DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 37
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 37
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung Betr.: SPIEGEL-Berlin FOTOS: M. DARCHINGER 13. September 1999 SPIEGEL-Party im Hof der Friedrichstraße 79 Rühe, Doerry Fischer, Leinemann Schily, Schönbohm W enn der SPIEGEL sich bei der Geburt seinen Erscheinungsort hätte aussuchen können, so wäre er ohne Zweifel in Berlin zur Welt gekommen.“ Das schrieb Rudolf Augstein 1952, als der SPIEGEL von Hannover nach Hamburg umzog. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, ist das deutsche Nachrichten-Magazin mit einem Teil seiner Redaktion in der Hauptstadt angekommen. Ein guter Anlass, um zu feiern. Vergangenen Dienstag konnte Chefredakteur Stefan Aust, 53, mit seinen Stellvertretern Martin Doerry, 44, und Joachim Preuß, 54, etwa 900 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf dem Hof der Berliner SPIEGEL-Dependance in der Friedrichstraße 79 begrüßen. Darunter Kanzler Gerhard Schröder und viele Kabinettsmitglieder, wie Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Innenminister Otto Schily. Auch zahlreiche Oppositionspolitiker waren da, etwa CDU-Vize Volker Rühe, Generalsekretärin Angela Merkel und Brandenburgs Wahlsieger Jörg Schönbohm. Der Berliner SPIEGEL-Ableger soll mehr sein als ein Büro, wie es vormals in Bonn der Fall war. So ist auch die interne Zusammenarbeit neu organisiert: Die verantwortlichen Berliner Redakteure gehören gleichzeitig der Leitung ihrer jeweiligen Ressorts in Hamburg an. Repräsentanten vor Ort sind Jürgen Leinemann, 62, und Heiner Schimmöller, 49. An ihrer Seite stehen die Stellvertreter der Ressorts Deutsche Politik (Hajo Schumacher, 35), Deutschland (Georg Mascolo, 34) und Wirtschaft (Jan Fleischhauer, 37). Schon jetzt ist die Hauptstadt-Dependance mit 35 Redakteuren größer, als es die früheren Büros in Bonn und Berlin zusammengenommen waren. Aus gutem Grund, wie SPIEGEL-Herausgeber Augstein schon vor 47 Jahren sagte: „Berlin ist die Aust, Schröder Welt für ein Blatt, wie es der SPIEGEL sein will.“ Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Titel Sparpaket und Steuerdebatte – Deutschland in der Gerechtigkeitsfalle................................ 96 Die Bilanz der Deutschland AG .................... 102 SPIEGEL-Gespräch mit Finanzminister Hans Eichel über seine Kürzungspolitik und den Widerstand in der SPD .................... 110 Das Ende der Beglückungsmaschine J. DIETRICH / NETZHAUT Deutschland Müntefering, Schröder Das System staatlicher Fürsorge ist unbezahlbar geworden. Die soziale Beglückungsmaschine läuft nicht mehr wie früher – Gerechtigkeit muss neu definiert werden. Mit Personalverschiebungen – dem künftigen SPDGeneralsekretär Franz Müntefering und dem neuen Verkehrsminister Reinhard Klimmt – will Gerhard Schröder auch die Gerechtigkeitsdebatte der SPD in den Griff bekommen. Die Akten des Agenten Brandt Seite 60 Was tat Willy Brandt im Exil? Die Frage, einst von der Union mit diffamierendem Unterton gestellt, kann nun genauer beantwortet werden. Bisher unbekannte schwedische Akten zeigen ihn als von Briten und Amerikanern geschätzten Agenten. Kampf in allen Klassen L. VITALE / GRAZIA NERI Panorama: Asyl für Kurden erleichtert / Die Streichliste der Expo ................................ 17 SPD: Der Richtungsstreit geht weiter.............. 22 CSU: Stoiber in Not ........................................ 28 CDU: Interview mit Parteichef Wolfgang Schäuble über Erfolge und Defizite der Union.......................................... 34 FDP: Die Partei setzt sich von Guido Westerwelle ab ..................................... 36 Brandenburg: SPD-Landesausschuss votiert für Große Koalition ............................. 38 Bundeswehr: Die Pläne für die Armee der Zukunft .................................................... 42 Beamte: Lukrativer Dauerurlaub für Berliner Staatsbedienstete .............................. 50 Bundestagspräsident: Thierse kämpft um seine Wohnung und um seine Zukunft in der Partei .................................................... 54 Kriminalität: Die Luftgeschäfte des Konsuls Petersmann........................................ 56 Zeitgeschichte: Neue Aktenfunde über Willy Brandts Agententätigkeit im Exil........... 60 Rüstung: Italiener springen bei „Taurus“ ab.. 70 Innere Sicherheit: Private Wachfirmen haben Hochkonjunktur ................................... 76 Interview mit NRW-Innenminister Fritz Behrens über gesetzliche Regelungen für Hilfssheriffs............................ 80 Politiker: Ein Fotobuch zeigt die Spuren der Macht ........................................... 86 Seiten 22, 96 Wirtschaft Trends: Virgin mit Billigst-Preisen / Deutsche Bank ermittelt im Geldwäscheskandal / Bertelsmann-Vorstand über die Fusion Viacom/CBS ................................................... 93 Geld: Telefon-Aktien im Test / Erfolge mit japanischen Kleinstfirmen ............ 95 Konzerne: Der Krieg der Autobosse ............. 114 Fusionen: Viag und Veba planen Milliardenverkäufe ........................................ 118 Internet: Das Online-Imperium des Japaners Masayoshi Son ................................ 122 Unternehmer: Großbäcker Heiner Kamps im Kaufrausch ............................................... 124 Seiten 114, 296 In der deutschen Autoindustrie herrscht eine neue Schlachtordnung: Jeder gegen jeden. VW, BMW und DaimlerChrysler machen sich in allen Klassen Konkurrenz. Der Wettbewerb wird zum Verdrängungskampf. Ausgerechnet Auto-Designer Giorgetto Giugiaro (Golf, Bugatti) warnt davor, dass die Fahrzeuge immer größer und schneller werden: „Die Freiheit wird zur Verrücktheit.“ Medien Gesellschaft Szene: Gondel fahren in Hamburg / Ungeahnte Freuden beim Hausputz .............. 149 Religion: Rummel um Marienerscheinungen im Saarland ................ 150 Spielzeug: Furby und andere sprechende Knuddeltiere .............................. 156 6 Giugiaro, Mercedes-Benz SLR Kritik am Shoah-Projekt Seite 246 Fünf Jahre lang ließ Steven Spielberg, Regisseur von „Schindlers Liste“, die Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust auf Video dokumentieren. Doch Kritiker werfen dem Superstar aus Hollywood vor, er betreibe statt seriöser Dokumentation Personenkult und Geschäftemacherei. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 M. LENGEMANN Trends: Interview mit Comedy-Star Wigald Boning / Neuer Job für Ex-„taz“Chefin Georgia Tornow ................................. 129 Fernsehen: 2000 Jahre Christentum / „Bericht aus Bonn“ als Polit-Comedy ........... 130 Vorschau........................................................ 131 Satire: „Peep“-Show erregt den Kanzler...... 132 Trash-Offensive bei RTL 2 ............................. 134 Talkshows: Der langsame Abstieg des ARD-Stars Reinhold Beckmann .................... 138 TV-Serien: Die „Lindenstraße“ – Versuch eines Abschieds ............................................. 146 Spielberg Sport P. KASSIN Russlands Klotz Dom von Kaliningrad Seite 206 Kaliningrad, Russlands Ostseeprovinz um das frühere deutsche Königsberg, wird zu Moskaus Bürde. Selbstzweifel und Zukunftsängste plagen die von EU-Anwärtern umschlossene Exklave. Dazu das hartnäckige Gerücht, Russland wolle das Gebiet zur Tilgung seiner Auslandsschulden verscherbeln. Gouverneur Gorbenko dementiert und setzt gleichwohl auf die Zusammenarbeit mit Deutschland. Seite 228 KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA Der Montblanc verliert die Balance Montblanc-Massiv Die verheerende Brandkatastrophe im Montblanc-Tunnel und ein gewaltiger Bergsturz haben den Biorhythmus einer ganzen Region zerstört. Eine schleichende Naturkatastrophe droht nun den Fremdenverkehr im Aosta-Tal zu ruinieren: Die NullGrad-Grenze steigt immer höher, der stabilisierende Eispanzer löst sich langsam auf. Unter dem Einfluss der Erderwärmung gerät das Gebirgsmassiv aus der Balance. Wirkstoff gegen Malaria Seite 302 Gießener Forscher haben eine Substanz aufgespürt, die den Stoffwechsel der Malaria-Erreger hemmt. Das Antibiotikum tötet selbst Parasiten ab, die gegen alle bekannten Mittel resistent sind, und hat kaum Nebenwirkungen. Doch noch fehlen den Wissenschaftlern die Geldgeber, um den Wirkstoff in ein Medikament zu verwandeln. Fußball: Thomas Häßler blüht in München wieder auf ..................................... 160 Prozesse: DDR-Kader brechen ihr Schweigen................................................. 162 Military: Olympia ohne deutsche Equipe? .... 164 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Günter Kunert über die Ära Ulbricht......... 177 Porträts: Becher, Benjamin....................... 194 Ausland Panorama: Russland – Ruf nach dem Notstand / Erdbebenfalle Ägäis ..................... 197 Osttimor: Kosovo in den Tropen................... 200 Ungarn: Ball paradox am Jahrestag .............. 203 Serbien: Interview mit Patriarch Pavle zur Notwendigkeit eines Regimewechsels ..... 204 Kaliningrad: Ostseeprovinz mit Zukunftsängsten ........................................... 206 Arno Surminski über das nördliche Ostpreußen ............................. 208 Interview mit Gouverneur Leonid Gorbenko zu Gerüchten über den Ausverkauf von Königsberg .................... 211 Großbritannien: Wehe, wenn man krank wird..................................................... 216 USA: Ernster Rivale für Al Gore.................... 219 Europa: SPIEGEL-Gespräch mit Günter Verheugen über die EU-Erweiterung ............ 220 Alpen: Radikale Veränderung der Gebirgswelt im Montblanc-Massiv .......... 228 Palästina: Gaza als Ferienparadies .............. 236 Japan: Aristokratische Bastion ..................... 240 Kultur Szene: Kampf um Goethe-Institute geht weiter / Melissa Bank über Frauen, die Männer fischen................... 243 Hollywood: Historiker kritisieren Steven Spielbergs Shoah-Projekt .............................. 246 Intellektuelle: Ernst Jünger und Carl Schmitt – Briefe aus 53 Jahren .............. 268 Bestseller..................................................... 270 Theater: Intendant Klaus Bachler über seinen Start beim Wiener Burgtheater........... 274 Literatur: Das Romandebüt von Liv Ullmanns Tochter Linn............................ 278 Kino: Die Film-Biennale in Venedig .............. 282 Wissenschaft + Technik Seite 132 Mit einer sexsüchtigen Gummi-Puppe von Kanzler Gerhard Schröder feierte Nadja ab del Farrag ihr Debüt als „Peep“-Moderatorin – und zugleich die Rückkehr in die Schlagzeilen der Boulevard-Presse: „PfuiTV“, dröhnte „Bild“. Das Kanzleramt war empört. Der Schmuddelsender RTL 2 ruderte zurück. Auf das Pfui folgte das Hui der öffentlichen Debatte. Wieder mal fragte sich die Nation erregt: Was darf Satire? Reibereien zwischen Politikern und HumorFabrikanten haben seit der Ära Adenauer eine lange Tradition in Deutschland. Farrag RTL Pfui und Hui Prisma: Fingerabdruck als Autoschlüssel / Rückzug der Russen aus der Antarktis .......... 285 Prisma Computer: Game-Boy-Wettkämpfe per Handy / Versteigerung von Babys und Nieren im Internet ................ 286 Militärtechnik: Datennetze – Schlachtfeld im Krieg der Zukunft .................................... 288 Tiere: Mordlust unter Delfinen ..................... 292 Automobile: SPIEGEL-Gespräch mit Designer Giorgetto Giugiaro über Kastenautos und Protzkarossen .................... 296 Medizin: Wie Gießener Forscher ein Malaria-Mittel entdeckten............................. 302 Briefe ............................................................... 8 Impressum...............................................14, 308 Leserservice ................................................ 308 Chronik......................................................... 309 Register........................................................ 310 Personalien .................................................. 312 Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 314 7 Briefe „Wer heute mehr Geburten fordert, hat in 60 Jahren noch mehr Alte, deren Unterstützung wiederum Bevölkerungswachstum erfordern würde. Ist es da nicht richtig und an der Zeit, dieses Kettenbriefsystem des Generationenvertrags zu beenden?“ Stefan Hiemer aus Frankfurt am Main zum Titel „Die Baby-Lücke“ Eine zynische Frechheit Nr. 35/1999, Titel: Die Baby-Lücke – Der Geburtenrückgang erzwingt eine radikale Rentenreform Ich kann das ewige Gekreische über die kontinuierlich sinkenden Geburtenraten nicht mehr hören. Sicherlich ist ein zahlenmäßiger Rückgang nicht von der Hand zu weisen, aber die bedrohlichen Auswirkungen sind rein statistisch. Allein die Geburt von Kindern löst keine Probleme. Kinder brauchen eine Zukunftsperspektive und später Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Diese gibt es in Deutschland jedoch kaum, und daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Delmenhorst Thilo Braun Die Jungen zahlen für die Alten? Das Gegenteil ist doch wohl der Fall: Die meisten Alten haben ihren Kindern eine sorglose Kindheit und eine gute Ausbildung finanziert! Und damit nicht genug: Die Jungen sind schließlich die lachenden Erben. Holzkirchen (Bayern) Max Brandes Bei 82 Millionen Einwohnern und einem Heer von 10 Millionen Arbeitslosen von Arbeitskräfteknappheit zu sprechen, die in irgendeiner fernen Zeit mal auf uns zukommen könnte, ist fast schon eine zynische Frechheit. Der Grundirrtum dieses Humbugs von der angeblichen Baby- und Zuwanderungslücke ist immer der gleiche: Die Finanzierung von sozialen Sicherungssystemen hat mit der Zahl der geborenen Kinder nur sehr wenig, mit der Zahl der (sozialversicherungs- und steuerpflichtigen) Arbeitnehmer aber alles zu tun. Diese finanzieren unsere Sozialsysteme und nicht das siebte Sozialhilfe beziehende Zuwandererkind ohne Hauptschulabschluss mit lebenslanger Sozialhilfekarriere. Oberhausen Jürgen Voß Es zeugt schon von unverschämtem Anspruchsdenken, wenn die von Ihnen erwähnte Familie Kremer sich mit 4000 Mark Monatseinkommen arm rechnen darf. Ich weiß nicht, was die Herrschaften Kremer 8 meinen, was ein Single monatlich verdient. Es ist inzwischen obszön, mit welcher Aggressivität Eltern versuchen, im wahrsten Sinne des Wortes ihre Kinder zu Geld zu machen und nach sozialistischen Enteignungsmustern zu ihren Gunsten schreien. Selbstverständlich wird nach unserem merkwürdigen Steuerrecht das Nichtstun der Ehefrau mit Steuerklasse III subventioniert, während der Single mit seiner Steuerklasse I seine Arbeit hoch besteuert sieht. London Paul Wallace Autor des Buchs „Altersbeben“ Was dringend Not tut, ist eine gesellschaftliche Aufwertung desjenigen, der bereit ist, seine Zeit den Kindern zu widmen. Wie kommt es, dass derjenige, der erwerbsmäßig acht Stunden im Büro sitzt, ein verlässliches Sozialprestige genießen kann, während die Mütter, die – nicht erwerbstätig – in der Regel deutlich länger etwas leisten müssen, in dem Gefühl leben, in der Sozialskala unten angekommen zu sein? Schönhorst (Schlesw.-Holst.) Dr. Gerd Dingebauer Es ist nicht so wichtig, die Bevölkerungszahl stabil zu halten, sondern die Produktivität der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Dieses könnte man durch Programmierer erreichen, die den deutschen E-commerce Düsseldorf Ludger Hagenlücke Als spielten bei der Entscheidung für oder gegen Kinder nicht viele andere individuelle, biografisch bedingte Gründe – außer den rein wirtschaftlichen – eine Rolle. Dass es durchaus Frauen und Männer gibt, die aus Verantwortungsbewusstsein Großeltern, Enkel: Reicher als alle Generationen vor uns keine Kinder in die Welt setzen, da sie nicht in stabilen Partnerschaften le- Sektor stärken. Es werden also nicht einfach ben und einem Kind keine aufreibenden nur mehr Menschen gebraucht, sondern in Trennungssituationen zumuten wollen, und bestimmten Wirtschaftszweigen benötigte die außerdem auch ohne Kinder nicht un- Arbeitskräfte werden gesucht. bedingt die große berufliche Karriere ma- Berlin Christoph Mäulen chen, scheint bei den Schreibern des Artikels nicht ins Gewicht zu fallen. Der erste Schritt, die Geburtenrate zu erhöhen, wäre eine Regulierung des ausgeHannover Ute Nicolaysen uferten Immobilienmarktes zu Gunsten Erforderlich ist eine drastische Neustruk- von Familien mit mehreren Kindern. turierung der Arbeit, die Frauen und Män- Gronau (Nrdrh.-Westf.) Karl Efkemann nern größere Flexibilität erlaubt, Arbeit und Kinder – die Investition der Gesell- Wir sind reicher als alle Generationen vor schaft in die demografische Zukunft – un- uns. Aber wir können uns keine Kinder ter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig muss mehr leisten – und bald können wir uns Vor 50 Jahren der spiegel vom 15. September 1949 Adenauer spürt schon den Wind einer „Gegenregierung“ Im Bundesrat formiert sich eine große Koalition aus CDU, SPD und FDP. Traditionelle Ziegelbauweise gewinnt gegen Schüttbau mit Beton Nur 450 Millionen Mark für den öffentlichen Wohnungsbau. Tourneepremiere der Ex-Ufa-Schauspielerin Lilian Harvey in Koblenz Jubelndes Publikum. Deutsche Uraufführung des sowjetischen Films „Stalingrader Schlacht“ in Ost-Berlin Eine Hymne auf Stalin. Der Komponist Richard Strauss starb 85-jährig Zum Abschied: „Rosenkavalier“. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Der neu gewählte Kanzler Konrad Adenauer d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 C. BAYER / MAURITIUS SPIEGEL-Titel 35/1999 das Arbeitsleben flexibel verlängert statt generell verkürzt werden, während sich auch die Lebensspanne verlängert. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe auch keine Eltern oder Großeltern leisten. Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt zu, aber weil wir nicht noch mehr zukünftige Arbeitslose gebären, werden die „Aussichten auf Wachstum und Wohlstand“ schlechter. Zu solchen absurden Schlussfolgerungen führt der Geldfetischismus unseres Wirtschaftssystems. Ihre Berechnungen sind aber unsinnig, weil die Menschen nicht nur älter werden, sondern auch länger gesund und arbeitsfähig bleiben. Mehr Tatsachentreue walten lassen Neun Jahre Zeit ließ sich Egon Krenz, bis er eine revidierte Fassung seiner Lesart vom Ende des SED-Staates auflegen ließ. 1990 geht der DDR-Dampfer bei ihm noch mit unüberhörbarer apotheotischer Begleitmusik unter: ,,Wenn Mauern fallen“ hieß sein Erstling, als sei das deutsche Zueinander des Autors erstrebtes Lebensziel und die Bestimmung der DDR gewesen. Die Erinnerungen heute sind schlichter – für die diesjährige Gedenkschwemme gut getimt – „Herbst 89“ getitelt. Der im SPIEGEL abgedruckte Auszug enthält, wenn auch nichts wesentlich Neues, so doch mehr Details, die Hilflosigkeit, Querelen und Hickhack in der Parteispitze während der Zeit des finalen Siechtums der DDR belegen. Honecker ist nicht mehr der mit leiser Wehmut bedachte tragische Patriarch, sondern der starrsinnige Rumpelstilz, der mit seiner Verbohrtheit Krenz „verzweifeln“ lässt oder ,,schmerzlich enttäuscht“. Mancher kann ohne Übervater nicht leben. So wird zu meiner Überraschung ein väterlicher Mielke vorgeführt. Als sich Krenz in den Abendstunden des 9. November dafür entscheidet, die Schlagbäume hochgehen zu lassen, ist der Stasi-Chef dabei. Original-Ton Krenz: ,,Mielke ist fast 30 Jahre älter als ich. Leise, sehr nachdenklich, sagt er: ,Hast Recht, mein Jung.‘“ Verklärung für den alten Fuchs, der längst um sein eigenes Ende bangt (Wenige Tage später wird er mich fragen, ,,werdet ihr uns nun umbringen lassen?“).Aufschlussreich ist, dass Krenz zu jener Zeit weiter außerordentlich engen Kontakt zu FDJ-Funktionären hielt, viel intensiver, als mir das in unserer gemeinsamen konspirativen Phase im Spät- Stockholm Jacob von Uexküll Gründer des Alternativen Nobelpreises Wer keine Kinder großgezogen hat, muss sich selbst um seine Altersversorgung kümmern. Schließlich genießen Kinderlose auch einen erheblich höheren Lebensstandard als die Eltern mehrerer Kinder. Pöttmes (Bayern) Bruno Haberger Früher haben Oma und Opa einen oft großen Anteil an der Kindererziehung übernommen und waren eine feste und verlässliche Größe im Familienalltagsstress. Das ist heute out und hat sichtbare Folgen. Überforderte Mütter, hin und her gerissen zwischen beruflicher Zukunftsangst, Mutterfreuden und totaler Erschöpfung, schwören sich nach dem ersten Baby: Nie wieder! Offenbach Kirstin Goth Müssen die Arbeitstätigen gesunde Rentner vollständig ernähren, oder gäbe es Modelle für einen schrittweisen Ausstieg aus dem Erwerbsleben? Könnten nicht rüstige Rentner einen Teil der Pflege der Pflegebedürftigen übernehmen und sich dadurch spätere Ansprüche auf zusätzliche Pflege durch andere Rentner sichern? München Uli Sommer konntet Ihr das nur unserem deutschen Gorbatschow antun? Liebe Bärbel Bohley, lieber Gerd Poppe, lieber Rainer Eppelmann, lieber Markus Meckel. Jetzt könnt Ihr endlich lernen, wer die wirklichen Reformer vom Herbst 1989 waren. Nicht Ihr beziehungsweise das Neue Forum, die Initiative für Frieden und Menschenrechte, der Demokratische Aufbruch, die SDP oder die vielen anderen, die gegen das SED-Regime aufgestanden sind, habt die Geschichte in Bewegung gesetzt. Nein, Egon und sein Club der alten Männer aus dem Politbüro waren es gewesen. Egon hat selbstlos und uneigennützig den bösen Erich entmachtet, die Mauer geöffnet und Systemgrenzen überwunden. Hättet Ihr ihn und seine revolutionären Genossen nur gelassen – dann wäre die DDR bestimmt noch zum Arbeiter-und-Bauern-Paradies geworden. Wie konntet Ihr ihn nur dabei stören? Wie 12 d e r Bonn Udo Baron Waldheimer Prozesse, tausende Verschleppte, hunderte Mauertote, eine ganze SICHOV / SIPA Unerfreuliche Vergangenheit Nr. 35/1999, Zeitgeschichte: Reue und Rechthaberei beim letzten Mann der DDR-Regimes; Egon Krenz erinnert sich an den Herbst 1989 DDR-Staatsratsvorsitzender Krenz (1989) Ein deutscher Gorbatschow? s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 C. HIRES / GAMMA / STUDIO X herbst ’89 bekannt und bewusst war. Offensichtlich sollte sich früher oder später daraus die neue Elite rekrutieren. Die Fortsetzung der DDR als FDJStaat, eine verwegene Perspektive. Wieder aufgewärmt wird der Vorwurf an meine Adresse, den Termin der Maueröffnung un- Schabowski zulässigerweise vorfristig verkündet zu haben. Tatsache ist, dass der Text der Regierungsverordnung über Reiseund Ausreisefreiheit, den ich in der Pressekonferenz verlesen habe, keinen Sperrfristvermerk aufwies. Krenz hatte mir das Papier zudem ohne jegliche Bemerkung über eine Sperrfrist übergeben. Deshalb war die Frage eines Journalisten nach dem Inkrafttreten der Regelung von mir nur an Hand ihres Textes zu beantworten: ,,Ab sofort“. Außerdem kann man nicht mehrere hundert News-Vertreter der Weltpresse eine derartige Jahrhundertnachricht schmecken lassen und ihnen dann vorschreiben: ,,Runterschlucken dürft ihr sie erst am nächsten Morgen.“ Der Meinung konnte nur sein, wer diese Korrespondenten mit einer ein- und ausknipsbaren Befehlspresse des DDR-Typus verwechselte. – Vielleicht lässt Egon im nächsten Buch noch mehr Tatsachentreue walten. Für das Eingeständnis seines Fehlers braucht er ja keine Parteistrafe mehr zu befürchten, und Mielke hat auch nichts mehr zu melden. Berlin Günter Schabowski Politbüromitglied der DDR (1984 bis 1989) Bevölkerung vor der Welt weggesperrt, Militarismus schon im Kindergarten, übelster Menschenhandel Jahre und Jahrzehnte vorher – alles vergessen? Oder gerechtfertigt? ,,Honecker und ich haben schließlich den Kalten Krieg nicht erfunden“ (Krenz). Steinheim (Bad.-Württ.) Walter Heinlein Am 8. Oktober will Herr Krenz an einer „Routinesitzung“ der Staatssicherheit teilgenommen haben. Zu dieser Zeit befanden sich Teile der NVA seit sechs Tagen in erhöhter Gefechtsbereitschaft, und es waren tausende vollbewaffneter Soldaten im Einsatz, um die Durchfahrt der Züge aus der Prager Botschaft abzusichern, die Jubelfeiern am 7. Oktober abzusichern und am 9. Oktober in Bereitschaft zu stehen, um die Konterrevolution auf der Montagsdemo in Leipzig gemeinsam mit den russischen Kampfgefährten auf Befehl niederzuschlagen. So lauteten die Einsatzbefehle. Entweder ist Krenz von Alzheimer befallen, oder er möchte die unerfreuliche Vergangenheit etwas freundlicher darstellen, kurz sich und alle Leser belügen. Budapest d e r Olaf Stuewe s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Briefe te 19, 20457 Hamburg) Meerbusch (Nrdrh.-Westf.) Martin Krolzig Landespolizeipfarrer der Ev. Kirche im Rheinland 14 TITELILLUSTRATION: Nancy Stahl für den SPIEGEL d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 zeitig, quasi ersatzweise, erschien am Waschtischstecker eine fußballgroße Lichtkugel, die sich fußbodenwärts bewegte, auf dem Teppichboden in Richtung Fenster weiterlief und dort mit einem leisen Zischgeräusch zerplatzte. Das dauerte circa drei Sekunden. Aus der geschätzten Wegstrecke von acht Metern ergibt sich die Geschwindigkeit von 2,7 Metern pro Sekunde – tatsächlich die eines Joggers. Voraussetzung für den Kugelblitz war die – einem Faradayschen Käfig ähnliche – totale Kunststoffauskleidung der „Wohnzelle“, durch die die natürliche Entladung des durch Kurzschluss entstandenden elektrischen Potenzials verhindert wurde. Hagen Prof. Dr. Jürgen Stoffregen Der Kaiser ist ja völlig nackt! Nr. 35/1999, Schriftsteller: SPIEGEL-Gespräch mit US-Bestsellerautor Tom Wolfe über seinen neuen Roman „Ein ganzer Kerl“ Es kann doch kein SPIEGEL-Reporter so gut sein, dass es Tom Wolfe nicht gelänge, ihn zu verarschen. Was nun den Leithund betrifft, den kann man leicht ermitteln, und zwar so: Seit Wochen rennen wir uns die Füße platt zu den Buchhandlungen, um endlich jeden Preis für den neuen Tom Wolfe zu zahlen. Wann haben wir das zuletzt für Norman Mailer getan? Was nicht heißen soll, dass dieser Leithund uns einiges geschrieben hat, das man in diesem Leben nicht besser maSchriftsteller Wolfe chen kann. Doch leider, leider, Leithunde werden früher oder später von jüngeren, unverbrauchten abgelöst. Besonders erfreulich für Kunstliebhaber: Dieses weiß gekleidete Kind wagt es als eines der ganz wenigen zu sagen: Aber der Kaiser ist ja völlig nackt! MUSCIONICO / CONTACT Es ist nicht der Arbeitsanfall oder der Stress, der dem einzelnen Beamten auf Dauer schwer fällt, als vielmehr die psychische Seite des Berufs, die das Unterbewusstsein nicht loslassen kann. Die Mehrheit der PolizistInnen schleppen Erlebnisse mit sich herum, die nicht verarbeitet wurden. Zum beruflichen Alltag gehören auch die Schattenseiten menschlichen Daseins – Elend, Leid, Dreck und Gestank. Mit den Wechselbädern der Gefühle müssen PolizistInnen allein klarkommen. Eben noch mit einem verwesenden Toten zu tun gehabt, um im nächsten Moment einen Einbruch im Villenviertel aufzunehmen. Wer dabei nicht funktioniert, wird trotzdem Neusser Polizistin Dreisbach schlecht beurteilt. Fragen nach der „Die Gründe liegen im persönlichen Bereich“ Ursache für ein Leistungstief werden nicht gestellt. Es sind Vorgesetzte, die wenig bis gar nichts über Menschenführung Wechselbäder der Gefühle wissen, die eine notwendige Kontrolle verNr. 35/1999, Polizei: Tragische Selbstmorde hindern, dafür aber Nebensächlichkeiten auf einer Neusser Wache kontrollieren. Wer den Korpsgeist aufDass sich die Fälle in diesem einen Polizei- bricht, hat bei der Polizei nichts zu lachen. revier häufen, kann Zufall sein. Und wenn Der wird gemobbt, bis er vor die Hunde es kein Zufall sein sollte, wem soll man dann geht, wenn er keine Unterstützung erhält. die Schuld geben? Den Kollegen, den Vor- Vermeintliche Verräter erhalten Morddrogesetzten etwa, wie hier beschrieben? Das hungen, oder Frauen werden überdurchfinde ich unglaublich. Ist nicht jeder auch für schnittlich oft sexuell belästigt bis hin zur sich selbst verantwortlich? Man kann immer Nötigung. Das kollegiale Miteinander muss nur so viel tun, wie der Mensch selbst wil- einen höheren Stellenwert erhalten. lens ist, sich helfen zu lassen. Warum sich Wiesbaden Jürgen Korell letztlich die Polizeibeamten umgebracht haBAG Kritischer PolizistInnen ben, wird niemand je wissen, wir können sie nicht mehr fragen. Wir können jedoch eins tun, das Problembewusstsein für den Suizid Mit leisem Zischgeräusch zerplatzt in jedem Einzelnen schärfen. Schließlich Nr. 35/1999, Prisma: Wie entstehen Kugelblitze? sterben in Deutschland mehr Menschen an Suizid als an den Folgen eines Verkehrsun- Man kann den Kugelblitz auch ohne „ein falls, und alle 45 Minuten nimmt sich ein kleines Schwarzes Loch“ reproduzieren. Mensch das Leben. In einem Motel in Palm Springs hatte ich den für US-Stecker erforderlichen Adapter Hannover Dörte Correns für meinen Rasierapparat vergessen und Ich kenne keinen anderen Bericht und kei- mir im Supermarkt ersatzweise zwei Krone Analyse, die die innere Verfassung der kodilklemmen zur improvisierten StromPolizei so auf den Punkt bringt. Die Polizei versorgung besorgt, um mich für einen wird nicht geführt, sondern verwaltet. Ab- Abendempfang zu rasieren. Als sich dabei wiegeln ist oberstes Handlungsprinzip. Indiz die Klemmen berührten, erloschen im gedafür ist die stereotype Mitteilung der poli- samten Motel-Flügel die Lichter. Gleichzeilichen Pressestellen nach Suiziden: „Die Gründe liegen im persönlichen Bereich.“ Die Polizei agiert hilflos, wenn ihre WerkVERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, zeuge wie Ermittlungs- und DisziplinarSPD,CDU,FDP,Bundeswehr,Zeitgeschichte,Politiker: Michael Schmidtmaßnahmen nicht mehr greifen. Die SuiziKlingenberg; für CSU, Brandenburg, Beamte, Bundestagspräsident, Kride von Beamten sind die Fieberkurve des minalität, Rüstung, Innere Sicherheit: Ulrich Schwarz; für Trends, Geld, Titel, Konzerne, Fusionen, Internet, Unternehmer, Satire, Talkshows, Unternehmens Polizei. Doch eine BestandsChronik: Gabor Steingart; für Fernsehen,TV-Serien,Szene,Spielzeug,Inaufnahme der eigenen Unternehmenskultur tellektuelle,Bestseller,Theater,Literatur,Kino: Dr.Mathias Schreiber; für ist bisher unterblieben. Deshalb erfordert Fußball, Prozesse, Military: Alfred Weinzierl; für Spiegel des 20. Jahrder innere Zustand der Polizei eine Reform, hunderts: Dr.Dieter Wild; für Panorama Ausland,Osttimor,Ungarn,Serbien,Kaliningrad,Großbritannien,USA,Europa,Alpen,Palästina,Japan: deren Schlüsselfrage lauten muss: Wie geDr.Olaf Ihlau; für Prisma,Militärtechnik,Tiere,Automobile,Medizin: Johen wir miteinander um? Solange der Polihann Grolle; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, zei der Mut zur Führung fehlt, wird sie mit Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Suiziden wie denen in Neuss auch künftig Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: HansUlrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiekonfrontiert werden. Oberhausen Herta Holtappel Ich danke Herrn Hüetlin und dem Leithund Mr. Wolfe für das beste und amüsanteste Interview der jüngeren Geschichte. Mülheim/Ruhr Daniel Lohse Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL- Ausgabe enthält einen Postkartenbeihefter der Firma Cosmos Leben, Saarbrücken, und des SPIEGEL-Verlags, Hamburg. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Prospekt der Deutschen Bank, Frankfurt, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Pro. Idee, Aachen, Expo 2000, Hannover, Spotlight, Planegg, und Hewlett Packard, Böblingen, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama KURDEN Mehr Chancen auf Asyl E in neuer Bericht des Auswärtigen Amtes über die Menschenrechtslage in der Türkei eröffnet Kurden bessere Chancen auf Asyl in Deutschland. Das bisher unveröffentlichte 33-seitige Dossier schildert detaillierter als der vorausgegangene Bericht die politische Lage, die T. KLINK Türkische Militäraktion gegen Kurden (1996) Feier zum kurdischen Neujahrsfest (in Stuttgart) „Menschenrechtspraxis“, das Verhalten von Justiz und Sicherheitsapparaten in der Türkei und beschreibt eine Fülle prekärer Einzelfälle. Die Entscheidung, ob einem Bewerber Asyl gewährt oder ob er abgeschoben wird, liege nun „da, wo sie hingehört, bei den Gerichten“, sagt der grüne Staatsminister Ludger Volmer: „Die sollen sich zusätzlich noch aus eigenen Quellen schlau machen.“ Gleichwohl eröffnet die Faktensammlung den Richtern die Möglichkeit, großzügiger Asyl zu gewähren. Zwar geht das Außenamt weiter davon aus, dass es in der Türkei keine „Gruppenverfolgung“ gibt, die den Kurden als ethnischer Gruppe automatisch Anspruch auf Asyl in Deutschland gewährt. Die ge- schilderten Fälle aber machen klar, dass die türkischen Behörden eingreifen, wenn sich jemand für kurdische Belange einsetzt. Selbst Personen, die lediglich „Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit“ der Kurden erheben, so der Bericht, „riskieren, wegen ‚separatistischer Propaganda‘ bestraft zu werden“ – mit bis zu lebenslanger Haft. Das Dossier räumt weiterhin ein, dass bedrohte Kurden in der Türkei eine „innerstaatliche Fluchtalternative“ besäßen; in westtürkischen Großstädten wie Istanbul sind Kurden weniger gefährdet – eigentlich ein Grund, ihnen Asyl in Deutschland zu verweigern. Das gelte jedoch nicht für jeden und nicht in jedem Fall: Es könne „im Einzelfall durchaus zutreffen“, so das Papier, dass es für Kurden in der Türkei selbst „keine Auswegmöglichkeit“ mehr gebe. Zudem räumt das Auswärtige Amt ein, dass abgeschobene Asylbewerber nach ihrer Rückkehr in die Türkei misshandelt wurden; das könnte Abschiebungen künftig erschweren. Erstmals wirkten Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge an den Türkeiberichten nicht mehr mit. Staatsminister Volmer hatte es als „völlig inakzeptabel“ bezeichnet, dass die Berichte von Mitarbeitern jener Behörde des Innenamtes mitgeschrieben würden, die später über die Asylanträge von Kurden entscheide. beim Wachpersonal, den eine Milliarde teuren Bauten auf dem Expo-Gelände und bei der Werbung machen. Die Einschnitte, heißt es bei der Expo-Führung, seien „schmerzhaft“ und würden ie Weltausstellung Expo 2000 in zum Teil für die Besucher der WeltHannover hat ihr Budget um knapp ausstellung spürbar werden. „Misslich“ 80 Millionen Mark gesenkt. Allein beim sei zudem die Verzögerung so genannten Themenpark, dem bei der „dringend notwendiHerzstück der Ausstellung, wergen“ Werbekampagne, die nun den 10,5 Millionen Mark gestristatt im Herbst erst Anfang chen. Das Kulturprogramm soll nächsten Jahres starten könum vier Millionen Mark gekürzt ne. Damit seien nun „alle werden, heißt es in einem interEinsparungspotenziale ausgenen Planungspapier, das Ende schöpft“. des Monats im Aufsichtsrat verDie Gesellschafter der Expo – abschiedet werden soll. Weitere Bund, Land Niedersachsen und Abstriche will die Gesellschaft Expo-Logo W E LTAU S S T E L L U N G Expo speckt ab D d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Hannover – hatten zuvor Einsparungen im Budget der Weltausstellung verlangt und damit Forderungen der ExpoFührung abgelehnt, Finanzreserven in Höhe von 200 Millionen Mark schon in diesem Jahr anzugreifen. Zitat »Was ist für Sie das größte Unglück?« – »Unverschuldete Arbeit.« Ortwin Runde, Hamburgs Erster Bürgermeister, im Fragebogen der „FAZ“ 17 Panorama M. AUGUST Rühe-Examensarbeit (Ausrisse), Rühe im Wahlkampf in Schleswig-Holstein WA H L K A M P F Rühes alte Zitate V ergangene Woche feuerte die SPD-Landtagsfraktion in Kiel ihren Sprecher Thomas Röhr, weil der versucht hatte, die Examensarbeit des Spitzenkandidaten der CDU für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein, Volker Rühe, zu besorgen – der Mann hätte sich die Mühe und den dann folgenden Ärger sparen können. Rühes „schriftliche Arbeit zur Vorlage bei der pädagogischen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien“ vom Januar 1970 ist aus heutiger Sicht zwar kein Meilenstein der Pädagogik – wer sie aber für den Wahlkampf benutzen will, muss lange nach Zitaten suchen, die er publikumswirksam aus dem Zusammenhang reißen könnte. In dem Werk (Titel: „American English – Ein Unterrichtsversuch in einer 11. Klasse“) überprüft Rühe beispielsweise die Lehrpläne und Lehrer-Ausbildungsordnun- STIFTUNGEN Billiger beraten Z schaft und Politik (SWP), bislang im bayerischen Ebenhausen angesiedelt, und das Kölner Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien billigere Gebäude in Berlin beziehen, etwa den Bendler-Block. Beide sollten eigentlich im Rahmen des Sparprogramms den Umzug verschieben und so in den kommenden zwei Jahren 28,1 Millionen Mark einsparen. Mitglieder des SWP-Stiftungsrats, darunter Hans-Ulrich Klose (SPD), Volker Rühe (CDU) und Hermann Otto Solms (FDP), hatten den Kanzler vorige Woche gebeten, den Umzugsstopp aufzuheben. Durch die Nähe zum Parlament, so ihre Argumentation, könne die Beratung der Abgeordneten wesentlich erleichtert werden. P. LANGROCK / ZENIT wei Institutionen für Politik-Beratung dürfen nun womöglich doch nach Berlin umziehen. Als Kompromiss ist in Sicht, dass die Stiftung Wissen- gen einiger Bundesländer darauf hin, ob sie dem amerikanischen Englisch den angemessenen Stellenwert einräumen. Und siehe da: Das SPD-regierte Hamburg wird diesbezüglich als „recht fortschrittlich“ gelobt, das CDU-geführte niedersächsische Kultusministerium getadelt. Zudem berichtet Rühe davon, dass er bei einem Amerikabesuch wegen seines Oxford-Englisch verspottet wurde, da dies in den USA als „affektiert“ gelte. Später beschreibt er in entwaffnender Offenheit, dass seine Schüler von den Aufgaben oft überfordert waren. Und wenn man den Zusammenhang weglässt, outet sich Rühe sogar als ganz autoritärer Knochen: „Der Lehrer muss allerdings sehr stark führen.“ Rühe-Wähler finden den Satz wahrscheinlich sogar hochaktuell. SPD-Sprecher Röhr hatte die Arbeit nicht erhalten, ihm fehlte die Zustimmung des Autors. Rühe hätte aber ohne weiteres erlauben können, die Arbeit bei der Hamburger Schulbehörde abzuholen. Dort nämlich liegt sie nach Auskunft der zuständigen Leiter gar nicht mehr vor: Nach zehn Jahren Aufbewahrungszeit wandern die Schriftstücke in den Schredder. Bendler-Block in Berlin 18 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 AT O M AU S S T I E G Grüne Hoffnung J oschka Fischer und Jürgen Trittin wollen an diesem Freitag mit den Chefs der vier größten Atomkonzerne einen Kompromiss zum Ausstieg aus der Nuklearenergie suchen. Die Grünen wollen vor allem herausfinden, ob die Strombosse willens sind, der Ökopartei entgegenzukommen. Die wäre möglicherweise bereit, sich von den rechtlich problematischen einheitlichen Laufzeiten zu verabschieden, falls die Strombosse im Gegenzug die kurzfristige Stilllegung einiger Meiler akzeptierten. Den von Wirtschaftsminister Werner Müller im Juni ausgehandelten Ausstiegsfahrplan mit Reaktorlaufzeiten von mindestens 35 Jahren lehnen die Grünen ab, weil bisher kaum ein kommerzieller Reaktor derart lange Betriebszeiten erreichte. Außerdem würde in der laufenden Legislaturperiode kein einziges Kraftwerk stillgelegt. Deutschland R AU S C H G I F T Dealer beim BGS B ACTION PRESS eim Bundesgrenzschutz (BGS) häufen sich die Affären. Gegen einen wachsenden Kreis von Beamten in Frankfurt am Main ermitteln Staatsanwälte wegen Drogendelikten. Drei der Tatverdächtigen sitzen in Untersuchungshaft, gegen rund zwei Dutzend weitere laufen Strafverfahren. Den mutmaßlichen Haupttätern wird vorgeworfen, von Frankfurt aus einen organisierten Handel mit Kokain, LSD und Ecstasy betrieben zu haben. BGS-Leute, die aus der ehemaligen Bahnpolizei übernommen wurden, sollen zudem im Frankfurter Bahnhofsviertel Dealern Stoff abgenommen und dann einbehalten haben. In Frankfurt (Oder) wurden zwei BGSPolizeimeister Anfang des Monats vorübergehend festgenommen und vom Dienst suspendiert; Mitglieder einer internationalen Schleuserbande hatten ausgesagt, die Beamten, die am Grenzübergang „Stadtbrücke“ eingesetzt waren, hätten sich für gezieltes Wegsehen mit Rauschgift bezahlen lassen. In der BGS-Inspektion Cuxhaven laufen disziplinarische Ermittlungen gegen 13 Beamte. Sie sollen an Bord der Patrouillenboote BG 22 und BG 23 Zigaretten und Alkohol geschmuggelt haben oder Mitwisser gewesen sein. Die Kollegen vom Zoll hatten unter anderem 4980 Zigaretten und 23 Liter Schnaps aufgestöbert. Die Abberufung des zuständigen Amtsleiters gilt nun BGS-intern als beschlossene Sache. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) stellt klar: „Wir werden keine Unregelmäßigkeiten dulden.“ SPD „Sozialismus streichen“ Markus Meckel, 47, SPD-MdB und Ex-DDR-Außenminister, über die Programmdebatte seiner Partei SPIEGEL: Sollte die SPD in ihrem neuen Programm den Begriff „Sozialismus“ tilgen? Meckel: Ja, Sozialismus ist ein missverständlicher Begriff. Er taugt vielleicht für Debatten linker Theoretiker, aber nicht als Zielvorstellung für die SPD. SPIEGEL: Die Forderung nach „demokratischem Sozialismus“ ist doch SPD-Tradition. Meckel BILDUNG Schutz für Universitäten B ayerns Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU) will den Begriff Universität besser schützen: „Wer nur ein oder zwei Fächer anbietet und gerade mal eine Hand voll Studenten ausbildet, der darf sich nicht als Universität aufspielen.“ Seine Kritik richtet d e r Meckel: Die Partei muss sich mit dieser Tradition auch auseinander setzen und kann sich zu ihr bekennen. Die Menschen setzen heute aber Sozialismus mit DDR gleich, mit dem gescheiterten kommunistischen Regime. Es ist für eine Partei sinnlos, an einem komplett diskreditierten Begriff festzuhalten, der immer erst erklärt werden muss. SPIEGEL: Den Sozialismus wollen Sie der PDS überlassen? Meckel: Ja, so wird die Distanz zur PDS deutlich, die sich der DDR und dem gescheiterten System bis heute verbunden fühlt. Wir Sozialdemokraten sollten uns soziale Demokratie auf die Fahnen schreiben. Da weiß jeder, was gemeint ist. M. DARCHINGER Grenzschützer (in Frankfurt/Oder) sich vor allem gegen die in den vergangenen Jahren gegründeten kleinen Privat-Hochschulen wie die International University Bruchsal mit derzeit rund 120 Studenten und 2 Studienfächern. Zehetmair plant, für die Bezeichnung Universität und nach Möglichkeit auch für das englische Wort University im Bayerischen Hochschulgesetz Mindeststandards für die Anzahl der Fächer und der Dozenten vorzuschreiben. s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande 20 Parade zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 in Ost-Berlin PDS Gedenken an die Konterrevolution D ie Kommunistische Plattform (KPF) der PDS organisiert eine Feier zum „50. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik“. „Nicht Trauer soll ihren Charakter bestimmen, schon gar nicht Denunziatorisches!“, heißt es in der Information zu der Veranstaltung am 9. Oktober, die EMS-SPERRWERK Sind Fische blöd? E passenderweise in der früheren Berliner SED-Parteihochschule stattfinden soll. Im neuesten Mitteilungsheft der KPF wird die Art des DDR-Gedenkens vorgegeben: Bei den gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland seit 1989, schreibt KPF-Vordenker Heinz Kallabis, handele es sich nicht um „Resultate einer friedlichen Revolution, sondern einer Konterrevolution“. Die „Restauration kapitalistischer Verhältnisse“ sei ein „historischer Rückschritt“ gewesen, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine „Annexion durch die BRD“. Ems seien „ja nicht blöd“ und außerdem an Salzwasser gewöhnt – sie würden eben emsaufwärts schwimmen, „wenn denen das Wasser zu salzig wird“. Der Bau des 350 Millionen Mark teuren Sperrwerks, Ende vergangenen Jahres per Gerichtsbeschluss gestoppt, soll ab Mitte Oktober fortgesetzt werden. Bis dahin will das Land alle erneuten Einwendungen von Anwohnern und Umweltverbänden prüfen. U-Generaldirektor James Currie warnt vor einem „Massenfischsterben und Kleintiersterben“, falls das umstrittene Ems-Sperrwerk in Gandersum bei Leer tatsächlich gebaut werden sollte. Eine „Verletzung von europäischem Umweltrecht“ sei zwar „nicht mehr erkennbar“, so Currie in einem Brief an Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Die Verödung der Ems sei aber absehbar, wenn der Fluss wie geplant mit Meerwasser aufgefüllt und gestaut werde, um Luxusliner der Papenburger Meyer-Werft in die offene See zu überführen. Die zuständige Bezirksregierung Weser-Ems hält die Warnung aus Brüssel jedoch für „völlig abwegig“. Die Fische der Überführung eines Kreuzfahrtschiffs auf der Ems d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 P. FRISCHMUTH / ARGUS Früher hieß es: „Wer nichts wird, wird Wirt“, später wurden Kinder, die nicht lernen wollten, gefügig gemacht, indem ihnen ein Job bei der Müllabfuhr angedroht wurde. Nun kommt aus Amerika eine Meldung, die geeignet ist, den Polizeiberuf zum Traumjob aller Dummbeutel zu machen. In New London, im US-Bundesstaat Connecticut, wurde ein 43jähriger Polizeibewerber abgelehnt, weil er durch den Intelligenztest gefallen war: Mit einem IQ von 125 war er zu schlau für den Job. Mit 104 wäre er tauglich gewesen, mehr zu haben aber bedeute, dass sich der Kandidat auf „die Dauer langweilen und den Dienst quittieren“ würde. Der Mann, der ein Literaturstudium abgeschlossen hat, könnte ja immer noch Pförtner in Harvard werden, wo die IQ-Höchstgrenze kompatibler ist und wo es auch schicke Uniformen gibt. Aber nein, Polizist ist sein Traumberuf: auf Streife gehen, Knöllchen ausstellen, für Recht und Ordnung sorgen. Armes Amerika! In Deutschland wäre ihm das nicht passiert. Hier werden solche Schlauköpfe in die Deeskalationsstrategien bei Demonstrationen eingebaut, wo sie dann so lange mit den Demonstranten über Kernkraft, Gewaltmonopol oder Gentechnik diskutieren, bis die Kollegen auf dem Wasserwerfer den Weg zur Demo gefunden haben. Mit einem IQ von 125 könnte er sogar Polizeipräsident werden, vielleicht erst mal nur im Osten, aber verglichen mit New London ist das ja schon gar nicht so schlecht. SIPA Klug wie Cops Werbeseite Werbeseite Deutschland SPD-Vorsitzender Schröder, Generalsekretär Müntefering*: „Der Kampf ‚wir gegen uns‘ muss aufhören“ SPD Knüppeln, reden, zuhören Wieder einmal soll alles anders werden. Kanzler Gerhard Schröder organisiert die Führung der Partei neu, doch zunächst rechnet er mit weiteren Niederlagen der SPD. Erst ab Mai 2000, mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, soll es wieder aufwärts gehen. D er Anruf wirkte wie bestellt. Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder am Donnerstag vergangener Woche in Berlin die Öffentlichkeit mit der Präsentation seines parteiinternen Kritikers Reinhard Klimmt als Verkehrsminister verblüfft hatte, saßen die Herren noch auf eine kleine Zigarrenlänge im Arbeitszimmer des Kanzlers zusammen. Beide waren sicher, dass ihr gemeinsames Signal in der SPD und bei den Bürgern so ankommen werde, wie es Schröder formulierte: „Der Kampf ,wir gegen uns‘ muss aufhören.“ Da platzte Michael Steiner in die Runde, der außenpolitische Berater des Kanzlers, und meldete: „In zwei Minuten ruft Bill Clinton an.“ Schröder löste sich irritiert aus seinen innenpolitischen Erörterungen: „Was will er denn?“ – „Vermutlich will er uns gratulieren“, brummte Klimmt selbst22 ironisch. Es ging aber um Osttimor (siehe Seite 200). Mit einer Mischung aus Stolz über die gelungene Überraschung, Erleichterung, Galgenhumor und grimmiger Entschlossenheit sehen Schröder und seine engeren Gefolgsleute im Kanzleramt und im Berliner Willy-Brandt-Haus den Folgen ihrer organisatorischen Notoperation entgegen. Dass damit nicht sogleich Wahlen zu gewinnen sind, ist einkalkuliert. „Alle 90 Tage sind in den nächsten drei Jahren irgendwelche Wahlen“, sagte Schröder, der mit einer Art Blut-, Schweiß- und TränenRede im Bundestag diese Woche seine Entschlossenheit zum Sparen bekräftigen will: * In der Berliner SPD-Zentrale vor der Willy-BrandtSkulptur am vergangenen Montag. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 „Wenn die Bundespolitik darauf Rücksicht nehmen wollte, müsstest du als Kanzler deinen Hut nehmen. So kannst du nicht regieren. So gehst du kaputt.“ Ernst war die Lage sowieso schon immer, seit die rot-grüne Regierung im Oktober ’98 die Konservativen ablöste. Nach einem knappen Jahr im Amt tendiert der Trend in Richtung hoffnungslos. Sämtliche Landtags- und Kommunalwahlen in diesem Jahr werden für die Sozialdemokraten wohl mit Niederlagen enden. Auch den Grünen geht es schlecht. Die Popularitätswerte des Kanzlers sind rapide gefallen, die seiner SPD sowieso. Die Gewerkschaften rebellieren, Parteimitglieder und Abgeordnete sind zutiefst verunsichert. Sie alle treibt die Frage um: Für was steht die deutsche Sozialdemokratie eigentlich noch? Wohin bewegt sie Weil aber die noch in diesem Jahr ausstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Berlin nicht mehr erfolgreich zu bestehen sind, Auf der Suche nach neuen Wählerschichten auch Schleswig-Holstein im haben Parteien die ‚neue Mitte‘ entdeckt. kommenden Februar nicht Was denken Sie, wenn Sie diesen Begriff hören? sicher ist, haben Schröder und seine Strategen längst GESAMT OST WEST eine neue Zielmarke ins Ich zähle zur 20 Auge gefasst: die Landtags7 23 wahlen im Mai 2000 im so„neuen Mitte“ dazu zialdemokratischen Stammland Nordrhein-Westfalen. 26 25 Ich gehöre nicht dazu 25 Dort, so weiß der Kanzler, heißt es: alles oder nichts. Ich kann mir unter dem 64 50 Spät, sehr spät hat SchröBegriff nichts vorstellen 53 der erkannt, dass er ohne – Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 7. und 8. September; rund 900 oder gar gegen – seine eigeBefragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angaben ne Partei nicht erfolgreich Politik machen kann. Nun will er „knüppeln, arbeiten, reden und Der Einzelkämpfer und Macher an der zuhören“, um die SPD mitzunehmen. Zu- Spitze will Entscheidungen, nicht Diskusgleich aber erwartet er von der Sozialde- sionen in Sachen Sparpaket und Renten. mokratie aktive Mithilfe bei dem Versuch Und er will Mehrheiten und klare Unterzu beweisen, „dass dieses Land in der Lage stützung auf dem Parteitag im Dezember. ist, die Aussitzerei zu beenden“. Dass die Union künftig im Bundesrat Die Spannungen zwischen dem erfolgs- kräftig mittun darf, irritiert den Kanzler und handlungsorientierten Macher Schrö- nicht ernstlich. Ein Berater: „Die Dinge der und seiner diskutierfrohen und bewe- lassen sich im Vermittlungsausschuss dann gungsunwilligen Partei sind freilich nicht in aller Ruhe besprechen.“ Er glaubt eher, aus der Welt. dass die fehlende rot-grüne Mehrheit in So konzessionsbereit in Richtung SPD der Länderkammer in den eigenen Reihen sich der Vorsitzende Schröder in der ver- für Disziplin sorgen und der Union das gangenen Woche auch gab, sosehr auch sei- Oppositionsprofil nehmen wird. ne Mitarbeiter beteuern, dass ihn die SorFalls sich sein Neu-Minister Klimmt, der gen der Genossen an der Basis bekümmern sich bis zur Saarwahl noch über die „ex– aus seiner Haut kann und will er nicht: treme Schieflage“ bei Rentenreform und Spardebatte beklagt hatte und auch in Berlin von dieser Einschätzung nicht abrückte, doch noch einmal öffentlich auf Abwege machen wollte, drohte ihm Schröder kaum verhohlen vor der Presse: „Reinhard Klimmt ist sich völlig im Klaren darüber, dass Loyalität und Kabinettsdisziplin völlig selbstverständlich sind.“ Nein, deprimiert zeigt sich dieser Kanzler wahrlich nicht. Selbstbewusst und sichtlich mit seinem Coup zufrieden präsentierte er sich den Fernsehkameras. Gewiss hat er begriffen, dass er so – mit Sprache und Gestus eines Modernisierers in den Medien – weder die Partei überzeugen noch Wahlen gewinnen kann. Nichts hatte ihn im „eigenen Laden“ (Schröder) mehr isoliert als sein Posieren nach Kapitalistenart mit dicker Zigarre und seine verächtlichen Sprüche über Kritiker aus der eigenen Partei: „Wer das Sparpaket nicht begreift, ist blöd.“ Ein Spitzengenosse Ziel-Grüppchen sich? Wo bleibt die Gerechtigkeit beim hastigen Reformkurs der Schröder-Regierung? Was ist überhaupt heute sozial gerecht (siehe Seite 96)? Nun ließ Schröder seinen verhaltenen Machtworten nach dem Sommertheater der Genossen Aktionen folgen. Er glaubt, dass die Mehrheit der Bürger die Notwendigkeit seines Sparprogramms im Grunde schon akzeptiert habe: „Die Leute haben verstanden, dass Innovation und Gerechtigkeit nicht nur Wohltaten bedeuten.“ Vertrauten erklärte er: „Es geht nur noch um zwei Fragen: ob es geht und wie es geht.“ Damit hapert es aber vor allem noch in seiner SPD. Am vergangenen Montag präsentierte der SPD-Vorsitzende deshalb Franz Müntefering als zukünftigen Generalsekretär. Am Donnerstag stellte Schröder den Lafontaine-Freund Reinhard Klimmt, der knapp als Ministerpräsident an der Saar gescheitert war, als neuen Bauund Verkehrsminister vor. Formal war es eine Umbesetzung im Kabinett. Doch die Botschaft richtete sich eindeutig an die Partei: Die Personalie Klimmt soll die nörgelnde SPD-Linke und die Gewerkschaften befrieden. Der ehemalige Bundesgeschäftsführer und erfolgreiche Wahlkämpfer Müntefering ist auserkoren, die entleerte Parteizentrale wieder zu einer Einrichtung mit Offensivkraft auszubauen. * Am vergangenen Mittwoch in Saarbrücken. BECKER & BREDEL M. URBAN Parteifreunde Klimmt, Lafontaine* Extreme Schieflage 23 T. SANDBERG Wahlkämpfer Schröder (in Erfurt): Die Leistungen der Regierung sind noch nicht beim Publikum angekommen Sächsischer Wahlkampf* Gestus des Modernisierers 24 Obendrein dröhnte IG-Metall-Boss Klaus Zwickel vernehmlich, die Arbeitnehmer seien künftig früh und gewichtig an Programmdebatten zu beteiligen. Mehr Offenheit ist versprochen. Aber Schröders Lernfähigkeit auf diesem Gebiet ist begrenzt. Mit seiner manchmal rüden Art hat er sich selbst eingemauert. Nur mit Mühe zügeln Vorstandsmitglieder wie Rudolf Dreßler, Wolfgang Thierse, Manfred Stolpe oder Heidi Wieczorek-Zeul ihren Unmut. Auch die Entscheidung, Klimmt zum Verkehrsminister zu ernennen, verschaffte ihm mehr neue Kritiker als Sympathisanten. Der Ministerkandidat Siegmar Mosdorf, von Kanzleramtschef Frank Stein- C. KOALL / LS-PRESS meint: „Er behandelt die Partei wie der Chef einen Konzern, er weist an und gibt sich kaum noch Mühe, seine Entscheidungen zu begründen.“ Ein Wunder ist es nicht, dass der Niedersachse, dem als „Medienkanzler“ ein geradezu legendärer Ruf in Sachen Selbstvermarktung anhaftet, paradoxerweise auch für die Kommunikationskatastrophe seiner Regierung verantwortlich ist. Denn defizitär ist nicht nur die Kommunikation nach innen, auch beim breiten Publikum sind Absichten und Leistungen der Regierung bisher nur unzulänglich angekommen. Dass die große Mehrheit der Deutschen mehr Geld in der Tasche hat als vor einem Jahr, hat kaum einer registriert. Die gut gemeinte Reform des 630-Mark-Gesetzes erwies sich als Rohrkrepierer. Und die Rentendebatte wird geführt, als ob sämtliche Rentner in Kürze der Sozialhilfe anheim fielen. Geradezu fahrlässig haben die Bonner Regenten versäumt, die verunsicherten Gewerkschaften in ihre Strategie einzubinden. Keine Vorabgespräche, keine Symbole, kein Entgegenkommen. Prompt reklamierten die Gewerkschaftsspitzen vergangenen Montag beim Treffen mit dem Kanzler dringenden Nachholbedarf. Ganz oben auf der Wunschliste: Korrekturen beim Sparpaket, Abkehr von der zweijährigen Rentenanpassung auf Inflationsniveau sowie Entgegenkommen bei der Vermögen- oder Erbschaftsteuer. meier auf die mögliche Amtsübernahme vorbereitet, ist frustriert, weil er seine Nichtberücksichtigung aus den Fernsehnachrichten erfuhr. Auch Fraktionschef Peter Struck, der tapfer die „gute Personalentscheidung“ lobte, hatte aus den Medien von der Entscheidung gehört. In der Fraktion – vor allem bei den Nordrhein-Westfalen – hagelte es unverhohlene Kritik. Von einer „verheerenden Wirkung“ sprach der Abgeordnete Uwe Jens. „So wird das Kabinett zum Heldenfriedhof“, murmelte ein Kollege. Gerade die Schröder-Freunde vom Seeheimer Kreis rangen um Verständnis: „Bei uns knirschen sie mit den Zähnen.“ Deutschland * Links: SPD-Spitzenkandidat Karl-Heinz Kunckel (M.), Schröder in der Sächsischen Schweiz am 27. August; rechts: vor der Bonner Wahlkampfzentrale „Kampa“ am 26. September 1997. Mehr „Disziplin“ sei erforderlich, riet Starke Nerven wird er brauchen. Zum er der Belegschaft an. Es sei nicht tragbar, ersten Mal wollen Parteifreunde bei der wenn „über den Flurfunk“ weiterhin De- Trennung vom integren, aber glücklosen tails aus der Parteizentrale nach außen Vorgänger Schreiner eigennützige Motive sickerten. Abteilungsleiter dürfen nicht Münteferings beobachtet haben. Auch mehr mit Journalisten reden. das rasche und rüde Herausdrängen von So will der Mann, der gern unauffällig, Schreiners Büroleiter fiel in der Parteizenkarg und manchmal komisch („Ich kann trale unangenehm auf. nur kurze Sätze“) daherkommt, der lahIm Bau- und Verkehrsministerium hat menden Partei zu neuem Schwung ver- Müntefering seinem Nachfolger eine Menhelfen. Müntefering ist derzeit die ein- ge ungelöster Probleme sowie ein Milliarzige SPD-Größe, die eine Kurskorrektur denloch hinterlassen. Die desolate Verfasim Sozialbereich glaubwürdig vertre- sung der Partei in Nordrhein-Westfalen ten kann. lasten nicht wenige Genossen ebenfalls Das Plus des Sauerihrem Landesvorsitzenländers: Fast sieben den an. Jahre lang war er VorSchon in dieser Wositzender des Bezirks che nimmt der Druck Westliches Westfalen. auf ihn zu, wenn die Stets gab er den braven Gründe für den Ausgang Parteisoldaten. Selbst der Kommunalwahlen seine Defizite erweisen an Rhein und Ruhr zu sich jetzt als Vorteil. analysieren sind. Denn Denn die „klare Kankurzfristig ist der Trend te“, von der er gern kaum umkehrbar, den spricht, hat er inhaltlich schon Wahlanalysen aus selbst nie gezogen. Stets dem Saarland und aus ließ er sich Spielräume Brandenburg vermeldeoffen – und fuhr immer ten. Insbesondere die gut damit. Dafür bringt Stammwähler der SPD er jenen Stallgeruch verweigern sich seit der mit, den kernige Altgewonnenen BundesGenossen bei ihren tagswahl. schmucken FührungsDer dramatische leuten vermissen. Rückgang der WahlbeZum Schröder-Blairteiligung im Saarland Papier hat Franz Münvon 83,5 auf 68,7 Protefering so eisern gezent ging maßgeblich schwiegen, dass selbst auf Kosten der GenosSpitzen-Sozis heute sen. Ob Europawahlen, bekennen: „Eigentlich der Urnengang in Hesweiß keiner genau, sen oder im Saarland: wofür er steht.“ Vor allem die massenStattdessen galt Lohafte Verweigerungshalyalität als Münteferings tung der SPD-Sympahöchste Tugend, was thisanten bescherte der der Kanzler zu schätzen Union den Wahlerfolg. weiß. Weniger schätzt Eine weitere Einer freilich Münteferings sicht: Die Rentendebatumtriebigen Adlatus te scheint zumindest im Matthias Machnig, 39. SPD-Manager Müntefering, Machnig* Saarland kaum ursächDer Staatssekretär im lich für das WahldeVerkehrsministerium, der ebenfalls in die bakel gewesen zu sein. Bei den Rentnern Parteizentrale wechseln soll, gilt unter jedenfalls erlitt die SPD nur geringe EinSchröder-Leuten als arrogant und intrigant. bußen. Ratlos sind die Strategen hingegen, Mit der „Kraft des Arguments“ und wie sie den Exodus der Jungen stoppen „partizipatorischen Debatten“, merkt sollen, in früheren Jahrzehnten stets ein Machnig im kleinen Kreis schon mal an, sei sicherer Rückhalt für die SPD. keine effiziente Überzeugungsarbeit zu Mehr denn je gilt, was der Soziologe Arleisten. Dann entstehen vielleicht „dicke thur Fischer, einer der Autoren der ShellDrehbücher“, aber selten erfolgreiche Jugend-Studie, registriert: „Für die jungen Wahlkampfkonzepte. Menschen sind Politiker Leute, die von Von nämlicher Philosophie ist auch ihren Problemen keine Ahnung haben.“ sein Chef Müntefering durchdrungen. Zugleich kristallisiert sich heraus: Nicht „Die Partei ist in ganzer Breite eingeladen die Wechselwähler sind der entscheidende mitzuarbeiten“, gehört zu seinem Stan- Faktor für SPD-Gewinne. Im Gegenteil, dardrepertoire. Tatsächlich traut der neue die angeblich so risikofreudige und fleheimliche Parteichef nur einem – sich xible neue Mitte entpuppt sich als Phanselbst. tom. „Schröders Wahlsieg war ein MissM. EBNER / MELDEPRESS Ausgerechnet jener Linke, der gegen die Regierungspolitik der eigenen Partei Wahlkampf geführt hatte, erhielt zur Belohnung einen Ministersessel. Der Kanzler gab sich überrascht: „Ich dachte, die freuen sich in der Fraktion.“ Die Zeit, da überraschende Personalentscheidungen dem Kanzler und Parteichef Schröder als hinreichender Ersatz für richtungweisende Programmatik und inhaltliche Festlegungen abgekauft wurden, ist längst vorbei. Mit dem zeitweiligen Ministerkandidaten Jost Stollmann und ExKanzleramtschef Bodo Hombach, mit Oskar Lafontaine und SPD-Geschäftsführer Ottmar Schreiner ist der Verschleiß von Symbolfiguren zu groß. Die Partei will, gerade wegen der unglücklichen Vorgabe des Schröder-Blair-Papiers, ihre programmatischen Positionen erörtern. „In der Sozialdemokratie wird wieder über Grundsatzfragen gestritten, das ist gut so“, heißt es in einem Papier der SPDGrundwertekommission zur „neuen Mitte“, das der Parlamentspräsident und Partei-Vize Wolfgang Thierse an diesem Mittwoch veröffentlichen will. Auf der Basis von Studien aus vier europäischen Ländern wird der „soziale Ausgleich“, wie er im Sozialstaat seinen Ausdruck findet, als „geheime Geschäftsgrundlage“ der Demokratie bezeichnet. Die klammen Kassen erforderten allerdings „unvermeidlich auch eine Aufgabenkritik des Sozialstaates und die Anstrengung, die sozialen Leistungen zielgenauer auf die unterschiedlich Bedürftigen auszurichten“. Der Thierse-Text kommt der Arbeit der Programm-Kommission zuvor, die Schröder angekündigt hat und die Partei-Vize Rudolf Scharping leiten soll. Noch ist völlig offen, in welche Richtung sich die SPD programmatisch entwickeln soll. Doch das Ziel des Vorsitzenden ist klar: Entschiedene Festlegungen darf das Papier, wenn es im Jahr 2001 erstellt ist, nicht enthalten. Allenfalls einen Korridor, der vieles erlaubt und nur wenig wirklich fixiert. So kann der Kanzler und Parteivorsitzende bei Kritik und kleinlichen Mäkeleien künftig elegant auf die Kommission verweisen, ist aber nicht festgelegt. Dahinter verbirgt sich der Glaube: Programme sind nur nützlich in Oppositionszeiten. Auch der frisch ernannte Partei-Generalsekretär Franz Müntefering hat bereits kundgetan, er könne auf ein neues Parteiprogramm schadlos verzichten. Wie er sich seinen neuen Job vorstellt, ließ er gleich bei seinem Amtsantritt im Willy-Brandt-Haus am vergangenen Dienstag erkennen: Mit harter Hand und entschiedener Tonlage will er künftig führen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 25 Deutschland W. SCHUERING / L. CHAPERON verständnis“, sagt der Freiburger Wahl- tionsführer an der Saar war keine verforscher Gerd Mielke. „Gerade weil sich lockende Perspektive. Weil er – auch im die so genannte neue Mitte mehr als an- Interesse seiner Saarländer – vom politidere in Berufen mit unsicherer Perspekti- schen Geschäft noch nicht lassen mochte, ve bewegt, setzt sie auf ein hohes Maß an konnte er gar nicht umhin, die Offerte des sozialer Absicherung.“ Kanzlers anzunehmen. Schröder betrachtete den Wahlsieg im Seine Glaubwürdigkeit sieht er dadurch vergangenen Jahr als einen Blankoscheck, nicht gefährdet. „Die Programmdebatte um die Modernisierung voranzutreiben muss weitergeführt werden“, sagte Klimmt und gegen Parteitraditionen zu Felde zu in Berlin, „sie hat mit der Kabinettsdisziziehen. Das war, wie sich jetzt zeigt, zu- plin nichts zu tun.“ „Leider, leider“, rief mindest voreilig, wenn nicht gar falsch. Schröder dazu. Er ist aber nicht beunruDenn auch die bürgerlichen Milieus set- higt: Illoyalitäten und Tricksereien gehören zen durchaus auf eng geknüpfte soziale Netze. Der Parteienforscher Franz Walter sieht die reale neue Mitte der Gesellschaft nachhaltig geprägt durch die sozial-liberale Ära der Expansion des Wohlfahrtsstaates, durch Bildungsrevolution und Partizipationsansprüche, durch Popkultur und Wertewandel. „Sie ist keineswegs neoliberal, stollmännisch oder nach Art des Schröder- Genossen Schröder, Klimmt: Gemischte Reaktion Blair-Papiers.