
Wohl nur so, antworten die forschenden Antipoden, dass Frauen
in instinktiver Taktik dem Betrachter meist ihre linke, nämlich stärker
gefühlsgeprägte Gesichtshälfte zuwenden. Die Auswertung von 1500
Gemälden sichert den Befund statistisch ab: 68 Prozent der porträtierten Frauen, aber nur 56 der
Männer verhalten sich so; gezählt
ist gezählt. Spielverderber könnten
die Neuigkeit als saisonbedingtes
Windei aus den Tiefen des Sommerlochs (das in Australien aber ein
Winterloch wäre) abtun und vielleicht einwenden, dass eher der Maler als das Modell über dessen Pose
zu bestimmen pflege. Feinfühlige
Menschen indes denken wohl wieder einmal über das ewige Rätsel
Weib nach, das, wie es sich auch
dreht und wendet, stets eine verborgene Seite wahrt. Da hat die
Wissenschaft noch vieles zu ergründen. Sollte sie auch? Am Ende
sieht die rechte Wange der Mona
Lisa ihrer linken so ähnlich wie die
vordere Seite des Mondes der rückwärtigen. Also: weiter lächeln!
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141
Kultur
AU T O R E N
„Den tiefsten Schmerz“
Marcel Reich-Ranicki hat seine Memoiren geschrieben. Unter dem schlichten Titel „Mein Leben“
erzählt er eine der ergreifendsten Lebensgeschichten dieses Jahrhunderts. Deutschlands
wortmächtigster Literaturkritiker und TV-Entertainer überrascht durch stille Lakonik und das
melancholische Fazit, trotz aller Erfolge ein Außenseiter geblieben zu sein.
F
riedrich Luft, der legendäre Berliner
Theaterkritiker, nannte ihn einmal
den „Vorleser der Nation“ – einen,
der früher als das Publikum und an seiner
statt die neuesten Romane liest (und bewertet), dies aber so eindrucksvoll und
lautstark tut, als deklamiere ein Schauspieler vor einer großen Zuhörerschar.
Vorleser der Nation ist jemand, der, indem
er liest (und schreibt), sich reden hört.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, 79, ist mit dieser Porträtskizze gut getroffen. Und bis heute zehren davon die
Kritiker des Kritikers, wenn sie, frei nach
Eckhard Henscheids Vorlage, Reich-Ranicki sei unter den Buchbewertern bloß
„der Lauteste“, immer wieder auf die
Phonstärke, auf die – seit 1988 durch das
„Literarische Quartett“ im ZDF – auch optisch mächtige Präsenz des Mannes zielen.
Als beweise diese Präsenz an sich schon
Grobheit und Gedankenschwäche.
Wahr ist: Reich-Ranicki hat in den Jahren von 1958 – damals kam er aus Polen in
die Bundesrepublik – bis 1992 638 Essays
und Rezensionen über 226 Autoren veröffentlicht, vor allem in der „Zeit“ und in der
„Frankfurter Allgemeinen“, ein stattliches,
nicht gerade kleinlautes Meinungspaket.
Wahr ist aber auch: Er veröffentlicht am 16.
August „Mein Leben“, seine Autobiografie,
an der er sechs Jahre gearbeitet hat*; und
dieses Buch ist alles andere als lautstark
und vollmundig: Es ergreift durch die tonlose Stille des Entsetzens, durch subtile
Andeutungen, polemisches Verschweigen,
durch Lakonik und Zärtlichkeit.
Der Herr der Bücher, der viel gescholtene Literatur-Wüterich zeigt sich schwach,
oft selbstkritisch und beinahe sprachlos,
als unterläge er dem eigenen Leben. Nur
herzlose Leser werden sich diesem Drama
in Prosa entziehen können.
Marcel Reich, der 1920 in Wloclawek an
der Weichsel geborene Sohn jüdischer Eltern, besuchte in Polen zunächst eine
deutschsprachige Volksschule. Dass er bei
der Einschulung schon lesen konnte, habe,
so schreibt er, „den Neid der Mitschüler erweckt. Von Anfang an fiel ich aus dem Rahmen, ich war ein Außenseiter. Dass es so
Kritiker Reich-Ranicki, Ehefrau Teofila: Blitz-Heirat im Warschauer Ghetto
* Marcel Reich-Ranicki: „Mein Leben“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 568 Seiten; 49,80 Mark.
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M. KLIMEK
Seinen „elfenbeinernen Turm“, in dem vens Quartett Opus 59, Nr. 3, C-Dur geer vor dem immer rüderen Antisemitismus spielt – es wurde im Ghetto vom Streichgeistige Zuflucht fand, bewohnten Schil- orchester besonders oft und „besonders
ler, Shakespeare, Heine, Goethe, geradezu gut“, wie Reich-Ranicki schreibt, aufgegierig genoss er auch das Theater, vor allem führt. Wann immer er bei seiner Sendung
das von Gustaf Gründgens. Er konnte 1938 diese Takte höre, denke er an die Musiker,
gerade noch Abitur machen, wenngleich „die sie im Ghetto gespielt haben“. Nachseine Deutschnote nach unten korrigiert satz des Autors: „Sie wurden alle vergast.“
wurde, weil ein Jude in diesem Fach nicht
Im Juli 1942 fuhr die SS vor; im Büro des
mehr „sehr gut“ sein durfte.
„Judenrates“ musste Reich die Anweisung
Am 28. Oktober 1938 – wenige Tage vor protokollieren und übersetzen, die gesamden „Kristallnacht“-Pogromen – wurde te Ghetto-Bevölkerung werde fortan nach
Marcel in seinem winzigen Zimmer in Ber- Osten „umgesiedelt“: das Todesurteil.
lin-Charlottenburg vor 7 Uhr morgens von „Man muss“, so die „FAZ“ vorvergangene
einem Polizisten geweckt. Der drückte ihm Woche in ihrer Einführung zum Teilabein Papier in die Hand – Ausweisung aus druck der Memoiren, „das vor sich sehen:
dem Deutschen Reich – und hieß ihn sofort Wie Reich-Ranicki, dessen Leben aus Texmitkommen. Das sichtbare Reisegepäck ten besteht, diesen finalen Text aufschreibt
des jungen Juden, der nun mit der Eisen- und übersetzt.“ Man muss das vor sich sebahn nach Warschau zwangsbefördert hen: Es ist unvorstellbar.
wurde, bestand aus einer Aktentasche mit
In den Viehwaggons, die ihre menschlieinem Reservetaschentuch und einem che Fracht zu den Vergasungsräumen und
Balzac-Roman. Sein unsichtbares Gepäck, Krematorien von Treblinka transportierten,
so schreibt er, war die deutsche Sprache – verschwanden auch Reichs Eltern. Die jüund die deutsche Literatur.
dischen Ghetto-Verwalter wurden noch geAls Hitlers Truppen ein knappes Jahr spä- braucht und vorerst, mit ihren Ehepartnern,
ter Polen überfielen und die Hauptstadt be- geschont. In einer Blitz-Zeremonie heirasetzten, lebte die Familie Reich, wieder ver- tete Reich seine Freundin Teofila, genannt
einigt, in Warschau. Sie war bald, wie alle Tosia, um auch für sie Zeit zu gewinnen.
400 000 Juden der Stadt, Freiwild für BesatDas Ghetto war schon auf eine Restgrözer wie für polnische Denunzianten. In die- ße von etwa 35 000 geschrumpft, als auch
ser Situation kam der 19jährige Marcel der gleichaltrigen Teofila aus der
Nachbarschaft näher. Die
Liebe seines Lebens begann unmittelbar, bevor die
Nazis aus dem jüdischen
Viertel jenes „Seuchensperrgebiet“ mit einer drei
Meter hohen Mauereinfassung machten, das als
„Warschauer Ghetto“ traurige Berühmtheit erlangte.
An diesem Punkt setzt der
zweiteilige SPIEGEL-Vorabdruck aus dem Erinnerungsbuch ein (Seite 145).
Verwaltet wurde diese
jüdische Großstadt auf Be- Kanzler Brandt in Warschau (1970): Tröstender Kniefall
fehl der Besatzer durch einen „Judenrat“, der für den Schriftwechsel diese beiden im Januar 1943 in Richtung
mit deutschen und polnischen Behörden ein „Umschlagplatz“ getrieben wurden. Es geKorrespondenzbüro unterhielt. Für ein be- lang ihnen, trotz der schussbereiten SS-Posscheidenes Entgelt leitete der sprachkundi- ten, gemeinsam aus der Kolonne auszuge Berliner Abiturient dieses Büro.
scheren und dem Ghetto zu entfliehen. Das
Demütigungen, Hunger, Krankheit ver- Geld, mit dem die Grenzposten bestochen
schlimmerten sich fast täglich, stets muss- werden mussten, kam aus der Ghetto-Kasten die Bewohner gewärtig sein, über Tote se, die Mörder hatten es den Todgeweihten
hinwegzusteigen. Musiker versuchten, zuvor abgepresst.
sich mit Beethovens Violinkonzert oder
Die Familie eines arbeitslosen polniMozarts Klarinettenkonzert auf der Stra- schen Setzers am Stadtrand von Warschau
ße durchzuschlagen. Sogar ein Ghetto- riskierte alles, um das Leben des jüdischen
Streichorchester wurde gegründet. Unter Paars zu retten; bis zur Ankunft der Roten
dem Namen „Hart“ hat Reich damals re- Armee im Herbst 1944 versteckten sich die
gelmäßig Konzerte rezensiert.
beiden im Keller oder auf dem Dachboden.
Als Vor- und Abspann für das „Literari- In der Nacht, während sie Zigaretten drehsche Quartett“ werden seit elf Jahren die ten, die der Setzer auf dem Schwarzmarkt
ersten Takte des Allegro molto aus Beetho- gegen Nahrungsmittel, vor allem gegen
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SVEN SIMON
bleiben würde, konnte ich schwerlich wissen: … Ich passte nie ganz zu meiner Umgebung“. Ein Leitmotiv, das die eigentümliche Schüchternheit des Selbstbewussten
begründet.
Weil sein Vater als Kaufmann 1929 Bankrott ging, sah die Familie in Polen keine
Zukunft mehr. Sie zog nach Berlin, wo ein
wohlhabender Onkel als Anwalt lebte.
Marcel sprach schnell besser deutsch als
polnisch, der Gymnasiast war bald der
Klassenbeste in Deutsch. Sehr früh liebte
er die Literatur. Und kannte im Grunde
nur einen Berufswunsch: Kritiker.
ZDF
Kultur
Reich-Ranicki beim „Literarischen Quartett“ im ZDF mit Sigrid Löffler (l.), Hellmuth Karasek (r.)*: „Vorleser der Nation“
Wodka tauschte, unterhielt Reich seine
Gastgeber mit populären Zusammenfassungen von Romanen, Theaterstücken oder
Opern, an die er sich erinnern konnte –
von „Werthers Leiden“ über „Wilhelm
Tell“ bis „Rigoletto“.
Nach der Befreiung aus dem Versteck
schätzte ein Pole den gerade 24-jährigen
Reich auf 50 Jahre. Der bot sich an, in der
polnischen Armee am Kampf gegen Hitler
teilzunehmen, war aber so unterernährt,
dass er der militärischen Postzensur zugeteilt wurde.
Im Jahr 1945 trat er der polnischen KP
bei. Einige Jahre lang glaubte er den kommunistischen Verheißungen („ein ernster
Fehler“), diente dem Auslandsgeheimdienst als „Hauptmann“ und brachte es in
London zur Leitung des polnischen Generalkonsulats. Da sein Familienname, nach
all dem deutschen „Reichs“-Wahn, dabei
sichtlich störte, nannte er sich jetzt Ranicki. Den Doppelnamen Reich-Ranicki
führte er erst nach 1958.
Mit keinem Wort erwähnt er, dass er
1994 wegen seiner Geheimdiensttätigkeit
unter dem Decknamen „Albin“ öffentlich
angegriffen wurde; und verdächtigt, den
von ihm in London observierten Exil-Polen ernsthaft geschadet zu haben. Seine
Freunde wissen, wie sehr ihn diese Debatte damals deprimiert hat – ein paar
Worte dazu aus heutiger Sicht läse man
gern.
In den Hamburger Jahren bei der „Zeit“
wurde die Freundschaft zu dem dichtenden
Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens,
so schreibt er, „die weitaus längste und
wichtigste in meinem Leben“. Sie telefonierten fast täglich miteinander. Warum
diese Freundschaft schließlich zerbrach,
bleibt wiederum ungesagt: Jens wollte sich
nicht von jener Fernsehsendung distanzie144
ren, in der sein Sohn Tilman das Geheimdienst-Kapitel erstmals eröffnet hatte.
Die Attacken des Jahres 1994 vertieften,
das war das eigentlich Dramatische für
Reich, die Grunderfahrung des Kritikers:
Ein weiteres Mal wurde er aus einer –
tatsächlichen oder erhofften – Gemeinschaft ausgeschlossen, an den Rand gedrängt und bedrängt.
Jenes würgende Ghetto-Gefühl, das ihn
(wie seine Frau) lebenslänglich zum „Gezeichneten“ gemacht hat – es verfolgt ihn
selbst da, wo er äußerlich sehr erfolgreich
ist: Erst in der Literaten-„Gruppe 47“ („er
blieb irgendwie ein Außenseiter“, meinte
deren Chef Hans Werner Richter), dann in
den Redaktionen der „Zeit“ („Wir fühlten
uns ziemlich einsam, genauer: isoliert“) und
sogar noch in der „FAZ“, deren Literaturteil er von 1973 bis 1988 so temperamentvoll wie expansiv leitet („Beinahe alle Redakteure und Sekretärinnen gaben sich
nicht die geringste Mühe, vor mir zu verbergen, dass ich unwillkommen sei“).
Gleich im ersten Jahr seiner Frankfurter
Erfolgs-Ära erlebt Reich-Ranicki eine herbe Enttäuschung. Im September 1973 veröffentlicht Joachim Fest, der als „FAZ“Mitherausgeber Reich-Ranicki nach Frankfurt geholt hat, seine 1200-Seiten-Biografie
„Hitler“; und zu einem Empfang in die
Berliner Villa des Verlegers Wolf Jobst Siedler sind auch Marcel und Teofila Reich-Ranicki geladen. Im Mittelpunkt der Party
steht ein Endsechziger in dunklem Anzug,
der wie ein Ehrengast hofiert wird: Hitlers
einstiger Rüstungsminister Albert Speer.
Weder Siedler noch Fest hatten das Ehepaar Reich darauf vorbereitet.
Jovial begrüßt der Adjutant des Massenmörders die beiden davongekommenen
* Mit Gast Peter von Matt (2. v. l.), Universität Zürich.
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Juden und macht ein wenig Konversation.
Dann richtet Speer, wie Reich-Ranicki
(„Ich habe entsetzt geschwiegen“) sich erinnert, den Blick auf „das feierlich aufgebahrte Buch“ des Abends, das durch Umfang und Ausstattung Monumentalität suggeriert: „Er wäre zufrieden gewesen“, sagt
schmunzelnd der Kriegsverbrecher, „ihm
hätte es gefallen.“
Aus dieser ersten Irritation zwischen den
Weggefährten wurde ein Riss, der bis heute nicht verheilt ist: im sogenannten Historikerstreit von 1986. Fest ließ einen Vortrag
des Historikers Ernst Nolte drucken, der, so
Reich-Ranicki, den Holocaust als Folge,
„wenn nicht“ als „Kopie der bolschewistischen Schreckensherrschaft“ zu „bagatellisieren“ versuchte. Was der Kritiker vor
allem übel nahm: Noltes Artikel wurde ihm
nicht vorher gezeigt, es gab auch danach
keinen substanziellen Gegenartikel im
Blatt, Fest hat nicht einmal ihn, Reich-Ranicki, um einen derartigen Artikel gebeten.
Bitteres Fazit einer Männerbeziehung:
„Der Mensch, dem ich zum größten Dank
verpflichtet bin, hat mir auch den tiefsten
Schmerz zugefügt.“
Die Walser-Debatte – es ging ums „Wegschauen“ angesichts von Auschwitz-Bildern – im Herbst 1998, von Fests Nachfolger im Herausgeber-Amt zum publizistischen Event verdickt, empfand der Autobiograf als weitere „Provokation im Sinne
des Mottos ,Ende der Schonzeit‘“.
Kein Zweifel: Auch in den triumphalen
„FAZ“-Jahren blieb Reich-Ranickis immerwährende „Sehnsucht nach einer Heimat“ ungestillt. Was hat ihn getröstet, was
ihm die Heimat ersetzt? Der Kniefall Willy Brandts 1970 am Warschauer GhettoMahnmal; die Liebe seiner Frau Teofila
und seine eigene Liebe – zur Literatur.
M AT H IAS S CH RE I BE R , R AI N E R T RAUB
Der Tot e un d sei n e Toch t er
von marcel reich-ran ick i
E
s war am 21. Januar 1940, kurz nach dreizehn Uhr. Meine auf die sich unentwegt verbreitenden Gerüchte, die nicht immer
Mutter rief mich in die Küche. Sie blickte aus dem Fenster falsch waren.
Das ständige Bedürfnis nach Neuigkeiten, wenn schon nicht erund war offensichtlich beunruhigt, doch, wie immer, ganz
beherrscht. Auf dem Hof sah ich mehrere Nachbarn, etwa acht freulichen, so doch wenigstens beruhigenden, ähnelte bald einer
oder zehn an der Zahl. Sie gestikulierten lebhaft. Etwas musste Sucht. Eben damit hatten die gegenseitigen abendlichen Besuche
innerhalb eines Hauses zu tun: Man traf sich bei einem der Nachgeschehen sein, etwas Aufregendes.
Noch standen wir erschrocken und unschlüssig am Fenster, da barn, um das Allerneueste zu erfahren. „Was gibt es Neues?“ –
läutete schon jemand an unserer Wohnungstür: Der Doktor sol- lautete die stereotype Frage. Ich habe sie mir bis heute nicht abgewöhnt. So war ich auch, meile sofort kommen, denn der Herr
nen Vater begleitend, wenige Tage
Langnas habe sich aufgehängt;
zuvor eine Stunde oder zwei im
vielleicht könnte man noch etZimmer der Familie Langnas gewas machen. Aber mein Bruder
wesen. Dort hatten sich an diewar gar nicht zu Hause. Bevor
sem Abend einige Personen verich auch nur einen Augenblick
sammelt – um sich gegenseitig zu
überlegen konnte, was ich tun
bestätigen, dass die Deutschen
sollte, sagte meine Mutter: „Geh
ernste Sorgen hätten, dass sie mit
sofort dahin, der Langnas hat
den Juden im Generalgouvernedoch eine Tochter, ihrer muss
ment vielleicht doch nicht so
man sich jetzt annehmen.“ Schon
grausam umsprängen, dass der
auf der Treppe, hörte ich die
Triumph der Alliierten sicher sei
Stimme meiner Mutter: „Kümund dass das Ganze nicht mehr
mere dich um das Mädchen!“ Ich
lange dauern könne.
habe diesen Satz, diese Ermahnung – „Kümmere dich um das
Mädchen!“ – nie vergessen, ich
amals also habe ich jene
höre sie immer noch.
Neunzehnjährige zum erDie Tür zur Wohnung, in der
sten Mal gesehen. Da ich
die aus Lodz nach Warschau gemich aber an der allgemeinen Unflüchtete Familie Langnas kürzterhaltung beteiligen wollte,
lich Unterkunft gefunden hatte,
konnte ich ihr nur wenig Aufwar halb offen. In der Diele bemerksamkeit zuwenden. Doch
mühten sich zwei oder drei Perdas genügte, um mich von zweisonen um die laut und, wie mir
erlei zu überzeugen: Sie konnte
schien, feierlich, ja salbungsvoll
Deutsch, und die Literatur war ihr
klagende Frau Langnas. An der
offenbar nicht gleichgültig. Das
Wand lehnte, völlig aufgelöst, die
weckte mein Interesse, das sich
Neunzehnjährige, um derentwilvorerst noch in Grenzen hielt, das
len ich gekommen war. Wir kannmachte sie mir, neben anderen
ten uns schon, doch nur ganz
Umständen, sympathisch. Wie
flüchtig: Die Menschen, die zudenn – nur sympathisch? Ja, in
sammen in einem Haus wohnten,
der Tat. Das hatte einen einfachen
lernten sich damals rasch kennen.
Grund: Ich war gerade von einer
Um zwanzig Uhr war die von den
anderen Geschichte stark in Andeutschen Behörden verhängte
spruch genommen. Einer erotiPolizeistunde, danach durfte man
schen, einer sexuellen? Gewiss.
Ranicki, Ehefrau Teofila in Miedzyzdroje, Polen (1950)
das Haus nicht mehr verlassen.
Aber ich erinnere mich an diese
Man wollte unbedingt wissen,
Geschichte mit gemischten Gewas sich auf der Welt abspielte:
fühlen. Sie ist banal und ein wenig
Davon hing ja, das war schon bald allen klar, unser Leben ab. Nur peinlich, und überdies lässt sich schwer darüber reden – vielleicht
konnte man der einzigen zugelassenen Tageszeitung in polni- deshalb, weil sie immer wieder passiert ist und schon unzählige
scher Sprache, einem erbärmlichen und allgemein verachteten Male erzählt wurde, besonders schön von Österreichern: von
Presseorgan, abgesehen von den Meldungen des Oberkomman- Schnitzler etwa, Hofmannsthal und Stefan Zweig bis zu Joseph
dos der Wehrmacht so gut wie nichts entnehmen – und der in Roth. Aber vergessen kann ich dieses Erlebnis auch nicht.
deutscher Sprache erscheinenden „Warschauer Zeitung“ kaum
Reife Dame verführt einen ehemaligen Schulfreund ihres Sohmehr. Alle Rundfunkapparate hatten wir schon im Oktober 1939 nes, einen Neunzehnjährigen, der sich aber bald von ihr abwenabliefern müssen. Also war man auf die von Mund zu Mund ge- det – natürlich um einer Jüngeren willen. So ließe es sich zusamhenden Nachrichten angewiesen, die nicht immer zutrafen, und menfassen. Die Dame stammte aus Sankt Petersburg, war Anfang
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Kultur
T
Das sollte mir schmeicheln. Aber es verfehlte seine Wirkung, weil
ich sofort den Verdacht hatte, es sei frei erfunden. Dass Frauen
nicht selten mit solchen Bekenntnissen ihren Partnern Genugtuung bereiten wollen, habe ich damals noch nicht gewusst.
N
ach zwei, drei Monaten begann mir Tatjanas melodramatische Selbstinszenierung, deren Zeuge ich täglich sein
musste, ein wenig auf die Nerven zu gehen, ich wurde des
zunächst so aufregenden Minnediensts allmählich überdrüssig.
Was ich damals zu empfinden begann, begriff ich erst später: Ich
sehnte mich insgeheim nach einer ganz anderen Beziehung, nach
einer jungen Frau, vielleicht nach einer Gleichaltrigen. Es mag
sein, dass ich mir dessen an jenem 21. Januar bewusst wurde, als
mir plötzlich die Aufgabe zufiel, mich um ein weinendes Mädchen
zu kümmern.
Nach diesem Tag wurden meine Besuche bei der Frau, die mir
die ersten Monate der Besatzungszeit erleichtert und verschönert
hatte, seltener und hörten bald ganz auf. Wenige Wochen später
traf ich sie zufällig auf der Straße. Sie sagte sofort: „Du hast mich
allein gelassen, wegen einer Jüngeren.“ Ich wollte schon antwor-
heatralisch klang auch ihr Name: Tatjana. Genauer: Sie hat
sich dieses schönen, in Deutschland durch die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts populär gewordenen Namens ohne Reue bemächtigt. Ihr besonders hellblondes
Haar war vermutlich kräftig gebleicht, ihre hellblauen Augen fielen durch ihre Größe auf. Ich habe nie schönere gesehen – oder
sind sie nur in meiner Erinnerung so schön und groß geworden?
Gern sprach sie von dem Luxus, in dem sie einst in Petersburg aufgewachsen war, und von den bedeutenden Männern, die sich in
Berlin um ihre Gunst bemüht
Straße im Warschauer Ghetto (1941)
hatten. Beides war wohl stark
übertrieben.
Ihr Bruder sei in der Sowjetunion, erzählte sie mir hinter
vorgehaltener Hand, eine Person
höchsten Ranges, er sei Mitglied
des Zentralkomitees oder Minister oder beides zugleich, doch
riskiere sie ihr Leben, wollte sie
mir seinen jetzigen Namen verraten. Ich war ziemlich sicher,
dass sie diesen geheimnisvollen
Bruder erfunden hatte. Was sie
aber nicht erfunden hatte, das
war ihr außerordentliches Charisma. Authentisch überdies war
ihre bewundernswerte Gabe, die
Menschen ihrer Umgebung, keineswegs nur mich, zumindest
zeitweise zu faszinieren.
Diese Tatjana besuchte ich nun
beinahe täglich, stets von fünf bis
sieben Uhr nachmittags. Für meine regelmäßigen Besuche hatte
sie sich einen Vorwand ausgedacht: Sie beherrschte vier Sprachen, die fünfte aber, Englisch, nur ten: „So ist das Leben.“ Im letzten Augenblick habe ich mich
dürftig. Ich sollte mit ihr englische Prosa lesen. Ich schlug Joseph beherrscht und ihr den Gemeinplatz erspart. Sie hat mein SchweiConrad vor und Galsworthy. Ihr war alles recht. Denn darauf gen richtig verstanden. Ich erschrak. Denn in ihren großen blaukam es ihr überhaupt nicht an: In Sachen Literatur überließ sie en Augen sah ich Tränen.
die Entscheidung mir. Aber eben nur in Sachen Literatur. Sonst
„Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden“
behielt sie, forsch und energisch, die Initiative. Ich hatte nichts da- – diese schlichte und harte Lehre aus dem „Tonio Kröger“ hatte
gegen.
sich mir, als ich die Liebe nur aus der Literatur kannte, fest einJeder Nachmittag nahm ungefähr den gleichen Verlauf: Es gab geprägt. Aber erst jetzt begann ich sie zu begreifen. Ich wusste
zunächst Kaffee und vorzügliche Kuchen und auch noch andere nicht, was ich sagen sollte. Ich schaute mich um, ob nicht irgendLeckerbissen, die damals in Warschau sehr teuer, doch erhältlich eine Gefahr sich näherte, eine Razzia etwa. Dann hätte ich sofort
waren. Dann lasen wir englische Prosa, doch so richtig konzen- fliehen können. Aber alles blieb ruhig, nur ich war unruhig und
trieren konnten wir uns auf die Lesung nicht; sie dauerte denn zerstreut. Mir fiel nichts anderes ein, als zu murmeln, ich hätte es
auch in der Regel nicht lange. „An jenem Tage lasen wir nicht wei- leider eilig. Sie lächelte traurig und verständnisvoll, wenn nicht
ter“, berichtet Francesca da Rimini in der „Göttlichen Komö- gar mit einer Spur von Neid. Rasch ging ich weg, bemühte mich
die“. Für uns, dieses ungleiche Paar, galt: „An jedem Tage lasen aber, nicht zu schnell zu gehen: Sie sollte nicht merken, dass ich
wir nicht weiter.“
wegrennen, dass ich fliehen wollte.