“ Um solchen Veränderungen Rechnung nicht zu den herausragenden Eigenschaften zu tragen, basteln Müntefering und Mach- Klimmts. nig mitsamt den anderen Helfern, die sie Der Kanzler und Vorsitzende ist vorerst aus dem Ministerium in der Parteizentrale hoch zufrieden mit sich und der Welt: herüberziehen, insgeheim schon längst an „Jetzt wird alles anders.“ einer neuen Konzeption: Die Botschaften Ob es auch besser wird? Mit der neuen müssen auf das Schlichteste konzentriert Konstruktion im Kabinett und an der werden, und die Partei muss Geschlossen- Parteispitze hat er sich erst einmal Luft heit zeigen. Erstes anvisiertes Ziel: Der verschafft. Insbesondere die labilen BeSPD-Parteitag Anfang Dezember in Berlin. findlichkeiten unter den Parteigranden sind Er soll den emotionalen Wendepunkt fein austariert. Die Aufgaben sind so vermarkieren und jenen Rückenwind erzeu- teilt, dass sich Müntefering und Scharping gen, der ein halbes Jahr später die Genos- gegenseitig in Schach halten sollen. Doch sen in Nordrhein-Westfalen zum Wahlsieg hat sich ihr Verhältnis, einst von gegentragen soll. seitigem Respekt getragen, deutlich abDass Lafontaine auf diesem Parteitag gekühlt. auftauchen könnte oder dass seine in BuchSchröders Plan, in fast schon präsidialer form vermarkteten Enthüllungen, Vorwür- Manier über diesem Machtgleichgewicht fe und Rechtfertigungen zu einer Anti- zu thronen, könnte leicht ins Wackeln geSchröder-Bewegung führen könnten, hält raten. Tritt Scharping nun als Unruhefakder Kanzler für abwegig: „Was soll da jetzt tor an die Stelle von Lafontaine? noch drinstehen?“ Schröder beziffert den Die Nähe, die während des Kosovo-KrieAnhang für Lafontaine in der SPD auf ges zwischen Schröder und seinem Vertei„null“. digungsminister entstanden war, scheint Wer kann schon, wie der Vorsitzende, verloren. Dass der Westerwälder sich imseinen Job einfach hinschmeißen, wenn es mer noch für befähigt hält, selbst den ChefSchwierigkeiten gibt? Dass sich der einst sessel zu erklimmen, nährt des Kanzlers geliebte Oskar seinen Rückblick finanziell latentes Misstrauen. vergolden lässt und die ersten Passagen Das speist der Verteidigungsminister des Buches öffentlich ausgerechnet in mit „luziden“ Bemerkungen, wie es ein Springer-Zeitungen zu verkosten sind, er- Spitzengenosse ausdrückt, indem er unhöht unter den Genossen nicht gerade die längst im Parteipräsidium Schröder an Wertschätzung des Werks. die Wurzeln seines heutigen Ungemachs Mit dem ins Privatleben geflohenen erinnerte. früheren Parteichef ist kaum noch zu rechHatten sie nicht alle, nicht nur Lafonnen. Selbst Lafontaine-Freund Klimmt taine, sondern auch der Innovationskandiräumte bei seiner Wahl-Nachlese im Par- dat Schröder, im Wahlkampf 1998 allzu vieteivorstand vergangenen Montag ein, dass le soziale Wohltaten versprochen und zu ihn das überraschende Ausscheiden des wenig vor sozialen Grausamkeiten geParteichefs im Saarland Stimmen gekostet warnt? Scharping: „Wir haben keine sauhaben dürfte. bere Eröffnungsbilanz gemacht.“ Klimmt selbst hat gute Gründe, den Markus Dettmer, Horand Knaup, Jürgen Leinemann Wechsel nach Berlin zu riskieren. Opposi26 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland CSU „Außer Kontrolle geraten“ Die Affäre um die Wohnungsbaugesellschaft LWS und den geschassten Justizminister Sauter hat die Glaubwürdigkeit und Autorität von Ministerpräsident Stoiber nachhaltig beschädigt. Auch andere Schatten der Vergangenheit bringen den Parteichef in Bedrängnis. D T. GRABKA / ACTION PRESS er große Vorsitzende war wieder mal völlig unschuldig. Einen „eigenen Fehler“ könne er „nicht erkennen“. Die Frage nach „politischen Konsequenzen“ für ihn selbst stelle sich deshalb nicht. Geradezu „abwegig“ sei der Vorwurf, er sei in irgendeiner Weise „verantwortlich“ für das Desaster, das seit Wochen die politische Szene in Bayern beherrscht. Schuld an dem Millionenskandal um die Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft Bayern GmbH (LWS) seien vielmehr, befand Edmund Stoiber, 57, letzte Woche, „mangelnde Kompetenz und gravierende Managementfehler“ der früheren LWSGeschäftsführung sowie das Versagen des Aufsichtsrats, insbesondere das seines langjährigen Vorsitzenden, Alfred Sauter, 49. Der habe „seine Aufgaben und seine Verantwortung verkannt“. Deshalb, so der bayerische Ministerpräsident nach einer denkwürdigen Sitzung seines Kabinetts, müsse der Justizminister gehen. Doch bevor Sauter an diesem Bayerischer Ministerpräsident Stoiber: Desavouiert und lächerlich gemacht Montag endgültig abtritt, wenn Nicht einmal seinen Willen, Sauter am der Bayerische Landtag Stoibers Wunsch nem Chef „Stillosigkeit“ und „Verfasauf Entlassung zustimmt, hat er der CSU sungsbruch“ vor, weil der ihm vorvergan- Dienstag vergangener Woche bei der Beein Spektakel beschert, das seinesgleichen genen Samstag seinen Rausschmiss über ratung des Berichts des Bayerischen Obersin der Republik sucht. Der straff geführte Handy mitgeteilt hatte. Dann bezichtigte ten Rechnungshofs (ORH) zur LWS-AffäFreistaat, so registrieren die Zuschauer an- Sauter den Ministerpräsidenten der re vom Kabinettstisch fern zu halten, konndernorts schadenfroh, entpuppt sich als „Lüge“ und hielt ihm vor, „absoluten te Stoiber durchsetzen. Mit Verweis auf die Rechtslage, der zufolge ein bayerischer Mideftiger bayerischer Komödienstadel. Er Schafscheiß“ zu verbreiten. „Das Ding ist außer Kontrolle geraten“, nister so lange im Amt ist, bis er selbst gäbe „sonst etwas dafür“, stöhnt StraußSohn Max Josef, „wenn ich den Kommen- klagt Stoibers Europaminister Reinhold zurücktritt oder der Landtag in seine Entlassung einwilligt, erzwang der Justizchef tar meines Vaters aus dem Himmel“ zu Bocklet (CSU), 56. In der ersten größeren Krise seiner seine Teilnahme an der Sitzung. dem hören könnte, was derzeit unter StoiAmtszeit haben Stoiber und seine StaatsHinterher stand er in der Staatskanzlei ber in seinem einstigen Reich passiert. Aufmerksam verfolgen sowohl die Re- kanzlei beim Management krass versagt. Journalisten Rede und Antwort, Stoibers gierung von Kanzler Gerhard Schröder „Man hätte schon vor sechs bis acht Wo- Beamte sahen hilflos zu und trauten sich (SPD) als auch die Mit-Opposition um chen Klarheit schaffen können, anstatt der nicht einzuschreiten. Bei Stoibers anCDU-Chef Wolfgang Schäuble in Berlin SPD ein solches Sommertheater zu be- schließender Pressekonferenz setzte sich die sich überschlagenden Meldungen aus scheren“, jammert der frühere CSU-Vor- Sauter unter die Zuhörer und verteilte ein dem sonst so kraftvoll regierten Bayern. sitzende, Ex-Bundesfinanzminister Theo Skript, in dem er seine Sicht der LWS-Millionenpleite schildert. Stoiber, das steht für sie bereits fest, wird Waigel, 60. Die fehlgeschlagene Krisenbewältigung Den Höhepunkt der Demütigung musste die Affäre nicht unbeschadet überstehen. Noch nie hat ein CSU-Minister seinen ei- hat Stoiber nun gleich zwei Probleme auf Stoiber zwei Tage später im Landtag erlegenen Partei- und Regierungschef öffent- einmal beschert: Sowohl seine Glaubwür- ben. Als er am Donnerstag vor dem Hauslich so desavouiert und lächerlich gemacht digkeit als auch seine Autorität als Partei- haltsausschuss erläuterte, warum die staatlich dominierte Wohnungsbaugesellschaft wie der geschasste Sauter. Erst warf er sei- und Regierungschef sind angekratzt. 28 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 U. WAGNER / GÜNSBURGER ZEITUNG W. RABANUS Schreiber, vor dessen möglichen zwischen 1994 und 1998 bei riskanEnthüllungen die CSU bangt, erst ten Bauträgergeschäften vor allem mal Entwarnung. „Sagt meinen in den neuen Ländern 367 MillioFreunden, dass ich zu ihnen halte“, nen Mark verlor (SPIEGEL 35/1999) verkündete er in Toronto. und warum Sauter hierfür maßgebPeinlich für Stoiber könnte denlich verantwortlich sei, spazierte der noch werden, dass die Ermittler inaus dem Saal und gab draußen Inzwischen auch Spuren verfolgen, die terviews. Das Gros der Journalisten bis in sein Kabinett und die Parteilief ihm nach, Stoiber rechtfertigte zentrale der CSU führen. sich drinnen vor gelichteten Reihen. So finden sich über WirtschaftsAuch die Glaubwürdigkeit des minister Otto Wiesheu, 54, merkSaubermanns Stoiber hat Schaden würdige Aufzeichnungen in Schreigenommen. Hatte er vorigen Diensbers beschlagnahmten Notizbüchern tag noch beteuert, mit einzelnen und Kalendern. „Spende Otto“, Entscheidungen der LWS nichts zu heißt es dort etwa oder „Tel. Wiestun gehabt zu haben, musste er am Donnerstag einräumen, mit dem Arzt Argirov, Patient Strauß (1986): Urlaub bei Freunden heu“ oder „Wiesheu wg. Schüssel S 100 T 30 M 25 K 25“. Tatsächlich hat damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Sauter 1995 „ein- oder zweimal“ so- sich Stoiber gleich nach seiner Wahl zum Wiesheus CSU-Kreisverband Freising nach gar über das Gehalt eines Bewerbers Regierungschef 1993 als derjenige, der ra- Angaben des Ministers 1993 und 1994 von für den Geschäftsführerposten gesprochen dikal Schluss mache mit den alten Gepflo- Schreiber zwei größere Spenden erhalten, genheiten. Ein Mann für die Zukunft, fast die „jeweils unter der Veröffentlichungszu haben. Die Taktik, von heiklen Vorgängen ir- ohne Vergangenheit – so wollte er wahr- grenze gelegen“ seien. Die lag damals pro Spende bei 20 000 Mark. gendwie immer nichts oder nur ganz wenig und ernst genommen werden. Selbst Parteifreunde waren zunächst CSU-Generalsekretär Thomas Goppel, mitbekommen zu haben, ist bei Stoiber freilich bekannt. Ob bei den Amigo-Ge- verblüfft, wie kompromisslos Stoiber mit 52, von Stoiber erst Anfang des Jahres ins schichten seiner verstorbenen Vorgänger manchem Kumpel von einst verfuhr, wenn Amt berufen, war nach eigener Aussage Franz Josef Strauß und Max Streibl oder der sich im Amigo-Gestrüpp verhedderte. viele Jahre mit dem Kaufmann, gegen den den skandalösen Geschichten um den „Seht her, ich räume auf“, lautete die Bot- ein internationaler Haftbefehl wegen SteuBäderunternehmer und Steuerflüchtling schaft nach innen wie nach außen. Der erhinterziehung vorliegt, „persönlich enger Eduard Zwick – stets beteuerte Stoiber sei- Vorstandsvorsitzende der Bayern AG auf befreundet“. Regelmäßig sei er im Haus ne Unschuld. Nie wollte er bei krummen Konsolidierungskurs. Ein Macher, der so von Schreiber zu Gast gewesen, umgekehrt Dingen dabei gewesen sein, nie konnten tat, als wäre er gerade neu in die Firma habe er Schreiber auch zu sich eingeladen. eingetreten. Seit die Staatsanwaltschaft Ende 1995 seine Gegner das Gegenteil beweisen. Sogar das Risiko, die Justiz des Landes Schreibers Haus und Firmen in Kaufering Ein „echter Heuchler“ sei Stoiber, erregt sich ein früherer treuer Gefolgsmann in heiklen Verfahren nicht mehr auszu- durchsuchte, ist der Kontakt laut Goppel bremsen, wie unter Strauß bisweilen ge- „weniger intensiv“. Nach Goppels Angavon Strauß. Wiewohl im System Strauß als dessen schehen, ging Stoiber ein. Als Folge stoßen ben haben CSU-Gliederungen in seinem engster Mitarbeiter groß geworden – Staatsanwälte – wie im Fall des Kauferin- Stimmkreis Landsberg allein 50 500 Mark zunächst, von 1978 bis 1983, als CSU-Ge- ger Geschäftsmannes Karlheinz Schreiber, an Spenden von Schreiber erhalten, 47 500 neralsekretär und später, von 1982 bis 1988, 65, der vorige Woche gegen umgerechnet Mark davon zwischen 1990 und 1995. „Eine als Leiter der Staatskanzlei –, präsentierte 1,5 Millionen Mark Kaution in Kanada aus politische Gegenleistung dafür“, so der der Auslieferungshaft ent- CSU-General, „hat es aber nicht gegeben.“ lassen wurde – tief ins Sauters Rausschmiss hat in der Partei Schattenreich aus Politik die Befürchtung neu belebt, Stoiber und und Wirtschaft vor. sein Umfeld könnten von den alten AmigoBis ins direkte Umfeld Zeiten eingeholt werden. „Sicherlich nicht des einstigen Ministerprä- ganz zufällig“ würden gerade jetzt Vorsidenten reichen die Vor- gänge in die Öffentlichkeit gezerrt, die ihn würfe, die die Justiz in kompromittieren sollten, orakelte der ReAugsburg jetzt prüft. Ge- gierungschef selbst vergangene Woche. Er gen Strauß-Sohn Max Josef habe da aber nichts zu fürchten: „Ich bin wird wegen Steuerhinter- völlig unabhängig und in keiner Weise erziehung ermittelt. Den pressbar.“ früheren Büroleiter von Tatsächlich lässt sich aus den „sechs oder Strauß und späteren Ver- sieben“ (Stoiber) Ferienaufenthalten, die fassungsschutzchef Lud- der Ministerpräsident in den achtziger Jahwig-Holger Pfahls – in der ren in Südfrankreich bei dem MultimilStaatskanzlei einst enger lionär und Geschäftsmann Dieter Holzer in Kontaktmann Stoibers – dessen „Villa Soussou“ im schönen Golfejagt das Bundeskriminal- Juan samt Familie verbrachte, bislang amt. Er soll 3,8 Millio- nichts Verfängliches konstruieren – außer nen Mark Bestechungsgel- dass Holzer mittlerweile der Pariser Justiz der angenommen haben. als Schlüsselfigur in der Schmiergeldaffäre Strauß, 40, und Pfahls, 56, um die Privatisierung der Raffinerie Leubestreiten alle Vorwürfe na durch den französischen Mineralölkon(SPIEGEL 36/1999). zern Elf Aquitaine erscheint. Nach seiner Freilassung Dasselbe gilt für Stoibers Urlaub im AuParteifreunde Sauter, Stoiber (1998): „Aufgaben verkannt“ vergangene Woche gab gust dieses Jahres, den er wieder in Südd e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 29 Deutschland Stoiber-Gastgeber Holzer, „Villa Soussou“ in Golfe-Juan: „Sechs- oder siebenmal“ kein anderer Innenminister eines Landes zu sehen: mit höchsten Geheimhaltungsstufen versehene Dokumente über die „Sowjetischen Goldreserven“, zur „Inneren Lage der Jugoslawischen Volksarmee“ oder zum Stand der „KGB-Auslandsaufklärung“. Selbst Dossiers wie „Sowjetunion: Veränderungen bei den Strategischen Raketentruppen“ und „SyrienIran: Gemeinsame Raketenproduktion“ landeten, nur um die Geheim-Stempel bereinigt, auf Stoibers Schreibtisch. Auch die Staatsanwaltschaft hielt in einem Vermerk fest, die „Weitergabe“ sei „nicht auf dem dafür vorgesehenen Weg“ erfolgt. Münstermann habe „wichtige öffentliche Interessen gefährdet“. Dennoch wurde das Verfahren voriges Jahr gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt – und Stoiber blieb die öffentliche Blamage erspart. Erst vergangene Woche, vom SPIEGEL auf den Vorgang in seinem ehemaligen Ministerium angesprochen, räumte die Staatskanzlei Stoibers Rolle in der BND-Connection ein. Münstermann habe „Texte“ an „Innenminister Dr. Edmund Stoiber übermittelt“, hieß es plötzlich. Zugleich legte Stoiber Wert darauf, dass er nie den Erhalt des Materials bestritten habe, sondern nur „eine inhaltliche Bewertung an ihn gegangener Zuleitungen vorgenommen“ habe. Solch laxer Umgang mit der Wahrheit bei einem, der sonst in allem akkurat und präzise sein will, ist unvereinbar mit dem selbst polierten Image des Saubermanns. „Prinz Makellos“, wie ihn ein CSU-Mann spöttisch nennt, hat seine Schrammen weg. Dennoch sitzt Stoiber in seinen Stammlanden fest im Sattel. Niemand in der CSU kann oder will ihm ernsthaft gefährlich werden; als Ministerpräsident ist er derzeit für die Partei unersetzbar und unentbehrlich. Ihre grandiosen Erfolge bei der Landtagswahl vorigen Herbst und der Europawahl im Juni verdanken die Christsozialen, das wissen sie, in erster Linie ihm. Doch seine bundespolitischen Ambitionen sind durch die blamable Darbietung des LWS-Stücks auf der Münchner Bühne erst mal gedämpft. Stoibers Renommee hat gelitten. Schon sind aus der Schwesterpartei CDU erste hämische, schadenfrohe Töne zu vernehmen, der viel Gepriesene tauge offenbar doch nicht zum Kanzlerkandidaten der Union. Wenn einer schon bei kleinen lokalen Krisen derart panisch reagiere, vertraute ein christdemokratischer Abgeordneter einem CSUBundestagskollegen an, habe er sich damit für einen möglichen Einsatz auf der Berliner Bühne selbst diskreditiert. Wolfgang Krach, Journalisten bestätigte, verschwieg er einen „Ich war Innenminister des Freistaates zweiten. Auch im November vorigen Jah- Bayern, ich war Leiter der Bayerischen res sei Stoiber zu einem „sechstägigen Auf- Staatskanzlei, ich bin heute Ministerpräsienthalt bei Herrn Argirov in Cap Ferrat“ dent. Ich kriege die normalen Informatiogewesen, räumte die Staatskanzlei Ende nen des BND, die von der Wertigkeit nicht vergangener Woche schließlich ein. Dafür so hoch einzuschätzen sind, wie das manhabe er „einen finanziellen Beitrag von che glauben.“ 1500 Mark gegeben“. Die Staatsanwaltschaft machte sich auf Seine Holzer-Urlaube in den achtziger die Suche nach den Münstermann-SenJahren rechtfertigte der Ministerpräsident dungen und wurde ausgerechnet in Stoivorige Woche damit, dass Strauß „Wert bers ehemaligem Amt fündig. In der Regidarauf“ gelegt habe, „dass ich als Mitar- stratur des Innenministeriums lagerten beiter so weit als möglich im Urlaub ver- zumindest noch zwei der Münstermannfügbar war“. Im Strauß-Umfeld kann man Lieferungen („Aktuelle außenpolitische Insich daran jedoch nicht erinnern. „Mein formationen“). Eingegangen waren sie am Vater hat niemanden gebeten, mit ihm Ur- 18. Oktober und 15. November 1991 – in laub zu machen“, beteuert Max Strauß. Stoibers Amtszeit. Problematisch könnte ein anderer VorWas der BND-Obere dem CSU-Mann gang für den Regierungschef werden. da, ohne offizielles Anschreiben des BND, Dass dieser es beim Versuch, den Sau- stattdessen mit einer von ihm unterschriebermann zu mimen, mit der Wahrheit nicht benen Visitenkarte mit Privatadresse, immer genau nimmt, zeigt der Fall des ehe- außerhalb des Dienstwegs schickte, bekam maligen Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), Paul Münstermann. Gegen den leitete die Staatsanwaltschaft München I 1995 Ermittlungen wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen ein. Der CSUSpezl hatte jahrelang Parteifreunde heimlich mit Geheimdienstinterna versorgt. Sogar das damals noch CDU-geführte Kanzleramt war über die Münstermann-Aktion empört. Er habe gegen die „Kernpflicht“ verstoßen, „wonach der Beamte dem ganzen Volk, nicht einer Partei zu dienen hat“, hieß es dort. Zu den Empfängern der von Münstermann eigenhändig per Schere von CSU-Spezl Schreiber: Reichlich Spenden an die Partei 30 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 CANAPRESS Geheim-Stempeln und Registraturnummern befreiten Dokumente gehörten neben Strauß und dessen Nachfolger Streibl auch Waigel, Wiesheu – und Stoiber. Als der SPIEGEL die CSU-Schiene aus dem Geheimdienst offen legte, schwiegen die meisten CSU-Größen betreten (SPIEGEL 25/1995). Stoiber, ganz ums Image besorgt, redete. Was er sagte, musste man als klares Dementi verstehen. In der ZDF-Sendung „Bonn direkt“ mit der Frage konfrontiert, ob er „Geheimmaterial vom BND erhalten“ habe, antwortete er: „Das ist alles für mich ein dummes Zeug.“ Stoiber: ZDF frankreich verbrachte, diesmal bei seinem Freund Valentin Argirov, dem einstigen Leibarzt von Franz Josef Strauß. Zwar hat Argirov vom Freistaat bislang fast 200 Millionen Mark an Zuschüssen für Bau und Erweiterung zweier Privatkliniken in Berg am Starnberger See und Vogtareuth (Kreis Rosenheim) bekommen. Das Geld freilich steht ihm gesetzlich zu, Hinweise auf Vorzugsbehandlung gibt es bis jetzt nicht. Offenbar aber plagt Stoiber trotzdem ein unsicheres Gewissen. Nachdem er zunächst schon den Argirov-Urlaub vom August erst auf massive Nachfragen von Georg Mascolo Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland CDU „Nichts ist entschieden“ M. URBAN Partei-Chef Wolfgang Schäuble über den Erfolg der Union und die Kompromissbereitschaft gegenüber der Regierung gewonnen, der den Bürgern Unbequemes sagt: Wir müssen weg von der Kohle. Das zeigt: Wir sind die modernere Partei, und wir haben die Kraft, das den Menschen auch zu sagen. SPIEGEL: Finanzminister Hans Eichel will jetzt auf den Weg bringen, was die Regierung Kohl nicht mehr geschafft hat. Schäuble: Wir bestreiten, dass diese Zickzackbewegung der Regierung Schröder die Staatsquote senkt: 1999 steigen die Ausgaben, 2000 werden sie zurückgeführt, dann sind wir wieder ungefähr auf dem Niveau von Anfang 1999. Es ist eher Trickserei, kurzatmige Hektik, die nicht die Wachstumskräfte stärkt. Das eigentliche Desaster der Regierung Schröder ist doch, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung gegenüber allem, was bis zum Regierungswechsel stattfand, umgedreht hat. Die Arbeitslosenzahlen steigen derzeit, die Zahl der Erwerbstätigen geht zurück. SPIEGEL: Mit den gewonnenen Landtagswahlen wächst die Macht der Union im Bundesrat.Was von Eichels Sparpaket werden Sie zu Fall bringen? Schäuble: Weder die Renten noch der Bundeshaushalt sind zustimmungspflichtig. In dem vorgelegten Entwurf ist natürlich die Kindergelderhöhung vom Votum des Bundesrats abhängig. Die werden wir nicht ablehnen. SPIEGEL: Haben sich die Links-RechtsKoordinaten innerhalb der Gesellschaft nicht längst so weit verschoben, dass es kaum noch Unterschiede zwischen SPDund CDU-Politik gibt? Christdemokrat Schäuble: „Die CDU ist die Partei der Jugend“ SPIEGEL: Herr Schäuble, die CDU wird in den Umfragen derzeit bei knapp 50 Prozent gehandelt, die SPD nur mit etwa 30 Prozent. Wann übernehmen Sie die Regierung? Schäuble: Das sind Momentaufnahmen, auch wenn die Wahlen in diesem Jahr bundesweit darauf schließen lassen, dass wir 45 Prozent der Stimmen erreichen könnten. SPIEGEL: Erstmals sinken auch die persönlichen Werte von Gerhard Schröder. Ist der Mythos vom Sieger dahin? Schäuble: Nach seinem Politikverständnis ist das verheerend für ihn, weil er immer gesagt hat: Was schert mich diese blöde SPD? Ich zeige den Genossen, dass ich die Wahlen gewinne. Das ist jetzt vorbei, und zwar dauerhaft, wie ich glaube. Die Bürger sind es auch leid. Wenn er Wahl um Wahl verliert, wird er die SPD nicht mehr zusammenhalten können. Dann kommt irgendetwas Neues. Scharping ist derzeit auffallend fröhlich, obwohl es der SPD so schlecht geht. Man hat das Gefühl, er rechnet damit, dass der Satz „they never come back“ für die Vorsitzenden der SPD nicht gilt. SPIEGEL: Auch im Fall Oskar Lafontaine? Schäuble: Nein. Die Art, wie er gegangen ist, hat auch die verletzt, deren Herz ei- 34 gentlich bei ihm ist. Lafontaine ist für längere Zeit draußen. Das ist fast schon etwas tragisch. Ganz offensichtlich bereut er ja, was er für einen Blödsinn gemacht hat. SPIEGEL: Trauen Sie Schröder einen Sieg bei der Bundestagswahl 2002 noch zu? Schäuble: Nichts von dem, was in den nächsten Jahren sein wird, ist entschieden. Aber man wird vier Jahre nach einem Regierungswechsel nur dann erneut einen Wechsel haben, wenn die Leute von der Regierung enttäuscht sind. Wenn Schröder also ganz erfolgreich arbeitet, hätte das Land den Vorteil. So ist das in der Demokratie. SPIEGEL: Wie kann die Union den positiven Trend über drei Jahre konservieren? Schäuble: Mit zwei neuen Ministerpräsidenten, Roland Koch in Hessen und Peter Müller an der Saar, ist die Frage nach Erneuerung viel leichter zu beantworten. Personalentscheidungen – von Angela Merkel bis Dagmar Schipanski oder Annette Schavan – das hilft uns. An der Saar haben wir eine Wahl mit einem Spitzenkandidaten * Am vergangenen Dienstag mit Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel (3. v. l.) im Kaisersaal in Erfurt. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Wahlkampf in Thüringen*: „Die Bürger sind davon B. BOSTELMANN / ARGUM Schäuble: Es gibt Veränderungen im Gefüge, obwohl eine Grundkontinuität bleibt. Ich glaube an die Vision, in dieser modernen Welt die Teilhabe aller Menschen mit einem hinreichenden Maß an Gerechtigkeit zu ermöglichen. Dazu braucht man natürlich einen Staat, der den Rahmen setzt. Aber den muss man sich eher zurückgenommen vorstellen, weil die Möglichkeiten staatlicher Regulierung in der Welt der Globalisierung geringer werden. Deswegen wird die Fundamentierung durch mehr Werte, durch den Appell an die besseren Eigenschaften des Menschen im nächsten Jahrhundert noch wichtiger. Da unterscheiden wir uns fundamental von den Sozialdemokraten. SPIEGEL: Das Schröder-Blair-Papier macht Ihnen das Monopol auf Eigenverantwortung jetzt allerdings streitig. Schäuble: Ich habe von den Sozialdemokraten inzwischen gehört, dieses SchröderBlair-Papier sei nicht für die deutsche Politik bestimmt, sondern nur für Europa. Wobei ich dann immer frage: Sind wir eigentlich nach dem Verständnis von Herrn Schröder inzwischen außerhalb von Europa? Dieses Papier enthält viele richtige Modernisierungserkenntnisse, aber ihm fehlt die Substanz, um die Menschen für diese Innovation zu gewinnen. SPIEGEL: Warum verweigern Sie sich beim Thema Rente jeglicher Innovation? Schäuble: Bis jetzt gibt es nur eine Rentenmanipulation – alles Weitere liegt im Nebel. Man muss den Menschen klar sagen, dass die Rente in Zukunft ein wenig niedriger liegen wird. Deswegen wird der Gedanke privater Vorsorge stärker. Ich möchte durch das Steuerrecht einen zusätzlichen Anreiz für mehr Eigenvorsorge geben, vor allem durch die breitere Streuung von Aktienbesitz. Dazu kommt eine bessere betriebliche Vorsorge. Das kann man dann wie Riester Drei-SäulenModell nennen. Da wären wir gesprächsbereit. Nur einen Zwang zur Vorsorge lehnen wir ab. SPIEGEL: Befürworten Sie niedrigere Rentenbeiträge für Familien mit Kindern? Schäuble: Wir werden auf Dauer nicht um einen stärkeren Ausgleich herumkommen zu Gunsten derer, die Kinder großziehen. Das hätte auch den Vorzug, dass die Eltern entlastet werden, wenn sie die Kinder aufziehen. Machen wir es jetzt doch gleich richtig: Wir müssen die heutigen Beiträge zur Altersvorsorge steuerfrei stellen. SPIEGEL: Das deckt sich mit den Plänen der Grünen. Theoretisch könnte eine Koalition mit der Öko-Partei in Berlin, in Nordrhein-Westfalen, auch in Hamburg eine Mehrheitsoption sein. Ist SchwarzGrün in der Union durchsetzbar? Schäuble: Die Grünen stecken in einer Phase der Schwäche, weil sie einen erheblichen Teil ihrer Identität aufgegeben haben. Jetzt klammern sie sich geradezu panisch an das rot-grüne Bündnis. Das ist für diese Legislaturperiode wirklich kein Thema. Außerdem zeigen die Wahlergebnisse, dass die CDU ohnehin die Partei der Jugend ist. Offenbar gelingt es uns inzwischen besser, die Bürger davon zu überzeugen, dass wir nicht altmodisch-besserwisserisch sind, sondern dass wir offen für Neues sind. SPIEGEL: Jetzt darf Hildegard Müller, die Vorsitzende der Jungen Union, sogar Nachwuchspolitiker eigenmächtig zu einem Rentengipfel einladen, den Sie bislang verweigerten. Schäuble: Warum soll mich das stören? Was wäre das für eine langweilige Partei, wenn die Jungen nicht andere Sachen machen würden. Hildegard Müller hat diese Geschichte nicht mit mir abgesprochen. Wenn ich sie wäre, hätte ich das auch nicht gemacht. Wir werden hinterher darüber reden. SPIEGEL: So viel Respekt und Toleranz einer jungen Frau gegenüber war in der Union nicht immer selbstverständlich. Wann ist in der CDU eine Frau als Kanzlerkandidatin denkbar, Angela Merkel zum Beispiel? Schäuble: Wir debattieren die Frage im Jahr 2002. Im Übrigen: Ich bin derjenige gewesen, der Angela Merkel als Generalsekretärin vorgeschlagen hat. Nicht alle waren spontan überzeugt, dass es eine tolle Idee war. Inzwischen sind sich alle einig: Sie macht es großartig. Interview: Tina Hildebrandt, Hajo Schumacher überzeugt, dass wir offen für Neues sind“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 35 FDP Mehr mit Herz Das Amt von Parteichef Wolfgang Gerhardt wird wohl bald frei. Doch die Chancen von Guido Westerwelle auf die Nachfolge nehmen ab. R ainer Brüderle zeigte sich fürsorglich. Man dürfe, verkündete der FDP-Vize mit Unschuldsmiene, „nicht ausschließlich“ Parteichef Wolfgang Gerhardt, 55, und Generalsekretär Guido Westerwelle, 37, für die Landtagswahlschlappen in Brandenburg und an der Saar verantwortlich machen. Westerwelle überging die vergiftete Solidaritätsadresse. Innerlich schäumte er. Denn die Kritik galt hauptsächlich ihm. Die wenigsten Parteifreunde von Gerhardt machen sich noch die Mühe, den glücklosen Vorsitzenden für die Niederlagen verantwortlich zu machen. Das offizielle Ende seiner Amtszeit ist nur noch Formsache. Vergangene Woche forderte der schleswigholsteinische Fraktionschef Wolfgang Kubicki den Parteichef kaum verhohlen zum Rücktritt auf. Hinter den Kulissen ist längst der Kampf um die Nachfolge entbrannt. „Da werden eifrig Startlöcher gegraben“, beobachtet ein Spitzenliberaler. Trotz – nicht wegen – Westerwelle, so lautete bislang die Lesart nach verlorenen Wahlen, seien die Liberalen im Abwind. Doch nun gerät die Stimmung in Partei und Fraktion erstmals ins Wanken. Aufmerksam registriert Westerwelle, dass machtvolle Landesfürsten wie der Nordrhein-Westfale Jürgen Möllemann oder Kubicki den Generalsekretär und nicht den Parteichef im Bundesvorstand zum Adressaten kritischer Nachfragen machen. Nach außen üben sich die beiden möglichen Amtserben Brüderle („Ich bin 100 Prozent loyal“) und Westerwelle („Ich habe keine Brutus-Qualitäten“) deshalb in trauter Einigkeit. Doch beim Polit-Kampf in den Hinterstuben punktet Brüderle, 54, wo er kann. Während Westerwelle über die Programmpartei grübelt, macht Brüderle sich schlicht beliebt. Wenn sich der kühle Generalsekretär nach Wahlkampfauftritten schnell ins Privatleben verabschiedet, plaudert der joviale Brüderle beim Weinschoppen mit den Seinen und macht ganz nebenbei ehrgeizigen Nachwuchsliberalen durch die Blume Hoffnung auf Westerwelles Posten: „Wenn ich Kanzler werde, dann wirst du Kanzleramtsminister.“ Nie würde sich Brüderle bei einem bösen Wort über Westerwelle ertappen lassen. Aber wenn er klagt, die Partei wirke unsympathisch, weiß jeder, wer gemeint ist. Selbst enge Freunde räumen ein, dass d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 K.-B. KARWASZ Deutschland REUTERS Liberale Gerhardt (2. v. l.), Brüderle*: Eifriges Graben der Startlöcher FDP-Generalsekretär Westerwelle Rückstand im Menscheln die kühl-glatte Ausstrahlung das größte Handicap von Medienprofi Westerwelle ist. Während Brüderle das Heil der FDP vor allem darin sieht, „dass wir mit mehr Herz rüberkommen“, macht Westerwelle das unklare Profil der Liberalen für die Misere verantwortlich: „Ich wäre ja froh, wenn wir eins der neoliberalen Etiketten, die angeblich an uns kleben, wirklich hätten.“ Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Weiten Teilen der Bevölkerung ist das FDP-Programm so unbekannt wie deren Vorsitzender. Nur ein Prozent der Deutschen, das belegen Umfragen, schreiben den Liberalen echte Wirtschaftskompetenz zu, ebenso wenige wie den Grünen. Dass die FDP derzeit ein Sympathiedefizit hat, gibt auch Westerwelle zu. Sympathie gewinne man aber nur durch Kompetenz, so die Überzeugung des Generalsekretärs. Schließlich sei Otto Graf Lambsdorff nach Erich Mende der erfolgreichste Parteichef gewesen, obwohl der Graf nicht gerade ein kumpeliger Typ sei. Während Brüderle auf Kapitalismus mit menschlichem Antlitz setzt („Wir brauchen * Mit FDP-Politiker Manfred Hausmann (l.). d e r keine Golfspieler, sondern Golffahrer“) und Parteichef Gerhardt sich für den Ladenschluss am Sonntag ausspricht, um die Traditionswähler unter den Geschäftsleuten nicht zu verprellen, will Westerwelle Radikalopposition betreiben. Mit Parolen wie „Wir müssen die Schwachen vor den Faulen schützen“ will er den Platz rechts von SPD und CDU besetzen. Spätestens zum Jahreswechsel muss sich die FDP nach Westerwelles Überzeugung mit einer neuen Strategie präsentieren. Bis zum Dreikönigstreffen im Januar will die Parteispitze ein liberales Symbolthema finden, mit dem sich gleichzeitig das Ellbogen-Image abbauen lässt. Das große Problem von Westerwelle: In seiner Partei steht der quirlige Rechtsanwalt ziemlich allein da. Nicht nur eingefleischte Linksliberale wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Nordlicht Kubicki werden dem Brüderle-Flügel zugerechnet, auch Präsidiumsmitglied Walter Döring und der ehemalige Fraktionschef Hermann Otto Solms tendieren eher zu dem leutseligen Mittelstandsvertreter. Nicht einmal auf den Chef seines eigenen Landesverbands, Möllemann, kann sich der Bonner Jurist verlassen. Einstweilen sind dem Generalsekretär die Hände gebunden. Im Menscheln ist Brüderle ihm voraus, und offen aus der Deckung kommen kann Westerwelle vor den Landtagswahlen nicht. Sollte Gerhardt nach weiteren Niederlagen zurücktreten, will Westerwelle nach Einschätzung von Vertrauten jedoch den Kampf mit Brüderle aufnehmen. Seine Chancen sind gering, die Partei müsste sich gegen ihr Gefühl entscheiden. Da helfen Argumente der WesterwelleFreunde wenig: „Wohin man kommt, wenn man immer den Nettesten wählt, das müsste die FDP inzwischen verstanden haben.“ Tina Hildebrandt s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 37 ARIS fraktion Unterschriften gegen ein neues Bündnis mit der PDS zu sammeln. Kein gutes Klima für die Sondierungsgespräche in Potsdam. Mehrmals trafen die Verhandlungsführer von CDU und PDS mit den Sozialdemokraten zusammen. Sowohl PDS-Chef Lothar Bisky, dessen Partei ebenfalls zugelegt hatte, als auch Schönbohm taten alles, um die SPD zu locken. Bisky, mit vielen Sozialdemokraten per Du, stellte in Aussicht, die PDS könnte den Widerstand gegen den geplanten Großflughafen Schönefeld aufgeben – ein Projekt, das die Postkommunisten bislang heftig befehdet haben. Zeitgleich sandte Schönbohm versöhnliche Signale aus, lobte öffentlich Regine Hildebrandts „große Verdienste beim Aufbau des Landes“. Sein Werben traf bei der Mehrheit der SPD-Kader auf offenere Ohren. Für sie stand schon vor der Wahl fest: Sollten sie die absolute Mehrheit verlieren, sei die ZuRegierungschef Stolpe (M.), Konkurrenten Bisky, Schönbohm: „Nicht reden – handeln“ sammenarbeit mit den Konservativen der lungen mit der Christenunion Jörg Schön- einzig gangbare Weg, um das hoch verBRANDENBURG schuldete Land aus der Misere zu bringen. bohms aufzunehmen. Wichtige Vertraute Stolpes warben für Die Entscheidung ist eine Zäsur in der Geschichte der Ost-SPD. Knapp zehn Jah- ein Bündnis mit der Union: Justizminister re galt das Duo Hildebrandt/Stolpe als un- Hans Otto Bräutigam, Innenminister Albesiegbares Traumpaar. Mit beiden, dem win Ziel und Matthias Platzeck, der bei wegen seiner Stasi-Kooperation gebeutel- seinem Versuch, den Haushalt der Landesten Regierungschef und der Sachwalterin hauptstadt zu sanieren, von der PDS stänaller ostdeutschen Mühseligen und Bela- dig attackiert wird. „Die glauben noch imRichtungsentscheidung bei denen, konnte sich die absolute Mehrheit mer“, so Platzeck verärgert, „man kann der brandenburgischen SPD: Geld beschließen.“ der Brandenburger identifizieren. Die Mehrheit der leitenden Vor allem das Wort des Potsdamer OBs Am vorvergangenen Sonntag offenbar nicht mehr. Das Wahlergebnis bedeutete das dürfte den Ausschlag auf der Sitzung im Funktionäre will eine Koalition Ende einer ostdeutschen Legende. Ausge- Landesausschuss gegeben haben. Er ist der mit der Christenunion. rechnet einem Wessi, dem General a. D. und neue Hoffnungsträger der Partei. Schon am s war ein großer Auftritt – und wahr- früheren Berliner Innensenator Jörg Schön- Wahlabend zeichnete sich ab, dass Platzeck viel früher als bislang geplant scheinlich ihr letzter: Als Regine bohm (CDU), gelang es, die rodie künftige Nummer eins der Hildebrandt, Sozialministerin Bran- te Hochburg Brandenburg zu brandenburgischen SPD werdenburgs und Galionsfigur der Ost-SPD, erschüttern. Mit der Devise den soll. Plötzlich stand er neauf der Sitzung des Landesausschusses der „Nicht reden – handeln“ hievben Stolpe und Hildebrandt märkischen SPD am Freitagabend das Wort te er seine Partei von 19 auf 26 und dankte beiden „im Naergriff, herrschte gespannte Stille im Sit- Prozent Stimmenanteil, den men aller“ für den Einsatz im größten Zuwachs brachten von zungssaal in Potsdam-Herrmannswerder. Wahlkampf. Noch am selben Wie in den Tagen zuvor plädierte sie den Sozis enttäuschte Wähler. Tag berief Stolpe einen engen Die Union nutzte ihr gutes dafür, dass ihre Partei, die bei der LandVertrauten Platzecks in die tagswahl die absolute Mehrheit verloren Abschneiden, um sich bei Verhandlungskommission für hatte, eine Koalition mit der PDS eingeht. Hildebrandt zu revanchieren, die Sondierungsgespräche – Neun Jahre habe die CDU dem Land und die aus ihrer tiefen Abneigung Umweltstaatssekretär Rainer ihr geschadet. Und wie in den Tagen zuvor gegen die CDU nie ein Hehl Speer, der wohl auch die Leiwurde sie überdeutlich: Sie werde „kein gemacht hat. Generalsekretung der Staatskanzlei überBuch schreiben wie Oskar Lafontaine“, tärin Angela Merkel giftete Ministerin Hildebrandt nehmen wird. aber einer Großen Koalition nicht an- noch am Wahlabend vor johDoch der mediengewandte Platzeck, so gehören. lenden Anhängern: „Diese Frau schadet Kurz nach ihr ergriff Potsdams Ober- der deutschen Einheit.“ Intern gab sie die fürchten die Parteistrategen, könne die imbürgermeister Matthias Platzeck das Wort: Losung aus: Koalition mit der SPD ja, aber pulsive Hildebrandt nicht ersetzen. Noch am Freitag gaben sie die Losung aus: „ReEs stimme, was sie über die CDU gesagt nicht mit Ministerin Hildebrandt. habe. Doch die anderen hätten dem Land Die schüttete weiter Öl ins Feuer, nann- gine ist unverzichtbar.“ Sie haben einen „40 Jahre geschadet“. Gemeint war die te im Vorstand ihrer Partei die Unionsleu- letzten Wunsch: Egal in welcher KonstelPDS. Wie schon zuvor Ministerpräsident te mehrfach „Arschlöcher“ und brach lation – Hildebrandt soll dafür sorgen, dass Manfred Stolpe und Finanzministerin einen Richtungsstreit vom Zaun: Bei Ge- der PDS nicht die sozialen Themen überWilma Simon plädierte der OB für ein nossen in Sachsen-Anhalt, deren Minister- lassen werden. Die Umworbene ließ die Genossen Bündnis mit der Union. Nur eine Hand präsident Reinhard Höppner sich von der voll Sozialdemokraten warben für eine Al- PDS tolerieren lässt, sowie beim Thüringer erst einmal im Ungewissen, ob sie ihre Spitzenkandidaten Richard Dewes holte Drohung wahr machen und sich aus Manlianz mit den Postkommunisten. Ohne Abstimmung empfahl das Gre- sie sich Rückendeckung. Derweil began- fred Stolpes Mannschaft zurückziehen mium der Parteispitze, Koalitionsverhand- nen PDS-Gegner in der SPD-Bundestags- wird. Stefan Berg Regines letzter Kampf REUTERS E 38 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland BUNDESWEHR Die intelligente Armee Wie viele Soldaten braucht die Bundeswehr, welche Waffen soll sie haben, und wie viele Garnisonen müssen geschlossen werden? Ein Berufsheer lehnt Rudolf Scharping ab, deshalb wird die Bundeswehr in Zukunft zweigeteilt sein, um Kampfaufträge erfüllen zu können. V P. MÜLLER AFP / DPA ier Wochen lang bleme sind gelöst.“ Aber tingelte Rudolf weil im Ernst für das Scharping durch kommende Jahr nur 45,3 die Truppe. Zwischen AlMilliarden Mark zur Verpenvorland und Ostseefügung stehen werden Küste verkündete der und die Bundeswehr in Verteidigungsminister, den darauf folgenden dass die Bundeswehr im vier Jahren nochmals Kosovo-Konflikt „er19 Milliarden einsparen staunliche Leistungen“ soll, steht der Minister vollbringe, „Respekt“ vor einer schier unlösbaverdiene und getrost ren Aufgabe. „ein bisschen mehr Stolz Modernes Kriegsgerät zeigen“ dürfe. anschaffen, den MilliarNebenbei sammelte den Mark teuren BalkanScharping bei der KforEinsatz finanzieren, die Friedenstruppe im KosoBundeswehr von Landesvo Eindrücke für ein verteidigung umtrimmen Buch über den Krieg geauf Einsätze fern der gen Jugoslawien, zur Heimat, die Stärke von Rolle der Deutschen und 338 000 Soldaten nebst ihres Militärs. Die Botetwa 130 000 zivilen Beschaft wird eher gediensteten halten – dabei mischt ausfallen. An der noch Milliarden sparen: Heimatfront wie auf Das alles geht nicht. dem Balkan fand er Aber „weiter so“, so „hoch motivierte Soldaviel ist den Generälen ten“ (Scharping) vor – und den Fachleuten im allerdings mit immer Bundestag klar, geht erst denselben Sorgen. recht nicht: Die Bundeswehr muss schlanker Die Truppe beklagt werden – und stärker zuveraltete Ausrüstung, gleich. chronischen ErsatzteilStrittig ist nur, wie mangel und trübe Beför- „Leopard“-Panzer an der Kosovo-Grenze (im Juni): Geschossen wurde kaum schnell der Umbau komderungsaussichten; wegen der Spardiktate des Finanzministers teidigungsminister eine Bilanz des Kosovo- men soll, wie viele Garnisonen schließen Hans Eichel grassiert bei den Soldaten Krieges ziehen. Für die Vormacht USA ist müssen – und wie klein die Truppe nach samt Familien Furcht vor einer Verkleine- eine Konsequenz schon klar: Die europäi- der Reform denn werden darf. Sollen es rung der Armee, vor Kasernen-Schließun- schen Verbündeten sollen mehr Geld in die 150 000 oder 300 000 Soldaten sein? Bei SoRüstung stecken. gen und Jobverlust. zialdemokraten und Grünen, Liberalen, „Gebt mir 55 Milliarden“, meint der Ver- CDU/CSU und externen Sachkennern ist Wegen der „Versäumnisse der Vergangenheit“, resümierte Scharping vorige Wo- teidigungsminister spöttisch, „und alle Pro- so ziemlich jede Zahl im Angebot. che an der Hamburger Führungsakademie, Dazu stellen sich auch noch einige sei die Bundeswehr seit Jahren „unterfiGrundsatzfragen: Halten die Deutschen an nanziert“: „Sie hat von der Substanz geder Wehrpflicht fest, einem Relikt aus der lebt.“ Mittlerweile fehlten den StreitkräfÄra der Massenheere im Kalten Krieg? ten sogar „elementare Fähigkeiten“, um Oder folgen sie – wie Frankreich und jetzt wohl auch Italien – den Amerikanern und einen „wirkungsvollen und international Briten, die Berufsarmeen unterhalten? angemessenen Beitrag“ für BündnisverDürfen Frauen künftig an Gewehre und teidigung und Kriseneinsätze zu leisten. Kanonen, in die Cockpits von TransportDabei wachsen die Anforderungen. flugzeugen und Kampfjets wie beim NachNächste Woche, bei einem Treffen im kabarn Niederlande? Oder bleibt es für sie nadischen Toronto, wollen die Nato-Verbei Militärmusik und Sanitätsdienst? Sicher ist nur: Das seit 1990 vereinte Minister Scharping, Offiziere* * Beim Besuch der Bundeswehr-Führungsakademie in Deutschland ist von Freunden, Nato-VerHamburg am vergangenen Mittwoch. „Seit Jahren von der Substanz gelebt“ 42 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland ter von Kirchbach: In Heeresbataillonen Die Radpanzer „Luchs“ und „Fuchs“ haund Luftwaffengeschwadern werden in ben sich zwar auf dem Balkan bewährt. großem Stil Hubschrauber und „Tornado“- Aber die Vehikel fahren seit 20 und mehr Kampfjets, Transportflugzeuge wie die Jahren. Sie sind entsprechend reparaturanTransall, Lastwagen und sogar Panzer aus fällig und teuer im Unterhalt. der „Kriegsreserve“ ausgeschlachtet. „GeDer Kosovo-Krieg zeigte zudem, wie groß zielte Ersatzteilgewinnung“ heißt das im die Kluft zwischen den Hightech-StreitkräfMilitär-Deutsch, die Soldaten nennen es ten der Amerikaner und den Armeen der „Kannibalisierung“. Europäer ist. Um aufzuholen und die geDie Hauptverteidigungskräfte, immer- meinsame Sicherheitspolitik Europas mihin fast 290 000 der 338 000 Soldaten, ge- litärisch zu unterstreichen, müssten auch die raten immer mehr ins Hintertreffen. Be- Deutschen Milliarden lockermachen: Die stenfalls 60 Prozent des Materials sind ein- Streitkräfte der Zukunft benötigen große satzbereit – bei großzügiger Ausle- Transportflugzeuge, Kommunikations- und gung der Vorschriften. Moderne Aus- Spähsatelliten, moderne Datennetze, Transstattung erhalten nur noch die portschiffe für Truppen und Kriegsgerät. elitären KRK-Truppen. Nur ist in Europa bislang niemand beNun rächt sich, dass Scharpings reit, zusätzliche Milliarden ins Militär zu Vorgänger Rühe die Reform samt pumpen. Frankreich will nicht, GroßbriTruppenabbau verschleppt hat. Er tannien ebenso wenig – von Sparkommiswollte in der Nato nicht als unsiche- sar Eichel und Kanzler Gerhard Schröder rer Kantonist dastehen – und daheim ganz zu schweigen. nicht als Totengräber etlicher GarniEigentlich wollte Scharping erst einmal sonen und der Wehrpflicht. Zeit gewinnen und die Reform gemächlich Jetzt rächt sich auch, dass CSU-Fi- angehen. Erst im September nächsten Jahnanzminister Theo Waigel der Bun- res sollte die im Frühjahr berufene unabdeswehr seit 1990 immer wieder Mil- hängige Kommission unter dem Alt-Bunliarden abknapste und für Anschaf- despräsidenten Richard von Weizsäcker, fungen Jahr um Jahr die Order er- 79, „Optionen“ ausarbeiten. ging: „Schieben, strecken, streichen“. Jetzt erhöht der Sparzwang den Reform„Transall“-Flugzeuge: Milliarden für Mobilität „Struktur, Ausrüstung, Ausbildung druck: Die Kommission muss sich sputen – mat, Polizist, Samariter und Technischem und Einsatzbereitschaft des Heeres“, so wie auch die Stäbe im Ministerium. Schon Hilfswerker gesucht. Er oder sie sollte von das Ergebnis der „Bestandsaufnahme“, für den Mai, noch vor Scharpings Verhandrobuster Natur, weltgewandt und mehr- sind auch im Jahr 10 nach dem Fall der lungen über den Etat des Jahres 2001, plasprachig sein, psychologisches Einfüh- Berliner Mauer noch „auf die Führung des nen die Kommissare einen ersten Report. Dann wird sich zeigen, wie weit Scharlungsvermögen besitzen, über Improvisa- Gefechts mit hoher Intensität ausgerichtionstalent und gern auch Verwaltungs- tet“ – als drohe noch Krieg gegen die Rus- pings Absicht getragen hat, die Reformarsen im norddeutschen Tiefland. beit seiner Stäbe mit den Denkspielen der kenntnisse verfügen. Noch immer stehen gut 2500 schwere Kommission zu „verzahnen“. Keinesfalls Seit 1992 hatte Scharpings Vorgänger Volker Rühe (CDU) die Truppe an neue „Leopard“-Panzer, 2100 „Marder“ und dürfe der Eindruck entstehen, lautete seiAufgaben gewöhnt – in Kambodscha, So- hunderte gewichtiger Panzerhaubitzen aus ne Vorgabe, das Ministerium wolle der den siebziger Jahren in den Kasernen. Kommission vorgreifen. malia und Bosnien-Herzegowina. Aber die Nato verlangt, dass künftig alle Dabei ist das längst geschehen. Wichtige Geschossen wurde kaum. Gefragt waren überwiegend die militärischen Hilfs- Truppen der Partner schnell und weiträu- Weichen sind bereits gestellt: Eine Berufswerker und Polizisten. Mit dem Krieg ge- mig verlegbar sind. Da wären leichtere armee soll es nicht geben. Scharping und die Generäle hängen an gen den Serben-Führer Slobodan Milo∆eviƒ Radfahrzeuge zweckmäßig, die sich notfalls waren die deutschen Soldaten erstmals seit auch per Flugzeug transportieren ließen. der Wehrpflicht. Eine Profi-Armee sei „nicht 1945 im Kampfeinsatz. Inzwischen sind bei der Truppe im Kosovo wieder zivile Tugenden gefragt – als Moderatoren an runden Tischen oder bei der Reparatur von Wasserleitungen. Rund 10000 Soldaten der insgesamt 50000 Mann und Frau starken „Krisenreaktionskräfte“ (KRK) von Heer, Luftwaffe und Marine sind jetzt im Einsatz. Aus 123 Einheiten in der ganzen Republik musste die Bundeswehr qualifizierte Soldaten und brauchbares Material zusammensuchen, um an den Balkan-Aktionen teilnehmen zu können. Gleichzeitig noch ein weiteres Auslandsabenteuer anzugehen hieße, die Truppe zu überfordern: „Personell, materiell, organisatorisch und finanziell“, besagt eine interne „Bestandsaufnahme“, könne die Bundeswehr „nur einen Auslandseinsatz über einen längeren Zeitraum durchführen“. „Wir stehen an der Grenze der Belastbarkeit“, sagt Generalinspekteur Hans Pe- Panzer-Reparaturhalle: Die Kriegsreserve ausgeschlachtet 44 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 S. SCHULZ / RETRO AP bündeten und EU-Partnern umzingelt. Die neue Nato-Strategie und der Ehrgeiz der Europäer, Krisen wie auf dem Balkan künftig ohne die Weltmacht USA zu meistern, erfordern Soldaten neuen Typs – mit neuer, leichterer Ausrüstung. Anstelle des Landsers für das „Gefecht der verbundenen Waffen“ (Heeresjargon) in Panzerschlachten und Artillerieduellen wird ein Multi-Talent mit neuem Berufsbild benötigt. Fürs internationale Krisenmanagement wird eine Mischung aus Kämpfer, Diplo- Werbeseite Werbeseite Deutschland T. EINBERGER / ARGUM schub versorgen und Reparaturdienste leisten. Dazu kämen Planung und Verwaltung, das Bereithalten von Personal für nationale und internationale Kommandostäbe. Offen ist noch, wie stark die beiden Schichten ausfallen werden. Kirchbach, Kujat und seine Leute sollen noch ein wenig rechnen. Erst dann will Scharping festlegen, an wie vielen der 600 Bundeswehr-Standorte die Kasernentore für immer schließen werden. Ein Truppenabbau von 10000 Soldaten, so eine Faustformel der Militärs, zwingt dazu, 20 Garnisonen aufzulösen. Scharping lässt erst einmal die 158 „Kleinst-Standorte“ mit weniger als 50 Beschäftigten überprüfen. Dann kommen die 300 Kasernen dran, in denen weniger als 500 Soldaten stationiert sind, vornehmlich in ärmeren und zudem SPD-regierten Bundesländern wie Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Rekrutengelöbnis (in Oberviechtach): Schnupperkurs beim Bund Beginnen, auch soviel steht fest, soll die billiger“, so Scharping, sie drohe zu überal- umfänglicher Hauptverteidigungskräfte Reform am Kopf. Als erstes möchte Schartern, wie Erfahrungen Belgiens und der Nie- soll es künftig jedoch zwei Schichten ping die Führung „straffer und effizienter“ derlande belegten. In Deutschland kämen übereinander geben: Oben werden „Ein- machen. Da stehen heftige interne Auseinanderwomöglich bloß noch „die Rechten und die satzkräfte“ stehen, darunter – als FundaDoofen“, fürchten Berater des Ministers. ment – eine „Grundorganisation“ ohne setzungen der Spitzenmilitärs bevor. Die Inspekteure von Heer, Luftwaffe und MaUnterschwellig ist bei Sozialdemokra- Kampfauftrag. ten noch immer die Sorge vorhanden, eine In verquerem Militär-Deutsch hat Kirch- rine bangen um Macht und Einfluss. Denn kleine Profi-Truppe könne sich wie die bach der Kommission beschrieben, wie die nach neuen Planspielen auf der Hardthöhe Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg als kämpfende Oberschicht aussehen soll. Es würden die Kompetenzen des Generalin„Staat im Staate“ gebärden. Für die „de- gehe um „Kräfte zum Einsatz in der Kon- spekteurs zu ihren Lasten ausgeweitet. Anders als seine Kameraden in den mokratische Verankerung“ biete die Wehr- fliktverhütung und Krisenbewältigung im pflicht die „beste Gewähr“, sagt denn auch Bündnisrahmen oder im multilateralen übrigen Nato-Ländern kann Kirchbach der Scharping. Rahmen, zur Sicherstellung der territoria- Truppe keine direkten Befehle erteilen. Er In Wahrheit geht es nur darum, aus dem len Integrität und Reaktionsfähigkeit, zur ist bloß militärischer „Berater“ der RegieReservoir der Rekruten Soldaten für län- Wahrung des Völkerrechts sowie für Ret- rung und zuständig für die Planung. Künftig soll der Generalinspekteur die gere Verpflichtungszeiten aussuchen zu tungs- und Evakuierungsoperationen“. können. „Wir brauchen die intelligente ArDie gemeinsame Grundorganisation von Truppen im Einsatz dirigieren – mit einer mee“, so Planungschef Harald Kujat. Ohne Heer, Luftwaffe und Marine soll die Re- eigenen Operationsabteilung an seinem Wehrpflicht müsse die Bundeswehr im- kruten trainieren, Offiziere und Unteroffi- Berliner Amtssitz und mit Hilfe eines „gemens viel Geld ausgeben, um in Konkur- ziere weiterbilden, Reservisten fit halten, meinsamen Einsatzstabes“ aus Offizieren renz zur freien Wirtschaft Spezialisten an- die Truppe im Auslandseinsatz mit Nach- aller Teilstreitkräfte. Der soll in Potsdam residieren, wo der bisherige Stab des zuwerben. Schon jetzt sind ComputerIV. Korps „umgewidmet“ werden fachleute Mangelware in der Bundeswehr. 54 53,6 könnte. So entstünde eine Art Mini„Aus Sicht der Nachwuchsgewinnung ist Finanzieller Generalstab. die Wehrpflicht unverzichtbar“, heißt es Rückzug 52 Um Personal zu sparen, würden lapidar im Kapitel „Personal“ der „BeAusgaben für den zugleich die Führungskommandos standsaufnahme“. Denn die Personallage Verteidigungshaushalt von Heer, Luftwaffe und Marine mit werde „durch rückläufige Bewerberzahlen 50 in Milliarden Mark den für Ausbildung und Verwaltung belastet“. Im Klartext: Es kommen nicht zuständigen „Ämtern“ verschmolmehr genug Freiwillige zu den Fahnen. 48 zen. Auch zivile Abteilungen des MiDer Nebeneffekt, dass auch der Zivilnisteriums könnten etliche Stellen dienst erhalten bliebe, ist bei den Militärs 46 einsparen samt einem der beiden beerwünscht und den Sozialverbänden willamteten Staatssekretäre. kommen. Die Zahl der Verweigerer bewegt 45,3 Scharpings Führungsgehilfen finsich weiter auf Rekord-Niveau: Im ersten 44 den in diesem Reformkonzept noch Halbjahr 1999 lehnten es 85 266 junge Mänveranschlagter Etat für 2000 einen anderen Reiz: Wenn im Miner ab, dem Ruf in die Kasernen zu folgen. 42 nisterium dutzendweise hoch doFraglich ist, ob ein auf fünf bis sechs Motierte Stellen für Generäle und Minate verkürzter Grunddienst diesen Trend nisterialräte wegfielen, werde es wenden kann. Der Wehrdienst würde alle40 der Truppe umso leichter fallen, mal zum Schnupperkurs. Nur dass statt schmerzliche Einschnitte hinzunehrund 130 000 Rekruten nur noch etwa halb 38 men. „Oben mit dem Sparen anzuso viele in den Kasernen hocken werden. Quelle: Verteidigungsministerium fangen“, so ein Berater des Ministers, Die Bundeswehr der Zukunft wird 1993 1995 1997 1999 1991 „ist doch ein schönes Signal.“ zweigeteilt bleiben. Statt dem Nebenein36 ander kleiner Krisenreaktionskräfte und Alexander Szandar 46 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Urlaub auf Lebenszeit Der Berliner Innensenator hält an einer illegalen Vorruhestandsregelung für Beamte fest – als Bonner Staatssekretär hatte er sie einst selbst bekämpft. H ecke schneiden, Bücher lesen, ein wenig über die Welt nachdenken: Eigentlich könnte Heinz Wendt seinen Lebensabend genießen, und das schon mit 57 Jahren. Seit Januar profitiert der Professor von einer ganz besonderen Berliner Großzügigkeit für Beamte: Er wurde in einen „Sonderurlaub“ geschickt – der bis zum Eintritt ins Pensionsalter dauert. Doch den Juristen Wendt, viele Jahre Dozent an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, plagen Gewissensbisse: „Ich bin eine personifizierte Rechtswidrigkeit.“ Um das Beamtenheer abzurüsten, verabschiedete der Berliner Senat im November 1996 die sogenannte 55er Regelung, mit der überflüssige Staatsdiener der Hauptstadt mit 55 Jahren nach Hause geschickt werden können. Wer sich daheim für die Pension rüstet, wird reichlich entlohnt – mit 75 Prozent der Bezüge. Bereits vor zwei Jahren hatte Wendt in einem Aufsatz die Notlösung als „rechtswidrig“ analysiert, im Mai kam das Berliner Verwaltungsgericht zum gleichen Schluss: Es erklärte die Regelung für illegal. Der „Sonderurlaub“, urteilten die Richter, werde „faktisch als vorgezogener Ruhestand“ missbraucht, dem es „an einer gesetzlichen Grundlage mangelt“. Für eine solche Regelung hätte der Bund das Beamtenrecht ändern müssen. Außerdem sei eine längere Beurlaubung „mit der Dienstleistungspflicht des Beamten als Hauptpflicht nicht vereinbar“. Weit über 500 Beamte, darunter mehr als eine Hundertschaft Polizisten, genießen inzwischen den rechtswidrigen Urlaub auf Lebenszeit, bezahlt vom Steuerzahler. Und es sollen, Urteil hin, Urlaub her, noch mehr werden. Denn Berlin will „an der bisherigen Praxis“ festhalten, wie es in einer Vorlage heißt, die Innensenator Eckart Werthebach, 59, Anfang Juni „außerhalb der Tagesordnung“ durch den Senat schleuste. Damit wird die Posse endgültig zur politischen Affäre. Nicht nur, dass sich die Beamten des Innensenators allerlei juristischer Finessen bedienen, um bis zum Jahresende, wenn die Sonderregelung verabredungsgemäß endet, so viele Beamte wie eben möglich in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken – hinter der fragwürdi50 fe Werthebachs. Der Staatssekretär beharrte darauf, dass es sich „unzweifelhaft materiell um Zurruhesetzungen“ handele. Und das bedeute eine „Umgehung“ bestehender Gesetze. Die Niedersachsen ließen die Regelung 1997 auslaufen. Nur Berlin machte weiter – selbst als Werthebach von Bonn in den Hauptstadtsenat wechselte. Wie etliche seiner Vorgänger hat auch er die chaotische Innenverwaltung nicht fest im Griff. Berliner Polizei und Verfassungsschutz leisten sich Panne auf Panne: Trotz Warnungen vor Kurden-Krawallen nach der Festnahme des PKK-Chefs Öcalan ließ die Polizei das israelische Konsulat in der Hauptstadt so gut wie unbewacht. Wohl CDU-Senator Werthebach um Fehler zu vertuschen, vernichtete der Aufforderung zum Rechtsbruch? Chef des Verfassungsschutzes einen brigen Praxis steht mit Werthebach auch ein santen Aktenvermerk. Die illegale Verbeurlaubung von BeamMann, der einst vehement gegen die Berliner Regelung focht. Damals war er noch ten wird das Ansehen des CDU-Mannes Staatssekretär im Bundesinnenministeri- kurz vor den Berliner Wahlen noch mehr in Misskredit bringen: Wie Hohn klingt es, um in Bonn. Um den in Mauerzeiten aufgeblähten wenn die Innenverwaltung jetzt erklärt, Administrationsapparat der Hauptstadt ab- das Urteil des Verwaltungsgerichts sei „aus zubauen, beschloss der schwarz-rote Se- hiesiger Sicht nicht zu erwarten“ gewesen. nat Anfang der neunziger Jahre die Strei- Denn nicht nur Werthebach aus Bonn hatchung von mehreren tausend Stellen pro te Alarm geschlagen. Erst im November vergangenen Jahres Jahr. Doch Beamte loszuwerden ist nicht eben einfach. Einziges offizielles Instru- wies das Landesverwaltungsamt der Inment ist die Altersteilzeit: Der Staatsdiener nenverwaltung nach, wie absurd und ungerecht die Regelung ist. Sie errechnete, arbeitet ab 55 Jahren nur noch halbtags. Berlinern und Niedersachsen reichte der dass in einem konkreten Fall ein Beamter Spareffekt nicht. Als der Bund sich einer mit Grundgehalt A 16/Endstufe (damals Alternativlösung verweigerte, erfanden 9585 Mark monatlich) in der offiziellen Albeide Länder den „Sonderurlaub“ vor Pen- tersteilzeit (halbtags arbeiten) sogar 57 sionsbeginn. Bei einem Treffen des Bund- Mark weniger erhält, als wenn er als SonLänder-Arbeitskreises für Beamtenrechts- derurlauber ganz zu Hause bleiben würde. Der Leiter des Personalreferats der Infragen wurden sie deshalb im Mai 1996 von Bonner Ministerialen heftig gerüffelt. Den nenverwaltung remonstrierte sogar. Der verbal vorgetragenen „schwerwiegenden Senatsrat weigerte sich, die rechtswidrige rechtlichen Bedenken“ folgten böse Brie- Regelung anzuwenden. Die Praxis blieb, der Mann musste das Referat verlassen. Berliner Spitze In seiner Vorlage für die SenatsBeamte der Länder abstimmung erklärte Werthebach auf jeweils 10 000 Einwohner sogar zufrieden, die Akzeptanz der frühen Freizeit sei so groß, dass „von einem deutlichen Anstieg der Bewilligungszahlen bis zum Ende Berlin 256 des Jahres auszugehen ist“. SkruHamburg 251 pel, trotz des VerwaltungsgerichtsBremen 237 urteils weiterzumachen, dämpften Baden-Württemberg 174 Werthebachs Experten mit dem Bayern 163 Hinweis, der Spruch sei ja noch Hessen 160 nicht rechtskräftig. Rheinland-Pfalz 160 Und dann wirkt es gar wie eine Aufforderung zum Rechtsbruch, Niedersachsen 158 wenn im schönsten Juristendeutsch Nordrhein-Westfalen 153 festgestellt wird, eine Aufhebung Schleswig-Holstein 153 rechtskräftiger Urlaubsbescheide Saarland 150 sei „selbst dann nicht zulässig, Brandenburg 110 wenn man annimmt, dass die BeSachsen-Anhalt 108 scheide rechtswidrig sind“. Im Thüringen 85 Klartext heißt das: Jeder Beamte, Mecklenburg-Vorpommern 83 der noch in Sonderurlaub geschickt Sachsen 68 wird, ist unwiderruflich Frühpensionär. Stefan Berg Stand 1998 ARIS BEAMTE t Gesam 1,26 Millionen Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite B U N D E S TAG S P R Ä S I D E N T Störrisch normal Wolfgang Thierse (SPD) will Staatsmann und einfacher Bürger zugleich sein. Das macht ihm im Berliner Kiez und in der Partei Probleme. ARIS 54 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 P. GLASER D ie Hochparterrewohnung in der Diedenhofer Straße 7 wirkt von außen wie die letzte Läusepension Berlins. Die braunen Rollläden lassen sich nicht mehr hochziehen, von den weißen Gitterstäben vor den Fenstern des Nachbarzimmers blättert die Farbe. Prenzlauer-Berg-Bewohner Thierse: „Ich weiß, wie es ist, wenn der Vermieter kündigt“ Das Mietshaus, schräg gegenüber vom Wasserturm, dem Wahrzeichen vom Prenz- wählt, schulterte der Staatsmann im De- um den Kollwitzplatz. Deshalb tobt um lauer Berg, zählt zu den letzten unsanier- zember vergangenen Jahres auf einem Thierses Wohnung seit Jahren ein Kleinten Häusern in den Straßen rund um den Markt eigenhändig den Weihnachtsbaum krieg: Er lehnte den Anschluss an die Zentralheizung ab, weil er sich zuvor selbst etwas zu schick geratenen Kollwitzplatz. und schleppte ihn nach Hause. Ein kleines Schild aus Aluminium zeigt an, „Ich weiß, wie es ist, wenn einem der eine Gasetagenheizung hatte einbauen dass die Bruchbude dennoch Politpromi- Vermieter kündigt“, ließ er potenzielle lassen. Sie wehrte sich gegen den Einbau nenz beherbergt: „Abgeordnetenbüro Wähler im Wahlkampf gern wissen. Kaum schusssicheren Glases, als das BundeskriWolfgang Thierse SPD“. hatte er das neue Amt angetreten, erklär- minalamt darauf drängte. Weil es gegen den Mieter Thierse keine Wo früher der Abschnittsbevollmäch- te er den Verzicht auf die Dienstvilla, die tigte der Volkspolizei seine Vermerke Rita Süssmuth für 4,5 Millionen Mark hat- substanziellen Vorwürfe gibt, führt Alscher nun die Moral ins Feld. Der Mieterschutz schrieb, liest heute der zweite Mann des te aufpolieren lassen. Staates die Briefe besorgter Bürger und Im Kiez ist es wie in der Partei. Be- sei „bestimmt nicht für Leute gemacht, die empfängt illustre Gäste wie Wirtschafts- scheidenheit wird eher als Schwäche aus- so viel Geld verdienen“. Der Bundestagsboss Hans-Olaf Henkel. gelegt denn als Charakterstärke. Wer, wie präsident blockiere „billigen Wohnraum, Gleich um die Ecke, in der Knaack- Thierse, „auf störrische Weise normal blei- der für weniger reiche Familien gedacht ist“. Doch Thierse will bleiben – und nach straße, sieht es nur wenig besser aus. Zwar ben will“, muss büßen. ist die Fassade des denkMehrmals versuchte Dahlem kann er auch nicht mehr. Seine malgeschützten BürgerHausbesitzerin Kerstin Dienstvilla hat er an die Familie des Bunhauses inzwischen saAlscher, 38, ihrem promi- despräsidenten Johannes Rau abgetreten. In der Partei, die Solidarität predigt, in niert, doch im Hausflur nenten Mieter zu kündisind Farbschmierereien gen; zuletzt, weil Thierse den eigenen Reihen jedoch allzu selten beinahe der einzige Anangeblich in seiner Woh- praktiziert, wird über Thierse mitunter strich. Im ersten Stock benung eine Untermieterin ähnlich abfällig geredet wie beim Häuserwohnt Thierse mit seiner ungenehmigt aufgenom- kampf. „Wir haben gesagt“, plauderte Familie eine Dreieinhalbmen hatte. Dabei nutzt SPD-Fraktionschef Peter Struck in einer Zimmer-Wohnung. Sie nur die derzeit im Aus- Talkshow respektlos, „als Präsident, der sei das „gemütlich-chaoland lebende Schwester da oben sitzt, kann man nicht wie ein tische Domizil eines von Ehefrau Irmtraud Schluffi aussehen.“ Doch auch mit gePrivatgelehrten“, lästern Thierse die Wohnung am stutztem Bart und neuem Anzug wirkt Freunde; mitunter sei es Kollwitzplatz als Postan- Thierse im Politikbetrieb wie ein russischer Intellektueller in der Emigration. dort ziemlich schwer, schrift. zwischen den zahllosen Das Familienunterneh- „Ich weiß doch“, sagte er in der Wahlnacht, Büchern und Erbstücken men Alscher war zu nachdem er seinen Wahlkreis wieder nicht ein Plätzchen zu finDDR-Zeiten die einzige gewonnen hatte, „wie wenig Verlierer geden. Und aus diesem Amgroße private Ost-Berli- liebt werden.“ Auch an Thierses Ohren ist gedrungen, biente will der studierte ner Hausverwaltung und Literaturwissenschaftler Thierse-Wohnhaus in Berlin schon damals berüchtigt dass des Kanzlers Vasallen nach neuen Ostnicht weg. für einen unsanften Um- talenten wie Potsdams Oberbürgermeister Bescheidenheit ist bei Thierse Programm gang mit ihren Mietern. Inzwischen gehört Matthias Platzeck Ausschau halten. Im De– zuweilen auch Programmersatz. Büro Kerstin Alscher das Haus, in dem Familie zember muss ein SPD-Parteitag eine neue und Wohnung sind ebenso Teil seines Thierse seit mehr als 20 Jahren wohnt. Wie Führung wählen. Soll Platzeck etwa ParteiSelbstversuchs, Repräsentant und Nor- viele Ostler hat auch der Bundestagspräsi- Vize werden? Thierse, den es „nie sonderlich interesmalbürger zugleich zu sein. Auf viele jener dent noch den Mietvertrag aus Ostzeiten. Statussymbole, die seine Vorgängerin im Sanierungen und Mieterhöhungen für sol- siert hat, ein richtiger Politiker zu werden“, Amt so schätzte, verzichtet er. Der oberste che Wohnungen sind an strenge Auflagen will den Posten in der Partei jedoch nicht kampflos räumen. „Ich werde wieder anOstler fliegt, wenn möglich, Linie und nicht gebunden. mit der Flugbereitschaft, lässt sich im Rund 500 Mark kalt zahlt Thierse für treten.“ Den Bundestagspräsidenten zu dePrenzlauer Berg nur sehr selten von seine Wohnung, eine niedrige Miete für das montieren, glaubt er, werde auch ein SoziLeibwächtern begleiten. Gerade frisch ge- zum In-Viertel avancierte Quartier rund aldemokrat nicht wagen. Stefan Berg Werbeseite Werbeseite FOTOS: P. BRENNEKEN / TRIASS Deutschland Fußball-Mäzen Petersmann*, Petersmann-Domizil, Petersmann-Immobilie Kronskamp: Mit 60 Millionen Mark auf der Flucht K R I M I N A L I TÄT „Wen betrügen wir heute?“ Mit Luftgeschäften sollen Ganoven aus dem Ruhrgebiet bei Sparkassen, Versicherungen und Leasingfirmen einige hundert Millionen Mark abgezockt haben. D ie Herren orderten nur das Teuerste: erst Carpaccio vom nordfriesischen Rind, dann getrüffelten Hummer an frischen Blattsalaten und schließlich Variationen vom Milchlamm. Dazu ließen sie sich Mouton Rothschild Jahrgang 1945 eingießen, die Flasche zu 4600 Mark. Die Gesellschaft im Sylter Lokal von Sternenkoch Jörg Müller war ausgelassen * Mit Mitgliedern des VfB Westhofen bei der Aufstiegsfeier des Vereins in die Verbandsliga am 21. Mai. und laut. Zu später Stunde fächelten die drei Herren ihren Damen mit Bündeln von Tausendmarkscheinen Erfrischung zu. Der Kaufmann Michael Krapohl und der Versicherungsmakler Joachim Gladis müssen bis auf weiteres solchen Freuden entsagen. Die Krefelder Sonderkommission (Soko) „Luft“ buchtete sie und ein gutes dutzend Helfer, darunter Steuerberater und Gerichtsvollzieher, zwei Wochen nach dem Sylt-Trip ein. Bis auf einen sitzen alle noch in Untersuchungshaft. Der Schil- lerndste von ihnen, „Konsul“ Ingo Petersmann, ist mit schätzungsweise 60 Millionen Mark auf der Flucht. Lieferwagenweise sackten 100 Ermittler unter Leitung des Bochumer Staatsanwalts Hans-Joachim Koch am 10. August in 13 Städten im Ruhrgebiet und in den neuen Bundesländern Geschäftsunterlagen ein. Sichergestellt wurden zudem etliche Ferrari, Mercedes und Porsche GT3. Dazu ein Hermès-Koffer mit Schmuck, darunter mehrere Rolex Daytona, sowie ein halbes Pfund Kokain. Koch ermittelt wegen „Bandenbetrugs“ und staunt seither, wie leicht es ist, Millionen zu ergaunern: „Je größer die Summen, desto einfacher wird es.“ Auf etwa eine halbe Milliarde Mark schätzt die Dortmunder Kriminalpolizei für Wirtschaftsstraftaten den Schaden, den Krapohl, Petersmann & Co. angerichtet haben. Das Geschäftsprinzip der Gauner war ganz simpel: Sie mach- J. KOEHLER ten mal gemeinsam, mal allein „Luftgeschäfte“ mit Scheinfirmen und frisierten Bilanzen. Besonders gern ließen sie sich über Komplizen teure Baumaschinen oder Luxusfahrzeuge in Rechnung stellen und finanzierten diese über Banken oder Leasingfirmen. Manchmal soll auch Krapohl als Leasingnehmer aufgetreten sein. Dann lief die Refinanzierung über Banken. In jedem Fall ein glänzendes Geschäft – da es die Fahrzeuge meistens gar nicht gab. Im Juni dieses Jahres leaste beispielsweise die VIG-Petersmann GmbH von der norddeutschen Industrie-Finanz-Leasing GmbH & Co. zwei Powerscreen-Siebanlagen, wie sie für Kiesgruben gebraucht werden. Preis: 762 120 Mark. Die Leasinggesellschaft überwies nach eigenen Angaben das Geld per Lastschrift an die Gallinat-Bank in Essen, dort hat Petersmann ein Konto. Die Geräte mit den Seriennummern 721 5839 und 6 506 991 existieren jedoch nur auf dem Papier. Als Lieferant trat die ostdeutsche Firma R. aus Schkeuditz auf. Die Rechnungen für die Maschinen wurden praktischerweise gleich im Krefelder Büro der AMK geschrieben, der gemeinsamen Firma von Krapohl und seinem Kompagnon Wolfgang Menne. Eine der Leidtragenden solch krummer Deals ist die Düsseldorfer BVH-Bank – sie ist pleite. Der frühere Bankdirektor Paul H. habe „unverantwortliche Kreditgeschäfte betrieben“, klagt der Anwalt Rolf-Dietrich Kaven, Mitarbeiter des BVH-Konkursabwicklers. Krapohl hatte Petersmann dort eingeführt. Die Machenschaften aus dem „Dunstkreis der Krapohl-Gruppe“ schätzt der Jurist als „professionell perfide“ ein. Bei ihren Luftgeschäften waren die Herren äußerst kreativ und tummelten sich auch schon mal in der Modewelt. 1,7 Millionen Mark zahlte die BVH-Bank nach eigenen Angaben an „eine Gesellschaft im Umfeld von Krapohl“ für die erfundene Jeans-Firma Meeds. Die Staatsanwälte gehen davon aus, dass mehr als 50 Banken und Leasinggesellschaften von den Verdächtigen hereingelegt wurden. Darunter besonders viele Volksbanken. Die erschienen als besonders willige Opfer, da die Volksbanken als Kleinkrämer im Kreditgeschäft gelten und oftmals gern groß einsteigen möchten. Außerdem fehlt ihnen untereinander ein wirksames Meldesystem. Mitarbeiter aus der Krefelder AMK-Zentrale sortierten in Ostdeutschland die Volksbanken nach Postleitzahlen. Telefonisch sondierten sie, ob Interesse an Leasinggeschäften im großen Stil bestünde. Dann fuhren die Herren gen Osten, in protzigen Autos aus dem Fundus von Krapohl. Gelegentlich ließen sie sich auch chauffieren – weil das ihrer Meinung nach einen besseren Eindruck auf die Ostdeutschen machte. Zu den – später geplatzten – Verhandlungen über den Ankauf der Stadthalle Cottbus mit der dortigen Volksbank ließ Deutschland CLAASEN / KÖLNER EXPRESS sich Krapohl per Privatjet einfliegen. Als Bei anderen Geschäften waren die der Rückflug wegen einer heranziehenden Versicherer nicht so vorsichtig. „Er hat uns Gewitterfront ausfallen musste, kaufte er leider nicht übergangen“, gesteht Victoriasich nach Informationen, die der Krefelder Sprecher Jakob Schmitz ein. Vor allem Kripo vorliegen, schnell einen Audi A6 gefälschte Mietverträge seien so geschickt TDI, um am selben Tag noch nach Hause gemacht worden, dass die Victoria darauf zu düsen. Der silberne Audi im Wert von hereinfiel. Der Schaden, so fürchtet 65 000 Mark wurde danach nie wieder be- Schmitz, liege „im zweistelligen Millionutzt und stand bis zur Beschlagnahme am nenbereich“. 10. August angeblich unbezahlt auf dem Die Aachener und Münchener VersicheFirmengelände der AMK herum. rung hat den Eheleuten Petersmann drei „Sie haben es verdammt clever ange- Darlehen über insgesamt 48 Millionen stellt“, bescheinigt Heiko Leske von der Mark gegeben, 30 Millionen davon allein Sparkasse in Leipzig, bei der Krapohl und für den Erwerb und die Sanierung der Petersmann mit Betriebsmittelkrediten von Plattenbausiedlung Kronskamp bei knapp zehn Millionen Mark in der Kreide Rostock. „Wir sind übel getäuscht worstehen sollen. Die vorgelegten Bilanzen den“, klagt auch hier der Leiter der Kreseien so gut gefälscht gewesen, dass nie- ditabteilung, Klaus-Peter Schmidt. Gemand Verdacht geschöpft habe. fälschte Bilanzen seien „nicht zu erken„Wen betrügen wir heute?“ soll einer nen“ gewesen. Die Bankauskünfte seien der Lieblingssprüche von Petersmann ge- auf Grund von gefälschten Angaben „suwesen sein, der sich seit ein paar Monaten per“ ausgefallen. Schmidt: „So einen Fall mit dem gekauften Titel hat es bei uns noch nie eines Konsuls von Guinea gegeben.“ Ecuatorial schmückt. Ein Der Riesenschwindel protziges Messingschild mit den Luftgeschäften weist an seiner bunkerarkonnte nur funktionietigen Villa nahe der Spielren, weil Petersmann und bank Hohensyburg darKrapohl willige Helfer an auf hin. Sein Pilotenkofden richtigen Stellen hatfer trägt neben den ten. Den Bankdirektor H. Schlössern die Aufschrift und den Versicherungs„Diplomat“. makler Joachim Gladis Als die Fahnder am 10. zum Beispiel, der nach August das Haus durchInformationen der Kresuchten, rief Petersmann, felder Kripo die Kontakder gerade in Ostdeutschte zu den Versicherungen land neuen Geschäften eingefädelt haben soll. nachging, daheim an und Oder den Steuerberater war gewarnt. Ehe er sich F., der die geschönten absetzte, beschimpfte er Bilanzen abzeichnete, sodie Soko-Beamten: Er sei wie den ImmobilienKonsul und sein Haus exgutachter E. Und sogar territoriales Gelände, die Kaufmann Krapohl einen Gerichtsvollzieher, Polizisten sollten gefälmit Spitznamen „Lucky ligst verschwinden. Doch die hatten vorher Luke“, der die Polizeiaktion verriet, wenn beim Auswärtigen Amt nachgefragt und er- auch so spät, dass die Ganoven davon fahren, dass ein Honorarkonsul allenfalls in kaum Nutzen hatten. dem Land geschützt ist, dessen Titel er geIngo Petersmann, der als Fußballerkauft hat. Mäzen nur zu gern in der Zeitung stand, Das flotte Leben mit Edelnutten, Spiel- „ärgert sich darüber, dass er als großer bankbesuchen und teuren Sportwagen hat- Betrüger hingestellt wird“, berichtet sein te seinen Preis. Außerdem musste Peters- Anwalt Siegfried Bönnen. Der Honorarkonsul hat inzwischen über mann im Monat bis zu 3,5 Millionen Mark für Leasingraten zahlen, damit das filigra- den Advokaten angeboten, sich zu stellen, ne Finanzgeschäft nicht zusammenstürz- aber nur, wenn ihm Haftverschonung gete. Obendrein unterstützte er als Sponsor währt werde. In diesem Fall werde er auch mehrere Fußballamateurvereine und eine Kaution von fünf Millionen Mark mitträumte vom Einstieg beim derzeitigen bringen. Das Geld würde fast schon reichen, um Zweitligisten VfL Bochum. Darum nutzte er auch sein eigenes Haus, den Mietern in der Plattenbausiedlung um an frisches Geld zu kommen. Für 1,9 Kronskamp wieder ein normales Leben Millionen Mark soll er die düstere Villa ge- zu ermöglichen. Dort gibt es vier Blocks kauft haben, bei der Victoria Versicherung mit halb fertigen Wohnungen und Baulegte er ein Gutachten über 4,9 Millionen gerüste, über die randalierende Jugendliche vor, um sein Haus zu beleihen. Der Victo- nachts klettern und die Mieter ängstigen. ria erschien das zu hoch, sie schickte einen Petersmann hatte mit der Sanierung angeeigenen Gutachter, der aber auch noch auf fangen, aber die Handwerker nicht weiter bezahlt. die Summe von 3,3 Millionen Mark kam. Barbara Schmid 58 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland ZEITGESCHICHTE Ein gern gesehener Agent J. H. DARCHINGER Bisher unbekannte schwedische Geheimakten über Willy Brandt im Stockholmer Exil zeigen: Der junge Sozialist war ein geschätzter Informant – besonders bei den Amerikanern. Kanzler Brandt (1972), Brandt-Pass aus Geheimdienst-Akten: Besonderes Interesse an engen Beziehungen zur Sowjetunion 60 schnittswähler noch erTheorie der CIA – passte schrecken konnte. 1961 bestens ins Feindbild der fanden 40 Prozent der damaligen ChristdemoBundesbürger, dass Emikraten. Kommunistische granten keine RegieExilanten, die ihn in rungsposten besetzen Schweden erlebt hatten, sollten, und die Union behaupteten hingegen, er empfahl ihren Wahlredhabe für Engländer oder nern den Einsatz des Amerikaner spioniert. Wortes „VaterlandsverDas Opfer der Kamparäter“ gegen den SPDgne blieb merkwürdig Kanzlerkandidaten. wortkarg über seine AgenDer CSU-Vorsitzende tenkontakte. Was er daFranz Josef Strauß mals wirklich für eine Rolmachte mit dem Exil le spielte, ließ sich wähStimmung: „Eines wird rend des Kalten Krieges man Herrn Brandt franicht ernsthaft klären, die gen dürfen: Was haben Anti-Brandt-Kampagne (1972) Archive blieben geschlosSie zwölf Jahre lang sen. Erst jetzt ist zum Beidraußen gemacht? Wir wissen, was wir spiel das Material des schwedischen Gedrinnen gemacht haben.“ heimdienstes Säpo aus jener Zeit zugängBesonders gelegen kamen den Brandt- lich. Das bis vor kurzem geheime BrandtBekämpfern die Verdächtigungen, der So- Dossier liegt nun dem SPIEGEL vor. zialist habe in Stockholm für die GeheimDer Stockholmer Emigrant war kein dienste der damaligen Gegner Deutschlands Agent, wie er im Buche steht, weder ein gearbeitet. Brandt als Agent Moskaus – eine James Bond des Sozialismus noch ein finsAP D er junge Mann war erschöpft und vom Regen durchnässt, als ihn der schwedische Wachposten am 1. Juli 1940 um ein Uhr morgens an der Grenze zu Norwegen entdeckte. Der Soldat hatte Mitleid, gab dem Flüchtling eine Jacke und bereitete ihm ein Frühstück. Dann erst brachte er ihn ins nahe gelegene Charlottenberg. Der Mann nannte sich Willy Brandt. Seit 1933 lebte der Sozialist im Exil, meist in Norwegen. Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf das kleine Land musste er ins neutrale Schweden fliehen. Die Exilzeit Brandts, besonders die Kriegsjahre in Schweden, gaben in der Nachkriegs-Bundesrepublik immer wieder Anlass für dunkle Gerüchte und finstere Diffamierungen. Konrad Adenauer nannte den Berliner Bürgermeister gezielt boshaft „den Herrn Frahm“ – so hatte der Lübecker geheißen, bevor er in der Emigration den neuen Namen annahm. Es war eine doppelte Anspielung auf Brandts uneheliche Geburt und sein Exil – beides damals etwas, was deutsche Durch- d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 terer Spion – das belegen die Akten der Säpo. Brandt arbeitete in Stockholm als Journalist, sammelte Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen wie den Zeitungen und wohl auch aus vertraulichen Gesprächen mit anderen Exilanten. Seine Berichte allerdings gingen an Agenten alliierter Geheimdienste, und Brandt muss in den meisten Fällen gewusst haben, mit wem er es da zu tun hatte und wozu seine Informationen benutzt wurden. Was er tat, war für Emigranten mit politischer Überzeugung nicht ungewöhnlich und weder kriminell noch ehrenrührig. Brandt-Gegner hatten immer wieder mal von dem Stockholmer Geheimdienstdossier geraunt, dort fänden sich Hinweise auf kompromittierende Kontakte Brandts zum sowjetischen Geheimdienst NKWD während der Schweden-Zeit. Die drei Ordner mit der Signatur P 1738 belegen in der Tat, dass die Säpo 1941 gegen Brandt wegen „geheimdienstlicher Tätigkeit“ ermittelte – allerdings für die Briten. Vom NKWD ist in den Akten keine Rede. Dennoch spricht manches dafür, dass Brandt in Schweden engere Kontakte zu den Sowjets hielt, als er selbst später einräumen mochte. In einem jetzt erschienenen Buch behauptet ein Überläufer, er habe Dokumente eingesehen, nach denen sich Brandt 1942 neun Monate lang regelmäßig mit NKWD-Residenten in Stockholm traf*. Brandt hat angeblich angeboten, Artikel sowjetischer Autoren in amerikanische Zeitungen zu lancieren und den Sowjets aus Norwegen Informationen über Truppenbewegungen der Wehrmacht zu liefern. Als die Säpo 1942 einige tschechische NKWD-Agenten verhaftete, soll nach dem Bericht des Überläufers der Emigrant Brandt – wohl aus Sorge um seine Sicherheit – weitere geheime Zusammenkünfte abgelehnt und darauf bestanden haben, sich nur noch in der sowjetischen Gesandtschaft zu treffen. Sowohl der Kölner Verfassungsschutz als auch die Karlsruher Bundesanwaltschaft halten den Überläufer grundsätzlich für glaubwürdig. Und in schwedischen Archiven findet sich in der Tat die Akte eines 1942 aufgedeckten tschechischen Agentenrings, der für Sowjets und Engländer gleichermaßen spionierte.Als die Säpo einem der Agenten, dem ehemaligen Prager Theaterregisseur Walter Taub, vorhielt, über Zahl und Auftrag deutscher Divisionen in Dänemark berichtet zu haben, nannte dieser als Quelle für seine Informationen Brandt. Im Stockholm der Kriegszeit galt Brandt als Mann mit einem guten Draht nach Moskau. So telegrafierte der US-Diplomat Herschel Johnson am 31. August 1943 aus Stockholm, Brandt habe „enge Kontakte zur sowjetischen Gesandtschaft“. Der junge Mann war damals Mitglied der Sozialis* Christopher Andrew, Wassili Mitrochin: „Das Schwarzbuch des KGB“. Propyläen Verlag, Berlin; 848 Seiten; 58 Mark. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland KEYSTONE tischen Arbeiterpartei, einer Splittergruppe, der die Sozialdemokraten zu reformistisch, die Kommunisten zu doktrinär waren. In seinem Blick auf die stalinistische Sowjetunion, räumte Brandt in späten Jahren ein, habe allerdings ein „Mythos mitgeschwungen, der auf Abstand nur noch schwer zu erklären ist“. In Reden und Manuskripten aus der Kriegszeit, die jüngst auftauchten, rechtfertigte der Emigrant zum Beispiel den Hitler-Stalin-Pakt als „territoriale Sicherheitsmaßnahme“. Er lobte den „großartigen Aufbau, der seit der russischen Revolution“ in der Sowjetunion stattgefunden habe. Seiner Partei empfahl er: „Als Sozialisten haben wir ein besonderes Interesse daran, mit der Sowjetunion in engen freundschaftlichen Beziehungen zu stehen.“ Doch diese Bekenntnisse hinderten Brandt nicht, auch eng mit den westlichen Alliierten zusammenzu- Brandt in Schweden (1944)*: Als Spion verhaftet arbeiten. Das war damals nicht ungewöhnlich, da Hitler der gemeinsame erhalten. Sie lief nun über die ITF. Diese Feind war und Brandt wie viele andere hatte sich, so der Brandt-Biograf Einhard glaubte, die Verbündeten aus Ost und West Lorenz, an die norwegische Exilregierung würden auch nach dem Sieg gut harmo- gewandt, um einen Kontaktmann in Stocknieren. Der umtriebige Emigrant begann holm zu finden. zunächst als Mitarbeiter der Briten, die „Wir sind einige Freunde, die laufend den geschätzten Informanten später an die Material beschaffen können“, schrieb Amerikaner weiterreichten. Brandt der Londoner GewerkschaftszenMit dem britischen Geheimdienst SIS war trale im Juni 1941. Allerdings sei dafür eine Brandt im Juli 1939 in Verbindung gekom- „gewisse Entschädigung“ nötig. SOE-Mann men. Die Internationale Transportarbeiter- Richard Crossman war von den beigelegten Föderation (ITF), eine militante Gewerk- Einschätzungen über Deutschland und schaft, plante Sabotageaktionen gegen Norwegen angetan. Das Material sei „ausschwedische Eisenerzlieferungen an die Na- gezeichnet“, notierte er und zahlte den zis. Obwohl zwischen Großbritannien und kleinen Betrag von 50 Kronen. Deutschland noch Frieden herrschte, unEnde 1940 begann Brandt, für 150 Kronen terstützte der SIS die Sabotagepläne. im Monat aus Stockholm, damals die AgenBrandt, seit 1937 auch Leiter der ITF-Grup- tenmetropole Europas, Berichte an die Prespe in Oslo, sollte an der Operation teilneh- seagentur Overseas News Agency (ONA) men. Doch die Aktion kam nie zu Stande. in New York zu schicken. Die ONA, eine Nach seiner Flucht aus Norwegen 1940 Tochtergesellschaft der Jewish Telegraph ging Brandt direkt in die Dienste der Bri- Agency, berichtete vor allem über Gräuelten. Großbritanniens Premierminister Win- taten der Nazis im besetzten Europa. ston Churchill hatte nach Kriegsbeginn Seit April 1941 wurde die ONA vom einen neuen Geheimdienst Special Opera- britischen Geheimdienst SIS finanziert. tions Executive (SOE) gegründet, der „Eu- Churchills Großbritannien stand im Frühropa in Flammen setzen“ sollte. jahr 1941 gegen das Dritte Reich allein; Brandt arbeitete mit dem späteren öster- Frankreich war besiegt, Stalin paktierte reichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky noch mit Hitler. Der SIS versuchte deshalb, für die SOE in deren sogenanntem Presse- die amerikanische Öffentlichkeit so zu bebüro. Das war „offene Nachrichtentä- einflussen, dass sie dem kriegswilligen UStigkeit“, gab SOE-Agentenführer Peter Ten- Präsidenten Franklin D. Roosevelt folgte. nant später zu. Das Pressebüro wertete Mit der ONA vereinbarten die Briten eine Zeitungen aus und befragte deutsche „Zusammenarbeit auf besondere Weise“: Flüchtlinge. Die meisten Informationen gin- Die ONA setzte für die Briten Falschmelgen an die BBC und alliierte Schwarzsender dungen an amerikanische Zeitungen ab. wie „Gustav Siegfried Eins“. Brandts Mitarbeit bei der ONA bewegLange blieb Brandt nicht beim Presse- te sich in der Grauzone zwischen Spionabüro. Im Dezember 1940 erhielt er in ge und Journalismus. Manche Berichte hatStockholm die Akkreditierung Nummer ten Artikelform, meist handelte es sich je41 und durfte als Journalist arbeiten. Die Verbindung zu den Briten blieb freilich * Mit Ehefrau Carlota und Tochter Ninja. 64 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland doch um Meldungen, die so kaum für den Druck in einer Zeitung bestimmt gewesen sein können. Brandt schrieb über die Versorgungslage und mögliche Schwachstellen der schwedischen Wirtschaft, gab weiter, wie sowjetische Diplomaten das Verhältnis zwischen Moskau und Berlin einschätzten („Russland wünsche kein Fortschreiten der deutschen Expansion“), schickte ausführliche Analysen zur politischen Entwicklung in Norwegen und notierte auch, was er über Menschenrechtsverletzungen der Gestapo erfuhr, etwa die Folter des norwegischen Schriftstellers Ronald Fangen. Nach 1945 legte Brandt großen Wert darauf, dass er mit „militärischen Nachrichten bei Gott nichts zu tun“ gehabt habe. Einige seiner Berichte lassen daran allerdings zweifeln. Am 7. November 1940 beschrieb er detailliert, wie schwedische Militärs ihre Chancen einschätzten, eine Invasion der Deutschen abzuwehren: „Bei dem qualifizierten Stand der schwedischen Verteidigung hält man es für ausgeschlossen, dass die Deutschen eine Landungsaktion mit Erfolg durchführen könnten.“ Einige Wochen später hielt er fest, was er über die Verteilung deutscher Truppen in Dänemark und ihre Disziplin („sehr aufgelockert“) gehört hatte. Auf Jütland seien die Hauptkontingente stationiert, notierte er am 29. Januar 1941. Viele Berichte Brandts an die ONA fing der schwedische Geheimdienst Säpo ab. Sie liegen heute im Stockholmer Reichsarchiv. Schweden fürchtete einen deutschen Angriff und wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, in Aktivitäten gegen das Reich verwickelt zu sein. Deutsche Emigranten wurden deshalb immer stärker überwacht. Der Säpo fiel Brandt erstmals am 30. September 1940 auf. Er wurde bei einer Razzia in seinem Hotel in der Sturegatan kontrolliert.Verdacht schöpften die Geheimdienstler allerdings erst, als Brandt Weihnachten 1940 heimlich ins besetzte Norwegen reiste. Die Säpo vermutete, dass er dort für die Briten spionierte. Anfang 1941 wurde eine Postkontrolle verhängt. Am 28. März nahmen zwei SäpoBeamte Brandt wegen „Verdachts nachrichtendienstlicher Tätigkeit für England“ fest, schleppten aus seiner Wohnung fünf Ordner mit Dokumenten und steckten eine Schriftprobe seiner Schreibmaschine ein. Vom 28. März, 17 Uhr, bis zum 3. April, 15 Uhr, blieb der Emigrant im sauberen Polizeigefängnis („Es stank vor Sterilität“). Einmal drohten ihm die Vernehmer gar mit der Abschiebung ins Dritte Reich. Doch die Säpo hatte erst fünf Briefe abgefangen, und, wie die Verhörprotokolle zeigen, Brandt wusste sich stets herauszureden. Seine Informationen, so behauptete er, habe er aus Zeitungen, oder sie entstammten „eigenen Überlegungen“. Die Reise nach Norwegen habe er nur unternommen, um seine Verlobte, die spä66 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 tere erste Ehefrau Carlota, dort zu sehen und „rein persönlich direkte Eindrücke zu sammeln“. Nur ein Gerücht, so räumte er ein, habe er an die norwegische Exilregierung weitergegeben. Bei Oslo hätten die Deutschen ein Giftgaslager angelegt – was die Norweger auch schon gehört hätten. Glaubwürdig waren diese Ausreden nicht. Brandt besaß inzwischen die norwegische Staatsangehörigkeit; die norwegische Exil-Vertretung hatte seine Reise finanziert. „Da ist es kaum anzunehmen“, so BrandtForscher Ralf Laumer, „dass der Antifaschist Brandt Informationen zurückhielt, die Hitlers Drittem Reich schaden konnten.“ Belegen konnte die Säpo ihren Verdacht nicht. Vergebens versuchten die Geheimdienstler, zumindest über die ONA etwas herauszubekommen. Säpo-Chef Martin Lundqvist fragte schließlich bei der schwedischen Zensurbehörde an, ob Brandts Briefe „die Neutralität Schwedens oder freundschaftliche Verbindungen mit einer ausländischen Macht“ – gemeint war das Dritte Reich – beschädigten. Die Zensoren fanden das nicht, und die Säpo ließ Brandt frei. Nachweisen konnte der Geheimdienst Brandt auch später nichts, obwohl die Säpo mehrfach auf seine Spuren stieß. So nahm die Säpo die beiden Schweden fest, mit denen Brandt ein Pressebüro betrieb. Beide gehörten zu einem britischen Sabotage- kommando, das im Fall eines deutschen Angriffs auf Schweden aktiv werden sollte. Viele der Berichte Brandts gingen in Kopie an den amerikanischen Geheimdienst OSS. Die fanden Gefallen an dem Mann. Unter den Emigranten, so ein OSS-Offizier, gehöre er „zu den Fähigsten und ist derjenige, der am wahrscheinlichsten nach dem Krieg eine Rolle spielen wird“. Der erste Auftrag des OSS für Brandt war, die sogenannte Marthe-Mission mit vorzubereiten. Über die Schweiz sollten deutsche Sozialisten ins Reich eingeschleust werden, um dort Widerstandsnetze aufzubauen. 1944 gab das OSS den Plan jedoch wegen geringer Erfolgsaussichten auf. Brandt hielt sich wieder an seine Spezialität, die Informationsbeschaffung. Er sei „ein junger, aber offensichtlich kluger und gewissenhafter Beobachter der deutschen Szene“, lobte der US-Gesandte Johnson die politischen Lageeinschätzungen, die Brandt seit Spätsommer 1943 lieferte. Er war „bei den Engländern und Amerikanern in Stockholm gern gesehen“, erinnerte sich später Kreisky. Nach dem Zweiten Weltkrieg war allerdings umstritten, was Brandt den Amerikanern erzählt und geraten hat. Im Wahljahr 1980 hielten ihm Unionspolitiker vor, dass er einem Bericht Johnsons zufolge 1944 für einen Gebietsaustausch plädiert habe. Brandt soll danach die Freie Stadt Danzig und den sogenannten polnischen Korridor für Deutschland verlangt und im Gegenzug vorgeschlagen haben, Polen den östlichen Teil Ostpreußens samt Königsberg abzutreten. Die Bevölkerung sollte umgesiedelt werden. Brandt stritt ab, sich derart geäußert zu haben. 1986 hinterlegte er eine entsprechende Erklärung im Washingtoner National-Archiv, ein ungewöhnlicher Vorgang. In der gleichen Akte findet sich freilich auch ein Dokument, das an Brandts Version zweifeln lässt. Er hatte sich nämlich in einer Broschüre für eine geschlossene deutsche Ostgrenze und einen Zugang Polens zur Ostsee ausgesprochen – das bedeutete nichts anderes als den umstrittenen Gebietsaustausch. Im Herbst 1944 kühlte die Begeisterung der Amerikaner für ihren Mitarbeiter wegen angeblicher Indiskretionen über den deutschen Widerstand ab. Brandt hatte wenige Monate zuvor Adam von Trott zu Solz, den außenpolitischen Kopf der Verschwörer gegen Hitler um Oberst Graf Stauffenberg, in seiner Stockholmer Wohnung empfangen. Trott wollte die Alliierten von der Forderung einer bedingungslosen Kapitulation abbringen und deshalb mit den Briten sprechen. Doch diese lehnten Trotts Anliegen ab. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 berichtete Brandt am 12. September in einem Zeitungsartikel von Trotts Besuch, beschrieb die Pläne der Widerständler für Nachkriegsdeutschland und nannte auch einige Namen. Von ihnen waren allerdings zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur noch der Gewerkschafter Wilhelm Leuschner und der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler am Leben, die aber bereits zum Tode verurteilt waren. Und die BBC hatte nach dem Anschlag umfangreich über die Widerständler berichtet. Möglicherweise wiederholte Brandt nur, was die Briten bereits gesendet hatten. Dennoch war US-Diplomat Johnson entsetzt über den „großen Schaden“, den Brandts Artikel angerichtet habe. Auch ein Buch über den Anschlag – Brandt hatte an dem Band mitgearbeitet – hielt Johnson für eine „große Indiskretion, die dem Widerstand gegen Hitler schadet“. Den guten Eindruck, den Brandt bisher gemacht habe, „müssen wir entsprechend korrigieren“. Bei einigen US-Geheimdienstlern hielt sich der schlechte Ruf über Jahrzehnte. Mitte der sechziger Jahre, Brandt leitete als Außenminister die neue Ostpolitik, gab die CIA Spionageromane in Auftrag, um die Agency nach dem Muster der JamesBond-Bücher so populär zu machen wie den britischen MI6. CIA-Schreiber Howard Hunt wählte die Geschichte eines sowjetischen Einflussagenten im Westen – sein erkennbares Vorbild dafür war Willy Brandt. Axel Frohn, Klaus Wiegrefe d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 67 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite K.-B. KARWASZ V. LA VERDE / AGF Italienischer Verteidigungsminister Scognamiglio, deutscher Kollege Scharping: „Vertrauensvolle Rüstungskooperation“ angemahnt RÜSTUNG Weinende Töchter REUTERS Die Entscheidung der Italiener, statt deutscher britischfranzösische Lenkflugkörper zu kaufen, erbost den Verteidigungsminister. Fast 500 Millionen Mark stehen auf dem Spiel. „Tornado“-Kampfflugzeug, „Storm Shadow“-Lenkflugkörper: „Mehr Sicherheit“ D ie Anrede war vertraulich, der Tonfall nur zu Anfang diplomatisch. „Lieber Carlo“, schrieb Verteidigungsminister Rudolf Scharping seinem italienischen Amtskollegen Carlo Scognamiglio am 6. Mai, „unsere beiden Staaten arbeiten seit vielen Jahren eng und erfolgreich im Verteidigungsbereich zusammen. Dies schließt eine vertrauensvolle Rüstungskooperation ein.“ Dann war Schluss mit Floskeln. Fast beleidigt räsonierte Scharping über eine „Entscheidung“ der Italiener, die er „nicht nachvollziehen“ könne und „noch einmal zu überprüfen“ rate. Anlass für die grobe 70 Kritik am Bündnispartner, mitten im NatoBombenkrieg gegen Serbien, war ein Luftwaffen-Projekt, bei dem Deutsche und Italiener ein gemeinsames Vorgehen vereinbart hatten: die Bestückung ihrer „Tornados“ mit einem Waffensystem, das die Vernichtung gehärteter Punktziele – zum Beispiel verbunkerter Gefechtsstände, militärischer Kommunikationszentralen oder Einrichtungen der Luftverteidigung – aus großen Entfernungen ermöglicht. Ein von den Stäben beider Seiten erarbeitetes „Memorandum of Understanding“ hatte unterschriftsreif auf dem Tisch gelegen – doch zu Scharpings „Überraschung“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 zogen die Italiener den französisch-britischen Luft-Boden-Lenkflugkörper „Storm Shadow“ des Herstellers Matra/BAe Dynamics (MBD) dem von der Münchner DaimlerChrysler Aerospace AG (Dasa)Tochter Lenkflugkörpersysteme GmbH (LFK) angebotenen „Taurus“ vor. Das Nein aus Rom bringt nicht nur die Dasa und die Bonner Rüstungsbeamten in Schwierigkeiten, sondern zeigt auch, mit welch harten Bandagen im europäischen Rüstungsgeschäft getrickst und gekämpft wird – in diesem Fall zu Lasten der Bundeswehr und damit des deutschen Steuerzahlers. Bereits Ende der achtziger Jahre stand eine Luft-BodenAbstands- und Präzisionswaffe auf der Wunschliste der Luftwaffe ganz oben. Doch die zu erwartenden Kosten waren immens, diverse Bestrebungen Anfang der neunziger Jahre, einen luftgestützten Marschflugkörper in internationaler Kooperation zu entwickeln, scheiterten. Im Oktober 1996 erteilte der Verteidigungsausschuss des Bundestages dem Bundesministerium der Verteidigung den Auftrag, die bisherigen Pläne in ein mit Frankreich und Großbritannien abgestimmtes Projekt zu überführen. Dort hatten British Aerospace (BAe) und Matra das Unternehmen Matra/BAe Dynamics gegründet und ihre Strategien in Sachen Marschflugkörper aufeinander abgestimmt. Die Planer auf der Hardthöhe baten die Dasa-Tochter LFK, Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit MBD auszuloten. Doch deren Manager zeigten wenig Neigung zum europäischen Miteinander. Mehrfach, zuletzt am 9. April 1997, teilten sie dem Verteidigungsausschuss mit, dass eine Einigung wegen der unterschiedlichen militärischen Anforderungen und Konzepte ausgeschlossen sei. Ohne die Oberhoheit Werbeseite Werbeseite über das Projekt, so wurde intern argumentiert, dürfe man bestenfalls „Blechbiegearbeiten“ ausführen – ein Geschäft, das nicht lohne. In einem Schreiben vom 14. April 1997 erneuerte MBD das Angebot, die deutsche Industrie maßgeblich an der Entwicklung der Marschflugkörper zu beteiligen und deutsche HochtechnologieKomponenten wie Sensoren und Gefechtsköpfe für alle Flugkörper verwenden zu wollen. Eine Finte, weil technisch Dasa-Projekt „Taurus“: Schmerzlicher Wettbewerb nicht machbar, behauptete die LFK-Führung und zeigte sich weiterhin tigen – eine nicht hinreichend genaue hartleibig. Methode. Bei der LFK und im VerteidiDas Beharren auf der sogenannten Sys- gungsministerium wird dies vehement betemführerschaft bei Taurus hatte einen stritten. Selbstverständlich erfolge auch das handfesten ökonomischen Grund: Ehema- „endgame“ mit einem hoch sensiblen Inlige Verkaufsschlager wie die Panzerab- frarotsuchkopf. wehrwaffen „Hot“ und „Milan“ sowie die Die Entscheidung der Italiener für Storm Luftabwehrrakete „Roland“ laufen nicht Shadow ist bereits der zweite Schlag, den mehr so recht, die LFK-Belegschaft die LFK in Sachen Taurus wegstecken schrumpfte zwischen 1996 und 1999 von muss. Auch die an der Entwicklung betei1650 Beschäftigten auf etwa 1000. ligten Schweden schieden aus. BegrünIm Mai 1997 geschah dann eine Art Wun- dung: kein Geld. der, das die Interessen aller Beteiligten zu Damit ist fraglich, ob der vereinbarte berücksichtigen schien: MBD und LFK Festpreis für die Produktion, 1,2 Millionen verkündeten eine „strategische Partner- Mark pro Flugkörper, noch realistisch ist. schaft“. Die französisch-britische MBD Für den Auftraggeber Bundeswehr heißt kaufte 30 Prozent der deutschen LFK, dies: Wenn das Gerät teurer wird als mit einer Option zum Erwerb weiterer veranschlagt, gerät der Haushalt durchein19 Prozent. ander; sollte das Projekt aber aus KostenIn einer Anhörung des Verteidigungs- gründen scheitern, wären bis zu 475 Milausschusses am 14. Mai 1997 erklärten Ver- lionen Mark Steuergelder in den Wind treter beider Unternehmen, „mit den un- geschossen. terschiedlichen Flugkörperkonzepten nicht Für Matra/BAe Dynamics wäre ein mehr gegeneinander antreten zu wollen, Scheitern von Taurus, trotz der 30-Prozentsondern künftig gemeinsam unter Nutzung Beteiligung an der LFK, kein Problem. sämtlicher möglicher Synergie-Effekte“ Schließlich haben sich die Italiener mit deren „Entwicklung, Produktion und Ver- Storm Shadow für ein Produkt aus dem marktung“ zu betreiben. Hause MBD entschieden. Mehr noch: Auch bei einer späteren VerAuch die LFK-Konzernmutter Daimlermarktung wolle man „gemeinsam auftre- Chrysler kann mit einer Taurus-Pleite gut ten und sich gegenseitig unterstützen“. leben. Die bisher gezahlten rund 150 MilDie Parlamentarier waren zufrieden. lionen Mark Entwicklungsgelder aus Bonn Der Bundestag bewilligte Anfang vergan- sind schon mal in der Firmenkasse, mehr genen Jahres 475 Millionen Mark für die als 300 Millionen sind noch zu zahlen. Das Taurus-Entwicklung. bedeutet, sollte die Dasa mitsamt ihren Nach der Ankündigung der Italiener, Rüstungstöchtern verkauft werden, eine Storm Shadow von MBD zu kaufen, weht hübsche Mitgift für den Käufer. der LFK wieder der raue Wind des WettUnd der könnte, nach Verkündung der bewerbs um die Nase. Schmerzlich für die strategischen Partnerschaft mit den Briten Münchner ist der Antwortbrief des italie- und den Franzosen, MBD heißen. nischen Verteidigungsministers an Rudolf So macht jeder seinen Schnitt, nur die Scharping vom 9. Juni dieses Jahres. Darin bei der LFK mit Taurus befassten Manager begründet Scognamiglio die Entscheidung und Ingenieure und deren Partner bei der für Storm Shadow damit, dass der „mehr Bundeswehr sind traurig, weil sie ihren Sicherheiten bietet und sich in einem fort- Marschflugkörper für das bessere Produkt geschritteneren Entwicklungsstand befin- halten. det“. Ein Beamter der Rüstungsabteilung im Eine Kritik, die Branchengerüchte zu Verteidigungsministerium kommentiert das bestätigen scheint. Angeblich kann Taurus Firmen-Monopoly resigniert: „Die Konderzeit den Endanflug auf das Ziel nur zerne machen, was sie wollen. Und wenn mit einer Kombination von Satelliten- was in die Hose geht, kommen ihre Töchsteuerung und Trägheitsnavigation bewäl- ter zu uns und weinen.“ Gunther Latsch 72 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 DASA Deutschland Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland INNERE SICHERHEIT „Ein lukrativer Markt“ P. SEITZ / ZEITENSPIEGEL Weil die Polizei aus Mangel an Geld und Personal die Sicherheit der Bürger nicht mehr garantieren kann, haben private Sicherheitsfirmen Hochkonjunktur. In der Branche arbeiten bereits 250 000 Menschen – genauso viele wie bei der Polizei. Private Sicherheitsleute im Gefängnis*: Wachmann werden kann jeder 76 DPA S eit Jahren ärgerte sich der Chef eines norddeutschen Ingenieurbüros aus der Baubranche, dass ein Konkurrent ihm in letzter Minute immer mal wieder einen lukrativen Auftrag vor der Nase wegschnappte. Schließlich beauftragte der Mann den Hamburger Privatdetektiv Mohammad Haroun, 57, der Sache nachzugehen. Haroun fand heraus, dass der Schwiegersohn eines Firmenangestellten bei der Konkurrenz arbeitete. Der aus dem Libanon stammende Detektiv stellte eine Falle. Als Abgesandter einer Baufirma aus Bahrein traf er sich auf dem Frankfurter Flughafen mit dem Verdächtigen. Angeblich hatte der Mann aus Bahrein einen Auftrag für dessen Firma beim Bau eines Militärflughafens. Die beiden Herren wurden rasch einig. Ein paar Tage später unterbreitete das Konkurrenzunternehmen dem vermeintlichen Bahrein-Vertreter eine billigere Offerte. Haroun hatte den Beweis, sein Auftraggeber zeigte den ungetreuen Mitarbeiter an. Ein Routinefall für Harouns Wirtschaftsdetektei. Die Branche boomt. Überall dort, wo die Polizei – überlastet und unterbesetzt – Lücken lässt, steigen private Profis ein. Die Zahl der Sicherheitsunternehmen in der Bundesrepublik stieg von 620 im Jahr 1984 auf 2000 anno 1998, der Teilzeitbeschäftigte rund 250 000 Mitarbeiter hat – soviel wie bundesweit die Polizei. Der Staat trägt seinen Teil zu der rasanten Entwicklung bei. „Wenn Kommunen aus Kostengründen Personal sparen“, so der Bonner Sicherheitsexperte Hans-Georg Lützenkirchen, „schaffen sie erst jene Sicherheitsdefizite, die durch private Anbieter wieder ausgeglichen werden.“ So sieht es auch der Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Bernhard Falk: Leere Kassen und überlastete Polizeien hätten einen „lukrativen Markt“ geschaffen. Und eine Menge Probleme. Denn die Privatsheriffs bewegen sich häufig in einer juristischen Grauzone. Anders als die Polizei hindert sie niemand – Datenschutz hin oder her –, an Fakten zu sammeln, was sie kriegen können. Die Rechercheure sind immer häufiger Profis. Mit stattlichen Gehältern und Provisionen locken die Security-Unternehmen Spitzenbeamte von Polizei, Bundeswehr, Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz in ihre Dienste. BKA-Vize Falk befürchtet bereits einen „illegitimen Transfer“ von Know-how und Informationen. Selbst ehemalige Minister haben keine Scheu, sich von Unternehmen einstellen zu lassen, gegen deren Branche sie in ihrer Amtszeit gewettert hatten. So stieg der einstige Hamburger Innensenator Werner Hackmann (SPD) ein Jahr nach seinem Rücktritt 1995 als DeutschlandChef beim internationalen Sicherheitskonzern ASD Securicor ein. Prompt überreichte er seinem Nachfolger Hartmuth Wrocklage eine detaillierte Liste, welche Aufgaben sein ASD der Polizei abnehmen könne. Volker Foertsch, einst hochrangiger Abwehrexperte beim Bundesnachrichtendienst, arbeitet heute für die Frankfurter Gesellschaft für Sicherheitsberatung KDM. Sein Chef dort ist der Kriminaloberrat a. D. und ehemalige Verfassungsschützer KlausDieter Matschke. In der KDM-Firmenbroschüre finden sich reihenweise ehemalige Spitzenkräfte vom Bundeskriminalamt, aus Ministerien, vom Verfassungsschutz und vom Militärischen Abschirmdienst. KDM berät Firmen bei In- Hamburger Innensenator Wrocklage* Keine Berührungsängste Umsatz von 1,4 auf 5,2 Milliarden Mark. Wie viele Menschen in dem Gewerbe Lohn und Brot finden, ist unklar. Der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmer (BDWS) nennt 120 000 Beschäftigte, Tendenz steigend. Der Jurist und Branchenkenner Rolf Stober dagegen schätzt, dass die private Armee inklusive * Oben: in der Justizvollzugsanstalt Mannheim; unten: vor dem amerikanischen Generalkonsulat mit Beamten des Bundesgrenzschutzes, 1998. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite W. WEBER Deutschland Wachleute, Gäste im Biergarten Großhesselohe (1994): „Das Image muss besser werden“ dustriespionage, Produktpiraterie, Mitarbeiterdiebstahl sowie bei Auslandsengagements und Erpressung. Die Abwehr von Industriespionen ist längst ein oftmals überlebenswichtiger Produktionsfaktor. In Deutschland werden nach Auskunft von Matschke „nur 1600 Unternehmen als geheimschutzbedürftig vom Verfassungsschutz unterstützt“. Aber rund 30 000 Firmen seien potenzielle Ziele für Geheimdienste und ausländische Konkurrenten. Wie der Anlagenhersteller für Windenergie Enercon in Aurich. Die EnerconLeute hatten eine neue Technik zur preisgünstigen Stromgewinnung entwickelt. Doch bevor das Produkt serienreif war, gab eine US-Firma das Verfahren als eigene Erfindung aus und ließ den US-Markt für Enercon sperren. Die Manager des Unternehmens mutmaßen, dass ihr Fax-Verkehr überwacht und ausgewertet wurde. Die Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit in der Wirtschaft, der namhafte deutsche Wirtschaftsverbände angehören, schätzt den Schaden, der deutschen Firmen jährlich durch Industriespionage entsteht, auf etwa 20 Milliarden Mark. Der Deutsche Industrie- und Handelstag sponsert bereits einen „Anti-Spionage-Arbeitskreis“. Kein Wunder, dass Wirtschaftsdetekteien ausgebucht sind. Private haben aus Sicht der Unternehmen einige unschätzbare Vorteile gegenüber der Polizei: Sie können schon im Vorfeld einer Straftat ermitteln, sie sind verschwiegen – und ihre Arbeit endet nicht an der nächsten Grenze. Das Londoner Sicherheitsunternehmen Control Risks, das 300 Angestellte beschäftigt, wirbt mit dem Hinweis, seine Mitarbeiter „ermitteln weltweit in Betrugsfällen, stellen verloren gegangene Vermögenswerte sicher, erbringen Beweismaterial bei Rechtsstreitigkeiten und recherchieren zur Abwehr feindlicher Übernahmen“. Manchmal allerdings geht auch was daneben. So brachen 1997 die beiden britischen Privatdetektive Michael Flack und 78 d e r Bill Whybrow, zwei Ex-Polizisten ihrer Majestät, auf Zypern bei einer Pharmafirma ein. Sie wurden erwischt und wanderten für acht Monate ins Gefängnis. Ihr Auftraggeber, gaben die Schnüffler an, sei das deutsche Chemie-Unternehmen Bayer. Für 1500 Mark Tagesgage pro Mann hätten sie für die Leverkusener regelmäßig Konkurrenten in Großbritannien, Spanien, Italien, der Schweiz und Kanada ausspioniert. Bayer bestreitet das. Richtig sei, dass die Detektive für das Unternehmen auf Zypern gewesen seien, räumt Konzern-Sprecher Thomas Reinert ein. Um sich vor Industriespionage zu schützen, setze Bayer selbstverständlich auch professionelle Schnüffler ein. Aber: „Illegale Handlungen werden weder billigend in Kauf genommen noch stillschweigend toleriert.“ Die meisten Privat-Polizisten verdienen ihr Geld ohnehin mit weniger spektakulären Aufträgen: In adretten Uniformen patrouillieren sie auf Bahnhöfen, in Einkaufszentren oder Stadtparks und Wohnvierteln. Dort verbreiten sie in Metropolen wie Hamburg oder Frankfurt, Berlin oder München jenes Gefühl von Sicherheit, das die Polizei mangels Personal immer seltener zu vermitteln vermag. Die vier Marktführer der Branche – die schwedische Securitas, die Niedersächsische Wach- und Schließgesellschaft VSU in Hannover, Kötter Security in Essen sowie ASD Securicor in Hamburg – beschäftigen im Werk- und Objektschutz 35 000 Mitarbeiter. Einer der wichtigsten Auftraggeber ist inzwischen der Staat. Bauämter, Rathäuser, sogar Polizeipräsidien werden von privaten Wachmännern beschützt. Kötter Security bewacht im nordrhein-westfälischen Büren das Abschiebegefängnis, Raab Karcher den Knast in Mannheim. Private patrouillieren in militärischen Anlagen, gehen in Kernkraftwerken auf Streife und kontrollieren die Passagiere am Flughafen. Das Atom- und das Luftverkehrsgesetz regeln, dass derart heikle Jobs nur von be- s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland „Gefährlicher Zustand“ Der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens will die Arbeit von Hilfssheriffs gesetzlich regeln. derung des Paragrafen im SPIEGEL: Das klingt kompliStrafgesetzbuch vor, der den gibt es nach inoffiziellen Berechnungen ziert. Notwehrexzess behandelt. Die so viele Privatsheriffs wie Polizisten. Was Behrens: Ist es aber nicht. Im neue Formulierung könnte die Beamten dürfen, ist streng geregelt, Strafgesetzbuch ist das Notlauten: „Ein professioneller die privaten Konkurrenten unterliegen wehrrecht fixiert. Jeder BürNothelfer kann sich auf diese nur der Gewerbeordnung. ger kann, wenn er in eine für Vorschrift nicht berufen.“ Wer Behrens: Es ist höchste Zeit, dass die ihn oder andere bedrohliche dann über die Stränge schlägt, Tätigkeit der privaten Sicherheitsdienste, Situation gerät, sich wehren muss mit Bestrafung rechnen. die ja auch in die Freiheitsrechte der Bür- und sich dabei auf „Verwirger eingreift, gesetzlich geregelt wird. Sie rung, Furcht oder Schrecken“ SPIEGEL: Warum nicht umgehat ein ungeheures Ausmaß erreicht, und berufen … kehrt ein Spezialgesetz, was doch findet diese Tätigkeit fast im recht- SPIEGEL: … und geht straffrei Minister Behrens die Privaten dürfen und was lichen Niemandsland statt. Wir brauchen aus, wie der Privatpolizist. sie nicht dürfen? eine Gesamtkonzeption. Was dürfen Behrens: Das ist der Punkt. Unsere Poli- Behrens: Die von mir vorgeschlagene EinMitarbeiter von privaten Sicherheits- zisten müssen sich stets an den Grundsatz schränkung der Rechte hat gegenüber eidiensten im öffentlichen Bereich wie U- der Verhältnismäßigkeit halten. Sie dürfen ner Befugnisnorm den Vorteil, dass so Bahn-Stationen, Bahnhöfen oder Laden- nicht übermäßig reagieren, beispielsweise auch nicht der Verdacht quasi staatlichen passagen? Welche Aufgaben und Befug- nicht prügeln. So gesehen gehen die Ein- Handelns aufkommen kann. nisse sollen sie haben? Das ist bislang griffsrechte der Privaten weiter als die der SPIEGEL: Auch beim Ausspähen eines Bürnicht ausreichend gesetzlich geregelt, das Polizei, was sehr problematisch ist. gers oder einer Firma haben Private ermuss geändert werden, und zwar SPIEGEL: Also sollte der Gesetzgeber das hebliche Vorteile gegenüber der Polizei. schnellstmöglich. Notwehrrecht einschränken? Behrens: Datenschutz ist ein ganz wunder SPIEGEL: Und wie? Behrens: Nein, aber Profi-Kräfte, ich sage Punkt. Hier ist, bis auf allgemeine BeBehrens: Zuallererst ist ganz wichtig zu mal: Hilfeleister, müssen rechtlich anders stimmungen, nichts geregelt. Wir wissen definieren, was wir Juristen Zugangs- behandelt werden. Ich schlage eine Än- gar nicht, wie viele und welche Daten die voraussetzung nennen, also die Qualifikation der Bewerber … SPIEGEL: … Hilfssheriff als Lehrberuf? Behrens: Ja. Die Ausbildung ist viel zu kurz, eine Überwachung der Jobs durch die Gewerbeaufsicht, wie es eigentlich vorgesehen ist, findet kaum statt. Wir müssen Mindestanforderungen festschreiben, fachschulische Ausbildungsgänge, effektive Prüfungsverfahren. Gute Sicherheitsdienste schulen schon heute ihre Mitarbeiter ständig weiter, aber es gibt halt nicht nur gute. Für diese Ausbildungsgänge ist die Kultusministerkonferenz zuständig, sie muss sich über Unterrichtsinhalte einigen. SPIEGEL: Und wie kann die Politik die rechtliche Grauzone auflösen, in der die Dienste arbeiten? Behrens: Ich will, unter anderem, eine Änderung der so genannten JedermannsRechte durchsetzen. Privater Wachmann (in der Stuttgarter Marienpassage): „Schwarze Schafe aussortieren“ J. DIETRICH / NETZHAUT SPIEGEL: Herr Minister, in Deutschland 80 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 T. KLINK / ZEITENSPIEGEL U. BAATZ / LAIF Privaten erheben – wir wissen nur, dass wir von denen nichts bekommen. Der Datenaustausch ist nicht geregelt. Der Polizei müssen alle Daten zur Verfügung gestellt werden, das hat auch Schwerpunkt einer Gesetzesänderung zu sein. Die rechtliche Voraussetzung für die Durchführung von Ermittlungen und Observationen muss überprüft werden. SPIEGEL: Wenn die Polizei auf Grund richterlicher Ermächtigung einen Lauschangriff startet, muss der Betroffene später informiert werden. Wenn Private Wanzen einsetzen, erfährt davon niemand. Behrens: Das ist ein gefährlicher Zustand, der dringend geändert werden muss. SPIEGEL: Große deutsche Sicherheitsunternehmen favorisieren ebenfalls feste Normen und Vorschriften. Behrens: Die haben natürlich ein Interesse daran, ihr Gewerbe aus dem Dunkelfeld herauszuholen. Und sie wollen klare Regeln, damit es keinen Zweifel an ihrer Tätigkeit gibt. Gleichzeitig können sie auf diesem Wege schwarze Schafe aussortieren. SPIEGEL: Ist die Polizei nicht selbst mit schuld am Boom der privaten Schützer? Behrens: Sie denken an mangelnde Präsenz? Es ist gar nicht zu leugnen, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Tatsächlich hat es lange an der nötigen Präsenz auf der Straße gefehlt, weil die Polizistenjobs an Schreibtischen oder in Streifenwagen attraktiver und auch besser bezahlt waren. Der Trend hat sich aber längst umgekehrt: Wir haben in Nordrhein-Westfalen 47 900 Polizisten, so viele wie noch nie. Die Bezirksdienste sind flächendeckend organisiert, wir schicken die Beamten bewusst auf die Straße. Überall gibt es Partnerschaften zwischen Polizei und anderen Institutionen. Dieses Prinzip hat sich sehr bewährt. SPIEGEL: Wann kommen die neuen Regelungen? Behrens: Derzeit diskutieren wir Länderinnenminister mit der Bundesregierung, eingeschaltet ist auch der Wirtschaftsminister. Er sieht die Problematik immer noch lediglich unter dem gewerberechtlichen Aspekt und steht mit dem Fuß auf der Bremse. Wenn der Bund nicht bis Ende Oktober zu Potte gekommen ist, wird Nordrhein-Westfalen allein handeln und über den Bundesrat initiativ werden. Interview: Georg Bönisch Schießtraining bei Securitas: Bodyguards für 60 Mark pro Stunde sonders geschultem Personal erledigt werden dürfen. Doch ansonsten ist der Zugang zum Sicherheitsgewerbe für fast jedermann offen: Wachmann werden kann praktisch jeder. Bis Ende 1994 reichte ein polizeiliches Führungszeugnis, seither ist in der Gewerbeordnung zumindest eine Minimalausbildung vorgeschrieben: 24 Stunden Unterricht sollen ausreichende Kenntnisse in Öffentlichem Recht und Privatrecht, Straf- und Strafverfahrensrecht sowie Waffenrecht abdecken und ein bisschen Menschenkenntnis vermitteln. „Das Image muss besser werden“, klagt Ralf Brümmer vom Branchenführer Securitas. Der schwedische Sicherheitskonzern, der allein in Deutschland 15 000 Mitarbeiter hat, gilt weltweit als Nummer eins der Branche, seit er die legendäre US-Detektei Pinkerton übernommen hat. Die Firma, zu der seit 1998 auch Raab Karcher gehört, kontrolliert Personen und Gepäck am Berliner Flughafen Tegel, bewacht bundesweit S- und U-Bahnen, schützt Atomkraftwerke und Kasernen. „Kein Mitarbeiter geht in ein Objekt, ohne zuvor entsprechend ausgebildet worden zu sein“, beteuert Brümmer. Das gelte besonders für den bewaffneten Personenschutz. Ausgebildet und betreut werden die Securitas-Bodyguards von dem früheren Bundesgrenzschützer Dieter Fox, einst Mitglied der legendären Anti-TerrorEinheit GSG 9. Für 60 bis 150 Mark pro Stunde erhalte der Kunde nach Brümmers Angaben einen Leibwächter, der überdurchschnittlich gut schießt und im Notfall Angreifern mit filmreifen Autostunts entkommen kann. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) betrachtet die Entwicklung mit Argwohn. „Es besteht die Gefahr, dass die grundlegende Funktion des Staates, Sicherheit für seine Bürger zu schaffen, mehr und mehr privaten Anbietern übertragen wird“, klagt GdP-Sprecher Konrad Freiberg. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Doch Hamburgs Innensenator Wrocklage hat damit keine Probleme: „Es muss vornehmlich darum gehen, gut ausgebildete Polizeibeamte für polizeiliche Aufgaben einzusetzen und sie von nichtpolizeilichen Aufgaben zu entlasten, wenn Privatunternehmen diese rechtmäßig, qualitativ hochwertig, schneller und wirtschaftlicher wahrnehmen können.“ Der Staat habe zwar das Gewaltmonopol, nicht aber das Monopol auf die Gewährung der Sicherheit. Die Kooperation ist mancherorts schon weit gediehen. An der Verwaltungsfachhochschule in Altenholz bei Kiel etwa, wo Polizisten zu Kommissaren ausgebildet werden, können sich seit Mitte Februar sogar Angestellte privater Wachfirmen zu Führungskräften der Sicherheitsbranche schulen lassen. Das Studium dauert zwei Jahre. Am Ende bekommt der Absolvent ein Fachhochschulzeugnis. In Frankfurt schloss die Polizei kürzlich einen Kooperationsvertrag mit dem BDWS als „beobachtender“ Partner. Das BKA hat offenbar ebenfalls keine Berührungsängste. Als dort vorvergangene Woche die Entführung eines deutschen Kaufmanns in Kolumbien auf der Tagesordnung stand, stellten die BKA-Beamten ein paar Zivilisten mit dem lockeren Hinweis vor: „Das sind die Kollegen von Control Risks.“ Die Bundesregierung hat erkannt, wohin der Trend läuft. Im Koalitionsvertrag ist ausdrücklich festgehalten, das rot-grüne Bündnis wolle die „Aufgaben und Befugnisse des Sicherheitsgewerbes gesetzlich regeln“. Doch im Augenblick haben die Regenten andere Sorgen. Sicherheitsfragen, klagt der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz, seien derzeit „kein Thema“. Jetzt will Nordrhein-Westfalen Druck machen. „Wenn der Bund nicht bis Ende Oktober zu Potte gekommen ist“, so NRW-Innenminister Fritz Behrens, werde sein Land im Bundesrat die Initiative ergreifen. Andreas Ulrich 81 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Gerhard Schröder 1991 1992 1993 1994 POLITIKER Häutungen im Zeitraffer Die Münchner Fotografin Herlinde Koelbl hat seit 1991 jährlich einen ausgesuchten Kreis von aufstrebenden Politikern und Managern in Bild und Ton festgehalten. Ihre Arbeit dokumentiert die Deformierungen der Mächtigen durch die Macht. P olitiker sind auch nur Menschen. Aber was für welche? Emotional verkrüppelt, kalt, berechnend und verlogen, karrieregeil, machtsüchtig, eitel und hinterhältig – weiß doch jeder. Aber dass sie selbst es auch wissen, ungeschützt darüber reden und ihre Bekenntnisse mit Bild- und Tondokumenten auch noch zur Veröffentlichung freigeben – das ist neu und ungewöhnlich. Der Münchner Fotografin und Buchautorin Herlinde Koelbl, 59, ist dieses Kunststück gelungen. 15 aufstrebende Machtmenschen aus Politik und Wirtschaft, die sie in der Zeit von 1991 bis 1999 einmal jährlich fotografierte und ausfragte, ließen bei ihr die gewohnte Vorsicht fahren. Sie hatten den Mut oder die Tollkühnheit, ehrlich zu sein, obwohl sie wussten, dass ihnen das schaden kann. Nicht nur über den politischen Überlebenskampf redeten sie. Auch über Ehekrisen, Eifersucht und Partnerfrust, über KonJoschka Fischer 86 kurrenten und Verbündete, über Niederlagen und Triumphe, über Visionen und Ängste, über Vater und Mutter, Kirche und Gott – als säßen sie im Beichtstuhl. Mit der Kamera wollte Koelbl dokumentieren, wie sehr sich die Mächtigen im Lauf der Jahre verändern, wenn sie ein wichtiges Amt haben – oder es verlieren. Aber auf den optischen Beleg ihrer These allein verließ sie sich – zum Glück – nicht. Neben ihrer Hasselblad (Baujahr 1978) brachte sie jedes Mal auch ein Tonbandgerät, eine Videokamera und viele Fragen mit. Das Ergebnis der Langzeit-Observation legt sie jetzt vor. Es bestätigt die Befürch* Herlinde Koelbl: „Spuren der Macht“. Knesebeck Verlag, München; 390 Seiten; 98 Mark. ARD: „Spuren der Macht – Die Verwandlung des Menschen durch das Amt“, 29. September, 23.00 Uhr; West III: „Spuren der Macht – Joschka Fischer“, 4. Oktober, 22.35 Uhr; „Spuren der Macht“ – Ausstellung im Kronprinzenpalais Unter den Linden, Berlin, 12. Oktober bis 16. November. 1991 1992 d e r s p i e g e l tungen – allerdings weniger durch die Bilder als durch die Interview-Texte, die Koelbl aus den Ton- und Videobändern destillierte*. Gewiss ist es eindrucksvoll, im Zeitraffer zurückzuverfolgen, wie sich Mimik und Gestik eines Prominenten im Lauf der Jahre geändert haben. Ohne die begleitenden Gespräche und Geständnisse aber wären die Bilder-Reihen banal: Jeder Mensch, der älter wird, ändert sich – mit und ohne Amt. Erst die Kombination von Wort und Fotografie gibt dem Projekt Tiefenschärfe und macht aus dem Bildband einen spannenden und aufregenden Report über den Zustand der politischen Klasse. Menschlichkeit scheint in dem Gewerbe Mangelware zu sein. Freundschaft, Solidarität, Zuneigung zählen nicht. „Was die Politiker als Freundschaft ausgeben, ist meistens Kumpanei auf Zeit“, gab Gerhard Schröder noch als Ministerpräsident An1993 3 7 / 1 9 9 9 1994 1995 fang 1994 zu Protokoll. Er sprach aus Erfahrung. Fairness? „Können Sie völlig abhaken“, bekannte die heutige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel. Offenheit? „Ich verstelle mich mehr.“ Wenn es hart auf hart geht, lernte Monika Hohlmeier, mittlerweile CSU-Kultusministerin in Bayern, ist „in der Politik selbst unter persönlichen Freunden die eigene Sicherheit höherwertig“. Gemeint war der Ministerpräsident Edmund Stoiber, der – obwohl ein treuer Vasall ihres Vaters Franz Josef Strauß und sogar Patenonkel eines ihrer Kinder – zu ihr und der Familie auf Distanz gegangen war, als 1993 die Amigo-Affären ruchbar wurden. Dass Macht eine Droge ist und eigentlich unter das Betäubungsmittelgesetz fallen müsste, weil sie schnell von denen Besitz ergreift, die glauben, sie gefahrlos „ausüben“ zu können, haben alle erfahren, auch wenn sie es anders nennen. „Ein Rausch ist es nicht“, sagt die Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis, „aber ein Lustgefühl.“ Monika Hohlmeier spricht von der prickelnden „Erotik“, Entscheidungen fällen und Dinge verändern zu können. Schröder findet nur „Spaß“ am Regieren – unter „Erotik“ verstehe er etwas anderes, fügt er süffisant hinzu. Aber fast immer, wenn sie über ihre Gefährdungen reden, geraten Vokabeln aus dem Drogenbereich in ihre Sprache. „Ich bin süchtig nach Selbstbestätigung“, bekennt Renate Schmidt, SPD-Oppositions- 1996 1997 führerin aus Bayern. Angela Merkel berichtete bereits im ersten Ministeramtsjahr, sie habe im Urlaub schon nach zwei Tagen „Entzugserscheinungen“. Alle Geständnisse passen so gut ins Klischee vom „schmutzigen Geschäft“, dass man fast schon wieder misstrauisch werden muss. Politiker können auch mit Worten posieren, wenn es um ihr Fortkommen geht, und darum geht es fast immer. Die Attitüde der Selbstzerknirschung putzt in Zeiten wachsender Polit-Verdrossenheit ganz ungemein. Vielleicht aber fanden sie es nicht nur schmeichelhaft, sondern tatsächlich wohltuend, von einer bekannten und angesehenen Porträt-Fotografin so einfühlsam behandelt zu werden. Sie konnten sicher sein, dass ihnen ihre Konfessionen nicht im aktuellen Tagesgeschäft um die Ohren fliegen würden. Denn für die Dauer des Projekts war Stillschweigen vereinbart. Und für die Zeit danach galt nur das autorisierte Interview-Wort. Merkel war zunächst misstrauisch. „Was soll der Quatsch?“, fragte sie. „Das Buch erscheint ja erst in acht Jahren, man muss heute in der Presse auftauchen“ – da hatte sie ihre ersten Lektionen bereits gelernt. Später aber merkte sie, dass ihr die jährliche Befragung wichtig geworden war. „Ich musste also feststellen, dass ich offensichtlich doch eitel genug bin, Ihr Projekt interessant zu finden“, gestand sie der Autorin zum Schluss. 1995 1996 d e r s p i e g e l Anfangs wollte sich die Frau aus der Uckermark „nicht vorstellen, dass mein restliches Leben so ablaufen wird, wie es jetzt abläuft“. Im siebten Amtsjahr aber stellte sie fest, was alle irgendwann einmal bemerken: „Ich bin nicht mehr so, wie ich war.“ Privaten Gesprächen könne sie nicht mehr lauschen, ohne das Gefühl zu bekommen, sie müsse leitend eingreifen – ein typisches Machtsyndrom, über das fast alle klagen. Auf den Bildern ist die Verwandlung vom kleinen Ossi-Mädchen zur Chefin der CDU-Zentrale gut zu verfolgen: Anfangs guckt sie scheu von unten nach oben in die Kamera. Zum Schluss reckt sie das Kinn selbstbewusst nach oben. Die Verbindung von Fotografie und Interview, die die Künstlerin auch bei früheren Arbeiten („Jüdische Portraits“ oder „Wie Schriftsteller zu Werke gehen“) erfolgreich praktizierte, verschafft dem Betrachter eine Kontrollmöglichkeit, die er beim bloßen Lesen der Texte nicht hat: Er kann überprüfen, ob die verbale Attitüde echt ist oder ob die Körpersprache etwas ganz anderes ausdrückt. Denn manchmal dementiert der Körper die Worte. „Ich bin jetzt weniger verletzlich als früher“, verkündet Joschka Fischer, nachdem sich seine Frau Claudia im August 1996 von ihm getrennt hat. Aber sein Gesicht will gar nicht dazu passen. Wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, reckt er den wieder dünnen Hals 1997 3 7 / 1 9 9 9 1998 1998 87 Deutschland Angela Merkel 1991 und blickt aus tiefen Augenhöhlen traurig in die Kamera. Auch bei Schröder passen Pose und Wort nicht immer zusammen. Wenn er im Januar 1994 – rückblickend auf das für ihn verheerende Vorjahr – erklärt, er habe das „Fernziel Bundeskanzleramt“ aufgegeben, lohnt es sich, das dazugehörige Bild genauer zu betrachten. Da guckt einer ziemlich arrogant und finster entschlossen in die Kamera. Von wegen Verzicht, sagt der Blick. Euch werde ich es noch zeigen. In Schröders Gesicht hat der Kampf um die Macht kaum Spuren hinterlassen. Jedenfalls fallen sie auf den ersten Blick kaum auf. Herlinde Koelbl entdeckte und fotografierte dennoch eine bemerkenswerte Änderung. Als die Fotografin den Ministerpräsidenten von Niedersachsen im Oktober 1991 das erste Mal traf, leuchteten seine Augen. „Was ich von mir selbst erwarten konnte, habe ich erreicht“, sagte er stolz. „Das Land Niedersachsen muss mich jetzt malen lassen, in Öl. Daran war ja gar nicht zu denken, als ich anfing.“ Anfang 1999 aber, als feststand, dass Deutschland ihn jetzt malen lassen muss, war das Leuchten verschwunden. „Er ist härter geworden, der Blick kälter“, registriert die Künstlerin. Fischers plötzliche Verdünnung und die damit einhergehende allmähliche Verfertigung des Staatsmanns beim (und durch das) Reden ist das Glanzstück im Monika Hohlmeier 88 1992 1993 „Macht“-Werk der Porträt-Künstlerin, optisch wie verbal. Kein anderer Mitspieler hat derart spektakuläre Häutungen durchgemacht und sie hinterher so wortgewaltig als Haupt- und Staatsaktion inszeniert wie er. Feist und stiernackig, dem jungen Franz Josef Strauß verblüffend ähnlich, und von gleicher Beredsamkeit wie dieser, so baute er sich in den ersten Jahren vor der Fotografin auf. Anfangs versucht er noch, die Hände schützend vor die Wölbungen des Bauches zu legen. Aber als sie ihn im November 1995 darauf anspricht, breitet er die Arme aus, legt sie hinter die Stuhllehne und posiert, breit und bräsig – ein Machtmensch mit Bauch. „Politiker, das sind die Menschen mit den schmalen Lippen“, höhnte er. „Weil man so viel wegstecken muss. Runterschlucken muss.