Der Geschichte dieser Verführung verdankte ich viele, sehr
Erst im Februar 1946 traf ich sie wieder: in Berlin, in einem Café
viele Erfahrungen. Eines Tages erzählte sie mir, sie habe seit lan- am Kurfürstendamm. Sie war niedergeschlagen. Das habe schon
ger Zeit nur lesbische Verhältnisse gehabt, gelegentliche Versuche Gründe, über die sie nicht sprechen wolle und dürfe. Sie tat wiemit Männern hätten nichts daran geändert. Ich sei der erste, der der einmal geheimnisvoll. Ich stellte keine Fragen, und das mag
ihr die Rückkehr zum männlichen Geschlecht ermöglicht habe. sie enttäuscht haben. Sie trug im Ausschnitt ein nicht kleines ova146
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GAMMA / STUDIO X
der zwanziger Jahre nach Berlin geflüchtet und im Sommer 1939
nach Warschau geraten. Sie war, nun knapp über vierzig, eine originelle und effektvolle Person, die man für eine Bühnenfigur mitten im trüben Alltag halten konnte. Ihre Garderobe, ihre temperamentvolle Gestikulation, ihr stets etwas pathetischer Tonfall –
alles war theatralisch. Sie spielte unentwegt eine Rolle – und sie
spielte sie, obwohl sie bisweilen outrierte, gar nicht schlecht. Sie
hatte das dringende, das kaum verborgene Bedürfnis, möglichst
allen Menschen ihrer Umgebung zu imponieren. Jetzt wollte sie
vor allem mich beeindrucken. Und obwohl ich manches durchschaute, gelang ihr dies auf Anhieb.
les Schmuckstück, vielleicht aus Bernstein. Es
hing an einem Goldkettchen, das sie schon in
Warschau getragen hatte. Überraschend nahm
sie es ab und reichte es mir hinüber – mit einer
etwas theatralischen Geste. Ich sah sie fragend
an. Sie sagte bedeutungsvoll: „Schau dir die
Rückseite an.“ Zu meiner Überraschung sah
ich da auf einem goldenen Plättchen graviert:
besorgen. Nach einer knappen Stunde kehrten
sie zurück. Es war zu spät: Der von einem fröhlichen deutschen Soldaten geohrfeigt worden
war, hing an seinem Hosengürtel.
Die beiden Frauen schrien auf, die Tochter
war dann schneller als die Mutter: Sie rannte
aus dem Zimmer in die Küche, um ein Messer
zu holen. Doch ihre Kraft reichte nicht aus,
den Gürtel zu durchschneiden. Erst der Notarzt
schaffte es, der sonst nichts mehr tun konnte.
Da war ich schon in dieser Wohnung, von der
weinenden Tochter des Toten in ein anderes
Zimmer geführt. Jetzt saß ich neben ihr, neben
Teofila Langnas, die ihrem ein wenig prätentiös
klingenden Vornamen das schlichte Diminutiv
Tosia vorzog.
Plaisir d’amour ne dure qu’un moment,
Chagrin d’amour dure toute une vie.
Aber stimmt es denn, was diese poetische
Inschrift behauptet? Sollte die Freude, die die
Liebe bereitet, wirklich nur kurz und vergängTeofila Langnas (1940)
lich sein und der Kummer ein ganzes Leben
dauern? Oder ist es vielleicht gerade umge„W ER AM
kehrt? Ich schwieg, das Gespräch wollte nicht
mehr in Gang kommen. Wir verabschiedeten
o unvergleichbar unsere Situation – wir
MEISTEN LIEBT,
uns – ganz ohne Groll und, wie mir schien, mit
waren ihr beide nicht gewachsen, wir waIST DER
Dankbarkeit auf beiden Seiten. Ich ging, sie
ren beide überfordert. Sie wusste seit zehn
wollte noch in dem Café bleiben.
Minuten, dass sie keinen Vater mehr hatte. Sie
U NTERLEGENE
Als ich schon auf der Straße war, rief sie
weinte, sie konnte nichts sagen. Und ich, was
UND MUSS
mich zurück. Aber wir wechselten nur noch
sollte ich einem Mädchen sagen, das sich vor
wenige Worte. „Bleibst du in Warschau?“ –
zehn Minuten vergeblich bemüht hatte, ihren
LEIDEN – DIESE
„Ja.“ – „Und du glaubst wirklich, die Politik sei
Vater vom Gürtel loszuschneiden? Wir, beide
L EHRE HATTE
dein Beruf?“ – „Ja.“ – „Du machst einen Fehneunzehn Jahre alt, waren gleichermaßen ratler. Dein Platz ist in Deutschland und nicht in
los. Ich war mir der Dramatik des Augenblicks
SICH MIR FEST
Polen, dein Beruf ist die Literatur und nicht die
bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den
EINGEPRÄGT “
Politik.“ – „Die Literatur ist überhaupt kein
Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre
Beruf, sondern ein Fluch.“ – „Hör auf mit ZiTränen zu küssen. Sie nahm es, glaube ich,
taten. Ich bin nicht Lisaweta Iwanowna, und
kaum wahr.
du bist nicht Tonio Kröger. Ich rate dir noch einmal: Verlasse PoUm sie wenigstens für Augenblicke abzulenken, fragte ich, was
len …“. Ich habe diesen Ratschlag befolgt. Aber erst viel später, sie denn eigentlich in Lodz getan hatte. Sie antwortete stamerst zwölf Jahre nach diesem Gespräch.
melnd. Ich verstand, dass sie vor einem halben Jahr das Abitur gemacht hatte und in Paris Grafik und Kunstgeschichte studieren
hne Eile ging ich den Kurfürstendamm in Richtung Ha- sollte. Daraus war nun, des Kriegsausbruchs wegen, nichts gelensee. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich während worden. Ich meinte, ich müsste ihr jetzt etwas sagen.
Vor einigen Jahren, noch in Berlin, hatte mir der Film „Traudes ganzen Gesprächs mit Tatjana an Tosia gedacht hatte.
Und wieder kam mir, wie unzählige Male im Laufe der vergan- mulus“ gefallen, wohl deshalb vor allem, weil in der Verfilmung
genen Jahre, jener Tag in den Sinn, der mein Leben änderte, je- dieses kurz nach der Jahrhundertwende geschriebenen Stücks
ner 21. Januar 1940, der Tag, an dem der Herr Langnas aus Lodz von Arno Holz und Oskar Jerschke die Hauptrolle, den Lehrer,
der nicht ohne Grund „Traumulus“ genannt wird, Emil Jannings
seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Er war noch ein Kind, als seine Eltern starben. Ein Onkel sorg- spielte. An der Leiche seines Lieblingsschülers, der Selbstmord
te für seinen Lebensunterhalt, sonst blieb er sich selber überlas- verübt hat, erklärt dieser Lehrer – so ungefähr hatte ich es im Gesen. Ein Selfmademan also und kein alltäglicher: Obwohl still dächtnis behalten –, wir seien dazu da, das Leben nicht von uns
und zurückhaltend, obwohl von seinen Ellenbogen keinen Ge- zu werfen, sondern zu bezwingen. Eine schwülstige Phrase, gebrauch machend, war er geschäftstüchtig. Er wurde ein erfolgrei- wiss, aber sie schien mir noch erträglicher als die unheimliche Stilcher und wohlhabender Kaufmann, Mitinhaber einer florierenden le oder die übliche Redewendung: „Das Leben geht weiter.“
Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was mich selber
Textilfabrik. Dennoch war sein Selbstbewusstsein nicht stark ausüberraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden
geprägt – und vielleicht hing sein Tod damit zusammen.
Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde er enteignet. für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich fasste sie plötzlich an, ich
Das Betreten seiner Fabrik, die nun ein Treuhänder verwaltete, griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie
war ihm untersagt. Am nächsten Tag hat ihn auf der Piotrkowska, sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick schien dankbar. Ich wollder Hauptstraße von Lodz, ein deutscher Soldat geohrfeigt, ein te sie küssen, ich unterließ es.
Am nächsten Tag wurde Tosias Vater beerdigt. Noch wurden Jukräftiger junger Mann in bester Laune. Warum? Vielleicht hat er
von dem Juden Langnas den Hitlergruß erwartet. Aber vielleicht den beerdigt, noch – denn bald gab es für sie, wie es in Celans
kam es ihm gar nicht darauf an, nur hat er, weil er von seinem Vor- „Todesfuge“ heißt, nur „ein Grab in den Lüften“. Da man sich an
gesetzten geärgert worden war, das Bedürfnis gehabt, jemanden die Selbstmorde von Juden vorerst nicht gewöhnt hatte, waren viezu prügeln. Damit begann der psychische Zusammenbruch des le Menschen zum Friedhof gekommen, zumal der stille Herr
Herrn Langnas: Kaum nach Hause gekommen, sagte er, ihm blie- Langnas in seiner Heimatstadt nicht nur zu den angesehenen, sonbe jetzt nichts anderes übrig, als Selbstmord zu verüben – und dern auch zu den beliebten Kaufleuten gehört hatte.
Ich begleitete und stützte Tosia. Am offenen Grab stand ich nesprach davon in den nächsten Wochen immer häufiger.
Später, als Lodz Litzmannstadt genannt und dem „Reichsgau ben ihr. Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn
Wartheland“ angeschlossen wurde, flüchtete die Familie, ähnlich eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter
wie viele andere Juden aus Lodz, nach Warschau. Auch dort wa- des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas
ren bei Herrn Langnas Anzeichen einer tiefen Depression zu be- ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Geobachten, doch von Selbstmordabsichten sprach er nicht mehr. danken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich,
Man glaubte schon, er habe die Krise überwunden. Am 21. Janu- dass wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar
™
ar gingen seine Frau und seine Tochter in die Stadt, um etwas zu 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen.
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Kultur
ten eines weltweiten Jahrtausendwahns die
Ausnahme.
Doch so groß die Konkurrenz der KulturEvents sonst auch sein mag – viele Titel
klingen trotzdem nur nach geklonter Einfallslosigkeit: Das Centre Pompidou gibt
sich im Herbst 2000 den „Ansichten eines
Jahrhunderts“ hin, Karlsruhe präsentiert
schon ab Dezember 1999 „Jahrhundert-
AU S S T E L L U N G E N
Hoffnung und Endzeitangst
Zur Jahrtausendwende trumpft die weltweite
Kunstszene mit Mega-Events auf. Ist der Überdruss
beim Publikum programmiert?
KUNSTHAUS ZÜRICH
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ULLSTEIN BILDERDIENST
F
ast hätte die Performance im nieder- Anlass auf, der nach einem bombastischen
ländischen Utrecht als Kamikaze- Ausstellungstheater schreit. Umso dankaktion geendet – für die vier Tauben, barer wird die Jahrtausendwende als
denen der deutsche Tier- und Objektkünst- Mega-Ereignis beschworen, das wahlweise
ler Carsten Höller Videokameras um- mit bilanzierenden oder visionären Kunstschnallte. Mit dem Hightech-Rucksack soll- Events garniert werden muss.
ten die Tiere in alle Himmelsrichtungen losflattern
und dabei die historische
Stadt aus ihrer Vogelperspektive filmen. Eine originelle
Idee, hätte sie funktioniert.
Aber das schwere Gerät ließ
gleich den ersten Kameravogel rasant in die Tiefe sacken.
Ein Tier schaffte es schließlich, zumindest einen Rundflug oberhalb der Utrechter
Schornsteine zu absolvieren:
Die filmische Ausbeute ist bis
Anfang Oktober in der Ausstellung „Panorama 2000“ zu
bewundern – der Monitor
steht allerdings auf dem 112
Meter hohen Utrechter
Domturm. Nur von dort aus
ist auch der Rest der Schau
zu genießen: Die meisten
Werke – ob krakenartige
Kreaturen aus PVC-Röhren,
ganze Modellhäuser oder
überdimensionale Fotos – Gemälde der Bosch-Schule: Teuflischer Frohsinn
wurden auf nahen Dächern,
So wird zu Fin de Siècle und Fin de
Terrassen und an Hauswänden installiert.
Inszeniert wurde die Höhenschau, zugleich Millénaire weltweit geprotzt. In jeder Hineine witzige Bestandsaufnahme zeitgenös- sicht. Das New Yorker Whitney Museum
sischer Kunst, vom Centraal Museum in serviert in einer Überblickschau nicht nur
Utrecht. Doch bei allem Einfallsreichtum: 1200 Kunstwerke und Zeugnisse aus den
„Panorama 2000“ ist nur eines von vielen vergangenen Dekaden – es hat das 20. JahrSpektakeln, die dem neuen Jahrtausend hundert auch unbescheiden zum amerikanischen Jahrhundert verklärt. In „The
aufwarten.
Waren beim vergangenen Jahrtausend- American Century“ sollen Jazzmusik und
schritt zumindest die teufelsgläubigen Andy Warhol illustrieren, wie progressiv
Christen erleichtert, dass sich trotz pro- Amerika doch sein kann.
Im April eröffnete das Whitney den ersphezeiten Weltuntergangs nichts Sensationelles abspielte, fürchtet das späte 20. ten Teil des patriotischen Flohmarktes,
Jahrhundert höchstens, ohne höllisches Ende September folgt der zweite Akt.
Brimborium über die Kalenderschwelle Schon ab Oktober will aber auch das New
stolpern zu müssen. Bereits das wiederer- Yorker Museum of Modern Art 17 Monate
weckte Modewort Millennium – mit dem lang einen „provokativen Blick“ auf das
der Evangelienautor Johannes einst nur die Jahrhundert werfen – vorsichtshalber vor
1000 Jahre vor der erwarteten finalen Apo- allem auf Publikumsmagneten wie Matisse
kalypse taufte – soll nun eine wundersame oder Picasso.
Dass jemand wie Philippe de MontebelStrahlkraft entfalten: In den Londoner
Spaßtempel „Millennium Dome“ soll es lo, Chef des Metropolitan Museum of Art
in New York, „nicht daran denkt, sein Ausgar Millionen von Besuchern locken.
Allzu selten drängt sich vor allem in der stellungsprogramm von der Arithmetik des
sonst so bedächtigen Museumsszene ein Kalenders diktieren zu lassen“, ist in Zei-
Museumschef Schuster
„Das Publikum umhauen“
Millenniumkunst
Das XX. Jahrhundert, 4. Sept. 1999
bis 9. Jan. 2000: Altes Museum, Neue
Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof,
Kunstbibliothek, Kunstgewerbemuseum, Kupferstichkabinett
Global Art Rheinland 2000
Kunstwelten im Dialog, 5. Nov. 1999
bis 19. März 2000: Museum Ludwig
Kulturräume, 7. Nov. 1999 bis
30. Jan. 2000, und Wege der Welt,
22. Febr. bis 23. April 2000: Wilhelm
Lehmbruck Museum
Zeitwenden. Rückblick und Ausblick, 4. Dez. 1999 bis 4. Juni
2000: Kunstmuseum, Kunst- und
Ausstellungshalle
Das fünfte Element, 28. Jan. bis
14. Mai 2000: Kunsthalle
Ich ist etwas anderes, 19. Febr.
bis 12. Juni 2000: Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen
Expo 2000 (Auswahl)
In-Between Architecture, 1. Juni bis
31. Okt. 2000: Expo-Gelände
Fotografien des 20. Jahrhunderts,
15. Mai bis 6. Aug. 2000, und Aller
Anfang ist Merz, 20. Aug. bis 5. Nov.
2000: Sprengel Museum
The American Century II (1950 –
2000), 26. Sept. 1999 bis 13. Febr.
2000: Whitney Museum
MoMA 2000: Teil eins bis drei,
7. Okt. 1999 bis 13. Febr. 2001:
Museum of Modern Art
Regards d’un siècle, 6. Sept. bis
27. Nov. 2000: Centre Pompidou
Das Jahrhundert der Frau,
29. Sept. 1999 bis 2. Jan. 2000:
Kunstforum
wenden. Rückblicke in die Zukunft“, Bonn
kontert mit der Schau „Zeitwenden. Rückblick und Ausblick“ – die Teil des Projekts
„Global Art Rheinland 2000“ mit insgesamt
sechs Ausstellungen ist. Parallel dazu bereitet ganz Bayern 2000 Jahre Landesgeschichte auf. Und schließlich droht noch die
„Expo 2000“ in Hannover mit viel Kultur.
Ist der Millenniumüberdruss programmiert? Kaum, glaubt Fritz-Theo Mennicken
von der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen, Initiator der rheinischen Kunstoffensive. Das Bewusstsein für Kunst und Kultur,
hoffen er und wohl auch alle anderen Veranstalter, werde durch das Ausnahmedatum 2000 erst sensibilisiert.
Weil jetzt die Bundespolitiker nach Berlin gezogen seien, findet Mennicken, habe
außerdem gerade das Rheinland besondere Gründe, ab sofort kulturell aufzutrumpfen. Peter-Klaus Schuster, neuer Generaldirektor der Staatlichen Berliner Museen, ist sich dagegen sicher, dass zum neuen Jahrtausend gerade von der Hauptstadt
ein „bedeutender Auftritt“ erwartet wird.
Er will dem Verlangen ab September mit
seiner Schau „Das XX. Jahrhundert“ nachkommen: Die Ausstellung soll an sechs Stationen nicht weniger als alles präsentieren,
was ab 1900 an Kunst in Deutschland wahrgenommen wurde.
Schuster lässt nichts aus, weder Malerei,
Skulptur, Design, Literatur, Theater noch
gar die Musik. Ein Shuttle-Bus chauffiert
die Besucher außerdem zu ausgewählten
Bauwerken. In keinem Land, schwärmt der
eifrige Kurator, war die Geistesgeschichte
so aufregend wie in Deutschland. Er ist
überzeugt, mit seiner Jahrhundertshow
„das Publikum umhauen zu können“ angesichts dessen, „was die Deutschen in den
vergangenen hundert Jahren so mit der
Kunst gemacht haben“.
Für sein Großvorhaben muss er sich allerdings weitgehend mit Werken und Objekten begnügen, die ohnehin in den Berliner Museen oder bei seinem vorherigen
Arbeitgeber Bayerische Staatsgemäldesammlungen lagern – prominente Leihgaben zu ergattern sei wegen des weltweiten
Ausstellungsrummels nahezu aussichtslos.
Das Kunsthaus in Zürich versucht es
trotzdem. Das Museum, auch vom Millenniumwahn infiziert, wagt eine teuflische
Inszenierung – und holt sich Dämonisches
aus dem Umkreis des Höllenmalers Hieronymus Bosch oder von Dauerexzentriker
Salvador Dalí. Die Schau „Weltuntergang
und Prinzip Hoffnung“, die Ende August
startet, wurde von einem Buch über apokalyptische Visionen inspiriert.
Kurator Harald Szeemann schwelgt
schon jetzt in fröhlicher Endzeitstimmung:
Zwar werde sich wohl während der Dauer
der Ausstellung kein wirklicher Weltuntergang einstellen. Doch vergisst er nicht, darauf hinzuweisen, dass auch für das Ende
dieses Jahrtausends eine Apokalypse prophezeit wurde.
Ulrike Knöfel
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FOTOS: MFA
„Nachtgestalten“-Darsteller Susanne Bormann, Dominique Horwitz, Meriam Abbas: Lauter Verlierer mit Herz
FILM
Berlin ist dunkel,
nass und kalt
Außenseiter und Favorit bei
den deutschen Filmpreisen:
Endlich kommt Andreas Dresens
„Nachtgestalten“ in die Kinos.
W
as bekommt man für angewiderte Gesichter zu sehen, seit vielen Monaten schon, wenn man
Freunde auf einen neuen deutschen Film
neugierig zu machen versucht! Sogar der
Zahnarzt guckt ungläubig, und er hat ja
Recht. Welche sonst oft erfreuliche Schauspielerin oder welchen gemeinhin schätzenswerten Schauspieler hätte man nicht
lieber nicht gesehen, beim letzten Mal in
einem deutschen Film? In der Not denkt
man an Leute, von denen seit längerem
weit und breit nichts zu sehen war, an
Michael Gwisdek zum Beispiel, an Dominique Horwitz oder an Imogen Kogge.
Und nun kommt mitten im Sommer des
Trallala ein Film daher, in dem diese drei
(und andere) einem ans Herz wachsen. Ein
Film mit dem merkwürdigen Titel „Nachtgestalten“, in dem es dunkel, nass und kalt
ist. Der nicht im Traum daran denkt, sich
als neuer deutscher Film modisch mit einem englischen Titel zu schmücken, etwa
„Cool City Night“. Und der, schlimmer
noch, ein Berlin-Film ist, ohne davon zu reden, wie zupackend und toll Berlin jetzt
eben drauf und dran ist, noch viel toller zu
werden. Günstigstenfalls, da zwangsläufig
ein paar Absperrungen und Baugruben ins
Bild kommen, könnte „Nachtgestalten“
mit einem Gruß an den letzten ehrlichen
Berlin-Film auch heißen: Das Leben ist immer noch eine Baustelle.
Man lernt in dieser einen nasskalten
Berliner Nacht zum Beispiel einen genervten Angestellten kennen, der am Flughafen eine hochwichtige Dame aus Japan
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abholen soll, aber stattdessen rasch einen
zehnjährigen Scheinasylanten aus Angola
an der Hacke hat; oder ein Pennerpärchen
samt Hund, das wenigstens einmal in einem warmen Bett schlafen möchte; oder
eine dünne Süchtige vom Babystrich, die
einen Bauernburschen aus der Neuruppiner Ecke abzockt; oder eine weiche, weich
sächselnde Würstchenverkäuferin – lauter
Figuren, die auf den ersten Blick ein bisschen klischeehaft aussehen, doch auf den
zweiten, dritten, vierten Blick ein überraschendes und bewegendes Eigenleben
entwickeln. Lauter Verlierer.
„Nachtgestalten“ ist einer jener Filme,
die nicht vorwärts preschen, sondern sich
mit Geduld (nur selten ein wenig zu wortverliebt, zu pointiert) ausbreiten und verzweigen. Einer jener Filme also, die sich
nicht leicht damit tun, innerhalb eines gegebenen Rahmens eine Hand voll Einzelschicksale ineinander zu flechten und dabei ein in sich stimmiges Gleichgewicht zu
halten. Aha, Altman, sagt da natürlich jeder, denn Robert Altman, in der Tat, entfaltet in seinen Filmen, von „Nashville“
bis „Short Cuts“, diese Art von erzählerischem Patch-work mit Meisterschaft.
Andreas Dresen ist längst daran gewöhnt, dass jeder sagt: Aha, Altman. Doch
es gefällt ihm, wenn er hört: Es gibt zu seinen „Nachtgestalten“ ein sommersonnenhelles Gegenstück, ein ebenso anekdotischmelancholisches Geschichtengeflecht, das
vor 70 Jahren in Berlin gedreht wurde:
„Menschen am Sonntag“. Wer würde sich
darauf nicht gern berufen?
Andreas Dresen, 36, aufgewachsen in
Schwerin als Sohn einer Schauspielerin
und eines (früh in den Westen abgewanderten) Regisseurs, hat etwas von einem
ewigen Theaterkind und inszeniert „aus
Nostalgie“ gelegentlich in Cottbus. Er hat
auch etwas von einem bedächtigen, eigensinnigen Provinzler und hält deshalb, auf
vorsichtiger Distanz zum schönen neuen
Berlin, an seinem Wohnsitz Potsdam fest.
Und folglich hat er auch etwas von einem
ewigen, unkorrumpierbaren Ossi, der auf
dem Gefühlswert alter Utopien beharrt,
also zum Beispiel nicht zulassen möchte,
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dass die Identität stiftende Bedeutung des
Amateurfilmwesens in der DDR (auch für
seinen persönlichen Werdegang) im Allgemeinen großen Entwertungsprozess niedergewalzt wird, und der überhaupt die
handwerklich professionellen Qualitäten
seiner Ausbildung hochhält.
Als Dresen Mitte der achtziger Jahre an
die Babelsberger Filmhochschule kam, war
längst Perestroika angesagt und Lothar
Bisky als Rektor der tonangebende Freigeist. Der erste Spielfilm des Theaterkinds
Dresen kam dann 1992 in die Kinos (im
Westen nur in wenige); er hieß scheinheilig „Stilles Land“ und war auch so. Er erzählt, wie im Herbst 1989 im Stadttheater
Anklam, der Strafkolonie des DDR-Schauspielwesens, an „Warten auf Godot“ herumprobiert wird und dann, statt Godot,
die unglaubliche Nachricht von Massenprotesten und Mauerfall aus dem fernen
Berlin eintrifft – der Film kam, mit seinem
Scharfblick für die latente Komik der Wende, gleichermaßen zu früh und zu spät und
ist nun längst Historie.
In den Jahren seither hat Dresen ein
paar Fernsehsachen gemacht, fast jede irgendwo preisgekrönt, darunter wohl als
persönlichste den Film „Raus aus der
Haut“: Er handelt vom Echo, das die
Schleyer-Geiselnahme im Herbst 1977 in
einem DDR-Provinzstädtchen findet – sie
inspiriert, total unpolitisch, ein Gymnasiastenpärchen dazu, den verhassten Schuldirektor zu entführen.
Wenn es nach Dresen geht – ein Ossi
auch darin, dass er sich selber nicht als
Ossi wahrnimmt –, sollen ihn DDR-Themen nun nicht mehr bewegen. Er hält Kontakt zu Überlebenden eines verdrängten
Kapitels der deutschen West-Geschichte,
zu Ex-Terroristen, und überlegt, wie davon in einem Film zu erzählen wäre. Da
sagt er zum Beispiel: Wäre die Lorenz-Entführung nicht ein echter Komödienstoff?
Das würde sich wohl kein Wessi trauen.
Nun aber erst „Nachtgestalten“. Freunde, das ist ein deutscher Film, ohne Aber
und Wenn, nur sieht man darin keine Faxenmacher, sondern so was wie wirkliche
Menschen.
U RS J E N NY
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ich will noch sehr viel lernen“
Sir Simon Rattle, der britische Stardirigent und künftige Chef des Berliner
Philharmonischen Orchesters, über Virtuosität, Traditionsgeist und zeitgenössisches
Engagement bei Deutschlands renommiertestem Klangkörper
SPIEGEL: Sir Simon ...
Rattle: … bitte kein Sir! Simon ist okay.
SPIEGEL: Simon, sind Sie ein guter Tänzer?
Rattle: Ein grauenhafter. Meine Frau sagt
immer, mein Gefühl für Rhythmus ende
unterhalb des Knies.
SPIEGEL: Wie, Sie schwingen den Taktstock,
nicht aber das Tanzbein?
Rattle: Doch, aber wie! Beim letzten Philharmoniker-Ball in Wien stürzte Eliette von
Karajan auf mich zu: „Kommen Sie, bevor
mich der alte Kurt Waldheim auffordert.“
Kaum auf der Tanzfläche, nickte sie ver-
ständnisvoll: „Ich sehe schon, ich muss mal vorgestellt, und das Orchester hätte
führen.“ Und am Schluss tröstete sie mich: natürlich auch ein paar Minuten ohne mich
„Ach, Simon, Herbert war ein noch viel gespielt. Aber mehr als ein chaotischer
Beinsalat wäre meinerseits nicht dabei herschlechterer Tänzer als Sie.“
SPIEGEL: Im Finale der von Ihnen dirigier- ausgekommen.
ten Rameau-Oper „Les Boréades“ bei den SPIEGEL: Wenn Sie dirigieren, wirken Sie
diesjährigen Salzburger Festspielen hatten ungemein schmissig und schwungvoll, Sie
wir den Eindruck, Sie würden
jeden Moment auf die Bühne
Sir Simon Rattle
springen und sich in den Wirbel des Ensembles einreihen.
zählt heute zu den begehrtesten Dirigenten der Welt.