“ Ein Jahr später sieht er selbst wie einer aus. Und es wird Jahre dauern, bis der Blick wieder fest und die Lippen wieder voll geworden sind – im November 1998 ist es so weit und die Verwandlung zum Staatsmann vollendet. Da ist er Außenminister und wieder fest liiert. Nicht die Macht ließ ihn dünn werden, sondern die Ohnmacht, nichts ändern zu können. Als seine Frau Claudia mit einem anderen auf und davon ging, weil sie Kinder haben wollte, inszenierte Fischer die Katastrophe als Katharsis: Die Journalisten sollten sich mit seiner Abmagerung beschäftigen und ihn mit der Ehesache in 1991 1992 d e r s p i e g e l Ruhe lassen – eine Zeit lang funktionierte das Ablenkungsmanöver ganz gut. Die Welt wenigstens zu erklären, wenn man sie schon nicht verändern kann – das war immer Fischers Leidenschaft. Der plötzliche Tod des Vaters, dessen „nach Fett riechende Arbeitstasche“ der Metzgers-Sohn aus dem Schlachthof holte, wird im Gespräch mit Herlinde Koelbl zum Erweckungserlebnis: „Da sagte ich mir: Nein, so nicht, so wirst du nicht enden. Damit hatte ich mich endgültig entschlossen, die mir vorgegebene Existenz hinter mir zu lassen.“ Das unabwendbare Scheitern seiner Ehe deutet Fischer retrospektiv zur DamaskusWende um – wortgewaltig und bilderreich, wie die Bibel, in der er gern liest. „Es war am Swimmingpool unseres Ferienhauses. In dem Moment, wo mir klar war, es ist vorbei, jetzt bist du allein, da fiel mir der Himmel auf den Kopf, und gleichzeitig gab es ein riesiges Erdbeben. Ich wusste, entweder nutzt du jetzt die Chance, dein Leben völlig neu zu sortieren, oder du kommst unter die Räder und säufst dich tot.“ Warum wird so einer Politiker? Und was treibt einen Mann wie Schröder auf die Rampe? Dem Ministerpräsidenten Schröder, der vorher Anwalt war, ist ein Satz entschlüpft, der vermutlich für alle in der Zunft gilt: „Wenn ich nicht Politiker wäre, würde ich etwas machen, das auch mit Darstellung zu 1993 3 7 / 1 9 9 9 1994 1994 1995 tun hat.“ Politik als großes Welttheater und er – zugleich Regisseur und Hauptperson – immer mittenmang. Das war und ist Schröders Traum. Nie vergisst er, den Leuten zu erklären, dass er einer ist, der immer unter Wert gehandelt wurde und sich deshalb durchbeißen musste. „Ich musste mich von Anfang an selbst darum kümmern, dass ich nicht zu kurz kam.“ Bei Fischer und Heide Simonis sind es die übermächtigen Mütter, denen sie durch die Flucht in die Öffentlichkeit zu entkommen suchten. „Vieles von dem, was ich gemacht habe, habe ich sozusagen gegen sie getan“, berichtet Fischer. Sie sei, bekennt Simonis, ihr Leben lang von der Mutter erdrückt und ungerecht behandelt worden und eigentlich nur deshalb in die Politik gegangen, um „meiner Mutter zu zeigen, dass ich nicht in der Gosse lande“, wie die es immer prophezeit hatte. Dürfen Politiker so ehrlich sein? Oder ist Offenheit nur eine besonders raffinierte Form der Tarnung? Heide Simonis war lange genug in Bonn, um zu wissen, wie die Kumpanei zwischen Medienleuten und Politikern funktioniert. Je enger man aufeinander hockte und je mehr man, auch privat, voneinander wusste, desto weniger stand darüber in den Zeitungen. „Dieses Getue, dass wir rückhaltlos offene Menschen seien, ist ein Teil des Schutzschildes“, sagt sie deshalb. „Wer 1996 1997 wirklich offen wäre, würde sofort in ein offenes Messer rennen.“ Mag sein, dass es so ist – aber Heide Simonis rennt, und zwar in jedes offene Messer. Geradezu selbstmörderisch rücksichtslos tischt sie ihre Selbstbezichtigungen auf: „Dass ich Niederlagen nur mit Mühe verkrafte. Dass ich eine schlimme Nervensäge sein kann. Vielleicht auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit und mit Sicherheit ein grauenvolles Mundwerk“ – alles Eigenschaften, die sie ihrer Mutter verdanke. Gegen sie wird ein ganzes Politikerleben ins Feld geführt, sie ist der Aggressor, mit dem die Tochter sich immer noch identifiziert. „Ich sehe in den Spiegel und sehe meine Mutter.“ Das ist keine Attitüde, sondern die blanke Not. „Ich will Recht behalten, nicht nur Recht bekommen. Recht haben“ – redet so ein Mensch, der vor den Leuten schöntun will? Mehrfach haben ihre Mitarbeiter sie beschworen, sie möge die allzu freimütigen Passagen wieder aus den Interviews streichen. Nächstes Jahr sei Wahlkampf, und man wisse nie, ob die Union die offenherzigen Bekenntnisse der Landesmutter nicht gegen sie verwenden wird. Aber sie blieb dabei: Es sei nun mal gesagt, und sie habe es autorisiert. Schröder bekam Bedenken, je weiter das Koelbl-Projekt gedieh. Anfangs war er hellauf begeistert und erzählte überall stolz, dass er für ihre Langzeit-Beobachtung aus1996 gewählt worden war, obwohl damals doch Björn Engholm der Hoffnungsträger war. Und in den ersten Jahren breitete er auch sein Privatleben bereitwillig aus. Mal prahlte er mit Ehefrau Hillu („Ich bin mit der schönsten Frau verheiratet, die ein Politiker in diesem Land jemals hatte“), mal verklärte er seine Ehekräche als andauernden Lernprozess („Was mich hoffen lässt, ist gerade die Tatsache, dass gestritten wird“). Als es dann aus und vorbei war, fand er, dass seine Ehe „niemanden etwas angeht“. Wenn ein Lebensentwurf scheitere, fügte er hinzu, sei das „nicht, wie wenn man eine Tasse Kaffee ausschüttet“, sondern durchaus „ein schmerzhafter Prozess“. Seitdem blockte er alle Fragen nach seinem Privatleben rigoros ab. Kein Wort mehr über Hillu. Kein Wort über den schnellen Wechsel zu Doris. „Verluste“ habe es „sicher“ gegeben, beim Aufstieg nach oben. Aber: „Das ist ein Bereich, der gehört nicht in die Öffentlichkeit.“ Und je näher die 98er Wahl und das Kanzleramt rückten, desto mürrischer und verschlossener wurde Schröder. Ein Zeitungsartikel, so lamentierte er, habe keine langfristige Wirkung: Die Leute würden ihn lesen und vergessen. Ein Buch aber, das man in den Schrank stellen und jederzeit wieder hervorholen könne, das sei doch viel zu riskant. Der Mann könnte Recht behalten. Hartmut Palmer 1997 1998 H. KOELBL 1995 1998 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 89 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends Verdacht in Frankfurt D ie Affäre um die Geldverschiebung russischer Milliarden weitet sich nun nach Deutschland aus. Die Deutsche Bank und die Dresdner Bank haben beim hessischen Generalstaatsanwalt in Frankfurt Verdachtsanzeigen erstattet, in denen sie dubiose Finanztransfers von Firmen und Personen auflisten, die bereits in den USA ins Visier der Geldwäsche-Ermittler geraten sind und die offenbar auch über die beiden deutschen Großbanken Gelder bewegten. Auch in anderen Banken, die Geschäftsbeziehungen mit Russland unterhalten, forschen Expertenteams systematisch nach auffälligen Kontenbewegungen. Die Geldhäuser sind verpflichtet, dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen mitzuteilen, was sie unternehmen, um den Finanzplatz Deutschland sauber zu halten – Experten rechnen mit weiteren Geldwäsche-Fällen. Nach Einschätzungen des Aufsichtsamts ist Deutschland eine Dreh- scheibe für russische Milliarden, die zwischen Osteuropa und angloamerikanischen Instituten hin- und herfließen. Im Mittelpunkt steht die Firma Benex Worldwide, die von dem mutmaßlichen Moskauer Unterweltboss Semjon Mogiljewitsch gegründet wurde (SPIEGEL 35/1999). Jetzt übernimmt die gemeinsame Finanzermittlungsgruppe von Bundeskriminalamt und Zollfahndung (GFG) die Recherchen – am vergangenen Freitag erhielten die Fahnder in Frankfurt ein Dossier mit den verdächtigen Kontenbewegungen. Die GFG will zunächst bundesweit bei Staatsanwaltschaften und Landeskriminalämtern weitere Erkenntnisse zur Russen-Connection sammeln. P. LANGROCK / ZENIT G E L D WÄ S C H E Bankenmetropole Frankfurt BERTELSMANN Kampf in der Luft „Keine Waffengleichheit“ D GAMMA / STUDIO X ie britische Billig-Fluglinie Virgin Express will von November an die Flugpreise auch auf dem deutschen Markt mit Dumping-Angeboten attackieren. Die Airline des Multi-Unternehmers Richard Branson bietet dann Tickets an, die bis zu 70 Prozent unter den Marktpreisen liegen. Die Discount-Flieger starten zunächst zweimal täglich von Berlin-Schönefeld nach London-Stansted und einmal täglich Branson nach Brüssel sowie Rom. Das One-Way-Ticket für die Boeing-737-Maschinen nach London ist zu Kampfpreisen ab 99 Mark zu haben. Flugscheine nach Brüssel kosten 49 Mark, nach Rom 149 Mark. Alkoholfreie Getränke werden spendiert, Menüs jedoch gibt es nicht. Branson rechnet fest damit, „den Erfolg über die DumpingPreise einstreichen zu können“. Bertelsmann-TV-Vorstand Michael Dornemann, 53, über die Fusion von Viacom und CBS SPIEGEL: In den USA entsteht ein neuer TV-Gigant. Gerät Bertelsmann durch den Mega-Deal nicht unter Zugzwang? Dornemann: Die Größe ist nicht das Entscheidende, sondern die Stellung in den Einzelmärkten, und da ändert sich für uns praktisch nichts. SPIEGEL: Aber Sie haben auf dem USMarkt kaum Chancen. Ihr Konzern hat weder TV-Sender noch ein Studio. Dornemann: Sicher wäre es nicht unangenehm, direkt an Filme zu kommen und mit einem Network Verbindung zu haben, aber es gibt keine strategische Notwendigkeit dafür. Wir sind in erster Linie ein europäisches Fernsehunternehmen. Langfristig kann Dornemann d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 es im Rahmen von Allianzen natürlich zu Verbindungen mit einem US-Network kommen. Aber im Moment gibt es keine derartigen Gespräche. SPIEGEL: Viacom/CBS will auch in Europa expandieren. Wie reagieren Sie? Dornemann: Ich habe schon immer gesagt, dass die Amerikaner irgendwann massiv bei uns eindringen werden. Es gibt keine Waffengleichheit, weil sie den direkten Zugriff auf internationale Produktionen haben. Deshalb sollten sich auch die europäischen Konzerne gegen die Amerikaner aufstellen. Es ist nicht sehr schön, wenn ein Land den Entertainment-Bereich der ganzen Welt beherrscht. Wir sind gut positioniert, müssen aber noch kräftig weiterwachsen. SPIEGEL: Der neue Konzern stört Sie auch mit seinen Online-Aktivitäten. Dornemann: Im Internet sind wir dank unserer Zusammenarbeit, vor allem mit AOL, dem neuen Unternehmen meilenweit voraus. W. v. BRAUCHITSCH FLUGVERKEHR 93 Trends ALLIANZ er Wettbewerb zwischen Deutschlands größtem Versicherer Allianz und den Banken wird härter. In insgesamt 30 deutschen Städten will die Allianz nun Geschäfte eröffnen, in denen Investmentfonds verkauft werden sollen. „Wir haben da einigen Ehrgeiz“, sagt Finanzvorstand Diethart Breipohl, der zugesteht, dass bisher die Fondsgesellschaften der Banken die größeren Vertriebserfolge hatten. Bereits Ende September wird, so Breipohl, in Stuttgart das erste „Allianz Investmentforum“ in der Innenstadt eröffnet. Nach dem Vorbild des amerikanischen Discountbrokers Charles Schwab sollen nicht nur eigene Fonds, sondern auch Produkte anderer in- und ausländischer Fondsgesellschaften angeboten werden. B E R AT E R McKinsey-Manager wechseln Fronten I J. H. DARCHINGER n Frankfurt sorgt der Wechsel der drei McKinsey-Partner Klaus Droste, Michael Sautter und Stephan Leithner in das Investmentbankgeschäft der Deutschen Bank für Aufregung. Sautter, einer der drei hochrangigen Mitarbeiter der Unternehmensberatung, hat gerade den Wettbewerber Dresdner Bank beraten. Im Auftrag des Vorstands hatten er und sein Team in den vergangenen Monaten ausführlich alle Stärken und Schwächen der Dresdner Bank untersucht. Die Studie war der Anlass für Vorstandssprecher Bernhard Walter, Verhandlungen mit der Deutschen Bank über das Massenkundengeschäft aufzunehmen. Nun könnten bei den Verhandlungen sensible Daten bei der Henzler Deutschen Bank landen, so die Angst bei der Dresdner Bank. „Wir gehen davon aus, dass Sautter sich professionell verhält“, heißt es bei der Dresdner Bank. Es ist den McKinsey-Beratern in einem Verhaltenskodex untersagt, Kundendaten auszuplaudern. Auch für Herbert Henzler, Europa-Chef von McKinsey, ist der Abgang der Mitarbeiter ein schwerer Schlag. Droste sollte bei der Unternehmensberatung den Bereich Firmenzusammenschlüsse ausbauen. 94 Die Flop-Liste der Hypobank W eiter für Wir- des fehlt eine Baugenehmigung.Auch das bel sorgt das Berliner Renommierprojekt „OberbaumCity“ unweit vom S-Bahnhof WarschauMilliardendebakel der ehemaligen Hy- er Straße erwies sich als Millionengrab. pobank. Bisher wei- Eine Banktochter kaufte dort 1992 von gerten sich die Vor- der Treuhandanstalt das heruntergekomstände, die Liste der mene Industriegelände des Ex-DDRLampenkombinats „Narva“. Das denkPleite-Immobilien zu veröffentlichen. malgeschützte Gelände musste gleich Ein kürzlich vorge- nach dem Erwerb entseucht werden. Statt Martini legtes 120-seitiges der erhofften 240000 Quadratmeter beGutachten, erstellt von zwei Professoren kamen die Hypo-Banker nur 180 000 im Auftrag der Prüfungsfirma Wedit, Quadratmeter genehmigt. Von den seitenthüllt nun erstmals alle wichtigen her errichteten Gebäuden ist bislang nur Immobilienprojekte und erlaubt so eine die Hälfte vermietet, für 20 Mark statt kritische Bestandsaufnahme. Unter den der ursprünglich kalkulierten 30 Mark. eingekauften Grundstücken findet sich Wie freizügig die Hypobank mit dem das Gelände des Battelle-Instituts in Frankfurt, dort steht ein stillgelegter Forschungsreaktor. Von den rund 55 000 Quadratmetern, die Hypo-Manager vor zehn Jahren zum Preis von je 2000 Mark kauften, können nach heutigem Stand nicht mal ein Drittel bebaut werden. Ein Mieter für die Mammutfläche ist nicht in Sicht. Verspekuliert haben sich die Banker offenbar auch mit einem Pro- Hypo-Immobilie in Berlin: Keine Besserung in Sicht jekt im nahen Eschborn. Dort wollten die Hypo-Manager Geld ihrer Aktionäre und Kunden umeinen Büroturm mit 44000 Quadratme- ging, zeigt auch ein Beispiel aus dem tern errichten. Doch die Gemeinde Münchner Vorort Poing. Für 950 Mark bewilligte nur halb so viel. Als mitt- pro Quadratmeter kauften die Hypo-Maleres Desaster entpuppten sich zudem nager dort vor zehn Jahren massenweise Großprojekte in Berlin. Um am Immo- Bauerwartungsland auf. bilienboom in der neuen Hauptstadt mit- Um den Einstandspreis für die geplanten zuverdienen, kauften die Hypo-Mana- Wohnungen inklusive Zinsen, Baukosten ger Anfang der Neunziger gigantische und Erschließung wieder einzuspielen, Flächen auf, zum Beispiel rund 140000 müssten die Banker fast 9000 Mark pro Quadratmeter in einem drittklassigen Quadratmeter verlangen. Solche SumGewerbegebiet. Das einzige existierende men werden in München allenfalls im Bürogebäude auf dem Areal im Stadt- feinen Bogenhausen bezahlt. Die Immoteil Lichtenberg steht seit drei Jahren bilienflops interessieren auch die leer. Auch zwei andere Standorte in Münchner Staatsanwaltschaft. Seit DeBerlin bieten ein trostloses Bild. zember ermittelt die Behörde gegen ExGegenüber vom geplanten Großflug- Hypo-Chef Eberhard Martini, zwei seihafen Schönefeld sicherten sich die Bay- ner Ex-Kollegen und drei Wedit-Prüfer ern 1991 für 100 Mark pro Quadratmeter wegen des Verdachts der Untreue und unbebautes Ackerland, auf das locker Bilanzfälschung. Die Ermittler vermu150 Fußballplätze passen würden. Ob ten, dass Martini und seine Berater die und wann der Mega-Airport gebaut wird, Anfang der Neunziger erworbenen ist nach der geplatzten Privatisierung wie- Großprojekte in der 1997er-Bilanz des der offen. Für gut die Hälfte des Gelän- Instituts viel zu hoch bewertet haben. PENNY / IMAGES.DE D A F FÄ R E N N. NORDMANN Shops für Aktienfonds d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Geld Aktien großer Telefonanbieter in Euro 45 65 150 160 40 55 130 35 120 45 110 30 90 35 70 25 80 25 20 1998 Sept. 1999 Quelle: Datastream Jan. Sept. 40 1998 Sept. 1999 Jan. Sept. TELEFON-AKTIEN Herbe Kursrückschläge I n der Telekommunikationsbranche trennt sich, gut eineinhalb Jahre nach der Freigabe des Marktes, nun auch bei den Aktien die Spreu vom Weizen. Während Allround-Anbieter (Mobilfunk, Festnetz, Internet) wie Mannesmann oder die Deutsche Telekom in den vergangenen Monaten stetige Kursgewinne realisieren konnten, haben viele kleine Konkurrenten herbe Rückschläge hinnehmen müssen. So stürzte beispielsweise der 50 1998 Sept. 1999 Jan. Sept. 15 1998 1999 Sept. Jan. Kurs von Mobilcom nach einem Höchststand von 155 auf knapp 65 Euro. Auch der einstige Börsenüberflieger Teldafax, der noch Anfang des Jahres mit einem Kurs von über 60 Euro glänzte, muss sich inzwischen mit deutlich niedrigeren Notierungen zufrieden geben. In der vergangenen Woche rutschte Teldafax unter 18 Euro. Ein Grund für die rasante Talfahrt ist der drastische Verfall der Preise im sogenannten Call-by-callGeschäft, auf das sich diese Unternehmen spezialisiert haben. Hohe Mietleitungs- und Abrechnungspreise schmälern, vor allem bei Firmen mit geringer eigener Infrastruktur, die Renditen. Außerdem ist die Übernahmephantasie, die einige Kurse noch Anfang des Jahres beflügelt hatte, nun verflogen. J A PA N - F O N D S 13,20 Zahl der Online-Konten Kleine Firmen, große Profite geschätzt in Deutschland 6,66 A ktienfonds, die in japanische Nebenwerte investieren, glänzen mit riesigen Zuwachsraten. Etliche Fonds haben ihren Wert seit Jahresanfang sogar mehr als verdreifacht. Die Fondsmanager stecken das Geld zumeist in junge Firmen, die im Ausland kaum jemand kennt: den Einzelhändler Ryohin Keikaku etwa, den Nahrungsmittelproduzenten Ito En oder den Telefonbetreiber Hikari Tsushin. Solche Firmen stiegen mitten in der Rezession wie „Phönix aus der Asche“, weiß Barthold Sauveur vom Fondsanbieter Fleming. Denn eine neue Managergeneration bestimme dort nun das Tempo, nicht mehr reformunwillige Patriarchen. Das beliebte Senioritätsprinzip etwa, also die automatische Beförderung nach dem Alter, sei abgeschafft, Sonderzahlungen, Spesenkonten und Pensionsabfindungen würden oft vollständig gestrichen. Von den Firmenbossen werde jetzt streng auf Kosten und Gewinne geachtet. Das „neue Japan“, folgert Sauveur, sei wieder eine Anlagealternative. Japanische Small-Caps-Fonds seit Anfang 1999 auf DM-Basis, Stand 10.9.1999, Veränderung in Prozent Invesco GT Japan SMCOS.A +246 Gartmore Japan Smaller Comp. +220 Morgan Grenfell Japan Bullet +224 Mercury Mst. Japan Opp. A. +210 Fleming Flag Jap. SM.COMP. +222 Credit Suisse CS EQ. (LUX) S.C. Jap. +194 Quelle: Datastream d e r Sept. 3,48 1,39 Millionen 1,80 Quelle: Gesellschaft für Bankpublizität 1995 1996 1997 1998 1999 BANKGEBÜHREN Bonus im Internet D as Internet lässt die Preise für Bankgebühren purzeln. Die Citibank etwa zahlt ihren Kunden nun für jede InternetTransaktion einen Bonus von 30 Pfennig. Statt wie früher Gebühren für das Girokonto zu kassieren, können die Kunden so Guthaben bis zu 36 Mark jährlich ansammeln. Im Wettbewerb verzichtet die Citibank zudem komplett auf Depotgebühren und hat bei Wertpapierkäufen über das Internet die Mindestgebühren halbiert. Viele Direktbanken senkten ebenfalls die Preise für Internet-Kunden. Bei der Comdirect können Wertpapiere um zehn Prozent günstiger über Computer als über Telefon geordert werden. Die französische Direktbank Fimatex berechnet bei Aktienkäufen 0,19 Prozent des Kurswerts, während viele Filialbanken immer noch ein Prozent des Transaktionspreises kassieren. Die Billig-Strategie könnte aufgehen. In Großbritannien überzeugte die Internet-Bank egg.com in nur zehn Monaten rund 600 000 Briten: Sie bietet Zinssätze auf Guthaben bis über fünf Prozent. s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 95 Titel Die Gerechtigkeitsfalle Die Sozialausgaben steigen stetig, das System staatlicher Fürsorge ist außer Kontrolle geraten. Dennoch wird die Forderung nach „mehr sozialer Gerechtigkeit“ immer lauter, linke Sozialdemokraten fordern Steuererhöhungen. Der Kanzler dagegen will die Ansprüche an den Staat zurückschrauben. Das alte Thema sorgt für neue Debatten – nicht nur in der SPD. F malverdiener schon heute über 30 Prozent seines Lohns allein an die Sozialkassen abführen, mit Steuern summiert sich die Abgabenlast für einen mittleren Angestellten leicht auf fast 60 Prozent. Bei einem Jahreseinkommen von 120 000 Mark heißt das: 19 500 Mark für die Rente, rund 14 000 für die Krankenversicherung, 8000 Mark für die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit. Noch immer gilt die schlichte Erkenntnis von Ludwig Erhard, dass ein Staat seinen Bürgern nur das geben kann, was er ihnen zuvor abgenommen hat. Und wenn etwas das Wesen des Fürsorgestaats beschreibt, dann sein Bemühen, eben diesen Zusammenhang kunstvoll zu verschleiern. Welche Vergünstigungen er wem einräumt und wen er wie belastet, wo genau die Verteilungsbürokratie neue Geldquellen erschließt und nach welchen Kriterien sie eigentlich ihre Alimente vergibt, das ist kaum noch jemandem einsichtig. Für viele gleicht das Sozialsystem einem Labyrinth, undurchschaubar in seinen Verästelungen. Wem ist schon bewusst, dass er die Rentenkassen nicht nur über seine Beiträge (und den sogenannten Arbeitgeberanteil) auffüllt, sondern dazu noch über beträchtliche Steuerabgaben? Jedes Jahr überweist der Finanzminister einen „Bundeszuschuss“ an die Rentenversicherungsträger – 1998 waren es 96 Milliarden Mark, in diesem Jahr werden es Sparpolitiker Eichel, Schröder: Endlich Klarheit? 120 Milliarden sein. Wer weiß denn so genau, was sich hinVergeblich weisen Ökonomen seit Jahren darauf hin, dass die Sozialbeiträge al- ter solch merkwürdigen Begriffen wie les andere als ein Geschenk sind, der Lohn „Bundeseisenbahnvermögen“ oder „Erbzuvor eben um diese Zuschüsse gekürzt lastentilgungsfonds“ verbirgt, die im Kleinwurde. Regelmäßig haben die fünf Wirt- gedruckten des Bundeshaushalts auftauschaftsweisen der Bundesregierung in chen und nur dem Zweck dienen, die Ausihren Jahresgutachten empfohlen, auf den gabenbilanz zu schönen und die SchulTaschenspielertrick zu verzichten und denlast kleinzurechnen? Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat sich zu stattdessen den Bruttoverdienst entsprechend hochzusetzen. Der Vorschlag wurde einer gigantischen Beglückungsmaschine bislang von den politisch Verantwortlichen entwickelt, die immer neue gesellschaftliche Gruppen erfasst und dabei in ihrem noch nicht einmal diskutiert. Schlagartig würde den Bürgern nämlich rastlosen Bemühen, Vergünstigungen und klar, wie viel sie der Umverteilungsstaat in Sonderrechte möglichst gleichmäßig zu verWahrheit kostet: Demnach muss der Nor- teilen, immer größere Geldströme ansaugt AP ür jeden Arbeiter und Angestellten in Deutschland endet der Monat mit einem Betrug: Der Lohnzettel, ausgedruckt von einem unbestechlichen Computer in der Gehaltsbuchhaltung, ist ein Dokument der Täuschung. Nur scheinbar nämlich gibt das Papier Auskunft, was man in den vergangenen vier Wochen verdient hat und was der Staat einem davon genommen hat. Tatsächlich verschleiert es, was die Beschäftigten für Krankheit, Rente, Pflege und die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit zahlen müssen. Der sogenannte Arbeitgeberanteil an diesen Kosten, er beträgt immerhin 50 Prozent, wird nicht ausgewiesen – so als handele es sich um großzügige Zusatzleistungen, um eine Errungenschaft des Sozialstaates gewissermaßen, der die Lasten der öffentlichen Fürsorge gerecht auf Beschäftigte und ihre Unternehmen verteilt. 96 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Die Umverteilungsmaschine Was die öffentliche Hand an Steuern ... Steuereinnahmen 1998 in Milliarden Mark Anteil von Bund Ländern Gemeinden Umsatzsteuer 250,0 Zinsabschlag- 1,4 steuer 5,5 5,3 12,0 116,5 128,0 reine Bundes-, Mineralölsteuer, Tabaksteuer u.a. Länder-, und Kfz-, Erbschaftsteuer u.a 127,5 37,4 5,3 Gemeindesteuern Gewerbesteuer, Grundsteuer u.a. 69,4 Doch erstaunlich: Je mehr Geld die Regierenden zum Wohle ihrer Bürger ausgeben, desto größer werden deren Zweifel, wie gerecht es in diesem Land noch zugeht. Selbst die Frage, ob nun ein Rückzug des Staates oder ein weiterer Ausbau mehr soziale Gerechtigkeit schafft, lässt sich für die meisten nicht eindeutig beantworten. Sozial gerecht. Um keinen Begriff wird derzeit so heftig gerungen wie um das schillernde Wortpaar, das noch jede Partei für sich reklamiert hat und das gerade in seiner Kombination so wirkmächtig ist wie kein anderer politischer Begriff. Denn dass bei der Verteilung von Lasten und Wohltaten niemand zu kurz kommt, aber auch niemand zu gut dasteht, das ist das zentrale Versprechen jeder Politik. Deutschland steckt in der Gerechtigkeitsfalle. Nur wer die Deutungshoheit erobert, was als sozial gerecht zu gelten hat, hat Aussicht auf Politik- und Gestaltungsfähigkeit. Und wenn es noch eines Belegs für die enge Koppelung zwischen der Macht- und der Gerechtigkeitsfrage be- Demonstration von Arbeitsloseninitiativen (in Berlin) 40,4 114,5 Sozialabgaben einnimmt... ...und wofür sie Geld ausgibt Beitragseinnahmen der gesetzlichen Sozialversicherungen 1998 in Milliarden Mark 114,5 Lohnund veranlagte Einkommensteuer ... und A. BASTIAN / CARO – mit Hilfe eines Steuersystems, das ebenso wenig durchschaubar ist. Und wenn gar nichts mehr geht, werden neue Schulden gemacht – und die Kosten damit kommenden Generationen aufgebürdet. Derzeit geht jede zweite Mark, die von den Bundesbürgern erwirtschaftet wird, durch die öffentliche Hand, wie die Staatsbürokratie gern genannt wird – alles in allem die gewaltige Summe von 1,9 Billionen Mark und damit etwa so viel wie die Deutschen in den ersten zehn Jahren Bundesrepublik insgesamt erwirtschaftet haben. Sonstiges inkl. Zinslasten 356 269,4 Kapitalertragsteuer, 33,7 33,7 Körperschaftsteuer, Gewerbesteuerumlage Rentenversicherung 297,8 Krankenversicherung Verkehr, Nachrichtenwesen 47 Wohnungswesen, Raumordnung 61 249,3 67,4 Wirtschaftsförderung 76 Steuern insgesamt 833,0 Mrd. Mark Arbeitslosenversicherung Pflegeversicherung 31,3 Gesundheit, Sport 1882 Sozialbeiträge insgesamt 681,2 Mrd. Mark Verteidigung, öff. Sicherheit, Justiz 101 Soziale Sicherung 962 Mrd. Mark 79 86,2 Unfallversicherung 16,6 Ausgaben der öffentlichen Hand 1996* Bildung, Wissenschaft, Forschung 200 *jüngste verfügbare Daten; die öffentliche Hand verfügt neben Steuern und Sozialbeiträgen noch über weitere Einnahmequellen und nimmt überdies Kredite auf GELDVERMÖGEN FRIEDEL‘S LUFTAUFNAHMEN Haushalte . . . 4,5 % ... mit Nettogeldvermögen* von jeweils ... über 200 000 Mark ... haben zusammen Geldvermögen von Immobilien in Hamburg 559,6 Milliarden Mark 29,5 % 50000 bis unter 200 000 Mark 39,4 % 10000 bis unter 50 000 Mark 361,8 361,8 26,6 % unter 10 000 Mark 11,7 Den Reichen nehmen, den Armen geben? 972,2 * Bruttogeldvermögen abzüglich Schulden HAUS- UND GRUNDBESIT Z Haushalte . . . 5,0 % . . . mit Haus- und Grundbesitz im Verkehrswert von jeweils ... 350000 bis unter 700 000 Mark 22,1 % 100000 bis unter 350 000 Mark 52,6 % unter 100 000 Mark 2705,1 1826,3 59,6 Quelle: Statistisches Bundesamt, Stichprobenerhebung 1993 haben gar keinen Haus- und Grundbesitz durft hätte, dann lieferte ihn der Ausgang der jüngsten Wahlen. Auch wenn nicht entschieden ist, ob man die Stimmenverluste der Sozialdemokraten nun als Abstimmung gegen die „Modernisierer“ oder gegen die „Traditionalisten“ zu werten hat – eines zumindest ist sicher: Der Kurswechsel der rot-grünen Regierungsmannschaft sechs Monate nach der Bundestagswahl hin zu einer Politik des Sparens und Maßhaltens hat ein Terrain freigegeben, das gerade die SPD wie selbstverständlich besetzt hielt. Bis vor kurzem hatten die Sozialdemokraten den Bürgern noch das wohlige Gefühl gegeben, dass auch in Zukunft genug 98 2023,4 Mrd. Mark über 700 000 Mark 16,8 % 3,5 % . . . haben zusammen Vermögenswerte von Geld vorhanden sei, man müsse es nur innovativer und gerechter verteilen. Getreu diesem Versprechen hoben sie das Kindergeld an, senkten die lästigen Zuzahlungen bei Arzneimitteln und versprachen höhere Renten. Doch seit ein paar Wochen klingt alles ganz anders. Plötzlich tritt den Deutschen abends in der „Tagesschau“ ein besorgt blickender Finanzminister entgegen, der „Wahrheit und Klarheit“ anmahnt. Mit einem Mal ist von Eigenverantwortung und Sparsamkeit die Rede, von Risikobereitschaft und Selbstbeteiligung und davon, dass die Sanierung des Staatshaushalts die erste Bürgerpflicht sei. „Es gibt zu unserem d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Sparkurs keine, aber auch gar keine Alternative“, sagt der Kanzler. Und selbst die goldene Grundregel allen sozialpolitischen Handelns, dass nämlich der Staat für mehr Ausgleich bei den Einkommen und Vermögen zu sorgen hat, soll plötzlich nicht mehr bedingungslos gelten. Die alte Position einer Arbeiterpartei, „von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben“, könne nicht länger „die Politik unserer modernen Gesellschaft sein“, gibt SPD-Fraktionschef Peter Struck zu Protokoll. „Eine Gesellschaft lebt dynamischer, wenn es Ungleichheiten gibt“, schiebt Wirtschaftsminister Werner Müller nach, das sei nun mal „eine historische Tatsache“. Politik paradox. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die doch das Bekenntnis zum Fürsorgestaat gewissermaßen schon im Namen führen, profilieren sich nun als radikale Sparmeister und ziehen sich so den Vorwurf zu, den sozialen Frieden zu gefährden. Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen eine Regierung, die sie gerade mit einer acht Millionen Mark teuren Werbekampagne beim Machtwechsel unterstützt haben. Die Union bekämpft die Politik von Rot-Grün, die auffällige Ähnlichkeiten mit der eigenen aufweist, als „unseriös“ und „unsolide“, als „betrügerisch“, und empfiehlt sich als soziales Wärmekissen der Nation. Und die Wähler? Die verharren, so scheint es, in einer Art Schockzustand. Aber was sollen die Bürger Titel durchgereicht“, also an Gut- und Besserverdienende, die mit ihren Bundesanleihen von der Staatsschuld profitieren. Vor allem aber erweitert der Finanzminister den komplexen Begriff von der sozialen Gerechtigkeit um eine neue Dimension. Ihm geht es nicht nur darum, den sozialen Ausgleich zwischen denen zu organisieren, die heute anspruchsberechtigt sind, er hat auch all jene im Blick, bei denen die Schuldenlast irgendwann abgeladen wird. Dass wir unseren Wohlstand auf Kosten der Nachkommen finanzieren, findet Eichel einfach unanständig. Er spare, sagt der zweifache Vater, „vor allem um der Zukunft unserer Kinder willen“. Dem Minister geht es um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Und so schleicht sich, quasi durch die Hintertür, eine Vokabel in die Spardebatte ein, die EINKOMMEN Von den rund 27,7 Millionen Einkommensteuerpflichtigen in Deutschland . . . .. . haben Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 1995 11,3 % 12,2 % 0,1% jährliche Einkünfte von über 1 Million Mark 0,2% 500 000 bis unter 1 Million 0,8% 250 000 bis unter 500 000 100 000 bis unter 250 000 75 000 bis unter 100 000 11,8 % 60 000 bis unter 75 000 11,2 % 13,1 % 50 000 bis unter 60 000 40 000 bis unter 50 000 11,3 % 9,2 % 10,1 % 8,7 % 30 000 bis unter 40 000 20 000 bis unter 30 000 10 000 bis unter 20 000 unter eigentlich aus der Ökologie stammt: „Nachhaltigkeit“. So wie die Umweltbewegung in den siebziger Jahren den verantwortungslosen Gebrauch von Wasser, Luft und Bodenschätzen zum Thema machte, so geht es nun um den schonenden Umgang mit der Ressource Geld. Offenbar besitzt die Analogie zwischen Natur und Kapital derart viel Überzeugungskraft, dass sie mühelos die traditionellen Gegensätze zwischen Links und Rechts überwindet: Die Idee einer nachhaltigen Finanzpolitik findet inzwischen sowohl bei den Grünen als auch bei Wirtschaftslobbyisten wie dem Industriepräsidenten Hans-Olaf Henkel ihre Anhänger. Nirgendwo zeigt sich so deutlich wie bei der Rente, was Nachhaltigkeit eigentlich heißen müsste. Finanziert wird das System nach dem sogenannten Generationenver- Arbeitnehmer (in einer Freiburger Pizza-Fabrik): Betrug auf dem Lohnzettel W. VOLZ / BILDERBERG auch von einem Sanierungsprogramm halten, das Gerhard Schröder emphatisch als wahren Beitrag zur „sozialen Gerechtigkeit“ lobt, das jedoch ein nicht unbeträchtlicher Teil der eigenen Partei als Angriff auf eben diese Gerechtigkeit begreift. Was aber ist soziale Gerechtigkeit? Haben die Kritiker aus dem linken Lager nicht Recht, die das nun vorgelegte Steuer- und Sparpaket als sozial unausgewogen ablehnen, weil es angeblich die Besserverdienenden schont, und die deshalb mehr Steuern für Reiche fordern? Ist es andererseits gerecht, wenn der Staat seinen Bürgern so viel abnimmt, dass sich für viele zusätzliche Arbeit gar nicht mehr lohnt? Und was ist von dem Argument zu halten, dass nur ein ausgeglichener Haushalt auf Dauer ein sozial gerechter Haushalt ist? Hat der deutsche Steuer- und Sozialstaat lediglich ein Einnahmeproblem (wie die Linken meinen), das durch neue, möglicherweise einfallsreichere Steuerarten zu beheben ist, oder krankt er in Wirklichkeit an einem Ausgabeproblem (wie die Regierung glaubt)? Für Hans Eichel ist die Antwort klar: Nichts sei so ungerecht wie ein Staat, der auf Pump lebt, findet er, „nichts trägt mehr zur Umverteilung von unten nach oben bei“ (siehe Gespräch Seite 110). Die Zahlen, die der Finanzminister nennt, sind eindrucksvoll: Für jede vierte Mark, die er einzieht, erhält der Steuerzahler schon heute keine Leistung mehr, weil sie dem Zinsdienst anheim fällt – das sind 150 000 Mark pro Minute, 220 Millionen Mark am Tag, 80 Milliarden Mark im Jahr. Und was den Sozialdemokraten Eichel besonders empört: Diese gewaltige Geldsumme „wird direkt an die Banken 10 000 Mark H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV Pelzmesse in Frankfurt: „Eine Gesellschaft lebt dynamischer, wenn es Ungleichheiten gibt“ trag, einem „gigantischen Betrugsmanöver“, wie der Publizist Konrad Adam anmerkt, „das zu rechtfertigen keine Partei mehr riskieren sollte“. Denn ein Modell, bei dem die Jungen den Lebensunterhalt der Alten bestreiten, kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn in einer vergreisenden Gesellschaft immer weniger Arbeitnehmer einzahlen, gleichzeitig aber die Zahl der Rentner steigt, die auf ihre zugesagten Ansprüche bestehen – wenn also immer mehr Geld von Jung zu Alt umverteilt wird. Wie schwer dieser Tatbestand offenbar zu vermitteln ist, zeigen die Proteste gegen den Plan von Arbeitsminister Walter Riester, die Renten in den kommenden zwei Jahren nur entsprechend der Inflationsrate steigen zu lassen. Bisher folgten die Renten der – durchschnittlichen – Erhöhung der Nettolöhne. Zweifellos erscheint es angemessen, dass die heutige Rentnergeneration am Zuwachs des allgemeinen Wohlstands teilhaben will. Gleichzeitig aber gilt es zu bedenken, dass die jetzigen Beitragszahler noch eine zweite Last schultern müssen: Damit auch ihr Auskommen im Alter gesichert ist, wird die Regierung den Jungen irgendeine Form der privaten Vorsorge aufbürden, sei es als „Zwangsrente“, sei es als steuerlich begünstigtes Sparen. Im Sinne eines gerechten Ausgleichs zwischen den Generationen ist also beides vonnöten: Verzicht bei den Jungen und bei den Alten. 100 SOZIALE STREITPUNKTE in Eichels Sparpaket; Milliarden Einsparungen im Jahr 2000 Mark Reduzierung von Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitslosenhilfebezieher 5,9 Rückzug aus der Wohngeldfinanzierung für Sozialhilfebezieher (zu Lasten der Länder/Kommunen) 2,3 Verzicht auf reale Erhöhung von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld 1,8 Streichung der Arbeitslosenhilfe für bestimmte Gruppen 1,0 Reale Nullrunde für Beamte und Pensionäre 1,7 Verminderte Rentenanpassung 1,0 Kürzung der Alterssicherungszuschüsse für Landwirte 0,4 Jetzt rächt sich, dass die kollektiven Sicherungssysteme durch das Wirken der Sozialpolitiker mindestens so komplex geworden sind wie der Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Das macht es den Kritikern so leicht, jede Kürzung im sozialen Netz sofort als „Anschlag auf den sozialen Frieden“ zu diffamieren. Zunächst bleibt festzuhalten: Für nichts gibt der deutsche Staat mehr Geld aus als d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 für die soziale Absicherung seiner Bürger, und daran ändert auch Eichels Sparprogramm nichts – rund 1,3 Billionen Mark waren es allein im vergangenen Jahr, das ist sogar historisch ein Rekord. Wer nun allerdings schärfer hinsieht, stellt schnell fest, dass nur der kleinste Teil des gewaltigen Sozialbudgets noch der Versorgung der Armen dient. Der weitaus größte Teil fließt heute über unzählige Umwege und Transfertöpfe den sogenannten Mittelschichten zu, Leuten also, die selbst Sprachreisen in die Provence und GrappaSeminare an der Volkshochschule für förderungswürdige Sozialprojekte halten. Neben die klassische Grundversorgung im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit sind großzügige Beihilfen zur Ausbildung, Kinderbetreuung, Wohnungsanmietung, Freizeitgestaltung und Vermögensbildung getreten. Der deutsche Sozialstaat sorgt für kostenlose Eheberatung und vergünstigte Theaterbilletts ebenso wie für finanzielle Entschädigung bei schlechtem Wetter und frostreichen Wintern. Und auch mit der zweiten großen Fiktion des Wohlfahrtsstaats, dass vor seinen Schranken alle gleich sind, ist es bei genauerem Hinsehen nicht gut bestellt. So lässt sich fragen, wie es sich mit dem Gleichheitsgebot verträgt, dass hoch begabten Kindern eine spezielle Eliteförderung in der Regel vorenthalten wird, Chancengleichheit bislang also vor allem so de- Titel sich hingesetzt und mit sieben anderen Genossen ein Papier verfasst, das zum Beispiele für die Auswirkung der „Kurs halten“ aufruft gegen den „Neolirot-grünen Steuerreform beralismus“. Wie der aussieht, das weiß SkarpelisSperk genau, schließlich war ihre Tochter Durchschnittsverdiener ja vor zwei Jahren als Austauschschülerin Kraftfahrzeug-Mechaniker, in den USA: „Da wurde an der Schule Frau nicht berufstätig zu versteuerndes Einkommen: 60 000 Mark dann für die Augenoperation eines Kindes gesammelt, weil so etwas dort nicht von Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002 der Krankenversicherung bezahlt wird.“ 9714 Mark 2106 Mark = – 21,7 % Kein Wunder, dass bei Skarpelis-Sperk mit 2 Kindern 3066 Mark = – 31,6 % und den Ihren alle Warnlampen angehen, „wenn sich der Vorsitzende der SPD für eiGeringverdienender Single nen amerikanischen Weg ausspricht“, wie Verkäuferin, halbe Stelle es in dem Protestpapier heißt. „Wehret zu versteuerndes Einkommen: 25000 Mark den Anfängen“, sagt sie, und daher will sie nun auch standhaft bleiben im Widerstand Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002 gegen das Sparprogramm der eigenen Re3418 Mark 904 Mark = – 26,4 % gierung. mit 1 Kind 1384 Mark = – 40,5 % So bringt es die Volkswirtin schließlich fertig, anderthalb Stunden über FinanzpoSpitzenverdiener litik zu reden, ohne die schmutzigen WörIndustriemanager, Frau nicht berufstätig ter Sparen und Schulden ein einziges Mal zu versteuerndes Einkommen: 250 000 Mark in den Mund zu nehmen. Wenn sie dann Steuerschuld 1998 Ersparnis 2002 gefragt wird, wo sie denn Einsparmöglich86 766 Mark 4158 Mark = – 4,8 % keiten sehe, fallen ihr nur Einwände ein. Beim Verkehrsetat? Kaum möglich. Bei der Abschreibungskünstler Bildung? Auf keinen Fall. Im SozialhausArchitekt, verheiratet halt? Um Gottes willen. Und nicht einmal der VerteidigungsDurch Investitionen in Abschreibungsmodelle rechnet der Architekt sein Einhaushalt fällt ihr ein, jener Posten, der dem kommen von 800 000 Mark 1998 auf linken SPD-Flügel doch traditionell als geNull. Nach 1999 dürfen solche Verluseignet für Sparoperationen gilt. te nur noch maximal bis zu 200 000 Einige Blocks entfernt sitzt der StaatsMark (Ledige: 100 000 Mark) voll, dasekretär Siegmar Mosdorf, und wer berüber nur bis zur Hälfte der positiven greifen will, wie weit die Anschauungen Einkünfte abgesetzt werden. über das, was sozial gerecht heißt, selbst in Steuerschuld 1998 Mehrbelastung 2002 der SPD auseinander liegen, der muss nur 0 Mark +156638 Mark in seinem Büro im Berliner Wirtschaftsministerium vorbeischauen, einem sachlichkühlen Raum im ehemaligen Invalidenkrankenhaus mit viel Stahl, Glas und abstrakter Kunst. Wenn Mosdorf über die Anforderungen an eine moderne Gesellschaft spricht, dann denkt er ans Internet, an das neue Großraumflugzeug von Airbus und den Wandel in der Biotechnologie. Seine Leitbilder sind der Facharbeiter und der junge Entrepreneur, die „Produktionselite“, wie er sie nennt. Und dass der Ingenieur bei DaimlerChrysler oder der Start-up-Gründer schon Obdachlosenspeisung in Berlin: „Wehret den Anfängen“ längst nicht mehr begreifen, ern-SPD, im „Unterausschuss ERP-Wirt- „warum der Staat jedes private Risiko abschaftspläne“ und der „AG Weltwirt- sichert und für jedes Problem eine Lösung schaft“. Und nun? Nun soll sie tatenlos zu- sucht“, davon ist der Staatssekretär zusehen, „wie die Gesellschaft auseinander tiefst überzeugt. driftet“. Jetzt kommt einer wie WirtDen Vorwurf der Parteilinken, er wolle schaftminister Müller daher und fordert für englische, ja gar amerikanische Vernoch mehr Dynamik – also, da muss sie hältnisse sorgen, kann Mosdorf gar nicht doch wirklich lachen. Nein, diese SPD ist verstehen. Natürlich seien die Errunnicht mehr die ihre, und deshalb hat sie genschaften der Arbeiterbewegung eine Entlastung für die Schwachen DPA finiert ist, dass man sehr wohl Kinder mit Lernproblemen in einer stimulierenden Umgebung aufwachsen lässt, nicht aber überdurchschnittlich Intelligente. Wie lässt es sich eigentlich rechtfertigen, dass eine Rentnerin, die neun Kinder großgezogen hat und deshalb im Sinne der Rentenversicherung nie erwerbstätig war, heute rund 1700 Mark Pension bezieht, wo doch ihre Kinder jeden Monat insgesamt 8000 Mark in die Rentenkasse einzahlen und damit das Ruhegehalt von Ehepaaren aufpolstern, die statt Nachwuchs großzuziehen lieber zwei Rentenanwartschaften erworben haben? Ist es gerecht, den Preis für Arbeit durch Tarifvereinbarungen so hoch zu treiben, dass zwar den Arbeitsplatzbesitzern gedient ist, den Arbeitssuchenden aber die Rückkehr in einen Job erschwert wird, weil es sich für Unternehmen nun einmal nicht rechnet, neue Leute einzustellen? Muss man, mit anderen Worten, nicht mehr Ungleichheit bei den Einkommen hinnehmen, um im Gegenzug für mehr Gleichheit beim Zugang zur Arbeit zu sorgen? Keine Frage, das ganze System des Gebens und Nehmens hat sich übersteuert. Je mehr der Staat versucht, es allen in allen Lebenslagen recht zu machen, desto mehr verheddert er sich in Widersprüche. Jedes Bemühen, einem vermeintlichen Missstand durch neue Sonderregeln beizukommen, schafft weitere Ausnahmen und damit einen erneuten Handlungsbedarf. Am Ende kommen die Experten in den Sachverständigenkommissionen und ökonomischen Beiräten stets zu dem selben traurigen Befund: Gerade die Allmachtsphantasie einer Politik, die glaubt, alles regeln zu können, produziert nicht mehr Gerechtigkeit, sondern weniger. Eine Reformdebatte ist überfällig – über einen Rückzug des Staates und seiner Steuerinstanzen, über einen gezielteren, durchschaubaren und vor allem kräfteschonenden Einsatz seiner Mittel, über einen neuen, zeitgemäßeren Begriff von sozialer Gerechtigkeit eben. Es wäre zugleich eine Debatte, wie viel Ungleichheit unvermeidlich, womöglich sogar erwünscht ist. Der Disput ist unausweichlich und zumindest für die SPD nicht ohne Risiko. Sie spaltet die Regierungspartei in zwei Lager. Für linke Sozialdemokraten wie Sigrid Skarpelis-Sperk ist klar, wo diese Debatte zu beginnen und auch zu enden hat: auf Seite neun des SPD-Grundsatzprogramms aus dem Jahre 1989. „Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Macht“, steht dort, und diese Stelle hat sich die 54-jährige SPD-Bundestagsabgeordnete mit gelbem Marker dick angestrichen. Es ist der Angelpunkt ihres Denkens, der Anker in einer sich so gefährlich verändernden Welt. Seit 20 Jahren hat die Finanzwissenschaftlerin tapfer die Stellung gehalten, im Parteivorstand und im Präsidium der Bay- d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 101 Titel Gewinn vor Gemeinwohl Erstmals haben Ökonomen den Staat wie ein Unternehmen betrachtet und eine Bilanz der „Deutschland AG“ erstellt. Ergebnis: Das Land ist konkursreif. J B. BOSTELMANN / ARGUM eder vernünftige Anleger würde weit weniger als der Mediziner, dessen die Finger lassen von einer solch Studium lang und teuer ist. Und für ein maroden Firma. Sie gibt ständig Fach wie Germanistik, das sich weder mehr Geld aus, als sie einfür den Staat noch für den nimmt. Sie hat keine AhStudenten rechne, müssten nung, mit welchem ihrer die Gebühren sogar abzahllosen Produkte sie Geschreckend hoch sein. winne erwirtschaftet. Sie Solche Ideen werden war Ende des Geschäftsjahnicht nur Philologen res 1998 mit 2375 Milliarden schockieren. Ein UnternehMark maßlos überschuldet. men Deutschland, das GeKurz: Die Firma ist so gut winn vor Gemeinwohl stellt wie pleite – wenn sie denn – ist das wünschenswert? eine echte Firma wäre. „Die betriebswirtschaftliche „Ein privates UnternehSicht funktioniert nur bis zu men in der gleichen Situaeinem bestimmten Grad“, tion müsste ein Konkursräumt der Berater Ederer verfahren beantragen“, ein, „aber der Staat ist eben heißt es knapp und vernichauch Wirtschaftsakteur.“ tend in dem Bericht, den Und so untersuchen die Peer Ederer und Philipp Ederer, Schuller Autoren Geschäftsfeld für Schuller diese Woche – pasGeschäftsfeld der „Deutschsend zum Beginn der Haushaltsdebat- land AG“. Sie dokumentieren die te – vorlegen*. Schieflage eines Unternehmens, das im Ederer, ein Unternehmensberater, Grunde ein Sanierungsfall ist. und Schuller,Vorstandsassistent bei der Allein schon seine Struktur mit FiDeutschen Bank, beide 33, wagten ge- lialen in 16 Ländern, 439 Kreisen und meinsam mit der Universität Witten- Städten sowie 14 561 Gemeinden sei inHerdecke einen erstaunlichen Versuch: effizient, ihre Größe und Finanzkraft Sie taten so, als sei der Staat ein Unter- zu unterschiedlich. Undurchsichtige nehmen, zerlegten ihn in acht Ge- Quersubventionen verhinderten, die Fischäftsfelder und erstellten – so gut es lialen wie Profit-Center zu betreiben. ging – eine Bilanz, die Vermögen und Die „gröbste Fehlleistung des MaKapital, Gewinne und Verluste ausweist. nagements“ stellt das Duo im größten „Wir wollten einmal eine ganz neue Sektor fest – der sozialen Sicherung. Perspektive aufzeigen“, erklärt der Jahrzehntelang hätten die Vorstände Banker Schuller den Ansatz, „weil zu der Deutschland AG die Produktpaletoft in Schablonen diskutiert wird.“ te von der Frührente bis zur PflegeverWas dabei herauskam, ist nicht un- sicherung ausgeweitet, ohne darauf zu bedingt politisch korrekt, ökonomisch achten, ob sie zu finanzieren ist. aber aufschlussreich. Warum eigentlich, Ist sie nicht, rechnen Ederer und fragen die Autoren zum Beispiel, fi- Schuller vor: In einen 23-Jährigen hat nanziert der Staat das Studium, obwohl die Deutschland AG 280 000 Mark inden Studenten später weit mehr Ertrag vestiert. Diesen Vorschuss hat er mit aus ihrer Ausbildung in Form von Ein- Steuern und Abgaben zurückgezahlt, kommen zufließt als dem Staat an Steu- wenn er 35 ist. Bis 55 erwirtschaftet er ern? Diese Subventionspraxis sei „frag- ein Guthaben von 540 000 Mark, als würdig“, monieren die Autoren. Rentner zehrt er es wieder auf. Mit 72 Echte Studiengebühren müssten also ist das Konto aufgebraucht, von da an her, ihre Höhe sollte sich nach den Er- legt der Staat nur drauf (siehe Grafik). trägen richten, die mit dem jeweiligen Die Finanzierungslücke, die durch Fach zu erzielen sind. Der Jurist zahlt solche Ansprüche entsteht, summiert sich allein 1999 auf 380 Milliarden Mark. Ein Betrieb müsste dafür Rück* Peer Ederer, Philipp Schuller: „Geschäftsbericht Deutschland AG“. Schäffer-Poeschel Verlag, Stutt- stellungen bilden, die Deutschland AG aber „lebt vom Hand in den Mund“. gart; 264 Seiten; 49,80 Mark. 102 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Lediglich im Sektor „Infrastruktur“ machen die Autoren ein „finanziell äußerst attraktives Produkt“ aus, der Straßenverkehr sei die „Cash-Cow“ der Deutschland AG. Dort gibt sie 32 Milliarden Mark aus und nimmt mit 119 Milliarden aus Mineralöl-, Kfz- und Mehrwertsteuer fast viermal so viel ein. Nicht nur hier hinkt freilich die Analogie zur Unternehmensbilanz. Die Gegenrechnung ist streng genommen nicht zulässig, da der Staat Steuern nicht zweckgebunden erheben darf. Auch anderswo zeigen sich Grenzen der Vergleichbarkeit: Die Autoren betrachten die rund 75 Millionen Staatsbürger als Aktionäre der Deutschland AG – auch wenn diesen die Freiheit fehlt, das Papier zu verkaufen und etwa in die „USA Inc.“ zu investieren. Dennoch fiel es ihnen leicht, Mitstreiter für die Idee zu begeistern. Wirtschaftsminister Werner Müller, gleichsam Vorstandsmitglied der Deutschland AG, mahnt im „Brief an die Aktionäre“, dass „die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat an die Grenzen der Leistungsfähigkeit“ geführt habe. Und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG hat die Bilanz geprüft. Auch Werner Seifert, Chef der Deutschen Börse, hat mitgespielt. Aufs Parkett würde er die Deutschland AG nicht bringen wollen: „Dafür müsste ihr Management noch einige Anstrengungen unternehmen.“ Alexander Jung DPA großartige Sache. Dass die Staatsausgaben für Soziales seit der Jahrhundertwende von ehemals ein Prozent der Wirtschaftsleistung auf heute 35 gestiegen sind, dass die Lebenserwartung eines Arbeiters nicht mehr 45 Jahre, sondern 76 beträgt und die Zahl der Urlaubstage sich verfünffacht hat – all dies sei ein Grund, stolz zu sein. „Aber wir können die Utopie der Sozialdemokratie nicht mit den traditionellen Mitteln ins nächste Jahrtausend verlängern“, sagt der SPD-Liberale. „Wir müssen dem Bürger mehr Luft zum Atmen lassen“, gerade dies sei Ausdruck von Gerechtigkeit. Genau besehen ist der Streit über die soziale Gerechtigkeit ja auch deshalb so verwirrend, weil die Kontrahenten mit großer Beharrlichkeit den Begriff so verwenden, als gebe es eine verbindliche Definition. Tatsächlich jedoch stecken in der schönen Formel zwei ideengeschichtlich (und weltanschaulich) höchst unterschiedliche Prinzipien: Die Vorstellung nämlich, dass Gerechtigkeit im Kern Chancengleichheit meint, also den ungehinderten Zugang jedes Bürgers zu den bürgerlichen Freiheitsgütern und Institutionen, ohne Ansehen von Geburt, Rasse oder Geschlecht. Und das jüngere, auf die französische Revolution zurückgehende Ideal einer materiellen Gleichheit und damit einer Gesellschaft, in der keiner zu wenig bekommt aber auch keiner zu viel. Es geht, verkürzt gesagt, um die Entscheidung für eine teilhabende Gerechtigkeit oder eine verteilende, um eine Gleichheit der Chancen oder eine Gleichheit der Ergebnisse. Dass der Staat für einen Ausgleich unter den Bürgern zu sorgen hat, gilt seit der Antike als unumstritten. Bei Aristoteles findet sich zum ersten Mal der Begriff der „distributiven Gerechtigkeit“, also der „Zuteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern“. Davon geschieden ist die sogenannte kommutative Gerechtigkeit, das Demonstration gegen die Gesundheitsreform*: Staatliche Vor-, Für- und Nachsorge heißt die Pflicht des Staates, für den Schutz des Einzelnen und vor allem die Einhaltung von Verträgen zu sorgen, die schließlich zum Zivil- und Strafrecht führte. Die austeilende Gerechtigkeit, die, wenn man so will, das Sozialrecht begründet, hat mit der modernen Vorstellung von Fürsor- Bilanz des Lebens Wie sich Einnahmen und Ausgaben des Staates pro Bürger entwickeln tausend Mark 500 400 300 200 100 –100 – 200 – 300 F OTO S : M . S C H R Ö D E R /A R G U S , U. S C H M I D T/J O K E R Einnahmen durch Einkommensteuer, Sozialbeiträge AUSGABEN für Schule, Rente, Gesundheit, Sozial- und Arbeitslosenhilfe 0 10 20 30 Lebensalter in Jahren 40 50 60 70 Quelle: Ederer, Schuller d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 ge freilich nicht viel gemein. „Jedem das Seine“, heißt zwar die klassische Definition, ein Gebot zur Linderung von Elend und Armut ließ sich nach Ansicht der antiken Staatsphilosophen daraus aber nur ableiten, wenn der Erhalt des Gemeinwesens gefährdet war, etwa durch Aufruhr und Hungerrevolten. Gaben an die Bedürftigen waren demzufolge die Ausnahme, die Steuerabgaben dienten in den griechischen Stadtstaaten vorzugsweise dem Krieg, dem Kultus und der Verwaltung. Die Idee der Caritas, der Mildtätigkeit, gesellte sich als Beweggrund für soziales Handeln erst im Mittelalter unter dem Einfluss des Christentums hinzu. Noch der Aufklärer Immanuel Kant wollte die Staatstätigkeit streng auf die Wahrung des inneren und äußeren Friedens beschränkt wissen. Dass sich der Staat auch um soziale Belange zu kümmern habe, hielt der Königsberger Philosoph für überflüssig, ja geradezu schädlich: Jede Form von Paternalismus, so lehrte er, schränke die Freiheitsrechte des Einzelnen unzulässig ein. Erst die Französische Revolution brachte eine neue, revolutionäre Idee von * Am vergangenen Mittwoch in Wiesbaden. 103 DPA Kur-Urlauber in Bad Füssing: Am Tropf staatlicher Wohlfahrt Gleichheit hervor. Im wohlklingenden Fähigkeit abhob, den Staat also ausdrückDreiklang von Liberté, Egalité und Frater- lich von Ansprüchen freistellte. Einen erneuten Umschwung in der Genité war diese Gleichheit schnell die alles übertönende Posaune. An die Stelle eines rechtigkeitsdebatte brachte die „soziale wohlweislich vage formulierten Glücks- Frage“ des 19. Jahrhunderts, Folge der stürversprechens trat ein Ideal materieller mischen Industrialisierung Europas und der Gleichheit, das die Gesellschaft de facto damit verbundenen Verelendung breiter auf eine Art Familienverbund zurück- Volksschichten. Diese Frage war zugleich schraubt: Alle Menschen sind Brüder, und der Ausgangspunkt für die Geburt des mowehe dem, der da aus der Reihe tanzt. dernen Wohlfahrtsstaates, der seine Rolle Wie nah Gleichheit und deren Karikatur, schon bald nicht mehr nur als Schutzeindie Gleichmacherei, beieinander liegen richtung gegen die unvorhersehbaren Lekönnen, zeigte die kurze Phase der Jako- bensrisiken verstand, wie ihn etwa Reichsbinerherrschaft. Die Welt der Männer im kanzler Otto von Bismarck entwarf. Die modernen Sozialtheoretiker der „Wohlfahrtsausschuss“, wie das oberste Revolutionsgremium sinnreich hieß, war Nachkriegszeit zielten höher hinaus, auf eine Welt ohne Hierarchie und ohne Un- ein Gemeinwesen, in dem alle Klassengeterschied, ihr Symbol war die Guillotine, gensätze und gesellschaftlichen Konflikte die „Sichel der Gleichheit“, wie das Fall34,4 beil im Volksmund hieß. 34,0 Die Jakobiner schafften die Bordelle und 33,4 Spielhöllen ab, verfügten rigide Preisvor32,2 schriften, führten das zwangsweise Duzen 31,4 ein sowie einheitliche Kleidervorschriften und ließen schließlich alle verfolgen, die sich durch Bildung, Talent oder Vermögen 29,0 mangelnder „Bürgertugend“ verdächtig machten. Ein Gleichheitsfanatismus, der im Terror endete und in der 26,0 allgemeinen Erschöpfung nach einem einjährigen Blutrausch. 23,2 SOZIALLEISTUNGEN Fortan dominierte, auch im aufgeklärten Kontinental- 21,7 ... in Prozent des Bruttoinlandsprodukts europa, die Gleichheitsidee des englischen Liberalismus, ab 1990 Gesamtdie zwar allen Bürgern den deutschland gleichen Anspruch auf Glück einräumte, dabei aber 70 75 80 85 90 95 97 auf Verdienst und eigene 1960 65 104 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 auf ein Minimum reduziert sind und der Staat für allgemeinen Wohlstand sorgt. Und zunächst schien das ja auch gut zu gehen: Vor allem die fünfziger und sechziger Jahre waren, nicht nur in Deutschland, eine Zeit scheinbar ungebremsten Wachstums; und dass mit dem Wohlfahrtsstaat auch der Schuldenstaat geboren wurde, das blieb in der allgemeinen Euphorie weitgehend unbeachtet. Selbst als sich die ersten Krisensymptome zeigten, galten Schulden kaum als ehrenrührig. Hatte nicht der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith das Missverhältnis von „öffentlicher Armut und privatem Reichtum“ beanstandet? Hatte nicht auch der britische Ökonom John Maynard Keynes vom „deficit spending“ gesprochen, den Staat also geradezu aufgefordert, in Zeiten der Rezession mit öffentlichen Ausgaben gegenzusteuern – eine Lehre, die vor allem bei den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt auf fruchtbaren Boden fiel. Und so folgte ein Konjunkturprogramm dem nächsten, doch geflissentlich übersahen die Genossen dabei den zweiten Teil von Keynes, dass nämlich der Staat in guten Zeiten, wenn die Wirtschaft boomt, sich wieder bescheiden soll. Auch die Regierung unter Helmut Kohl wurde nur in den ersten Jahren ihrem Anspruch gerecht, dass die Ordnung der Staatsfinanzen eine „zutiefst sittliche Frage“ sei. Schon vor dem Mauerfall zog die Schuldenkurve wieder stark an. Mit der deutschen Einheit gab es dann endgültig kein Halten mehr. Und so ist der Wohlfahrtsstaat deutscher Prägung zu einem Riesen geworden, der Werbeseite Werbeseite fe oder kanadischer Flugzeuge. Ist das ungerecht? Kassiert und vergessen sind bei jenen, die um die Seele der Sozialdemokratie bangen, auch die Zuwendungen für den Normalverdiener. So behält eine Durchschnittsfamilie dank der bereits verabschiedeten Steuerreform bald schon 3000 Mark mehr jährlich, alles in allem müssen die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen pro Jahr 36 Milliarden Mark weniger ans Finanzamt abführen. Ist das ungerecht? Wer in den Protestchor genauer hineinhört, muss mitunter den Eindruck gewinnen, dass es den linken Sozialprotektoren im Kern gar nicht um die Details des Sparpakets geht – ihnen passt die ganze Richtung nicht. Ein Rückzug des Staates und seiner Organe, wozu vorzugsweise die Steuerbehörden zählen, ist in ihrem politischen Weltbild nicht vorgesehen. Nicht von ungefähr kontern sie jeden Vorschlag zur Steuersenkung mit der Frage nach der „Gegenfinanzierung“, ein Begriff, der übersetzt nur bedeutet, dass jedem Einnahmeverzicht eine Einnahmeerweiterung gegenüberstehen muss. Denn der Verzicht auf Ausgaben und damit auf staatlich organisierte Wohlfahrt beM. DARCHINGER seine Bürger zu erdrücken droht – wenn nicht endlich gespart wird. Eichel will das Problem deshalb grundsätzlich angehen. Doch die Bürger haben offenkundig Mühe, die Frage zu entscheiden, wie sie das Reformprogramm der Regierung nun bewerten sollen, zumal die Kritiker ja immer nur die halbe Wahrheit präsentieren. Da echauffieren sich die SPDLinken, dass die Unternehmen bei der jetzt anstehenden Unternehmensteuerreform um acht Milliarden Mark entlastet werden, während für Rentner und Arbeitslose das Spardiktat gilt. Doch die Entlastung ist nach Rechnung des Instituts der deut- Eichel-Vorgänger Lafontaine: Nur für Bedürftige schen Wirtschaft, die die verlängerte Abschreibungsdauer berücksichtigt, rückstellungen an den Fiskus abführen. Ist tatsächlich geringer, nämlich rund sechs das ungerecht? Da beklagen die Gewerkschafter, Milliarden Mark. Und zudem verschweigen die Hüter des Sozialen geflissentlich, dass weshalb die „Gewinner der Kohl-Ära“, die bereits beschlossene Steuerreform die worunter sie alle Vermögensbesitzer verUnternehmen zusätzlich belastet, im Jahr stehen, zum Sanierungsprogramm nichts 2002 zum Beispiel mit 10,7 Milliarden beitragen. Sie unterschlagen, dass die ReMark. Bleibt unter dem Strich eine Mehr- gierung die Abschreibungsmöglichkeiten belastung der Wirtschaft von 4,7 Milliarden für Gut- und Besserverdiener bereits deutMark. Zusätzlich müssen die Konzerne lich eingeschränkt hat, diese ganzen Steurund 16 Milliarden Mark aus ihren Strom- ersparmodelle in Form koreanischer Schif- Staates, sich vom RegulieWas Chancengleichheit rungswahn zu verabschieeigentlich meint, machte den und damit mehr UnRawls an einem verblüfgleichheit in den Ergebnisfenden Gedankenexperisen zuzulassen, eine Form ment deutlich. Stellen wir wohlverstandener Gerechuns einen Urzustand vor, tigkeit sein. Dass eine Zuempfahl er seinen Lesern, nahme sozialer und ökonoin dem die Vertreter aller mischer Unterschiede unter sozialen Gruppen einen bestimmten Bedingungen Gesellschaftsvertrag ausein Vorteil für alle ist, hat handeln. Nur wissen die der US-amerikanische PhiRepräsentanten nicht, wen losoph John Rawls ausführsie eigentlich vertreten – lich dargelegt. Sein Hauptes könnte jeder sein. „Sie werk, „Eine Theorie der sollen also den Kuchen Gerechtigkeit“, gilt seit der schneiden“, wie Rawls-InVeröffentlichung im Jahre terpret Hubertus Breuer 1971 als wohl einflussausführt, „ohne zu wissen, reichstes Buch zu diesem welches Stück sie anThema. schließend bekommen.“ „Soziale und ökonomi- Reformer Mosdorf In diesem Fall, so die sche Ungleichheiten sind Spekulation, werden die zulässig“, heißt es in Rawls Theorie an zen- Unterhändler nicht nur fordern, dass alle traler Stelle, „wenn sie erstens zum größ- Bürger gleiche Rechte haben und vor allem ten zu erwartenden Vorteil für die am we- die Freiheit, einem in ihrem Sinne guten nigsten Begünstigten führen, und wenn Leben nachzugehen. Sie werden auch verzweitens garantiert ist, dass gesellschaftli- langen, dass die Staatsverfassung den sozial che Positionen allen unter Bedingungen Schwachen immer noch den größtmöglifairer Chancengleichheit offen stehen.