Der gebürtige Liverpooler und ausgebildete SchlagRattle: So etwas hatte sich der
zeuger wurde zum Shootingstar des internationalen
Regisseur tatsächlich auch
Klassikbetriebs, nachdem er 1980 die Leitung des
verlotterten City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen hatte und diesen Klangkörper
in 18-jähriger Arbeit zu einem Spitzenensemble
formte. Mit seinem weit gefächerten Repertoire von
Barockopern auf alten Instrumenten bis zu zeitgenössischen Experimenten in philharmonischem
Technosound findet Rattle, 44, auch bei jungen
Hörern spontane Zustimmung. Rattle hat, als Exklusivkünstler von EMI, schon über 60 CDs eingespielt, auch sie mit vielen Titeln jenseits des Standardkatalogs. Ende Juni dieses Jahres wählte das
Berliner Philharmonische Orchester den geadelten
Briten zu seinem künftigen Chefdirigenten.
ARENA
lächeln oft und lachen sogar. Ist der Job
nicht so schwer, wie Ihre manchmal griesgrämigen Kollegen auf dem Podium vermuten lassen?
Rattle: Doch, es ist ein schwerer und harter Job, aber er macht mir Freude.Wenn ich
lächle oder gar lache, dann, weil ich den
großen Spaß mitfühle, ja, koordiniere, den
die Musiker etwa bei einem Menuett von
Haydn oder bei dem grantigen Witz
Beethovens empfinden. Die meiste Musik
hat etwas ungeheuer Lustvolles, das verträgt doch keine Beerdigungsmiene.
SPIEGEL: Dirigenten sind innerhalb der Interpretenzunft die Musiker mit dem meisten Charisma. Wieso eigentlich?
Rattle: Vielleicht, weil man sie meist von
hinten sieht. Nein, im Ernst: Dieses sogenannte Charisma ist entweder ein Bluff
oder eine Schimäre. Eine Sängerin wie Cecilia Bartoli hat doch mehr Ausstrahlung als
wir Dirigenten alle zusammen. Wenn es
eine besondere Wechselwirkung zwischen
Dirigent und Publikum tatsächlich geben
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Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Klaus Umbach.
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
sollte, dann ist es, pathetisch gesagt, eine
Liebesbeziehung, die der Dirigent zwischen der Musik und den Hörern aufbaut.
Deshalb sind auch diejenigen Dirigenten
die größten und bedeutendsten, die die
meiste Liebe zur Musik und zu ihren Musikern verspüren und vermitteln.
SPIEGEL: Wie wir beobachten konnten, küssen Ihnen die Damen doch geradezu die
Füße. Ist Sexappeal bei einer Dirigentenkarriere nicht sehr hilfreich?
Rattle: Stopp! No sex, please – we’re British! (lacht)
SPIEGEL: Wir sind jedenfalls überzeugt
davon, dass die spontane und quirlige Art
Ihrer Auftritte Ihnen in Berlin, Ihrem künftigen philharmonischen Wirkungsort, sehr
geholfen hat. Dort war das Publikum
jedenfalls schlichtweg hingerissen von
Ihnen.
Rattle: Ja, das war wirklich toll. So eine
Wärme, so ein Echo und Enthusiasmus –
einfach überwältigend und für mich völlig
überraschend, auch wenn die elektrisierende Spannung schon während des Konzerts spürbar wurde.
SPIEGEL: Haben Sie erst die Berliner und
danach die Philharmoniker erobert?
Rattle: Ich glaube, die Sache liegt anders:
Die außerordentliche Aufbruchstimmung
in dieser Metropole überträgt sich auch auf
die Philharmoniker und deren Publikum.
Berlin ist eine Stadt für helle Köpfe und
offene Sinne. Das spürt man auf dem
Podium genauso wie auf der Straße.
SPIEGEL: Die englische Zeitung „Daily
Mail“ hat sich sehr gewundert, dass mit Ihnen ein britischer Dirigent an die Spitze
des besten deutschen Orchesters berufen
wurde; das sei so, „als ob ein Protestant
Papst würde“.
Rattle: Ach, die alte „Daily Mail“ führt
doch immer noch den Ersten Weltkrieg.
Das muss man nicht ernst nehmen.
SPIEGEL: Den deutschen Blättern und ihren
Kommentatoren dagegen war Ihre Nationalität weitgehend gleichgültig.
Rattle: Deutschland ist einfach schon lange ein Teil Europas, England immer noch
eine Insel. Und die Engländer müssen erst
noch ein Gespür dafür bekommen, dass
Musik eine internationale Sprache ist, mit
Musikern als inter-, ja supranationalen Vermittlern.
SPIEGEL: Was fasziniert Sie als künftigen
Chefdirigenten beim Berliner Philharmonischen Orchester am meisten – dessen
Tradition, dessen Virtuosität oder dessen
großzügige Existenzsicherung durch die
öffentliche Hand?
Rattle: Die ersten beiden Faktoren. Mit
Furtwängler, Karajan und Abbado als Kapitän wirkt dieses Orchester wie ein riesiger Dampfer, der in der stürmischen See
der jüngeren Musikgeschichte viel geleistet hat. Aber so ein Dampfer – nur so
macht er Sinn – muss sich auch weiter bewegen, zum nächsten Hafen.
SPIEGEL: Ist so ein dicker Pott nicht manchmal unbeweglich und träge?
Rattle: Kein Orchester der Welt vereinigt so
viele ausgeprägte und fähige Individualisten wie die Berliner. Wenn ich etwas kritisiere, dann dies: Ich glaube, dass die Philharmoniker in den letzten Jahren das im
klassischen Sinne klassische Repertoire
vernachlässigt haben. Es würde mich wundern, wenn in der nächsten Saison überhaupt eine Sinfonie von Haydn oder Mozart auf dem Programm stünde. Aber, noch
mal: Die können alles.
SPIEGEL: In England, haben Sie kürzlich gewettert, seien „alle Orchester technisch
bankrott, wursteln sich aber irgendwie
durch“. In Berlin wird weniger gewurstelt
als geklotzt.
Rattle: Ich glaube, Berlin gibt für die Kultur mehr Geld aus als das gesamte Vereinigte Königreich. Das sagt doch alles.
SPIEGEL: Hat es Sie beeindruckt, auf welch
demokratische Weise die Philharmoniker
Sie als Chefdirigenten gewählt haben?
Rattle: Bei Karajan war das seinerzeit noch
nicht so; der wurde von sich aus mit dem
Senat handelseinig. Bei der Wahl Abbados
als Karajan-Nachfolger waren die Musiker
mit ihren Rechten und deren Prozedur noch
nicht so vertraut. Diesmal war es wirklich
ein orchester-demokratischer Vorgang.
ACTION PRESS
Rameau-Oper „Les Boréades“ in Salzburg: „O Gott, diese Scheuklappen“
SPIEGEL: Mit sehr leidenschaftlichem Wahlkampf und mit geheimer Abstimmung.
Rattle: Mich hat besonders fasziniert, wie
ernst die Musiker ihre Entscheidung genommen haben. Über Wochen ging es
überhaupt nicht um Namen, sondern nur
um Ziele und Programme: Was wollen wir,
wohin wollen wir? Kann der deutsche Musiker-Typ, den es ja unbestritten gibt, bei
uns überleben? Was wird aus der Tradition
des vollen, satten Klanges und des weiten
philharmonischen Atems?
SPIEGEL: Und was wird unter Rattle daraus?
Rattle: Ich will und muss von diesem Orchester vor allem noch sehr viel lernen.
SPIEGEL: Der angesehene deutsche Feuilletonist Joachim Kaiser hat in der „Süddeutschen Zeitung“ gemäkelt, es scheine ihm
„anfechtbar, den fabelhaften Rattle ausgerechnet mit den Berliner Philharmonikern
zu verheiraten“. Also eine Mesalliance?
Rattle: Ach, diese Musikkritiker! Was Mister Kaiser schreibt, ist insoweit völlig falsch,
als er das für die Schallplatte produzierte
mit dem live aufgeführten Repertoire einfach in einen Topf wirft und dann abschmeckt. Vielleicht sollte er besser noch
abwarten. Die Berliner und ich sind ja noch
nicht mal in den Flitterwochen.
SPIEGEL: In Deutschland erwartet Sie eine
Klassik-Szene, auf der strenger und dümmer als irgendwo sonst auf der Welt zwischen E- und U-Musik unterschieden wird.
E ist die heilige Kuh, U das schwarze Schaf.
Gibt das Ärger für Sie?
Rattle: Es ist eine wahrhaft hirnrissige Trennung. Ganz typisch erscheint mir die Bemerkung einer älteren deutschen Dame
nach den „Boréades“ in Salzburg. Ihr erster Satz: „Nein, war das alles phantastisch,
allein die Kostüme!“ Zweiter Satz: „Aber
mir schien es manchmal auch etwas
kitschig.“ O Gott, diese Klischees und diese Scheuklappen! Ich ahne, dass da noch
viele Schranken, viele Schlagbäume der
Geschmacksverteilung niedergerissen werden müssen, auch von mir. Aber das mache
ich aus Leidenschaft.
SPIEGEL: Und mit Erfolg. Sie haben gerade
bei EMI eine Neuaufnahme von Leonard
Bernsteins „Wonderful Town“ vorgelegt.
Für viele Deutsche ist Bernstein ein begabter Dirigent gewesen, der zufälligerweise bei der „West Side Story“ ein glückliches Komponisten-Händchen hatte.
Rattle: Wir wissen alle, dass es eine Menge Bernsteins gibt. Aber da, wo seine Musik wirklich die amerikanische Kultur und
Lebensart einfängt, ist sie zeit- und konkurrenzlos. Ein Beispiel, wie ich mir – auch
ULLSTEIN BILDERDIENST
Berliner Philharmonisches Orchester: „So ein Dampfer muss sich bewegen“
FOTOS: DPA
demnächst in Berlin – moderne Orches- Rattle: Nein, verdammt noch mal: nein!
terarbeit vorstelle: Wir haben vor Jahren in Mit acht habe ich sie total ignoriert. Der
Birmingham am Abend den letzten Teil erste große Irrtum meines Lebens.
der „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen SPIEGEL: In einem Interview mit der BBC
aufgeführt und am nächsten Morgen mit sollen Sie gesagt haben, Sie hielten eine
den Proben zu Bernsteins „West Side acht- oder neunjährige Vertragsdauer mit
Story“ begonnen. Beide Stücke sind Meis- Berlin für angemessen, etwa wie die Amtsterwerke großer Komponisten.
zeit eines Premierministers.
SPIEGEL: Werden Berlins Philharmoniker Rattle: Alles Unfug. Ich habe bislang
solche Wechselbäder schlucken?
nicht mal eine Vorstellung, wie viel WoRattle: Bestimmt. Das ist ja eben kein Hau- chen ich in Berlin sein und wie viel Konfen von Gralshütern. Übrigens, als ich Ka- zerte ich dort dirigieren werde. Ich habe
rajan zum ersten Mal traf, haben wir viel sogar keine Ahnung, ob ich da Geld
über derlei Themen gesprochen, und er kriege.
sagte zu mir: „Simon, wäre ich
so jung wie Sie, würde ich dasselbe machen. Sie müssen genau das machen, was Sie für
richtig halten.“
SPIEGEL: In den nächsten Wochen werden Sie mit Ihren alten
Birminghamer Musikern und
etlichen Jazz-Virtuosen eine
neue CD mit Titeln von Duke
Ellington aufnehmen. Trauen
Sie derlei auch den Philharmonikern zu?
Rattle: Warum nicht? Das hoffe Dirigenten Abbado, Karajan (1986)
ich. Aber ich muss den Berlinern auch ein wenig Zeit lassen, bis sie SPIEGEL: Davon dürfen Sie ausgehen. Was
swingen können. Ich will in Berlin aber passierte denn eigentlich, nachdem die
baldmöglichst „Asyla“ von Thomas Adès Berliner Sie gewählt hatten?
aufführen, eine Art philharmonischer Tech- Rattle: Ich wurde in Oxford angerufen, und
nomusik. Übrigens bin ich in einem El- auch Claudio Abbado hat mir gratuliert.
ternhaus aufgewachsen, wo Jazz groß ge- Gleich am nächsten Morgen bin ich mit
schrieben wurde. Für mich ist Jazz kein meinen Kindern zur Safari nach Afrika geSubstantiv, sondern ein Verb. Jazz bedeu- flogen. Ich fange erst in drei Jahren an. Da
tet das, was man aus und mit der Musik kann ich doch jetzt noch nicht vom Ende
macht.
reden. Bis 2002 will ich in Berlin vor allem
SPIEGEL: Haben Sie in Ihrer Geburtsstadt aufmerksam zuhören.
Liverpool eigentlich auch was von den SPIEGEL: In Birmingham haben Sie sage und
Beatles mitgekriegt?
schreibe 18 Jahre durchgehalten.
Rattle: Es ist verrückt – nein! Dabei wohn- Rattle: Ja. Bislang war der Berliner Job ja
ten wir im gleichen Viertel.
sozusagen eine Lebensstellung, bis Claudio
Abbado einfach eines Morgens gesagt hat:
SPIEGEL: Sie haben sie nie live gehört?
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Okay, das reicht, das war’s. Warten wir ab.
Ich kann, was Treue und Anhänglichkeit
angeht, ein wahrer Dickhäuter sein.
SPIEGEL: Dennoch geistert Ihr Name jetzt
schon wieder bei der Kandidatenkür um
die Nachfolge des Salzburger Festspielleiters Gerard Mortier durchs Alpenland.
Rattle: Gehört habe ich auch davon, stimmen tut es nicht. Mit mir hat jedenfalls
kein offizieller Vermittler darüber geredet.
SPIEGEL: Als künftiger Chef der Berliner
Philharmoniker sind Sie automatisch
auch künstlerischer Leiter der Salzburger
Osterfestspiele.
Rattle: So sieht es aus.
SPIEGEL: Schon Pläne und Vorstellungen?
Rattle: Lieber Himmel, ich
habe ja meinen neuen Job
noch nicht einmal angetreten.
Ein bisschen wird man wohl
nachdenken dürfen.
SPIEGEL: Wenn Sie ihn angetreten haben, werden Sie viel
Zeit in Deutschland verbringen und gewiss ein Leuchtturm auf der deutschen Musikszene werden. Wird Ihr
Name möglicherweise auch
mal auf dem Grünen Hügel erstrahlen, als
Bayreuther Wagner-Dirigent?
Rattle: Warum denn nicht?
SPIEGEL: Ihre künftige Position in der neuen deutschen Hauptstadt lässt Sie womöglich zu einer Art Kapellmeister der ganzen
Nation erstarken. Eine kuriose Vision?
Rattle: Zumindest eine interessante Frage.
Aber ich denke, wir wollen, bei allem Respekt vor der Tradition, vor allem ein durch
und durch europäisches Orchester werden.
SPIEGEL: Dann würden Sie ja sogar der Kapellmeister Europas.
Rattle: Ja, aber einer, der nicht tanzen kann.
SPIEGEL: Simon, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Reise zum
Orugasumusu
Die Deutschen vernachlässigen
gern ihre Sprache, zu Gunsten des
Englischen. Doch die Welt
liebt deutsche Lehnwörter, wie eine
Münchner Linguistin zeigt.
D
ie traurige Anekdote handelt von
Superman und Bakfis und einem
Pudel, der beim Sitz-bath ertrunken
ist. Erfunden und aufgeschrieben hat sie die
Münchner Germanistin Andrea Stiberc, 41.
Ironisches Fazit ihrer ungewöhnlichen Suche nach deutschen Wortspuren in aller
Welt: Eigentlich sei es überflüssig, Fremdsprachen zu lernen – denn „im Grunde
kommt man mit ein paar Brocken Deutsch
überall durch“. Um die These zu illustrieren, bastelt sie schon mal kleine Geschichten aus exotischen Vokabeln, die sie in Idiomen entfernter Regionen aufgespürt hat.
Stiberc untersuchte hunderte von linguistischen Quellen, sammelte Archivmaterial, informierte sich bei Muttersprachlern und Fremdwortspezialisten. Düsteren
Prophezeiungen über das Ende der deutschen Sprache angesichts von Rechtschreibreform, Internet-Welsch und angelsächsischer Überfremdung setzt die Forscherin
eine Recherche entgegen, die von Usbekistan bis nach Papua-Neuguinea germanische Spuren jenseits der Erfolgsnummern
Sauerkraut und Kindergarten sichert.
So ruft der Tierpfleger im Zoo von
Taschkent seine Schützlinge zur futerovka,
was auch deutschstämmige Käfigbewohner unschwer als Einladung zur Nahrungsaufnahme (Fütterung) verstehen. Das
etymologische Erbgut, das evangelische
Missionare aus Neuendettelsau im ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Land oder auf dem
Bismarckarchipel von Papua-Neuguinea
hinterlassen haben, gibt Aufschluss über
das Auftreten der Kolonialherren: Bis heute halten sich die Begriffe singen und strafe; balaistip und giripel (Bleistift und Griffel) sind bei der Befreiung vom Kolonialjoch leider ebenso verloren gegangen wie
donaveta, rintfi und saise (Donnerwetter,
Rindvieh und Scheiße).
Zuweilen verraten die Wort-Vagabunden, welche Erinnerungen das Ausland mit
germanischen Eindringlingen verbindet. Im
ehemaligen Deutsch-Südwestafrika halten
sich hartnäckig die Wörter Bett, Schubkarre und Hühnerauge. Allerdings verzaubert der Otyi-Herero-Dialekt die prosaischen Überreste der Besatzer durch originelle Vorsilben in blumige Exoten: Der
Afrikaner geht ins ombete, schiebt die
okatjipikara und pflegt sein okahinauke.
158
d e r
Erste Hinweise darauf, dass sich hinter
so manchem Kauderwelsch ein verschollen
geglaubter Lehnwortschatz verbirgt, fand
Autorin Stiberc, deren ebenso amüsante
wie informative Deutsch-Suche als Buch
erschienen ist, bei Tante Ibolya*. Die in
Ungarn geborene Verwandte der Philologin radebrechte sich zeitlebens durch ihre
österreichische Wahlheimat. Erst die linguistischen Ermittlungen der Nachfahrin
erwiesen, dass Ibolyas Gulasch vom sparhert keineswegs eine besonders knauserige Portion andeuten sollte, sondern dass
sparhert noch in einem 1959 erschienenen
ungarischen Wörterbuch als gebräuchliche
Entsprechung für Küchenherd galt.
Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ
die deutsche Sprache erwartungsgemäß im
Militärvokabular. Wahrhaft international
hat sich der Blitzkrieg eingeprägt, schwedisch: blixtkrig, russisch: blickrig und ansonsten schlicht: blitz. Seit die Türken im
Ersten Weltkrieg mit den Deutschen verbündet waren, fährt der feldmar≠al im akut
(Notfall) mit dem panzer und schießt mit
seiner filinta (Flinte). Der Russe verlässt
sich an der Front zwar nur noch ungern auf
die gaubica (Haubitze); aber der fligeladjudant hat sich zum Glück behauptet.
M. FENGEL
S P R AC H E
Sprachforscherin Stiberc
Schubkarre und Hühnerauge in Afrika
Die eingangs erwähnte Story, die superman, bakfis und pudel im sitz-bath vereint, komponierte Sprach-Detektivin Stiberc mit Hilfe englischer, ungarischer, russischer und slowakischer Vokabeln, die ihre
Herkunft unschwer erkennen lassen. Die
Weltreise durch Geschichte und Beziehungen der Völker und Sprachen zeigt, wie
belebend der Wortschatz der Dichter und
Henker auf andere Kulturen zu wirken vermag. Das hätte Mark Twain nicht gedacht.
* Andrea Stiberc: „Sauerkraut,Weltschmerz, Kindergarten
und Co.“. Herder Verlag, Freiburg; 192 Seiten; 17,80 Mark.
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Der wünschte „der schrecklichen
deutschen Sprache“, sie möge „zu den
toten Sprachen gestellt werden, denn
nur die Toten haben genügend Zeit, um
sie zu lernen“. Dabei wirkt deutsches
Wortgut überaus possierlich, wenn es
sich beispielsweise ins Japanische einnistet.
Hier und da ein u, schon wird die Chose ganz romantisshu (romantisch). Gegen
hisuteri (Hysterie) hilft bamukuhen
(Baumkuchen) oder ein wina-shunittseru
(na?). Und nimmt der Mann seine inpotentsu mit humoru, dann kommt es vielleicht doch noch – yoderu! – zum schönsten orugasumusu.
Bettina Musall
Bestseller
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Belletristik
Sachbücher
1 (1) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
1 (1) Sigrid Damm Christiane und
Goethe Insel; 49,80 Mark
2 (2) John Irving Witwe für ein Jahr
2 (2) Waris Dirie Wüstenblume
Diogenes; 49,90 Mark
Schneekluth; 39,80 Mark
3 (3) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
3 (3) Corinne Hofmann Die weiße
Massai A1; 39,80 Mark
4 (4) Henning Mankell Die fünfte Frau
4 (5) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
Zsolnay; 39,80 Mark
5 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
5 (4) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
6 (5) Walter Moers Die 131/2 Leben
des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
6 (6) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
7 (7) John Grisham Der Verrat
7 (7) Dale Carnegie Sorge dich
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
8 (8) Marianne Fredriksson Simon
9 (9) Maeve Binchy Ein Haus in Irland
8 (9) Daniel Goeudevert
Mit Träumen
beginnt die Realität
Droemer; 39,90 Mark
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
W. Krüger; 39,80 Mark
Der Manager, der
aus der Vorstandskälte
kam, fordert
Visionen statt Bilanzen
10 (12) Paulo Coelho Der Alchimist
Diogenes; 32 Mark
11 (13) John le Carré
Single & Single
9 (10) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
Kiepenheuer & Witsch;
45 Mark
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
10 (8) Jon Krakauer In eisige Höhen
Der Schriftsteller, der
aus dem diplomatischen
Dienst kam, legt
einen neuen Thriller vor
Malik; 39,80 Mark
11 (11) Jon Krakauer Auf den Gipfeln
der Welt Malik; 39,80 Mark
12 (11) P. D. James Was gut und
böse ist Droemer; 39,90 Mark
12 (12) Gary Kinder Das Goldschiff
13 (10) Minette Walters Wellenbrecher
Goldmann; 44,90 Mark
14 (15) Tom Clancy Operation Rainbow
Heyne; 49,80 Mark
15 (14) Terry Brooks Star Wars –
Episode 1: Die dunkle Bedrohung
Blanvalet; 29,90 Mark
Malik; 39,80 Mark
13 (13) Peter Kelder Die Fünf
„Tibeter“ Integral; 22 Mark
14 (14) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
15 (15) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch
Berlin; 39,80 Mark
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Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
Prisma
Länger als nötig?
AT O M K R A F T
Geforderte Kernkraftwerks-Laufzeiten ...
Lebensdauer
begrenzt
MÜLLER-PLAN:
ATOMWIRTSCHAFT:
B’90 /DIE GRÜNEN:
35 Jahre
42 Jahre
25 Jahre
(rund 35 Volllastjahre
inkl. Unterbrechungen)
. . . und Laufzeiten der in den vergangenen fünf
Jahren stillgelegten kommerziellen Anlagen
D
ie im Ausstiegspoker zwischen Bundesregierung und Stromwirtschaft
derzeit verhandelten Laufzeiten kommerzieller Atomkraftwerke werden in
der Realität praktisch nie erreicht. Das
ergibt sich aus den soeben fertig gestellten Statistiken („Nuclear Power Reactors in the World“, Ausgabe 1999) der Internationalen Atomenergieagentur IAEA
in Wien. 24 große Meiler, die in der vergangenen Dekade in den westlichen Industriestaaten vom Netz genommen
wurden, kamen danach auf Betriebszeiten zwischen 12 und 28 Jahren. Seit Beginn der Kernenergienutzung wurden
weltweit 87 kommerzielle Reaktoren eingemottet. Ihr Durchschnittsalter zum
Zeitpunkt der jeweiligen Stilllegung:
rund 18 Jahre. Der Methusalem unter
den Leichtwasserreaktoren, zu denen
auch alle 19 deutschen Meiler zählen, ist
derzeit das knapp 31 Jahre alte Kraftwerk Obrigheim am Neckar. Den Siedewasserreaktor Würgassen an der Weser
hingegen schaltete sein Betreiber PreussenElektra 1995 ab – nur 23 Jahre nach
der Inbetriebnahme. Auslöser des vorzeitigen Endes waren schwere Materialfehler im Innern des Reaktordruck-
Leistung
DPA
Land Name
Abriss am AKW Würgassen (1996)
behälters, deren Behebung rund 400 Millionen Mark verschlungen hätte. Überall
auf der Welt, so die Beobachtung von
Fachleuten, gehen die Meiler zwischen
dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr in die Knie. Dann rechnen die
Betriebswirte aus, ob sich eine Nachrüstung noch lohnt. Das wird wohl immer
seltener der Fall sein, weil Strom in den
meisten westlichen Industriestaaten zunehmend unter harten Wettbewerbsbedingungen erzeugt wird. Die IAEA-Statistiken bestätigen diese Tendenz vor allem für die USA und Kanada, die zu den
Pionierländern der kommerziellen Kernkraftnutzung gehören. In den USA hat-
abge-
Laufzeit
1998
1997
1997
1997
1997
1998
1998
1997
1995
1994
1998
1997
1998
1995
1996
28
(MW netto) schaltet
Millstone 1
Pickering 1
Pickering 2
Pickering 3
Maine Yankee
Zion 1
Zion 2
Pickering 4
Würgassen
Bugey 1
Bruce 3
Bruce 1
Bruce 4
Bruce 2
Haddam Neck
641
515
515
515
860
1040
1040
515
640
540
848
848
848
848
560
26
25
24
23
22
21
20
19
Quelle: IAEA
ten Ende 1996 noch 110 Meiler atomar erzeugten Strom geliefert, zwei Jahre später waren es lediglich 104. Noch tiefer ist
der Einschnitt in Kanada, wo die Zahl
der Kernreaktoren innerhalb von zwei
Jahren von 21 auf 14 abstürzte.
MEDIZIN
U M W E LT
Leuchtende Fratze
Wespen gegen Kornkäfer
E
MASSACHUSETTS MEDICAL SOCIETY
ine „tolle Überraschung“ erlebten zwei Mediziner am Wormser Kinderkrankenhaus bei der Untersuchung eines Zehnjährigen. Der Patient klagte über „diffuse Bauchschmerzen“, ehe er verschämt eingestand, einen
„nicht näher definierten Gegenstand“ verschluckt zu haben. Da dieser
Fremdkörper zu inneren Verletzungen hätte führen können,
führten die Klinikärzte Tobias
Wenzl und Heino Skopnik eine
Gastroskopie durch. Durch die
in den Magen eingeführte Optik
„starrte mich plötzlich“, so
Skopnik, „die Fratze einer Comicfigur an“. Den herausgeangelten Fremdkörper identifizierten die Mediziner als Spielzeugtaschenlampe, die den Aufenthalt im Säureumfeld des Magens
unbeschadet überstanden hatte.
Skopnik: „Sie ließ sich noch anknipsen.“ Der Patient wurde als
geheilt entlassen.
Spielzeugtaschenlampe im Magen
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Z
oologen der Freien Universität Berlin arbeiten an der Entwicklung eines ökologisch
unbedenklichen Schutzes von Getreidevorräten
vor dem Kornkäfer. Bislang gehen Landwirte
mit giftigen, meist brom- oder phosphorhaltigen
Sprühmitteln gegen den seit biblischen Zeiten
gefürchteten Schädling vor. Die Berliner Forscher glauben nun, dass eine nur millimetergroße Wespe, die ihre Eier in die Larven des
Kornkäfers legt und diese dadurch abtötet, das
Problem biologisch lösen könnte. Solche Erzwespen (Lariophagus distiguendes) waren, wie
Projektleiter Johannes Steidle mitteilt, mit
ihrem Spürsinn in der Lage, in einem Versuchssilo 200 befallene Körner aufzuspüren und ihre
Eier darin abzulegen. Dabei war diese Aufgabe
weit schwieriger als die buchstäbliche Suche
nach der Nadel im Heuhaufen. Die Erzwespen
mussten sich, um die 200 befallenen Körner
zielsicher zu finden, durch 600 Millionen Körner wühlen.
161
Computer
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
Prisma
MIKROCHIPS
„Chance für Europa“
Tremblay: Bei „Majc“ unterscheidet der
R. HOUSER
Der Computerhersteller Sun Microsystems präsentiert nächste Woche einen
völlig neuen Mikroprozessortyp. Mit
„Majc“ (sprich „Magic“) will Sun-Entwickler Marc Tremblay, 37, die Vorherrschaft von Microsoft und Intel angreifen.
Tremblay
SPIEGEL: Warum entwickelt Sun einen
neuen Prozessor? Haben die herkömmlichen PC nicht genug Reserven?
Tremblay: Das nächste Jahrzehnt wird
das Jahrzehnt der Multimedia-Angebote.Wir glauben, dass für Video, Audio, digitale Kommunikation und 3D-Grafiken
eine völlig neue Generation von Mikroprozessoren notwendig ist. Sie muss sehr
viel schneller sein, dabei aber erschwinglich bleiben.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das erreichen?
Prozessor nicht mehr zwischen traditionellen Daten – wie zum Beispiel Texten
– sowie Musik- oder Grafikdaten. Außerdem mussten wir bei der Entwicklung
nicht darauf achten, dass das System
kompatibel zu Vorgängern ist, was stets
viel Leistung verbraucht.
SPIEGEL: Bringt Sun demnächst eine
Spielekonsole mit „Majc“-Chip heraus?
Tremblay: Nicht Sun selbst, aber warum
nicht andere Hersteller? Als Erstes produzieren wir einen Computerchip mit
mehreren Prozessoren darauf, die sich
die Arbeit teilen. Zu Hause erledigt der
Chip zum Beispiel Spracherkennung,
spricht, entschlüsselt Videodaten und
zeigt Videokonferenz-Kanäle.
SPIEGEL: Wollen Sie Intel und Co angreifen?
Tremblay: „Majc“ ist eine Chance für Europa. Die Entwicklung ist unabhängig
von der amerikanischen Microsoft-IntelVorherrschaft. Es ermöglicht neue Geräte und vor allem neue SoftwareAnwendungen, bei denen Europa sehr
viel stärker ist als die USA.
SPIEGEL: Sie haben sich schon einmal an
einem Projekt versucht, bei dem ein Prozessor Java-Befehle versteht. Doch „Picojava“ gilt als gescheitert.
Tremblay: Mit der neuen Entwicklung
verfolgen wir einen pragmatischeren Ansatz. Auf „Majc“ laufen neben Programmen, die in Java programmiert sind, auch
Anwendungen, die in der verbreiteten
Programmiersprache „C“ oder „C++“
geschrieben wurden. Die Programmierer müssen sich also nicht umstellen.
„Mozart’s
Music Box“
U N T E R H A LT U N G S E L E K T R O N I K
Komprimierte Lieder
vom CD-Player
M
P3, die bekannte KomprimierungsTechnik für Musik aus dem Internet, hat einen entscheidenden Haken:
Wer MP3-Aufzeichnungen hören will,
braucht bislang stets einen PC. Jetzt
bieten verschiedene Hersteller Geräte
an, die ohne PC normale Audio-CDs
ebenso abspielen können wie CDs mit
MP3-Musikdaten. In „Mozart’s Music
Box“ (449 Mark), vertrieben etwa von
der Harrisleer Firma „ComLine“, steckt
ein Rechner, der die Funktion des PC
übernimmt. Das Gerät wird wie ein
normaler CD-Player an die Stereoanlage angeschlossen. Für entsprechende
MP3-CDs sorgt die Hamburger Agentur
„cnt medien“. Ende des Monats erscheint das „Paradoxon Electronic
Dance Archive“, acht Audio-CDs wurden auf eine einzige MP3-CD komprimiert. Noch weiter geht die amerikanische Firma Request. Ihr MP3-Player
„Audiorequest“ (ab Herbst für 799
Dollar) wandelt automatisch Musik von
Audio-CDs in MP3-Daten und speichert
so bis zu 150 Stunden Lieder.
LEBENSHILFE
Online-Zentrale für
Rollstuhlfahrer
ie Recherche in eigener Sache scheitert mitunter schon am hürdenreichen Weg zum Buchhändler. Ohne physikalische Hindernisse hingegen finden
Querschnittsgelähmte jetzt Informationen im Internet. Ende dieser Woche
eröffnet der Hamburger Verein „startrampe.net e.V.“ das „erste umfassende
deutschsprachige Online-Angebot“ für
Rollstuhlfahrer. Neben Diskussionsforen
und „Chats“ wollen die Betreiber ein
laufend aktualisiertes redaktionelles An162
J. RILEY / TONY STONE
D
Rollstuhlfahrerin am Computer
d e r
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gebot ins Netz stellen. Geplant sind unter anderem medizinische Informationen, die Veröffentlichung von spezifischen Gesetzestexten und eine Expertenvermittlung. Das Projekt wird vom
CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble,
dem ARD-Moderator Ulrich Wickert und
der evangelischen Bischöfin Maria Jepsen unterstützt. Damit auch Spastiker
von den Diensten profitieren können,
fallen die Navigationselemente auf den
Webseiten besonders großzügig aus.
„Wir haben die technischen Möglichkeiten des Internet so weit wie möglich
ausgenutzt“, sagt Miriam Wiese von
der projektverantwortlichen Hamburger Agentur
www.startrampe.net
„GiveMe5“.
Werbeseite
Werbeseite
Titel
„Ich sehe Richtung Paradies“
MEIGNEUX / SIPA PRESS
W
enn das Licht ausgeht und Startenor Luciano Pavarotti trällernd
aus der Kulisse steigt, ist meist
große Oper angesagt. Diesmal geht es um
mehr: Die Sonne selbst wird sich verdunkeln und der Sangesmann – was sonst? –
„O sole mio“ anstimmen.
Gleich gegenüber vom Parlamentspalast
in Bukarest, erbaut vom letzten kommunistischen Fürsten der Finsternis, Nicolae
Ceau≠escu, wurde eine Freilichtbühne aufgebaut. Pavarotti als Lichtgott, der Mond
als düster heranrollender Beelzebub –
100 000 Gäste wollen den kosmischen
Zweikampf miterleben.
Auch andernorts dürfte Gedränge entstehen. Mittwoch dieser Woche ist der Tag
der großen Eklipse. Mit mehr als doppelter
Schallgeschwindigkeit fegt ein schwarzer
Blitz quer über die Kernlande Europas.
Der Mond schiebt sich vor die Sonnenscheibe und wirft einen etwa 100 Kilometer breiten Schatten auf die Erde.
Finsternisbeobachter mit Folienbrillen
Ohne Schutz droht Erblindung
d e r
„Winde der Finsternis“ (ausgelöst durch
den plötzlichen Temperaturabfall) werden
in der Schattenschneise wehen. Millionen
Schaulustige werden ihre Hälse recken.
Wissenschaftler an Bord einer Concorde
wollen hoch über dem Atlantik in den
Kernbereich der Eklipse eintauchen.
„Jahrhundertereignis“, „Jagd nach dem
Schatten“, das „Sonnen-Versteckspiel“ –
seit Tagen machen die Medien Stimmung
für das fulminante Natur-Spektakel. Reiseveranstalter rechnen mit einer Völkerwanderung in die Zwielichtzone. München
erwartet 200 000 Gäste, Stuttgart 500 000.
„Die Nachfragen“, schreibt die „Stuttgarter Zeitung“, „brechen alle Rekorde.“
Die Massen lockt ein seltenes Zauberspiel. Irisierende Wolken, mystisch wirkende Farbeffekte sowie ein Gefühl kolossaler Fremdheit haben die Himmelsforscher angekündigt. Der Heidelberger
Astronom Jakob Staude vergleicht das
Phänomen gar mit dem Erlebnis des eigenen Todes (siehe Interview Seite 170).
Zugleich mischt sich Grusel in das Hochgefühl. Ist es Zufall, dass die Eklipse mit
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S. NUMAZAWA / ASTROFOTO
Dunkeldeutschland überall: Am Mittwoch dieser Woche können
die Bundesbürger die letzte Sonnenfinsternis des Jahrtausends bestaunen.
Astronomen warnen: Eklipsen wirken betörend wie Rauschmittel. Die Polizei
rechnet mit Verkehrschaos, Spökenkieker erwarten den Weltuntergang.
12:20
12:40
13:10
12:46 Moskau
Paris
Grad der Sonnenbedeckung
in Prozent
12:23
Hamburg
Berlin
Hannover
92
Magdeburg
Münster
Leipzig
Kassel
96 Köln
Dresden
Erfurt
Koblenz
Frankfurt
am Main
Karlsruhe
100
99
98
TSCHECHIEN
Nürnberg
Regensburg
Stuttgart
Augsburg
München
ÖSTERREICH
96
12:30 Uhr
12:35
12:40
Zeitpunkt der totalen Sonnenfinsternis (MESZ)
Totale Sonnenfinsternis
„Beten hilft immer“
Bukarest
Außenministers werde demnächst durch „mächtige Feinde“ besiegelt. Beim Kanzler
dagegen führe die Eklipse nur
Mitteleuropäische
zur „vorübergehenden Schwä12:43
Sommerzeit (MESZ)
13:10
chung seines Durchsetzungswillens“ – sie bleibt mithin folzwei Minuten 23 Sekunden in genlos. Doch selbst nüchterne Betrachter
Transsilvanien, der Heimstatt kommen ins Grübeln. Ort und Zeitpunkt
Draculas, am längsten dauert? der Eklipse besitzen eine merkwürdige
Hat nicht der Mathematiker und Symbolkraft. Pünktlich zum Ende des MilHellseher Nostradamus (1503 bis lenniums huscht das Zwielicht quer über
1566) ausgerechnet für den Som- das christliche Abendland – und gemahnt
mer 1999 einen „Schreckenskö- damit an dessen Wurzeln. Als der Heiland
nig“ angekündigt, der vom Fir- starb, verdunkelte sich der Berg Golgatha
von der sechsten bis zur neunten Stunde.
mament herabsteigt?
Bis ins Zentrum der politi- So steht es jedenfalls in der Bibel.
Nicht minder sinnfällig deucht die Richschen Macht soll das vermeintlich fluchbeladene Phänomen tung, die der Pfad der Finsternis nimmt.
seinen Einfluss nehmen. Der Gleichsam im Rückwärtsgang durchmisst
bayerische Astrologe Jonas Her- der Mondschatten jene Strecke, über die
zog hat das Sternbild von Josch- der Steinzeit-Mensch einst seinen zivilisaka Fischer untersucht. Seine torischen Siegeszug antrat: Zuerst vor der
Diagnose: Das Schicksal des Ostküste Nordamerikas auftauchend, rast
Rom
Athen
Bremen
98
99
100
Zone der totalen
Finsternis
Wien
Kiel
88
Essen
13:07
Berlin
London
d e r
s p i e g e l
Verlauf der
Sonnenfinsternis
am 11. August 1999
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165
chen und DaimlerChrysler in Stuttgart
werden während der Finsternis keine Autos mehr montiert; in der Schwaben-Kantine gibt es „Schwarze Nudeln“. Der Triebwerkshersteller MTU lässt morgens am
Werkstor Schutzbrillen verteilen. Der
Computerriese IBM lädt seine Mitarbeiter
zur außerplanmäßigen Betriebsfeier mit
„mystischen Elementen“.
Die Sternenforscher nehmen vor all dem
Mummenschanz Reißaus. Im Schwarzen
Meer liegt eine Armada von Kreuzfahrtdampfern auf der Lauer. Deutsche Sonnenphysiker reisen auf dem Traumschiff
MS „Vistafjord“ Richtung Russland. Der
Luxusliner „Stella Solaris“ läuft von Athen
aus in den Bosporus ein. Mit an Bord: zwei
hochkarätige Astronomen aus den USA.
Nur im freien Feld, umgeben von einem
hohen Himmel und unbebauter Natur,
empfehlen Astronomen, sei der irritieren-
F. STOCKMEIER / ARGUM
er über die westliche Hemisphäre bis in
die Türkei und nach Persien zurück – den
Ursprungsländern des Ackerbaus.
Ein solches Jahrtausend-Ereignis will gefeiert werden. Rechtzeitig zum kosmischen
Blackout hat Paris auf der Place de la Concorde die weltgrößte Sonnenuhr (Höhe: 33
Meter) errichtet. Jordanien und Syrien erklärten den 11. August prompt zum Nationalfeiertag. Entlang der Linie Szombathely–Siófok–Szeged erwarten die ungarischen Behörden fünf Millionen Schaulustige. In der „Druidenlandschaft“ von
Cornwall, übersät mit neolithischen Hünengräbern und Steinkreisen, werden illegale Festivals und Kult-Treffen befürchtet.
Die Feldwege sind mit großen Steinen abgesperrt worden.
Und schon balgt sich das Publikum um
die besten Plätze. Rund um den Chiemsee
wird ein Eklipsen-Ansturm erwartet. Das
Afrikanische Volkstänzer*
„Sonnenbeschwörung aus Ghana“
Dreh-Restaurant im Münchner Olympiaturm ist seit Monaten ausgebucht.
Volle Hotels und Campingplätze melden die Veranstalter – nahezu alle Städte
und Gemeinden Süddeutschlands, die in
der Totalitätszone liegen, machen auf
Event. Im Angebot sind Folklore, Feuerwerk und gute Laune.
Saarbrücken hisst die Fahnen für ein
„Fest der Sonne“ – die Stadt feiert zugleich
ihr 1000-jähriges Bestehen. Filderstadt verspricht seinen Gästen „Sun and Fun“. In
Göppingen marschiert das Volk im Sternenmarsch zünftig zum Hohenstaufen hoch,
dem Stammsitz der Stauferkaiser. In Weil
der Stadt, Geburtsort Johannes Keplers, toben Gaukler und Magier umher. Ein Sprecher: „Wir spielen hier Mittelalter.“
Auch die Thüringer flippen aus. In
Weißensee soll, zur Feier des Tages, mit
einer mittelalterlichen Steinschleuder eine
brennende Kugel in den Himmel geschleudert werden.
Und rund um den Weißwurstäquator
stehen die Bänder still. Bei BMW in Mün* Proben für die Finsternisfeier; links: in Mühlhausen;
rechts: im Münchner Olympiastadion; oben: in Weil der
Stadt. Unten: aufgenommen von dem japanischen Forschungssatelliten „Yohkoh“.
166
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Titel
Gaukler und Magier*
„Wir spielen hier Mittelalter“
lenrogen gebeizt“ – alles gelblich Ton in
Ton. Zum Abschluss wird eine „Trilogie
von Melonen auf Minzsoße mit Mangomark“ gereicht.
Am Stadtrand, auf dem Flugfeld des
Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen, versammelt
sich derweil die Elite deutscher Weltraumforschung. Gegen Mittag steigt das
betriebseigene Forschungsflugzeug Falcon
auf. An Bord befindet sich ein Kamerateam des ZDF, das den heransausenden
Mondschatten live für eine Sondersendung
im Fernsehen festhält. Auch RTL, Pro Sieben oder die Dritten Programme kennen
am „Tag der schwarzen Sonne“ nur ein
Thema. Sogar abends folgen noch ein
ARD-„Brennpunkt“ und ein ZDF-„Spezial“.
Keine Frage: Das große Menetekel am
Himmel bringt die Massen in Bewegung,
W. M. WEBER
High Noon ist angesagt. Erwartungsschwanger schwelgt die Republik im
„Sofi“-(Sonnenfinsternis-)Fieber. Niemand
denkt bei dem Kürzel mehr an die betagte Miss Sophie, die alljährlich im TV am
Silvesterabend 90. Geburtstag feiert. Auch
der Begriff Dunkeldeutschland klingt
plötzlich nicht mehr ossifeindlich.
Auf breiter Front, auch außerhalb des
Schattensaums, bietet sich ein ungewöhnlicher Anblick. In Hamburg (85,6 Prozent
Bedeckung) steht die Sonne als schmale
Sichel über dem Häusermeer. Die Badegäste in Palma de Mallorca (65,2 Prozent) und in Heraklion auf Kreta (71,1 Prozent) werden beim Bräunen gestört.
Kanzler Schröder im Urlaub in Süditalien bekommt von dem Ereignis ähnlich
wenig mit wie Oppositionsführer Wolfgang
Schäuble in den Sylter Dünen. Guido
Westerwelle hingegen kann sich mit
Ethno-Musiker aus Australien*
„Szenen der Massenverbrüderung“
YOHKOH / ASTRODIENST
de Zauber einer Eklipse erlebbar. Aber der
Talkessel von Stuttgart? Experte Staude:
„Genauso gut könnten sie einen Sonnenaufgang in der U-Bahn beobachten.“
Solche Nörgeleien stören die Touristikmanager kaum. Rund 300 000 ausländische
Besucher, darunter Japaner und US-Bürger, werden im Voralpengebiet erwartet.
Stuttgart empfängt die Karawane laut Werbebroschüre mit „fetziger Partymusik“
und einer aus hundert Teleskopen bestehenden „Fernrohrstraße“. München ruft
zur großen Show ins Olympiastadion. Geboten werden Drachentänze und „Sonnenbeschwörungen aus Ghana“.
Unten auf dem Grün, wo sonst der FC
Bayern kickt, wird eine opulente Festtafel
aufgebaut. 580 Gäste, darunter Ex-Bundespräsident Roman Herzog, nehmen teil, um
ein viergängiges „Sonnenmenü“ zu verspeisen: „Carpaccio vom Lachs“, „Forel-
„Freunden in München“ von der Dunkelheit beeindrucken lassen.
Der FDP-Mann hat es gut getroffen.
Denn nur wer im Korridor des Kernschattens weilt, kann alle Akte des Himmelsschauspiels verfolgen.
Alles beginnt ganz harmlos mit dem
ersten „Biss“ (Astro-Jargon): Der Mond
schiebt sich über den Sonnenrand und
wandert langsam zum Zentrum vor.
Dieser Vorgang dauert etwa 80 Minuten.
Bis zu einer Bedeckung von etwa 90 Prozent jedoch ändert sich die Wahrnehmung
kaum. Die Iris vergrößert sich, das Auge
stellt sich auf den fehlenden Lichteinfall
ein. Dann aber wandeln sich die Lichtverhältnisse rapide. Die warmen Töne verschwinden aus der Landschaft, blau-graue
und silberne Farben stechen hervor. Bilder
von Luftschlieren, die „fliegenden Schatten“, kriechen mit einer Geschwindigkeit
von wenigen Metern pro Sekunde über den
Boden – ein Effekt wie in der Disco.
Sodann hebt das große Finale an: Die
Sonnenscheibe verjüngt sich immer mehr,
Röntgenbild der Sonne*
Janusköpfiger Lebensspender
167
Titel
bis schließlich nur noch vereinzelte Strahlen durch die Mondtäler fallen. Die Sichel
zerfällt in eine Kette gleißender Punkte.
Sekunden später bildet sich ein letzter
Lichtpunkt, der wie weißschmelzendes
Metall am dunklen Mondrand hervortropft. Dann erlischt das Tageslicht, „als
würde das Licht mit einem Dimmer runtergedreht“ (der Freiburger Sonnenphysiker Hubertus Wöhl).
Die nachfolgende Dunkelheit taucht den
Betrachter in eine verkehrte Welt. Für einen kurzen Augenblick scheint die kosmische Ordnung gestört. Das Nachtgestirn
triumphiert, die Temperatur nimmt um bis
zu 5 Grad ab, eine leichte Brise kommt
auf. In der Ferne, außerhalb des Schattens,
leuchtet schwach der Erdhorizont.
Gleichzeitig erstrahlen mitten am Tag
die Sterne. Beteigeuze und Wega blinken
am Himmel. Auch die Planeten Saturn und
Venus lassen sich bei klarer Sicht beobachten. Besonderer Leckerbissen: Der kleine Merkur, sonst fast immer vom Solargestirn überstrahlt, zeigt sich am Firmament
(siehe Karte Seite 171).
Nur etwa zwei Minuten haben Hobbyfotografen in dieser entscheidenden Phase
Zeit, um ihre Bilder zu schießen. Nicht selten gehen die Fotos in die Hose. „Die Minuten der Totalität sind derart phantastisch,
dass schon manche nicht mehr wussten,
wo sich der Auslöser der Kamera befindet“, sagt Andreas Verdun vom Astronomischen Institut der Uni Bern.
Für 11.30 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit haben Nasa-Experten den „ersten
Kontakt“ angekündigt. Gut 700 Kilometer
östlich von New York berührt der Mondschatten die Ozeanfluten und rast in Richtung Europa. Etwa 40 Minuten später erreicht er die Britischen Inseln. Cornwall
fällt in Dunkelheit. Die Sonne über London
* Kupferstich von Bernard Picart um 1700.
(Bedeckungsgrad: 96,8 Prozent) wird nahezu schwarz.
Dann wandert der dunkle Kegel über
den Ärmelkanal, durch die Normandie,
schrammt knapp an Paris vorbei. 5000
französische Gemeinden versinken in
Schummerlicht. Dann folgen Südbelgien
und Luxemburg, ehe der finstere Strahl
um 12.29 Uhr deutschen Boden trifft (siehe Kasten Seite 165). Zehn Minuten später
ist der Schatten bei Altötting schon wieder über die Landesgrenze gesprungen.
Schließlich überzieht die Totalitätszone das
Schwarze Meer und den Iran, ehe sie im
Golf von Bengalen wieder ins Weltall
abhebt. Insgesamt drei Stunden dauert der
Spuk – eine 14 000 Kilometer lange Spur
quer durch Orient und Okzident.
Doch wird das Firmament überhaupt
lumineszieren, und werden die Flammenzungen der Sonnenkorona aufleuchten?
Die letzte totale Sonnenfinsternis in
Deutschland – sie fand am 19. August 1887
frühmorgens statt – geriet zur Pleite.
Schwere Wolken versperrten den Blick.
Unter solchen Bedingungen wird es nur
kurz schummrig.
Diesmal geben die Meteorologen Hoffnung. Nach trüben Tagen mit Schauern und
Gewittern werde sich, so prophezeite der
Deutsche Wetterdienst in Offenbach,
pünktlich zur Wochenmitte ein Hoch über
Süddeutschland breit machen. Dennoch
müsse am Finsternistag überall mit Wolken gerechnet werden. Am besten könne
die Eklipse wahrscheinlich im Saarland betrachtet werden.
Doch gerade wenn der Himmel strahlt, ist
Gefahr angesagt. Das Zentralgestirn, Spender von Leben und Wärme, ist zugleich ein
bösartiger Leuchtkörper. Wer die Kugel
ohne Schutz betrachtet, erblindet. Zum
Zeitpunkt der Finsternis, mittags um halb
eins, steht die Sonne 55 Grad steil am Horizont. Unter diesen Bedingungen reicht
SONNE
Lunas Lightshow
Die Entstehung der Sonnenfinsternis
Da die Entfernung der Erde zur Sonne in etwa dem
400fachen der Erde-Mond-Entfernung entspricht
und der Mond einen rund 400mal kleineren Durchmesser als die Sonne hat, erscheinen Sonne und
Mond von der Erde aus etwa gleich groß. Zu einer
Sonnenfinsternis kann es bei Neumond kommen,
wenn der Mond zwischen Erde und Sonne steht.
Aber nicht bei jedem Neumond gibt es gleichzeitig
auch eine Finsternis: Da die Mondbahn gegenüber
der Erdbahn um rund fünf Grad geneigt ist, fällt
eine „Expositionszeit von weniger als einer
Minute“, um auf der Netzhaut Schäden hervorzurufen, warnt Wolfgang Schrader von
der Universitäts-Augenklinik in Würzburg.
Bereits Mitte letzten Monats wandte
sich der Berufsverband der Augenärzte
Deutschlands an über 10 000 Schulen. Nur
spezielle Folienbrillen, heißt es in dem
Brandbrief, würden hinreichenden Sichtschutz bieten. Wer das Schauspiel mit dem
Opernglas, durch CDs oder gar mit zugekniffenen Augen verfolge, müsse mit einer
„fotochemischen Reaktion“ auf der Retina
rechnen. Das Gewebe hinter der Pupille
reißt auf und vernarbt.
Galileo Galilei und Isaac Newton büßten
ihre Neugierde fürs Solargestirn mit
schlimmen Läsionen im Augapfel. Kaiser
Konstantin VII. von Byzanz (959 nach
Christus vergiftet) verlor beim Blick in den
AKG (l.); ROGER-VIOLLET (r.)
Historische Sonnenfinsternis in Peru*, Endzeitprophet Nostradamus: „Menschen rennen wie lebende Fackeln durch die Straßen“
Während der meisten NeumondPhasen fällt der Mondschatten an
der Erde vorbei.
SONNE
MONDBAHN
ERDBAHN
ERDBAHN
MOND
Gasball auf beiden Augen an Sehkraft.
Nach einer partiellen Finsternis am 17.
April 1912 diagnostizierten deutsche Ärzte
bei mehr als 3000 Patienten Augenveränderungen. 1970 erblindeten in den USA
145 Personen.
Selbst routinierte Hobbyastronomen
müssen auf der Hut sein. Die „Vereinigung
der Sternfreunde e. V.“ sorgt sich um einen
Wärmekollaps in den Teleskopen. Wer das
Fernrohr ohne abzublenden aufs Solargestirn ausrichte, müsse mit einer „Hitzeentwicklung im Tubus“ rechnen. Das
gebündelte Sonnenlicht könne „die Verkittung zwischen den Linsen zum Schmelzen“ bringen.
Kein Wunder: Die Sonne, meist nur indirekt als Beleuchtungsorgan wahrgenommen, hängt wie ein kolossaler Feuerball am
Himmel. Im Mittel 150 Millionen Kilometer
ist das Zentralgestirn von der Erde entfernt,
sein Durchmesser beträgt knapp 1,4 Millionen Kilometer. Aus der körnigen Oberfläche schießen Protuberanzen hervor, im
Inneren befindet sich jener magische Ort,
an dem sich Materie in Licht verwandelt.
Wodurch diese gigantische Energiequelle gespeist wird, blieb lange ein Rätsel. Erst
in diesem Jahrhundert kamen Wissenschaftler dem Phänomen auf die Spur. Der
Gasball verschmilzt permanent – ähnlich
wie eine Fusionsbombe – Wasserstoff zu
Helium. Dabei verliert er pro Sekunde 4,3
Milliarden Tonnen an Masse.
Im universellen Maßstab gilt die Sonne
als „Zwergstern“. 100 Milliarden Sterne
existieren allein in der Milchstraße – manche sind 100-mal größer als die Sonne, welche die Menschheit erhellt. Für die Entwicklung von Leben auf dem Planeten
Erde sind die Bedingungen ideal.