“ Mit chen Vorteil im Vergleich zu anderen Sysanderen Worten: Die Vorteile, die aus ei- tem-Alternativen bringt. Und genau dies nem Mehr an Ungleichheit erwachsen, dür- kann ja gerade in einer Gesellschaft gefen nicht in erster Linie nur den Stärkeren währleistet sein, die jedem genügend Anzugute kommen. reize bietet, seinen Wohlstand zu steigern MELDEPRESS deutet ja auch den Verzicht auf Eingriffsmöglichkeiten der jeweils Regierenden. Von Bismarck stammt der Satz, dass es ihm darum gegangen sei, die „arbeitenden Klassen zu bestechen“, eine sozialpolitische Aussage von zeitloser Gültigkeit. Nichts, so scheint es, sichert zuverlässiger Wählerstimmen als die Aussicht auf neue Alimentationen. Und immer lassen sich neue Gruppen entdecken, die der Für-, Voroder Nachsorge bedürfen. Neben den Werftarbeitern, Landwirten und Bergleuten dürfen längst auch die Bierbrauer, die hessischen Bienenzüchter oder die deutschen Tabakpflanzer auf geldwerten Beistand vertrauen. Allein im staatlich regulierten Gesundheitswesen sind es mittlerweile über 70 Berufs- und Interessengruppen, die an die Tröpfe öffentlicher Wohlfahrt gelegt wurden, darunter so bedeutende Verbände wie die Vertreter der ambulanten Fußpflege oder der Homöopathie. Eine Politik, die sich dem Gleichheitsgebot im Sinne der Ergebnisgleichheit verpflichtet fühlt, kann gar nicht anders, als jedem, der auch nur eine vermeintliche Benachteilung anzuführen versteht, Kompensation zu gewähren. Und weil der alles regulierende Wohlfahrtsstaat seine eigene Vorgabe, die Gleichstellung aller mit allen, nie erreicht, kommt er auch nie ans Ziel. So gesehen kann gerade die Bereitschaft des Einkommen einer einfachen Verkäuferin oder eines Hilfsarbeiters. Warum eigentlich, fragt Riester, soll jemand, der nicht arbeitet, „auf Kosten der Steuerzahler höhere Rentenanwartschaften erwerben, als jemand, der seine Beiträge vom Lohn zahlen muss“? Solche Argumente machen erkennbar Eindruck, zumal es sich unter den Steuerbürgern längst herumgesprochen hat, dass es mit der Gerechtigkeit im deutschen Abgabenstaat nicht gut bestellt ist. Immer mehr Beitragszahler ächzen unter der Last eines Umverteilungsapparats, der das Plus bei den Bruttolöhnen seit Jahren in ein reales Minus verwandelt und dem Wort „Gerechtigkeitslücke“ eine ganz neue Bedeutung gibt. Kein Zweifel herrscht unter ExMutter mit Kindern: Im Alter für Nachwuchs bestraft perten deshalb, dass – gerade unter hilfe zu sparen. Bislang übernahm der dem Aspekt der Chancengleichheit – das Staat nämlich für jeden dieser Arbeitslosen Steuersystem gründlich reformiert werden auch die Rentenbeiträge, und zwar so, als muss. Es geht nicht darum, zusätzliche Sonwürde der noch gut verdienen. Künftig dersteuern für Reiche einzuführen, hingegen werden nicht mehr 80, sondern wie es die Linken fordern. Vielmehr gilt im ungünstigsten Fall weniger als 40 Pro- es, ein wirklich gerechtes Steuersystem zu zent des letzten Bruttolohns als Basis ge- schaffen: eines, das alle Bürger mit gleichen Einkommen auch wirklich gleich nommen. Sicher, auch dies wirkt auf den ersten behandelt und zudem für jeden verständBlick furchtbar ungerecht. Doch häufig war lich ist. Doch bisher wagte keine Regierung, dieser Wert, an dem sich der eine solche Reform ernsthaft anzugehen. Rentenzuschuss bemisst, 1504 Die rot-grüne Koalition schaffte zu Jahsogar höher als das geschätzt resbeginn zwar rund 70 Ausnahmeregeln 1400 ab, doch für Windige und Findige bleiben immer noch genügend Möglichkeiten, ihre 1299 Steuerlast zu drücken. Die Debatte über die soziale Gerechtig1200 keit stellt das gesamte Sozial- und SteuerVERSCHULDUNG system in Frage. Wer Gerechtigkeit allerdes Bundes in Milliarden Mark dings allein in Mark und Pfennig misst, einschließlich Sondervermögen blendet aus, dass auch ein Rückzug des 1000 Staates einen Gewinn bedeutet: an Freiräumen, Innovationskraft, womöglich sogar mehr Gemeinsinn – all dem, was üblicherweise mit Zivilgesellschaft verbunden wird. Klar ist, dass in Zukunft nicht für jedes 800 private Risiko die Solidargemeinschaft ge687 rade stehen kann. Von Oskar Lafontaine stammt die Überlegung, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung angesichts 600 der veränderten Arbeitswelt stärker nach Quelle: BMF der Bedürftigkeit zu bemessen. Denn nicht selten ist Z I N S L A S T E N 435 Arbeitslosigkeit nur eine 400 des Bundes in Milliarden Mark 100 selbstgewählte Phase zwi87,6 350 82,9 einschließlich Sondervermögen 78,7 schen zwei Jobs. Und war80 um in einem Land, in dem 60 allein die Geldvermögen in 200 den vergangenen sieben Jah34,2 40 29,2 ren um 63 Prozent zuge22,1 20 nommen haben, auch Besab 1999 Planung serverdiener nicht auf die eigenen Reserven verwiesen werden, ist nur noch schwer 1982 1985 1990 1995 1999 2002 einsichtig. Gerade ein mo- 108 K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV und damit auch den Reichtum der Gesellschaft, was wiederum allen zugute kommt. Keine Frage, dass Rawls Gerechtigkeitstheorem auch für das Sparen gilt: Wieder sitzen die Vertreter aller sozialen Gruppen zusammen, nur dass sie diesmal über die Verteilung von Lasten zu verhandeln haben. Was aber geschieht, wenn eine Gruppe, zu deren Ungunsten entschieden wird, gar nicht mit am Tisch sitzt? Dann, so muss man wohl schlussfolgern, verstoßen alle Entscheidungen eklatant gegen das Gebot sozialer Gerechtigkeit, und seien sie noch so gut begründet. Diese Gruppe, über deren Kopf hinweg laufend entschieden wird, bildet sogar rein rechnerisch die Mehrheit: Es sind die Nachgeborenen, die Generationen ohne Stimmrecht. Ob die Bürger sich mehrheitlich der Einsicht verschließen, dass nur ein Staat, der Ausgaben und Einnahmen in einer soliden Balance hält, auf Dauer ein gerechter Staat ist – diese Frage ist längst noch nicht entschieden. Wer in diesen Tagen einmal die Sparprediger Riester oder Eichel bei einem ihrer Wahlkampfauftritte erlebt hat, der stellt jedenfalls erstaunt fest, dass der anfängliche Protest gegen die Sanierungspläne schnell einer gewissen Nachdenklichkeit weicht. Geradezu andächtig lauschen die rund 400 Betriebsräte und Gewerkschafter im Kasino des Bayer-Werks in Uerdingen den Ausführungen des Sozialministers zum Sparprogramm, diesem Trommelfeuer aus Haushaltsziffern und Steuerzahlen. Natürlich muss er sich anraunzen lassen, wie er denn dazu komme, ausgerechnet bei den Empfängern von Arbeitslosen- d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel Jan Fleischhauer, Ulrich Schäfer, Harald Schumann 110 S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Nicht herumfummeln“ Bundesfinanzminister Hans Eichel über die Kritik am Sparprogramm der Regierung, den Streit um soziale Gerechtigkeit und den Vorwurf des Neoliberalismus sparmodelle dem Fiskus entziehen konnten. Deshalb haben wir auch viele dieser Schlupflöcher gestopft. SPIEGEL: Die Modernisierer Ihrer Partei glauben, dass neu definiert werden muss, was im 21. Jahrhundert sozial gerecht heißt. Teilen Sie diese Ansicht? Eichel: Ich kann mit den Begriffen Modernisierer und Traditionalisten nichts anfangen. Soziale Gerechtigkeit bleibt für alle in der SPD ein Kernthema. Wenn die Menschen nicht mehr den Eindruck haben, dass es in ihrem Land gerecht zugeht, dann werden sie dem Staat nicht vertrauen. SPIEGEL: Ihre parteiinternen Kritiker machen gegen das Sparpaket mit der Parole Front: „Kurs halten statt Neoliberalismus“. Sind Sie ein Neoliberaler? Eichel: Einen solchen Vorwurf kann nur erheben, wer nicht darüber nachdenkt, welches Ziel der Sparkurs verfolgt. Unser Programm ist doch eingebettet in zahlreiche andere Maßnahmen. Wir haben eine Steuerreform verabschiedet, die die Steuersätze senkt und die Menschen deutlich entlastet. Mit den Einnahmen aus der Öko-Steuer haben wir die Lohnnebenkosten gesenkt, und wir erhöhen das Kindergeld in nur zwei Jahren insgesamt um 50 Mark. Wer, nur mit Blick auf das Sparpaket, von einem Politikwechsel spricht, der redet Unfug. SPIEGEL: Auch Oskar Lafontaines früherer Staatssekretär Heiner Flassbeck wirft Ihnen und Kanzler Gerhard Schröder vor, Sie exekutierten einen neoliberalen Kurs so scharf wie sonst nirgendwo auf der Welt. Eichel: Da enthalte ich mich jeden Kommentars. Manchmal wünsche ich mir, dass diejenigen, die zunächst die Wohltaten beschlossen haben, auch die Zumutungen des Koalitionsvertrags hätten umsetzen müssen. Im Übrigen: Es war Oskar Lafontaine, der Anfang des Jahres nach Brüssel gemeldet hat, Deutschland werde das Defizit von jetzt 2,5 Prozent in vier Jahren auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückführen. Es war Lafontaine, der zum ersten M. DARCHINGER derner Gerechtigkeitsbegriff, der es mit der Chancengleichheit ernst meint, lässt alte Vorschläge in neuem Licht erscheinen. Dass niemand auf Grund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe oder sexuellen Neigung Nachteile erleiden darf, gilt heute als selbstverständlich. Doch der gleiche Maßstab müsste eigentlich auch für die Vorteile gelten, die jemand, ebenfalls ohne eigenes Zutun, aus dem Vermögen der Eltern bezieht. So summiert sich das gesamte Privatvermögen in Deutschland mittlerweile auf den gewaltigen Betrag von 14,5 Billionen Mark; rund 30 Prozent davon befinden sich nach der letzten Erhebung in der Hand von nicht einmal fünf Prozent der Haushalte – und damit sind auch die Startchancen höchst unterschiedlich verteilt. Dem amerikanischen Börsenspekulanten Warren Buffett, einem der reichsten Männer der Welt, wird die Idee zugeschrieben, am besten eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent zu erheben. Jeder solle es allein nach oben schaffen, findet der Erzkapitalist, keiner sich auf dem Erfolg seiner Vorfahren ausruhen dürfen. Sicher, dies ist ein unrealistischer, wohl auch nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag. Doch zumindest sollte man im Sinne der Chancengleichheit auch hier zu Lande darüber nachdenken, warum der Lohn für harte Arbeit so viel höher besteuert wird als das Geld, das einem Erben ohne Arbeit zufällt Und was spricht eigentlich gegen eine Besteuerung sämtlicher Kursgewinne aus Aktiengeschäften? Derzeit ist ausgerechnet die entscheidende Quelle des neuen Reichtums von der Steuer ausgenommen. Lediglich bei Aktienverkäufen in den ersten zwölf Monaten wird eine Abgabe fällig, und dies auf Grund des Bankgeheimnisses auch nur, wenn der Aktienbesitzer seine Kursgewinne dem Finanzamt freiwillig meldet. Kein Vorschlag ist verkehrt, nur weil er aus der vermeintlich falschen Ecke kommt. Ob Erbschaftsteuer, Aktiensteuer oder eine grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme: Alles gehört auf den Prüfstand, wenn denn Einigkeit über den Kurs herrscht, wenn also die Gesellschaft insgesamt bereit ist, ihrem Staat Selbstbeschränkung aufzuerlegen und sich gleichzeitig mit Forderungen an ihn zurückzuhalten. Die Zeit drängt. Allzu viele ergebnislose Debatten über den „Standort Deutschland“ und die „soziale Frage“ kann sich das Land nicht mehr leisten. „Wenn wir jetzt keine Lösung für unsere Probleme finden“, prophezeit düster der sächsische Ministerpräsident und Ökonomieprofessor Kurt Biedenkopf, „werden sich die Probleme ihre eigene Lösung suchen.“ Sanierer Eichel: „Wir werden durchhalten“ SPIEGEL: Wie würden Sie den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in einem Satz definieren? Eichel: Das ist nicht möglich. SPIEGEL: Na gut, dann versuchen Sie es in drei oder vier Sätzen. Eichel: Das Grundgesetz verpflichtet uns, die Würde des Menschen zu wahren. Jeder muss ein menschenwürdiges Dasein führen können. Der Sozialstaat ist nicht dazu da, Almosen zu verteilen, er ist vielmehr konstitutioneller Bestandteil unserer Demokratie, eingeführt nach dem Krieg, als es uns richtig schlecht ging. Zudem müssen wir Gewähr leisten, dass jeder nach seiner Leistungsfähigkeit zum Unterhalt des Staates beiträgt, die Starken mehr, die Schwachen weniger. Es kann nicht so sein wie am Ende der Kohl-Regierung, als die Normalverdiener die volle Steuerlast trugen, Spitzenverdiener sich aber durch Steuerd e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 H. HAITZINGER Mal das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt mit 30 Milliarden Mark beziffert hat. Ohne einen rigiden Sparkurs wäre auch er nicht zurechtgekommen. SPIEGEL: Vergrößert Ihr Sparpaket nicht die Kluft zwischen Arm und Reich? Eichel: Das Gegenteil ist der Fall. Nur ein Beispiel: Der Anteil des Arbeitsministeriums am Bundeshaushalt ist in den beiden vergangenen Jahren um 4 Prozentpunkte auf 35,5 Prozent gestiegen. Diese Quote bleibt auch künftig unverändert. Das bedeutet doch, dass wir die Schwerpunkte nicht zu Ungunsten des Sozialhaushalts verschieben. Dennoch gilt: Wenn man den Haushalt sanieren will, kommt man am größten Kostenblock nicht vorbei. SPIEGEL: Warum aber schäumt die Linke reflexartig, wenn es ums Sparen geht? Eichel: Manche meinen eben, man könne Konsolidierungspolitik betreiben, ohne dass jemand dies merkt. Was wir brauchen, ist eine nachhaltige Politik, die die Generationengerechtigkeit im Blick hat. Alle müssen sich fragen, wohin denn die Überschuldung führt: Am Ende ist der Staat nicht mehr handlungsfähig, er kann nicht mehr für die Schwächeren eintreten. Nichts ist so unsozial wie ein überschuldeter Staat, nichts trägt mehr zur Umverteilung von unten nach oben bei. SPIEGEL: Der Gegenvorschlag zum Sparen lautet: Lasst uns die Steuern erhöhen. Eichel: Wir sind nicht mit der Aussage in den Wahlkampf gezogen, Steuern und Staatsquote zu erhöhen. Der Koalitionsvertrag sieht das Gegenteil vor. Die SPD ist nicht die Partei der Steuererhöhung, sondern der Steuergerechtigkeit. SPIEGEL: Der Kanzler und Sie behaupten stets, zum Sparkurs gebe es keine Alternative. Die Wähler sehen das offenbar anders, sie wählen diese Alternative sogar. Eichel: Das ist wie in einem Unternehmen. Wenn die Sanierung beginnt, ist die Stimmung erst einmal schlecht. Das ändert sich aber, wenn die Erfolge greifen. Schon jetzt befürwortet die überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung meinen Kurs, das sagen alle Meinungsumfragen. Das erlebe ich auch bei meinen Wahlkampfauftritten. SPIEGEL: Warum läuft es denn so schlecht für die Regierung? Eichel: Den ganzen Sommer haben wir nur über die Zumutungen des Sparpakets gesprochen, nicht aber über unsere sonstigen Verdienste. Das war ein schwerer Kommunikationsfehler. SPIEGEL: Das können Sie bei den nächsten Sparrunden besser machen. Wie viele magere Jahre werden denn noch kommen? Eichel: Es geht nicht um magere Jahre. Wir werden auch im nächsten Jahr 50 Milliarden Mark neuer Schulden aufnehmen müssen. Wer behauptet, dies sei ein Crash-Kurs, hat wirklich keine Ahnung. Wir führen die Neuverschuldung Jahr für Jahr zurück, indem wir den Anstieg der Rettungsaktion Rotstift BUNTE Ausgaben unter dem der Einnahmen lassen. Wenn wir das durchhalten, könnten wir im Jahr 2006 zum ersten Mal seit langem wieder mehr Geld einnehmen als ausgeben. SPIEGEL: Einige Ökonomen glauben, das Sparpaket würge die Konjunktur ab. Eichel: Das ist nun wirklich witzig. Wer einen Verzicht auf das Sparpaket verlangt, glaubt wohl, dass ich 30 Milliarden Mark mehr ausgeben könnte. Aber die habe ich doch gar nicht, die kann ich nicht mal pumpen. Ansonsten wäre der Haushalt verfassungswidrig, weil die Neuverschuldung die Investitionen übersteigt. Alle Prognosen sagen ein Konjunkturplus von 2,5 Prozent für das Jahr 2000 voraus. Wenn ich nicht einmal bei diesem Wachstum mit dem Sparen anfangen darf, dann ist dieser Staat am Ende. SPIEGEL: Schon jetzt hat die Regierung keine Mehrheit im Bundesrat mehr. Wo d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 wollen Sie denn den Ländern entgegenkommen? Eichel: An den 30 Milliarden darf nicht herumgefummelt werden. Auch ohne die Länder können wir 70 bis 75 Prozent unseres Sparpakets durchsetzen. Ich will aber, dass wir uns alle zusammen verständigen.Wenn die Länder uns hindern, das Paket wirklich durchzusetzen, dann muss ich andere Maßnahmen im Haushalt ergreifen. Eine andere Wahl habe ich nicht. Diese Alternativen können nur noch härter sein als das, was wir vorgeschlagen haben. SPIEGEL: Wollen Sie die Länder unter Druck setzen? Eichel: Das ist keine Erpressung, wie vielfach behauptet wird, das sind Tatsachen. SPIEGEL: An was denken Sie? Eichel: Das werden wir vorlegen, wenn es nötig ist. Ich bin mir aber sicher, dass auch die Länder dies zumindest ahnen. Eigene Vorschläge haben sie bisher noch nicht vor111 Titel mehr so stark steigen können wie die Nettolöhne. Eichel: Sicher werden die Rentner nicht von allen Steuersenkungen profitieren können, durch die die Nettolöhne der arbeitenden Generation steigen. Das wird nicht gehen, jedenfalls nicht bei einer so forcierten Steuersenkungspolitik, wie wir sie anstreben. Aber die Rente muss wieder entsprechend der gesellschaftlichen Produktivitätsentwicklung steigen. SPIEGEL: Fast überall in Europa wurde das alte, umlagefinanzierte Rentensystem durch neue Verfahren mit einer Kapitaldeckung ergänzt. Eichel: Das ist auch richtig so, und so hat es Arbeitsminister Walter Riester auch vorgeschlagen. Die Deutschen werden die Rente der Zukunft nicht allein mit dem gesetzlichen Umlagesystem finanzieren können. Deshalb muss jeder in irgendeiner Form privat vorsorgen, zum Beispiel durch einen Investmentfonds. SPIEGEL: Das heißt also, wir brauchen eine Art Pflichtsparen. Ihr Kollege Riester hatte eine solche Zwangsrente zunächst vorgeschlagen, aber dann schnell wieder M. DARCHINGER gestellt. Wie auch? Die Länder haben doch selbst ein Interesse an der Konsolidierung der Bundesfinanzen. Wenn der Bund kein Geld hat, kann er auch keines mehr geben. Legt man die Kriterien des Länderfinanzausgleichs an, dann befindet sich der Bund in einer Haushaltsnotlage, so wie Bremen oder das Saarland – dann müsste er eigentlich Geld von den wohlhabenden Ländern bekommen. SPIEGEL: Wann wird Ihre Politik vom Wähler denn honoriert werden? Eichel: Erst einmal müssen wir dafür sorgen, dass wir selbst mit unserer verwirrenden Debatte aufhören. Das heißt natürlich nicht, dass die SPD nicht mehr diskutiert. Wenn aber große Teile der Partei nur noch Stichworte für die Opposition liefern, dann können wir keine Wahlen gewinnen. SPIEGEL: Hat die SPD die Kraft, auf Kurs zu bleiben, auch wenn sie eine Wahlniederlage nach der anderen einsteckt? Eichel: Wir werden durchhalten. Ich bin überzeugt, dass unsere Politik vor der nächsten Wahl Erfolg hat und zu einer deutlichen Belebung auch auf dem Arbeitsmarkt beiträgt. Wenn wir nachgäben, Eichel (2. v. l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die Zeit des Durchmogelns ist vorbei“ hieße das doch, dass die Demokratie zwangsläufig in die Staatsverschuldung führt – und dass sie unfähig ist, ein solches Problem zu lösen. Das kann nicht sein. SPIEGEL: Sehr staatsmännisch gedacht. Eichel: Wir haben alle unseren Eid nicht auf das Wohlergehen unserer Parteien geleistet, sondern auf die Verfassung. Die verpflichtet uns dem Gemeinwohl. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Menschen überzeugen können. Eines sagen mir doch alle, denen ich begegne: Endlich spricht es mal einer aus, dass es so nicht weitergehen kann. Nur mit Ehrlichkeit und Verlässlichkeit haben wir eine Chance. Die Zeit des Durchmogelns ist vorbei. SPIEGEL: Zum Thema Ehrlichkeit gehört aber auch, schon heute einzugestehen, dass die Renten auch nach 2001 nicht * Mit Redakteuren Christian Reiermann, Jan Fleischhauer und Ulrich Schäfer in Berlin. 112 d e r aufgegeben, weil der Widerstand so groß war. Eichel: Wir brauchen private Vorsorge. Durch unsere Steuerpolitik schaffen wir gerade bei den unteren Einkommen den Spielraum für private Vorsorge. Für diese Leute wird es wichtig sein, dass sie zur Eigenvorsorge in der Lage sind, damit sie im Alter ein Auskommen haben. Es erscheint sinnvoll, die Eigenvorsorge nicht allein in das Belieben jedes Einzelnen zu stellen. SPIEGEL: Schon einmal ist ein SPD-Finanzminister an der eigenen Partei gescheitert: Karl Schiller wollte 1972 gerade 2,5 Milliarden Mark sparen. Treten auch Sie zurück, wenn Ihr Sparpaket am Ende scheitert? Eichel: Darüber mache ich mir keine Gedanken, weil es zum Sparen keine Alternative gibt. Wir werden unser Ziel gemeinsam erreichen. SPIEGEL: Herr Eichel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft AP VW-Vorsitzender Piëch*: „Das Scharmützel endet zehn zu eins“ KONZERNE Jeder gegen jeden Neue Sitten in Deutschlands Autoindustrie: Die einstige Harmonie ist einem ruppigen Umgangston gewichen. Die neue Strategie der Konzerne, vom Kleinwagen bis zur Nobel-Limousine alles anzubieten, führt zum Verdrängungskampf. D ie kleine Bösartigkeit war Jürgen Schrempp nicht bös genug. Beim Autosalon in Genf hatte eine Zeitung berichtet, der DaimlerChrysler-Vorsitzende habe über VW-Chef Ferdinand Piëch gelästert: Mit dem würde er nicht einmal in den Urlaub fahren. Bei einem Treffen mit DaimlerChryslerManagern korrigierte Schrempp den Spruch. In Wahrheit habe er sich noch deutlicher ausgedrückt: „Mit Herrn Piëch würde ich noch nicht einmal pinkeln gehen.“ Der Umgang unter Deutschlands Autobossen ist ruppig geworden. Die Herren im dunklen Tuch bekämpfen sich wie selten zuvor, verbal und auf den Märkten. Nachdem die Chefs von Mercedes-Benz, BMW und VW jahrelang betonten, sie kämpften vor allem gegen einen gemeinsamen Gegner, die japanischen Herausforderer, hat sich die Schlachtordnung geän* Mit Bentley-Studie am 9. März auf dem Genfer Autosalon. 114 dert. Unter den deutschen Herstellern heißt es jetzt: Jeder gegen jeden. Einem breiten Publikum vorgeführt wird die neue Auseinandersetzung auf der Internationalen Automobilausstellung, die in dieser Woche in Frankfurt beginnt. VW startet seinen Angriff auf die Oberklasse von Mercedes und BMW: Die Wolfsburger präsentieren das Modell eines VW-Luxuswagens mit 10-Zylindermotor, der Ende nächsten Jahres in einer neuen Fabrik in Dresden montiert werden soll, und die Studie eines Bugatti mit 18-Zylindermotor. Der DaimlerChrysler-Konzern führt den Entwurf eines Kompaktwagens („Java“) vor, mit dem Chrysler die Wolfsburger in der Golf-Klasse angreifen soll, in die der Konzern bereits mit der A-Klasse vorgedrungen ist. Zugleich attackieren die Stuttgarter ihren kleinen Nachbarn Porsche mit dem Supersportwagen SLR. BMW drängt ebenfalls in das bislang von VW dominierte Geschäft mit den Kompaktwagen und investiert zehn Milliarden d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Mark in die Fabriken und die Entwicklung neuer Kleinwagen bei der britischen Tochter Rover. Einen Sportwagen, den Z 8, der ins Porsche-Segment drängt, haben die Münchner schon fertig. Vorbei die Zeiten, in denen es unter den deutschen Herstellern eine relativ klare Aufteilung der Märkte gab, VW für die Basis-Motorisierung stand, Mercedes-Benz für das gediegene Dahingleiten, BMW für sportlichere Modelle und Porsche für Sportwagen pur. Nun folgen die deutschen Hersteller einer Strategie, die ihre Chefs herunterbeten wie eine neue Heilslehre: Jeder Konzern, der den weltweiten Verdrängungskampf bestehen wolle, müsse in allen Fahrzeugklassen vertreten sein, vom Mini bis zum Superluxuswagen. Zudem müsse jeder Konzern auch mehrere Marken unter seinem Dach vereinen wie VW mit Audi, Bentley, Bugatti, Lamborghini, Seat und koda oder DaimlerChrysler mit Mercedes-Benz, Chrysler, Dodge, Plymouth, Jeep T. KLINK / ZEITENSPIEGEL DaimlerChrysler-Vorsitzender Schrempp*: „Mit Herrn Piëch würde ich noch nicht einmal pinkeln gehen“ und Smart oder BMW mit Rover, Land Rover, Mini und MG, zu denen ab dem Jahr 2003 noch Rolls-Royce hinzukommt. Doch je näher die Unternehmen der Verwirklichung ihrer Ideale kommen, umso stärker wachsen die Zweifel, ob die Strategie aufgehen kann – zumindest, ob sie für alle drei aufgehen kann. Der Markt wächst nicht so stark, wie die Unterneh* Mit A-Klasse im Werk Rastatt. men neue Kapazitäten für zusätzliche Modelle aufbauen. Der Wettbewerb wird zum Verdrängungskampf, bei dem sich schon mancher heftige Blessuren holte. DaimlerChrysler und BMW mussten ihren Vorstoß ins Massengeschäft bislang teuer bezahlen. Die Stuttgarter erlebten imageschädigende Pannen bei der A-Klasse und dem Smart. Den Münchnern bringt das Geschäft mit Kompaktwagen der Tochter Rover Milliardenverluste ein. Der BMW-Konzern hat durch die Übernahme von Rover die eigene Zukunft aufs Spiel gesetzt. Nachdem die Bayern 2,1 Milliarden Mark für den Kauf von Rover bezahlt hatten, mussten sie bislang Verluste von 3,2 Milliarden Mark hinnehmen und zwei Kapitalerhöhungen von insgesamt 2 Milliarden finanzieren. In diesem Jahr wird die britische Tochter nochmals über 1,8 Milliarden Mark Verlust erwirtschaften, und für das Jahr 2000 Die großen Drei Aktienkurse: 1. Januar 1994 = 100 600 600 500 500 400 400 300 300 200 200 100 100 0 0 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Geschäftsjahr 1998 Umsatz in Milliarden Mark 1994 1995 1996 1997 1998 1999 1994 1995 1996 1997 1998 1999 63,13 257,74 134,24 vor Steuern in Milliarden Mark Jahresergebnis 2,08 15,95 6,29 Beschäftigte 119900 441500 297900 in Millionen Stück Autoabsatz 1,19 4,51 4,75 Umsatzrendite 3,3% 6,2% 4,7% vor Steuern d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 115 Wirtschaft MOTOR-PRESSE-INTERNATIONAL 116 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Wiedeking weiß, dass dies keine Garantie für die Zukunft ist. Aber es macht ihm doch einen Heidenspaß, dass er VW, BMW und sogar DaimlerChrysler in einem Wettbewerb deutlich abgehängt hat, der zumindest bei Shareholder-Value-Fan Schrempp Priorität genießt: bei der Umsatzrendite. Hier ist Porsche mit gut 10 Prozent weltweit führend. Zweiter ist Honda mit 8,3 Prozent. Die Japaner sind zwar deutlich größer als Porsche, aber auch ein Hersteller mit begrenzter Modellpalette. Grundsätzliche Zweifel an ihrer Strategie aber kommen angesichts dieser Rendite-Rangfolge bei DaimlerChrysler (Platz drei), VW (Platz sechs) und BMW (Rang acht) nicht auf. Die Konzernchefs sind überzeugt, dass ihre Unternehmen nur als Anbieter einer kompletten Modellpalette überleben können. Die Fehlschläge sollen nur kurzfristige Rückschläge sein. Jetzt wird erst mal nachgebessert. Den dringendsten Bedarf dabei hat DaimlerChrysler-Chef Schrempp. Die AKlasse ist inzwischen zwar zu einem Erfolgsmodell geworden, von dem in den ersten sieben Monaten 121000 Autos verkauft wurden. Doch beim Smart reißt die Reihe der Pannen nicht ab, und die Zukunft des Kleinwagens bleibt ungewiss. Mit dem französischen Konzern PSA (Peugeot, Citroën) konnte sich DaimlerChrysler bislang nicht darüber einigen, ob Smart die Plattform von Peugeot-Kleinwagen übernimmt und darauf eigene Modellvarianten baut. Die Franzosen wollten die neue Kooperation schon auf der IAA verkünden. Der DaimlerChrysler-Vorstand entschied am vergangenen Mittwoch aber, das Projekt sei noch nicht ausgegoren. Eine andere Neuigkeit dagegen wurde spruchreif: Das Smart-Center in Berlin musste Konkurs anmelden. Für die Kunden soll dies keine Folgen haben, weil DaimlerChrysler den Vertrieb selbst übernimmt. Peinlich aber ist es allemal, und die Konkurrenten werden wieder Stoff für Lästereien haben. Besonderes Vergnügen bereitet dies VWChef Piëch. Lächelnd kommentierte er das Modell des geplanten Mercedes-Maybach mit seinem 12-Zylindermotor: „Das wird sicher nicht reichen.“ Zufrieden zieht der VW-Vorsitzende dagegen Zwischenbilanz beim Vergleich der Verkaufszahlen von Golf und A-Klasse: „Das Scharmützel endet mit zehn zu eins.“ Mercedes-Chef Jürgen Hubbert revanchiert sich und lästert munter über die Luxuspläne von Volkswagen. Das notwendige Image für die Oberklasse könne man „nicht durch den Zukauf von Marken oder eine Vervielfachung der Zylinderzahlen erreichen“. Das Modell eines neuen Bentley kommentierte der DaimlerChrysler-Vorstand mit dem Satz: „Der sieht aus wie ein Breitmaulfrosch.“ Dietmar Hawranek J. SCHICKE / ACTION PRESS erwarten Analysten ein Minus von gut 800 Seit die Pläne von Mercedes-Benz und Millionen Mark. Nur wenn die Marke BMW bekannt sind, Supersportwagen zu BMW in den nächsten Jahren weiter Ge- bauen, schreckt auch Porsche-Vorsitzender winne auf Rekordniveau einfährt, wenn Wendelin Wiedeking nicht vor einer Attacke alle neuen Modelle erfolgreich starten und zurück. Über fusionierte Konzerne wie die Autokonjunktur nicht einbricht, kann DaimlerChrysler sagt Wiedeking: „Wenn der Konzern diese Durststrecke als eigen- Größe das entscheidende Kriterium wäre, ständiger Hersteller durchstehen. müssten die Dinosaurier heute noch leben.“ Der VW-Konzern fährt mit dem Bau ei- Und als BMW-Chef Joachim Milberg 500 nes eigenen Oberklassewagens zwar kei- Millionen Mark Subventionen bei der EU nen derart riskanten Kurs wie BMW. Doch beantragte, um die maroden Rover-Fabriauch die Wolfsburger Pläne bergen große ken zu sanieren, schrieb der PorGefahren. Erfüllen sich die hoch gesteckten sche-Chef gar einen BeschwerAbsatzziele von jährlich 30 000 Oberklas- debrief an die EU-Kommission. seautos der Marke Volkswagen nicht, könnte die für knapp 400 Millionen Mark errichtete Fabrik in Dresden zur Investitionsruine werden. Hat der neue VW für 100 000 bis 180 000 Mark dagegen Erfolg, geht dies sicher nicht nur zu Lasten von Mercedes und BMW, sondern schadet der Konzernmarke Audi. Die Techniker dort brauchten 15 Jahre, um sich in der Oberklasse zu etablieren, und sehen nun BMW Z 8, BMW-Chef Milberg: Riskante Strategie argwöhnisch, wie sie vom eigenen Mutterkonzern unter freundlichen Wiedekings Kalkül ist klar. BMW könnBeschuss genommen werden. te die Rover-Sanierung auch aus den eigeNicht minder riskant ist die von allen nen Gewinnen finanzieren. Wenn die drei deutschen Herstellern geplante Ent- Münchner knapp eine halbe Milliarde Subwicklung von Super-Luxuslimousinen, die ventionen geschenkt bekommen, haben sie zwischen 200 000 und 500 000 Mark kosten zusätzlichen Spielraum für Sportmodelle, sollen. Für den Maybach von Mercedes, die Porsche Konkurrenz machen. die Bentleys und Bugattis von VW und den Bislang ist der Sportwagenbauer, der Rolls-Royce von BMW werden sich unter mangels Masse nicht die gleiche Strategie den Multimillionären dieser Welt ein paar wie DaimlerChrysler, BMW und VW tausend Käufer finden. Doch weil alle drei verfolgen kann, noch am erfolgreichsten. gleichzeitig um diese exklusive Klientel 800 werben, kommt möglicherweise keiner auf ausreichend hohe Verkaufszahlen. Nicht 700 alle werden ihre Milliardeninvestitionen wieder verdienen. 600 Entsprechend angespannt ist die Stim500 STUTTGART mung zwischen den Chefs der deutschen Autokonzerne. Bei den kleinen Seitenhie400 ben auf die Konkurrenten bleibt es längst 300 nicht mehr. Der VW-Vorsitzende gibt deutlich zu verstehen, dass er BMW für einen 200 Übernahmekandidaten hält, und verbreitet 100 öffentlich Beteiligungspläne. Über solche Attacken kann man klagen 0 wie der langjährige BMW-Vorsitzende 1994 1995 1996 1997 1998 1999 und Aufsichtsratschef Eberhard von Kuenheim, der sich im Präsidium des Verbandes Geschäftsjahr 1998/99 Umsatz 5,9* in Milliarden Mark der Automobilindustrie darüber beschwerte, dass die Schläge zunehmend unJahresergebnis 0,6* ter die Gürtellinie gingen. Ändern wird vor Steuern in Milliarden Mark sich daran aber kaum etwas, denn seit die Beschäftigte 8500* deutschen Hersteller in allen Marktsegmenten miteinander konkurrieren, wächst Autoabsatz 40000* der Druck. Da kann selbst der kleinste, in Stück Porsche, nicht ruhig in der Nische verharUmsatzrendite * Zahlen ren und sich des gegenwärtigen Erfolgs 10,2%* geschätzt vor Steuern erfreuen. Werbeseite Werbeseite J. H. DARCHINGER Wirtschaft Veba-Chef Hartmann: Abrupter Strategiewechsel FUSIONEN Geheimer Verkaufsplan Erst fusionieren, dann verkaufen: Die Vorstände von Veba und Viag wollen Unternehmen mit fast 65 Milliarden Mark Umsatz losschlagen. U lrich Hartmann bilanzierte den Stand ganz nüchtern: Die Chancen für die geplante Fusion mit der Viag, erklärte der Veba-Chef seinem Aufsichtsrat am vergangenen Mittwoch in Düsseldorf, „stehen 50 zu 50“. Beide Konzerne hätten alles Notwendige für einen Erfolg des Mega-Deals getan. Nun, so Hartmann, liege es an der bayerischen Landesregierung mit ihrem Chef Edmund Stoiber, ob sie einen Teil ihres 25-prozentigen Viag-Aktienpaketes an die Veba verkaufe und damit ihr Einverständnis zu dem Zusammenschluss gebe. Das Warten auf die Entscheidung des bayerischen Landesfürsten passt dem Veba-Chef und seinem Viag-Kollegen Wilhelm Simson ganz und gar nicht ins Konzept. Denn die beiden 61-jährigen Manager haben mit den einst so behäbigen Mischkonzernen aus Bayern und NordrheinWestfalen ebenso ehrgeizige wie radikale Pläne. Seit gut zwei Wochen liegt in ihren Schubladen ein detailliert ausgearbeiteter Fusionsplan, der nicht nur die beiden Konzerne, sondern die gesamte deutsche Industrielandschaft kräftig durcheinanderwirbeln könnte. Das gut 20 Seiten starke Papier, das die beiden Konzernlenker in einer zweitägigen Marathonverhandlung in einer alten Villa der PreussenElektra an der „Schö118 nen Aussicht“ in Hamburg aushandelten, ist mehr als der simple Plan, die beiden Unternehmen aus München und Düsseldorf zusammenzuschweißen. Im Kern läuft der Fusionsvertrag auf eine der radikalsten Umstrukturierungen hinaus, die zwei Konzerne dieser Größenordnung in Deutschland jemals umgesetzt haben. Der Zusammenschluss, der Viag und Veba mit einem Schlag zum drittgrößten deutschen Industriekonzern und zum größten privaten europäischen Energieversorger katapultiert, soll sich langfristig nämlich auf nur wenige Bereiche beschränken. Lediglich Energie, Chemie und Teile der Telekommunikation sollen künftig noch zu den Kerngeschäftsfeldern gehören und weiter ausgebaut werden. Unzählige Unternehmen und Beteiligungen mit einem Gesamtumsatz von knapp 65 Milliarden Mark – fast die Hälfte des gesamten Konzernumsatzes –, so die Vereinbarung, sollen in den nächsten zwei bis drei Jahren verkauft werden. Was die beiden Manager schaffen wollen, ist ein schlanker, glitzernder Dienstleistungskonzern, der Haushalte und Unternehmen mit allen Basisleistungen wie Strom, Wasser, Gas oder Telefon versorgt. Im Zentrum soll denn auch eine mächtige Stromtochter mit Sitz in München stehen. Sie wird aus der PreussenElektra und den Bayernwerken zusammengeschweißt und Im Kern Energie Kernbereiche und wichtige Verkäufe der Fusionspartner Mitarbeiter: 116 774 Umsatz 1998: 83,7 Milliarden Mark darunter: PreussenElektra ....................15,9 Mitarbeiter: 85 694 Umsatz 1998: 49,1 Milliarden Mark darunter: Energie Bayernwerk .............................11,1 Chemie SKW Trostberg, Goldschmidt ..............................6,6 Veba Oel...................................20,1 Degussa-Hüls ............................9,1 Telekommun ikation, Umwandlung in AG Viag Inte rkom (45%)..................0,4 Gesamtumsätze der Verkäufe 1998 rund 65 Milliarden Mark, darunter: Veba Telecom (E-plus und andere)................3,6 TELEKOMMUNIKATION Verpackung MEMC, USA ...............................1,3 sonstige Industrie Stinnes ...................................26,5 Veba Electronics ......................7,5 Handel, Logistik Silizium d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Schmalbach-Lubeca, Gerresheimer Glas .................5,8 Aluminium VAW ............................................5,8 Klöckner & Co...........................9,5 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft W. M. WEBER Telekommunikation einzusteigen, als Fehlinvestition heraus. Ebenso wie die Bemühungen des bayerischen Kontrahenten, eine Handelssparte aufzubauen oder das schwächelnde Verpackungsgeschäft durch kräftige Zukäufe zu sanieren. Solche Fehlschläge störten die Manager jedoch nur wenig. „Die üppig sprudelnden Monopolgewinne der Stromtöchter“, so ein Viag-Manager, „ließen so manchen Milliardenflop schnell in Vergessenheit geraten.“ Unverdrossen verkündete das Management „das Zeitalter der Konglomerate“. Seit einigen Monaten hat sich das sorgenfreie Leben der Stromversorger geändert. Der gnadenlose Wettbewerb auf dem deutschen Strommarkt lässt Preise und Margen deutlich schneller fallen, als die deutschen Energieunternehmen ursprünglich gedacht hatten. Außerdem versuchen neben unzähligen kleinen Wettbewerbern auch Stromgiganten wie die texanische Enron oder die französischen EDF auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Mit Milliardeninvestitionen, frechen Marketingaktionen und niedrigen Preisen wollen sie den bisherigen Gebietsmonopolisten Kunden, Marktanteile und Kilowattstunden abjagen. Für schwerfällige Gemischtwarenläden wie Viag und Veba, die zusammen nur etwas mehr als ein Drittel der Strommenge des französischen Staatskonzerns absetzen, könnte ein solcher Kampf verheerende Folgen haben. Entsprechend drücken Simson und Hartmann aufs Tempo, verwerfen ihre Konzepte von gestern. Sollten Stoiber und das Kartellamt zustimmen, haben die beiden Konzernchefs einen ehrgeizigen Zeitplan ausgearbeitet. In nur drei bis vier Monaten sollen alle notwendigen Prüfungen und Detailverträge ausgearbeitet sein. Bereits Anfang nächsten Jahres sollen dann die Hauptversammlungen beider Unternehmen über den Fusionsplan abstimmen. Geführt von einer Doppelspitze Hartmann/Simson, so das Ziel, könnte der neue Konzern dann vielleicht schon Mitte 2000 seine Arbeit aufnehmen. Doch der bayerische Ministerpräsident lässt sich bei seiner Entscheidung reichlich Zeit. Angekratzt durch die Affäre um die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft, will sich Stoiber beim Verkauf des ViagAktienpaketes nicht schon wieder mangelnde Sorgfalt vorwerfen lassen. Vor Ende des Monats, ließ Stoiber deshalb vergangene Woche die beiden Manager wissen, sei nicht mit einer Entscheidung zu rechnen. Die Landesregierung prüfe zunächst noch weitere Angebote – im Gespräch sind ausgerechnet die Hauptkonkurrenten RWE und EDF. Dinah Deckstein, Frank Dohmen Viag-Chef Simson: Ehrgeiziger Zeitplan damit den bisherigen Marktführer RWE übertreffen. Daneben wollen Hartmann und Simson nach einer Übergangsfrist von etwa zwei Jahren auch die Chemiesparten beider Konzerne (Degussa-Hüls und SKW Trostberg) zu einem der führenden europäischen Hersteller von Chemieprodukten verschmelzen. Überleben soll in dem neuen Verbund neben der energienahen Veba Oel auch die bisher nicht sonderlich erfolgreiche ViagTelekommunikationstochter Interkom. Sie wird nach derzeitigen Plänen einer strengen Kostenplanung unterworfen und bereits in den nächsten Monaten in eine eigenständige Aktiengesellschaft umgewandelt. Ein späterer Börsengang ist damit nicht ausgeschlossen. Für milliardenschwere Töchter wie die Viag Aluminiumproduktion VAW, die VebaHandels- und Logistiktochter Stinnes, den US-Silizium-Wafer-Hersteller MEMC, die Veba-Elektroniksparte, die Beteiligung an der Mobilfunktochter E-Plus, den Verpackungssektor der Viag oder den Stahlhändler Klöckner & Co. ist in dem fusionierten Konzern kein Platz mehr. Für sie wollen Hartmann und Simson in einem bisher wohl beispiellosen Ausverkauf neue Besitzer finden oder Börsengänge vorbereiten. Nur wenn diese Schlankheitskur gelingt, hatte Hartmann vergangene Woche im kleinen Kreis von Managern erläutert, könne die Fusion auch wirklich zu einem Erfolg werden. Kurswechsel total: Jahrelang hatten beide Unternehmen eine völlig andere Strategie verfolgt. Mit Milliardenaufwand wurden sowohl in Düsseldorf als auch in München unzählige neue Geschäftsfelder aufgebaut und Beteiligungen hinzugekauft. Die vielen unterschiedlichen Sparten, so die Überlegung, sollten die Unternehmen krisenunanfällig machen. Doch viele der als zukunftsträchtig gefeierten Investitionen entpuppten sich schon bald als wenig gewinnträchtig oder gar als milliardenschwere Flops. So stellten sich beispielsweise die Versuche der Veba, mit Milliardenaufwand in die Chip-Herstellung, das Elektronikgeschäft oder in die d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 121 Wirtschaft Mr. Japan.com Fast unbemerkt hat Masayoshi Son, Gründer der Firma Softbank, den größten Internet-Konzern Asiens aufgebaut. Damit ist sein Ehrgeiz noch lange nicht gestillt. D er Einhundert-Millionen-DollarDeal war fix eingefädelt: Bei Pizza und Cola, auf dem Fußboden seines Hotelzimmers im Silicon Valley hockend, bot der freundliche Geschäftsmann aus Tokio den jungen Gründern des damals fast unbekannten amerikanischen Internet-Anbieters Yahoo sein Geld an. Eine Beteiligung von 30 Prozent würde er gern übernehmen. Jerry Yang und David Filo – sie hatten erst wenige Monate zuvor ihr Hochschulstudium beendet – konnten ihr Glück kaum fassen. Sie hielten den Asiaten anfangs für völlig verrückt. Aber da sie dringend Geld brauchten, willigten sie schnell ein. Das war im Frühjahr 1996. Inzwischen ist Yahoo an der Wall Street mehr als 30 Milliarden Dollar wert. Und der risikofreudi- ACTION PRESS INTERNET ge Investor aus Tokio, den im Silicon Valley jetzt niemand mehr für übergeschnappt hält, stieg zu einem der reichsten Männer Japans auf: Masayoshi Son, 42, Gründer und Präsident der japanischen InternetFirma Softbank. Der gewinnträchtige Einstieg in das amerikanische Zukunftsunternehmen Yahoo war für Son nur der Anfang einer langen Einkaufstour. Denn der rastlose Unternehmer, der Milliarden-Geschäfte noch immer am liebsten beim Imbiss oder übers Telefon abwickelt, hat Großes vor: Mit Hilfe des Internet will er das größte Firmenkonglomerat der Welt aufbauen. Sons Vorbild sind Japans einstige „Zaibatsu“ – die riesigen Firmenkolosse wie Mitsui, Mitsubishi oder Sumitomo, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs jeweils noch unter einem Dach vereint waren. Mit seinem „Zaibatsu“ Softbank will Son das Geschäft im Cyberspace beherrschen. Während die Welt vor allem Amerikaner wie Microsoft-Gründer Bill Gates als Helden des digitalen Zeitalters bestaunt, kauft der Außenseiter aus Asien ein bemerkenswertes Imperium von InternetBeteiligungen zusammen – vom Online-Broker bis zum Autohändler. In den USA kontrolliert er über sein Aktienkapital 100 InternetNeugründungen, in Japan 20. Der Boom der Internet-Aktien blähte den Börsenwert seines Vermögens auf rund 20 Milliarden Dollar. Die Cyber-Welt horcht auf: Ausgerechnet von Japan aus, das die digitale Revolution der neunziger Jahre verschlief, will einer das Internet erobern? Haben die Unternehmen des Landes nicht genug damit zu tun, von ihrer langjährigen Krise zu genesen? Und überhaupt: Wer ist Son? Der Mann war schon immer ein Außenseiter, und das erklärt auch, warum er gerade während der Japan-Krise so steil aufstieg. Von den uniformierten Firmenbossen des Landes, die meist von heimischen Elite-Universitäten stammen, unterscheidet sich der schmächtige Mann mit der leisen Stimme schon durch seine Herkunft: Er stammt aus der in Japan diskriminierten koreanischen Minderheit. Seine Familie schlug sich mit Schweinezucht und dem Betrieb von Spielhöllen durch – ehrenwertere Jobs waren Koreanern in Japan häufig verwehrt. Auf dem Schulweg bewarfen Nachbarjungen Son mit Steinen. Schon als Zehnjähriger büffelte der Außenseiter wie besessen: Er Softbank-Gründer Son Als Kind mit Steinen beworfen NYT R. HOLMGREN / TIME MAGAZINE / INTER-TOPICS Wertpapiere handeln, mit der Ladenkette Seven-Eleven Bücher. Schon jetzt beherrscht Son in Japan rund zwei Drittel der OnlineDienstleistungen. Dabei kommt dem Internet-Pionier der radikale Wandel zugute, der das zweitgrößte Industrieland neuerdings erfasst hat: In zehn Jahren, schätzt die Regierung in Tokio, werde das Volumen des elektronischen Handels in Japan auf rund 50 Billionen Yen steigen (845 Milliarden Mark). Vor allem der verkrustete Finanzsektor des Landes zittert vor der Online-Revolution. Denn nach und nach reißt die Regierung bürokratische Schutzmauern um Banken, Broker und Versicherer ein: Der Branche droht ein Preiskampf, den am Ende das Internet entscheiden dürfte. Dort lauert Son bereits mit seinen Finanz-JointVentures in den Startlöchern. Aber noch ist unklar, ob Mr. Japan.com nicht vorzeitig die Puste ausgeht. Denn Son finanziert seine rastlose Online-Shoppingtour vor allem mit riesigen Buchgewinnen, die ihm der Höhenflug der YahooAktie an der Wall Street beschert. Doch die Blase könnte irgendwann platzen, zumal Yahoo 1998 mit seinem eigentlichen Geschäft nur einen relativ mickrigen Gewinn von 25,6 Millionen Dollar einfuhr. Son weiß, dass er mit dem Internet solides Geld verdienen muss. Um die schleppende Verbreitung des neuen Mediums in Japan zu beschleunigen, plant er weitere verwegene Investitionen: Mit der amerikanischen Hightech-Börse Nasdaq will Son in Japan einen neuen Aktienmarkt gründen, der jungen Internet-Firmen den Zugang zum Kapital erleichtern soll. Die träge Tokioter Börse erschwert Jungunternehmern noch immer den Start. Auch eine weitere Hürde für das Internet will Störenfried Son beseitigen: die hohen Telefongebühren, die der Fernmelderiese NTT den Internet-Nutzern abknöpft. Mit Microsoft und dem japanischen Stromversorger Tokyo Electric will er künftig auf eigenen Telefonnetzen Billiggebühren für Netznutzer anbieten. So flink wie im Silicon Valley kann Son in Tokio allerdings nicht die Geschäftskultur aushebeln. Langjährige Beziehungen zählen hier immer noch mehr als kurzfristige Profite. Wohl nicht zufällig hievte Son Söhne prominenter japanischer Unternehmer auf die Chefsessel wichtiger Softbank-Firmen – darunter auch den Spross eines früheren NTT-Bosses. Seine Vorbilder sind mittelalterliche japanische Kriegerfürsten, und seine Strategie reicht weit in die Zukunft: „In 300 Jahren“, sagt er, „wird sich der Umfang meiner Infrastruktur erst so richtig als Stärke erweisen.“ Wieland Wagner Geocities-Chef Bohnett, Yahoo-Gründer Yang: Mit japanischem Risikokapital nach oben wollte den Wunsch seines Vaters erfüllen, rikanischen Geschäftsleuten ein neues „in Japan die Nummer eins zu werden“. Mit Gemeinschaftsunternehmen in Tokio an16 ging er von der Schule ab, um im kali- kündigt. fornischen Berkeley Englisch zu lernen und Vorbei sind die Zeiten, als das Miti – das später die Uni zu besuchen. In den USA mächtige Ministerium für Internationalen legte Son auch seinen japanischen Namen Handel und Industrie – ihn empört aus Yasumoto ab. Aber seinen Ehrgeiz, es den einem Beratergremium warf, weil Son arroganten Japanern zu zeigen, behielt er. die nationalistische Hightech-Politik des Jeden Tag zwang sich der paukwütige Ministeriums kritisierte. Nun ahnt selbst Student, fünf Minuten über Erfindungen Premier Keizo Obuchi, dass Japan nur nach nachzudenken. Das Grübeln half: Son ent- US-Rezepten Anschluss ans Internet finwarf ein Taschen-Übersetzungsgerät, das den kann: Regelmäßig lädt er Son zum er von einem US-Professorenteam ent- Essen ein und lauscht dessen Visionen. wickeln ließ. Mit Yahoo besetzte Son ein sogenanntes Damals probierte der Student erstmals Portal zum Internet, durch das die Netzdas Geschäftsprinzip, mit dem er als Un- Benutzer zu einzelnen Web-Seiten surfen. ternehmer Milliarden verdient: Son schiebt Wie ein Torwächter will Son Internet-Kunneue Projekte an – die Ausführung über- den mit seiner Suchmaschine Yahoo vor lässt er anderen. allem zu eigenen Internet-Firmen lotsen: Das Patent für die Erfindung verkaufte Mit dem US-Riesen Microsoft will er Autos Son für eine Million Dollar an den japani- online verkaufen; mit E*Trade, dem drittschen Elektronikhersteller Sharp. Von dem größten Online-Broker der USA, will er Geld baute er ab 1981 in Japan die Software-Firma Softbank auf, 40 die auch heute noch 70 Prozent 35 Wie entfesselt der Software in Japan vertreibt. Kurs der Softbank-Aktie Seinen ersten großen Vorstoß 30 in tausend Yen ins Ausland wagte Son 1994: Für 25 rund 3,1 Millionen Dollar kaufte 20 er den US-Verlag für Computerzeitschriften Ziff-Davis. Mit der 15 Neuerwerbung wollte er erst den 10 Weltmarkt für solche Magazine 5 erobern. Doch das Internet überschattete bereits die Zukunft ge1995 1996 1997 1998 1999 druckter Medien. Also warf Son sich auf das Internet – und setzte mit Yahoo auf einen der Gewinner. Seitdem wendet der SoftbankChef stets dasselbe Erfolgsrezept Die wichtigsten Beteiligungen an. Früh pumpt er Risikokapital Softbank-Anteil in kleine, aber aussichtsreiche kaYahoo! Internet-Suchmaschinen 26 % lifornische Internet-Neugründungen wie etwa David Bohnetts Yahoo! Japan 51 % Geocities. Dann verfrachtet er E*Trade Online-Wertpapierhandel 27 % die Ideen seiner Partner als Joint E*Trade Japan 58 % Venture nach Japan. So gründete Son schon 1996 E-loan Japan Online-Hypothekenhandel 60 % Yahoo Japan mit einem StartkaGeocities Japan Internet-Club 60 % pital von nur 3,5 Millionen 50 % Dollar – inzwischen ist die Firma Digital Broadcasting TV-/Rundfunk Services Japan an der Börse rund 7,3 Milliarden Dollar wert. Kaum ein Monat Ziff-Davis Computer-Zeitschriften 70 % und -Marketing vergeht, ohne dass Son mit amed e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 123 B. BEHNKE Großbäcker Kamps: Die Prognosen müssen immer schneller korrigiert werden UNTERNEHMER Unschuld verloren Der Düsseldorfer Bäcker Heiner Kamps entwickelt sich zum Liebling der Börsianer. Doch mit dem jüngsten Zukauf bringt er die Branche gegen sich auf. H einer Kamps kann sich noch gut an seine ersten Gehversuche in der Welt der Aktienhändler und Broker erinnern – denn die waren für den Bäckermeister aus Westfalen ziemlich frustrierend. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet“, sagt er, „aber keiner hat meine Story verstanden.“ Immer wieder hörte Kamps das gleiche Argument gegen seine Börsenpläne: Bäckereien seien nun mal kein Wachstumsmarkt und eine „ziemlich verstaubte Branche“, lästerten die Analysten. „Die fanden das komisch“, ärgerte sich Kamps. Das war vor zwei Jahren. Inzwischen ist alles anders. Die einst so skeptischen Analysten loben Kamps, 44, als „Hecht im Karpfenteich“, sie empfehlen seine Bäckeraktie zum Kauf und bescheinigen dem Börsenneuling eine weitsichtige Strategie: „An der Geschichte gibt es keinen Haken“, versichert Jadwiga Bobrowska von der WestLB in Düsseldorf. Vergangene Woche sorgte der Bäcker und Börsenstar wieder für Schlagzeilen: Zum 1. Januar 2000 übernimmt Kamps den Backwarenkonzern Wendeln, der vor allem Supermärkte und Kaufhäuser mit Schnittbrot („Lieken Urkorn“, „Golden Toast“) beliefert. Mit der Übernahme der Firma, die doppelt so viel Umsatz erwirtschaftet wie Kamps, katapultiert sich der Düsseldorfer Aufsteiger mit einem Schlag an die Spitze von Europas Backstuben. 124 Der Deal – Experten rechnen mit einem Kaufpreis von gut einer Milliarde Mark – ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, wie sie sonst nur in der brodelnden Internet-Branche möglich ist. Innerhalb weniger Jahre schaffte Kamps den Sprung vom einfachen Bäcker zum Multimillionär. Nach der Lehrzeit und einigen Wanderjahren als Geselle hatte sich Kamps 1982 selbständig gemacht und eine kleine Bäckerei in Düsseldorf übernommen. Zehn Jahre später war daraus eine Kette mit 21 Filialen und 20 Millionen Mark Umsatz geworden. „Ich war schuldenfrei, und für die meisten Bäcker endet da der Ehrgeiz“, meint der bullige Westfale. Nicht bei Kamps. Er verkaufte seine Filialen an den amerikanischen Lebensmittelkonzern Borden, der damals in Europa Fuß fassen wollte, und baute vier Jahre lang als Manager das Deutschland-Geschäft der Amerikaner aus. Als die US-Firma 1996 das Interesse am deutschen Markt verlor, nutzte Kamps die Chance. Mit Hilfe einer Venture Capital Gesellschaft übernahm er die Backstuben der Amerikaner, zu denen bereits die Ketten „Stefansbäck“, „Nur Hier“ und „Lecker Bäcker“ gehörten. Die weitere Expansion war jedoch nur über die Börse möglich. Als er endlich die Super-Bäcker Kamps 10. Sept. 55,49 60 50 Kamps-Aktie in Euro 40 Erster Börsentag 8. April 1998 30 8,36* 20 Quelle: Datastream 10 1998 1999 *bereinigt um Aktiensplit AM J J A S O N D J F MA M J J A S d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 zaudernden Analysten überzeugt hatte und der Börsengang im April vergangenen Jahres 166 Millionen Mark in die Kassen spülte, entdeckte Kamps die Lust am FirmenShopping. Innerhalb von 15 Monaten kaufte er in Deutschland und Holland neun Bäckereiketten mit insgesamt fast 700 Filialen auf – und mit fast jeder Übernahme kletterte der Kurs der Bäckeraktie höher. Gleichzeitig mussten die Prognosen, die ursprünglich einen Umsatz von einer Milliarde Mark für das Jahr 2002 vorsahen, immer schneller korrigiert werden. Jetzt will Kamps die erste Milliarde schon 1999 erreichen. Allein durch die Übernahme von Wendeln könnte der Umsatz nächstes Jahr auf drei Milliarden Mark steigen. Anders als Brillenkönig Günther Fielmann hatte Kamps bei seinen Beutezügen jedoch nicht die Branche gegen sich aufgebracht. Viele Bäcker sahen in ihm einen der Ihren, der sogar in der Harald-SchmidtShow auftreten durfte. Da Kamps nur bestehende Filialketten in den Ballungszentren aufgekauft hatte, waren für sie keine neuen Konkurrenten aufgetaucht. Ihren Hauptgegner sah die Zunft deshalb nach wie vor in den Supermärkten. Kamps habe sich „bisher sehr sauber hochgearbeitet“, meint etwa Eberhard Groebel, Hauptgeschäftsführer beim Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks. „Am Markt hat sich durch die Strategie von Kamps bislang nichts Wesentliches verändert“, bilanzierte Bayerns Oberbäcker Heinrich Traublinger. Der Grund für so viel Gelassenheit ist klar: Anders als Fielmann hat der Superbäcker die Branche bislang nicht in einen ruinösen Preiskrieg gestürzt. Die Kostenvorteile, die er durch seine Einkaufsmacht bei den Lieferanten erzielte, nutzte er lieber zur Verbesserung der Rendite. In Berlin, wo die Filialketten Thoben und Ostrowski einen erbitterten Kampf führten und die Brötchenpreise bis auf fast zehn Pfennig drückten, hatte Kamps nach der Übernahme der beiden Widersacher den Krieg kurzerhand beendet. „Jetzt herrschen hier wieder geordnete Verhältnisse“, lobte ein Berliner Bäcker. Doch nach dem Kauf des bei den Handwerkern verhassten „Fabrikbäckers“ Wendeln schlägt die Stimmung um. „Damit“, sagt Bäckerfunktionär Traublinger, „hat er seine Unschuld verloren.“ Jetzt, glaubt auch Verbandsgeschäftsführer Groebel, müsse „die Strategie von Kamps völlig neu bewertet werden“. Denn künftig wird das Kamps-Brot auch im Supermarkt verkauft. Der Großbäcker lässt sich von der Kritik nicht beirren. „Das Vorurteil, kleiner Bäcker gleich guter Bäcker, ist doch längst überholt.“ Und „allein vom Mythos des überarbeiteten Selbständigen mit der Ehefrau hinterm Ladentisch“, glaubt der Multimillionär, „kann man auf Dauer schlecht leben“. Klaus-Peter Kerbusk Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends PRO SIEBEN „Das Allerunterste“ Comedy-Star Wigald Boning, 32, über seine „Morning Show“ und den Angelschein T. MÜLLER / AGENTUR FOCUS SPIEGEL: 15 Monate lang haben Sie ausgesetzt. Jetzt planen Sie mit der „Morning Show“ Ihr Comeback. Ist Frühstücksfernsehen nicht weit unter Ihrem Niveau? Boning: Na klar – Frühstücksfernsehen ist das Allerunterste, aber das macht die Aufgabe doch so spannend. SPIEGEL: Haben Sie keine Probleme, so früh aufzustehen? Boning: Nein, ich hatte früher einen Angelschein, und beim Angeln ist man früh wach. Jetzt angel ich zwar nicht mehr, stehe aber immer noch früh auf. Dann habe ich irgendwann die letzten drei Wochen des RTL-Frühstücksfernsehens unter Peter Bartels gesehen. Seitdem komme ich nicht mehr davon los. Boning C H E F R E DA K T E U R E DEUTSCHER FILM Neuer Job für Tornow Weder hip noch erotisch M D er deutsche Film wird im Ausland „praktisch nicht wahrgenommen“, die Branche beschäftigt sich vor allem mit sich selbst und ihren „zahlreichen Profilneurosen“. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Kölner Unternehmensberatung HMR International im Auftrag von Kulturstaatsminister Michael Naumann. Der Umsatz mit dem Export deutscher Kinofilme liegt zur Zeit unter zehn Millionen Mark im Jahr. Abgesehen von dem „einmaligen“ Sonderfall „Lola rennt“, mangele es dem deutschen Film an „Aktualität, Hipness, Erotik oder sonstigen Eigenschaften, die ihn als zeitgemäßes Produkt auszeichnen könnten“. Ähnlich schwach seien auch die Bemühungen der deutschen Filmwirtschaft, im Ausland für die eigenen Erzeugnisse zu werben. So waren Besucher auf einer amerikanischen Fachmesse mit überdimensionierten Gartenzwergen und Weißwürsten begrüßt worden, und beim deutschen Empfang auf dem Festival in Cannes „spielte eine Kapelle südosteuropäisch geprägte Jazzmusik, dazu traten französische Artisten auf“. PROKINO DPA it der früheren „taz“-Chefredakteurin und TV-Moderatorin Georgia Tornow, 51, will der Mainzer Verlag für Wirtschaftsmedien (VFW) das Überleben des kränkelnden Wirtschaftsmagazins „Econy“ sichern. Tornow soll im Januar die Leitung des Blattes übernehmen und in Berlin eine neue Redaktion aufbauen. Einen „weibliTornow chen Blick auf die Wirtschaft“ erhofft sich Verlagsleiter Michael Werner von seiner Neubesetzung, die die Auflage „mittelfristig“ von heute etwas über 20 000 auf 80 000 bis 100 000 Exemplare steigern soll. „Econy“ soll künftig monatlich erscheinen und deutlich mehr Service und Nutzwert bieten. Tornow: „Wenn das geschriebene Wort die Massen erreicht, kann das auch nicht falsch sein.“ VFW hatte das Magazin Anfang des Jahres der Gründerin Gabriele Fischer abgekauft und sieben Monate später ihr und der Redaktion gekündigt. Seitdem lässt der Verlag das Blatt von einer behelfsmäßigen Redaktion erstellen. SPIEGEL: Aber die Boning-Fans liegen doch um diese Uhrzeit alle im Bett – falls es sie überhaupt noch gibt. Boning: Keine Ahnung. Ich kenne sie nicht alle persönlich. Aber man sollte sich nicht nur nach den Lebensgewohnheiten anderer Menschen richten. SPIEGEL: Die Quoten Ihrer ersten Sendungen waren eher mau. Was machen Sie, falls die Sendung in drei Monaten abgesetzt wird? Boning: Dann muss ich wohl wieder das Morgenmagazin von ARD und ZDF sehen. Aber so schlimm sind die Quoten gar nicht – und falls sie tatsächlich schlecht werden sollten, rechnen wir sie uns natürlich schön. So wie alle anderen. Außerdem haben wir schlicht keine Zeit, groß darüber nachzudenken. SPIEGEL: Viele Fernsehmacher setzen zur Zeit auf Comedy. Droht der Overkill? Boning: Den gibt es bereits seit vielen Jahren. Aber ich habe mich diesem Genre schon hingegeben, als es die große Comedy-Welle überhaupt noch nicht gab. Soll ich jetzt etwa umschulen – auf EDV? Franka Potente in „Lola rennt“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 129 Medien JA H R TAU S E N D W E N D E Regionalliga Nordost erlin. Berlin. Berlin. Jetzt auch B die „Berliner Seiten“ der „FAZ“. Jeden Tag sechs druckfrische Großformate über das Leben in der deutschen Hauptstadt – und auch nur dort dem Weltblatt beigelegt. Die kleine Zeitung in der großen Zeitung gibt sich alle Mühe, wie die große Zeitung auszusehen. Von Anfang an tobt der Kampf um den Aufstieg von der Regionalliga Nordost in die Champions League. Auch in der Regionalliga gibt es einen Aufmacher, eine Leitglosse plus täglicher „Chronik“, lange Artikel über „Frauen im Bezirk Tiergarten“ und den Bus der „257er-Linie“, eine Rubrik namens „Termine“, kleine Meldungen, einen Veranstaltungskalender, einen Schluss-Comic (ganz in Schwarzweiß). Täglicher Höhepunkt ist die „WebCam“, die radikal zeitgenössische, irre schnell hingetupfte Draufschau des Metropolen-Flaneurs aufs Geschehen mit exakter Zeit- und Ortsangabe: „18.15 Uhr, Friedrich-Ludwig-JahnSportpark“ hieß es etwa in der Ausgabe vom 9. 9. 99. Und weiter: „Warm und sonnig ist der Spätsommerabend, der im Menschen den Wunsch weckt, sich sportlich zu betätigen.“ 30 Zeilen später schließt die virtuelle Liveübertragung mit einem bedauernswerten Jogger, dem „nichts anderes übrig bleibt, als sich aufzumachen zum nahe gelegenen Volkspark Humboldthain, wo immer so viele Hunde sind“. Einen Tag zuvor hat man uns einen richtigen Schrecken eingejagt: „21.35 Uhr, U-Bahn, Linie 6. Alle starren hin. Alle denken das Gleiche. Ihren Gesichtern ist es anzusehen. Ein Fahrgast, als wäre die Evolution zurückgedreht. Ein Grüner Leguan. Da Grüne Leguane selten die Stadt allein durchstreifen, ist der Besitzer dabei.“ Es sind diese atemberaubende Präzision des Blicks, diese literarische Verdichtung, die den Standard des Berlin-Teils rasch aufs Weltniveau schrauben werden. Viel pralles Metropolenleben wartet noch darauf, in die „Berliner Seiten“ der „FAZ“ gewebcamt zu werden. Wir sind gespannt. Ehrlich. 130 Mit Maus zu Moses W ährend die meisten zur Jahrtausendwende in die Zukunft blicken, schaut die ARD mit einer 13-teiligen Sendereihe auf „2000 Jahre Christentum“ zurück. Das Millenniumsprojekt der ARD wird schon seit drei Jahren im großen Stil geplant. Vom 7. November an geht es jeden Sonntagnachmittag 45 Minuten lang um „Liebe, Intrigen, Verfolgung, Eifersucht und Erlösung“. Die zweitausendjährige Vergangenheit des Christentums soll in einer Mischung aus Dokumentation und nachgestellten Szenen präsentiert werden. Der „mediale Höhepunkt“ der Millenniumsfeierlichkeiten der ARD wird von einem gleichnamigen Buch be- Sat-1-Talkshows: Ricky und Sonja 20 Michelangelos „Erschaffung der Sonne …“ gleitet. Unter „www.2000-Jahre-Christentum.de“ kann man schon jetzt Moses und Co. anklicken. Sechs Millionen Mark kostet diese Reihe, mit der die Geschichte des Christentums wieder „in das Bewusstsein der Menschen“ gerückt werden soll, so der ARD-Redaktionsleiter Ulrich Harbecke. Marktanteile in Prozent 15 10 5 0 23. 8. 30. 8. 31. 8. 1. 9. 2. 9. 3. 9. QUOTEN Nett ist nicht genug W as Ricky Harris, 37, für die Moderation einer Talkshow prädestiniere, meinte der „Evangelische Pressedienst“, werde nicht so recht klar. Den Zuschauern wohl auch nicht: Die Marktanteile der Talkshow „Ricky!“, die sich nach dem Willen des Senders Sat 1 6. 9. 7. 9. 8. 9. durch Nettigkeit von den Brüllshows der Konkurrenz abheben sollte, aber nur durch besondere Einfallslosigkeit und Naivität auffällt, liegen deutlich unter denen von „Sonja“, der Talkshow, die vor „Ricky!“ läuft. Mit der Freundlichkeit ist es bei „Ricky!“ inzwischen auch nicht mehr sehr weit her. Das Freitagsthema dieser Woche: „Lass das – du bist zu fett, um das zu tragen“. PROJEKTE Rheinisches Revival D ie Bonner Republik ging zu Ende, der „Bericht aus Bonn“ nicht. Vorvergangenen Freitag offenbarte WDR-Intendant Fritz Pleitgen seinen verdutzten Verwaltungsräten bei einer Sitzung in Berlin, dass er die Traditionssendung wieder aufleben lassen möchte. Sie soll, als „satirisch-ernste Alternative“ zum neuen „Bericht aus Berlin“, voraussichtlich im Herbst im WDR-Fernsehen starten und „die Lage der Nation aus der Sicht der europäischen Großmächte Rheinland und Westfalen“ beschreiben. Mit diesem Comeback steigt der WDR in den Boom der Polit-Comedys ein. Als Moderatoren plant Pleitgen die nordrhein-westfälischen Kabarettisten Jürgen Becker und Rüdiger Hoffmann ein. Bei Quotenerfolg soll die 30-minütige Wochensendung, deren echtes Vorbild unter Friedrich Nowottny bis zu zwölf Millionen Zuschauer zog, im ersten Programm gezeigt werden. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Fußball Dienstag, 20.15 Uhr, TM 3 Männer sind ja so einfühlend, wenn es um Frauenthemen geht. Zumindest heute Abend: Da werden die Finger der Herren auf der Fernbedienung zu einem Sender finden, auf dem sie vermutlich bisher nur aus Versehen gelandet sind: zum ehemaligen Frauensender TM 3. Mit den Millionen des australischen Medienmoguls Murdoch wird dort die Champions League übertragen: Heute sind die Partien Leverkusen – Lazio Rom und Feyenoord Rotterdam – Dortmund (23.00 Uhr in leicht gekürzter Aufzeichnung) zu sehen. Am morgigen Mittwoch: Bayern – PSV Eindhoven und (23.00 Uhr) Galatasaray Istanbul – Hertha. Nie war Frauenfernsehen so interessant. Keller in „Ein Vater im Alleingang“ seiner Frau und seiner kleinen Tochter getrennt lebt. Doch dann wird sein Kind schwer vergiftet. Dahinter steckt eine Schmuggelaffäre mit Giftgas, das von Marokko nach Deutschland gebracht wird. In dieses miese Geschäft ist auch der BND verwickelt. Manchmal geraten die Dialoge allzu schnoddrig und grüßen die Klischees, aber wie der Held sein Kind rettet, ist äußerst spannend inszeniert. nicht gab – ein realer Scherz humorbegabter Beamter. Warum soll die Komödie hinter solcher Wirklichkeit zurückstehen? In dieser Posse (Buch: Jürgen Pomorin, Regie: Jörg Grünler) geht es hoch her: Der in der Abrechnungsstelle tätige Herr Bienbusch (Harald Juhnke), ein kleines, aber stets korrektes Licht in der AA-Bürokratie, kommt durch allerlei Zufälle einem Spesenbetrug im großen Stil auf die Schliche und lernt, dass Mitmachen bekömmlicher ist als Aufklärung. Der Zuschauer sieht Juhnke lieben, feiern, Champagner trinken und singen. Also: Erst durch Spesen was gewesen. Brandwunden Ein Vater im Alleingang Mittwoch, 20.15 Uhr, Arte Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Schaurig und informativ – diese französische Reportage über den Kampf der Ärzte gegen Verbrennungen. Der Schauspieler Mark Keller firmierte bisher als Mann für hölzerne Härte („Alarm für Cobra 11“) und hölzernen Animateurs-Charme („Sterne des Südens“). In diesem Thriller (Buch: Zsolt Bács, Frank Isenthal, Regie: Diethard Küster) versucht er sich im Fach des sensiblen Helden – nicht ohne Erfolg. Er spielt einen Sportreporter, der von Die Spesenritter Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Im Auswärtigen Amt wurde einst ein Diplomat in den Personalakten geführt, den es gar „Spesenritter“-Darsteller Juhnke mit Margaret Williams Ausschalten Dr. Stefan Frank – Der Arzt, dem die Frauen vertrauen lia Kunz), in sein Leben tritt? Die Frauen vertrauen ihm, aber er auch ihnen? Montag, 20.15 Uhr, RTL … und der Sender RTL, denn die Serie Ibiza ’99 – Gute Zeiten, sexy Zeiten Montag, 22.10 Uhr, RTL II hat sich in all dem Mull, welche die vielen Ärzte-Spiele auf den Zuschauer Doku-Soap nennt sich dieser Blödsinn. herabrieseln lassen, mit guter Quote Da plantscht einem der Kragen. behauptet. Von heute an gibt es 16 neue Folgen mit Dr. Frank und seiner weiblichen Entourage, die den schönen Arzt umtummelt. Auffällig am Auftaktstück „Aus heiterem Himmel“, bei dem es um den plötzlichen Tod von Franks Vater geht, ist das Übermaß an Verdruss und elegischen Posen, das Frank-Darsteller Sigmar Solbach an den Tag legt. Trägt er so schwer am Joch der Serie, oder verzweifelt er, weil nun noch eine Frau, seine vermutliche Halbschwester (Ceci- „Gute Zeiten, sexy Zeiten“-Szene d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Bärbel Schäfer Mittwoch, 15.00 Uhr, RTL „Ihr seid doch wie die Karnickel!