Ohne ihre Wärme gäbe es auf dem Gesteinsklumpen Erde kein Leben von solcher Vielfalt. Sonnenlicht lässt Bäume und
KERNSCHATTEN
des Mondes
ERDE
Knoten
MONDBAHN
(rund 5° gegen die
Erdbahn geneigt)
Gräser wachsen, die dann andere Lebewesen mit Luft zum Atmen versorgen. Auch
als Nahrung und Brennstoff dienen die
Pflanzen – jedes Stück Holz, jede Tonne
Kohle und jedes Fass Öl ist konservierte
Sonnenenergie.
Fast auf jedem Quadratkilometer Festland müsste ein Kernkraftwerk vom Typ
Biblis B stehen (insgesamt 140 Millionen
Reaktoren), um eine Energieflut über die
Erde auszuschütten, wie sie die Sonne gratis liefert. Und dabei ist das auf der Erde
ankommende Sonnenlicht nur ein winziger
Bruchteil der insgesamt ausgesandten
Strahlung. Die geballte Sonnenhitze würde ausreichen, sämtliches Wasser der
Ozeane in weniger als zehn Sekunden verdampfen zu lassen.
Sonnenenergie ist auch der Kraftstoff,
der den Klimamotor rattern lässt. Sonnen-
hitze treibt die Winde und lenkt die
Meeresströmungen, sie wärmt den Boden
und bringt das Wasser der Ozeane zum
Verdunsten, das dann über dem Land wieder abregnet. Von der Sonne hängt es ab,
ob die Ernte üppig oder karg ausfällt –
oder gar eine neue Eiszeit ausbricht
Der Lebensspender ist auch sonst ein
Januskopf. Unter dem Bombardement von
Lichtteilchen erhöht sich der menschliche
Sexualtrieb – aber auch die Gefahr, an
Hautkrebs zu erkranken.
Und noch immer ist der Glutball nicht
enträtselt. Auf seiner Oberfläche ist es nur
rund 6000 Grad heiß. In der Korona, die
das Gestirn wie einen Schleier umgibt,
werden dagegen „ständig neue Hitzerekorde gemessen“, wie der Astrophysiker Wöhl sagt. Neuen Theorien zufolge explodieren in der Gashülle unentwegt sogenannte Mini-Flares. In
Himmelskult der Babylonier: Lauf der Sterne berechnet
ihrem Umfeld steigt die Hitze auf bis zu drei Millionen
Grad.
Bei Verfinsterungen wird
der brodelnde Strahlenkranz in seiner ganzen
Pracht sichtbar. Etliche Millionen Kilometer reicht die
Korona ins All hinaus. „Ihr
Anblick ist etwas vom
Schönsten, was eine totale
Sonnenfinsternis zu bieten
hat“, schwärmt der Sternenforscher Verdun. Bei
starker Protuberanzentätigkeit kommt noch eine rötliche Färbung dazu. Dann, so
Verdun, herrsche im Kernschatten auf der Erde „Götterdämmerung“.
Auch der wissenschaftliche Blick kann nun mal
das große Staunen nicht
G. DAGLI ORTI / MUSÉE DU LOUVRE
der Schatten des Mondes meist an der Erde
vorbei (siehe Grafik oben). Nur wenn sich der
Trabant bei Neumond nahe bei einem Knoten
befindet – einem der Punkte, in denen die
Mondbahn die Ebene der Erdbahn durchstößt –,
verdeckt der Mond tatsächlich die Sonne.
Folglich kommt es nur durchschnittlich knapp
alle zwei Jahre irgendwo auf der Erde zu einer
totalen Sonnenfinsternis.
Knoten
169
Titel
„Nur noch mit dem Tod vergleichbar“
Staude, 54, arbeitet am Max-PlanckInstitut für Astronomie in Heidelberg
und ist Chefredakteur des Fachmagazins „Sterne und Weltraum“. Er beschäftigt sich vor allem mit der Entstehung von Sternen und Planetensystemen.
SPIEGEL: Ihr Arbeitsplatz in Heidelberg
liegt knapp außerhalb der Totalitätszone. Verfolgen Sie das Spektakel vom
Büro aus?
Staude: Auf keinen Fall. Ich werde mit
Zelt und Wanderschuhen in die Schwäbische Alb ziehen, die liegt im Kernschatten. Dort suche ich mir eine Bergkuppe mit Blick auf einen freien,
unverstellten Horizont.
SPIEGEL: Haben Sie keine Lust auf SofiPartys? Die süddeutschen Städte wollen mit Musik und Tanz Millionen
anlocken.
Staude: Wer dem Ruf folgt, begeht
einen großer Fehler. Sonnenfinsternisse sind Naturereignisse. Was Menschen dazu beitragen, ist kläglich – vor
allem, wenn die Veranstaltungen
unter Dunstglocken stattfinden und
170
d e r
Häuserzeilen die Sicht zum Himmel chen. Aber emotional läuft etwas viel
versperren.
Tiefgreifenderes ab. Hirnforscher erSPIEGEL: Lohnt sich der Weg in den klären die Wirkung mit der Störung unserer Wahrnehmung. Aus Erde, HimSchattenstreifen?
Staude: Unbedingt. Ich habe am 15. Fe- mel, Sonne bauen wir uns die Realität,
bruar 1961 in Florenz eine totale Son- und das seit Jahrmillionen. Bei einer
nenfinsternis miterlebt. Mein Vater war Sonnenfinsternis wird uns diese verMaler, ich ging dort zur Schule. Es war traute Welt schlagartig unter den Füßen
Aschermittwoch, wir hatten frei. Ich weggezogen. Das Licht erlischt am hellkletterte auf die vermoosten Dachzie- lichten Tag. Dieser Effekt ist nur noch
gel meines Elternhauses und sah nach mit dem Tod vergleichbar. Wenn der
Osten die ganze klassische Kulisse: Fel- Mensch stirbt, glaube ich, vollzieht sich
der, Bauernhöfe und ganz hinten die etwas Ähnliches, nur enorm verstärkt.
Apennin-Kette. Es war morgens um SPIEGEL: Ist so der Untergangsgrusel zu
8.30 Uhr, die Sonne stand eine Hand erklären, den Astrologen derzeit im Inbreit über dem Horizont.
ternet verbreiten?
SPIEGEL: Und dann?
Staude: Mag sein, aber Nostradamus
Staude: Zuerst passierte gar nichts. Der interessiert mich nicht. Am 11. August
Mond schob sich von Westen aus übers steigt kein Schreckenskönig herab.
Zentralgestirn. Aber mit zunehmender SPIEGEL: Himmelsmechaniker haben anVerdunkelung wurde die Szene immer gekündigt, dass es mit dem kosmischen
irrealer. Die Landschaft leuchtete in Schauspiel irgendwann vorbei ist.
grauvioletten Tönen. Dann fingen die Staude: Richtig, der Mond entfernt sich
Hunde plötzlich zu jaulen an. In der jedes Jahr um wenige Zentimeter von
Nähe lag ein Nonnenkloster mit einem der Erde. Ist der Abstand zu groß,
Kindergarten. Auch dort erhob sich im reicht es nur noch für ringförmige FinsAugenblick der Totalität ein unglaub- ternisse.
liches Geschrei.
SPIEGEL: Wie schade …
SPIEGEL: Der Dichter Adalbert Stifter Staude: Seien Sie nicht betrübt, im Kosnannte den Eindruck „herzzermal- mos ticken die Uhren anders. Für die
mend“.
nächsten 150 Millionen Jahre reicht die
Staude: Das Gefühl von Fremdheit ist Bedeckung noch aus.
überwältigend. In der Nähe von Florenz wurde damals der Historienfilm Dreharbeiten für Historienfilm „Barabbas“ (1961):
„Barabbas“ gedreht. 1000 Komparsen
standen auf dem Feld. Als die Finsternis eintrat, rief der Jesus-Darsteller:
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, so, wie es in der Bibel steht.
SPIEGEL: Ein großer Satz, prächtig beleuchtet …
Staude: Ja, aber der Regisseur hatte die
Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die
Szene wirkte so intensiv, dass alle drei
am Kreuz hängenden Schauspieler
ohnmächtig wurden. Die sind richtig
aus den Latschen gekippt. Auch unter
den Schaulustigen brach Chaos aus. Es
ist wichtig, sich klar zu machen, dass
wir hier über etwas reden, was die meisten von uns nie zuvor erlebt haben.
SPIEGEL: Physikalisch gesehen, huscht
doch nur der Kernschatten des Mondes
über die Erdkugel.
Staude: Richtig. Das wussten, wie Plutarch berichtet, schon die alten Grie-
s p i e g e l
PWE VERLAG
Astronom Staude
F. STOCKMEIER / ARGUM
Der Astronom Jakob Staude über die Wirkung von Sonnenfinsternissen auf das
menschliche Bewusstsein und die erwartete Völkerwanderung Richtung Süddeutschland
3 2 / 1 9 9 9
schmälern – im Gegenteil. Eklipsen gemahnen an ein ungleiches Billardspiel: Der
Mond hat einen 400-mal kleineren Durchmesser als die Sonne. Im Prinzip muss ein
Stecknadelkopf einen Medizinball abdecken. Das gelingt nur, weil das Zentralgestirn – merkwürdiger Zufall – 400-mal
weiter entfernt seine Bahn zieht.
Kein anderer der über 60 Monde im Planetensystem ist zu solch einem Verdunkelungsmanöver in der Lage. Weder Uranus,
Mars oder Pluto werden je von ihren Trabanten in Schwärze gehüllt. Es scheint, als
habe sich die Natur das Sofi-Spektakel
für den einzigen Planeten aufgespart, auf
dem Geschöpfe leben, die es bewundern
können.
Liegt in dem irdischen Schattentheater
mithin ein tieferer Sinn? Die meisten Wissenschaftler mögen an solche Spekulationen nicht glauben. Sie halten sich streng an
die Gesetze der Planetenbewegungen, und
die sind kompliziert genug. „Die Mondbewegung zu berechnen gehört zu den
schwierigsten Problemen der Himmelsmechanik“, sagt Sergej Klioner vom Lohrmann-Observatorium in Dresden. Mal zerren die Gasriesen Jupiter und Saturn an
dem kleinen Erdbegleiter. Dann wieder
gerät er mit voller Wucht ins Schwerkraftfeld der Sonne. Im nächsten Punkt („Perigäum“) ist der Trabant nur 356 410 Kilometer entfernt, im Apogäum beträgt die
Distanz 406 740 Kilometer.
Was die Finsternis-Prognosen weiter erschwert: Die Mondbahn ist um fünf Grad
gegen die Erdumlaufbahn geneigt – meistens schießt der Trabant deshalb an der Linie Sonne–Erde vorbei (siehe Grafik Seite
169). Entsprechend selten stehen die drei
Himmelskugeln passgenau in einer Reihe.
Im langfristigen Mittel treten pro Jahr
1,54 Mond- und 2,38, meist partielle, Son„Alle drei Darsteller fielen in Ohnmacht“
entlocken. Einer der letzten großen Coups
gelang im Jahr 1919 dem Briten Arthur Eddington. Während einer Eklipse
N
maß er, dass das Licht der
nenfinsternisse auf. Im
Sterne von der verfinsterSchnitt knapp alle
ten Sonne abgelenkt
zwei Jahre kommt
wurde.
es irgendwo auf der
Der Physiker AlErde zur totalen
bert Einstein triSonnenfinsternis –
umphierte. Denn
oft in abgelegein seiner 1916 verJupiter
Arktur
nen Weltgegenöffentlichten AllSaturn
O
W gemeinen Relatiden.
Eklipsen lassen
vitätstheorie hatKastor
BeteiSONNE
geuze
Pollux
sich heute sekunte er diesen Effekt
Merkur
dengenau vorhervorhergesagt.
Venus
sagen. Jeder auf
Heute sind beRigel
den Mond einwirschwerliche AstroSirius
kende Störfaktor ist
Karawanen in ferne
entschlüsselt, Computer
Länder nicht mehr nötig.
helfen beim Durchrechnen
Unter der Regie der Sonder labyrinthischen Zahlenkonenphysiker sausen rund ein
S
horten. Als Bibel der astronomischen
halbes Dutzend Beobachtungsstationen
Prognostik gelten die Nasa-Bulletins und durchs All: darunter die Sonden „Ulysses“,
der „Canon“ des „Astronomischen Büros“ „Trace“ und „Yohkoh“. Als schlagkräftigsin Wien. In dem Wälzer stehen 10774 frühe- tes Werkzeug gilt das „Solar and Heliore und zukünftige Finsternisse. Die letzte spheric Observatory“ („Soho“). Wie ein
darin verzeichnete findet im Jahr 2526 nach Mini-Planet umschwirrt der Detektor das
Christus statt.
Zentralgestirn, er liefert Daten über TeilNatürlich lassen sich die Himmelsfor- chenwinde und koronale Massenauswürfe.
scher die seltene Gelegenheit nicht entgeAn Faszination hat das nun anstehende
hen, um die ausgefranste Gaswolke zu in- Verdunkelungsmanöver gleichwohl nicht
spizieren. So werden sich Astro-Teams aus verloren. Jost Jahn, Sprecher der Vereiniüber 15 Ländern entlang der Totalitätszo- gung der Sternfreunde, gibt zu: „Ganz
ne aufstellen und das Licht der Korona mit gleich, mit wie viel Vorwissen man das NaKameras aufnehmen. Von Frankreich bis turschauspiel betrachtet, der Anblick ist
nach Indien reicht die Phalanx der Beob- überwältigend – und zugleich ziemlich geachter.
spenstisch.“ Dieter Herrmann, Chef des
Im Prinzip jedoch ist die Zeit der großen Zeiss-Planetariums in Berlin, musste einiForschungsfahrten passé. Im 19. Jahrhun- ge Mitarbeiter dienstverpflichten: „Sonst
dert reisten Astronomen, wuchtige Fern- rennen alle in die Totalitätszone.“
rohre im Gepäck, bis in die Südsee, um
„Verwirrten und betäubten Herzens“ hat
dem Heliumriesen seine Geheimnisse zu Adalbert Stifter im Jahr 1842 in Wien eine
totale Finsternis erlebt. Der Dichter fühlte
sich umgeben von einer „namenlos tragischen Musik von Farben und Lichtern“.
Den Mond nahm er als ein „unheimliches,
klumpenhaftes, tief schwarzes, vorrückendes Ding“ wahr. „Gott redete, und die Menschen horchten“, schrieb Stifter.
„Erhabenheit“ hat Immanuel Kant diese Erschütterung genannt. Sie stelle sich
ein, so der Denker aus Königsberg, wenn
der Mensch sich der fremden, unbändigen
und alles verschlingenden Kraft von
großen Naturschauspielen bewusst werde.
Ähnlich euphorische Berichte liegen von
Eclipse-Chasern vor, Finsternisjägern, die,
süchtig nach dem himmlischen Blackout,
den halben Erdball bereisen. „Nikotin, Alkohol, Glücksspiel mögen als Laster gelten“, gestand der Solar-Junkie Glen
Schneider dem Magazin „Sky and Telescope“, „aber vom Schatten des Mondes
abhängig zu sein, ist schlimmer“.
Elf Sofis hat der in der Schweiz lebende
Olivier Staiger abgepasst – die schönste in
Iguaçu (Brasilien). „Ich falle auf die Knie,
Tränen in den Augen“, notierte er nach der
Der Sternenhimmel über Deutschland
während der totalen Sonnenfinsternis
171
Düsterheit, „es sieht so aus,
als habe eine übermenschliche Macht den Himmel
geöffnet, und ich sehe Richtung Paradies.“
Ähnlich aufgewühlt gibt
sich die Tier- und Pflanzenwelt in der Phase der Dunkelheit. Fledermäuse beginnen ihre Flüge, Nachtfalter
schwirren aus, Hunde fangen an zu jaulen, Blumen
schließen ihre Kelche. Das
österreichische Fernsehen
will zusammen mit der
ARD auf einem Bauernhof
in Oberösterreich eine Kamera postieren. Sie soll die
Reaktion von Hühnern, Forschungssatellit „Soho“ (Fotomontage)
Pferden, Enten und Kühen „Ständig neue Hitzerekorde gemessen“
festhalten.
Anderes Beispiel: Zwischen Anfang
Auch über die Abhängigkeit des Menschen von den Gestirnen ist wenig be- März und Mitte April nimmt die Tageskannt. Nur wenige Experten, Chronobio- lichtdauer in Europa am stärksten zu. Die
logen genannt, beackern dieses Spezial- Tage werden sprunghaft länger. In dieser
gebiet. „Homo sapiens ist ein tagaktives Zeit stieg auch die Befruchtungsquote an,
Tier“, sagt Till Roenneberg vom Institut wie die Auswertungen von historischen
für Medizinische Psychologie der Univer- Geburtsregistern beweisen. Der Forscher
sität München, „unser gesamter Biorhyth- Roenneberg: „Neun Monate später, im Dezember und Januar, erfolgt der Babymus ist von der Sonne abhängig.“
Alkoholabbauende Enzyme etwa wer- boom.“
Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert
den im Körper verstärkt erst in den Abendstunden ausgestoßen. In der Nacht erhöht wurden überproportional viele Kinder am
sich die Konzentration an Dopamin im Ge- Jahresende geboren. Mittlerweile hat sich
hirn. Zugleich regelt die Sonne den ge- das Phänomen bis zur Unkenntlichkeit versamten Schlaf-Wach-Rhythmus. Experi- wischt. Schuld ist die Elektrifizierung. „Die
mente ergaben, dass der Zyklus etwa 24,9 Menschen halten sich kaum noch in natürStunden dauert – das Intervall muss stän- lichen Lichtverhältnissen auf“, sagt Roendig an der Sonne geeicht werden. Blinde neberg. Der Kontakt mit dem sonnenohne funktionierende Netzhaut haben die gesteuerten Lichtrhythmus geht verloren.
In früheren Zeiten war dem Menschen
Neigung, sich jede Nacht etwa eine Stunweit stärker bewusst, wie abhängig er
de später ins Bett zu legen.
ESA / ASTRODIENST
Titel
von der gleißenden Kugel am Himmel
ist. In vielen Kulturen wurde die Sonne
als Gottheit verehrt, meist als gerechtes
und allwissendes Überwesen. Sonnenkulte gab es bei Ägyptern, Römern wie
Indern.
Für ein Zeichen heraufziehenden Unheils hielten es die Menschen, wenn sich
die Sonne verfinsterte – und sich ihre Gottheit somit gleichsam von ihnen abwandte.
Ängstlich standen die Untertanen dann im
Sofi-Schatten – und reimten sich Mythen
zusammen. Die Chinesen etwa deuteten
den herankugelnden Mond als Himmelsdrachen. Nach Ansicht der Germanen
machten sich bei Eklipsen die wolfsgestaltigen Riesen Hati und Sköll übers Tageslicht her.
Das Pharaonenreich am Nil, sonst ein
Motor des Fortschritts, zeigte an dem Naturereignis erstaunlich wenig Interesse. Aus
Ägypten ist nur ein einziges EklipsenDokument erhalten. Nüchtern beschreibt
dort ein Priester eine Finsternis aus dem 6.
vorchristlichen Jahrhundert.
Wo aber begann die Fähigkeit zur Vorhersage? Welches Volk trat dem unheilträchtigen Vorgang als erstes mit kühler
Logik entgegen?
Seit kurzem sind wieder mal die Erbauer von Stonehenge als Kandidaten im
Gespräch. Klaus Meisenheimer, 47, vom
Max-Planck-Institut für Astronomie in
Heidelberg hält das steinzeitliche Megalith-Heiligtum in Südengland für ein prähistorisches Observatorium. Auf sechs
Seiten breitet der Astrophysiker in einem
Sonderheft des Fachblatts „Sterne und
Weltraum“ die abenteuerlich klingende
Theorie aus.
Sternwarten im Holozän? Neolithische
Baumeister als Entzauberer des Kosmos?
NSO / ASTRODIENST
Gasausbrüche auf der Sonne: In jeder Sekunde verliert der Glutball 4,3 Milliarden Tonnen an Masse
Werbeseite
Werbeseite
Titel
* Zeichnung einer astronomischen Beobachtungsstation.
174
VCL / BAVARIA
ASTRODIENST
Mit reiner Erkenntnis- von den Gestirnen als physische Körper
lust hatte das Streben der im Raum.“
Orientalen nichts zu tun.
Diese revolutionäre Einsicht gelang erst
Was sie trieb, war schiere den Griechen. Der Mond bestehe aus erdAngst. Alle alten Astro- ähnlicher Substanz, erfassten im 5. vorTexte aus dem Zweistrom- christlichen Jahrhundert die Philosophen
land sind Omina – Him- Anaxagoras und Empedokles. Sie hatten
melswahrsagungen, kombi- das Firmament als Vollkugel erkannt. Überniert mit Übel abwehrender raschendes Fazit: Die Sterne setzten nach
Magie.
dem Untergang ihren regelmäßigen Lauf
Wie tief die Furcht vor unter der Erde fort. Ergo muss die Erde im
den Sternen verwurzelt Raum schweben.
war, zeigt ein Vorgang, den
Doch es gab auch Feinde des Fortvor rund 2700 Jahren Kö- schritts. Schon die Propheten des Alten
nig Asarhaddon einfädelte. Testaments hatten als Wahlspruch verkünFür sein 7. Regierungsjahr det: Finger weg von Gottes Sternenzelt.
hatten die königlichen Jahwe ist groß und unerklärlich.
Hofastronomen eine totaDen Bibel-Autoren galt die SonnenfinsEklipse in Indien 1898*: „Fliegende Schatten“
le Mondfinsternis vorher- ternis als Ausdruck des göttlichen Zorns.
„Die Idee klingt absurd“, gesteht der Ex- gesagt – eine schreckliche Prophezei- „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond
perte, „aber die Beweislast ist er- ung. Denn sie bedeutete den Tod des Herr- in Blut verwandelt werden, ehe denn der
große und schreckliche Tag des Herrn
drückend.“ Sein Fazit: Stonehenge sei eine schers.
Um diesem Schicksal zu entgehen, ver- kommt“, heißt es etwa beim Propheten
„Finsternisuhr zur präzisen Vorhersage von
fiel der Monarch auf einen Trick. Flugs ließ Joel, Ähnliches droht Jesaja an. Auch in
Sonnen- und Mond-Eklipsen“.
Den meisten Fachleuten hingegen gilt er einen Untertanen den Thron besteigen der Offenbarung des Johannes („die Sondas Zweistromland zwischen Euphrat und und suchte das Weite. Als die Eklipse ne wurde finster wie ein schwarzer Sack“)
Tigris als erstes großes Sternenlabor der wirklich eintrat, wurde der Strohmann verdustert sich das Himmelslicht.
Berühmt – und wissenschaftlich heftig
Menschheit. Mit Akribie brachten die dort ermordet, der Regent kehrte zu seinen
siedelnden Babylonier Maß und Ordnung Amtsgeschäften zurück. Dokumentiert in umstritten – ist die Eklipse, die während
ins Sternenwirrwarr. Die Astronomen dort Keilschrift-Briefen, ist der Vorfall auf die der Kreuzigung Christi auf den Berg Golgatha fällt. Farbenprächtig hat der Evanunterteilten den Tierkreis in 30-Grad- Nachwelt gekommen.
Die babylonische Sternenkunde weist gelist Lukas die Hinrichtungsszene ausgeSegmente und erfanden die dazugehörinoch einen weiteren Mangel auf: Die Mor- malt. Todwund hängt Jesus am Kreuz, im
gen Symbole.
Nach 1000 vor Christus – in Griechen- genländer blickten zum Firmament wie ge- Moment des Sterbens – kurz nach Mittag
land dichtete gerade Homer – legt die gen eine platte Zimmerdecke, auf der die – erstirbt auch das Tageslicht.
Bis in die Neuzeit wurden Sonnenfinsbabylonische Sternenkunde ein rasantes Sterne Kreise drehten. „Kein Wort von der
Tempo vor. Im großen Stil beginnen die Tiefendimension“, sagt der Heidelberger ternisse häufig als Zeichen heraufziehenMorgenländer in den Metropolen Baby- Philologe Herwig Görgemanns, „kein Wort den Unheils gewertet. Der Finsternis entlon, Ninive und Uruk, das Firmament
auszukundschaften. Die dänische Alt- Steinzeit-Heiligtum Stonehenge in Cornwall (Südengland) bei Sonnenuntergang: Mit mehr als
orientalistin Ulla Koch-Westenholz stuft
das Unternehmen als „frühest dokumentierten Fall einer wissenschaftlichen Revolution“ ein.
Aus der Zeit König Assurbanipals (668
bis etwa 627) liegen unzählige astrologische Berichte vor – mit Keilschrift auf Tontafeln geritzt. Insgesamt 36 Aufgänge von
Fixsternen sind in den Referenzwerken
verzeichnet, ihr stetes Wandern am Himmel wurde mit Wasseruhren vermessen.
Als Observatorien dienten möglicherweise
riesige Tempeltürme. Eines dieser Art, der
Turm von Babel, reichte 90 Meter in die
Höhe.
Auch die Mondbahn geriet in den Fokus
der Beobachtung. Über Generationen hin
sammelten die Priesterastronomen riesige
Datenmengen, dann gelang eine historische Großtat. Die Babylonier entdeckten
den „Saros-Zyklus“, jenen gut 18 Jahre
dauernden Rhythmus, den der herumtaumelnde Mond braucht, ehe er sich wieder
in derselben Position zwischen Erde und
Sonne befindet. Mit dieser Formel ließen
sich Eklipsen – zumindest ungefähr – vorhersagen.
strömten Pestilenz und Giftwolken, hieß
es etwa im Mittelalter. Den Tod Karls des
Großen sollen mehrere Sonnenfinsternisse
angekündigt haben. Sein Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, verschied angeblich infolge einer Eklipse – vor Schreck.
Doch zur Überheblichkeit der NeuzeitMenschen besteht kein Anlass. Bis heute
geht von dem Himmelsspektakel eine
beängstigende Wirkung aus.
Bei vielen werden verschüttete Urängste
wieder wach, wenn es plötzlich duster
wird. Die Vorstellung, dass die Sonne eines
Morgens nicht mehr aufgehen könnte,
scheint eine tief verwurzelte Menschheitsfurcht zu sein.
Entsprechende Resonanz finden die
Grusel-Prophezeiungen der Astrologen.
Rechtzeitig zum Dunkel-Event stapeln sich
in den Buchhandlungen die Sonderhefte
der Astro- und Esoterikzeitschriften. Im
Internet salbadert ein „Graf des Grauens
zum Jüngsten Tag“. An der Uni Wien treibt
Geologie-Emeritus Alexander Tollmann
sein Unwesen. Der Professor hat für den
August 1999 den 3. Weltkrieg anberaumt
mit einer „Endschlacht bei Köln“.
Die französisch-schweizerische Wahrsagerin Elizabeth Teissier glaubt, dass die
Nasa-Sonde „Cassini“ (Brennstoff: 33 Kilogramm Plutonium) auf die Erde stürzt
und „200 000 durch die Strahlen ausgelöste
Krebserkrankungen“ verursacht.