“ Der Talk gemahnt den Mann an seine Ursprünge, als er noch der Epoche der Jäger und Rammler angehörte. Die Versuchung – Der Priester und das Mädchen Mittwoch, 20.15 Uhr, Sat 1 Es ist wohl doch wahr, dass der Papst nur deshalb am Zölibat festhält, damit TV-Movies wie dieses – die süße Katja (Muriel Baumeister) führt einen Priesterkandidaten (Johannes Brandrup) in Versuchung – den Zuschauer züchtigen. Denn es geht reichlich rührselig zu in diesem Spiel um verbotene Liebe auf der Nordseeinsel Amrum. 131 Medien S AT I R E „Absolut geschmacklos“ Nach der TV-Klamotte über das Sexualleben von Bundeskanzler Gerhard Schröder wird erregt diskutiert: Was darf Satire und was nicht? Reibereien und Missverständnisse zwischen Politikern und Humor-Arbeitern haben Tradition – seit Adenauers Zeiten. U DPA Kurzum: Mit so viel Wucht ging es zurück Fernsehsendern, sondern anlässlich der nerschöpflich ist der Ideenreichtum der Boulevardpresse, wenn es gilt, ins Sommerloch, dass seit einer Woche eine Musikmesse Popkomm sogar mitten in der dem konkurrierenden Privatfern- Welle der Empörung durchs Land schwappt. Kölner Innenstadt. Damals wurde der rapsehen neue Etiketten anzuhängen. Nach Auf allen Kanälen wird um Antwort auf fol- pende Kanzler mit den Lustklemmen am „Schmuddel-TV“, „Ekel-Fernsehen“ und gende Fragen gerungen: Gilt das Tucholsky- Frauenbusen von 30 000 Zuschauern fre„Krawall-Talk“ heißt das Wort der Stunde Wort „Satire darf alles“ auch für das wür- netisch beklatscht. dige Amt des Bundeskanzlers – und, wenn Auch der zugehörige Song „FKK – Eve„Pfui-TV“. rybody’s free to wear gar nichts“ wurde bePfui ist, wenn der Privatsender RTL 2 in nein, wo fängt Schröders Gürtellinie an? Das Volk, so scheint es, plädiert in der reits 100 000mal verkauft – präsentiert von seiner Erotik-Show „Peep“ eine gepiercte Kanzler-Puppe zeigt, die mit Dildos und Mehrheit für Schonung. Bei einer Umfra- den öffentlich-rechtlichen Sendern HR und Zoten jongliert und nebenbei noch eine ge für die RTL-Sendung „Stern-TV“ WDR, bei denen die morgendliche „GerdFrau erschießt. O-Ton: „Rasier das Ge- („Muss sich Gerhard Schröder das bieten Show“ des Stimmenimitators Elmar Brandt strüpp aus den Achseln … fühl dich sexy, lassen?“) stellten sich 68 Prozent von der Renner ist. 105 000 Anrufern hinter den Kanzler. Un„Da hat das Kanzleramt die ganze Zeit motherfucker.“ Dazu buchstabierte die neue Moderato- entschieden sind noch die Leser von gepennt“, sagt eine RTL-2-Mitarbeiterin, rin Nadja ab del Farrag – berüchtigt unter „Bild“, wo gleich hunderte von Protest- „und jetzt sind wir die Blöden.“ Auch Sendem Pseudonym Naddel – eher harmlose briefen anlandeten. „Lieber ein Kanzler der-Sprecher Conrad Heberling klagt über Fragen vom Teleprompter. „Haben Politi- mit Titten als ein Kanzler ohne Sitten“, die ungerechte Behandlung. „Hier wird mit ker anderen Sex als normale Menschen?“ reimte ein Leser aus Rüsselsheim, ein an- zweierlei Maß gemessen.“ Wohl kaum. Aber sie haben andere Möglichkeiten, sich aufzuregen, wenn sie Sitte und Anstand in Gefahr wähnen. „Mit Erschrecken habe ich die publizistische Entgleisung zur Kenntnis nehmen müssen“, klagte Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye in einem Brief an die Gesellschafter des Fernsehsenders, darunter die CLTUfa und der Bauer-Verlag „Bild“-Schlagzeile („Praline“, „Playboy“), der Professionelle Empörung bisher eher mit gedruckten als gesendeten Brüsten Erfahrungen sam- derer empfahl zackig, der deutschen Moderatorin sumelte. Die Verantwortlichen für „dieses Mach- danesischer Herkunft „die werk“ seien, so Heye, auf die „ethischen Aufenthaltsberechtigung zu und ästhetischen Grenzen ihres Handelns entziehen“. Dabei hat die längst abaufmerksam zu machen“. Die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk prüft geschworen. Anfang der Moderatorin Farrag: „Ich hab nur abgelesen“ sogar, ob sie eine Geldbuße gegen den Sen- Woche fand sie die KanzlerNummer noch lustig, ein paar Tage später Was nutzt es: Nachdem der FKK-Song der verhängen soll. Auch die Fachblätter für Empörung rea- versicherte sie: „Ich hab nur abgelesen.“ Mitte vergangener Woche noch trotzig über die RTL-2-Flure hallte, hat sich Gegierten prompt: „Tittenkanzler im TV“ er- Als hätte das jemand bezweifelt. Auch beim Krawallo-Sender RTL 2 schäftsführer Josef Andorfer mittlerweile regte sich die „B. Z.“ mit Sinn für rhetorische Kontinuität und wähnte gleich eine herrscht völlige Verwirrung. Zwar freut der geballen Kanzler-Power gebeugt und „Peep-Mafia“ am Werk. Auch „Bild“ stieg man sich über die kostenlose Werbung für die Gummipuppen-Gaudi aus dem Probeherzt in den „Riesenkrach zwischen die nächste „Peep“-Show – wundert sich gramm genommen. Dass es sich der BerKanzler und Naddel“ ein und bestückte aber über das Ausmaß des Protests. telsmann-Chef Thomas Middelhoff (der die Seiten ausgiebig mit Bildmaterial aus Schließlich lief das Video mit den „Spitting Gütersloher Medienriese ist an der CLTdem inkriminierten Video. Natürlich nur, Image“-Puppen, die in England gerade ih- Ufa beteiligt) nicht nehmen ließ, sich beim damit sich die „Bild“-Leser eine Meinung rer Deftigkeit wegen heiß geliebt werden, Kanzler persönlich zu entschuldigen und nicht nur ausschnittweise bei anderen die Sendung als „absolut geschmacklos“ bilden können. 132 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 DPA RTL-Comedy „Wie war ich, Doris?“*: Kanzlerproteste noch vor Sendebeginn DPA darf, ist eine der sensibelsten und am schwierigsten zu entscheidenden journalistischen Fragen.“ Bereits lange vor Schröders Amtszeit war das Verhältnis zwischen Politik- und Humorarbeitern von Missverständnissen und Streitereien geprägt. So musste schon der Frohsinn von Konrad Adenauer – trotz rheinischer Abstammung – als begrenzt gelten. In der Faschingsausgabe von 1954 schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ unter ein Foto, das einen fröhlichen Adenauer beim Telefonieren zeigte: „Ein historischer Augenblick: Unser Fotograf konnte CD-Cover der „Gerd-Show“: „Die Leute mögen das“ den Kanzler im Bilde festhalten, zu bezeichnen, brachte die Stimmung bei als er aus Berlin die Nachricht erhielt, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands im RTL 2 vollständig auf den Nullpunkt. Auch den Gesellschaftern ist der Humor Augenblick nicht zu befürchten ist.“ Adenauer war not amused, der CDUvergangen. In einem Brief an Regierungssprecher Heye verwiesen CLT-Ufa-Chef Pressedienst sah gar „eine Verhöhnung der Rolf Schmidt-Holtz und Bauer-Geschäfts- 18 Millionen Deutschen jenseits des Eiserführer Manfred Braun pikiert auf die „pro- nen Vorhangs und persönlich eine unqualigrammliche Freiheit“ des Senders. Zudem fizierte Diffamierung des Bundeskanzlers“. Dünnhäutig reagierte mitunter auch sei der Beitrag als Satire erkennbar gewesen. „Zu entscheiden, wie weit die gehen Schröders direkter Amtsvorgänger Helmut Kohl. Über erfundene Gespräche mit an* Darsteller Anna Momber und Martin Zuhr. deren Staatsoberhäuptern ärgerte sich der d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 anfangs als „Birne“ veräppelte ganz besonders. So ließ der WDR 1985 beim Deutschlandbesuch von US-Präsident Ronald Reagan zwei Stimmenimitatoren Kohl und Reagan im Fernsehen reichlich platt aneinander vorbeireden. Der falsche Reagan berichtete seinem „good friend Helmut“: „I will fly on to West-Berlin, fly over Spandau Prison and greet Rudolf Hess.“ Die Bundesregierung verlangte von der ARD eine offizielle Entschuldigung. Die „angebliche Satire“ habe dem „Ansehen der Bundesrepublik Deutschland geschadet“ und „unseren Gast beleidigt“. Zehn Jahre später handelte sich das WDR-Magazin „Monitor“ mit einem erfundenen Telefonat zwischen Kohl und Jelzin ähnlichen Ärger ein. In dem Dialog aus der Feder des Kabarettisten Thomas Freitag hatte Kohl seinem Saunafreund Jelzin geraten, sich wegen des Tschetschenien-Krieges „etwas einfallen“ zu lassen. Der falsche Kohl: „Das macht keinen guten Eindruck, das mit den vielen Toten in Grosny.“ In einem Brief an den ARD-Vorsitzenden mokierte sich der echte Kanzler nach der Ausstrahlung über den „Tiefpunkt der Geschmacklosigkeit“. Indirekt drohte Kohl gar mit rundfunkrechtlichen Konsequenzen: Um ihren Fortbestand zu rechtfertigen, müsse die ARD, bitte schön, „ihrer 133 Medien Mädels, Möpse, Marktanteile Pfui-TV als Marktlücke: Der Privatkanal RTL 2 pflegt sein Image als Schmuddelsender der Nation. D U. BAATZ / LAIF ie gebräunte Brust freigelegt, den Knopf vom Handy fest im Ohr verankert, sitzt Jürgen Drews auf dem Ledersofa und redet sich um Kopf und Kragen. „Mussolini war ja hochintelligent, aber auch irgendwie total gaga“, sagt der gereifte Schlagersänger („Ein Bett im Kornfeld“) – anschließend verbreitet er sich über das Sexualleben der Silberfische („Die laufen durch ein Häufchen Sperma“) und die Libido des Philosophen Friedrich Schlegel, um bei der Selbsterkenntnis zu landen: „Irgendwie hat mich diese ganze Mallorca-Kacke nach oben gespült.“ Oben ist in diesem Fall das Abendprogramm von RTL 2, der Kanal, der sich mit Sex-Reportagen RTL-2-Show „Strip“*: „Radikale Erotik“ über „Busen, Bizeps, blanke Bodies“ oder „Playboys, Protzer, Par- deutungen. „Am Bora-Bora-Strand fintyhasen“ redlich um ein Image als den sich immer ein paar hilfsbereite Schmuddelsender der Nation müht. Hände, die Körperkontakt suchen.“ Und für den der durch unzählige Auf- Und im Filmarchiv lagert immer noch tritte in mallorquinischen Bierkellern manch gut abgehangener Soft-Porno, gestählte Drews von Oktober an die mit dem sich das Programm gen MitAuszieh-Show „Strip“ moderieren ternacht billig abrunden lässt. wird, in der Tänzer und Kandidaten Für die nahe Zukunft plant RTL 2 nackt durchs Studio turnen. noch ein Magazin namens „Sex for Kein Kanal malträtiert die Ge- fun“ und die Comedy-Sendung „Sexschmacksnerven der Zuschauer so ge- Busters“, für die eine Sitten-Taskforce zielt wie der Kleinsender aus München- in Lodenmänteln durch die Lande Grünwald, an dem neben dem Bauer- streift. „Wenn wir Erotik machen, dann Verlag auch der Filmhändler Herbert machen wir sie radikal“, sagt Tibursky, Kloiber und die CLT-Ufa beteiligt sind. der sich mit Verweis auf die flachen Vergangene Woche erreichte die Ent- Hierarchien im Sender nicht Unterhalrüstung einen neuen Höhepunkt, als tungschef nennen lassen will – „Tittenim Erotikmagazin „Peep“ eine Kanz- onkel“ sei aber okay. lerpuppe mit gepierctem Busen auftrat Während sich die Konkurrenz von und eine Gummifrau penetrierte. Kabel 1 mit schlichten Spielshows wie „Jetzt wird die Naddel-Sendung dem „Glücksrad“ und Klassikern aus Kult“, freut sich Jan Tibursky, der für Leo Kirchs Filmarchiv als familiendie Unterhaltungsprogramme zustän- taugliches Vollprogramm empfiehlt, dig ist. Seit seinem Amtsantritt im Ok- zielt RTL 2 auf die Zuschauer von 14 bis tober letzten Jahres hat sich die Bild- 49, bei denen der Marktanteil inzwischirmpräsenz von allem, was wippt, schen über sechs Prozent liegt. enorm gesteigert. Während der Geschäftsführer des So führte Tibursky einen „erotischen Senders stolz auf die erzielten GewinStadtführer“ ein oder auch die Doku- ne verweist, erklärt Tittenonkel TiburSoap „Ibiza 99 – Gute Zeiten – Sexy sky – der im Nebenberuf an der BerZeiten“, für die urlaubende Twens liner Hochschule der Künste über beim Eincremen und Anbaggern abge- TV-Dramaturgie doziert – den Sparfilmt werden, unterlegt mit einem zwang kurzerhand zum Trash-Faktor Klangteppich aus dicht geknüpften An- und den Sender zur Speerspitze der TV-Avantgarde. „Wir sind unangreif* Schlagersänger Jürgen Drews, Kandidatin, Pro- bar, weil wir uns selbst nicht ernst gramm-Manager Jan Tibursky, Ramona Drews. nehmen.“ Oliver Gehrs 134 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 „Titanic“-Titelbild (4/1993) 40 000 Mark Schmerzensgeld erstritten REX FEATURES kulturellen und gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht“ werden. Dann war es zunächst ruhig an der Witze-Front. Kohl platzte erst wieder der Kragen, als das Männermagazin „Penthouse“ im Januar 1997 eine Karikatur mit seiner splitternackten Ehefrau Hannelore veröffentlichte: Die Kanzlergattin, nur mit Glacéhandschuhen und einer Perlenkette bekleidet, posierte als Kühlerfigur seines Dienstwagens. Das Ehepaar verklagte „Penthouse“ auf 100 000 Mark Schmerzensgeld. Man einigte sich am Ende ebenso außergerichtlich wie diskret. Milder gestimmt war Kohl, als das ostdeutsche Satiremagazin „Eulenspiegel“ ihn 1996 mit der ehemaligen DDR-Dissidentin Bärbel Bohley auf dem Titelbild in Beischlafpose zeigte und fragte: „Kohls Neue – Ist es mehr als Freundschaft?“ Während sich Kohl nicht weiter über die Porno-Posse aufregte, sah die Bürgerrechtlerin durch die Fotomontage ihre Persönlichkeitsrechte verletzt. Sie verklagte die Zeitschrift auf 100 000 Mark Schadensersatz. Der Rechtsstreit endete in einem Vergleich vor dem Landgericht Hamburg: Das Satiremagazin, das sich für die Montage auch eine Rüge des Presserats eingefangen hatte, zahlte 20 000 Mark an Bohley und entschuldigte sich. Bei Satire versteht auch die SPD keinen Spaß. 1993 hatte das Humorblatt „Titanic“ unter der Überschrift „Sehr komisch, Herr Engholm“ auf dem Titelbild Björn Engholms Gesicht in das Foto des toten Uwe Barschel in der Badewanne montiert. Engholm erwies sich als „Mega-Dünnhaut und Hyper-Mimöschen“ („taz“), stoppte per einstweiliger Verfügung den Vertrieb des Heftes und erstritt vor Gericht 40 000 Mark Schmerzensgeld. Die CDU-Oberen seien weitaus souveräner mit satirischen Angriffen – auch un- Spottopfer Thatcher als „Spitting Image“-Puppe: In England heiß geliebt ter die Gürtellinie – umgegangen, glaubt ausgerechnet Alt-Kabarettist Dieter Hildebrandt, wenn auch mit leiser Enttäuschung. „Kohl reagierte einfach irgendwann nicht mehr.“ In Schröders Kanzleramt dagegen säßen „die einzig Unprofessionellen“ in dem multimedialen Spiel um Zoten und Quoten, meint Hildebrandt. Er sei „manchmal neidisch“, wenn er heute sehe, wie manche Comedy-Clowns mit nur kleinen Provokationen „ihre schönen Kampagnen durchziehen“. Dabei dürfe es keinerlei Verbote geben, wie sie etwa in den fünfziger Jahren gefordert worden seien. Nachdem die deutsche Boulevardpresse 1957 die bevorstehende Scheidung des Schahs von Persien und seiner Gattin Soraya genügend durchgekaut hatte, beschwerte sich der iranische Regent beim Auswärtigen Amt. Nach der Trennung drohte er gar mit dem Abbruch aller diplomatischen Beziehungen, weil er seine Familie verunglimpft sah. Eine hastig formulierte Strafrechtsnovelle schlug vor, Journalisten zu bestrafen, die das Privatleben von Staatsoberhäuptern „herabwürdigten“. Am Ende lehnte der Bundestag die „Lex Soraya“ jedoch ab. „Völlig zu Recht“, wie Hildebrandt meint. Natürlich sei es „bedrohlich“ bis „ekelhaft“, dem medialen Niveau-Absturz zusehen zu müssen. „Aber zugelassen muss es sein.“ Wer dürfe sich anmaßen, Grenzen zu ziehen? „Geschmack spielt bei Satire keine Rolle.“ Mit dieser Ansicht aber tut sich der aktuelle Kanzler noch schwer. Schröder hält das Gewerbe mittlerweile für mittelschwer versaut – dabei dürfte er an der Comedy-Welle, die ihn seit Monaten überd e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 rollt, nicht ganz unschuldig sein. Seine Auftritte in der RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, auf der „Wetten, dass … ?“-Couch und in sündhaft teurer Garderobe für die Illustrierte „Gala“ empfanden viele Menschen als unangemessen und vulgär. Möglicherweise hat auch die Realsatire um US-Präsident Clinton und Monica Lewinsky die Humoristen zusätzlich enthemmt und angespornt, die Wirklichkeit zu toppen. Nun will Schröder die Gagschreiber, die er provozierte, möglichst schnell wieder loswerden. Gegen die eher harmlose RTLComedy „Wie war ich, Doris?“ protestierte er noch vor Sendebeginn, und beim Privatradio RTL 104.6 flog der Geschäftsführer, nachdem sich ein Radiomoderator als Roman Herzog ausgegeben und ein Interview mit dem Kanzler geführt hatte. Doch so ohne weiteres will die FunFraktion in den TV- und Hörfunk-Redaktionen die plötzliche Wandlung des Medienkanzlers zum ernsthaften Regierungschef nicht nachvollziehen. Zumal der Kanzler als Objekt der Satire das erhält, was ihm im politischen Tagesgeschäft zunehmend entzogen wird: Zuspruch. Die öffentlich-rechtliche „Gerd-Show“ wird täglich von Millionen Radiohörern verfolgt, eine umfangreiche Fangemeinde versorgt sich im Handel und über das Internet mit CDs und Tour-Terminen. Und im privaten Radio NRW ulkt eine sogenannte Kanzler-WG vor einem Stammpublikum. So wusste denn auch der von seinen Journalistenkollegen vernommene Schröder-Imitator Elmar Brandt auf die Frage nach seinem Schuldgefühl nicht allzu viel zu sagen: „Die Leute mögen das einfach.“ Oliver Gehrs, Olaf Storbeck, Thomas Tuma 135 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien TA L K S H OW S Ins Abseits gestürmt Für einen Rekord-Vertrag über 46 Millionen Mark wechselte der „ran“-Erfinder Reinhold Beckmann vor einem Jahr von Sat 1 zur ARD zurück. Doch die neue Lichtgestalt steht bisher eher im Schatten. Von Thomas Tuma D DPA musste. Er versuchte, seinem alten eutsche TV-Stars sind nicht Arbeitgeber für den neuen die immer leicht erreichbar. Fußball-Bundesliga-Rechte abzuDie Erfolgreichen (Verona jagen. Das wurde Beckmanns erste Feldbusch aufwärts) kontaktiert Niederlage, denn die Bundesliga man ohnehin nur über ihre Manablieb bei Sat 1. ger, Anwälte und PR-Berater. Die Ein bisschen unangenehm war Erfolglosen hocken dagegen allein auch, dass irgendwann durchdrang, zu Hause am Telefon, was man wie viel Beckmann künftig kassiemitunter schnell bereut, weil sie ren werde: rund 46 Millionen Mark einem stundenlang ihr Herz ausfür vier ARD-Jahre, von denen er schütten. allerdings auch die Produktion beUnd dann gibt es noch jene, die zahlen muss. gerade absteigen. Bei denen melNDR-Programmdirektor Jürgen det sich das persönliche SekretariKellermeier lächelte das Geld gern at. Dann meldet sich zwei Tage gar weg: „Allein, dass Beckmann Sat 1 niemand. Dann klingelt es plötzverlässt, ist schon ein Wert an sich“, lich, der Star ist dran und sagt, dass sagte er danach. Er meinte das Meer nichts sagen möchte. Man redet dienecho über den tolldreisten noch eine Weile belangloses Zeug Wechsel, den enormen Werbewert und legt auf. des Neueinkaufs und das Wir-sind„Haben Sie Kinder?“, fragt wieder-wer-Gefühl in der ARD, das Reinhold Beckmann, 43. Lange mit Geld nicht aufzuwiegen sei. spricht er über seine beiden eigeKann man nicht? Aber wann ist ein nen sowie die Wohnqualität verStar sein Geld wert? schiedener Hamburger StadtvierDie Privaten dürfen antworten: tel. Am Ende ist klar, dass er über Wenn er sein Quotensoll erfüllt. nichts anderes sprechen wird. „Ich Beckmann hat keines, erfüllte es hab einfach keinen Bock“, sagt er aber dennoch nicht, seit er Anfang – ohne klarzumachen, ob wenigsdes Jahres mit seiner Talkshow startens das zitiert werden darf. tete. Talkshow? Ja, Talkshow. Und Vor knapp zwei Jahren zeigte er sie heißt natürlich „Beckmann“, sich weitaus gesprächiger. Damals obwohl er das anfangs zu dicke war Beckmann überall präsent, fand, wie er allen Blättern bis hin denn er hatte gerade angekündigt, zum „Weserkurier“ verriet. dass er vom Sportchef-Posten bei Werbung musste sein. Also warb Sat 1 zur ARD wechseln werde. der neue Stürmer-Star. Für BeckDas kam schon deshalb einer mann, für „Beckmann“ und für die Sensation gleich, weil bis dahin Moderator Beckmann*: „Ich hab einfach keinen Bock“ „Guinness-Show der Rekorde“, mit die privaten bei den öffentlichrechtlichen Sendern die Stars ein- und weg- einfühlsame Reportagen zu drehen, bis er der er den ARD-Samstagabend umkremkauften. Beckmann war ein Star, zumin- als Sportchef zum Pay-TV-Kanal Premiere peln sollte. Aus der großen Konkurrenz für Thomas Gottschalk und „Wetten, dass…?“ dest unter Fußballfans, weil er „ran“ er- kam und schließlich bei Sat 1 strandete. Nach 30 Jahren „Sportschau“-Agonie wurde eine kleinlaute Kopie. Vor der vierfunden hatte. Nun könne er „ein Mister ARD werden“, frohlockte der NDR-Inten- kam da einer in Jeansjacke und hatte ein- ten Show am 25. September ist der federfach Spaß an der Fußballshow. Beckmann führende Bayerische Rundfunk leicht nerdant Jobst Plog. In „Bild am Sonntag“ erklärte der Star, versöhnte Beatgeneration mit Südkurve. vös, weil das Format bereits einen schweren er wolle „nicht für immer in der Sport- Und weil der Nickelbrillen-Beau nicht nur Durchhänger hat. Quotenmäßig. Das war schublade bleiben“. Im SPIEGEL ergänzte Günter Netzer, sondern auch Jimi Hendrix Beckmanns zweite Niederlage. Seine montägliche Talkshow dümpelt er: „Ich werde als freier Produzent und Mo- kannte, galt er bald als intellektueller Allesderator für das Erste tätig sein.“ Man er- könner. Die mediale neue Mitte. Beckmann derweil müde vor sich hin. Die Quote sei „stabil“, sagt Kellermeier, was soviel heißt fuhr, dass er Zigaretten schnorrt, Kontakt- war ganz oben, bevor es richtig losging. Dann herrschte ein paar Monate Ruhe, wie: festgefahren zwischen Tiefparterre linsen verabscheut und mal Grün gewählt hat. Das Unübliche eben: Zivildienst, Aus- weil er seine Sat-1-Geschäfte abwickeln und Folterkeller. „Die Reichweite ist befriedigend“, also kaum ausreichend. bildung als Elektro-Techniker, GermanistikDas ist Beckmanns dritte Niederlage, die Studium und Ausputzer bei einem Piraten- * Mit der „Baywatch“-Nixe Carmen Electra in der sein zweiter Redaktionsleiter Boris Starck sender. Beim WDR fing er an, wunderbar- „Guinness-Show der Rekorde“ am 10. April. 138 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien ACTION PRESS gleich anfangs selber zog. Nicht nur, (der erste wurde im März gefeuert) weil Biolek auch um 23 Uhr seine auch mit dem harten KonkurrenzGäste auch einfach so präsentiert. programm zu erklären versucht: Nur am Dienstag statt am Montag. „Der späte Montagabend ist im Leider lockt Biolek deutlich mehr Fernsehen der deutsche SpießbürZuschauer an. Noch so eine Niederger-Abend geworden: In vielen lage. Warum also macht Beckmann Kanälen ist da immer mehr nackte überhaupt eine Talkshow, und warHaut unterwegs.“ um macht er sie so schlecht? Die vierte Niederlage kann auch Weil sie schnell und billig ist und Starck nicht erklären, weil er Beckdamit seine Gage steigt? Möglich. mann hauptberuflich für einen tollen Kleine Quakkelrunden gelten als beTypen hält: „Hier fragt der Falsche“, liebtes Format für selbständige Stars urteilte die „Berliner Zeitung“. Und mit eigener Firma, die ihre Produkdie „Süddeutsche Zeitung“ nannte tion selbst bezahlen müssen. die Rede-Runden „entsetzlich töricht Weil er eitel ist? Vielleicht. Imund vollkommen belanglos“. Ein merhin strich er als „ran“-Chef irSalär von 500 Mark sei völlig „ange- Biolek, Gottschalk: Große Vorbilder gendwann die Show-Treppe, auf der messen“. Wann ist ein Star 46 MilBeckmann fragt ohnehin selten klar. Er er, seine Kollegen Jörg Wontorra oder Jolionen Mark wert? Die ARD muss dann auch antworten: Wenn er ein qualitativ stellt etwas in den Raum, und da steht es hannes B. Kerner in die Studio-Arena einhochwertiges Produkt abliefert. Das Kon- dann herum. Bleiern mitunter. Oft nickt er marschierten, als seien sie die wahren Spiezept von „Beckmann“ ist, dass man keines reflexartig seine Gäste an wie diese lusti- ler-Trainer-Manager-Helden. Das ehrte ihn. gen Dackel, die man sich früher in die Oder glaubt er einfach, alles zu können? hat, erst recht kein neues. Talkshows werden heute von ein paar Heckscheibe stellte. Dazu sagt er: „Mhmh, 1994 versuchte er sich schon mal an einem Designerstühlchen, viel Chrom und einer mhmh“ und schaut zugleich gehetzt wo- Talk-Format, das bei Sat 1 sinnigerweise Sperrholz-Kulisse zusammengehalten, die anders hin. Auf die Uhr? Den Aufnahme- „No Sports“ genannt wurde. Ganz so, als aussieht wie Backstein, weil das wie leiter? Ein Schafott? Man weiß es nicht so müsste man Beckmann selbst über Bande schicke Maloche wirkt. Dazu gibt es ein genau, doch solche Bilder kann auch der als Sportsmann definieren. „No Sports“ Publikum, das bereits klatscht, wenn das netteste Kameramann nicht verhindern, wurde nach wenigen Folgen eingestellt. „Wir haben ihn nicht als Zauberer einModel Tatjana Patitz von den 23 Haustie- wenn sie sich häufen. Beckmann scheint sich nicht für seine gekauft“, sagt sein Chef Kellermeier nun. ren in ihrer Malibu-Villa erzählt. Garniert wird der Prominenten-Auflauf Gesprächspartner zu interessieren. Selbst Man müsse sich „darauf konzentrieren, seimit Einblendungen der Sorte: „Tatjana Pa- wenn er lachen will, kommt mitunter nur ne Formate weiter zu optimieren“ – und titz: Im Kaufhaus entdeckt“. Später kommt unsicher-abwesendes Gegacker aus ihm neue zu suchen. In Zukunft soll Beckmann noch: „Tatjana Patitz: 35 000 Mark Tages- heraus. Er hibbelt auf der Stuhlkante her- auch Olympia garnieren oder Fußball: den gage“. Und dann: „Tatjana Patitz: Keine um, chronisch bereit, seinem Gast kum- DFB-Pokal etwa oder Länderspiele. Der Angst vor Falten“. Neben ihr saßen das pelhaft auf die Hand, das Knie oder den ganz große Fußball gehört anderen: Sat 1 Sehr-Ex-Bond-Girl Ursula Andress und der Oberschenkel zu patschen. Aufzublühen hat die Bundesliga. Der kleine SpartenkaModelagentur-Chef Horst-Dieter Esch. Es scheint er erst, wenn er sein klatschendes nal TM 3 kaufte sich mit Hilfe des großen ging nicht ums Thema „Schönheit“, son- Publikum überbrüllen darf wie eine joh- Rupert Murdoch die Champions League. Die ARD kauft auch: Günter Netzer dern um „Meinen amerikanischen Traum“. lende Fan-Meute. Dann badet er in einer Bislang hing die Show an gedanklichen nicht mehr existierenden La-Ola-Welle der unterschrieb einen Vertrag, der ihm über Klammern, die „Erfolg“, „Glück“ oder Begeisterung – als Mischung aus Kaffee- eine Million Mark verspricht, wenn er von „Starke Frauen“ hießen. Man wartet noch fahrt-Einpeitscher, Profi-Fußballer und Alt- Zeit zu Zeit ein Spiel der Nationalelf besucht. Die ganz Schlauen rechneten vor, er auf Themen wie „Starke Männer“, „Glück Pfadfinder. Man kann Beckmann in Grund und Bo- bekäme pro Auftritt 100 000 Mark. Ist & Erfolg“ oder auch „Gott & die Welt“. Gott kam übrigens noch nicht. Die Re- den analysieren wie der früher die Vierer- Beckmann womöglich schon wieder unterdaktion hat sich sicher bemüht. Ist aber ketten bei den Verlierer-Mannschaften. bezahlt? Irgendetwas ist furchtbar schief gelaufen auch egal. Beckmann würde sich wahr- Und oft fällt einem dabei Alfred Biolek scheinlich zu ihm rüberbeugen und rau- ein. Nicht nur, weil Beckmann den Ver- in den letzten Monaten, wenn man sich in der „Beckmann“-Redaktion bereits nen: „Mööönsch, sehen Sie gut aus in über Verrisse freut, weil die wenigsIhrem Alter!“, „Wie issen das so als Gott. Talk im Ersten Marktanteile in Prozent tens bewiesen, dass der vermeintWann muss man da morgens aufstehen?“ liche „Mister ARD“ überhaupt Oder: „Haben Sie Kinder?“ 24 wahrgenommen wird. Der neue ARD-Gott ist mitunter schlecht Die neue Lichtgestalt ist noch präpariert – auch bei Gast-Göttern. Bei 22 keine. Der Stürmer ist ins Abseits Göttinnen wirkt sein burschikoser Holzgerannt, was auch an der ARD oder hacker-Charme endgültig, als hätte sich ein 20 an der Redaktion liegen könnte. Er Ballermann-Urlauber zu den Bayreuther 18 vom 22.6. bis 31.8. Wiederwürde das sicher viel präziser erFestspielen verirrt – und zwar nicht ins zahholungen 16,1 16 klären, zumindest sucht er nach lende Publikum, sondern auf die Bühne. Antworten. Frau Andress überfiel Beckmann mit der 14 Vergangene Woche hatte er Frage, wie sie zu plastischer Chirurgie ste12,8 Franz Beckenbauer zu Gast, den er he. Sie saß schon, glücklicherweise. Und 12 fragte: „Wie issen das, wenn man zur Schauspielerin Nadja Tiller, damals 69, ständig hört: Lichtgestalt?“ Der Kaisagte der Gastgeber: „Frau Tiller wird 70 10 ser antwortete: „Man hört nicht Jahre! Sieht sie nicht zauberhaft aus?“ So 8 Quelle: AGS/GfK hin.“ Beckmann lächelte. Abwebeleidigend kann nett gemeinte Servilität Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. send. ™ daherkommen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 141 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien T V- S E R I E N Adieu, du linkes Lügenmärchen Protokoll eines Entzugsversuchs nach 14 Jahren „Lindenstraße“. Von Nikolaus von Festenberg P. BISCHOFF Der Therapeut nickt. Und er beglückwünscht meine Freunde und auch mich. Der Moment, den schweren Entzug anzutreten, sei gut gewählt. Ein ehemaliger Herstellungsleiter habe öffentlich den Qualitätsverlust beklagt. Außerdem sinke die Quote. Solche Meldungen seien gut für unsere Motivation. Das Einzige, was stört, ist der Rollkragenpullover, den unser Gruppenbetreuer trägt: Er erinnert an den fiesen Mann von Mutter Beimer, an Erich Schiller, diese irische Natter, die lügt und betrügt … die „Lindenstraßen“-Sucht meldet sich. Der Therapeut drückt auf das Tonband, und schon erklingt die Erkennungsmelodie der Serie. Wir fassen uns an den Händen. Wir widerstehen wie Odysseus den Sirenenklängen.Wir wollen die Serie abschütteln. Wir wollen Kulturmenschen auch am Sonntagabend werden, wir wollen Sloterdijk lesen oder nur noch „ML Mona Lisa“ im ZDF angucken und darauf achten, wie sich echte Betroffenheit anfühlt. Der Therapeut teilt Filzstift und Papier aus. Jeder soll still für sich aufschreiben, was sich in ihm an „Lindenstraßen“-Frust angesammelt hat. Der Blick schweift durchs Fenster in den Spätsommer. Dann kratzt der Stift übers Papier. „Altlinke Verlogenheit“ steht da, dreimal dick unterstrichen. Da tut sich die Geissendörfer-Truppe Folge für Folge dicke mit ihrer „Lindenstraße“-Ensemble*: Fränkische Humorlosigkeit Toleranz und Ausländerfreundlichkeit. Aber wie sich an Mary, der err, es ist Zeit, time to say goodbye. Nach anderthalb Jahr- schwarzen Frau des Griechenwirts, zeigt, wird man als Fremder zehnten nie wieder „Lindenstraße“ – noch ist es nicht be- erst dann zum Vollwertmitglied im Geissendörfer-Kosmos erhoschlossen, aber nach den jüngsten Querelen ist das er- ben, wenn man richtig politisiert ist: Mary hat begriffen, dass es schütternde Finale durchaus vorstellbar geworden. Ein letzter des Ausländers erste Bürgerpflicht ist, Sammelaktionen gegen Walzer mit Mutter Beimer, im Lokal „Casarotti“ auf die blüten- politische Unterdrückung zu veranstalten. Die Türkenabteilung der Lindenstraße hat diesen Eindeutweiße Tischwäsche gekotzt und Harry Rowohlt, der in der Serie den Penner gibt, weil Hans W. Geissendörfer altlinke Antiquitä- schungkurs noch vor sich. Da gibt es noch immer ein lächerliches ten liebt, in die bärtige Gesichtshecke gebrüllt: Wir gucken nicht Familienoberhaupt, das den Siegeszug der westeuropäischen Liemehr Linde, wir lesen lieber „Pu der Bär“ im Original, überprü- besheirat nicht verstehen will und auf Vernunftehe besteht. Solcher Modernisierungswiderfen deine Übersetzungen oder schalten sonntags, 18.40 stand wird in Geissendörfers Uhr, auf Arte. Hast du verstanden: Aarrttee! Welt verfolgt. Ausländer dürfen Entzug nach 14 Jahren – wie soll man das normaanders sein, aber bitte nicht so. len Menschen nur erklären? Ihr, die es nie saht, wie Mit den Italienern – wie unkönnt ihr’s begreifen? 719 Sonntage am Cliffhanger gelogisch, wie inkonsequent – hat hangen, Kampagnen durchgestanden wider Atomdie Serie ihren faulen Erziestrom, wider den Autoverkehr, wider Ausländerhungsfrieden gemacht: Sie dürfeindlichkeit. Fremde Ehen scheitern sehen, mit den fen Mamma mia sagen, Frauen Betrogenen gelitten, Kinder verloren, den Sex der betrügen, krumme Dinger drespäten Jahre observiert – wer davon los will, muss leihen, vor der Mafia kuschen – vor den wie ein Junkie, der Abschied nimmt von seiner Droge. dem Toskana-Land hat selbst das Also nichts mit Herr-es-ist-Zeit-Pathos. Stattdessen linke Oberlehrertum Respekt. die psychologische Betreuung in einer TherapiegrupDer Zorneskamm schwillt, pe, in der „Lindenstraßen“-Abhängige im Kreis sitzen. das Papier füllt sich. Die „Lin„Ich heiße Beimer, äh, nein Anke, und gucke seit denstraße“ – zeigt sie nicht das 14 Jahren.“ Die Patientin ist erst 30 und war 16, als 68er-Denken in seiner regreMutter und Hans Beimer noch ein Paar waren. diertesten und verstocktesten Anke sagt, sie wolle los. Ihr Freund verstehe ihre Form, bloß nichts dazulernen? Abhängigkeit nicht. Und der kleine Sohn solle sich Nie etwas von moderner Famispäter in der globalen Gesellschaft zurechtfinden und lienforschung zur Kenntnis nehohne dieses verstaubte Alt-68er-Denken auskommen. mend, presst Geissendörfer die Anders werde aus ihm nie ein rechter Global Player. Kinder der Serie nach seinem Bilde, als seien sie wie er Pfarrerskinder, geformt durch stren* Oben: mit Annemarie Wendl, Hans W. Geissendörfer, Marie-Luise Marjan, Joachim Hermann Luger; unten: mit Harry Rowohlt, Ute Mora. Serienszene*: Altlinke Antiquität ge Väter, bedrängt durch ÖdiD. KRÜGER / WDR H 146 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 WDR puskomplexe. Als sei Kampf um lend? Ein typischer linker SchiFreiheit das Einzige, was das zo, der lange Zeit im Jahr nicht Verhältnis zwischen den Jungen gerade als Armer im Ausland und den Alten prägt. lebt und Deutschland auf die soUnd dann – der Filzstift fliegt zialen Finger sieht? Dazu diese – diese penetrante Abwesenheit fränkische Humorlosigkeit, die der Medien in der „Lindenstraden Segnungen der aufgeklärten ße“. Was kann denn der ZuMediengesellschaft – Ironie und schauer dafür, dass die SerienFun – den Zugang zur „Lindenschreiber es dramaturgisch nicht straße“ nur selten erlaubt. schaffen, eine Zentralmacht im So stand es alles auf dem PaLeben der Menschen zu zeigen: pier. Mächtig, teutonisch schwer, das Fernsehen. Das Irrealste an würdig für Medientage der dieser TV-Weekly ist doch, dass Evangelischen Akademie zu die Menschen nicht vor der Serienpaar Schiller, Mutter Beimer*: Glücklich im Gestern Tutzing. Der Therapeut begann Glotze hängen, sondern im Griedamit, die Klageliste Punkt für chenlokal Beziehungsgespräche führen und in Wohnküchen bei- Punkt mit uns durchzuarbeiten. Als Ersatzdroge erlaubte er für einander hocken, als gäbe es keine Erosion alles Sozialen. gewisse Zeit „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Je mehr sich der Ausstiegsbereite seine Gedanken macht, desWir haben dann noch Arte sehen geübt. Ein Stück weit gelernt, to schwankender werden Gewissheiten. Wie stolz ist die Beimer- wie interessant es sein kann, wenn man auch mal nicht versteht, Truppe auf ihren Spießerlook, die Trutschigkeit als linke Demo wi- was man sieht. Überhaupt, so begriffen wir, hinge die Optik viel der den Konsumismus. Sofabesitzer, Trachtenträger (alte Kling, zu sehr an der Vordergründigkeit des bloß Sichtbaren. Die eijunger Kling), Boxershorts-Träger (der ölige Taxler Andy Zenker), gentliche Entdeckung der Moderne sei der Schock, der Riss in der Wallewalle-Gewand-Geschädigte (die Eso-Arztgattin Tanja) – ver- Realität. Zum Abschied gab es Walter Benjamin und Niklas Luheinigt euch. Wider die Markenklamottenträger von „Gute Zeiten, mann und eine Bach-Platte von Glenn Gould. schlechte Zeiten“ auf RTL. Wir, suggeriert die GeissendörferDoch dann kam wieder einer jeder Sonntage, an denen der Truppe, sind glücklich im Gestern. zweite Whisky nicht hielt, was der erste versprochen hatte. Die Stärkstes Argument für die Entziehungswilligen aber ist der Va- „Zeit“ war ausgelesen, Benjamin – Ursprung des deutschen Trauter der Serie. Gehört dieser Strickmützenträger nicht zum Unan- erspiels – umnebelte die Stirn. genehmsten, was 68 hervorgebracht hat? Den Vatermord predigend Der Rückfall war unvermeidlich – und er war herrlich: Schiller, und sich den eigenen Leuten gegenüber wie ein Pascha aufspie- die falsche Socke, wurde enttarnt. Die blöde Taube Beimer hatte es endlich gerafft. Der Cliffhanger ragte herrlich schroff. Nein, so * Bill Mockridge, Marie-Luise Marjan. einfach lassen sich 14 Jahre auf Linde-Droge nicht abschütteln. ™ Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene MODE Spaß beim Hausputz D FREIZEIT Kommunizierende Klamotten Schweigestunde für Büromenschen oderne Menschen verzichten auch beim Waldspaziergang ungern auf ihre elektronische Ausrüstung. Das schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein: Beim Bücken nach einem Steinpilz fällt schon mal das Handy ins Laub, oder die Videokamera rutscht von der Schulter. Der holländische Elektrokonzern Philips will das Problem jetzt gelöst haben – durch Integration sämtlicher Gerätschaften. Sollten Fashion-Designer auf Philips „Wearable Electronics“ anspringen, gibt es zur Jahrtausendwende Windjacken mit eingebauten Kameras, Handys oder Mikrofonen, teilweise aus elektronisch empfänglichem Stoff. Zielgruppe der Millenniums-Montur: Sportler, GeschäftsElektro-Jacke leute, Jugendliche. Einen Nachteil allerdings haben die kommunizierenden Klamotten: Je mehr Elektronik, desto besser die Kontrolle. Trägt der Sprössling einen Anorak mit integrierter Kamera und Positionierungssystem, können die Eltern zu Hause jeden seiner Schritte überwachen. Die Hamburger Gondoliera Ina Mierig, 32, über venezianisch gesinnte Hanseaten SPIEGEL: Frau Mierig, Sie haben in Hamburg die erste Saison als Gondoliera hinter sich. Sind die Hamburger begeisterte Gondelgäste geworden? Mierig: Die Idee ist enorm gut angekommen, die Erwartungen der Gäste sind allerdings manchmal erstaunlich. SPIEGEL: Nämlich? Mierig: Die Passagiere haben sehr präzi- se Vorstellungen, was zu einer Gondelfahrt gehört. Häufig wird verlangt, dass ich singe. In Venedig würde niemand auf die Idee kommen, das Singen einzufordern oder mir Seemannskleidung oder eine andere Ruderhaltung zu empfehlen. Dieser Hang zum Verbessern ist offenbar eine deutsche Eigenart. SPIEGEL: Was wünschen Sie sich von Ihren Gästen? Mierig: Dass sie die erholsame Stille genießen. Die meisten Leute staunen, wie ruhig es in der Mitte der Stadt sein kann. SPIEGEL: Sie möchten gehetzten Büromenschen eine Schweigestunde bieten? Mierig: Das wäre mir am liebsten. Ich will jedenfalls kein StadtrundfahrtEntertainer sein, der Klatsch erzählt oder Auskunft darüber gibt, in welcher Alster-Villa welcher Prominente wohnt. Am Anfang scheinen die meisten Gäste auf solche Auskünfte zu warten, später entspannen sie sich, lauschen auf die Geräusche und werden ruhig. Leider oft erst am Ende der einstündigen Fahrt. Viele wissen wirklich gar nicht, wie sie es anstellen sollen, sich zu entspannen. S. EICHEL M ELEKTRONIK A. SIEBMANN ie Hausarbeit ist trotz Feminismus überwiegend Sache der Frau geblieben – mindestens dort, wo das Geld für eine Haushälterin nicht reicht. Weiblichen Heimarbeitern, die kein Heimchen am Herd sein möchten und darum auf Schick Wert legen, bietet die Modebranche jetzt perfekt sitzende Staub abwehrende Kopftücher und sexy Putzwestchen, mit denen man nach der Arbeit sogar noch flanieren kann. Schon der Uralt-Ratgeber „Household Engineering“ (1915) empfiehlt Frauen, sich beim Hausputz schick anzuziehen, „denn hübsche Kleidung wirkt sich auf unsere Selbstachtung aus“. Weitere Ratschläge von Frauen für Frauen enthält Margaret Horsfields neues Buch über die „Freuden der Hausarbeit“ („Der letzte Dreck“, Rütten & Loening). Horsfield kommt zu dem Schluss, dass es zwei Typen Hausfrauen gibt: Schrubberinnen und Pfuscherinnen. Beide, weiß die Autorin am Ende ihrer unterhaltsamen und informativen Kulturgeschichte des Saubermachens, handeln noch heute „unlogisch wie eh und je“. Es gilt also für die Schlampe und den Putzteufel gleichermaßen: Zieht euch hübsch an dabei, dann habt ihr wenigstens Spaß! Buchcover, Kittelkleid von Vivienne Westwood Mierig, Gondelgäste d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 149 x x x Seherinnen Ney, Hiber, Guttmann (x): „Es ist schmerzhaft zu sehen, wie der Teufel in Deutschland sein Spiel gewinnt“ RELIGION Die Jungfrau von Marpingen Weil drei Frauen behaupten, ihnen erscheine die Jungfrau Maria, pilgern Gläubige aus aller Welt ins Saarland. Doch inzwischen wächst den Seherinnen der Rummel über den Kopf. Von Bruno Schrep 150 d e r s p i e g e l Schelle.Es wird ganz still. Jemand flüstert: der Menge, fühlt sich offenbar unsicher. „Sie ist da.“ Aus der Ferne kräht ein Hahn. Ab und zu errötet sie. Die meisten kennen die Frauen nur unDie drei Frauen, die jetzt von rund 5000 erwartungsvollen Menschen umringt wer- ter ihren Vornamen. Marion, Judith und den, sind leicht zu unterscheiden. Die Christine werden von den Pilgern als Aus30-jährige Marion Guttmann aus Neunkir- erwählte verehrt: Die drei behaupten, ihchen wirkt feenhaft zart, fast zerbrechlich. nen erscheine die Jungfrau Maria. „Ich sehe sie dreidimensional vor mir“, Sie trägt einen hell geblümten Rock und eine lila Bluse, hat die Hände vor der Brust verkündet Guttmann, „richtig als Person.“ gefaltet und lächelt entrückt. Sie scheint Maria habe wunderschöne schwarze Haare und himmelblaue Augen. Sie trage ein ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. schlichtes weißes Gewand „und eiDie stämmige große Frau nenen Schleier, wo durchsichtig ist“. ben ihr, die 35-jährige Judith Hi- Gressung Oft sei auch das Jesuskind mit ber aus Hierscheid, bewegt sich dabei, ebenfalls ganz in Weiß, dagegen schwerfällig, kämpft mit dazu kämen noch verschiedene ihrer Fülle. Sie spricht konzenEngel, unter anderem Raphael, triert in ein Diktiergerät. Michael und Gabriel, ein paar Christine Ney, die Dritte, hüpft Heilige sowie eine weiße Taube, von einem Bein aufs andere. Die die leuchtend über allem schwebe. 24-Jährige aus Ensdorf, klein und Christine Ney will die Jungfrau untersetzt, beobachtet hinter ihrer zwar nur undeutlich wahrnehmen, Brille nervös die Reaktionen in E. GREIN M arpingen im Saarland, an einem heißen Spätsommersonntag im September. Seit dem Vormittag pilgern Katholiken aus nah und fern zur Marienkapelle im Härtelwald. Alte und Junge. Gesunde und Kranke. Deutsche und Ausländer. Sie kraxeln den steilen Waldweg hinunter, vorbei an zahlreichen Absperrungen, kampieren zwischen Bäumen oder auf einer mit Maulwurfshügeln übersäten Wiese. Die meisten haben Klappstühle dabei, einige sind mit Kissen und Decken ausgerüstet. Ein paar Frauen halten kindergroße Madonnenfiguren im Arm. Zwischendrin werden Buttons, T-Shirts und dicke Kerzen verkauft, dazu noch Postkarten mit Bildern der Jungfrau Maria. Auf denen steht: „Ich bin die Unbefleckt Empfangene“. Am Nachmittag kramen viele ihren Fotoapparat hervor. Um 17.10 Uhr ertönt eine 3 7 / 1 9 9 9 Gesellschaft FOTOS: W. BAUER wie ein fernes verschwommenes Bild, dafür umso besser ihre Stimme hören. Judith Hiber sieht nichts, hört aber angeblich ebenfalls. Damit viele Gläubige dabei sein können, werden die Erscheinungen jeweils rechtzeitig angekündigt. Offenbar mit Rücksicht auf Arbeitnehmer erscheint die Jungfrau vorzugsweise an Wochenenden. Die himmlischen Botschaften werden mit Hilfe moderner Technik übermittelt. Die drei Frauen sprechen Marias Worte abwechselnd auf einen kleinen Kassettenrecorder nach, der anschließend über Lautsprecher abgespielt wird. Was die Jungfrau diesmal mitzuteilen hat, immer wieder unterbrochen vom schrillen Schreien eines kranken Kindes, lässt viele Pilger erschauern. „Wacht endlich auf“, tönt es in saarländischem Dialekt aus dem Lautsprecher, „betet, betet und bekehrt euch.“ Und: „Es ist schmerzhaft zu sehen, wie der Teufel in Deutschland sein Spiel gewinnt.“ Um diesen Sieg zu verhindern, müssten die Menschen mehr beichten, mehr Rosenkränze beten, treu zum Papst stehen, endlich aufhören, ungeborene Kinder zu töten. „Nehmt die Gnadenflut an“, beschwört die Stimme, „ich werde alles lenken.“ Viele Gläubige weinen, einige fallen einfach um. Vergebens versuchen Rettungssanitäter, sich zu den Ohnmächtigen durchzukämpfen, niemand will seinen Platz räumen. „Es ist nicht im Sinne der Gottesmutter“, mahnt Judith über Mikrofon, „dass Kranke nicht rauskommen.“ Zehnmal schon zelebrierten die Frauen bis zu diesem Sonntag öffentlich ihre Visionen, über hunderttausend reisten bereits ihretwegen ins Saarland. Busse aus Belgien, Holland und Österreich verstopfen die Straßen – eine schwere Herausforderung für die katholische Amtskirche, deren offizielle Gottesdienste oft vor leeren Bänken gefeiert werden. Für den Marpinger Ortspfarrer Leo Hoffmann war die Aufregung zu groß. Der Geistliche, der es wagte, die Erscheinungen anzuzweifeln, wurde darob übel angefeindet. Jetzt liegt er im Krankenhaus. Der Trierer Bischof Hermann Josef Spital wollte die Sache aussitzen. Um in diesen glaubensarmen Zeiten weder die Anhänger der kindlichen Marienfrömmigkeit noch die Zweifler zu vergrätzen, entschloss er sich erst nach langem Zögern zum Eingreifen. Er untersagte schließlich allen Priestern, von „Seherinnen“ oder „Erscheinungen“ zu sprechen, kündigte aber eine sorgfältige Prüfung der Phänomene an. Deren Ausgang steht für die Pilger, dar- Hause fahren will. Als andere Gläubige sie unter zahlreiche Priester, längst fest. zurückdrängen, auf die Verbotstafeln hin„Natürlich sind die Erscheinungen echt“, weisen, ziehen sie sich ebenfalls ihren Zorn schwört der Badener Konrad Blatter, der zu. „Ihr betet dem Herrgott die Zehen ab“, mit Gläubigen aus dem Schwarzwald ange- schleudert ihnen die Pilgerin entgegen, reist ist und ein großes, schweres Wegkreuz „und habt selbst den Teufel im Leib.“ mitschleppt, das er keine Sekunde loslässt. Viele sind jedoch zu schwach, um sich Schon um vier Uhr früh sind die Pilger in aufzuregen: Behinderte und SchwerstFreiburg losgefahren, zur Morgenmesse wa- kranke, die sich oft mit letzter Energie und ren sie bereits in Marpingen. Auch unter- mit Hilfe verzweifelter Angehöriger nach wegs im Bus wurde fast ununterbrochen ge- Marpingen geschleppt haben. Kinder in betet, wurden Marienlieder gesungen: Rollstühlen sind darunter, alte Frauen an „Rose ohne Dornen, du von Gott erkoren.“ Krücken, Gelähmte, Amputierte. Wer spreMaria und Josef Waller aus Hessen kom- chen kann, stimmt in die Litaneien und men schon zum dritten Mal. Sie mussten im Gesänge der Vorbeterin ein, die immer in Auto schlafen. „Die Strapazen lohnen die gleiche Bitte münden: „O Maria hilf.“ sich“, versichert Frau Waller. Der einzige Sohn, der vom rechten Weg abgekommen sei, habe dank Maria zum Glauben zurückgefunden – „wenn das kein Wunder ist“. Misstrauisch sind dagegen die Marpinger selbst. „Hier glaubt kaum jemand dran“, versichert Rentner Peter Wachter, fuchtelt zornig mit seinem Stock. Das Ganze sei „Humbug“, die Seherinnen seien schlicht „bekloppt“. Viele Dörfler wurmt, dass keine der Frauen aus ihrem Ort stammt. Und sie sind sauer, dass der Reibach mit den frommen Touris- Behälter mit Quellwasser: Manche lecken die Rohre ab ten vor allem in den Nachbargemeinden gemacht wird: In Marpingen gibt es kein Hotel, keinen Bahnhof, wenig Kneipen. An den Tagen mit Marienerscheinungen sind nur die Parkplätze überfüllt. Die Pilgerströme stören auch die Ruhe an der Naturquelle oberhalb der Marienkapelle, wo die Marpinger seit Jahrzehnten unbehelligt beten, Wasser trinken oder ein Schwätzchen halten. Weil die Jungfrau Maria über Judith erklären ließ, bei dem Nass handle es sich um heilendes „Gnadenwasser“, ist um die Quelle ein er- Gläubige mit Madonna: „Rose ohne Dornen“ bitterter Streit entbrannt. Nach den ersten Erscheinungen stürmten „Keine Schmerzen mehr“, wünscht sich jeweils tausende den Kreuzweg von der Ka- Rosemarie aus Bad Honnef, schwer gehpelle zur Quelle hoch, um das Wasser in rie- behindert seit ihrer Geburt. Die 38-jährige sige Plastikkanister oder leere Literflaschen Bürokauffrau, die noch nie zuvor an einer abzufüllen oder an Ort und Stelle zu ver- Wallfahrt teilnahm, knüpft an die bekosten. Doch seit der Bürgermeister die schwerliche Reise heimliche Träume: endQuelle sperren ließ, weil Gutachter ge- lich einmal ohne fremde Hilfe zu gehen. In sundheitsschädliche Keime fanden, spielen ihren Händen dreht sie einen Rosenkranz, sich auf der Höhe bizarre Szenen ab. den ihr ein Kind geschenkt hat. Enttäuschte Pilger versuchen, die DichIm Rollstuhl sitzt auch die 21-jährige tungen abzuschrauben oder zu zerstören, Nicole aus Fulda, sichtlich nervös. Das schieben zentnerschwere Betonteile weg. spastisch gelähmte Mädchen, das geistig Manche lecken die Rohre ab, einige warten total präsent, aber ansonsten völlig auf seistundenlang, ob nicht doch ein Tropfen ne Eltern angewiesen ist, suchte schon kommt. Vor der geschlossenen Quelle bil- zweimal vergebens Linderung in Lourdes. den sich lange Schlangen. Jetzt wartet es sehnsüchtig auf ein Wunder „Hinter der Schließung steckt der Anti- von Marpingen – eine Hoffnung, die gezielt christ“, glaubt die Pilgerin Lydia Kreuz, die geweckt worden ist. sich wütend an der Absperrung zu schaffen Seherin Judith hat mehrfach, angeblich macht, keinesfalls ohne Gnadenwasser nach im Namen Marias, eine verlockende Verd e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 151 Gesellschaft W. BAUER THIRY + BONENBERGER Zehn Tage nach dem Kindermärchen zu tausenden in ihrer Wohnung. Derzeit heißung verkündet: „Meine Kinder, ich sage euch: Ich werde Kranke heilen, see- ließ Berlin das Rheinische Infanterie-Regi- schreibt sie eine Messe, die demnächst urlisch und körperlich. Bringt die Kranken zu ment Nr. 4 in Marpingen einmarschieren. aufgeführt werden soll. Marion Guttmann, die wohl tiefgläubigsmir ohne Aufhebens.“ Meldungen über Der Wald wurde mit Bajonetten geräumt, Heilungen werden unter einer Adresse im die Ortschaft besetzt, Priester und Dorf- te der Seherinnen, riskiert für das MaKapellenweg gesammelt, inzwischen sollen bewohner wurden verhaftet, die Mädchen rienspektakel Beruf und Privatleben. Die schon über ein dutzend eingegangen sein. kurzfristig in ein Erziehungsheim gesteckt. 30-Jährige mit den Haarspangen und dem Nach ihren Erscheinungen werden die Es herrschte Kulturkampf, aus Marien- entwaffnend kindlichen Lächeln kündigte schon Ende 1998 ihren Job als Service-Chedrei Frauen bestürmt. Eltern reißen die Ab- schwärmern wurden Märtyrer. Obwohl Margaretha Kunz als Erwach- fin eines großen Hotels, um sich auf die Ersperrungen nieder, legen ihnen ihre behinderten Kinder in den Schoß. Rollstuhlfah- sene widerrief („Es war alles ohne Aus- scheinungen vorzubereiten. Maria habe ihr, berichtete sie Freunden, ihr rer lassen sich ganz nah an sie Kommen schon seit zwei Jahren heranschieben. angekündigt, mittels „EinspreUm nicht erdrückt zu werden, chungen“. Zuletzt erschien ihr müssen Christine, Marion und sogar Jesus: „Der war richtig gut Judith von Leibwächtern gedrauf.“ schützt werden. Viel spricht daDass Freunde und Verwandte für, dass ihre Frömmigkeit, ihre bezweifeln, dass ihre Visionen Einbildungskraft, vielleicht auch himmlischen Ursprungs sind, ihr ihre Eitelkeit missbraucht wird. zum Arztbesuch raten, trifft die Hinter den drei Frauen stesensible junge Frau ebenso wie hen offenbar zwei Männer: der die zunehmende Distanz ihres pensionierte Priester Helmut Ehemanns. Der, ein Ingenieur, Maria Gressung aus Saarwellinbeichtete einem Bekannten, er gen und der Herzweiler Regiesei Atheist und könne das stänrungsamtsrat Gottfried Schreidige „Mariengesäusel“ um sich ner, im Saarbrücker Kultusmiherum kaum noch aushalten. nisterium zuständig für die Ihre gelegentliche UnsicherLehrerbesoldung. heit, ob die schönen Bilder wirkDer 81-jährige Gressung, der Seherinnen, behindertes Kind: „Bringt die Kranken zu mir“ lich von außen kommen, versich bisher bei den Erscheinungen nie sehen ließ, ist Chef der stockkon- nahme eine einzige große Lüge“), hielt sich sucht die ehemalige Messdienerin krampfservativen „Marianischen Priesterbewe- die Legende bis heute. 1932 wurde die Ka- haft zu unterdrücken. Bei einem Widerruf, gung“ in Deutschland, einer auf Marien- pelle gebaut. Versuche, Marpingen zum so fürchtet sie, würde sie zwischen alle frömmigkeit und Traditionalismus fixier- Wallfahrtsort auszurufen, scheiterten an Fronten geraten und vor allem die Gläubiten Vereinigung. Er kennt die Seherinnen der katholischen Kirche selbst: Der zu- gen maßlos enttäuschen. Solchen Anfechtungen ist Judith Hiber schon lange, übt als ihr Beichtvater große ständige Bischof weigerte sich damals, die zwar nicht ausgesetzt. Sie steht seit sieben Macht über sie aus. Obgleich er jede Be- Visionen der Mädchen zu untersuchen. Verabschiedet hatte sich die Erscheinung Jahren unter dem Einfluss von Pfarrer teiligung bestreitet, klingen Marias Botschaften, als habe Gressung ihr ins Ohr ge- vor 123 Jahren mit dem Hinweis, sie käme Gressung, erledigt für ihn die Schreibwieder „in schwer bedrängter Zeit“ – eine arbeiten, gilt als seine glühendste Anhänflüstert. Schreiner, ein hagerer katholischer Fun- Prophezeiung, die womöglich auf die Se- gerin. Doch ihre Stellung als Justizgehilfin damentalist, steht dem Marpinger Kapel- herinnen selbst zutrifft. Denn die geraten am Saarbrücker Landgericht wackelt. Richter weigern sich, die fromme lenverein vor, hat zumindest Christine Ney zunehmend in Bedrängnis. Je größer ihre Popularität wird, umso Schreibkraft bei Strafprozessen weiterhin an Pfarrer Gressung vermittelt. Sein Leitspruch: „Wo für Maria eine Kapelle er- häufiger fragen Zweifler, was hinter den als Protokollführerin einzusetzen. „Wenn richtet wird, baut der Teufel eine Hun- Visionen steckt: Autosuggestion? Hypnose? ein Angeklagter Stimmen hört“, begründet Schauspielerei? Oder gar, wie der Kir- ein Kammervorsitzender seine Entscheidehütte daneben.“ Beide Männer eint der Ehrgeiz, aus dem chenkritiker Eugen Drewermann per Fern- dung, „lasse ich ihn ja auch auf seinen verschlafenen Marpingen ein zweites diagnose vermutete, behandlungsbedürf- Geisteszustand untersuchen.“ Gerade ihr Berufsalltag soll Judith Hiber Lourdes zu machen, einen von der Kirche tige sexuelle Störungen? Nach dem 17. Oktober, für den die 13. ursprünglich veranlasst haben, sich ganz anerkannten Wallfahrtsort, zu dem die Mühseligen und Beladenen aus aller Welt und letzte Marienerscheinung angekündigt dem Glauben zuzuwenden. Was sie in Verpilgern. Nicht umsonst lässt Maria auch an ist, müssen sich die drei Frauen neu orien- handlungen hörte, insbesondere bei Prodiesem Sonntag verkünden: „Ich wünsche, tieren: sich entscheiden, ob sie als normale zessen um Sexualdelikte, habe sie in ihrem dass an diesem Ort ein Heiligtum entsteht.“ Menschen weiterleben wollen oder als Hei- Urteil über den Verfall von Sitte und Moral Dieser Wunsch ging allerdings schon ein- lige mit dem Risiko, bei der kirchlichen Prü- bestärkt: „Was leben wir in einer dreckigen mal, vor über 120 Jahren, nicht in Erfüllung. fung als Betrügerinnen entlarvt zu werden. Welt.“ Einen Klosteraufenthalt brach sie jeSchon jetzt sind die Folgen doch nach kurzer Zeit ab – vielAm 3. Juli 1876 erzählten die achtjährigen leicht ein gutes Zeichen. Marpinger Bauernmädchen Margaretha erheblich. Christine Ney etwa Schreiner Den Seherinnen von 1876 Kunz, Susanna Leist und Katharina Huber- schmiss wegen der Erscheinungen brachten ihre Visionen keinen Setus aufgeregt, sie hätten beim Heidelbeer- ihr Pädagogikstudium, Schwergen. Susanna Leist wurde nur 14 pflücken im Härtelwald eine weiße Gestalt punkt Musik, ist arbeitslos. Ihre Jahre alt, die anderen mussten auf gesehen, die Muttergottes. Kurz darauf pil- Hoffnung, eine im Eigenverlag Betreiben ihrer Eltern und der Kirgerten täglich bis zu 5000 Gläubige in den produzierte CD mit selbst kompoche ins Kloster, starben dort mit Wald – eine Provokation für den protes- nierten Marienliedern und SchlaMitte 30, Katharina Hubertus als tantischen preußischen Staat, der hinter der gern durch die plötzliche PromiSchwester Hugolina, Margaretha Marienverehrung in der katholischen nenz besser zu verkaufen, blieb Illusion: Die Scheiben stapeln sich Kunz als Schwester Olympia. ™ Grenzregion politischen Aufruhr witterte. 152 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft SPIELZEUG Garantiert stubenrein Spielzeughersteller trimmen ihre Produkte mit ausgefeilter Technik auf Menschenmaß: Das sprechende US-Knuddeltier Furby ist erst der Anfang. S sender über einen Sprachchip, auf dem etwa 800 Wortgeräuschkombinationen gespeichert sind. „Uh, tei, koh-koh“ heißt „Hoch noch mal“ und bedeutet „Ich will auf den Arm“. „Kah-buh, kuu, doh“ heißt „Mich nicht gesund“ und bedeutet „Es geht mir nicht gut“. Kullert er aus Versehen vom Sofa, kichert er: „Du, du, du“ oder quakt „Wah!“, was laut Gebrauchsanweisung „Yeah!“ heißt. Dabei muss es nicht bleiben: Die Spielzeug-Ingenieure haben dem Elektronik-Tier ein Sprachlexikon einprogrammiert. Der Fabrikant Hasbro verspricht: „Je länger Sie mit ihm spielen, desto mehr lernt er, auch Deutsch“ – für den deutschen und lateinamerikanischen Markt gibt es neuerdings Modelle mit furbisch-deutschen und furbisch-spanischen Sprachchips. Doch können Furby-Besitzer auch die Sprache ihres Spielzeugs lernen. Furbisch ist einfach. Es besteht angeblich aus Versatzstücken von Chinesisch, Hebräisch, Englisch, ein wenig Babybrabbeln und kommt ohne Tempora, Deklinationen oder sonst wie gestreckte und gebeugte Wörter aus. Allerdings ist es mit der Lernfähigkeit, die Hasbro für Furby reklamiert, in Wahrheit noch nicht so weit her. Der Furby-Chip kann nichts verstehen, was nicht schon gespeichert ist. Man kann ihm also noch so oft „Blödzwerg“ vorsagen, Furby antwortet höchstens „Li-Kuu Mih-Mih Buh Ih-Dey“ („Lärm sehr nicht gut“). Selbst für diese schwache Leistung braucht Furby mehr Rechenleistung, als in der ersten Mondlandefähre steckte. Weil die eingepflanzten Minirechner aber immer noch kleiner und billiger werden, taugen Furbys der nächsten Generation vielleicht tatsächlich zum Baby-Small-Talk. Erst in 40 Jahren aber, so schätzen Wissenschaftler, könne man das Verhalten eines vierjährigen Kindes elektronisch simulieren. Immerhin: Der japanische Hersteller Another One formt bereits echte Kleinkinder als Stoffpuppenzwilling nach, inklusive implantierter Originalsprache. Wie Kinder beanspruchen Furbys jede Menge Aufmerksamkeit. Werden sie nicht gestreichelt und gepflegt, arbeitet Furby nur auf Sparflamme. Er regrediert dann aufs erste Entwicklungsstadium: schlafen, fressen, schlafen. A REZU W E I T HOLZ B. BEHNKE chönheitspreise hätten E.T. und Alf nie gewonnen, aber ihre niedliche Hässlichkeit war wohl gerade der Grund für ihren Erfolg. Gut für Furby. Denn das Spielzeugtier aus den USA ist genauso scheußlich wie die beiden alten Medienmonster: Das Ding sieht aus wie die Kreuzung aus einem fetten Uhu und einem Teppichrest. die Zahl der Vorbestellungen längst die Millionengrenze – und wächst weiter: Wegen dieser enormen Nachfrage werden Furbys derzeit sogar eigens aus den fernöstlichen Produktionsstätten eingeflogen. Hasbro erwartet in diesem Jahr einen FurbyUmsatz von mehr als 200 Millionen Dollar. Aber auch andere Firmen setzen auf derartiges Spielzeug. So entwickelte Sony den mit Chips und Sensoren voll gestopften 2500-Dollar-Hund „Aibo“, der bellen und apportieren kann, aber garantiert stubenrein ist. Im März präsentierte Matsushita Electric Industrial den Prototyp einer plaudernden Katze, die mit echten Mäusen lieber ein Gespräch beginnt, als sie zu erlegen. Und die amerikanische Firma Jakks Pacific liefert „World Wrestling Federation“-Aktionsfiguren, die schwitzen, wenn sie sich tüchtig hauen. Furbys dagegen sind friedlich und entsprechen dem Kindchenschema: Sie haben große Plastikaugen, ein weiches Plastikfell und einen kleinen gelben Plastikschnabel, Kinder mit Furbys: Mehr Rechenleistung als in der ersten Mondlandefähre Furby ist inzwischen tatsächlich so begehrt wie vor zwei Jahren das von Japan aus verbreitete Tamagotchi. Wie der kleine asiatische Vorläufer ist Furby ein elektronisches Haustier, das ohne Impfpass mit in den Urlaub fahren kann. Das 15 Zentimeter große Plüschknäuel lässt sich zudem kraulen, es kann sogar sprechen; und wer es für längere Zeit allein lassen muss, versetzt es in den Winterschlaf. Ein sympathisch pflegeleichtes Ersatztier, von dem Hersteller Hasbro in den USA allein im ersten Quartal 1999 drei Millionen auslieferte. In Deutschland, wo ein Exemplar etwa 120 Mark kostet, übersteigt 156 der synchron wackelt, wenn sie brabbeln. Dass der unansehnliche Furby sprechen kann, ist der größte Clou des Spielzeugs – auch wenn er beim Kauf noch ausschließlich furbisch parliert. Entwickelt wurden Spielzeug und Kunstsprache von Dave Hampton, einem Hobby-Linguisten und Angestellten der Firma Tiger Electronics, die im vergangenen Jahr vom zweitgrößten amerikanischen Spielzeugkonzern Hasbro aufgekauft worden war – allein der Furbys wegen, denn sie versprachen dauerhaften Erfolg. Jeder Furby verfügt neben mehreren Berührungssensoren und einem Infrarotd e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport FUSSBALL „Mal auf den Tisch hauen“ Erst nahm die Branche Thomas Häßler nicht ernst, dann geriet er in den Ruf eines Abzockers. In der Beschaulichkeit des TSV 1860 München ist der Ballkünstler wieder aufgeblüht. Künftig will er ein ganzer Kerl sein. Am Freitag hat er dazu Gelegenheit: Borussia Dortmund kommt. 160 DPA I n der „Menterschweige“, einem Gasthof unweit des Trainingsgeländes vom TSV 1860 München, hat sich ein prominentes Ehepaar zur Mittagspause niedergelassen. Angela Häßler rührt noch im Milchkaffee, als ihr Gatte, der Fußballprofi Thomas, unvermittelt aus seinem Stuhl federt. „Ich muss jetzt los“, stammelt er und steht bereits mitten im Raum. Angela Häßler blickt für einen Moment leicht entgeistert. Training ist erst in gut einer Stunde. Doch seit ihr Mann vor acht Wochen bei seinem neuen Arbeitgeber den Dienst aufgenommen hat, will er bei den Übungseinheiten stets der Erste sein – und der Letzte, der den Rasen verlässt. Zum Karriereausklang eine Entwicklung, die ihr schwer imponiert: „Einfach zu süß“, sagt sie, wie den Weltmeister von 1990 noch mal der Ehrgeiz gepackt habe. Für einen, der seine Fußballkunst ehedem in Turin und Rom dem Publikum darbot, kann der TSV 1860 sportlich zwar keine atemberaubende Adresse mehr sein. Aber das war ja auch nicht der Grund des Jobwechsels. Es galt, sich aus einem Missverständnis zu befreien, das Borussia Dortmund hieß – einem Gastspiel, von dem Häßler, 33, heute sagt: „Ich wünschte, es wäre nie passiert.“ In München befindet sich der Profi in seelischer Rehabilitation. Unter Trainer Werner Lorant genießt der fußballerische Feinmechaniker Artenschutz: „Ich lasse ihn machen, was er will.“ Wenn der 97-malige Nationalspieler beim Training an der Grünwalder Straße aufkreuzt, stehen die Fans klatschend Spalier. Die Lokalpresse entdeckte bei den „Blauen“ eine „Häßlermania“, weil im Fanshop des Vereins die Trikots mit der Nummer 10 und seinem Namenszug chronisch ausverkauft sind. Die Zuneigung tut gut nach einem Jahr, in dem sich bei Häßler nicht nur schwere Zweifel an der eigenen sportlichen Qualität ins Gemüt senkten – am Ende geriet sogar der gute Leumund des braven Fußballers Häßler in Gefahr. „Icke“, der allseits Beliebte, galt plötzlich als Abzocker. Verdient Millionen im Sitzen auf der Reservebank. Am liebsten meiden die Häßlers das Thema Dortmund. Doch jetzt, wo am nächsten Freitag die Borussia im Münchner Olympiastadion gastiert, kommt so manches wie- Münchner Profi Häßler (gegen den SSV Ulm): Artenschutz für den Feinmechaniker der hoch. Den jungen Trainer Michael Skibbe, der ja „nur ein Jahr älter“ sei als der blockierte Spielmacher, haben sie nie ernst genommen. Unverständlich sein Vorwurf, Häßler sei nicht fit gewesen. Unverschämt der Verweis, Häßler sei „ein talentierter Spieler“, der seine Chance bekomme, sobald ein zur Stammformation zählender Kollege eine Schwäche offenbare. Alles Schmarrn, glaubt das Häßler-Duo. Es fühlt sich als Opfer personellen Missmanagements. Die Dortmunder Vereinsführung habe seinerzeit nämlich erwartet, d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 dass Andreas Möller die Borussia verlassen werde. Thomas Häßler sollte den Mittelfeldmann ersetzen. Doch Möller blieb im Westfälischen, und der Vertreter war schlicht überflüssig. Und um den Platzhirsch Möller zu verdrängen, sei dessen Lobby zu stark und Häßlers Ellenbogen zu schmächtig gewesen. Ihren Höhepunkt erreichte die Demontage, als „Bild“ ein Foto veröffentlichte, auf dem Häßler Erfrischungsgetränke durchs Westfalenstadion schleppte: „Ein Weltstar nur noch ein Wasserträger?