Auch der Mode-Designer Paco Rabanne
heizt die Stimmung an. In seinem Buch
„Das Feuer des Himmels“ lässt er die
Raumstation „Mir“ auf Frankreich zerschellen. „Panik überall“, lautet Rabannes
Szenario für den 11. August, „Menschen,
die brennenden Fackeln gleichen, irren
durch die Straßen.“ Derzeit sitzt der Kleidermacher in der Bretagne und spendet
einen letzten Funken Hoffnung: „Beten
hilft immer.“
„Endzeitfieber“ habe die Republik erfasst, konstatiert der Leiter des Fuldaer
Diözesanreferats für Sekten und Weltanschauung, Ferdinand Rauch. „Apokalypse
2000 – Teilen wir das Schicksal von Atlantis?“, titelt ein Esoterikblatt. Auch die Zeugen Jehovas erwarten natürlich den Weltuntergang.
In München bietet eine Gruppe „Lichtarbeiter“ ein Überlebenstraining an. Manche Bürger wollen am Tag der Finsternis in
verbarrikadierten Kellern biwakieren –
Alu-Folie vor den Fenstern.
Die Atmosphäre aus Panik und Party,
Untergangsstimmung und kosmischem
Hochgefühl, verteilt auf Trauben von Schaulustigen in der Totalitätszone, könnte böse
Folgen haben. Schon im Vorfeld, das scheint
sicher, dürfte der Verkehr zusammenbrechen. Ein Tohuwabohu ist vorprogrammiert.
Die französischen Behörden haben deshalb vorsorglich ein landesweites Fahrverbot für Lkw erlassen; die Fernfahrer
protestieren.
In Deutschland wären solche Verkehrsbeschränkungen kaum durchsetzbar. Stuttgart plant lediglich, den Anreiseverkehr in
den Morgenstunden großräumig abzuleiten. „Hunderte von Kollegen“, sagt der
Polizeisprecher Hermann Karpf, würden
an dem Tag zum Sondereinsatz abkommandiert.
doppelter Schallgeschwindigkeit fegt ein schwarzer Blitz quer über die Kernlande Europas
Vor allem die Phase der Dunkelheit, in
Stuttgart sind das 137 lange Sekunden, bereitet Kopfzerbrechen. Was tun, wenn die
Autofahrer im Moment der Finsternis anhalten und zum Himmel schauen?
Karpf befürchtet eine „hochgefährliche
Situation auf den Autobahnen“. Überlegungen, alle Ampeln während der Totalitätsphase auf Rot zu stellen, wurden verworfen. Karpf: „Wenn die Behörden gezielt eingriffen, müssten sie bei Unglücken
auch haften.“
In München warnt die Polizei zudem vor
„dunklen Gestalten“. Wenn die Bürger minutenlang gebannt zum Himmel starren, so
die Befürchtung, könnten Taschendiebe
und Einbrecher leichtes Spiel haben.
Keine Frage: Im Süden der Republik
braut sich eine Ausnahmesituation zusammen. Niemand kann abschätzen, wie viele Menschen am Ende wirklich in die Totalitätszone strömen. Womöglich endet das
Spektakel wie der Schlussakkord aus
Beethovens 9. Symphonie. Der Chronobiologe Roenneberg jedenfalls rechnet für
den schwarzen Mittwoch mit „Szenen der
Massenverbrüderung“.
Noch einmal kann sich der Mensch bewusst machen, dass er auf „einer im grenzenlosen Raum frei schwebenden Kugel“
lebt, auf der „ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat“
(Arthur Schopenhauer).
Danach, im Jubel des wiedererstrahlenden Lichts, marschiert das Abendland ins
3. Jahrtausend.
Oder es regnet, und die Party fällt aus.
Matthias Schulz
Technik
COMPUTERSPIELE
Jagd auf den Donnervogel
Das Spiel „Pokémon“ schlägt in den USA und Japan alle Rekorde. Millionen Kinder betreiben
regen Handel mit virtuellen Monstern. Begleitprodukte, vom Kinofilm bis zur Sammelkarte, sind zum Milliardengeschäft geworden. Jetzt kommen die Fabeltiere nach Deutschland.
A
uf den Schulhöfen dieser Welt versammeln sich neuerdings die Geschäftsleute von morgen. Bei jeder
Gelegenheit ziehen sie ihre Spielcomputer, die Game Boys, aus der Tasche, stecken
die Köpfe zusammen und feilschen. Es geht
um heiße Ware, in den Game Boys ist sie
gespeichert.
Die Kinder handeln mit Fabelwesen aus
eigener Aufzucht. Pelzige Springteufel kommen hier auf den Markt, gestachelte Greifvögel und rauflustige Knoblauchknollen.
Wenn zwei Handelspartner sich einig sind,
stöpseln sie ihre Game Boys zusammen,
und schon schlüpfen ein paar digitale Kreaturen von einem Gerät ins andere.
Die Tiere hausen in einem Spiel namens
„Pokémon“, das die Firma Nintendo für
ihren Spielcomputer herausgebracht hat.
In Japan und den USA ist es zu einem
gewaltigen Erfolg geworden, mehr als
15 Millionen dieser Game-BoyModule wurden bereits verkauft.
Jetzt soll Deutschland von den
Pokémons heimgesucht werden.
Auch hierzulande könnte
das Spiel zum Renner werden. Kinder lieben es,
durch die Fabelwelt der
Pokémons zu schwei-
fen. Ihre Aufgabe besteht darin, die
wunderlichen Tiere aufzustöbern, die sich
dort im Terrain versteckt halten. Ist ein
Pokémon erst einmal gefangen, gehorcht es
dem Spieler und lässt sich trainieren für die
Jagd auf die eigenen Artgenossen.
150 Tierarten bevölkern die Spielwelt –
ein wimmelndes Bestiarium, das die Jäger
über Wochen auf Trab hält. Das Spiel ist zu
Ende, wenn von jeder Spezies ein Exemplar
gefangen wurde. Allerdings kommen manche Arten überaus selten vor, und kein Modul enthält alle Pokémons auf einmal. Wer
seine Sammlung komplettieren will, muss
also mit anderen Spielern Handel treiben.
Diese hübsche Idee hat eine regelrechte
Kinder-Ökonomie hervorgebracht. Knirpse
kalkulieren Tauschwerte und hecken Erwerbsstrategien aus. Fleißige Spieler
trainieren ganze Herden von
Pokémons eigens für den
Markt, zumal hie
T. EVERKE
P. FRISCHMUTH / ARGUS
Game Boy mit
Pokémon-Spiel
und da sogar Bargeld winkt. Ein seltenes,
besonders kampfstarkes Untier kann leicht
fünf Dollar erlösen.
Die Gewinner sind, wie im wahren
Geschäftsleben, nicht immer die Guten.
Gerissenen Kleintierjägern fällt es leicht,
einem Erstklässler die Allerweltsratte
Rattata für den seltenen Donnervogel Zapdos anzudrehen – wenn der Betrug auffliegt, fließen Tränen. Manche Schulen in
den USA haben den virtuellen Viehhandel
deshalb schon vom Gelände verbannt.
An diesem Spiel entzünden sich leicht
die Leidenschaften; es geht nicht nur um
Waren. In den besten Pokémons stecken
viele Stunden Training. Die Spieler lassen
ihre gezähmten Tiere, um deren Kampfkraft zu steigern, möglichst oft gegen freilaufende Artgenossen antreten. Dann bewerfen die Unholde einander symbolisch
mit Schlafpulver, Giftstacheln oder Donnerkeilen.
In Wirklichkeit aber duellieren sich nur
zwei Punktetabellen. Der Wert jedes
Pokémons bemisst sich nach Leistungspunkten, die bestimmen, wie viel es austeilen und einstecken kann, welche
Kampftechniken es beherrscht und wie
gut es darin ist. Ein erfolgreicher Angriff
vermindert die Kampfkraft des Gegners
und erhöht die eigene.
Mit einem Wort: Dieses Spiel hat alles,
was Kinder sonst hassen. Sie müssen ständig kopfrechnen, um die Punktekonten ihrer Menagerie möglichst effektiv hoch zu
treiben. Für das umfangreiche Regelwerk
ist ein Handbuch dringend erforderlich.
Aber nicht einmal das schreckt ab. Zahlreiche Bücher zum Spiel sind bereits er-
US-Spielzeugladen mit Pokémon-Artikeln, Werbeautos
176
T. EVERKE
T. EV ER KE
M. ZERBY / STAR TRIBUNE
dacht waren, dämmerte ohnehin, so schien es, der Vergessenheit entgegen. Die neuesten
Computerspiele prunkten mit
kinoreifen Filmsequenzen und
gleißenden Effekten. Der Game
Boy nahm sich daneben dürftig
aus: ein piepsendes Billigteil mit
einem Monitor von der Größe
einer Wohlfahrtsmarke.
Aber langsam eroberten sich
die Pokémons eine Gemeinde,
und noch im selben Jahr kam
das Getier mit einer Zeichentrickserie ins Fernsehen. Die TVProduktionsfirma war entzückt
von der Fülle der 150 Charaktere. Ein solches Ensemble verhieß
Stoff für ungezählte Episoden.
Diese Fernsehserie flankierte im
Herbst vergangenen Jahres die
Einführung der Pokémons auf
dem US-Markt.
Allmählich erkannte der Spielegigant Nintendo, welcher
Reichtum in der Horde seiner
Untiere steckte: ein Genpool,
Nintendo-Verkaufsshow*: 44 000 Besucher angelockt
der womöglich imstande war,
schienen, und das „Official Pokémon immer neue Produkte und Spiele hervorHandbook“ hält sich, man ahnt es, seit Wo- zubringen. Warum sollte die Idee auf den
Computer beschränkt bleiben?
chen in den US-Bestsellerlisten.
Der entscheidende Schritt zur TotalverDer zuständigen Industrie ist die Begeisterung nicht entgangen. Es gibt inzwischen marktung gelang, als die Pokémon-SamFruchtriegel, Poster und Plüschtiere zum melkarten auf den
Spiel, ferner Comics, Bettwäsche und Markt kamen. Damit
Videos – insgesamt rund 1500 Produkte, können die Kinder
die den kindlichen Furor des Habenwollens ähnliche Duelle ausanstacheln. Der Gesamtumsatz mit Li- tragen wie in der
zenzgeschäften liegt mittlerweile bei neun elektronischen Welt
Milliarden Mark. Pokémons begegnen den des Game Boy – aber
Kindern im Imbiss und im Bekleidungsla- auf ganz altmodische
den und bald auch im Kino. Mitte Novem- Weise in einem Karber startet in den USA ein Zeichentrickfilm tenspiel.
Die Karten zeigen
mit einem gentechnisch hochgezüchteten
Pokémondie Fabeltiere mitsamt Spielkarten
Super-Pokémon in der Hauptrolle.
Einen solchen Rummel hätte noch vor ihren Kampfwerten. Zudrei Jahren niemand für möglich gehalten. satzkarten, gleichsam die Joker im Spiel,
Anfang 1996 kam das Spiel in Japan auf stehen für vielerlei Angriffstechniken und
den Markt – es erregte keinerlei Aufsehen. magische Winkelzüge bereit. Wenn ein
Die kleine Firma Game Freak hatte es Spieler angreift, zieht er sein Pokémon mitmit bescheidenem Budget produziert. Und samt den passenden Zusatzkarten. Erweist
der Game Boy, für den die Pokémons ge- er sich als überlegen, wird das Pokémon
des Gegners als geschwächt markiert.
Die Kinder begriffen schnell, welche
Vorteile das bot: Plötzlich war für das Spiel
gar kein Computer mehr nötig. Auch das
geliebte Handeln und Feilschen ging mit
den Karten ebenso gut, ja sogar besser,
denn es war nicht mehr nötig, mit Game
Boy und Kabel zu hantieren. Damit übersprang die Epidemie die Gattungsschranke.
Inzwischen sind weltweit über 500 Millionen Pokémon-Karten in Umlauf. Die
Kinder schleppen sie in dicken Sammelmappen zum Tausch mit sich herum; manche erledigen ihre Transaktionen auch
von Nintendo: Kampf der Knoblauchknollen
* Im Einkaufszentrum Mall of America in Bloomington,
Minnesota.
d e r
s p i e g e l
3 2 / 1 9 9 9
schon einfach per Post. Tauschbörsen
im Internet ermöglichen den Handel in
globalem Maßstab. Allein das OnlineAuktionshaus eBay hat mehr als 10 000 Pokémon-Artikel von Privatleuten und Händlern im Angebot. Karten aller Preisklassen
sind hier zu ersteigern, seltene Exemplare
wechseln für 50 Dollar oder mehr den Besitzer. Die Post liefert sie überall hin.
Den Großteil der Kundschaft machen
Erwachsene aus, die Karten für ihre Kinder
suchen oder gar selbst von der Sammelwut
erfasst worden sind. Manche der Bieter
sind aber auch Händler, die sich anders
nicht mehr eindecken können.
Die US-Firma Wizards of the Coast, die
das Kartenspiel produziert, schürt die
Nachfrage, indem sie die Ware knapp hält.
Vor sechs Jahren hat sie das legendäre Spiel
„Magic: The Gathering“ auf den Markt gebracht. „Magic“ besteht mittlerweile aus
mehr als 4000 verschiedenen Karten; immer noch kommen neue hinzu. Viele Motive werden nur in geringer Auflage oder
als Sondereditionen gedruckt, die bald wieder vom Markt verschwinden. Es ist eine
Marter, die niemals endet. Wer nicht nachkauft, kann gegen die neuesten Wunderkarten bald kaum mehr bestehen.
Das ist der Kapitalismus als Kartenspiel.
Mit den neuen Pokémon-Serien erschließt er sich nun auch den Kindern. Als Erstes lernen sie oft
genug den Ruf nach Subventionen. Ein kampfstarkes Sortiment von
Pokémon-Karten kostet
leicht
200
Dollar. Da müssen die Eltern
ran.
In den USA strömen die Kleinen nun
mit Mom und Dad zu den
Verkaufsshows, die Nintendo veranstaltet. Mitte Juli, zum
Auftakt einer Werbetour durch 19 Städte,
kamen mehr als 44 000 Besucher in ein riesiges Einkaufszentrum bei Minneapolis.
In Deutschland beginnt der Zirkus in
knapp drei Wochen auf der Berliner Funkausstellung. Ab September sendet dann
RTL 2 im Nachmittagsprogramm eine
Pokémon-Zeichentrickserie, in der es jede
Menge Tipps zum Spiel gibt. Im Oktober,
wenn die Kinder konditioniert sind, kommen die ersten Game-Boy-Module auf den
Markt, im November folgen die Karten.
Noch zwei bis drei Jahre hofft Nintendo,
die weltweite Begeisterung nähren zu können – eine Ewigkeit in der Welt der Computerspiele, wo die meisten Sensationen
schon nach kurzer Zeit verglüht sind.
Allerdings hat die Spielefirma offenbar
Zweifel, ob die 150 Pokémons es allein
so lange packen werden. Die Tüftler von
Game Freak sind schon wieder am
Werk. Ihr Auftrag: Erschafft 120 neue Fabeltiere.
Manfred Dworschak
177
Wissenschaft
selten“, lautet ein Credo der Medizinerzunft. Mit diesem Satz im Kopf, so
MEDIZIN
Schwarz, hätte die richtige Diagnose
schneller gestellt werden können.
Ebola ist in der Elfenbeinküste nur ein
einziges Mal aufgetreten, als sich 1994 eine
Schweizer Forscherin bei der Sektion von
Affen infizierte. Sie wurde in der Schweiz
Der tragische Gelbfieber-Tod eines Kameramanns weckt
behandelt und geheilt. Das von Moskitos
Zweifel am deutschen Medizinbetrieb: Sind Ärzte hinreichend
übertragene Gelbfieber hingegen kommt
in Westafrika häufig vor – vor allem da, wo
vorbereitet für die Bekämpfung eingeschleppter Seuchen?
Affen leben. Die Haut des
Affen-Filmers Ullmann war
enn du das Licht des zehnten
übersät von Mückenstichen.
Tages erblickst“, so beschreibt
Während Ullmann am
ein afrikanisches Sprichwort die
Dienstagabend in die SeuKrankheit, „hast du es geschafft.“ Olaf
chenabteilung 59 des Berliner
Ullmann, 40, überlebte das Gelbfieber nur
Virchow-Klinikums geflogen
halb so lang.
wurde, räumte Stationsleiter
Mehr als zwei Wochen war der KameraThomas Klotzkowski die Stamann mit seiner Frau Kordula durch den
tion leer. Er folgte hierbei dem
Regenwald der Elfenbeinküste gezogen, um
oft trainierten Notfall-Plan.
Tierfilme für Kinder zu drehen. Am SonnLehrbuchmäßig wurde der
tag vorletzter Woche kehrte er mit heißer
Sterbenskranke isoliert – die
Stirn in sein Haus in Frankfurt (Oder)
Maßnahme war geboten, weil
zurück. Fünf Tage später war er tot. Er starb
Ebola- oder Lassa-Verdacht
isoliert, aber im Zentrum des Medienbestand. Bei Gelbfieber hingeinteresses, auf grausige Weise – die Leber
gen ist eine Isolation unnötig:
aufgelöst, die Nieren zerfetzt, das Gehirn
Für geimpfte Ärzte und Pfleger
entzündet; aus seinen Adern leckte Blut.
hätte keine Gefahr bestanden.
Mit dem Tod Ullmanns ist eine an HysUllmann lag nun in einem
terie reiche Woche in Deutschland zu Ende
luftdichten Zelt, seine Atemluft
gegangen. Seit Mittwoch früh, als die
wurde von Viren gereinigt.Ärz„Bild“-Zeitung den „Ebola-Alarm!“ auf
te und Pfleger fassten ihn nicht
dem Titel trug, fürchteten viele das
an: Sie hantierten mit armlanSchlimmste: dass an Bord eines Flugzeugs
gen Plastikhandschuhen, als arein Killerkeim eingedrungen war, der schon
beiteten sie an einem nukleaMitreisende und Angehörige befallen hatte.
ren Brennstab. Dem Patienten
Ein Seuchen-GAU schien greifbar nahe.
Gelbfieber-Opfer Ullmann: Tödliche Stiche auf der Haut
ging es immer schlechter.
Diesmal blieb die Katastrophe aus, eine
Am Dienstagabend, um 23.30 Uhr, trafen
Tragödie war es trotzdem. Ullmann litt an vorbereitet sind auf den Ausbruch exotiGelbfieber in seiner schlimmsten Form. Er scher Seuchen. Es fehlt an Fachwissen, im Hamburger Tropeninstitut die Blutprohatte keine Chance, die Krankheit zu über- Gerät und Personal, um eingeschleppte ben von Ullmann ein. Nach Erregern von
Lassa, Ebola und Marburg sollte der Viroleben. Eine Therapie gibt es nicht, erfah- Viren wirksam zu bekämpfen.
Mit ihrem Anfangsverdacht „hämorrha- loge Herbert Schmitz fahnden. „Auch ich
rene Ärzte auch nicht: Nie zuvor seit Beginn der Seuchenstatistik 1946 ist Gelbfie- gisches Fieber“ lagen die Ärzte in Frankfurt habe an Ebola geglaubt“, sagt er. Insge(Oder) noch richtig. Unter diesen Oberbe- samt testete er ein Dutzend möglicher
ber in Deutschland gemeldet worden.
Ullmanns Schicksal macht deutlich, dass griff fallen die grausamsten Seuchen dieser Viren durch, der Sicherheit halber gleich
die deutschen Mediziner nur unzureichend Welt – Ebola, Lassa, Krim-Kongo, Marburg zweimal, denn eine falsche Entwarnung
und eben auch Gelbfieber. Ullmanns Ärz- hätte bei Ebola, das von Mensch zu Mensch
te hatten die Möglichkeit einer Gelbfieber- übertragen wird, entsetzliche Folgen haErkrankung jedoch rasch verworfen, denn ben können.
sowohl Ullmann als auch seine Frau gaben
Erst Donnerstagabend kam Schmitz auf
an, dagegen geimpft zu sein.
die richtige Fährte – Gelbfieber. „Das ErAllzu unkritisch, so zeigte sich, sind die gebnis hätte man früher erwartet“, moMediziner mit dieser Auskunft umgegan- niert der Würzburger Mediziner Schwarz.
gen. Sie hatten es versäumt, sich Ullmanns In den Labors der amerikanischen Centers
Impfpass vorlegen zu lassen, der in der Ru- of Disease Control (CDC) in Atlanta, der
brik Gelbfieber gar keinen Eintrag enthielt. weltweit führenden Seuchenpolizei, hätte
Offenbar, glaubt der Würzburger Viren-Ex- das richtige Resultat, so Schwarz, kaum 24
perte Tino Schwarz, hatten die Ullmanns Stunden auf sich warten lassen.
„Gelbfieber mit Gelbsucht verwechselt“.
Schmitz hingegen sagt, er habe alles
Von nun an zog niemand mehr Ull- Mögliche getan: „Wir haben drei Leute,
manns tatsächliche Erkrankung in Be- die CDC hat 300.“ Rund um die Uhr liefen
tracht. „Viel zu früh“, sagt der Tübinger in Hamburg die Analysemaschinen. Weil
Tropenmediziner Jürgen Knobloch, „wur- Berliner Labors sich zudem weigerten,
de hier ‚Ebola‘ geschrien“; viel zu früh Blutbilder des vermeintlich Ebola-Kranauch sei die Presse informiert worden.
ken anzufertigen, hat Schmitz in seinem
Dabei war Gelbfieber von Beginn an Hochsicherheitslabor diese Arbeit auch
Isolierzelt im Berliner Virchow-Klinikum
„Viel zu früh wurde hier Ebola geschrien“ nahe liegend. „Häufig ist häufig, selten ist noch übernommen.
Falscher Verdacht
BZ - BERLIN
P. PLEUL
W
178
d e r
s p i e g e l
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DPA
Als die Diagnose eintraf, lag Ullmann
bereits im Koma. Einen Moment überlegten die Mediziner, ob sie ihm eine
neue Leber transplantieren sollten. Sie
verwarfen die Idee, als er auch noch eine
Gehirnhautentzündung bekam – eine
typische Komplikation bei Gelbfieber.
Ullmann starb am Freitagmorgen um
7.24 Uhr.
Beim nächsten Seuchenalarm könnten
viele sterben. Immer massiver drängen Viren aus den Tropen bis nach Rügen
oder Passau – Impf-Leichtsinn und LastMinute-Reisen bahnen ihnen den Weg,
dazu eine Reiselust, die immer mehr
Deutsche bis in den Dschungel, in die
Wüste oder in viel frequentierte Bordelle führt.
Viren entern das Land auch in den Bäuchen von Flugzeugen, in Frachtlieferungen
aus Übersee oder im Exoten-Obst. Über 30
neue Viren sind in den letzten Jahrzehnten
neu aufgetaucht (darunter der weltweit
grassierende Aids-Erreger HIV).
Vorbereitet ist Deutschland auf den Viren-Ernstfall nicht. Es mangelt an Expertise: Tropenmedizin wird kaum gelehrt an
deutschen Unis, Medizinstudenten kommen mit dem Fach nur selten in Kontakt;
schon Malaria-Fälle werden häufig zu spät
erkannt. Infektionskrankheiten, durch Impfungen und Antibiotika
totgeglaubt, sind fälschlich als Bedrohung vergessen worden. In ganz
Deutschland gibt es nur
zwei Hochsicherheitslabore, wo gefährliche Viren
untersucht werden können. Beide – in Hamburg
und Marburg – sind mit
Personal und Gerät nur
ungenügend ausgestattet.
Manfred Dietrich, TroDietrich
penmediziner am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut, hält deshalb die Errichtung einer speziellen „Tropical Task Force“ für unverzichtbar. Ihm
schwebt ein Team von erfahrenen Tropenmedizinern vor, die ähnlich wie die Epidemiologen des Berliner Robert-Koch-Instituts innerhalb weniger Stunden überall in
Deutschland per Hubschrauber samt Ausstattung landen könnten.
„Wir wären in diesem Fall gern in Frankfurt an der Oder dabei gewesen“, sagt Dietrich. Die Isolation von Ullmann hätte sich
dann schnell erübrigt, „denn wir hätten
die Diagnosen ausgeweitet“. Die große
Angst in der Bevölkerung wäre vermieden
worden – Ullmanns Tod nicht.
Der Hamburger Viren-Fahnder Schmitz
hat seine Maschinen unterdessen erneut
anwerfen müssen. Am Freitag vergangener
Woche wurden ihm Blutproben aus Frankreich geliefert. Ein Mann, der in Westafrika war, liegt dort mit Fieber und Blutungen im Krankenhaus. Der Verdacht:
Lassa.
Marco Evers
d e r
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L U F T FA H R T
Erst landen,
dann löschen
Der Luftfahrtkonzern Boeing
zieht Lehren aus dem
Swissair-Absturz: Bei Rauch und
Feuer sollen Piloten ihr
Flugzeug schnell herunterbringen.
A
SYGMA
ls Swissair-Flug 111 im September
vergangenen Jahres auf der Route
von New York nach Genf plötzlich
Rauch im Cockpit meldete, begann für die
Piloten Urs Zimmermann und Stephan
Loew ein verzweifelter Kampf. Hoch über
dem Atlantik, gut 100 Kilometer südwestlich der kanadischen Stadt Halifax, versuchte die Crew die Quelle des bedrohlichen Qualms zu lokalisieren.
Elf Minuten nach dem ersten Notsignal
fiel die Bordelektronik aus. Sechs Minuten
darauf stürzte das Großraumflugzeug vom
Typ MD-11 mit 229 Menschen an Bord ins
nachtdunkle Meer.
Der „tragische Absturz“, so erklärt
Boeing jetzt den Kunden des Flugzeugtyps
MD-11 in einem vertraulichen Bulletin
I. WAGNER
Bergung von Swissair-111-Wrackteilen: „Rauch ist NICHT normal“
Brandübung für Flugzeug-Crews
Verhängnisvoller Drill?
(MD-11-99-04), habe den Luftfahrtkonzern
veranlasst, noch einmal alle Prozeduren
für Rauch/Feuer-Notfälle an Bord zu überprüfen. Leider gebe es „keine Ideallösung“
für solche Notfälle, schreibt Boeing-Cheftestpilot Tom Melody, der Verfasser des Berichts. Doch dann stellt er den Piloten die
rhetorische Frage, wo sie sich bei einem
Brand an Bord wohl besser aufgehoben
fühlten: „am Boden oder in der Luft“?
Ganz vorsichtig geht Boeing damit offenbar auf Distanz zu den Swissair-Piloten, die versuchten, die Quelle der Rauchentwicklung in der Luft zu bekämpfen.
Bis heute ist die Untersuchung des Unglücks nicht abgeschlossen. Als sicher gilt,
180
dass ein Kabelbrand das Desaster auslöste.
Trotz des elektronischen Blackouts gehorchte der Jet wohl bis zuletzt den Ruderbefehlen der Crew. Denn die wichtigsten
Steuerelemente werden nicht elektrisch,
sondern mechanisch betätigt. Zum Verhängnis wurde Flug SR 111, dass die Piloten
„sich genauso verhalten haben, wie sie es
gelernt hatten“, so ein ehemaliger Lufthansa-Jumbopilot, „und das war falsch“.
Die Swissair-Crew hätte genug Zeit gehabt, die rettende Piste von Halifax im
Notsinkflug direkt zu erreichen. Doch Zimmermann und Loew entschieden sich für
einen normalen Sinkflug. Um die zu große
Höhe für einen Direktanflug zu verringern,
drehten sie deshalb von Halifax weg auf
den Atlantik hinaus und verloren dadurch
wertvolle Minuten.
Die Piloten kündigten dem Tower zudem an, Treibstoff abzulassen, um das hohe
Gewicht der Maschine zu reduzieren. Eine
bei einem vorzeitigen Landeanflug übliche, aber in lebensbedrohenden Situationen unnötige Maßnahme: „Boeing“, heißt
es in dem MD-11-Bulletin, „hat demonstriert, das Landungen mit dem maximalen
Startgewicht“ ohne Strukturschäden der
Maschine möglich sind.
Zimmermann und Loew folgten einem
Drill, den sie dutzendfach im Flugsimulator geübt und erfolgreich gemeistert hatten. Im Sinkflug griffen sie, wie die Auswertung der Cockpitgeräusche und Gespräche belegt, zum sogenannten Rauchschalter („Smoke Switch“), um die drei
Hauptstromkreise der MD-11 nacheinander ab- und wieder anzuschalten. Auf diese Weise hofften sie, die Rauchquelle zu
isolieren und der unheimlichen Bedrohung
Herr zu werden.
„Abhängig von der Art und dem Ausmaß der Rauchentwicklung“, warnt nun
das Boeing-Bulletin, könne es „30 Minuten
und länger dauern“, die erforderlichen
Notfallmaßnahmen auszuführen. Die Crew
„dürfe dabei nicht zu schnell zwischen den
d e r
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Schalterstellungen wählen, weil sonst eine
Rauchquelle unentdeckt bleiben könnte“.
Wie Piloten sich künftig in einem ähnlichen Katastrophenfall verhalten sollen,
darauf bleibt Boeing eine klare Antwort
schuldig. Leider sei „die Liste der Variablen
zu groß“, bedauert der MD-11-Hersteller,
um ein eindeutiges Procedere vorzugeben.
Es bleibe dem Kapitän überlassen, die „optimale Handlungsweise“ zu finden.
Bislang lehrten Hersteller wie Boeing
und Airbus den Piloten, in Notfällen
zunächst einmal das jeweilige Problem zu
analysieren und den Flug solange wie möglich fortzusetzen. Die meisten technischen
Notlagen, so das gängige Hersteller-Credo, seien mit Hilfe moderner Flugtechnik
zu meistern. Entsprechend gestaltet sich
der Piloten-Drill: Sie werden trainiert, eine
Notlage zu analysieren und sodann Gegenmaßnahmen einzuleiten. Erst dann
wird eine Notlandung erwogen.
Das Unglück bei Halifax erfordert nach
Einschätzung von Experten nun eine Abkehr von diesem Prinzip. Die Lehre aus
dem MD-11-Absturz, meint ein ehemaliger Airline-Sicherheitspilot, müsse lauten:
„Ist ein Flughafen in erreichbarer Nähe,
dann nichts wie runter.“
Zu dieser Einsicht kommt letztlich
auch Boeing. „Eines ist sicher“, resümiert
Boeing-Testpilot Melody, „Rauch ist
NICHT normal.“ Daher sollten Piloten in
„allen Fällen, wo Rauch entdeckt wurde
und die Quelle nicht klar geortet und behoben werden kann“, ihren Jet „as soon as
possible“ landen.
Die gleiche Empfehlung gelte „in allen
Fällen, wo Feuer an Bord entdeckt wird,
oder eine elektrische Fehlfunktion auftritt
und deren Auswirkungen auf andere Bordsysteme von der Crew nicht analysiert werden können“. Nachdem „die Landeentscheidung getroffen wurde“, solle die Crew
die Maschine im „Notsinkflug“ auf die
nächstgelegene Piste drücken.
Tim van Beveren, Ulrich Jaeger
Wissenschaft
TIERE
Sauberer als
der Mensch
FOTOS: I. GAWRILOW / RUFA-PRESS
Eine Moskauer Biologin entwickelt Methoden, um Schaben
auszurotten. Dennoch mag
die Giftmischerin ihre Opfer.
B
ei ihren Experimenten hat Nina Alescho, 54, schon über tausendmal
getötet. Leicht ist es der Biologin nie
gefallen. Vor jedem neuen Versuch spricht
sie deshalb mit ihren Opfern und entschuldigt sich: „Ich bin froh, dass ich sie
nicht mit meinen eigenen Händen umbringen muss.“
Seit 27 Jahren mischt Alescho im Moskauer Forschungsinstitut für Desinfektion
immer neue Giftcocktails, mit denen Schaben ausgerottet werden sollen. Längst kann
sie auf den ersten Blick Männlein und
Weiblein voneinander unterscheiden oder
erkennen, wie alt das jeweilige Krabbeltier ist. Sie hat auch gelernt, dass Schaben
mit Vorliebe Quark, Bananen oder Brot
fressen, gelegentlich sogar mal ein bisschen
Watte. Auch hat sie entdeckt, dass den Allesfressern zu viel Wurst und Fleisch auf
Dauer nicht bekommt. Und in all den Jahren des Beobachtens hat Alescho die Tiere in ihr Herz geschlossen.
„Schauen Sie doch nur, was für ein
Schönling, was für ein Prachtkerl“,
schwärmt sie, während eine fingernagelgroße Schabe über ihre Hand kriecht.
„Diese kleinen Kerle leben seit vielen Millionen Jahren auf der Erde“, sagt Alescho.
„Sie haben alles überstanden: Eiszeiten,
Hitzeperioden, Erdbeben – wie kann ich
sie da nicht achten und lieben?“
Bisher haben die Biologen 4000 verschiedene Schabenarten identifiziert, 10
davon leben mit dem Menschen und von
seinen Abfällen – vor allem für diese interessiert sich die Moskauer Forscherin. In
einer Kammer neben ihrem Büro züchtet
die zierliche Dame ihre Insekten, angefangen bei der Deutschen Schabe („Blattella
germanica“), bis zur sieben Zentimeter langen Madagaskar-Schabe, deren Panzer wie
polierter Nussbaum schimmert. Sie alle leben in kniehohen Einmachgläsern, in welche die fürsorgliche Forscherin gefaltete
Pappstreifen gelegt hat: „Darunter können
sich die lichtscheuen Tiere verstecken.
Außerdem können sie auf der Pappe nach
oben spazieren – sonst langweilen sie sich
zu Tode.“
Sobald Alescho den Raum betritt, hebt
ein großes Rascheln an, die Luft ist warm
und riecht nach ungeputzter Wohnung.
„So duften Schaben nun mal“, verteidigt
die Forscherin ihre Lieblinge, im Übrigen
Biologin Alescho mit Schaben: „Ekelt sich etwa ein Chirurg?“
Forschungsobjekt Schabe
„Was für ein Prachtkerl!“
seien sie „sehr saubere Tierchen. Jedenfalls sauberer als der Mensch. Sie putzen
sich ununterbrochen mit ihrem eigenen
Speichel.“
Leider nützt das nicht sehr viel: Müllschlucker und Badezimmer bedeuten
für Schaben nun einmal das Paradies,
und Kot aller Art ist für sie ein wahrer
Leckerbissen. Die flachen Krabbler gelten als Allergieauslöser und Träger von
Krankheitskeimen wie Salmonellen oder
Diphtheriebakterien.
Zum Schutz der menschlichen Gesundheit sucht Alescho deshalb Verfahren, um
die Schaben auszumerzen. So hat sie eine
Falle mit einer hormonähnlichen Substanz
entwickelt, die den Häutungsprozess der
Larven stört. Die jungen Schaben können
kein Chitin für ihren Panzer ausbilden und
gehen jämmerlich zu Grunde. Diese Tötungsmethode haben Alescho und das Moskauer Institut patentieren lassen.
Aber am Ziel sind die Schädlingskiller
damit noch lange nicht. Die Schaben sind
wahre Meister darin, gegen Insektizide
resistent zu werden.
Also setzt Alescho immer wieder aufs
Neue ihre Tiere in glänzende Metallwannen, wirft ihnen Brocken voller Gift hin
und beobachtet, was passiert: Kommt das
d e r
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Versuchstier anmarschiert, oder wird es
durch den Geruch des Tötungsmittels abgeschreckt? Schmeckt der Köder so gut,
dass die Schabe auch tatsächlich eine tödliche Dosis davon frisst? Bleibt das Lockmittel auch lange genug anziehend, oder
zerfällt es, wenn es zu lange mit Sauerstoff
und Feuchtigkeit in Berührung kommt?
Mindestens drei Monate lang muss eine
Falle ihre Wirkung entfalten, bevor das
Moskauer Institut sie zur serienmäßigen
Produktion freigibt.
Gleichwohl glaubt die Giftmischerin
nicht, dass die Kerbtiere wirklich besiegt
werden können. Das beweise schon deren
Fortpflanzungstempo; so vermag ein einziges Paar der Deutschen Schabe unter
idealen Lebensbedingungen in einem halben Jahr bis zu 20 000 Kinder und Enkel zu
produzieren.
„Wir Menschen denken immer, wir seien die Krone der Schöpfung“, sagt die Forscherin. „Alles Unsinn. Ich glaube, die Natur hat uns die Schaben gegeben, damit
wir nicht allzu hochmütig werden.“
Schon als Kind habe sie nichts spannender gefunden, erzählt Alescho, als herauszufinden, wie aus einem glitschigen Ei irgendwann ein Frosch wird, weshalb
Schmetterlinge ihre Köpfe in Blumen
stecken und wie die Ameisen sich verständigen. Da war es nur konsequent, Biologie
zu studieren. Sie spezialisierte sich auf die
Insektenkunde und erforschte schließlich
die Wirkung von verschiedenen Insektiziden auf Fliegen. Von da an war es nur noch
ein kleiner Schritt zu den Schaben.
Aber hat sie sich niemals geekelt? „Nein,
nie!“ erklärt Nina Alescho mit fester Stimme. „Ekelt sich etwa ein Chirurg, wenn er
in menschlichen Eingeweiden herumgräbt?
Man muss doch seine Arbeit lieben!“
Dennoch ist sie froh, wenn sie abends
nach Hause gehen kann in ihre, wie sie versichert, schabenfreie Wohnung – die einzige im ganzen Haus.
Irina Schedrowa
181
Sport
FUSSBALL
„Auf dem Pferdemarkt“
Vor der neuen Saison hat die Bundesliga erstmals mehr als 200 Millionen Mark in
neue Spieler investiert. Noch nie kassierten die Vermittler
so viel Provision wie diesmal – und noch nie arbeiteten sie so trickreich für ihr Geld.
Neben Paulinho, den er ohne Erfolg per
Fax in Deutschland anbot, führte der Kaiserslauterer Hans Lamberz auch den Brasilianer Tanielton im Sortiment. „Ein Mann
mit Power! Ungeheuer der Antritt“, hieß es
über ihn, als handele es sich um eine Wurfsendung für Energiedrinks – außerdem sei
er „leicht zu lenken“.
Als es das vermeintliche Schnäppchen
ins Vorstellungstraining beim Zweitligaclub
Fortuna Köln geschafft hatte, kam dessen
Kotrainer Ralf Minge zu einem eher verheerenden Urteil: „Ein Volkssportler.“
Wenn die Fußball-Bundesliga am kommenden Wochenende in ihre neue Saison
geht, hat sie mal wieder ihre eigenen Rekorde gebrochen. Mehr als 200 Millionen
Mark, so viel wie noch nie, investierten die
18 Vereine der Ersten Liga in neues Perso-
nal. Und noch nie war dabei so augenfällig, dass die Vermittler im Hintergrund für
solche Geschäfte unentbehrlich geworden
sind. Nie verdienten sie so viel Geld, nie
war ihr Wirken so trickreich und verwinkelt, und nie kamen sie in so großer Zahl
daher. Gerhard Mayer-Vorfelder, dem Präsidenten des VfB Stuttgart und ehemaligen Minister, kommt das Gedränge am Verhandlungstisch bisweilen vor, „als ginge es
um einen Staatsvertrag“.
Mit der Zahl der Vermittler, Kleinhändler und Fußballgrossisten ist keineswegs
die Qualität der Angebote gestiegen. 45
von weltweit 489 gemeldeten Spieleragenten haben für Deutschland die Lizenz zum
* Beim Ligapokalspiel gegen Bayern München (0:1)
am 14. Juli in Augsburg.
Top-Investor Borussia Dortmund*
41,5 Millionen Mark zur Verstärkung
GES
D
er junge Mann mit dem „enormen
Aktionsradius“ muss eine richtige
Granate sein. Nur weiß das bisher
noch keiner. Selbst unter Wasser würde er
vermutlich noch leichtfüßig dribbeln – so
jedenfalls liest sich ein Exposé, das sein
Berater neuerdings wahllos über den deutschen Markt verschickt.
Paulo Henrique Barbosa alias „Paulinho“, ein „Konditionswunder“, obendrein mit brasilianischem und portugiesischem Pass, wird in dem Schriftstück als
„echter Reißer ohne jegliche Arroganz“
gerühmt – besondere Vorzüge: „Bescheiden, religiös, verheiratet“. Dass ein solches
Jahrhunderttalent bis jetzt unerkannt in
der ersten Liga Ecuadors bei Deportivo
Quevedo schlummerte, geschah laut Katalog „auf eigenen Wunsch zur Abhärtung“.
A. HASSENSTEIN / BONGARTS
Vermitteln vom Weltverband Fifa erworben. Die Liste umfasst ehemalige Kickprofis, Pressesprecher, je einen Grill-Gastronomen und Schmuckwarenproduzenten.
Darüber hinaus bewegen sich nach
Schätzungen des Berliner Anwalts und
Agenten Uwe Kathmann „rund 500 bis
1000 Illegale“ auf dem Markt. Die Finessen
sind in der Branche bekannt. Mit den üblicherweise unverlangt eingesandten Videos, weiß Bayer Leverkusens Manager
Reiner Calmund, „machen die aus jeder
Pflaume einen Weltklassemann“.
Das Millionenspiel Fußball mit seinen explodierenden Spielergehältern weckt Be-
L. BAADER
Ligachef Mayer-Vorfelder, Berater Becker, Manager Calmund: „Keine Messdienerausbildung“
Spieler Riedle, Berater Vöge
gehrlichkeiten. Honorare von bis zu zwölf
Prozent des Jahresbruttogehalts sind bei
Vertragsabschluss des Spielers gemäß deutscher Arbeitsvermittlerverordnung erlaubt.
Der Ludwigsburger Anwalt und Szenekenner Christoph Schickhardt meint jedoch
mehr zu wissen: Erstmals in der Bundesliga
erreichten Vermittlerprovisionen für einzelne Transfers nach seinen Schätzungen
diesen Sommer „die Millionengrenze“. Und
manchmal würden von Agenten schon Gebühren „nur fürs Kommen“ berechnet.
Manch einer hat der guten Verdienstmöglichkeiten wegen eine Umschulung auf
sich genommen. Einen der spektakulärsten
Clubwechsel dieser Transferperiode, den
des Jungnationalspielers Michael Ballack
vom 1. FC Kaiserslautern nach Leverkusen,
fädelte in Michael Becker ein Vereinsmitglied der Pfälzer ein. Für die einträglichere
Vermittlertätigkeit ließ sich der Berater und
Anwalt als Beamter beim Europäischen
Rechnungshof beurlauben.
Im fremden Gewerbe hofft auch der Betriebswirt Thomas Steiner im hessischen
Haiger auf beschleunigten Geschäftsgang.
Der Vorstandsvorsitzende einer Unternehmensberatungsgesellschaft mit sechs
Angestellten – „Doktor Steiner, wenn Sie
es genau haben wollen“ – hat derzeit drei
Spieler aus der algerischen Liga sowie fünf
Tschechen im Angebot.
Quereinsteiger Steiner, 33, will „50 000
bis 100 000 Mark“ in Sprachkurse, Kost und
Logis für seine mobilen Anlageobjekte investiert haben und ahnt, „dass irgendwann
mal ein Kracher dabei ist“. Der Vermitt-
R. DAHMEN
Unregelmäßigkeiten eingeräumt
Vermittler Figer
Steuergünstig umgeleitet
lungsnovize muss jetzt nur noch Acht geben, dass er sich in der unübersichtlichen
Welt des Fußballs nicht verirrt. So will er
Kontakte zu „führenden österreichischen
Vereinen“ geknüpft haben – nämlich „Luzern und Basel“.
Im internationalen Spielerverkehr ist mit
Komplikationen immer zu rechnen. „Ganze
Busladungen mit Spielern aus dem Balkan“
hat Anwalt Schickhardt Richtung badenwürttembergische Oberliga vorbeifahren
sehen, deren Chauffeure „mit einer Fuhre
150 000 Mark verdienen“. Als der Präsident
Jean Löring bei Fortuna Köln zwei von sieben offerierten Kroaten zum Probetraining
einbehalten und nach sechs Wochen wieder
heimgeschickt hatte, bekam er sie vom
nächsten Vermittler erneut angeboten.
Mancher Kollege inseriert sogar im Internet. Dort bietet der lizenzierte Agent
Gerd Butzeck über seine Agenturen vornehmlich Spieler zu Dumpingpreisen an.
Für nur 50 000 Mark Ablöse etwa einen
Schwalbenkönig aus Albanien („In dieser
Saison provozierte er vier Elfmeter“); und
mit dem Eintrag „100,– DM wäre schön“ in
der Spalte „Gehaltsvorstellungen“ geht ein
deutscher Linksaußen online. Der sucht
freilich nur einen Club in der Kreisklasse.
Dass die Fifa seit viereinhalb Jahren Lizenzen vergibt, hat außer Unübersichtd e r
s p i e g e l
3 2 / 1 9 9 9
lichkeit wenig gebracht. Manager Calmund
hat „das Gefühl, dass man damit einige
schräge Vögel noch legalisiert hat“, obwohl
er von Spielervermittlern ohnehin „keine
Messdienerausbildung“ erwartet. Für Ballack-Berater Becker ist „die Bratwurst-Lizenz der Fifa nicht mehr wert als ein
Freischwimmerzeugnis“.
Das entsprechende Reglement ist außerdem rechtlich umstritten. Weil Vertragsverhandlungen bei Transfers Anwälten vorbehalten sind, musste der Vermittler Wolfgang Fahrian vor dem Kölner Landgericht
eine strafbewehrte Unterlassungserklärung
abgeben.
Was Verhandlung, Anbahnung, nur Beratung oder schon Vermittlung ist, lässt sich
nur schwer auseinander halten. Ob etwa
Giovane Elbers italienischer Agent Giovanni Branchini – nicht im Besitz einer Vermittlungserlaubnis der Bundesanstalt für
Arbeit – wirklich aktiv wurde, war nicht zu
beweisen: Der Signore aus Mailand wurde
nie im Verhandlungszimmer von Bayern
München, sondern nur auf dem Oktoberfest gesehen; hier verzehrte er im Beisein
des Bayern-Managers Uli Hoeneß eine
Schweinshaxe, ein halbes Hendl und ein
halbes Dutzend Schweinswürste.
Weit verbreitet ist das Strohmann-Prinzip zur Verschleierung unerlaubter Vermittlung: Die Berater bringen zur Unterzeichnung einen Anwalt mit – denn der
darf in jedem Fall Verhandlungen führen.
Die besten Finten sind im Ball-Business
längst nicht mehr auf dem Rasen zu bestaunen. Wenn der Spielerberater Klaus
Gerster, wegen seiner Vertragsgestaltung
für Andreas Möller von der Fifa vorübergehend zur Persona non grata erklärt, jetzt
seinen Klienten Manfred Binz zu Kickers
Offenbach lotste, nimmt daran kein Verband Anstoß – obwohl Gerster gleichzeitig
Manager des Zweitligaclubs ist.
Welche Vereinsmitglieder ins Transfergeschäft verwoben sind, bleibt meistens im
Dunkeln. Argwöhnisch bestaunt wird in
183
Sport
Millionen-Elf
Die teuersten Einkäufe der neuen Bundesliga-Saison
Spieler
Zahlung von drei als Leihgebühr deklarierten Jahresraten à 3 Millionen Mark liegen die Transferrechte bei Leverkusen.
der Branche die enge Verbindung zwischen
Kaiserslauterns Trainer Otto Rehhagel und
dem Vermittler Wolfgang Vöge. Der Agent
mit Sitz im schweizerischen Winterthur
war im vergangenen Jahr wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung vorübergehend festgenommen
worden und hatte laut seinem Münchner
Anwalt in zwei von sechs Transferfällen
„Unregelmäßigkeiten“ eingeräumt. In dem
Trainer-Doyen hat Vöge einen treuen Fürsprecher gefunden.
Mehrfach habe ihm Rehhagel den
Freund als Berater aufzudrängen versucht
(„Machen sie es mit Wolfgang Vöge“), berichtete der Nationalspieler Marco Reich.
Doch der begab sich dann lieber in die Obhut des Konkurrenten Gerster.
Verwundert über die Ratschläge des
Trainer-Vertrauten, wandte sich auch Ballack von Vöge ab. Denn: Üblich ist mittlerweile bei Vertragsverlängerung die
Zahlung eines Handgelds in Höhe einer
fiktiven Transfersumme. Vöge schlug
Ballack nach dessen Angaben aber vor,
diese so genannte Buy-out-Summe mit
Kaiserslautern zu teilen. Daraufhin lief der
Spieler zu Berater Becker über, der ihm
zum gewünschten Handgeld verhalf –
überwiesen von Leverkusen, das darüber
hinaus noch acht Millionen Mark Ablöse
zahlt.
Nun ist Ballack in der Pfalz als fahnenflüchtig verrufen. Dabei, erinnert Becker,
habe der FCK doch in der Hoffnung auf
höheres Transfergeld versucht, den Spieler
zu Bayern München zu verschieben – „ja,
sind wir denn auf dem Pferdemarkt?“
Immer häufiger mischen sich Trainer ins
rätselhafte Maklergeschäft. Nach dem Einkauf des Mazedoniers Sgrjan Zaharievski,
vom Übergangscoach Wolfgang Rolff empfohlen, hatte der VfB Stuttgart noch letzte
Fragen an den Spielerberater Fahrian. Unter dessen Telefonnummer meldete sich
aber nicht der Agent, sondern Rolff.
184
Ablösesumme
in Millionen Mark
nach
Der Nigerianer Victor Ikpeba, neuer Star
der diesmal mit 41,5 Millionen Mark besonders investitionsfreudigen Dortmunder
Borussia, erklärte jetzt, warum er einst mit
seinem früheren Nationaltrainer Clemens
Westerhof aneinander geriet: Er habe sich
damals geweigert, die angebotenen Vermittlerdienste Westerhofs in Anspruch zu
nehmen. „Niemals“ will der niederländische Coach an Transfers seiner Spieler verdient haben.
Beim Einkauf des Stürmers Markus
Feldhoff musste der damalige Mönchengladbacher Manager Rolf Rüssmann ein
Honorar an dessen früheren Jugendtrainer
Wolfgang Maes vom KFC Uerdingen zahlen. Es war eine Art Schweigegeld – dafür,
dass er das Gladbacher Angebot nicht an
Dritte ausplauderte. Maes bestreitet den
Zahlungseingang.
R. DAHMEN
* Nach
Transfer von
Profi Ballack
Als fahnenflüchtig verrufen
d e r
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Rüssmann hat in dem Gewerbe internationale Vermittlerringe kennen gelernt
sowie Leute, „die ständig drei Akkus in
der Tasche haben, damit ihr Handy nicht
ausgeht – und wenn die nachts in der Stadt
das Rotlicht sehen, wird es für die Clubs
teuer“.
Auch beim Zahlungsverkehr bedienen
die Vereine mittlerweile alle Wünsche der
Vermittler. Der Uruguayer Juan Figer,
Marktführer in Brasilien, erwirbt in der
Regel selbst die Transferrechte an seinen
Klienten und lässt sie auf Clubs in seinem
Heimatland überschreiben. Da sind die
Transfers steuergünstig abzuwickeln, und
daher muss auch Bayer Leverkusen die Raten für seinen neuen Brasilianer Robson
Ponte nach Montevideo überweisen.
So kommen die „Provisionsjäger“, wie
der frühere Torwart Jürgen Rollmann die
Vermittler nennt, zunehmend in Verruf.
Der Agent Ljubomir Barin wurde von einem französischen Gericht wegen Betrugs
und Schiedsrichterbestechung im Auftrag
von Girondins Bordeaux sogar zu zwei
Jahren Haft verurteilt.
Weil sie sich meistens selber das Handwerk legen, sind solche Gauner für den Kollegenkreis gar nicht mal das größte Problem. Gefürchtet sind vielmehr Trittbrettfahrer, die das Geschäft ruinieren. Als Arminia Bielefelds Manager Heribert Bruchhagen in der Wechsel-Angelegenheit Andrzej Kubica mit dessen polnischem Berater
in Verhandlungen stand, meldete plötzlich
auch Vöge telefonisch Honoraransprüche
an. Der Transfer platzte. Erfolgreicher trat
Vöge beim Wechsel des Spielers Ansgar
Brinkmann von Eintracht Frankfurt zu Tennis Borussia Berlin auf den Plan. Dabei hatte der Spieler einen Beratervertrag mit dem
Autohändler Michael Jankowski.
Einen Alleinvertretungsanspruch gibt es
nicht, und wer nicht über genügend Kontakte verfügt, hat verloren. „Die richtigen
Zahlen zu fordern setzt Marktkenntnis
voraus“, weiß Vermittler Becker. „Eine
Million in Ulm sind viel, eine Million in
Dortmund zahlt der Platzwart.“
Obwohl mit solchen Feinheiten nicht
vertraut, trat auch Helmut Kohl einmal unvermutet in der Branche Spielervermittlung auf. Als Leverkusen kurz nach dem
Mauerfall Andreas Thom verpflichtete und
auch mit Matthias Sammer und Ulf Kirsten
handelseinig wurde, hörte der damalige
Kanzler bei einem Besuch in Dresden die
Klagen über die Raffgier des großen Westkonzerns.
Ein Anruf in der Führungsetage der Bayer AG aus dem Kanzleramt bewog ClubManager Calmund, Kirsten und Sammer
zum Krisengespräch an den Chiemsee zu
bestellen. Aus dem gemeinsamen Transfer,
eröffnete er den Profis, werde bis zur Änderung der politischen Großwetterlage nun
leider nichts. Sammer blieb bis Saisonende
in Dresden, ehe er beim VfB Stuttgart eine
neue Heimat fand.
Jörg Kramer
Werbeseite
Werbeseite
T. GROMIK / SIPA PRESS
vier Prozent aller Einwanderer heute aus
Asien kommen.
Doch im Bundesstaat Queensland zog
bei den Wahlen im vergangenen Sommer
die fremdenfeindliche Partei „One Nation“ mit 23 Prozent der Stimmen in die
Regionalkammer ein. Und Premier John
Howard konnte den Marsch der Rechten
ins Bundesparlament nur dadurch verhindern, dass er sich deren Parolen zu Eigen
machte. Öffentlich warnte er, dass die Einwanderung zu vieler Asiaten „Probleme“
schaffe.
Dieser Sicht der Dinge haben sich offenkundig auch die Olympier Australiens
angeschlossen. An die Spitze der Bewegung setzte sich ein Kapellmeister aus der
australischen Provinz: Victor Grieve,
Musikdirektor der „Golden Kangaroo
Marching Band“, überhäufte die australischen Medien mit einer unzweideutigen Kampagne: „Stellt euch vor“, so
Grieve, „die Musikgruppe, die zur Eröffnung der Olympiade in Australien aufOlympiastadion in Sydney: „Die marschieren wie Soldaten“
spielt, ist mit Japanern besetzt – unmöglich.“
O LY M P I A
Damit trat der selbst ernannte Patriot eine Welle
der Empörung los, die sich in
die Leserbriefspalten der
australischen Medien ergoss.