“ Und das ihm. Dem Icke. Dem Kleinen, der Fußball-Deutschland fast wie ein Maskottchen ans Herz gewachsen war, weil er wie kaum ein anderer den Typus des ehrlichen Kickers in einem abgefeimten Fußballgeschäft verkörperte. Das Herumschubsen soll ein Ende finden. Häßler hat erkannt, dass ihn ein doppeltes Imageproblem plagt: Zuerst wurde er nicht für voll genommen und dann als Parasit verunglimpft. In Zukunft, das hat sich Häßler selbst versprochen, will er ein ganzer Kerl sein und „auch mal auf den GES Dass er „keine faire Chance“ hatte, erzürnt Angela Häßler, 31, bei aller Selbstbeherrschung noch heute. Sie ist eine resolute Frau, die ähnlich ambitioniert wie Gaby Schuster ihrem Vermählten die Geschäfte führt. Angeeignet hat sich die gelernte Kosmetikerin das nötige Fachwissen für Vertragsrecht nach dem Motto „Learning by doing“. Auf ihr bisheriges Wirken blickt sie zufrieden zurück: „An mir kommt keiner vorbei.“ Akribisch hat sie daheim die Faxe gesammelt, mit denen Borussias Häßler-Ehefrau Angela FIRO „An mir kommt keiner vorbei“ Dortmunder Kontrahenten Skibbe, Häßler*: Opfer personellen Missmanagements Manager Michael Meier den gebürtigen Berliner vor dessen Wechsel umschmeichelte. Das Ende war weniger charmant. Drei Millionen Mark Abfindung verlangte Angela Häßler vom Verein, sollte der Gatte einer Vertragsauflösung zustimmen. Die Forderung wurde publik. Durchzusetzen war sie auf die Schnelle auch nicht. Dafür stehen die Häßlers jetzt als Abzocker-Pärchen da. * Am 14. November 1998 beim Spiel Borussia Dortmund gegen Schalke 04. Tisch hauen“. Beim TSV 1860 soll die Metamorphose gelingen. Nach Dortmund war der Fußballprofi allein gezogen, die Familie blieb im Elsaß; jetzt haben die Häßlers ein Haus im ruhigen Münchner Stadtteil Harlaching bezogen. Thomas Häßler ist damit in ein Idyll zurückgekehrt, das ihm schon beim Karlsruher SC Topleistungen und Seelenfrieden ermöglichte. Icke ist bei den „Sechzigern“ sakrosankt, schlägt alle Eckbälle, schießt alle Freistöße – und hat in Thomas Riedl einen persönlichen Adjutanten, der für ihn d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 die Defensivarbeit erledigt. „Es ist“, sagt Häßler, „wie ein Traum.“ Es läuft ja auch prima. Neulich ließ sich Kollege Oliver Bierhoff, Kapitän der Nationalmannschaft, vernehmen, „so einen wie den Thomas Häßler könnten wir schon gebrauchen“. Und dann kam jüngst noch diese Einladung zu einem Spiel der Weltauswahl in Kapstadt zu Ehren von Nelson Mandela. Häßler macht große Kinderaugen, als er davon erzählt: „Ich habe ein Kopfballtor geschossen“, sagt er und trommelt freudig auf den Tisch: „Ist das nicht geil?“ Es sind solche Kleinigkeiten, die den Neu-Münchner glauben machen, er sei wieder auf dem Sprung nach ganz oben. Dass er bei Juventus Turin scheiterte? Verdrängt. Dass er sich im Dortmunder Starensemble nicht zu behaupten vermochte? Ausgesessen. Seine Lebensleistung heißt: Köln, Karlsruhe, 1860 München – Icke, ein Provinzkönig? Dabei kann ihm, was die technischen Fähigkeiten angeht, kaum einer das Wasser reichen. Selbst bei Borussia Dortmund rissen sich die Kollegen um Häßler, wenn es darum ging, Übungen der filigranen Art wie Fußballtennis zu absolvieren. Am Ende musste der Umworbene dann aber doch staunend feststellen, dass er samstags wieder auf der Bank hockte, während andere, weniger veranlagte, spielten. Häßler hat es nie verstanden, dass sich im Profi-Fußball nicht unbedingt die Besten durchsetzen, sondern die, die sich auch abseits des Platzes gut verkaufen können. Während Kollegen wie Bierhoff, Jürgen Klinsmann oder Lothar Matthäus im Verlauf ihrer Karriere eine Aura der Unverwundbarkeit aufbauten, blieb Häßler stets der dufte Kerl mit dem sonnigen Gemüt, der immer die neuesten CDs und Videospiele dabei hatte – und nie maulte, wenn ihm mal wieder einer den Platz streitig machen wollte. Diese moderne Fußballwelt. Icke hat nichts damit am Hut. Wenn nach Trainingsschluss die Kollegen im Biergarten der Vereinsgaststätte „Löwenstüberl“ zusammensitzen, dann haben fast alle das Handy am Ohr. Er hat gar keines bei sich. „Ich brauche diese Statussymbole 161 Sport nicht.“ Dass er mit solchen Ansichten im überdrehten Profi-Zirkus fast schon ein Auslaufmodell darstellt, ist ihm nicht verborgen geblieben. Vielleicht, sagt er, „bin ich ja zu naiv, aber dann bin ich’s eben“. Neulich war er es ganz bestimmt. Da meldeten die Zeitungen, Häßler sei bereits auf dem Sprung in die Nationalmannschaft. Den Reportern sagte er, das sehe er „als Bestätigung für meine Leistung“. Kurz darauf stellte sich heraus, dass alles nur ein Übermittlungsfehler war. Ribbeck denkt nicht daran, den Techniker zurückzuholen. Die Häßlers müssen also noch warten. Wobei nicht ganz klar ist, wem das schwerer fällt. Frau Angela sorgt sich ums Finanzielle. Die Zeit in Dortmund habe nachhaltig Schaden gebracht. Nach dieser Episode war „der Marktwert im Keller“. Die Fußball-Europameisterschaft im nächsten Jahr wurde deshalb zum Ziel erklärt. P. SCHATZ / BONGARTS Gut möglich, dass der Ma- Weitspringerin Tiedtke: Zündstoff für den gesamtdeutschen Sport nagerin, die in der Branche „Häßlerin“ genannt wird, das alsbaldiständigen Staatsanwaltschaft II in Berlin – PROZESSE ge Verfallsdatum ihres Mannes bewusst und packen aus. ist. Die Delinquenten wissen: Wer redet, hat In München hat sie – auch um vom Fußgute Chancen, verhältnismäßig billig daball Abstand zu gewinnen – ein neues Gevonzukommen – von Richtern festgesetzschäftsfeld eröffnet: Angela Häßler drängt te Strafbefehle oder Einstellungen der Verins Musik-Gewerbe. „Not only boys“ heißt fahren gegen Geldbuße sind die Regel. Wer die Münchner Produktionsfirma, deren Geweiter leugnet, muss dagegen mit Anklage schäftsführerin sie seit kurzem ist. Eingeund weit härterer Strafe rechnen. Überraschende Redseligkeit fädelt hat den Wechsel in die Popbranche Die Kooperationsbereitschaft der Staatserleichtert die Aufarbeitung des ihr Gatte Thomas. Seit Jahren schon ist er anwaltschaft ist verständlich: Sie ermögDDR-Dopings: Täter hoffen, an der Plattenfirma MTM, ebenfalls aus licht, dass die Akten des letzten GroßverMünchen, beteiligt. damit glimpflich davonzukommen. fahrens der Zentralen Ermittlungsstelle für Doch auch in ihrem gemeinsamen EnRegierungs- und Vereinigungskriminalität gagement für die Musik verraten die Eheer Brief kam von einem einstmals abgearbeitet ins Archiv wandern können. leute ihre unterschiedliche Wertewelt. AnGewaltigen des DDR-Sports. „Sie Die Behörde schließt Ende September. gela denkt streng absatzorientiert („Das Auslöser der neuen Redseligkeit waren werden sich vermutlich wundern“, ist ja nicht nur Fun“). Demnächst erwartet las die ehemalige Schwimm-Weltrekord- die Urteile des Berliner Landgerichts wedie Quereinsteigerin ihren ersten Coup. lerin Karen König, „heute von mir Post zu gen vorsätzlicher Körperverletzung. Die „Give“ heißt die Boygroup, die sie groß erhalten.“ Was dann folgte, war ein Ge- Strafkammer hatte zwei Ärzte und einen rausbringen will. Schon bald kommt die ständnis und die Bitte um Verzeihung. Trainer des SC Dynamo Berlin Ende vererste Platte der Teenie-Combo auf den Horst Tausch, der in der Blütezeit des ost- gangenen Jahres zu Geldstrafen zwischen Markt, der Videoclip des erhofften Hits ist deutschen Schwimmsports als Verbands- 7200 und 14 000 Mark verurteilt. Da bereits abgedreht. Frau Häßler hegt kei- arzt diente, gab zu, seine Schützlinge ge- schwante den verstockten ehemaligen Kolnen Zweifel, dass ihr musikalisches Fast dopt zu haben. „Dieser dunkle Aspekt des legen, dass es ernst wird. Food einschlägt: „Die Jungs sind einfach DDR-Leistungssports“, barmte Tausch vor „Als wir erst einmal in die Phalanx einumwerfend.“ zwei Monaten, „bleibt für mich eine be- gebrochen waren“, sagt Oberstaatsanwalt Gatte Thomas, dessen Plattensammlung drückende Lebenserfahrung.“ Rüdiger Hillebrand, „konnten wir das ge5000 Exemplare umfasst, kümmert sich inSo viel Reue verblüfft alle, die jüngst samte System sprengen.“ Selbst die obersdes um Bands aus dem Genre des melodi- solche Entschuldigungen erhielten, denn ten Chargen sprachen in Hillebrands Amtsschen Rock. Kein zukunftsträchtiger Markt zehn Jahre lang war Leugnen und Vertu- stube vor und plauderten jahrelang streng im Zeitalter der elektronischen Musik. schen die Regel gewesen. Aber seit Anfang gehütete Geheimnisse aus: Horst Röder, Aber da hält er es wie mit dem Fußball: dieses Jahres erscheinen Funktionäre, Ärz- der für alle Sommersportarten zuständi„Alles Liebhaberei.“ te und Trainer des DDR-Sports bei der zu- ge Vizepräsident des Deutschen TurnGerhard Pfeil System gesprengt D 162 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 TRANSIT BONGARTS Geldbuße kassierte, dürften und Sportbundes der DDR vom Deutschen Schwimm(DTSB), und sein Kollege verband kaum noch zu halten Thomas Köhler vom Wintersein. Innenminister Otto Schisport. Beide sollen mit Strafly, zuständig für den Sport, befehlen, die Freiheitsstrafen galt bisher beim Thema Dozur Bewährung zwischen ping als unbeugsam. zehn und zwölf Monaten vorAnklagen erhebt die Berlisehen, davonkommen. Das ner Staatsanwaltschaft nur sprach sich unter den insgenoch in aus ihrer Sicht besamt mehr als 1300 Beschulsonders schweren Fällen, digten herum, die 5700 DDRetwa gegen den ehemaligen Athleten mit der AnabolikaLeichtathletik-Trainer Jochen Hausmarke Oral-Turinabol Spenke. Der Berliner hatte voll gestopft hatten. einst die Kugelstoß-EuropaDietrich Hannemann, der meisterin Heidi Krieger mit Leiter des Sportmedizinimännlichen Hormonen geschen Dienstes, akzeptierte Trainer Tiedtke mästet. Nach der Wende unnach der Beichte einen Strafbefehl über 45 000 Mark, der Verbandsarzt terzog sich Krieger einer Geschlechtsumder Gewichtheber, Hans-Henning Lathan, wandlung (SPIEGEL 1/1998). Auch das Ehepaar Paul und Helga Börzahlte 20 000 Mark Geldbuße, um die Einner sowie Klaus Beer, einst beim Mielkestellung seines Verfahrens zu erreichen. Auch prominente Mediziner, die ob ih- Club Dynamo Garanten für Leichtathlerer neuen Posten im vereinten Deutsch- tik-Goldmedaillen, sollen vor Gericht. Ein land hartnäckig leugneten, können sich Prozess droht ferner dem langjährigen neuerdings erinnern: Der Arzt Hans-Joa- Schwimm-Verbandsarzt Lothar Kipke, den chim Wendler, einst beim SC Dynamo Ber- Verbandstrainern Wolfgang Richter und lin und später für den Berliner Olympia- Jürgen Tanneberger sowie dem einstigen stützpunkt tätig, soll nach seinen Aussa- Generalsekretär Egon Müller. Das Dopinggen ebenso mit einem Strafbefehl belegt Kollektiv soll dafür zur Rechenschaft gewerden wie sein Kollege Hartmut Riedel. zogen werden, jahrelang Mädchen AnaboDer Chef-Doper der DDR-Leichtathletik lika gegeben und damit die jungen Körper wirkte später als Professor an der Uni zum Teil schwer geschädigt zu haben. Sogar die obersten Verantwortlichen holt Bayreuth. So einfach die Aufarbeitung anmutet: die Vergangenheit ein: DTSB-Präsident Für den gesamtdeutschen Sport birgt sie Manfred Ewald und den zuständigen Leiviel Zündstoff. Etliche der mit Bußen ter des Sportmedizinischen Dienstes, Manbestraften Betreuer, wie etwa die Leicht- fred Höppner. Beide sind jetzt angeklagt. 32 athletiktrainer Lutz Kühl und Werner Opfer haben Strafantrag gestellt, ein knapGoldmann, trainieren noch heute als An- pes Dutzend will als Nebenkläger zum Progestellte der vom Bund hoch subventio- zess zugelassen werden. Nach dem Berliner Muster erledigen nierten Verbände Spitzenathleten. Ihren Arbeitgebern hatten sie versichert, mit den Staatsanwaltschaften in allen neuen LänDoping-Praktiken nichts zu tun zu haben dern derzeit im Eiltempo den Doping– und die glaubten das nur zu gern. Auch Komplex. Die Staatsanwaltschaft Neurupdas Verfahren gegen Jürgen Tiedtke, dem pin, zuständig für die Doping-Fälle in Brandie Staatsanwaltschaft unter anderem vor- denburg, hat über die Hälfte der einst 116 geworfen hatte, früher seine Tochter Susen Beschuldigten zu Zahlungen von Geldgedopt zu haben, wurde erst eingestellt, bußen aufgefordert. Sieben Haupttäter solnachdem er seine Geldbuße bezahlt hatte. len Strafbefehle bekommen. Anders als in Brandenburg will die Die Weitspringerin war bei der WM vor Staatsanwaltschaft in Erfurt von den rund drei Wochen Siebte geworden. Viele früheren Dementis sind jetzt hin- 60 thüringischen Beschuldigten einige sofällig. Und Kräfte wie der Chef-Bundes- gar anklagen. Ermittelt wird weiterhin getrainer Winfried Leopold, der eine hohe gen den Bundestrainer Stephan Gneupel, immer noch Betreuer des EisschnelllaufStars Gunda Niemann-Stirnemann. Und auch so manche Äußerung von Sportlern der DDR, die jede Doping-Einnahme verneint hatten, steht jetzt in einem anderen Licht. So erhielt der Verbandsarzt Tausch auf Grund seines Geständnisses zehn Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung – unter anderem weil er die mehrmalige Olympiasiegerin Kristin Otto gedopt habe. Die heutige ZDF-Moderatorin hat stets vehement abgestritten, wissentlich Anabolikapillen eingenommen zu Schwimmerin Otto (1984) haben. „Dunkler Aspekt“ Udo Ludwig, Georg Mascolo d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 163 Hürdenlauf im Schlosspark Im härtesten Reitsport der Welt kämpfen die Deutschen gegen den Abstieg. Jetzt sollen die Turniere besser vermarktet werden. A usgerechnet am letzten Hindernis schlug „Watermill Stream“ an, die Stange hüpfte eine Unterarmlänge hoch. Erschrocken schaute sich Bettina Overesch um, „mir blieb fast das Herz stehen“. Doch dann fiel die Hindernisstange in die Auflage zurück – ohne Fehler kam die Reiterin auf ihrem Vollblutschimmel ins Ziel und gewann 1997 im englischen Burghley als erste Deutsche die MilitaryEuropameisterschaft. Ihr Triumph war aber mehr als Glück. Wie die Military-Stars aus Schweden, Australien oder Neuseeland lebt sie seit einigen Jahren in England, dem Mekka der Geländereiterei. Jedes Wochenende laufen dort so viele schwere Prüfungen wie in Deutschland im ganzen Jahr. „Ein ideales Training“, sagt Overesch, 36. „Wäre ich zu Hause geblieben, hätte ich nie gewonnen.“ Unter den deutschen Military-Reitern ist die zierliche Blondine eine Ausnahme. Hier zu Lande wird der härteste Reitsport der Welt fast nur von Amateuren betrieben. Gegen die immer stärkeren ausländischen Profis haben die Buschreiter (wie sie sich selbst nennen) kaum noch eine Chance. Jetzt droht ihnen sogar ihre bislang schlimmste Niederlage. Die Military-Europameisterschaft, die diese Woche im niedersächsischen Heidedorf Luhmühlen stattfindet, ist die letzte Chance, sich noch für Sydney zu qualifizieren. Schneiden die Buschreiter auch bei diesem Championat wieder schlecht ab, darf die Reiternation Deutschland – in Dressur und Springen Weltspitze – erstmals keine Military-Mannschaft zu den Olympischen Spielen schicken. „Wir müssen eine Truppe von Profireitern aufbauen“, fordert Bundestrainer Martin Plewa, 49, „sonst verlieren wir den Anschluss.“ Doch bislang hat der gelernte Gymnasiallehrer nur wenig Interessenten gefunden. In Deutschland kann noch kaum einer davon leben, mit Pferden über Naturhindernisse zu hüpfen. Die Ausbildung eines Military-Pferdes dauert Jahre und bringt nur geringe Siegprämien ein. Sponsoren stecken ihr Geld lieber in den Dressur- oder Springsport. Aber warum sollten sich Geldgeber auch für eine Sportart interessieren, die fast kein Publikum hat? Die meisten Wettkämpfe finden weit draußen in der Walachei statt. 164 Jedes Military-Championat, auch Vielseitigkeitsprüfung genannt, ist ein Pferde-Mehrkampf, der den vierbeinigen Athleten Höchstleistungen abverlangt. Die Pferde müssen nicht nur eine präzise Dressur zeigen und den üblichen Hindernisparcours für Springreiter bewältigen. Den Höhepunkt bildet jener bis zu sieben Kilometer lange Hürdenlauf durchs Gelände, bei dem die Rösser über meterdicke Baumstämme springen, Mauern oder Gräben überwinden und durch knietiefe Teiche galoppieren. Doch vor dieser Geländeprüfung müssen die Pferde erst einmal zeigen, wie konditionsstark sie sind. Dazu dient eine Galopptour über die Rennbahn sowie ein rund zehn Kilometer langer Dauerlauf – ein Relikt aus der Gründerzeit des Military-Sports, als es darum ging, möglichst zähe SoldatenMilitary in Luhmühlen*: Wettkampf in der Walachei pferde zu finden. Heutigen Military-Profireitern bringt Nur Eingeweihte wissen, auf welchen Feldwegen man etwa zum Turnier in Cavertitz diese Kavallerie-Tradition nur Nachteile. Der Ausdauertest vor dem Geländesprin(bei Dresden) gelangt. „Von den wenigen Fans, die bereit sind, gen geht an die Substanz der Tiere, die mit Gummistiefeln mehrere Kilometer Buschpferde verkraften deshalb höchstens durch unwegsames Gelände zu marschie- zwei bis drei schwere Prüfungen im Jahr. ren“, meint Military-Chef Plewa, „können Gäbe es hingegen nur noch reine Gelänwir aber künftig nicht mehr leben, dafür ist deprüfungen, könnten die Buschreiter beiunser Sport einfach zu teuer.“ Allein der nahe so oft antreten wie die SpringproAufbau einer Hindernisstrecke kostet leicht fis. „Nicht mehr zeitgemäß“ findet es auch Springreiter-Papst Paul Schockemöhmehrere zehntausend Mark. Notgedrungen bemühen sich die Veran- le, die Pferde vor dem anstrengenden stalter deshalb, die Military besser an den Geländespringen „erst einmal müde zu Mann zu bringen. Für die Europameister- reiten“. Die Ausdauerprüfungen sind zudem der schaft in Luhmühlen beispielsweise wurde die Geländestrecke eigens so gebaut, dass Grund dafür, dass sich ein Military-Cham16 der 28 Hindernisse von einem zentralen pionat wie jetzt die EM in Luhmühlen über Grashügel aus einsehbar sind – nur unter vier Tage hinzieht. „Viele Zuschauer finden dieser Bedingung war die ARD zur Live- es natürlich langweilig, so lange auf die Siegerehrung zu warten“, gibt Overesch Übertragung in der Sportschau bereit. Pfingsten wagten sich die Buschreiter zu. In ein paar Jahren, glaubt die Europamit ihren Pferden sogar in die Stadt – mit meisterin, werde es keine langen Prüfunerstaunlichem Erfolg. An die 15 000 Zu- gen mehr geben: „Wir gehören zum Unschauer schauten zu, wie die hochblütigen terhaltungsgewerbe und müssen dem PuRösser im Wiesbadener Schlosspark über blikum spannende Darbietungen zeigen.“ Welch ein Spektakel ein Military-WettEichenstämme und Hecken hinwegflogen. Die gleichzeitig auf dem feudalen Gelände kampf sein kann, zeigt sich alljährlich im reitenden Spring-Asse waren verdutzt, als englischen Badminton. Das Superturnier ist das größte Pferdesport-Ereignis der sie plötzlich vor leeren Rängen antraten. Für den Besucherrekord bei der Mili- Welt. Bis zu 250 000 Zuschauer pilgern in tary sorgte eine geschickte Dramaturgie. den Park des Duke of Beaufort. Über Die letzten sieben Hindernisse der Gelän- Großbildleinwände flimmern die spektadestrecke waren direkt vor der Tribüne er- kulärsten Ritte. In ihrer Begeisterung lassen sich die richtet worden, so dass die Zuschauer das Finale hautnah erleben konnten. Vor allem Engländer auch durch die jüngste Serie aber hatten die Veranstalter eine extrem von Todesstürzen nicht erschüttern. Bezeitraubende Teilprüfung der Vielseitigkeit reits vier Profireiter wurden in dieser Saison von ihren Tieren zerquetscht, als dieeinfach weggelassen – den Ausdauertest. se im Gelände strauchelten. Alle Pferde * 1997 mit Andrew Nicholson aus Neuseeland. blieben unverletzt. Olaf Stampf JTP M I L I TA RY d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO (li. o.); AP (li. u.); AP (re.o.); AKG (re. u.) XII. Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: 1. Die Ära Ulbricht (37/1999); 2. Die Ära Honecker (38/1999) Ulbricht (1971); Mauer-Reparatur nach Anschlag (1962); Käuferschlange (1960); Mai-Parade (1959 im Berliner Lustgarten) Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR Die Ära Ulbricht Er herrschte wie ein misslauniger Monarch: Mit seinen Säuberungen schaltete er Gegner aus und schreckte Kritiker ab – so überstand der Stalinist Arbeiteraufstand und Tauwetter. Die Ära Ulbricht erzwang ein Vierteljahrhundert Friedhofsruhe im Land. Dem eingemauerten Volk blieb nur Hoffen und Harren. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 177 Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht Der verschlagene Biedermann JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO Spiegel des 20. Jahrhunderts Von Günter Kunert Landesherr Ulbricht, Ehefrau Lotte*: Unter dem Zuchtmeister begann die Dressur einer Bevölkerung E igentlich eine groteske Gestalt, mit einem Falsett in sächsischem Dialekt ausgerüstet, das man in den eigenen vier Wänden nachzuahmen versuchte. Im Freien bewegte er sich in einem bodenlangen Mantel, langsam und unbeholfen, so dass man sofort auf eine schusssichere Auspolsterung schloss. Erprobte er sich in Volkstümlichkeit, etwa mit Gemahlin Lotte beim Tischtennis im Garten oder im Gespräch mit einem (ausgesuchten) Kumpel, war ihm leicht sein Unbehagen anzumerken. Richtig wohl fühlte er sich anscheinend nur auf dem Podium vor der Parteielite, wo er seine physische Standfestigkeit durch stundenlange Reden beweisen konnte. Ohnehin, glaube ich, galt als einziges Befähigungskriterium für die gehobene Parteikarriere die Fähigkeit, endlose Tiraden absondern zu können. Wer war dieser Walter Ulbricht, der sich so offenkundig den Ausspruch des preußischen Soldatenkönigs zu eigen gemacht hatte: „Wenn ihr mich schon nicht liebt, sollt ihr mich wenigstens fürchten!“ Das ist ihm fraglos gelungen. Er war verhasst. Be178 sonders bei den Ost-Berlinern, da er eine Kavalkade sächsischer Funktionäre nach sich zog und zu Amtsträgern ernannte, „die fünfte Besatzungsmacht“ geheißen. Ihn umrankten keine heiteren Legenden wie den Gegenspieler und Rosenfreund Adenauer, sondern böse Witze, auf Grund deren Weiterverbreitung man nach Bautzen expediert werden konnte. Gleich ihm waren die Funktionäre der DDR überempfindlich und witterten überall Unrat. Was sie als „Humor“ bezeichneten, war durch die Definition, dieser sei eine „Produktivkraft“, zu einem traurigen Ereignis verkommen. Unvergesslich eine Versammlung des Schriftstellerverbandes, auf der sich eine * Oben: am 1. Mai 1968 in Berlin; unten: in sowjetischer Uniform als Propagandist beim Stalingrad-Einsatz 1942. d e r s p i e g e l Staatsanwältin den Fragen von Genossen und Kollegen der schreibenden Zunft stellte. Ein einziger, nämlich Jurek Becker, verlangte zu wissen, warum man für einen politischen Witz in den Knast komme. Peinliches Schweigen wegen der obszönen Erkundigung. Dann die Erläuterung: Nicht der Witz als solcher bilde das strafwürdige Delikt, sondern die implizierte Staatsverleumdung und Herabwürdigung führender Genossen! So komisch, obgleich unfreiwillig, ging es manchmal im Narrenparadies zu. Ulbricht fehlte es an Attraktivität, der Bevölkerung an Konsumgütern, dem Staat an Öffentlichkeit. Woran es hingegen keineswegs mangelte, war die latente Besorgnis der Bürger, sich mit einem falschen Wort, einer falschen Reaktion verdächtig zu machen. Frontbesucher Ulbricht* 3 7 / 1 9 9 9 ehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld, und das willst du nicht eingestehen, dass es ohne alledem keinen 17. Juni gegeben hätte. Es geht nicht gerecht zu,Walter.Wer dir zu Munde redet und immer hübsch artig ist, der kann sich viel er- kämpfe wäre Ulbricht mit seinen Partnern gewiss schlimmer umgesprungen. Die Russen schlugen für ihn den Aufstand nieder. Wer sich in die Berliner Innenstadt verirrte, konnte leicht von einer Kugel getroffen werden. Man beschleunigte den Schritt, sobald man Schüsse hörte, und manche rannten gleich bis zum Kurfürstendamm – auf Nimmerwiedersehen. ULLSTEIN BILDERDIENST Mit Gründung der DDR und Ulbricht als ihrem Zuchtmeister hob an, was die Historiker heute „Sowjetisierung“ nennen: die Dressur einer Bevölkerung. Dieser Vorgang erfasste alle Bereiche, nicht allein die politischen. Der Parteidoktrin zufolge existierten sowieso keine unpolitischen Bereiche. Alles, so der Tenor, sei politisch zu sehen und politisch zu verstehen. Man agierte nach dem Prinzip: Wenn es in Moskau regnet, spannt man in Ost-Berlin den Schirm auf. Und es regnete ziemlich häufig in Moskau. Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Und darum wurden die exorbitanten „Größen“ sowjetischen Erfindergeistes zu verbindlichen Vorbildern erhoben. Was war schon Einstein gegen Lomonossow, den Gelehrten des 18. Jahrhunderts, der den Hubschrauber erfunden hatte, den Fallschirm und möglicherweise sogar die Kaffeemühle: Die Liste seiner Innovationen war lang. Oder Lyssenko, der geniale Genetiker, der auf Anweisung Stalins die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zum Gesetz erklärte. War doch Stalin selbst der allergrößte Wissenschaftler, als Philosoph, als Philologe, als Stratege, als geistiger Weiterentwickler seiner Vorgänger Marx, Engels und Lenin. Im Sozialismus russischer wie deutscher Prägung waren überhaupt nur überdimensionale Geister vorhanden. Oder ihre zu liquidierenden Kritiker. Auch in dieser Hinsicht war der große Ulbricht ein Meister seines Meisters. Seine Stärke bestand darin, jeglichen Widerspruch, von Opposition ganz zu schweigen, in seiner Führungsriege auszuschalten. Als getreuer Gefolgsmann besaß er die Rückendeckung Moskaus. Dort hatte er während des Exils Proben seines Könnens liefern können: Von den einstmals ins Zentrum der Weltrevolution emigrierten deutschen Kommunisten war ein erbärmliches, gehorsames Häuflein übrig geblieben: die skrupellosesten Befehlsempfänger. Nur einmal geriet Ulbrichts Position in Gefahr – am 17. Juni 1953, als das Volk aufstand und der Sturm losbrach. Unversehens fand er sich in seinem ansonsten gehorsamen Politbüro in der Minderheit. Doch es erfolgte keine Abstimmung, die vermutlich Ulbricht gestürzt haben würde. Es kam ausschließlich zu moralischen Appellen an einen Mann, dem nichts wichtiger war als die eigene Person. Welche erschütternde Naivität bewies die Politbürokandidatin Elli Schmidt, indem sie ihren Walter zu ermahnen suchte: „Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Un- Berliner, Sowjetpanzer am 17. Juni 1953: Widerstand für immer gebrochen lauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe Kind. Aber wer dir nicht zu Munde redet, der bekommt keine Hilfe und kann sich totarbeiten, und es wird nicht anerkannt. Und wehe gar, es passiert ihm ein Fehler!“ In Ulbrichts Augen war nur einer fehlerlos: er selbst. Die Taktik des obersten Dienstherrn bestand darin, die Verantwortung zu delegieren. Die Untergebenen hatten alles falsch organisiert, hatten die befohlene Normerhöhung für die Arbeiter den Betroffenen nicht schlüssig genug erläutert, hatten die Verschlechterung der Lage nicht eindeutig genug dem Klassenfeind zugeordnet. Ulbricht war aus dem Schneider. Und er halfterte alle Politbüromitglieder ab, die keine Nachbeter waren. Freilich: Ohne Stalins Tod am 5. März 1953 und die daraus entspringenden Diadochen- Über eine Million hatten schon die kalte Heimat verlassen, nun stieg der Flüchtlingspegel erneut an. Ich habe sogar den Verdacht, dass dieser Schwund Ulbricht möglicherweise aus strategischen Gründen recht gewesen ist. Denn die Verbliebenen – dem Kürzel DDR zufolge „Der Dumme Rest“ – hatten sich als die eher passiven, eher zum Untertanentum neigenden Einwohner erwiesen. Falls das Ulbrichts Rechnung war, ist sie tatsächlich aufgegangen, denn zu weiteren umfassenderen Widerständen ist es nach dem 17. Juni 1953 nie mehr gekommen. Nach diesem Tage musste die Partei gründlich gesäubert werden. Zu viele Genossen hatten es an Wachsamkeit fehlen lassen; sie standen entweder der Revolte hilflos gegenüber oder hatten sogar ein gewisses Verständnis für den Unmut der Ar- „Es geht nicht gerecht zu, Walter. Wer dir zu Munde redet und immer hübsch artig ist, der kann sich viel erlauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe Kind.“ SED-Spitzenpolitikerin Elli Schmidt, im Politbüro 1953 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 179 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite beiter, von denen höhere Leistungen für weniger Äquivalente abgefordert wurden. Die „leuchtende Zukunft“ sah einigermaßen düster aus: 71 Prozent aller Parteisekretäre auf Kreisebenen wurden ins ideologische und damit auch ins berufliche Abseits verbannt. „Unter den neugewählten Leitungen“, lesen wir in Klaus Schroeders „SED-Staat“, „stieg interessanterweise der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an.“ Kein Wunder, denn die mussten sich durch besondere Ergebenheit und Disziplin rehabilitieren. Die alten Genossen verfrachtete man in Schmollwinkel, wo sie ihren Träumen und Utopien von der Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung für die Freiheit aller nachhängen konnten. Neue Gesichter tauchten in den Massenorganisationen auf, neue „Clerks“, und weil erhöhte Wachsamkeit angesagt war, wucherte überall das Misstrauen. Das Ministerium für Staatssicherheit blühte und gedieh unkrautartig. Ulbrichts geheime Leitlinie, das Misstrauen, durchdrang unaufhaltsam die Gesellschaft. Man wusste niemals, mit wem man es bei Gesprächen zu tun hatte. Der DDR-Mensch wurde privatistischer. Die große Politik verlor an Interesse, wichtiger wurde, ob der „Konsum“ um die Ecke eine Ladung Obst erhalten hatte oder wo man einen Zentner Zement herbekam. Ulbricht hatte zwar den 17. Juni überlebt, doch schon drei Jahre später zeigte es sich, dass mit des Geschickes Mächten kein ew’ger Bund zu flechten war und man auf die „Subjekte der Geschichte“ nicht bauen kann. Unerwartet ließ Anfang 1956 in Moskau Chruschtschow die Katze „Personenkult“ aus dem Sack. Da half kein Regenschirmaufspannen mehr. Plötzlich war Stalin zur Unperson degradiert worden, und jeder seiner Knechte stritt ab, mit ihm jemals etwas zu tun gehabt zu haben. Stalin? Wer war das? Chruschtschows „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag erschien in der Westpresse und bewegte die Gemüter. Auf einmal öffneten ehemalige Moskauer Exilanten im Schriftstellerverband den Mund, und heraus kam die jahrzehntelang aufgestaute Angst. Dann brachen in Polen, bei „unserem Brudervolk“, Streiks aus, und die DDR verwehrte sogleich dem Bazillus das Eindringen. Polnische Journalisten und Dramaturgen waren in unseren ideologisch einwandfreien Redaktionen und Verlagen unerwünscht. Unter der Hand jedoch grassierten aus dem Polnischen übersetzte Texte in Abschriften, etwa Adam Wazyks „Gedicht vom Menschen“. Und die mutige Zeitschrift „Sonntag“ druckte eine Erzäh- JÜRGENS OST U. EUROPA PHOTO (l.); W. BEDAU / DER SPIEGEL / XXP (li.M.) Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht Mit Mao und Stalin in Moskau (1949) lung von Andrzejewski über den Kampf einer Theatertruppe gegen die Zensur. Schließlich fanden sich auch in Ost-Berlin einige Don Quixotes – bereit, gegen die stalinistischen Windmühlenflügel anzugehen. Man traf sich donnerstags im „Club der Kulturschaffenden“ unter dem Vorsitz von Fritz J. Raddatz (der im rechten Moment seiner Verhaftung entkam) und von Wolfgang Harich, einer etwas schillernden Persönlichkeit. Wir waren Traumtänzer. Und Ulbricht, der alte Fuchs, wusste das genau. Und er wusste fernerhin, dass, im Gegensatz zu Polen, zwischen seinen Intellektuellen und seiner Arbeiterklasse keine Gemeinsamkeit denkbar war. So fiel es ihm leicht, die paar kritischen Köpfe, Walter Janka, Wolfgang Harich, die „Sonntag“Redakteure Heinz Zöger und Gustav Just, vor Gericht zu bringen und sie des Umsturzversuches anklagen zu lassen. Zum Schauen (und Hören) bestellt wurden in den Gerichtssaal prominente Künstler, auf dass sie die Mär von der Unerschütterlichkeit der Staatsmacht und der Erbärmlichkeit ihrer Feinde verbreiteten. Auf Polen folgte noch im gleichen Jahr Ungarn: Diesmal schon eine Art Befreiungskrieg gegen die sowjetische Besatzungsmacht, ein „Ereignis“ ganz anderer Dimension, das übrigens ein letztes Mal die Parteimitglieder zu einer müden Solidarität mit dem Interventen veranlasste. Nur äußerst mühsam ließ sich die heile Welt des Sozialismus propagandistisch aufrechterhalten. Mit welchen Wortschöpfungen und sprachlichen Windungen die Realität umgangen wurde – just das verlieh der DDR jene seltsame Kulissenhaftigkeit. Von der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“ bis zum „Winkelement“ für Papierfähnchen bildete sich eine Sprachebene aus, die kaum noch eine Beziehung Mit Bauern in Schwerin (1957) zu den tristen Tatsachen hatte. Ulbrichts Meisterleistung in dieser Hinsicht war jene Formel, die den Sieg über den Westen auf nahezu magische Weise beschwor: „Überholen, ohne einzuholen!“ So was musste einem erst einmal einfallen. Ideologie rangierte stets vor fachlichem Wissen. Überliefert ist der Besuch Ulbrichts in einer Ortschaft, es soll Weimar gewesen sein, wo ihm das Modell städtischer Neubebauung gezeigt werden sollte. Da alle Stadtplaner der DDR wussten, dass der „große Gelehrte WU“ an die Modelle Hand anzulegen pflegte, um die Bauten umzustellen, hatten diesmal die Architekten ihre Modellbauten von unten an der Schauplatte festgeschraubt. Ulbricht kam, sah und griff sogleich nach einem Hochhaus, doch das widerstand ihm. Nach einem erstaunten „Nanu?!“ und einigem Gerüttel wandte sich der Bauherr des zweiten deutschen Staates an den Chefarchitekten und sagte: „Sie sind entlassen, ja?!“ Am meisten geschmerzt hat ihn wohl das Phänomen, das er sich vermutlich nur durch Subversion erklären konnte. Als der Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz fertig gebaut war und die riesige Aluminiumkugel des unter der Spitze gelegenen Restaurants von der Sonne beleuchtet wurde, reflektierte die Kugel das Licht in Kreuzform. Über diese Peinlichkeit amüsierte sich ganz Ost-Berlin. Ansonsten wurden einem ja auch nicht allzu viele Amüsements geboten. Man entzog sich so weit wie möglich der Gesellschaft und ihren pseudologischen Ansprüchen. So ward der Nischenhäusler geboren. Nach meist desinteressiert abgeleisteter Arbeit wandte man sich dem Fernsehapparat zu und dem „Adlershofer Wodka“. Zwar kam das Fernsehprogramm ebenfalls aus Adlershof, wurde jedoch kei- „Du, der Meier hat sich das Leben genommen!“ – „Na ja, jeder haut eben ab, so gut er kann.“ DDR-Spott zur Ulbricht-Zeit 182 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO Mit Thälmann-Pionieren (1963) neswegs im selben Maße frequentiert wie der gleichnamige Schnaps. Obwohl man in den „Kaufhallen“ häufig vor ärmlich bestückten Regalen stand, war die Alkoholabteilung stets gut versorgt. Wohl hatte Ulbricht die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ verkündet, ein sozialistischer Moses, doch man lebte sich in individueller Hinsicht aus. Die „Zehn Gebote“ galten nur in der Öffentlichkeit, privatim ließ man sich gehen. Wer seine Frau loswerden wollte, benötigte keine Axt. Man wurde umstandslos geschieden und musste für seine Ehemalige nur eine kurze Weile einen dürftigen Unterhalt zahlen. Denn schließlich sollte die Frau wieder dahin, wo sie hingehörte: an die Maschine. Da diese zweite Dimension der Existenz um sich griff und der gebeutelte „neue Mensch“ in seinem Betrieb das Maul hielt, wuchs proportional dazu die ÜberwaAm Dresdner Stadtbaumodell (1953) chung durch offizielle und Ulbricht-Auftritte: „Der große Gelehrte WU“ inoffizielle Mitarbeiter der Geheimpolizei. Dem Rückzug in die Nische folgte der Spitzel auf dem „Kulturschaffenden“ sollten in Arbeiterund Bauernkollektiven integriert werden, Fuße. Der Anstieg der Spitzelmenge entsprach da hatte man sie unter Aufsicht und gleichdem Zurückweichen der Individuen in zeitig neutralisiert. Wahrscheinlich stammscheinbare Freiräume. Inwieweit die Stasi te die Idee von Ulbrichts Grauer Eminenz, durch Gerüchte ausstreute, überall präsent seinem Sekretär Otto Gotsche. Der nun zu sein, oder ob der DDR-Bürger nach den war ein Hauptvertreter des „sozialistischen Jahrzehnten der Repression bereits par- Realismus“ und schrieb ein Buch nach dem tiell einem Verfolgungswahn erlegen war, anderen. Erzeugnisse dieser Art erlebten gewaltiist im Nachhinein kaum aufklärbar. Ulbricht misstraute den Intellektuellen ge Auflagen. Aber keineswegs weil im „Leund Schriftstellern nicht nur – er verab- seland DDR“ die Käufer nach derlei Proscheute sie. Um die unsicheren Kantonis- dukten gierten, sondern weil Betriebsten zu disziplinieren, zettelte er eine Be- büchereien, Massenorganisationen, Instiwegung an, den „Bitterfelder Weg“. Die tutionen über entsprechende Etats zum d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Ankauf der Unleserlichkeiten verfügten. Es gab Empfehlungslisten, nach denen sich die Bibliotheken zu richten hatten; ja, das Kulturministerium reichte diese Listen sogar ins „sozialistische Ausland“ weiter, damit man dort die gelobten Werke übersetze. Zudem wurden die Aktivisten oder durch einen ungewöhnlichen Fleiß auffällig gewordene Personen mit diesen Büchern überschüttet.Vor allem in den Schulen waren sie Pflichtlektüre und Grundlage für Aufsatzthemen. Die Verbreitung von Literatur wurde mehr oder minder offen gelenkt. Den Autoren gestand man, je nach ihrem politischen Bewusstseinsstand und ihrer propagandistischen Wichtigkeit, unterschiedliche Auflagenhöhen zu. Manchmal mischten sich die Verantwortlichen direkt ins „Literaturgeschehen“ ein. So versandte das „Büro Ulbricht“, dem ja Gotsche vorstand, Briefe an Redaktionen mit der Aufforderung, das letzte Werk Gotsches positiv zu rezensieren. Wenige Schriftsteller, etwa Franz Fühmann, nahmen den „Bitterfelder Weg“ ernst. Der Mehrzahl der Skribenten bot er die Gelegenheit für Sinekuren, Stipendien, Aufträge, finanzielle Unterstützung eben. Doch wie alle propagandistisch groß aufgezogenen Unternehmen misslang auch dies. Mit Stanislaw Jerzy Lec gesagt: „Schon wieder scheiterte eine Wirklichkeit an den Träumen.“ Vermutlich bedingte der absolutistische Aufbau des Regimes die ständigen Pleiten und Pannen: In den obersten Entscheidungsgremien wurde die Realität nur noch märchenhaft wahrgenommen und verursachte obskure Anordnungen und Befehle HÖHNE / POHL / SÄCHSISCHE LANDESBIBLIOTHEK Beim Tischtennisspiel (um 1953) 183 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO Ulbricht-Sekretär Gotsche* Graue Eminenz im Leseland – als Reaktion auf gefälschte Vollzugsmeldungen, verlogene Berichte, erfundene Statistiken. Denn die Untergebenen, in Kenntnis katastrophaler Wirtschaftsdaten, ja, überhaupt der gesamten Misere, wagten nicht, die ganze Wahrheit nach oben zu melden, da man ihnen die Schuld für ökonomisches Versagen zugeschanzt hätte. Das System als solches war tabu. Daher wurden regelmäßig Minister oder Sekretäre ausgewechselt, Direktoren oder „Leitungskader“, was natürlich am trostlosen Verlauf dieser sozialistischen „Mission Impossible“ keinen Deut änderte. Bis auf die abhängigen Satrapen glaubte keiner der Regierung Ulbricht ein Wort. Dennoch waren die Leute überrascht, als sie am 13. August 1961 an der Sektorengrenze plötzlich auf Stacheldraht und Wachposten trafen. Hatte der „Große Gelehrte“ nicht gerade eben noch erklärt, niemand denke daran, in Berlin eine Mauer zu errichten? Der Schock für die Bevölkerung war nachhaltig. Die Folge: Wut, Verzweiflung, Resignation. Nun hockte man, wie es schien, für immer und ewig in einem höchst ungemütlichen Zauberberg, den zu verlassen man entweder halb oder ganz tot sein musste. Selbstverständlich wurde der Handstreich als glorreicher Sieg über den Klassenfeind hingestellt. Und die verachteten Intellektuellen und Schriftsteller wurden zusammengetrommelt, auf dass sie als Multiplikatoren „unseren“ Menschen die frohe Botschaft überzeugend vermittelten. Nun, Kollegen und Genossen, so tönte es von oben herab, sind wir unter uns und können daher liberaler, toleranter, freundschaftlicher mit Dichtern und Künstlern umgehen. Wer das als bare Münze nahm, musste geistig beschränkt gewesen sein. Man ahnte, dass ab sofort, da es keine Alternative mehr gab, man dem dümmsten Funktionär ausgeliefert sein würde. Erinnern wir uns der kühnen und manchmal grausig-komischen Aktionen, * Bei Mitgliedern von Betriebskampfgruppen 1961. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Brecht-Aufsatzes „Über die Widerstandskraft der Vernunft“ und weil er das Elitäre gepflegt habe; Günter Kunert wegen zweier „feindlicher“ Fernsehfilme und einiger kleiner Sprüche, von denen einer so ging: „Als unnötigen Luxus / Herzustellen verbot, was die Leute / Lampe nennen, / König Tharos von Xantos, der / von Geburt Blinde.“ Das hatte der blinde König schnell kapiert und rächte sich durch Diffamierung und Boykott. Ich wurde zur Unperson und durfte, ohne weitere Einnahmen, die Suppe auslöffeln. Ulbricht war rachsüchtig. Als Wolfgang Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters, „Wilhelm Tell“ inszenierte, erkannte sich Ulbricht sogleich in Geßler wieder. Langhoff, öffentlich angeklagt, musste sich von seiner Inszenierung distanzieren. Und wenn es Ulbricht möglich gewesen wäre – er hätte Schiller durch Mielke „zersetzen“ lassen. Kaum hatten sich die wilden Wogen des VI. Parteitages einigermaßen geglättet, da setzte 1965 Lehrling Honecker auf dem 11. ZK-Plenum einen neuen Kulturkampf in Gang: gegen schädliche Tendenzen in Filmen, Theaterstücken, Fernsehsendungen und in der Literatur. Die Bevölkerung müsse vor „Skeptizismus und Unmoral“ geschützt werden. Ulbricht setzte noch eins drauf, indem er erklärte: „Einige Kulturschaffende haben die große schöpferische Freiheit, die in unserer Gesellschaftsordnung für die Schriftsteller und Künstler besteht, so verstanden, dass die Organe der Gesellschaft auf jede Leitungstätigkeit verzichten und Freiheit für Nihilismus, Halbanarchismus, Pornografie oder andere Methoden der amerikanischen Lebensweise gewähren.“ Was für fabulöse Definitionen des Freiheitsbegriffs in einem einzigen Satz! Nach diesem Rundumschlag breitete sich Friedhofsruhe aus. Die Medien, die Kulturvermittler, igelten sich ein. Das ohnehin dürftige „Geistesleben“ erstarb. Konstitutiv für die sechziger Jahre wurde das Datschen-Wesen. Mir will es heute so vorkommen, als habe jedermann aus der Künstlergilde irgendwo eine Laube besessen, ein „buen retiro“, als Ausgleich für die Unerträglichkeit des politischen Rummels, als Zuflucht vor den ständigen „Kampagnen“, „unserem“ Staat sein Bestes zu geben, mit ebendiesem Staat identisch zu werden. Durch die moderne Form der Leibeigenschaft, der unaufhebbaren Bindung an die DDR-Scholle, gewann der Westen eine beinahe paradiesische Aura. Noch der letzte Pofel von Woolworth trug den Glanz der unerreichbaren Freiheit als Markenzeichen mit sich. Mit wie viel handwerklicher Innigkeit bastelte man aus leeren Chiantiflaschen Tischlampensockel. Und erst der unsterbliche Klospüler aus dem „Bauhaus“! Bekam man doch in der DDR nur Plastikspüler mit einer Lebensgarantie von vier Wochen. Und mit wie viel verlogener Liebe wurde die Tante aus Charlot- J. G. JUNG / DER SPIEGEL / XXP A. CZECHATZ / ULLSTEIN BILDERDIENST / DER SPIEGEL / XXP doch noch die Absperrung zu überwinden: an die Tunnelbauten, an die Versteckten in Autohecks, aus denen man die Benzintanks ausgebaut hatte, um mit einem Flüchtling und einem letzten Liter Treibstoff die „Friedensgrenze“ zu überqueren, oder an die Ballonfahrer, die „mit dem Wind nach Westen“ segelten. Der bitterste Witz war ein Kurzdialog: „Du, der Meier hat sich das Leben genommen!“ Antwort: „Na ja, jeder haut eben ab, so gut er kann.“ Der Mauerbau war die Zäsur. Es war das massive Eingeständnis des Versagens. Ein Konsens mit der Bevölkerung war nicht mehr denkbar. Und die DDR verwandelte sich mehr und mehr in ein Potemkinsches Dorf mit Hauptakteuren und vielen Statisten, die alle an der Inszenierung des Schwanks „Sieger der Geschichte“ mitwirkten. War nach dem Mauerbau eine Phase vorgeblicher Liberalität in Sachen Kultur eingetreten, wurden Monate später die Zügel erneut angezogen. Nachdem Chruschtschow sich gegen die Künstler ereifert hatte („Bilder wie mit Eselsschwänzen gemalt!“), kühlte das Klima in der DDR rasch ab. Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 in Ost-Berlin wurden vier Schriftsteller durch die Inquisition symbolisch hingerichtet: Stephan Hermlin, weil er in der „Akademie der Künste“ renitente Jungdichter hatte auftreten lassen; Peter Hacks wegen seines Theaterstückes „Die Sorgen und die Macht“; Peter Huchel wegen eines alten West-Berliner vor Anti-Ulbricht-Plakat im August 1961, Mauerbau: Glorreicher Sieg über den Klassenfeind? d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 187 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht samkeit“ ließe sich mit tenburg empfangen oder der Variante „Erfindung der Cousin aus Wanneder Langsamkeit“ als Eickel, sobald sie, die EinMotto für den DDR-Bürkaufstüten in den Fäusten, ger und sein Daseinsaus den Grenzkontrollgeprinzip anwenden. Der bäuden den Wartenden Bürger verharrte im Warentgegentraten. testand: zwölf Jahre für Ich bin sicher, die DDR ein Telefon, zehn Jahre hätte ohne die Paketlawifür ein Auto, ein Dezennen aus der Bundesrepunium für eine Wohnung, blik und ohne die Milliardie man nach weiteren de von Franz Josef Strauß Wartejahren mit einer keine 40 Jahre existieren Schrankwand ausstaffiekönnen. Haben wir nicht ren konnte. schon vergessen, dass in Man wartete vor seiner der HO ein Kilo Kaffee 80 Majestät, dem Kellner, um Mark gekostet hat? Und platziert zu werden. Nie dass eine Verkäuferin ein hat man vernommen, ein minimales Salär erhielt, Gast habe den Mut aufgeein Rentner eine Summe, bracht, sich frank und frei die zum Leben nicht ausan einen leeren Tisch zu reichte? setzen. Solche Tatkraft Ja, es wurde ernsthaft war den Leuten ausgetriedarüber spekuliert, ob der ben worden. Was eigentMangel nicht beabsichtigt lich hätte schon geschehen gewesen sei, sozusagen können? Dass der Kellner als Herrschaftsinstrument die Polizei gerufen und eingesetzt würde. Menden Ungebärdigen wegen schen, die stundenlang vor DDR-Belegschaft (1971)*: Tausend kleine Dinge versprochen Renitenz hätte verhaften Läden anstünden oder lassen? Im Unterbewusstdauernd auf Materialsusein des auf seine Platzieche für notwendige Reparung Angewiesenen muss raturen wären, hätten ein solches Szenario beeben keine Kraft und Lust fürchtet worden sein. mehr fürs politisch widerUm ein einziges Mal setzliche Räsonnement. die Wolga hinunterzuWohl wurde vorsichtig schippern, begab man sich gemeckert, doch es kam nächtlicherweile mit einicht einmal mehr zum nem Campingstuhl zum passiven Widerstand. Und „Haus des Reisens“, dem nachdem die KriminalisieTourismus-Monopolisten, rung des Westfernsehens wo einmal im Jahr Ausstillschweigend beendet landstrips verkauft wurworden war, durfte der den. Morgens um vier vom schönen neuen Lesetzte man sich zu der ben Erschöpfte sich nun Schlange Gleichgeduldiguten Gewissens die geger und dachte an Onkel nerelle Schizophrenie erStraßencafé in Ost-Berlin (1967): Vom Kellner gnädig platziert Max aus Solingen, der unlauben: mit der Physis im Osten zu leben und mit der Psyche im rung lautete: „Das muss selbst der Holz- gehindert die Welt durchbummelte. Und fäller im Erzgebirge verstehen!“ Auch der weil man Zeit im Übermaß hatte, berechWesten. nete man noch zusätzlich die Dauer, bis Der Wettlauf zwischen dem armen TV- war nur eine Schimäre. Und außerdem kontrollierte ja die man selbst als Rentner in den Westen reiHasen der SED und dem bundesdeutschen TV-Igel war von Anfang an entschieden. Führungsclique in Wandlitz die Sendun- sen durfte. Hoffen und Harren wäre das Wie Gesundbeter veranstaltete die Partei gen, um bei Missfallen telefonisch dem treffliche Motto des „Volkes der DDR“ immer aufs Neue Konferenzen, auf denen jeweiligen Chef vom Dienst im Sender gewesen. Täuschung und Vortäuschung bestimmdie verängstigten und indolenten Redak- ihren Unmut auszudrücken. Sie hatten teure und Dramaturgen aufgefordert wur- alles im Griff auf dem sinkenden Schiff, ten die Methoden. Um Warenfülle zu sugden, bei der Programmgestaltung mehr wie sie glaubten. Der Titel von Sten Na- gerieren, erfand Ulbricht den Slogan von Kühnheit an den Tag zu legen. Insbeson- dolnys Roman „Die Entdeckung der Lang- den „Tausend kleinen Dingen“, die ab sofort den Verbrauchern zur Verfügung stedere die „heitere Muse“ sei zu pflegen, ein Geschöpf, dessen Unterhaltungskünste auf * Arbeiterinnen des VEB Gummiwerk Elbe (Elbit) in hen sollten. Besuchte man die Kaufhalle am Alexanderplatz, wurde man mit dieser niedrigstem Niveau abliefen. Eine Forde- Wittenberg. K. KLINGNER Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht „Aus manchem Auftreten geht hervor, dass sich Genosse Walter Ulbricht gern auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin sieht.“ Das SED-Politbüro an Leonid Breschnew im Januar 1971 188 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ehepaare Honecker, Ulbricht (1969): Neue Sprachregelung, alte Linie Parole begrüßt, aber der Gruß hielt nicht, was er versprach. Denn inzwischen hatte sich klammheimlich die mittelalterliche Tauschwirtschaft durchgesetzt.Wer über Ware verfügte, durfte mit Gegengaben rechnen. Insofern wurde massenweise Ware verschoben. Arbeiter bestahlen die ihnen „gehörenden“ Betriebe und privatisierten „Volkseigentum“ auf Deibel komm raus. Betriebsleiter betrieben vor allem verbotenerweise Vorratswirtschaft, damit, falls Lieferungen anderer Hersteller ausfielen, die Produktion aufrechterhalten werden konnte. Vermutlich ignorierten die Behörden derlei Treiben, weil sonst die Stimmung mieser und der Konsum noch mäßiger gewesen wäre. Kein Datschen-Erbauer wurde jemals gefragt, woher er denn das Zement fürs Fundament habe, woher das Bauholz, die Ziegel, die Dachpappe, die Kabel. Wer sich in seinem Schrebergarten selbst einmauerte und ansonsten die Klappe hielt, blieb weitestgehend von Repressalien der staatlichen Organe verschont. So ging es im sozialistischen Biedermeier zu. Ulbrichts Selbstverständnis beschreibt ein Vorgang, den mir eine Defa-Schauspielerin erzählte. Bei einem Staatsempfang im Roten Rathaus in Berlin, zu dem auch wohlgelittene Künstler geladen waren, tanzte die Aktrice mit dem mächtigsten Mann im Staate und fragte ihn dabei in aller Unschuld, ob er sich nicht wie ein König vorkomme. Ulbricht bestätigte das schmunzelnd, fügte jedoch mit falscher Bescheidenheit hinzu, schließlich habe er sich seine Position selbst erarbeitet. Will man Intrigantentum, Machtmissbrauch und Gewissenlosigkeit als Eigenleistung akzeptieren, dann war der sächsische Provinzler fraglos zum „König“ eines recht bescheidenen Reiches aufgestiegen. Bewundernswert immerhin, wie lange er sich auf seinem Posten gehalten hat. Gegen die bedrohliche „Aufweichung“ aus dem Süden, gegen den „Prager Frühling“ war er ausreichend gewappnet. Mielke hatte mittlerweile Heerscharen von offiziellen und inoffiziellen Agenten aufgestellt, wie sie vorher keinem anderen Staat dienstbar gewesen sind. War die Technik der DDR-Industrieproduktion vorgestrig, bei Mielke war die Technik auf dem neuesten Stand. Jene Bürger, die sich in Prag anonym und abgewandten Gesichts über Alexander Dub‡ek positiv geäußert hatten, wurden durch Stimm-Identifikation dingfest gemacht; man konnte ihren Dialekt bis in die winzigste Region eingrenzen und brauchte nur noch bei der Volkspolizei nachzufragen, welcher „Bürger“ kürzlich in Prag gewesen war. Man praktizierte George Orwell, ohne seinen Namen zu kennen. Aber der Monarch sollte nicht mehr lange regieren. Das „liebe Kind“ Honecker erwies sich als Vatermörder, natürlich mit Moskauer Billigung. Ein Witz, vielleicht LITERATUR Walter Janka: „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1990; 128 Seiten – Der frühere Leiter des Aufbau-Verlags beschreibt am eigenen Fall die Intellektuellen-Verfolgung unter Ulbricht. Norman M. Naimark: „Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949“. Ullstein Verlag, Berlin 1997; 685 Seiten – Beschreibung der ersten Nachkriegsjahre, in denen die Sowjetunion aus ihrem Besatzungsgebiet ein „Bruderland“ formte. Volker Handloik / Harald Hauswald (Hrsg.): „Die DDR wird 50“. Aufbau-Verlag, Berlin 1998; 248 Seiten – Texte und Fotos aus einem untergegangenen Staat. Stefan Heym: „5 Tage im Juni“. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1999; 264 Seiten – Schlüsselroman zum 17. Juni 1953, in der DDR nicht gedruckt, obwohl als „beste und gerechteste Darstellung der damaligen Ereignisse“ (Stephan Hermlin) gewürdigt. 190 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 vom Büro zur Desinformation gläubiger Genossen in Umlauf gesetzt, läutete den Abgang ein. Ulbricht, so wurde kolportiert, habe während einer Politbürositzung wütend verlautbart, er verbitte sich die üblen Nachreden über seinen Geisteszustand, wobei er, zur Bestätigung seiner energischen Haltung, mit den Knöcheln auf den Tisch klopfte. Atemlose Stille. Dann drehte sich Ulbricht zur Tür um und rief: „Herein!“ Mit Honecker tauchten die alten Illusionen wieder auf, nun werde alles leichter und menschlicher. Die „Kulturschaffenden“ wurden gestreichelt und gepriesen und überhörten den Nachsatz von Honeckers Deklamation: Es gebe keine Tabus für Kunst und Literatur! Wenn man von einem festen sozialistischen Standpunkt ausgehe … Der bekannte Pferdefuß. Wer den „festen Standpunkt“ definieren würde, war klar. Die Parteilinie hatte sich kaum geändert, bloß die Sprachregelung. Der Verfall der Städte nahm seinen unaufhaltsamen Fortgang, die Wirtschaft kollabierte sacht vor sich hin, Biermann wurde ausgebürgert, danach ein unerwartetes Aufflackern von Protest, und dann begab sich die DDR in ein durch Westmark-Milliardenschulden hinausgezögertes Koma. Von Ulbricht war längst keine Rede mehr. Seine Porträts wurden geschwind abgehängt und durch die des Nachfolgers ersetzt – nach dem klassischen sowjetischen Brauch, dessen Anstößigkeit niemand mehr wahrnahm. P. PEITSCH Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht Der Autor Günter Kunert, 70, hat die DDR als unbequemer Chronist beschrieben und 1979 verlassen. Der Lyriker und Prosa-Autor („Erwachsenenspiele“) lebt in Schleswig-Holstein. Klaus Schroeder: „Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990“. Carl Hanser Verlag, München 1998; 782 Seiten – Geschichte der DDR, ihrer Organe und Akteure. Hermann Weber / Ulrich Mählert (Hrsg.): „Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936 – 1953“. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1998; 620 Seiten – Chronik der kommunistischen Selbstdezimierung durch Schauprozesse und tödlichen Genossenstreit. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: Die Ära Ulbricht PORTRÄTS Lob für Stalins Güte unter nicht selten Ulbricht-Widersacher, auf Nimmerwiedersehen abzuholen pflegten. Insgeheim muss dem „gespaltenen Dichter“ (so der Titel einer Becher-Ausgabe) vor seinem brutalen Exilgefährten gegraust haben. Jedenfalls hatte er sich testamentarisch ein „betontes Nicht-Staatsbegräbnis“ ausgebeten. Doch wie zum Hohn verordnete Walter Ulbricht ihm auf dem Friedhof schwülen Pomp, mit Orden, Militär und Studenten im Gleichschritt. Alexander Abusch, ideologischer Widersacher und Nachfolger Bechers, durfte tönen: „Er war unser.“ Hilde Benjamin Die Einpeitscherin Wegen ihres Einsatzes als junge Anwältin für die Kommunistische Partei Ende der zwanziger Jahre hieß sie die „Rote Hilde“ und war beliebt. Der Name blieb an ihr haften, wenn auch als Schimpfwort: Hilde Benjamin, eine bürgerliche Studierte mit gepflegten Umgangsformen, hatte sich zu Ulbrichts prominentester Juristin gewandelt. So stand sie für die blutigen Abrechnungen mit wirklichen und vermeintlichen Systemgegnern. Hilde Benjamins jüdischer Ehemann, Bruder des Philosophen Walter Benjamin, war 1942 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet worden. Nun wurde sie selbst Leitfigur einer „terroristischen Strafjustiz“ (Rudolf Wassermann). Als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR leitete sie in den stalinistischen Jahren der DDR Schauprozesse, gelegentlich sogar im Theater, verhängte mit eifernder Stimmlage brutale Strafen, sprach Todesurteile. Von 1953 bis 1967 war Hilde Benjamin Justizministerin. Zu den von ihr vollzogenen Änderungen des DDRRechts gehörten auch populäre Neuerungen, etwa im Familienrecht. Doch ihren Ruf besiegelte die Gleichschaltung der Justiz: Keiner dürfe Richter bleiben, „der nicht Parteigänger des revolutionären Klassenkampfes“ sei. Das überwachte die gefürchtete Funktionärin teils persönlich im Gerichtssaal. Beim fanatischen Durchsetzen ihrer Version von sozialistischem Recht ließ Hilde Benjamin sich nicht beirren: „Hasstiraden“, sagte sie, „zeigen, dass wir Recht haben.“ Aber nicht nur beim Klassenfeind stieß das System Benjamin auf Ablehnung. Für viele in der DDR verkörperte die Einpeitscherin mit der deutschtümelnden Flechtkranzfrisur den rechthaberischen Unrechtsstaat. Dessen Zusammenbruch musste sie nicht mehr erleben – Hilde Benjamin starb 87-jährig im April 1989. Grimmiger Nachtritt der (Ost-)„Berliner Zeitung“: „Man hätte ihr gerne noch ein paar Monate gegönnt.“ Christian Habbe ULLSTEIN BILDERDIENST Spiegel des 20. Jahrhunderts Das intellektuelle Europa westlich der Elbe war beeindruckt von dem Mann: ein expressionistischer Schriftsteller, dessen Werk gelegentlich sogar von Thomas Mann gelobt wurde („Ein großes Buch!