Im „The Australien“ etwa
war zu lesen: „Wie können
sie es wagen, diese zum AusIn Sydney häufen sich die
rotten verfluchten Yanks anPannen – nach Korruption und
zuschleppen oder Japsen,
Umweltsünden fallen die
die wir im Krieg bekämpft
Australier jetzt durch Fremdenhaben?“
Als Verantwortlicher am
feindlichkeit auf.
nationalen Unglücksfall war
schnell der Art-Director
it Feierlichkeiten der aufwendigen Australische Olympiabewerber*: Mangel an Patriotismus
Birch ausgemacht – dem fehArt kennt sich der Australier Ric
Birch bestens aus. Schon 1984 hat- ein siebenminütiger Auftritt zugesagt wor- le erkennbar „der nötige Patriotismus,
te er die Schlussfeier der Olympischen den war. Die Lokalzeitung „Register“ im genügend australische Kinder auftreten
Spiele in Los Angeles inszeniert, acht Jah- südkalifornischen Orange County, wo die zu lassen“.
Dann wurde Birch, dem in seiner Heire später war er für die Eröffnungszere- meisten der ausgeladenen Darsteller hermonie in Barcelona zuständig. Und auch kommen, notierte: „Australier haben mal mat der Ruf vorauseilt, arrogant zu sein,
für die Olympia-Ouvertüre im nächsten wieder bewiesen, dass sie nichts als ni- weil er zu lange an feinen englischen Hochschulen studiert hat, in eine rechte Talkveaulose Ratten sind.“
Jahr hatte er genaue Vorstellungen.
Gut ein Jahr bevor die olympische Flam- show gezerrt – und dabei brach er endgülZum Empfang der sportiven Weltjugend wollte der künstlerische Direktor me in Sydney entzündet werden soll, sind tig mit seinem Auftraggeber. Er vertrat die
der Spiele von Sydney eine 2000-köpfige diese Jahrtausendspiele um einen peinli- Auffassung, die heimischen Kids seien oh„Marching Band“ auftreten lassen. Das chen Skandal reicher. Nachdem die Ver- nehin für derlei Aufgaben gänzlich unsind Jugend-Blasorchester, die nach ame- anstalter bereits wegen Korruption und geeignet – „denn sie marschieren wie
rikanischem Vorbild in Miniröckchen und Umweltpannen ins Gerede gekommen wa- Soldaten“.
Vom Socog wurde Birch unwiderruflich
Paradeuniform über den Rasen marschie- ren, haben sie nun ihr vermeintlich weltren und die Stimmung in die Höhe trei- offenes Land mit einem neuen Kapitel of- zur Umgestaltung der Zeremonie verdonben. Neben 500 australischen Darstel- fenkundiger Fremdenfeindlichkeit in Verruf nert. Das Motto zum Empfang der Sportwelt heißt jetzt: Musiziert australisch.
lern sollten 1500 aus dem Ausland auf- gebracht.
Für die ohnehin schwindsüchtig finanDer Beschluss der rigiden Olympier fügt
laufen.
Doch der schöne Plan ist nun dahin. Auf sich in die politische Gemengelage des Lan- zierten Spiele, denen noch mehrere hunmassiven Druck der australischen Öffent- des. Zwar verdrängt die liberale Elite in dert Millionen Mark Sponsorengelder fehlichkeit fasste das Vorbereitungskomitee den Großstädten gern die „White Austra- len, könnte das eine kostspielige Fehlent(Socog) einen delikaten Beschluss: 1300 Ju- lian“-Politik der sechziger Jahre, als der scheidung werden.
Rechtsanwälte, die verprellte US-Kids
gendliche aus den USA und 200 aus Japan Kontinent für asiatische Einwanderer gewurden zu Gunsten ausschließlich einhei- schlossen blieb. Sie verweist darauf, dass vertreten, verlangen nicht nur Schadensersatz für bereits bezahlte Flugtickets und
mischer Akteure vom dreistündigen Festakt im September nächsten Jahres ausge- * Nach der Vergabe der Spiele an Sydney am 23. Sep- Hotels. Sie fordern auch „Schmerzensgeld
für entgangene Träume“.
schlossen, obwohl ihnen vertraglich bereits tember 1993 in Monte Carlo.
Jürgen Kremb
DPA
Yanks im
Röckchen
M
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Chronik
SAMSTAG, 31. 7.
BEGRÄBNIS Die Raumsonde „Lunar Prospector“ schlägt planmäßig am Südpol des
Mondes ein und deponiert dort die Asche
des US-Astronomen Eugene Shoemaker.
FLÜCHTLINGE Der chinesische Dissident
Xie Wanjun, der ins US-Konsulat von
Wladiwostok geflüchtet war, trifft an
Bord eines südkoreanischen Flugzeugs in
New York ein.
SONNTAG, 1. 8.
FLEISCH Großbritannien feiert die Locke-
rung des Exportverbots von britischem
Rindfleisch mit Grillpartys und SteakSandwiches für Reisende vom Kontinent.
HAFT Wegen angeblicher Fluchtgefahr
wird der in Iran gegen Kaution freigelassene deutsche Geschäftsmann Helmut
Hofer erneut inhaftiert.
EINKAUFEN Halle, Dessau und Berlin er-
klären sich zu Touristenzentren und hebeln den sonntäglichen Ladenschluss aus.
MONTAG, 2. 8.
RAKETEN China demonstriert mit dem
Start der neuen Langstreckenrakete
„Ostwind 31“ atomare Transportfähigkeit; die USA melden den erfolgreichen
Testflug einer Antiraketenrakete.
DIPLOMATIE Israels Premier Ehud Barak
reist nach Moskau, um Jelzin zur Vermittlung im Nahostkonflikt zu gewinnen.
VERKEHR Im nordostindischen Gaisal
stoßen zwei vollbesetzte Züge frontal zusammen – knapp 300 Passagiere kommen
um, ebenso viele werden verletzt.
DIENSTAG, 3. 8.
FEHLSTART Brandenburgs Oberlandesrichter erklären das Vergabeverfahren zum
31. Juli bis 6. August
Bau des Berliner Maxi-Airports in Schönefeld für rechtswidrig; damit sind auch
die Pläne für die Privatisierung der Berliner Flughäfen gefährdet.
REISEN Das US-Außenministerium ent-
schärft die Blockadepolitik gegen Kuba
und erlaubt Charterflüge aus Los Angeles
und New York ins Castro-Reich.
SPIEGEL TV
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
SPIEGEL TV REPORTAGE
Operation Frieden –
Die Bundeswehr und der Krieg im Kosovo
MITTWOCH, 4. 8.
BÜNDNIS Die ständigen Nato-Botschafter
nominieren den britischen Verteidigungsminister George Robertson zum neuen
Generalsekretär der Allianz.
LEBENSMITTEL Veterinäre der EU verschärfen die Auflagen für den Export von
belgischem Rindfleisch.
DONNERSTAG, 5. 8.
UNGLÜCKE Zur Abwendung langwieriger
Prozesse bieten die Firmen Swissair und
Boeing den Hinterbliebenen des MD-11Absturzes einen Vergleich an.
RÜCKZUG Die PKK folgt dem Aufruf ihres
inhaftierten Führers Abdullah Öcalan;
sie will den bewaffneten Kampf beenden
und sich aus der Türkei zurückziehen.
BALKAN Die Regierung Montenegros ver-
langt von den Serben ultimativ
die Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien.
FREITAG, 6. 8.
ÜBERNAHME Die Deutsche Telekom kauft
den britischen Mobilfunkanbieter
One2One für knapp 20 Milliarden Mark.
SPORT Der beim Rennen in Silverstone
verunglückte Ferrari-Pilot Michael Schumacher wird nicht beim Großen Preis
von Ungarn starten. Seine Ärzte rieten
von Testfahrten dafür ab.
Panzer auf dem Weg nach Prizren
BMVG
Dokumentation über den ersten Kriegseinsatz deutscher Truppen seit 1945.
SPIEGEL-TV-Reporter waren dabei, als
deutsche Panzer über die Grenze rollten:
Sie dokumentierten das Flüchtlingselend
und die Überwachung des serbischen
Rückzugs, begleiteten Feldjäger bei der
Sicherung von Massengräbern und erlebten die Bundeswehr als Ordnungsmacht
im serbisch-albanischen Konflikt – der
noch auf Jahre vom gegenseitigen Hass
beider Volksgruppen bestimmt sein wird.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Tattoos – Gemälde für die Ewigkeit
Maradona hat eins, ebenso Jean-Paul Belmondo und sogar Ötzi. Auch in Deutschland werden die einstigen Statussymbole
zünftiger Seemänner immer beliebter:
Mehr als zwei Millionen Menschen, so
wird geschätzt, haben ihre Körper bereits
mit einer Tätowierung verziert.
SAMSTAG
22.10 – 23.15 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
Die Weißen Nächte von St. Petersburg
Mafia, Korruption, Rubelkrise – in der
Fünf-Millionen-Stadt hat das Leben ohnehin zu viele Schattenseiten. Umso glücklicher sind die Bewohner, wenn einmal im
Jahr wenigstens eine finstere Macht besiegt wird: in den Mittsommernächten.
SONNTAG
22.15 – 23.00 UHR RTL
AP
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Nach dem Weltuntergang – Reportage
von den Schauplätzen der Jahrhundertfinsternis; Glücksspiel am Computerschirm – die riskanten Börsengeschäfte
der Day-Trader; „High Noon“ auf dem
Asphalt – illegale Autorennen in Berlin.
Im belgischen Seebad Zeebrugge
entsteht eine der größten und
höchsten Sandskulpturen der Welt
– 14 Meter hoch, 80 Meter lang.
Thema des Bauwerks: Aufstieg und
Fall des Römischen Reiches.
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189
Gestorben
Haupt-Macher der „Lindenstraße“: Bei 186
Folgen hat er Regie geführt, und auch an
den übrigen war er
als Co-Autor beteiligt. Der Amerikaner
Moorse, der Ende der
fünfziger Jahre als
Beat-Poet und Bohemien in Deutschland
sesshaft geworden
war, verstand seinen TV-Serienjob als
Handwerk, das ihm
unabhängige und extravagantere Unternehmungen ermöglichte, zuletzt etwa einen essayistischen Film über den jungen
Goethe auf dem Brocken. Als junger Filmemacher war Moorse Ende der sechziger
Jahre zum einen durch verspielte Schwabinger Zeitgeist-Komödien („Kuckucksjahre“, „Liebe und so weiter“) bekannt geworden, zum andern durch zwei bildstarke
Literaturfilme: „Der Findling“ nach Kleist,
1967, und „Lenz“ nach Büchner, 1971 (Bundesfilmpreis und Silberner Löwe von Venedig). Später wandte er sich, auch mit Dokumentationen und Popmusik-Shows, mehr
und mehr der TV-Regie zu. George Moorse
starb am 30. Juli in Köln an den Folgen eines Herzinfarkts.
TEUTOPRESS
George Moorse, 63. Er war einer der
Bernhard Quandt, 96. Die robuste Gesundheit war das größte Kapital des gelernten Eisendrehers. Der streitlustige
Kommunist überlebte die Raufereien der
Weimarer Republik, wurde zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt und erlitt von 1939 bis
1945 die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau. Zurückgekehrt in seine
mecklenburgische Heimat machte sich der
gebürtige Rostocker sofort an die Enteignung der Großagrarier. Mit der ihm eigenen
Tatkraft versuchte der Arbeitersohn
als Landwirtschaftsminister Mecklenburgs
(1948 bis 1951) und als Ministerpräsident
(1951 bis 1952), später
als Erster Sekretär
der SED-Bezirksleitung Schwerin einen „realen Sozialismus“ herbeizuzwingen. Auch im Zentralkomitee der SED,
dem Quandt 31 Jahre
lang angehörte, galt
er nicht als zimperlich. Im Herbst 1989,
als die DDR wegen
Konkursverschleppung kollabierte, schlug
er vor, die „Verbrecherbande des alten
Politbüros“, die „unsere Partei in eine solche
Schmach gebracht hat“, sofort „standrechtlich zu erschießen“. Als auch daraus nichts
wurde, resignierte er und trat dem „Rat der
Alten“ der PDS bei. Bernhard Quandt starb
vergangenen Montag in Schwerin.
Liselott Schindling-Rheinberger, 71. Sie
Nirad
Chandra
Chaudhuri, 101. Be-
DPA
190
d e r
kannt wurde er, indem er sich als Unbekannter vorstellte:
„The Autobiography
of an Unknown Indian“ machte den völlig unbedeutenden
bengalischen Verwaltungsbeamten und
Journalisten im Alter
von 53 Jahren mit einem Schlag zu einer
umstrittenen Berühmtheit. Churchill nannte es eines der besten Bücher, die er je gelesen habe. Wie ein indischer Karl Kraus
setzte sich der sarkastische Winzling mit
der Realität seines Landes auseinander und
machte – nur vier Jahre nach der indischen
Unabhängigkeit – keinen Hehl aus seiner
Bewunderung für die britischen Kolonialherren. Querköpfig bis zur Querulanz, von
enzyklopädischer Bildung und ein Meister
der englischen Sprache dazu, glänzte
Chaudhuri vor allem mit polemisch-autobiografischen Werken. In Oxford, wohin er
1970 gezogen war, wurde er im November
vorletzten Jahres an seinem hundertsten
Geburtstag enthusiastisch gefeiert. Nirad
Chandra Chaudhuri starb am 1. August in
Oxford.
H. SYKES / NETWORK
kippte eine der letzten Männerdomänen
des Sports. Als Liselott Linsenhoff gewann
sie 1972 bei den Olympischen Spielen in
München auf dem Hengst Piaff die Goldmedaille in der Dressur – was zuvor noch
keiner Frau gelungen war. Auch nach ihrer
Wettkampf-Laufbahn blieb die Frankfurter
Unternehmer-Tochter, die schon 1956 ihren
ersten großen internationalen Erfolg hatte
und von 1977 bis 1982 dem Nationalen
Olympischen Komitee angehörte, dem Pferdesport erhalten: In ihrer Reitanlage in
Kronberg im Taunus trainierte die deutsche
Dressur-Equipe. Liselott Schindling-Rheinberger starb vergangenen Mittwoch in
ihrem französischen Domizil bei Antibes.
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CAMERA PRESS
Register
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
OUTLINE / INTER-TOPICS (o.); R. BAUER / ACTION PRESS (u.)
J. MEYER / FOTEX
Mike Oldfield, 46, britischer Popstar
(„Moonlight Shadow“), versetzte Schwedinnen im heiratsfähigen Alter in helle
Aufregung. Der „46-jährige, angenehme,
gut aussehende, erfolgreiche Musiker in
geordneten finanziellen Verhältnissen“
(Selbstdarstellung)
schaltete im Stockholmer Boulevardblatt „Expressen“
eine Kontaktanzeige: Der Multimillionär (geschätztes
Vermögen: rund 80
Millionen
Mark)
sucht eine „treue,
wunderbare Frau im
Oldfield
Alter zwischen 25
und 35 Jahren für ein romantisches Leben
zu zweit“, so der Text der Gratis-Annonce. Als herauskam, wer dort nach einer
ständigen Begleiterin suchte, konnte sich
„Expressen“ vor Interessentinnen kaum
retten. „Von der Krankenschwester über
die Politesse bis hin zur EU-Sekretärin war
alles vertreten“, berichtete „Expressen“Redakteurin Caroline Stein. Eine ähnliche
Annonce hatte Oldfield bereits mehrmals
zuvor in der Londoner „Sunday Times“
unter der Rubrik „Lonely Hearts“ geschaltet – ohne die Richtige gefunden
zu haben. Der Popmusiker steht offenbar mehr auf Skandinavierinnen. In einem Interview schwärmte der Engländer
vieldeutig: „Die Schwedinnen sollen ja
so besonders nett sein.“ In Bezug auf
Nordeuropäerinnen ist Oldfield einschlägig vorbelastet. 1994 wurde er von der norwegischen Schlagersängerin Anita Hegerland geschieden, mit ihr hat er zwei Kinder.
Stone
Sharon Stone, 41, amerikanische Schauspielerin und skandalträchtiger „Basic Instinct“-Star, gibt sich neuerdings als gläubige Methodistin. Stone, die sonst eher spärlich bekleidet (zuletzt im Film „Gloria“) Aufmerksamkeit erregt, fesselte diesmal in
hochgeschlossenem Dress: Von der Kanzel der United Methodist Church in San Francisco hielt die regelmäßige Kirchgängerin, angefeuert von ihrem Mann, dem Journalisten Phil Bronstein, eine derart mitreißende Predigt, dass die Gläubigen in den Kirchenbänken ihr immer wieder begeistert zujubelten.
Baudouin
von Flüchtlingen informierte, selbst am Hotel ab. Beim Einladen von Hardrahts Gepäck klemmte die Kofferraumhaube. Baudouin griff unter den Rücksitz und zog einen langen Metallstab hervor, mit dem sie
das Kofferraumschloss so lange bearbeite192
d e r
te, bis der Schließmechanismus wieder
funktionierte. Improvisationen dieser Art
ist sie gewohnt: Die Botschaftsrätin war
bereits im nordbosnischen Banja Luka
eingesetzt, dann in Mazedonien und
jetzt als Koordinatorin
für die deutsche humanitäre Hilfe in Prizren.
Für die gefährlichen Auslandseinsätze wurde sie
mit einem gepanzerten
Dienstwagen ausgestattet; Baudouin ist damit
die einzige deutsche Diplomatin, die – nach einem Spezialtraining –
auch selbst ans Steuer
darf.
s p i e g e l
AP
K. MÜLLER
Ingrid Baudouin, 40, Botschaftsrätin im
Kosovo, verblüffte letzte Woche den sächsischen Innenminister Klaus Hardraht, 57,
mit handwerklichem Geschick. Mangels
Mitarbeiter holte die Diplomatin den
CDU-Politiker, der sich über die Rückkehr
3 2 / 1 9 9 9
Salvatore „Sammy The Bull“ Gravano,
54, schwatzhafter, 19facher Mafia-Killer,
dessen Aussagen seinen ehemaligen Boss
John Gotti und 36 andere Mafiosi 1992 lebenslänglich hinter Gitter gebracht haben,
fürchtet keine Rache.
Vom FBI mit einer neuen Identität ausgestattet,
war die „Königsratte“,
wie Gravano in der Szene fortan hieß, nach nur
dreijähriger Haft entlassen worden. Nachdem er
schon wegen öffentlicher
TV-Auftritte für sein
Bestseller-Buch „UnderGravano
boss“ das offizielle Zeugenschutzprogramm verlassen hatte, gab er jetzt weitere Details aus seinem neuen Leben preis:
Er arbeite in der Baubranche, wohne mit
Hund und Sandsack in einem Bungalow
im sonnigen Arizona und trinke Kaffee mit
den Nachbarn. Einige seiner FBI-Bewacher
seien gute Kumpel geworden, und die restliche Mafia sei so unterwandert, dass er
rechtzeitig Wind von einem Mordauftrag
bekommen würde. „Ich war Boxer. Ich
weiß, was es heißt zu kämpfen. Man verliert dabei seine Angst.“
Bedingung: Die Operation darf live im Internet verbreitet werden. Sie habe keine
Angst davor, den Eingriff öffentlich zu machen, sagt Arabella Churchill, in zweiter
Ehe mit einem 14 Jahre jüngeren Mann
verheiratet. „Ich bin, wie mein Großvater,
ziemlich mutig.“
Whitney Houston, 36, US-Popdiva, die
live stets einen leblosen, unnahbaren College-Girl-Appeal verströmte, präsentiert in
letzter Zeit mehr Charakter und Persönlichkeit auf der Bühne. Die Mutter einer
das Amt des Regierenden Bürgermeisters
von Berlin, hat die politische Konkurrenz
ersucht, ihn im „sehr schwierigen Wahlkampf“ zu unterstützen. In einem Brief,
der auch die bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig erreichte, bittet Momper „für meinen persönlichen Wahlkampf um finanzielle Unterstützung“. Und wer „auch wieder ganz
persönlich im Wahlkreis helfen“ wolle, der
könne vor dem Urnengang am 10. Oktober
Wahlwerbung verteilen: „Eine genauere
Mitteilung über Zeit und Ort wird noch
rechtzeitig erfolgen.“ Der Bittbrief, so ein
Sprecher Mompers, sei an rund 2500 Personen geschickt worden, die „irgendwie
signalisiert haben, dass sie den SPD-Bewerber unterstützen wollen“. An solch ein
Signal kann die bündnisgrüne EichstädtBohlig sich allerdings nicht entsinnen. Sie
wünsche der SPD, die Umfragen zufolge
derzeit bei 25 Prozent liegt, „in den eigenen Reihen ein bisschen mehr Power:
Auf mich wird Momper nicht rechnen
können“.
Arabella Churchill, 49, Enkelin des ehe-
P. BORLAND / WOMANS JOURNAL
UNIVERSAL PICTORIAL PRESS, LONDON
maligen britischen Premierministers Winston Churchill, mag sich nicht mehr im
Spiegel betrachten. Unglücklich darüber,
dass sie ihrem Großvater immer ähnlicher
sieht, möchte sie durch ein umfassendes
Lifting die ererbten markanten Gesichtszüge korrigieren lassen. Und weil das
frühere „Vogue“-Model zwar einen großen
Namen trägt, ansonsten aber knapp bei
Kasse ist, will ein Schönheitschirurg aus
Beverly Hills seine Skalpellkünste kostenlos unter Beweis stellen. Werbewirksame
Enkelin Churchill (1970 und 1999), Churchill
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D. BENETT / ALPHA / GLOBE PHOTOS
Walter Momper, 54, SPD-Kandidat für
Houston
sechsjährigen Tochter – in der Vergangenheit immer wieder damit beschäftigt, die
Handgreiflichkeiten ihres Ehegatten Bobby Brown zu dementieren – überraschte
ihre Fans zu Beginn ihrer ersten Tournee
nach fünf Jahren nicht nur mit einem zu
jedem Song wechselnden knisternden
Dolce-&-Gabbana-Outfit und veritablem
Soul. Die Gesangs-Queen zeigte sich
auch publikumsnah mit familienbewusstem Charme. Als sie eine Zuhörerin in der
ersten Reihe im Universal Amphitheatre
in Los Angeles mit einem Handy telefonieren sah, unterbrach sie ihre Show und
fragte gut gelaunt,
mit wem die Frau
spreche. Als Houston
zur Antwort bekam,
es seien die Kinder
der Konzertbesucherin, beugte sich der
Star über den Bühnenrand und sang
den Kleinen am anderen Ende der Leitung einen persönlichen Gruß.
s p i e g e l
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Badischen Zeitung“ unter der
Überschrift „Kein Interesse an autofreiem
Wohnen im Rieselfeld“: „Dazu suche man
nach Möglichkeiten, die Autos innerhalb
der Wohnungen oder in Tiefgaragen unterzubringen.“
Zitate
Aus „Bild“
Überschrift in der „Tageszeitung“: „Göttinger Wissenschaftlerin behauptet: Deutsche Arbeiter sind toleranter als der Rest der
Bevölkerung. In der Ablehnung von Asylbewerbern und Aussiedlern sind sich Deutsche, Türken und Frauen jedoch einig.“
Aus der „Saarbrücker Zeitung“
Aus dem Kölner „Express“: „Angetrunken und ohne Führerschein hat die Polizei
in Rheda-Wiedenbrück einen 40-jährigen
Mann aus Polen angehalten.“
Aus der Schweizer Zeitung „Blick“: „Normalerweise erfolgt die Seligsprechung
frühestens fünf Jahre nach dem Tod, und
wer heilig werden will, muß noch viel länger warten.“
Aus der „Dithmarscher Landeszeitung“:
„‚An dem Bahnübergang besteht dringender Handlungsbedarf, die Sicherheitsvorschriften sind einfach nicht mehr zeitgemäß‘, sagte Olaf Drevsen von der Unabhängigen Wählergemeinschaft Dingen
(UWD). Für den Kommunalpolitiker steht
fest: ‚Das ist schon der fünfte Unfall an diesem Bahnübergang und zum ersten Mal ein
tödlicher. Die Bahn muß Vernunft zeigen. Es
müssen ja keine teuren Lösungen sein. Es
genügt, wenn die Lok anhalten würde.‘“
Aus „Bild“
Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „Die
3,4 Kilometer lange Tunnelstrecke vom
Bahnhof Ohlsdorf bis zu den FlughafenTerminals soll überwiegend unterirdisch
verlaufen.“
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Die „Berliner Zeitung“ über Oskar Lafontaines Buch-Projekt und das SPIEGEL-Gespräch mit Kanzler Gerhard
Schröder „Steine ins Kreuz“ (Nr. 31/1999):
Die beste Werbung für das Buch macht …
zurzeit der Mann, der schon früher einmal
sagte, man müsse Oskars Rundumschlag fatalistisch ertragen wie ein Gewitter: Gerhard Schröder. Mit jeder kritischen Bemerkung zur Politik seines früheren Kollegen
macht es der Kanzler dem Saarländer noch
leichter, richtig zuzuschlagen.Auch die Warnung Schröders in einem SPIEGEL-Interview, es sei nicht zu empfehlen, „denen, die
schwere Arbeit machen, Steine ins Kreuz“
zu werfen, schreckt Lafontaine nicht …
Lafontaine setzt zudem darauf, genügend
Zitate aufgetrieben zu haben, mit denen er
belegen kann, dass auch sein früherer Kabinettschef Schröder die Deutsche Bundesbank zu Zinssenkungen aufgefordert und
die Währungshüter in Frankfurt an ihre Mitverantwortung für die Beschäftigung im
Lande ermahnt hat. Im SPIEGEL-Gespräch
… wollte der Kanzler nämlich von einer
konzertierten Kritik der einstigen Männerfreunde an der Notenbank nichts mehr wissen: „Ich habe die Auseinandersetzung mit
der Bundesbank immer für unsinnig gehalten. Doch ich habe nichts gesagt.“
Die „Stuttgarter Zeitung“
zum selben Thema:
Schröder hat im viel zitierten SPIEGEL-Interview den Wunsch geäußert, dass der
ehemalige Bundesgeschäftsführer und heutige Bundesverkehrsminister Franz Müntefering als erster unter seinen Stellvertretern fungiert und eine ,,besondere Verantwortung für die innere Organisation
kriegt“. Das geht an die Substanz des amtierenden Bundesgeschäftsführers. Schröder betonte zwar, Schreiner sollten nicht
die Kompetenzen beschnitten werden.
Schreiner aber sieht die Sache doch skeptischer … Er sei bereit, einiges mitzutragen
– „aber nicht alles“.
Die „Neue Zürcher Zeitung“
zum Kommentar von Rudolf Augstein
„Madeleines Krieg“ (Nr. 22/1999):
Wer allerdings glaubt, das deutsche Engagement entspringe einem genuinen Atlantizismus, der irrt. Deutschland konnte sich
diesem Krieg im Kosovo nicht einfach entziehen, ohne zum Paria zu werden. Aber
die Regierung Schröder lässt inzwischen
keinen Zweifel daran, dass sie sich künftig
nicht mehr in amerikanische Kriege –
„Madeleines Krieg“ (Rudolf Augstein) –
verwickeln lassen will, sondern im europäischen Verbund … die politischen und
militärischen Entscheidungen suchen will.
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