“); ein dich- Becher (um 1950) tender Kulturfunktionär, der „das Recht der Andersdenkenden“ forderte und auch noch die DDR-Hymne mit dem Reizpostulat „Deutschland, einig Vaterland“ getextet hatte. Das machte gespannt: Johannes Robert Becher (1891 bis 1958) gab jenen Optimisten Nahrung, die in Ostdeutschland ein antinazistisches Projekt entstehen sahen. Doch der Poet im Amt enttäuschte viele Hoffnungen. Vorwürfe von Opportunismus und Feigheit überschatteten seine Bilanz als DDR-Kulturminister von 1954 bis 1958. Tatsächlich hatte Staatsästhet Becher, der feudal mit Seeblick wohnte und auch das West-Berliner Nachtleben zu schätzen wusste, stets kunstvoll die Balance zur wirklichen Macht gehalten – und das hieß kuschen. Auf Wagemut folgte Selbstkritik nebst sinistrer Agitprop. Der Politiker, der Reformkommunisten wie Georg Lukács oder Wolfgang Harich gestützt hatte, war sich nicht zu schade, bei Bedarf Stalins „Güte“ zu rühmen und seinen Chef peinlich zu lobpreisen („Walter Ulbricht – ein deutscher Arbeitersohn“). Diese Ängstlichkeit erklärten sich Mitstreiter aus den traumatischen Erfahrungen Bechers beim Überleben im Moskauer Emigranten-Hotel „Lux“, aus dem Stalins Geheimpolizisten frühmorgens deutsche Genossen, dar- VERLAGSGRUPPE AUFBAU-VERLAG Johannes R. Becher Der gespaltene Dichter Benjamin (1950) DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. DAS JAHRHUNDERT DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR 194 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama RUSSLAND Ruf nach dem Notstand DPA ach der verheerenden Explosion in der Nacht zum Donnerstag in einem Moskauer Wohnhaus wird der Ruf nach einem Notstandsregime immer lauter – bei dem mutmaßlichen Terroranschlag kamen 90 Menschen ums Leben, 180 wurden verletzt. Der Ausnahmezustand käme dem Kreml möglicherweise gerade recht, fürchtet Wladimir Issakow, Chef der Rechtsabteilung des Parlaments: In dieser Zeit dürfte nicht gewählt werden. Somit könnte Boris Jelzin, wegen Korruptionsverdachts unter Druck geraten, die für Dezember geplanten DumaWahlen und möglicherweise auch die Zerstörtes Moskauer Wohnhaus für nächsten Sommer angesetzten Präsidentenwahlen aussetzen. Ein entsprechender Ukas müsste Seit 1995 hat es in Russland über 40 Sprengstoffanschläge allein lediglich vom Föderationsrat bestätigt werden. Selbst libera- gegen Wohnhäuser gegeben, in Moskau war es seit Jahresbeginn le Politiker wie „Jabloko“-Chef Grigorij Jawlinski plädieren bereits die vierte Explosion. Wie üblich wurde kein einziger Fall inzwischen für die Ausrufung des Notstands – zumindest in geklärt, Spuren zu den tschetschenischen Rebellen ließen sich bislang nicht nachweisen. Da Kreml und Armeeführung eine unTeilen des Kaukasus, „zur politischen Unterstützung unserer Soldaten“. Für viele gilt als ausgemacht, dass die in abhängige Berichterstattung vom Kriegsschauplatz Dagestan inDagestan kämpfenden Islamisten hinter dem Anschlag zwischen unterbunden haben, fällt die Schuldzuweisung an die „islamischen Terroristen“ jedoch auf fruchtbaren Boden. stehen. Gut ausgerüstet für wirksame Operationen im russischen Hinterland sind die kaukasischen Freischärler inzwischen tatsächlich – dabei mitgeholfen haben allerdings mehrere russische Banken und sogar Russlands Armee. Seit Juni stoppte der Geheimdienst nach Auskunft eines Spezialisten in verschiedenen Kasernen fünf Lieferungen von Sprengstoff, Waffen und Munition für Tschetschenien. Kurz vor Beginn des neuen Krieges fing die Abwehr noch einen Transport mit 3200 Geschossen für den Raketenwerfer „Grad“ ab, wenig später zwei Wagen mit 300 Panzerfäusten. Noch mysteriöser: Zwei der mit Verschlüsselungstechnik versehenen Satellitentelefone, mit denen die Rebellen des Feldkommandeurs Schamil Bassajew gegenwärtig ihre Kämpfe gegen die Russen koordinieren, sollen in Moskau angemeldet sein – auf den Namen des Jelzin-Freunds und Milliardärs Boris Beresowski. „Grad“-Raketenwerfer der russischen Armee in Dagestan Furcht vor Rache P olitiker des Saddam-Regimes haben die Zahl ihrer Auslandsreisen drastisch eingeschränkt – sie fürchten, jenseits der Grenze völkerrechtlich belangt zu werden. Tarik Asis, Vertrauter und Sprachrohr des Diktators, blieb vorige Woche überraschend einer internationalen Konferenz in Rom fern. Der Vizepremier, der im Vatikan zudem die Modalitäten für den geplanten Papstbesuch im Irak besprechen wollte, schickte den erheben – Duri habe die LiKonferenzteilnehmern seine quidierung von mehreren tauRede per Videoband zu. Die send Menschen zu verantworReise nach Rom sei zu unsiten. Saddams Halbbruder cher, da ihn irakische OpposiBarsan al-Takriti dagegen hat tionelle und linke Italiener weBagdad notgedrungen den gen Völkermords vor Gericht Rücken gekehrt – er liegt im bringen wollten. Vizepräsident Zwist mit dem Diktator. Der Issat Ibrahim al-Duri, zur frühere Geheimdienstchef Leukämie-Behandlung in und Uno-Botschafter in Genf Wien, ist von Saddam Hussetzte sich in die Schweiz ab, sein aus demselben Grund Barsan al-Takriti ist nun aber in Reichweite der nach Bagdad zurückbeordert Opposition: Deshalb ist er untergetaucht worden. Österreichs Grüne und der linund soll in den Vereinigten Arabischen ke Flügel der SPÖ hatten sich bemüht, Emiraten um Asyl gebeten haben. gegen ihn eine Anklage à la Pinochet zu AP IRAK d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 197 AFP / DPA N Panorama GRIECHENLAND/TÜRKEI „Breiiger Mischmasch“ S eismologen befürchten, dass den Erdstößen in der Türkei und Griechenland bald weitere Beben folgen könnten. Zwar bestehe zwischen beiden Katastrophen kein unmittelbarer Zusammenhang, doch deute die Häufung auf eine „Zunahme seismischer Aktivität“ entlang eines Gürtels, der von Afghanistan bis Italien reicht. Nach dem Beben, das Dienstag voriger Woche die Region nördlich von Athen erschütterte, wurden bis zum Wochenende über 100 Tote geborgen; der Erdstoß von Izmit in der Türkei hatte drei Wochen zuvor mehr als 15 000 Menschenleben gefordert. Beide Länder, so der schwedische Erdbebenforscher Ronald Arvidsson, ruhten auf einem „breiigen, zersplitterten Mischmasch“. Eingeschlossen und bedrängt von der afrikanischen, arabischen und eurasischen Kontinentalplatte, drehe sich die geologische Masse unter der Ägäis seit Jahrtausenden entgegen dem Uhrzeigersinn und deformiere sich an ihren Rändern selbst. Eine Art Domino-Effekt in westlicher Richtung stellten die Seismografen entlang der nordanatolischen Verwerfung fest: Insgesamt zehn schwere Beben haben die Türkei seit 1939 erschüttert; jedes einzelne gab Spannung an die nächste geologische Schwachstelle weiter. Sowohl Athen als auch Istanbul stehen auf seismisch besonders aktivem Boden. Für die türkische Metropole, so die Suche nach Erdbebenopfern in Athen FRANKREICH Jagdfieber AFP / DPA N Jägerprotest im südfranzösischen Auch FÄ R Ö E R Separatisten im Atlantik ach ihrem Sensationserfolg bei den Europawahlen (6,8 Prozent, sechs Abgeordnete) entwickelt sich die französische Jägerpartei CPNT zum Schreckgespenst. Der vom Jagd-Fundi Jean Saint-Josse geführte Verein, der anfangs nur die von Brüssel verordneten Schonzeiten für Wild kippen wollte, ist inzwischen ein Hort der MaastrichtGegner und verstört vor allem die Sozialistenpartei. Die von rechts und links umgarnten Jäger verfügen über einen NordAtlantischer Ozean Vestmanna D ie baumlose Inselgruppe auf halbem Wege zwischen Großbritannien und Island strebt in die Unabhängigkeit. Bis Jahresende soll ein Vertrag über die Abspaltung der autonomen Region von Dänemark ausgehandelt werden, über den die 45 000 Einwohner kommendes Frühjahr abstimmen wollen. In Umfragen zeichnet sich bereits eine Mehrheit für den Weg in die staatliche Souveränität ab: Nur 13 Prozent halten das seit 1948 gültige Selbstverwaltungsabkommen mit Kopenhagen 198 Klaksvík Tórshavn FÄ R Ö E R- I N S E L N Tvöroyri DÄNEMARK 20 km d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Anhang von etwa 50 000 Mitgliedern und haben vor allem in kleinen Gemeinden das Sagen. Vorige Woche eröffnete Saint-Josse die Hatz auf seine Erzfeinde, die Grünen („Sie faseln von einer jungfräulichen Natur, die nur in ihren Hirnen existiert“) – er will sie bei den Kantonal- und Kommunalwahlen 2001 zur Strecke bringen. Der Oberjäger droht auch schon dem sozialistischen Premier Lionel Jospin, dessen Wahlkreis bei Toulouse im CPNT-Revier liegt. Nehme der Ministerpräsident und mutmaßliche Kandidat fürs Präsidentenamt im Jahr 2002 die Jäger nicht vor der EU in Schutz, werde „es ernst für ihn“. noch für zeitgemäß. Den Nachfahren keltischer Ureinwohner und der Wikinger, die die Inselgruppe im neunten Jahrhundert besiedelten, geht es ökonomisch blendend: Dank guter Erlöse in der Fischindustrie, dem wichtigsten Exportzweig, verzeichnet die Außenhandelsbilanz einen kräftigen Überschuss; Löhne und Gehälter stiegen 1998 um bis zu 16 Prozent. Für die Zukunft erhoffen die Färöer Einnahmen aus Ölvorkommen im Nordatlantik. Die Dänen scheinen der abtrünnigen Nordregion keine Steine in den Weg legen zu wollen: 68 Prozent billigen ihren Vettern auf der atlantischen Inselgruppe das Recht auf Unabhängigkeit zu. Ausland Forscher, sei die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens derzeit höher als für Athen; eine zeitliche Prognose jedoch unmöglich. Diplomatisch haben die Katastrophen von Izmit und Athen das Klima zwischen den Nachbarn verbessert. „Die Natur hat unsere Völker gelehrt, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben“, so der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit. Der griechische Premier Kostas Simitis bewertete die gegenseitige Hilfe als „Beweis von Freundschaft und Solidarität“. Erdbeben in Griechenland 500 km Eurasische Platte Istanbul Izmit GRIECHENLAND Ankara Hauptbewegungsrichtung TÜRKEI Athen Anatolische Platte AP Epizentrum Afrikanische Platte ZYPERN Arabische Platte PA K I S TA N Aufstand gegen den Premier S BÜCHER Raketen-Deal Weder Paprika noch Gulasch N ordkoreas Diktator Kim Jong Il, 57, will offenbar darauf verzichten, erneut eine Rakete über dem Japanischen Meer zu testen. Westliche Beobachter hatten den Abschuss eines zweiten, verbesserten „Taepodong“-Geschosses für Donnerstag voriger Woche erwartet, zum Feiertag der nordkoreanischen Staatsgründung. US-amerikanische Satellitenfotos lassen jedoch erkennen, dass die Nordkoreaner bislang nicht einmal das Hauptstück der Rakete zur Abschussrampe transportiert haben. Für den Fall, dass das stalinistische Regime in Pjöngjang keine neuen Tests durchführe, würden die USA, Südkorea und Japan weitere Hilfsmittel für die marode nordkoreanische Wirtschaft bereitstellen, deuteten Sicherheitsexperten in Tokio an. Japan könnte auch die vor einem Jahr wegen der militärischen Drohgebärden Pjöngjangs verhängten Sanktionen lockern und die Nahrungsmittellieferungen wieder aufnehmen. W enn Paul Lendvai, 70, der unermüdliche Beobachter Osteuropas, zur Schreibmaschine greift, dann hat er in der Regel Spannendes zu erzählen. In seinem neuesten Werk „Die Ungarn“ räumt Lendvai auf mit dem verzerrten Ungarnbild der Westeuropäer von Puszta, Paprika und Gulasch. Das Buch handelt vom Freiheitskampf der Magyaren gegen das Haus Habsburg, beleuchtet das verdrängte Kapitel der Judenvernichtung unter Horthy, reflektiert die Ereignisse im Revolutionsjahr 1956 und das beschwerliche Alltagsleben danach. Doch beim denkwürdigen Jahr 1989, als die Regierung in Budapest für tausende DDR-Flüchtlinge den Eisernen Vorhang aufriss, hört die Zeitenreise abrupt auf. Das erstaunt bei einem Autor, der sich als langjähriger Intendant von Radio Österreich International gerade mit seinen scharfzüngigen Analysen einen Namen machte. Die schriftstellerische Stärke des gebürtigen Budapesters lag stets darin, dem deutschen Leser das Alltagsleben der Menschen in Osteuropa näher zu bringen und den tief verwurzelten Lebenspessimismus seiner eigenen Landsleute zu erklären, die noch heute glauben, trotz Nato-Mitgliedschaft und EU-Kandidatur das „einsamste Volk auf der Welt“ zu sein (Nationaldichter Petöfi). Einen eindrucksvollen Exkurs zu Lichtund Schattengestalten der ungarischen Geschichte liefert das letzte Kapitel des Buchs: Nur wenige dürften wissen, dass Arthur Koestler ungarisch träumte und auf deutsch schrieb; dass Filmstar Tony Curtis in seiner Jugend kein Wort Englisch sprach und Andy Grove, den das US-Magazin „Time“ auf Grund seiner Erfindung des Computerchips Intel 1997 zum Mann des Jahres kürte, als András Gróf 1956 aus Ungarn in die Vereinigten Staaten flüchtete, um sich buchstäblich vom Tellerwäscher zum Multimillionär hochzuarbeiten. Lendvais Werk ist eine gut dosierte Mischung geschichtlicher Fakten, politischer Wertungen und kultureller Anekdoten. tungsausgaben senkt und die Staatseinnahmen erhöht. Sharif versucht die Proteste mit der Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen abzuwürgen, er ließ bereits mehrere hundert Demonstranten verhaften. „Ein Totalangriff auf die Bürgerrechte“, empörte sich die größte Oppositionspartei Pakistan People’s Party. Die Streiks würden fortgesetzt, „bis Herr Sharif sein Amt niederlegt“, drohte PPP-Chefin Benazir Bhutto, 46. Der Sturz des Premiers ist nicht leicht zu bewerkstelligen; seine Pakistan Muslim Liga besitzt im Parlament die Mehrheit, dem Staatspräsidenten aber und dem Obersten Gericht fehlt die nötige Macht zum Eingreifen. Bei einem Abgang Sharifs befürchten Beobachter eine Machtübernahme fundamentalistischer Gruppen wie der Jamiat-e-Ulema-e-Islam, Pakistans führender islamistischer Partei. AP AFP / DPA treiks und Demonstrationen setzen Premier Nawaz Sharif, 49, unter Druck. Während die Händler wegen der geplanten 15-prozentigen Umsatzsteuer auf die Straße gehen, sind Opposition und Armee über den schmählichen Rückzug nach dem jüngsten KaschmirKonflikt mit Indien erbost. Die Militäroperation (800 Millionen Dollar Kosten) brachte das Land auch finanziell weiter ins Trudeln – Pakistans Auslandsschulden sind auf 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geklettert. Der Internationale Währungsfonds aber will einen Kredit von 1,6 Milliarden Dollar nur freigeben, wenn die Regierung ihre Rüs- NORDKOREA Premier Sharif, Demonstranten der Pakistan People’s Party in Lahore d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Paul Lendvai: „Die Ungarn. Sieger in Niederlagen“. C. Bertelsmann, München; 336 Seiten; 44,90 Mark. 199 Ausland OSTTIMOR „Das Volk wird vernichtet“ Der Westen will keinen neuen Genozid dulden – das Beispiel Kosovo verpflichtet. Bill Clinton bat Kanzler Gerhard Schröder, auf Indonesiens Präsidenten Habibie mäßigend einzuwirken. Sonst drohen Wirtschaftssanktionen. 200 die Verhängung des Kriegsrechts durch Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie, 63, verschaffte den Mordbrennern erst recht freie Hand für ihre Säuberungen. Das Chaos zu beenden, rechtfertigte Armeesprecher General Sudrajat die Untätigkeit AP schen durch Terror und Aushungerung – rund ein Viertel der heutigen Bevölkerung. Derzeit sind mehr als 200 000 Melanesen auf der Flucht. Über 60 000 halten sich schon in westtimoresischen Lagern auf – eine weitere Parallele zum Kosovo. Der Westen, nach seinem entschiedenen Einschreiten gegen Serbenführer Slobodan Milo∆eviƒ moralisch gefordert, favorisiert auch diesmal eine internationale Eingreiftruppe – die Lösung des OsttimorProblems, heißt es in New York, habe Modellcharakter für die Dritte Welt. Es sei jedoch „dringend anzuraten“, mahnte UnoGeneralsekretär Kofi Annan, „dass die indoArmeechef Wiranto AFP / DPA K rampfhaft umklammerten die Flüchtlinge ihre Habseligkeiten und rannten zu den mit laufenden Motoren wartenden Flugzeugen. Als die Frachtmaschinen der australischen Luftwaffe endlich vom Flughafen Dili abhoben, entschwebten sie durch schwarze Rauchwolken. Das Zentrum der osttimoresischen Hauptstadt stand in Flammen. Pro-indonesische Milizen liefen, nach Bekanntgabe des Unabhängigkeitsreferendums am vorvergangenen Wochenende, Amok. Ganze Ladenzeilen gingen in Flammen auf, ebenso die Universität, das Fernmeldegebäude und die Residenz von Bischof Carlos Filipe Ximenes Belo. Der Friedensnobelpreisträger selbst konnte, getarnt als Passagier „Louis Rochetta“, nach Darwin ausgeflogen werden. Dili war in kürzester Zeit eine Geisterstadt. Wer nicht in die Berge floh, wurde massakriert. Oder er wurde, wenn er Glück hatte, mit vorgehaltener Waffe auf Lastwagen verladen und nach Westtimor deportiert – über Landstraßen, die mit den aufgepfählten Köpfen von Befürwortern der Unabhängigkeit gesäumt waren. Als halbwegs sicher galt zunächst noch das Gelände der Uno-Mission in Osttimor (Unamet), wo hinter Stacheldraht hunderte auf Schutz vor den entfesselten Schlächtern hofften. Im provisorischen Lazarett des Gebäudes gebar am Dienstagmorgen um 3.45 Uhr, während in den Straßen unablässig automatische Waffen ratterten, eine Osttimoresin einen Sohn, den sie Pedro Unamet nannte – nach jener Organisation, die Osttimors Weg in die Selbständigkeit überwachen sollte und nun ohnmächtig den von Jakartas Generälen inszenierten Terror erlebt. 78,5 Prozent der rund 440 000 osttimoresischen Wähler haben sich gegen einen Verbleib als 27. indonesische Provinz ausgesprochen. Doch die militanten Verlierer der Abstimmung reagieren radikal bis zum Äußersten: Sie wollen die arme Inselhälfte höchstens als menschenleere Tabula rasa aufgeben. Die Vereinten Nationen erlebten ein Fiasko. Die Tragödie war vorauszusehen gewesen, doch die Völkergemeinschaft versagte im Katastrophenmanagement. Und Präsident Habibie der Militärs, sei schließlich „nicht so einfach wie das Spülen einer Toilette“. Auch das mutmaßliche Oberhaupt des künftigen Kleinstaates musste flüchten. José Alexandre Gusmão, 53, Ex-Chef der osttimoresischen Guerrilla Falintil, wurde am Dienstag in Jakarta aus siebenjähriger Haft entlassen. Weil die indonesische Polizei seine Sicherheit nicht garantieren wollte, schlüpfte er sofort in der britischen Botschaft unter. „Ich kann zwar wieder die Luft der Freiheit atmen“, sagte Gusmão, „doch das Volk, das ich führen soll, wird gerade vernichtet.“ Osttimor ist der neueste Schauplatz eines Völkermords, ein Kosovo in den Tropen. Seit Indonesien die einstige portugiesische Kolonie 1975 mit Billigung der USA besetzte, starben dort 200 000 Men- Pro-indonesische Banden in Dili: Zynischer Machtkampf d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Flüchtlingstransport nach Westtimor: „Ein Krieg wäre ein großer Fehler“ Clinton und Tony Blair, in ihrem Eifer auffallend gedämpft sind. Sie stellen Jakarta „schwere wirtschaftliche Konsequenzen“ in Aussicht. Washington will eine Blauhelm-Mission bislang nur logistisch unterstützen; Indonesiens Stabilität ist den USA wichtiger als die Freiheit Osttimors. Großbritannien entsandte einstweilen den Zerstörer HMS FOTOS: AP nesische Regierung einer Entsendung zustimmt“. Denn Indonesien ist nicht Serbien: Zu bedeutend ist das Land weltweit als Handelspartner, zu schwer das politische Gewicht des 209-Millionen-Staates in Südostasien, zu gut gerüstet seine 476 000Mann-Streitkräfte. Außerdem kungeln die Westmächte traditionell mit Jakarta. Helmut Schmidts Regierung genehmigte Lizenzen für den Hubschrauberbau und half beim Aufbau einer Anti-Terror-Einheit. Nachfolger Helmut Kohl unterhielt stets ausgezeichnete Beziehungen zum damaligen Präsidenten Suharto, obwohl der als korrupt verschrieen war. Kohl urlaubte mit seinem „lieben Freund“ auf der Privatinsel Bira Kecil, besuchte ihn am Krankenbett – und Bonn verkaufte dem Indonesier 39 Schiffe der ehemaligen DDR-Marine. Fast immer begleitete eine Korona deutscher Wirtschaftsbosse den Kanzler nach Indonesien. Zahlreiche Offiziere Suhartos wurden an der Führungsakademie der Bundeswehr ausgebildet, der Kommandeur der AntiTerror-Truppe Kopassandha und Suhartos Schwiegersohn Prabowo Subianto bei der GSG 9. Von 1991 bis 1993 leistete Bonn eine „Polizeihilfe“ in Höhe von 2,2 Millionen Mark. Die Eliteeinheit Kopassus wiederum, maßgeblich beteiligt an der jahrzehntelangen Unterdrückung der Osttimoresen, wurde noch Mitte der neunziger Jahre von amerikanischen und australischen Spezialisten geschult. Kein Wunder, dass die Chefmoralisten des Kosovo-Kriegs, Bill der politischen Eliten Jakartas – auf Kosten der Bevölkerung d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 „Glasgow“, Frankreich am Freitag die Fregatte „Vendemaire“. Australien, nur 500 Kilometer von Osttimor entfernt, verlegte 500 Soldaten in die Gewässer vor der Insel und erhöhte seine Eingreifreserve, die wohl eine bewaffnete Intervention anführen dürfte, auf 4500 Mann. Doch Außenminister Alexander Downer stellte klar: „Ein Krieg gegen die viertbevölkerungsreichste Nation der Welt wäre ein großer Fehler.“ Auch die Bundesregierung zaudert. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul preschte zwar Anfang voriger Woche vor und forderte den unverzüglichen Einsatz einer internationalen oder regionalen Friedenstruppe. Joschka Fischer und Gerhard Schröder schoben die Verantwortung weiter: „Da sind doch Australien und Neuseeland viel näher dran.“ Bis zum Wochenende glühten die diplomatischen Drähte. Clinton beriet mit seinen Kollegen in London, Canberra und Berlin und bat den Bundeskanzler, auf den Mann in Jakarta einzuwirken. Daraufhin redete Schröder dem fließend deutsch sprechenden, in Aachen zum Ingenieur ausgebildeten Habibie ins Gewissen, „dass das in Osttimor nicht so weitergehen kann“. Blauhelme verbat sich der Präsident erst vehement, als Schröder jedoch nachhakte, schränkte er ein: „Noch nicht.“ Fischer drohte unterdessen, ganz im Sinne Clintons, seinem indonesischen Counterpart Ali Alatas mit einer „Störung des Finanzflusses“, falls das Militär weiterhin die blutige Säuberung Osttimors dulde. Das Kalkül der westlichen Politiker: π Eine von Jakarta nicht akzeptierte Intervention könnte zu einer Solidarisie201 rung der Asean-Staaten mit Indonesien führen, zu einem Konflikt „Weiß gegen Gelb“; π Habibie, als Verlierer der jüngsten Parlamentswahlen geschwächt und Rücktrittsgerüchte dementierend, könnte von der Armee weggeputscht werden, ihr Gefangener ist er ohnehin. Die innenpolitische Schlüsselfigur ist inzwischen Armeechef Wiranto; π China würde gegen ein Uno-Mandat sein Veto einlegen, um einem Präzedenzfall für ausländische Einmischung in Tibet oder Taiwan vorzubeugen. Also ist ökonomischer Druck der vorläufige gemeinsame Nenner. Noch diesen Monat wird die nächste Tranche eines Kredits des Internationalen Währungsfonds (IWF) an Indonesien in Höhe von 460 Millionen Dollar fällig. Der IWF droht mit Aussetzung, falls das Morden weitergeht. Die Börse reagierte ohnehin schon. Vorige Woche fiel die indonesische Rupiah um 14 Prozent – erst 1997 hatte die Asienkrise zu einem Kaufkraftverlust von rund 80 Prozent geführt und zu sozialen Unruhen. „Der fürchterliche Zynismus ist“, sagt Sidney Jones von der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, „dass in Osttimor nur ein Machtkampf der politischen Eliten Jakartas ausgetragen wird – auf Kosten der Bevölkerung.“ Einflussreiche Generäle waren entrüstet, als Habibie zu Jahresbeginn ohne ihr Einverständnis verkündete, Osttimor könne über seine Zukunft selbst entscheiden.Weil Papua-Stämme in Irian Jaya und radikale Muslime in der Provinz Aceh ebenfalls die Unabhängigkeit fordern, fürchten sie eine Balkanisierung des Riesenreichs. Deshalb lassen die Militärs jetzt den nationalistischen Mob von der Leine: In Jakarta stürmten 300 Studenten die australische Botschaft und hissten die rot-weiße indonesische Flagge. In Osttimor fackelten Banden die Häuser von Politikern und Separatisten ab, massakrierten Priester und Caritas-Mitarbeiter, beschossen ausländische Diplomaten und stürmten am Freitag das Unamet-Gelände. Auch der Vater des Freiheitshelden Gusmão soll ums Leben gekommen sein. Annan will in diesem Klima der tabulosen Gewalt allerdings nicht allein auf die Kapitalbremse vertrauen. Er wies Fischer darauf hin, dass es möglicherweise doch einen Hebel für eine militärische Intervention gäbe, gegen den auch China keine formalen Argumente vorbringen könnte. Wenn Osttimor als bereits eigenständiges Staatsgebiet definiert werde und nicht als Teil Indonesiens, so Annan, könnten die Repräsentanten des Landes einem solchen Einmarsch zustimmen. Der Haken: Politiker wie Gusmão sind noch lange nicht gewählt – erst muss die Beratende Volksversammlung in Jakarta den Volksentscheid billigen. Rüdiger Falksohn, Jürgen Hogrefe, Jürgen Kremb d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Ausland UNGARN Ball verkehrt in Budapest Den zehnten Jahrestag der Öffnung von Ungarns Grenze feierten Politiker, die 1989 nicht dabei waren. Die Drahtzieher von einst meckerten derweil im Off. D REUTERS rei fesche Männer schlendern lächelnd über den Burgberg von Buda. Von Kameramännern umzingelt, von Leibwächtern freigesperrt wie Boxer auf dem Weg zum Ring, sehen Gerhard Schröder, Viktor Orbán und Viktor Klima dennoch befreit aus. Als hätten sie das Schlimmste schon hinter sich. Die Reden drunten im Budapester Parlament sind Weltgeschichte – der Sozialist Viktor Klima stand im Sold einer Wiener Mineralölfirma; der Sozialdemokrat Gerhard Schröder engagierte sich gegen britische Soldaten in der Lüneburger Heide und kämpfte für einen Machtwechsel in Niedersachsen; und der Jungliberale Viktor Orbán, ein Student von 26 Jahren, hatte gerade gefordert, die Sowjets sollten aus Ungarn verschwinden. Jene, die wirklich mitschrieben am Drehbuch vom Ende des Kalten Kriegs, sitzen nun beim Festakt in Budapest schweigend im Parkett. Oder sie sind gleich zu Hause geblieben wie Österreichs konservativer Ex-Außenminister Alois Mock. Auch Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl verzichtete – ohne Einladung der ungarischen Regierung wollte er nicht als Gast seines Nachfolgers Schröder zwischen Petra Bläss (PDS) und Markus Meckel (SPD) einfaches deutsches Delegationsmitglied werden dürfen. Immerhin, Ungarns Reformsozialisten Miklós Németh und Gyula Horn, Bau- Kanzler Klima, Orbán, Schröder: Die Feschen vom Burgberg ihnen schwer gefallen. Seltsam papieren klangen die Elogen. Von einem „Feiertag für die mitteleuropäischen Nationen“ sprach Orbán, Ungarns Premier; von einer „Entscheidung mit historischen Ausmaßen“ Gerhard Schröder; und vom Aufbruch zu einem „Europa ohne Trennlinie“ Österreichs Bundeskanzler Klima. Gemeint war in allen Fällen der Tag, an dem die Nachkriegsordnung zerbrach. Am 10. September 1989, exakt zehn Jahre vor dem Staatsakt in Budapest, öffnete Ungarn für tausende DDR-Bürger das Tor zum Westen. Das war mehr als eine humanitäre Geste. Es war der Bruch mit den Verbündeten in Ost-Berlin und also mit Moskau – der Anfang vom Ende des Kalten Kriegs. Die drei Feschen vom Burgberg aber befanden sich damals noch im Schatten der meister der deutsch-ungarischen Annäherung in den Achtzigern, sind in letzter Minute noch dazugebeten worden. Und so vernehmen sie denn mit eisigen Mienen, wie der junge Premier Viktor Orbán fabuliert, „die Vorsehung“ sei für den Sieg der Wahrheit im Krieg der Blöcke verantwortlich. War es nicht Németh, der als Premier schon Anfang 1989 bei Gorbatschow in Moskau testete, was passieren würde, wenn Ungarn einen Sonderweg ginge? War es nicht Horn, der als Außenminister die gut funktionierenden Kanäle nach Bonn nutzte, um Fühlung aufzunehmen und schließlich den Bruch mit den Warschauer-PaktVerbündeten zu riskieren, indem er dafür eintrat, die Fluchtwilligen aus der DDR laufen zu lassen? d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Vorbei, vergessen. In Budapest wird Ball verkehrt getanzt. Ungarns Reformsozialisten und ihre christ-liberalen Freunde aus Deutschland stehen im Abseits, während die Marktliberalen um Orbán und der SPD-Kanzler Schröder im Blitzlichtgewitter die Ernte einfahren. Die SPD, so tuschelt’s am Rand unter alten Gulasch-Kommunisten, „stand damals links von uns“. Ein Ereignis – der Jahrestag der Grenzöffnung –, zwei Bühnen: Hans-Dietrich Genscher verlässt Ungarns Hauptstadt, als Gerhard Schröder eintrifft. Genscher hat sich schon am Vortag im kleinen Kreis feiern lassen und muss nun leider weg: „Ein wichtiger Termin in Leipzig“, sagt der Außenminister a. D. Dabei lächelt er sphinxhaft wie eh und entflieht mit wehender Elefantenkrawatte. Er kennt seine treuen Sozialisten, Spezis von einst, mit denen er und Kohl, Teltschik, Späth und Strauß lange vor der Grenzöffnung die Sezession vom Warschauer Pakt angebahnt haben. Er weiß aber auch, dass der neue Premier Orbán das nicht gern hört und deswegen nicht nur ihn – Genscher – und Kohl, sondern auch Horn und Németh von Rederecht und Lunchtafel beim Staatsakt fern hält. Also flieht Genscher und lässt ein Schock schmollender ungarischer Altkommunisten zurück. In ihrer Ehre sind sie gekränkt, wirklich hart aufgeschlagen sind sie aber auch nach dem Sturz der sozialistischen Regierung 1998 nicht. István Horváth, ehemals Botschafter in Bonn, war bei der Privatisierung des staatlichen Telefonanbieters Matav zu Gunsten der Telekom behilflich und hat nun dort sein Auskommen. Auch beim Verkauf der ungarischen Außenhandelsbank an die Bayerische Landesbank war er im Spiel – nun sitzt dort an Schalter eins der Ex-Finanzminister Péter Medgyessy. Man arrangiert sich, Ungarn ist der Musterschüler unter den EU-Beitrittskandidaten: bei den ausländischen Direktinvestitionen an erster Stelle, 5,1 Prozent Wirtschaftswachstum 1998. Trotzdem, und trotz der Verdienste um die Demokratisierung in Osteuropa, gibt es noch immer keinen Termin für die Aufnahme in die EU. Er finde, sagt Premier Orbán in seiner Rede, „dass dieser unsichtbare Zaun nicht in die europäische Ordnung gehört“. Es bleibt dies der einzige scharfe Ton beim Staatsakt in Budapest. Strahlendes Einvernehmen eint die Regierungschefs wieder beim Schlendern über den Burgberg. Keiner ist sauer. Am Ende muss der Wein dafür büßen. Beim Rundgang übers Winzerfest, die Gläser sind schon erhoben, bricht es aus Klima, dem Österreicher, heraus: „too sweet“, murrt er. Und überantwortet Graf Degenfelds sortentypischen Tokajer umgehend dem Spuckkübel. Walter Mayr 203 Ausland SERBIEN „Das ist unser Unglück“ Patriarch Pavle, Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, über die Notwendigkeit eines Regimewechsels scher Seite ein schmutziger Krieg geführt goslawischen Präsidenten Slobodan Mi- wurde, heißt nicht, dass andere einen sollo∆eviƒ zum Rücktritt auf, weil er das Volk chen nicht auch führten. Ich habe 34 Jahins Verderben stürze. Warum hat die or- re im Kosovo gelebt. Ein Teil der albanithodoxe Kirche so lange mit der Verurtei- schen Bevölkerung hat die ethnische Säuberung des Kosovo von lung des serbischen Reden Serben seit Jahrgimes gewartet? zehnten vorbereitet. Wir Patriarch Pavle: Wir haben Serben wollten Gleichbeseit 1992 bereits dreimal rechtigung und Demovergeblich eine Regierung kratie, aber diese Albaner der Nationalen Rettung wollten dominieren. gefordert. Doch jetzt ist Milo∆eviƒ als KriegsverSPIEGEL: Es waren dann brecher angeklagt. Die inaber doch serbische Solternationale Gemeinschaft daten, die hunderttausenlehnt jedes Gespräch mit de von Albanern in die ihm ab, das Volk ist Geisel Flucht trieben und Masseines Regimes. Aber wir saker begingen. können doch nicht hinter Patriarch Pavle: Jeder einem eisernen Vorhang Krieg wird von Verbreverharren wie einst Russchen begleitet. Es soll land. Deshalb fordern wir, Gottes Waage überlassen dass Milo∆eviƒ auf fried- Kirchenführer Pavle bleiben, wer die größeren liche Weise anderen erFrevel verübte. möglicht, das Volk aus dem Unglück zu SPIEGEL: Welche Schuld trägt Milo∆eviƒ ? führen, in welchem es sich befindet. Patriarch Pavle: Er versäumte es, rechtzeiSPIEGEL: Bislang gibt es keine Anzeichen tig nach einer Lösung zu suchen. Das für einen friedlichen Abgang Milo∆eviƒs Christentum erlaubt keinen Eroberungsund seiner herrschenden Sozialisten. Ist da krieg, aber einen Verteidigungskrieg. Als gewaltloser Widerstand nicht eine Illusion? die Nato die Bombardierung Serbiens anPatriarch Pavle: Ein Bürgerkrieg oder ein kündigte, hätte die Situation ernsthaft anaBlutbad müssen in jedem Fall vermieden lysiert werden müssen. Am Ende der Bomwerden. Dies wäre fatal, sonst kommt die bardierung mussten wir dennoch den Nato noch hierher, um uns Frieden um je- Rückzug unserer Streitkräfte unterschreiden Preis zu bescheren. Ich befürworte ben. Wo bleibt da der Verstand? eine Übergangsregierung, die dringende SPIEGEL: Auch die orthodoxe Kirche hat Wirtschaftsreformen veranlasst und demo- sich seit dem Zerfall Jugoslawiens der kratische Wahlen vorbereitet. Propaganda des Regimes lange untergeSPIEGEL: Sie haben sich bislang nicht, wie ordnet. Der Bevölkerung wurde weisgevon der Opposition gehofft, an die Spitze macht, es gehe nicht nur um die Verteidider landesweiten Demonstrationen ge- gung des Serbentums, sondern auch um stellt. War die Zerstrittenheit der Opposi- eine Bedrohung des orthodoxen Glaubens durch die katholische Kirche und den tion der Grund für Ihr Fernbleiben? Patriarch Pavle: Schon Apostel Paulus sag- Islam. te, in einem Organismus befinden sich vie- Patriarch Pavle: Ich betrachte die Vorgänle Organe. Nur wenn all diese zusammen- ge, die zum Zerfall Jugoslawiens führten, arbeiten, wird der ganze Organismus ge- als Bürgerkrieg und nicht als Glaubensstärkt. Daran sollte sich unsere zerrissene krieg. Mir wurde wiederholt vorgeworfen, Opposition ein Beispiel nehmen. Jeder ich sei ein Vertreter Großserbiens. Meine sieht nur sich selbst, jeder möchte Präsi- Antwort ist: Wenn sich ein Großserbien dent werden: Das ist unser Unglück. nur durch Verbrechen verwirklichen lässt, SPIEGEL: Die Serben verübten im Kosovo dann verzichte ich darauf. Wenn ein schlimme Verbrechen. Warum wurden die- kleines Serbien nur durch Verbrechen se von der orthodoxen Kirche erst jetzt zu halten ist, bin ich auch dagegen. Und wenn ich der einzige Serbe auf der Welt verurteilt? Patriarch Pavle: Verbrechen will ich nicht wäre und nur durch Verbrechen am Lerechtfertigen. Doch für die Welt sind die ben bleiben könnte, lehnte ich auch dies Serben an allem schuld. Dass von serbi- ab. Interview: Renate Flottau AP SPIEGEL: Eure Heiligkeit, Sie fordern den ju- 204 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland Hafen von Kaliningrad mit wieder aufgebautem Dom, Sowjettruppen beim Sturm auf die Festung Königsberg (1945): „Vielleicht schaffen wir KALININGRAD „Bald ist uns Berlin näher“ Selbstzweifel und Zukunftsängste plagen Russlands isolierten Vorposten an der Ostsee, das Gebiet um das frühere Königsberg. Gerüchte über Pläne Moskaus, die Exklave verkaufen zu wollen, schüren die Ungewissheit. Die Jungen zieht es nach Europa. G estandene Ostpreußen lassen sich nicht so leicht unterkriegen, Ursula Trautmann schon gar nicht. Als 16-Jährige musste sie im Februar 1945, kurz vor Kriegsende, vor den Russen fliehen. Vor drei Jahren kehrte die gelernte Landwirtin aus dem Hunsrück in ihre Heimat zurück – in ein weitgehend verludertes und versumpftes Land, das als „Gebiet Kaliningrad“, das nördliche Ostpreußen um das frühere Königsberg, nunmehr zu Russland gehörte. Und das gerade die Zwangsabgeschiedenheit von 50 Jahren militärischer Sperrzone abgeschüttelt hatte. Ursula Trautmann brachte 70 Milchkühe mit. Dazu den verwegenen Anspruch, unweit von Polessk (Labiau), im tiefsten sowjetischen Mief, „ein Stückchen von Ostpreußen so zu erhalten, wie es früher mal war“. Dafür hat sie finanziell bluten und manche Illusionen abhaken müssen. Denn die Russen zockten die verrückte deutsche Marjell gnadenlos ab, stahlen ihr das bei einer Kolchose untergebrachte Vieh, zerschlugen die importierte Milchabfüllanlage. 206 Doch die schwer sehbehinderte Diabetikerin gab nicht auf. Jetzt hat sie für sündhaft teures Geld gleich neben dem einstigen Gut ihres Onkels das verwahrloste Gebäude des Annenhofs gekauft, zwei Kilometer vom Kurischen Haff entfernt inmitten von Storchenkolonien. Es war das erste Mal, dass in Kaliningrad eine Deutsche mit Zustimmung Moskaus ganz offiziell russisches Staatseigentum erwerben durfte. „Ich nehme doch auch nichts mit, sondern will nur beim Aufbau hier helfen“, sagt die 70-Jährige, „dieses Land braucht Menschen, die das Leben bejahen; auch die Stadt Königsberg wird immer fröhlicher.“ Bunter und vitaler ist Russlands westlicher Vorposten an der Ostsee in den letzten Jahren ganz gewiss geworden. Aber auch politisch unruhiger. Kaliningrad, wie Königsberg heute heißt, wird geplagt von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten. Denn dieses Gebiet mit knapp einer Million Einwohnern auf einem Schnipsel von bloß 15 000 Quadratkilometern ist seit dem Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums eine russische Insel weit von Russland entfernt. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Bis Berlin sind es von der Stadt am Pregel nur 550 Kilometer, nach Moskau doppelt so viele. Außerdem ist die Exklave umgeben von Staaten, die in die Europäische Union und Nato drängen. Das mag beim Baltikum noch 10 oder 15 Jahre dauern. Nur: Was wird danach aus dem eingeschlossenen Kaliningrad? Fällt der Norden Ostpreußens dann wie ein reifer Apfel Polen oder Litauen zu? Wird Russland seinen Klotz an der Ostsee verscherbeln wie einst den Vasallen DDR? Oder findet die Region gleichsam über eine weiche EU-Assoziation selbst ihren Weg nach Westen? „Die Jungen hier wollen alle nach Europa, die Alten haben Angst“, sagt Wadim Weichselberger, Besitzer der Imbiss-Stube am Prospekt Mira gegenüber der Königin-Luise-Gedächtniskirche, seit Sowjetzeiten ein Puppentheater. Die Entscheidung über diese politische Frage liege indes nicht bei den Kaliningradern, räsoniert der aus Usbekistan vertriebene Russlanddeutsche, „vielleicht schaffen wir einmal als vierter baltischer Staat den EUAnschluss“. FOTOS: I. SAREMBO (li.); KEYSTONE (re.) mal als vierter baltischer Staat den Anschluss an die Europäische Union“ Das wird dauern. Noch immer steht der Gründervater des Sowjetstaates ehern auf seinem Podest am Platz des Sieges unweit des alten Nordbahnhofs mit dem Säulenportal. Missmutig blickt Lenin auf die Zeichen der neuen Zeit: auf westliche Werbesprüche und Konsumverlockungen; auf die Busse mit deutschen Nostalgietouristen; auf Plakatwände mit dem Konkurrenzkampf der Bierbrauereien (die einheimische trägt wieder den alten deutschen Namen „Ostmark“); auf ein Transparent, das den Erweckungsbesuch des deutschen Pastors Wegner ankündigt („Christus für die ganze Welt“). Kaliningrad sei heute „die fortschrittlichste“ aller Regionen Russlands, sagt der Herr der „Gebietsmacht“, Leonid Gorbenko, 60. Seit drei Jahren amtiert der gebürtige Ukrainer und frühere Chef des Fischereihafens als Gouverneur – bullig, kumpelhaft, bieder. Ins Amt gehievt wurde er mit den Stimmen der Kommunisten, von denen er sich danach politisch rasch abseilte. Sechs Ikonen schmücken Gorbenkos Arbeitszimmer, und Blickfang auf seinem Schreibtisch ist ein Kreuz im Bernsteinblock. Den Fortschritt definiert der Gouverneur mit geschönten Wirtschaftsdaten (siehe Interview Seite 211), die freilich sein lokaler Geheimdienstchef unlängst öffentlich bezweifelt hat. „Leider sind wir verwundbarer als jede andere russische Region“, beschrieb Konteradmiral Gennadij Moschkow in der „Kaliningradskaja prawda“ die Schwachstellen der Ostseeprovinz: Zusammenbruch der Staatsbetriebe und der Landwirtschaft, Rückgang der Industrie- produktion seit 1990 auf ein Viertel, Halbierung der Getreideernte und Fleischproduktion, zunehmende Abhängigkeit von importierten Lebensmitteln und Energieträgern, horrende Arbeitslosenzahlen und wachsende soziale Spannungen. Der Gouverneur gerät in Wallung, wird er mit dieser Analyse seines Chefspions konfrontiert („Wo war denn der Admiral, als alles auseinander fiel?“). Doch er gesteht ein, dass es vor allem den Rentnern mies geht. Von denen gibt es in der einstigen Militärfestung etwa 200 000, und die meisten schlagen sich mit 350 Rubel (etwa 25 Mark) im Monat durch. „Das ist unsere Schande“, sagt Gorbenko. Schweden Klaipeda (Memel) Russland Lettland Gewiss: Im Vergleich zu den umliegenden baltischen Staaten und Polen ist Kaliningrad ein Armenhaus, für die „Frankfurter Allgemeine“ gar der „Ostsee-Slum“. Doch die Stadt boomt, quillt über von West-Autos, die Läden sind voll mit kaufkräftigen Kunden, in Restaurants und Discos vergnügt sich das junge Volk. Die Schattenseiten dieses Booms haben Russlands westlichster Hafenstadt allerdings ein paar makabre Spitzenplätze verschafft: Kaliningrad hat pro Einwohner die meisten HIV-Infizierten, HepatitisErkrankten und Krebstoten in der Russischen Föderation, die meisten Prostituierten und die höchste Scheidungsrate. Eine „führende Rolle“ kann die Ostseeprovinz auch beim Bierkonsum und beim Schmuggel von Zigaretten, Rauschgift oder Gebrauchtwagen aus dem Westen beanspruchen. „Aufreibend und prickelnd“ sei das Leben in dieser Stadt, sagt Louise Wolfram. Ihr Mann ist Pastor der evangelisch-lutherischen Gemeinde Kaliningrads. Die zählt mal gerade 1200 Seelen, hat aber seit April ein protziges neues Gemeindezentrum. Machtvoll wie eine Ordensburg steht der rote Backsteinbau mit den hohen, bunt verglasten Fenstern und den auseinander gezogenen beiden Türmen am Ende des Prospekt Mira auf dem Gelände des ehemaligen Luisenfriedhofs. Vergebens hatten sich die Lutheraner zuvor bei der Gebietsadministration um die Rückgabe des notdürftig wieder hergerichteten Doms oder einer der anderen sechs noch erhaltenen Kirchen bemüht. Der Neubau, finanziert überwiegend von der deutschen Evangelischen Kirche der Union, kostete 2,2 Millionen Mark. Propst Erhard Wolfram freut sich über eine „wachsende Gemeinde“. Deren Kern sind hauptsächlich Russlanddeutsche, die aus den zentralasiatischen Repu- Die russische Exklave Kaliningrad Litauen Polen 0 Belorussland L I T A U E N Kurische Nehrung Ostsee Polessk (Labiau) Frisches Haff d e r Kaliningrad (Königsberg) 40 M e m el Kurisches Haff Baltijsk (Pillau) 20 Kilometer Sowjetsk (Tilsit) K a l i n i n g r a d Pregel Tschernjachowsk (Insterburg) Jasnaja Poljana (Trakehnen) P O L E N s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 207 Ausland Verstümmelt bis unter die Grasnarbe Ostpreußen, jahrzehntelang als militärisches Sperrgebiet ein Land des Schweigens, könnte Russlands Vorhut auf dem Weg nach Europa werden. Von Arno Surminski E I. SAREMBO TELEPRESS inst fuhren die Postkutschen von St. Petersburg über Berlin nach Paris. Machten sie auf halbem Wege im preußischen Königsberg Station, konnten die Reisenden, wenn sie in der Abenddämmerung vom Schloss zur Dominsel wanderten, eiSurminski nem zierlichen Männlein begegnen, das sein Lebtag nie die Stadt verlassen und doch eine weltumspannende Philosophie erdacht hatte. Heute steht sein Denkmal auf einem leeren Platz der Stadt Kaliningrad. Kant ist die letzte Brücke, die das alte Königsberg mit dem neuen Kaliningrad verbindet, verehrt auch von denen, die es nach 1945 aus den Weiten Russlands zum westlichsten Vorposten der Sowjetunion verschlug. Die verbindende Funktion, die der nordöstliche Zipfel Preußens einst hatte, ist mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren gegangen. Preußisch- Enthüllung des Kant-Denkmals (1992) Litauen wurde zum Grenzland, es war Letzte Brücke zum alten Königsberg Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg und Aufmarschgebiet für das barbarische Unter- was aus ihren Kindheitserinnerungen genehmen Barbarossa im Zweiten. 1945 ge- worden war. Sie hatten die Erwartung, schah diesem Land und seiner Stadt et- wenigstens eine unveränderte Landschaft was Sonderbares: Sie tauchten unter, vorzufinden, aber ihnen begegnete eine wurden zu weißen Flecken auf den Kar- verwüstete Stadt und ein Land, dessen Verstümmelungen bis unter die Grasten, eine Terra incognita. Die Stadt verlor ihren Namen, Kali- narbe reichten: Dörfer vom Erdboden ningrad wurde zum militärischen Sperr- verschwunden, unbestellte Felder, eine gebiet, fast ein halbes Jahrhundert durf- versteppte Landschaft mit armseligen te kein Reisender die verbotene Stadt Viehherden, begleitet von Papirossy betreten. Die Bernsteinsucher an den rauchenden Reitern. Geblieben sind ein paar Eichen- und Küsten des Samlandes und der Kurischen Nehrung trugen andere Namen, Lindenalleen, die letzten Anknüpfungsdie kurischen Fischer verschlug es zum punkte für strapazierte Erinnerungen. westlichen Ufer des Baltischen Meeres Das Gebiet Kaliningrad bietet einen erschreckenden Kontrast zu dem im Nornach Ostholstein. Nirgends war der Eiserne Vorhang so den angrenzenden Litauen und den aneisern wie im nördlichen Ostpreußen. sehnlichen Regionen Ermland und MaWährend zu den jetzt polnischen Provin- suren im polnischen Süden. Nicht die zen des deutschen Ostens bald Briefkon- Zerstörung Königsbergs im Sommer 1944 takte möglich wurden, alte und neue Be- ist bemerkenswert – dergleichen geschah wohner sich begegneten und näher ka- vielen Städten –, sondern der trostlose men, war Kaliningrad bis zur politischen Zustand von heute, der den Besucher Wende in Osteuropa ein Land des glauben lässt, der Krieg sei vorgestern zu Schweigens. Die untergegangene Insel Ende gegangen. Frage an den Taxifahrer, der in einem tauchte 1990 auf, die ersten Besucher, die sie betreten durften, erschraken. Die alten Mercedes, den er beim Abzug der meisten von ihnen waren im nördlichen russischen Truppen in Magdeburg erworOstpreußen geboren und wollten sehen, ben hat, westliche Touristen spazieren 208 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 fährt: „Warum muss das so sein?“ Wladimir weiß eine plausible Erklärung: „Wenn Stadt und Land 50 Jahre dem Militär gehören, sehen sie so aus, wie sie aussehen; das Militär kann eben nichts anderes.“ Die Auflösung der Sowjetunion machte Kaliningrad zu einer russischen Exklave. Nach 1990 begannen die Spekulationen, was aus der westlichen Insel Russlands in einer nicht gerade russlandfreundlichen Umgebung werden sollte. Polen kann sich eine Wiedervereinigung des nördlichen mit dem südlichen Ostpreußen unter dem polnischen Adler durchaus vorstellen. Litauen glaubt, alte Rechte an Preußisch-Litauen zu haben; vor 150 Jahren sprach ein Drittel der Bewohner dieses Gebietes Litauisch. Auch die deutsche Seite zerbricht sich den Kopf über die Zukunft Kaliningrads. Die Politik hält sich wohltuend zurück, wohl wissend, dass jedes laute Denken zu Irritationen bei Polen, Litauern und Russen führen müsste. Die meisten Heimweh-Touristen, die nach dem Auftauchen der untergegangenen Insel Nordostpreußen besuchten, kehrten enttäuscht heim und schlossen diese Schublade der Erinnerungen für immer. Einige können den traurigen Zustand nicht ertragen. Mit rührender Anhänglichkeit spenden sie für Kaliningrader Waisen- und Krankenhäuser, schaffen Kleidung und Medikamente in die Stadt ihrer Kindheit, um sie wieder herzurichten und ansehnlich zu machen. Arno Surminski, 65, gebürtiger Ostpreuße und Schriftsteller („Sommer vierundvierzig“), lebt in Hamburg. FOTOS: P. KASSIN I. SAREMBO Gelegentlich hat die Hilfs- und Spendebereitschaft auch einen politischen Hintergedanken. Es gibt eine kleine Heim-ins-Reich-Bewegung, die sich nicht damit begnügt, Steine für den Dombau zu sammeln, sondern es schon gern sähe, wenn über dem Dom wieder die deutsche Fahne wehte. Als Umweg zu diesem Ziel ist die Ansiedlung von Russlanddeutschen in die Wege geleitet worden. Die Deutschen aus Kasachstan sollten nicht nur aller Welt zeigen, was deutsche Tüchtigkeit zu bewerkstelligen vermag, sie sollten auch die offenkundige „Überfremdung“ nach und nach in eine deutsche Mehrheit umkehren. Diese Umtriebe haben die Stimmung umschlagen lassen. Das nationale Denken, das auch in Russland an Boden gewinnt, verbietet jeden Ausverkauf der Kriegseroberung Kaliningrad, an wen auch immer. „Soll Kaliningrad wieder deutsch werden?“, fragt der Redakteur des örtlichen Radiosenders. Es ist eine listige Frage. „Nein, nie wieder deutsch, einen Geist kann man nicht kaufen“, erkläre ich. „Und wie soll es weitergehen?“, fragt er. Vergesst alles Nationale, kommt nach Europa. Wenn Polen und Litauen der EU beitreten, könnte auch Kaliningrad als russische Vorhut ein Teil Europas werden. Preußisch-Litauen wieder eine Brücke. Die Reisenden, die auf einer bisher nur angedachten Autobahn von St. Petersburg über Tallinn, Riga, Königsberg und Stettin nach Europa fahren, machen Rast in der Stadt am Pregel und besuchen das Denkmal des kleinen Mannes mit den großen Gedanken. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. bliken es einstigen Sowjetacht Jahren nicht abgelöst reichs flüchten mussten. wurde. Der Admiral, desAn die 10 000 haben sich sen Kreuzer und U-Boote unterdessen in Russlands vor der Samlandküste in westlichster Ecke eingeBaltijsk (Pillau) liegen, rerichtet. Die meisten von sidiert im Gebäude der alihnen wollen dort bleiten preußischen Oberpostben und nicht weiter westdirektion. Dort befand sich wärts nach Deutschland der Gefechtsstand des „Festrecken, weil sie russitungskommandanten“, Gesche Ehepartner haben neral Otto Lasch, als Staund die deutsche Sprache lins Rote Armee im April nur bruchstückhaft be- Pastor Wolfram 1945 zum Sturm auf Köherrschen. nigsberg ansetzte. Die Evangelischen in Allerdings räumt der ihrem schönen neuen GeFlottenchef ein, dass die meindezentrum sehen ein mit der Regermanisieweites Missionsfeld. Sie rungsfurcht verknüpfte wollen sich jetzt an der Frage, ob Moskau womögArmenspeisung in der lich einmal zur Tilgung seiStadt beteiligen, „damit die ner Auslandsschulden den Bevölkerung sieht“, so des Verkauf von Kaliningrad Pastors rigorose Gefährtin, offerieren könnte, „eine „dass wir nicht nur in der beunruhigende Wirkung eigenen Suppe schwimfür das Gebiet hat“. Einige men“. Louise Wolfram ist „Amtsträger“, grummelt gebürtige Königsbergerin. der Admiral, spielten dieSie glaubt, dass die von der ses Thema von Zeit zu Zeit Kirche angebotene humaunnötig hoch. nitäre Hilfe willkommen Da hat der Militär wohl ist. Doch es darf auch nicht den Gouverneur im Fadenzu viel sein, denn gerakreuz. Gorbenko belebt de für Deutsche sei die Ar- Heimkehrerin Trautmann die Diskussion um die Zubeit in Kaliningrad „eine kunft der Ostseeprovinz Art Gratwanderung; die Russen haben bisweilen mit apokalyptischen ÄußerunAngst, wir wollten hier wieder die Kralle gen, um von Moskau neue Subventionen drauflegen“. zu erstreiten. Denn mit den FördermitDas Thema Regermanisierungsängste ist teln hapert es seit dem Zerfall der Sowjet„wie eine Welle, die sich hebt und senkt“, union, der in der „Sonderwirtschaftszone“ sagt gelassen der Admiral Wladimir Jego- Kaliningrad vor allem die einseitig für row, 60, Chef der russischen Baltischen Militär und Weltraumtechnik produzieFlotte und neben dem Oberkommandie- renden Staatsunternehmen in den Kollaps renden Boris Jelzin der einzige Befehls- trieb. haber in Russland, der in den letzten Die Zukunftszweifel wurzeln auch in einem Gerücht, das nie überzeugend dementiert wurde. Michail Gorbatschow, so Kurische Nehrung verlautete aus russischen wie deutschen Strapazierte Erinnerungen Polit-Quellen, habe 1991 Bundeskanzler Helmut Kohl den Verkauf von Kaliningrad für 70 Milliarden Mark angedient. Jelzin habe diese Offerte später erneuert. Der Altkanzler, um Auskunft ersucht, lässt ausrichten, er sei „nicht bereit, zu diesem Thema etwas zu sagen“. Sein ehemaliger Chefdiplomat Hans-Dietrich Genscher hält das Ganze für eine „völlig freie Erfindung“. Admiral Jegorow, vielleicht Kaliningrads nächster Gouverneur, ist da vorsichtiger: „In absehbarer Zeit“, sagt der feingeistige Militär, sei keine Veränderung des Gebietsstatus erkennbar, „und die Anwesenheit unserer Flotte ist der beruhigende Faktor“. So beruhigend allerdings nun auch wieder nicht, denn die Flotte hat Versorgungsund Zahlungsprobleme. „Ein ärmliches Ostseekommando, umzingelt von NatoLändern“, lautete unlängst das deprimierende Urteil einer russischen Komman209 Ausland deurstagung über Kaliningrads eingeschränkte Verteidigungsbereitschaft. So steht die Baltische Flotte bei kommunalen Diensten, Energie- und Lebensmittellieferanten mit über einer Milliarde Rubel (derzeit etwa 72 Millionen Mark) in der Kreide – unter anderem auch deshalb, weil Moskau im vergangenen Jahr nicht einmal ein Prozent der versprochenen Budgetmittel überwiesen hat. Von sonderlichem Interesse an einem Hochpäppeln der bedrängten Exklave zeugt das nicht. „Wir hatten schon schlimmere Zeiten“, spielt Admiral Jegorow die Schwierigkeiten herunter. Die Flotte versorge sich nunmehr zu 70 Prozent selbst aus den ihr gehörenden drei Landwirtschaftssowchosen mit den höchsten Produktivitätsziffern im Gebiet. Im Übrigen sei die Personalstärke bei den Truppen in einem Umbau radikal abgesenkt worden auf eine Gesamtzahl von jetzt 25000 Mann, das Gerede von der „Militärzitadelle Kaliningrad“, voll gestopft mit Atomraketen, schlicht ein Märchen. „Diese Präsenz genügt, um die Interessen Russlands zu garantieren“, sinniert Jegorow, „noch mehr militärische Macht konnte auch die Sowjetunion nicht vorm Verfall bewahren; entscheidend ist die Vernunft der Politiker.“ Von denen glaubt der an seinem Comeback arbeitende Ex-Gouverneur Jurij Matotschkin, ein Mann ohne ideologische Scheuklappen, „dass Berlin uns bald näher ist als Moskau“. Wie Matotschkin sieht auch Stephan Stein, rühriger Vertreter der deutschen Wirtschaft und speziell der Hamburger Handelskammer, die Chance Kaliningrads, „sich zu einem wirtschaftlichen und logistischen Knotenpunkt zwischen der EU, Russland und den übrigen Anrainern zu entwickeln“. Allerdings blockiert Russlands politische Instabilität das Engagement westlicher Investoren. Immerhin hat sich jetzt sogar BMW auf das Wagnis eingelassen, mit Awtotor in Kaliningrad aus 1300 Einzelteilen für den russischen Markt die 5er Limousine zu montieren. Dabei ist der Norden Ostpreußens, einst Deutschlands Kornkammer, eine reiche Region. Es gibt Erdöl dort und 95 Prozent der weltweit geförderten Bernsteinvorkommen. Und über die grandiose Kurische Nehrung fand schon der Wissenschaftler und Weltenbummler Wilhelm von Humboldt, man müsse sie wie Spanien und Italien gesehen haben, soll „einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen“. „Wenn jeder ein bisschen hilft, geht es schneller mit dem Aufbau“, verbreitet die Ostpreußen-Heimkehrerin Ursula Trautmann unbeirrbaren Optimismus. Den Annenhof will sie in ein Prunkstück verwandeln und dann mit den russischen Nachbarn eine große Sause feiern: „Es ist doch völlig egal, wer hier regiert – es ist und bleibt Ostpreußen.“ Olaf Ihlau d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 L. JAKUTIN Baltische Russland-Flotte: „Keine Angst vor Regermanisierung“ „Untrennbarer Teil Russlands“ SPIEGEL: Herr Gouverneur, auf dem Territorium des Gebiets Kaliningrad sind noch manche Spuren der deutschen Vergangenheit auszumachen. Wie lebt es sich in einer Stadt, die nach einem großen Bolschewiken benannt ist? Gorbenko: Als ein Mensch, der sich für die Geschichte interessiert, bin ich gegen eine Änderung historischer Namen. Wir waren kaum geboren, als die Stadt nach dem sowjetischen Staatspräsidenten Kalinin benannt wurde. Ich möchte so eine Entscheidung den nachfolgenden Generationen überlassen. Jetzt gibt es Wichtigeres zu tun. SPIEGEL: Zum Beispiel? Gorbenko: Wir müssen das Gebiet zu einem prosperierenden Territorium entwickeln. Besonders dringend ist, dass wir jetzt Gasleitungen verlegen in Ortschaften, die noch nicht an das Energienetz angeschlossen sind. Immerhin haben wir aber die Schdanow-Straße jetzt wieder in Brahmsstraße umbenannt. SPIEGEL: Mit dem alten Königsberg hat die Stadt freilich kaum noch etwas gemein. Gorbenko: Ich kam 1956 in das Gebiet. Ich kann mich noch an den damaligen Zustand erinnern, an die Ruinen. Von Königsberg sind nur vier Prozent erhalten geblieben, der Rest wurde zerstört, und zwar im Krieg. Dass hernach noch das Schloss gesprengt wurde, tut mir weh. SPIEGEL: Was ist für Sie aus der deutschen Geschichte wert, in die Zukunft übernommen zu werden? Gorbenko: Russland und Deutschland sollten immer in einer Allianz stehen, das ist zunächst mal meine Überzeugung. Mir gefällt sehr, dass wir jetzt das Gedenken an Immanuel Kant weiterpflegen und ein Museum für diesen großen Philosophen eingerichtet haben. Ich möchte auch die Traditionen der Universität wieder beleben, der Albertina. A. SCHABUNIN Kaliningrad-Gouverneur Leonid Gorbenko über die Zukunft von Moskaus Ostseeprovinz Admiral Jegorow, Gouverneur Gorbenko „Von Königsberg vier Prozent erhalten“ Außerdem wünsche ich mir die deutsche Teilnahme an einer Wiederherstellung der Stadttore. SPIEGEL: Furcht vor einer Regermanisierung des Kaliningrader Gebiets, wie sie zeitweise wegen des Zuzugs von Russlanddeutschen bestand, haben Sie nicht? Gorbenko: Ich habe keine Angst vor Regermanisierung. Ich habe ja auch keine Angst vor dem Islam. SPIEGEL: Irritiert Sie das Aufkreuzen deutscher Rechtsextremisten im Kaliningrader Gebiet mit dem Ziel, russlanddeutsche Zuwanderer einzuspannen? Gorbenko: Das wollen wir lieber in unserer Seele schlummern lassen, wir passen da schon auf. SPIEGEL: Was ist derzeit Ihre größte Sorge? Gorbenko: Für einen pragmatischen Politiker ist das der Lebensstandard der Leute, wie überall in Russland, und die Lebensqualität. Mit der Krise in Russland ist alles noch schwieriger geworden. Aber im Vergleich zu den anderen 88 Regionen Russlands können wir uns nicht beklagen. SPIEGEL: Worauf gründen sich solch optimistische Töne? d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Gorbenko: Unsere Industriebetriebe arbeiten jetzt zu 80 bis 90 Prozent im Vergleich mit 1996. Über eine große neue Werft haben wir Verträge in Deutschland abgeschlossen, ein Kontrakt wurde sogar in der Handelskammer Hamburg unterschrieben. SPIEGEL: Allerdings hat Ihr Sicherheitschef, Admiral Gennadij Moschkow, unlängst in der „Kaliningradskaja prawda“ dargelegt, es stünde ganz schlecht um das Kaliningrader Gebiet: Die Industrieproduktion sei seit 1990 fast zum Erliegen gekommen. Gorbenko: Sie sollten den Admiral fragen, wo er war, als alles auseinander fiel. Ich arbeite hier erst zweieinhalb Jahre als Gouverneur, er arbeitet schon viel länger in seiner Funktion. Er hat mit eigenen Augen zugesehen, wie das alles zusammenbrach.Wo war er denn damals? Es war eine seiner Pflichten, die Zerstörung zu verhindern. SPIEGEL: Wie hätte sich denn der Zusammenbruch der sowjetischen Staatswirtschaft verhindern lassen? Gorbenko: Voriges Jahr war ich in Deutschland. Wir besuchten eine ehemalige Kolchose in der ehemaligen DDR, 40 Kilometer entfernt von Berlin. Was mir gefiel: Da ist nichts zerstört, sondern die Kolchose ist in eine Genossenschaft umgewandelt worden. Da wurde alles auf deutsche Art gemacht, jeder bekam ein Grundstück, die Kühe sind im Kollektiveigentum verblieben, auch der Schweinebestand, die Geflügelfarm. Das Unternehmen beliefert jetzt Krankenhäuser und Schulen. Wir hätten das genauso machen können. Wo war der Admiral da? Sprechen wir nicht mehr über ihn. SPIEGEL: Die Umstellung eines Staatsbetriebs auf die Privatwirtschaft … Gorbenko: … betreiben wir jetzt mit Verspätung. Wo das möglich ist, tun wir auch dasselbe wie Sie. Wir haben circa 30 kooperative Betriebe gegründet. Die Zahl der privaten Landwirte stieg um 1500 in einem Jahr. Jetzt versorgen wir uns selbst zu 50 Prozent mit Lebensmitteln … SPIEGEL: … Ostpreußen war einmal eine Kornkammer. Gorbenko: … früher mussten wir sogar 85 Prozent der Nahrungsmittel einführen. Futtergetreide, Schweinefleisch, Eier, Milchprodukte, auch Kartoffeln produzieren wir jetzt zu 100 Prozent selbst. Natürlich werden Kiwi importiert, Bananen und Wassermelonen, Snickers, Twix, Mars. SPIEGEL: Halten Sie langfristig einen Sonderstatus der Kaliningrader Exklave in der EU für erstrebenswert? Gorbenko: Nach der russischen Verfassung müssen wir die Beziehungen zu unseren Nachbarn in Übereinstimmung mit dem Außenministerium in Moskau entwickeln. Aber wir betrachten uns als ein Territorium, das die EU mit Russland verbinden kann. Wir wollen Offshore-Zonen, freie Zollzonen. SPIEGEL: Das Kaliningrader Gebiet ist bald eine Insel, umgeben von EU-Staaten. 211 Werbeseite Werbeseite Ausland Gorbenko: Deshalb rede ich nicht von Inte- Gorbenko: Das war in Berlin, da habe ich auf eine entsprechende Journalisten-Frage zurückgefragt: Warum geht es hier nur um das Gebiet Kaliningrad? Warum geht es nicht um das Gebiet Memel? Um Gdansk? Denn Kaliningrad besteht nicht völlig aus deutschen Mauern, vielleicht ein Viertel, wenn nicht ein Fünftel ist davon noch da. SPIEGEL: Anlass für diese Diskussion waren Gerüchte, Gorbatschow habe dem Kanzler Kohl angeboten, Kaliningrad für 70 Milliarden Mark zu kaufen. Gorbenko: Es gab viele solcher Gerüchte, verbreitet von Politikern in den Nachbarländern oder auf der Ebene kleiner Parteien. Offiziell kenne ich kein derartiges Statement. In Gorbatschows Zweiplus-Vier-Vertrag von 1990 geht es um das Territorium der Bundesrepublik, und da kommt das Kaliningrader Gebiet nicht vor. Der Vertrag betrifft die Unverletzlichkeit der Grenzen in den Nachkriegsjahren. Da kann man sich eben auch an manches andere erinnern. Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Grenzen Europas. SPIEGEL: Solche ständig wiederkehrenden Gerüchte müssen doch die Bevölkerung hier beunruhigen. Gorbenko: Ich habe mir von unserem russischen Außenministerium die Unterlagen zusammenstellen lassen, die dokumentieren, warum dieses Gebiet als ein untrennbarer Teil Russlands gilt. Darauf verweise ich unsere ältere Generation. Aber solange internationale Beziehungen bestehen, werden wir zu einer Zusammenarbeit finden, und es wird nichts geben, was uns auseinander bringt.Wir sind Anhänger einer Vernunftpolitik. Kartoffelernte bei Kaliningrad: „Auf deutsche Art“ SPIEGEL: Haben Sie mitunter das Gefühl, Kaliningrad sei manchem SPIEGEL: Die Läden in Kaliningrad sind voll in Moskau lästig, sozusagen ein Klotz am mit Importwaren, die Regale der Geschäf- Bein? te gefüllt. Doch wie kann hier eine Rent- Gorbenko: Vielleicht für faule Leute, nicht nerin mit 350 Rubel im Monat leben? Die für die Repräsentanten des Staates. Einige sind in der Wechselstube 25 Mark wert. Politiker meinen: Je kleiner ein Staat ist, Gorbenko: Das ist unser Leid und unsere desto regierbarer ist er. Ich kann diese AufSchande. Wir nehmen das wahr. Das Ren- fassung nicht teilen. Ja, ein kleiner Betrieb tenniveau beleidigt unsere ältere Genera- kann leichter verwaltet werden, aber er hat tion, und zwar ungebührend. Wir versu- weniger Kapazität. Ein größerer Staat ist chen zumindest, gezielt Hilfe zu leisten für schwerer zu regieren, aber er hat entspredie weniger gut Situierten, die Kriegsteil- chend mehr Möglichkeiten, mehr Leistung nehmer, die Alten, die Kranken und allein zu bringen. Russland hat im Fernen Osten stehenden Mütter oder Leute, die ihre den Hafen Port Arthur an China abgegeben. Ist Russland dadurch reicher geworden? Habe verloren haben. Gewiss: Das Rentenniveau ist niedrig. Aber SPIEGEL: Deutschland ist immer reicher geimmerhin kriegen die Leute ihre Rente bei worden, je kleiner es wurde. uns noch regelmäßig und pünktlich. Auch Gorbenko: Ich denke nicht so. Deutschland Lehrern und Ärzten werden die Lohnaus- hat aber nach dem Krieg nachgedacht, welzahlungen nicht gestundet. chen Weg man einschlagen muss. Unser SPIEGEL: Vor zwei Jahren stießen Sie selbst Präsident Jelzin sagt, dass gerade der deuteine Diskussion in den Lokalblättern an, sche Föderalismus, eine gewisse Selbstänman müsse damit rechnen, dass Moskau digkeit der Regionen gegenüber der Zenirgendwann einmal Kaliningrad verkaufen trale, für Russland passt. Das ist auch meikönne, um die riesigen Schulden aus So- ne Meinung. wjetzeiten zu begleichen. Interview: Olaf Ihlau, Fritjof Meyer I. SAREMBO gration, sondern lieber von Kooperation mit der EU, und zwar im Produktionsbereich. Wir haben 1336 Joint Ventures mit ausländischen Firmen. 30 davon arbeiten gut, unter anderem auch deutsch-russische Gemeinschaftsunternehmen. SPIEGEL: Ist unser Eindruck richtig, dass die ältere Generation Angst vor der Zukunft hat, während die Jungen sehr offen nach Europa schauen, auch zum einstigen Kriegsgegner Deutschland? Gorbenko: Ich habe Respekt vor der älteren Generation, und die respektiert auch die Interessen der nachfolgenden Generation. Jeder Krieg wird doch mit einem Frieden abgeschlossen. Russland hat mit allen gekämpft, mit Japan, Afghanistan, der Türkei, Italien, Rumänien, Frankreich, England, den USA. Das ist doch auch längst überwunden. Wann immer Deutschland und Russland aber in Frieden miteinander gelebt haben, ist es beiden Seiten wohl ergangen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 213 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland G R O S S B R I TA N N I E N Tag für Tag unglaubliche Wunder Verrottende Krankenhäuser, lange Wartelisten, chronische Geldknappheit – der Zustand des Gesundheitswesens ist unerfreulich, es wird dennoch hoch geschätzt. N ur eines scheint das staatliche Gesundheitswesen des Vereinigten Königreichs im Überfluss zu produzieren – Horrorgeschichten. Die von Amy King zum Beispiel: Ihr Enkel David fand die 103-Jährige bewusstlos in ihrer Londoner Wohnung und rief eine Ambulanz. Die kam auch sofort, doch von der Einlieferung ins North-Middlesex-Krankenhaus bis zur Verlegung auf eine Station vergingen 28 Stunden. Die verbrachte die herzschwache Greisin zitternd und weinend auf einer Krankentrage, mit der sie in immer neue Ecken und Flure der Notaufnahme abgeschoben wurde, schlimmstenfalls der Neugier, bestenfalls dem Mitleid der Putzfrauen ausgesetzt. Oder die von Ian Weir, 38. Dem Diabetiker, Vater von zwei Kindern, sollte ein Bypass gelegt werden. Weil er wusste, dass ihm kaum noch Zeit blieb, schrieb er einen Brief an Premier Tony Blair und erinnerte ihn damit an all die schönen Wahlkampfversprechen zur Reform des Gesundheitswesens. Weir starb nach sieben Monaten Wartezeit. Briten mit mehr Glück müssen sich derzeit gut zwölf Monate bis zu ihren Herzoperationen gedulden. Dass der Eingriff auch wirklich innerhalb eines Jahres erfolgt, ist allerdings trotz einschlägiger Verpflichtungen der Krankenhäuser nicht garantiert: Mehr als die Hälfte der Hospitäler lassen in Einzelfällen sogar Wartezeiten bis zu 18 Monaten zu. Wer in Großbritannien krank wird, muss sich in große Geduld fassen: Derzeit warten 1 094 300 Briten auf einen Platz im Krankenhaus. Ende August hatte sich allein in London eine Schlange von 82 344 Patienten gebildet, die bereits länger als drei Monate auf ihren ersten Termin bei einem Facharzt warten. Hinter den endlosen Wartezeiten verbirgt sich ein starres System der Rationierung medizinischer Versorgung. Patienten wird eine notwendige Dialyse verweigert. Ärzte knausern mit Kernspintomografien, weil das Jahresbudget bereits ver- 216 braucht ist. Senioren, die auf einen Hüftersatz warten, wird eine so niedrige Priorität eingeräumt, dass sich das Problem nicht selten auf biologische Weise regelt. Manche Rentner belasten ihre Häuser lieber mit neuen Hypotheken, um die Operation privat zu bezahlen. Kein Wunder, dass Patienten zuweilen ausrasten: Ende August griff ein Vater, der seinen Sohn wieder einmal vergebens in die Kinderarzt-Praxis eines West-Londoner Krankenhauses gebracht hatte, vier Krankenpfleger an. Erfolg: Der Mann steht wegen Körperverletzung vor Gericht, einer der Pfleger fällt wegen eines gebrochenen Arms für Wochen aus. Der zuständige LabourStaatsminister John Denham gibt resigniert zu, Großbritannien sei „noch Lichtjahre“ von einem schnellen Krankenservice entfernt. Immerhin, Sprecher des Gesundheitsministeriums sind Premier Blair* PA / DPA * Beim Blutdruckmessen in einer Schwesternschule in Cardiff Anfang Februar. Krankenzimmer im Hospital in Bedford: Durchhalten im Chaos d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 schon froh darüber, dass die große Mehrzahl der Facharzt-Patienten innerhalb eines halben Jahres, die der KrankenhausPatienten innerhalb eines Jahres behandelt wird. Leider unter größtenteils unwürdigen Umständen. Im renommierten Londoner St. Thomas’s Hospital, das zu Beginn des 12. Jahrhunderts gegründet worden war und in dem Florence Nightingale im 19. Jahrhundert die Schwesternausbildung revolutionierte, liegen durchschnittlich 28 Patienten in einem Zimmer; die Privatsphäre auch Schwerkranker wird allenfalls durch Vorhänge gewahrt. Von den Wänden der chaotisch zusammengestückelten Gebäude blättert der Putz. Für die Wochenenden kann sich das Krankenhaus schon lange keinen Reinigungsdienst mehr leisten. Rollstühle sind Mangelware, und selbst die wenigen vorhandenen werden von Pflegern versteckt, um bei Bedarf einen parat zu haben. Durchhaltevermögen in diesem Chaos ist die wichtigste Eigenschaft, ohne die kein Arzt, keine Schwester, kein Verwal- M. MEYER / NETWORK tungsangestellter seinen Beruf ausfüllen könnte. Und doch produziert das britische Gesundheitswesen Tag für Tag ein unglaubliches Wunder: Die Patienten sind mit dem System grundsätzlich zufrieden. Der National Health Service (NHS), der jedem Bürger kostenlose Behandlung verspricht und der aus Steuermitteln zentral finanziert wird, sei der „Neid der ganzen Welt“, behaupten Politiker aller Couleur bis auf den heutigen Tag. Die Gleichheit vor dem Arzt wird im noch immer von Klassengegensätzen gezeichneten Großbritannien als unverzichtbare soziale Errungenschaft angesehen. Gesundheitsminister Frank Dobson kann ohne Protestgeschrei verkünden: „Unser Gesundheitswesen ist die populärste Einrichtung des Landes, der größte Erfolg der Labour Party und ein wahrer Leuchtturm für die Welt.“ Trotz allen Zorns über lange Wartezeiten, über verrottende Krankenhäuser und andere Widrigkeiten sind die Briten derzeit nicht bereit, ihren NHS gegen ein anders organisiertes und dadurch womöglich großzügiger ausgestattetes Gesundheitswesen einzutauschen. Nur drei Prozent der Befragten gaben in einer Umfrage an, dass sie eine notwendige Behandlung aus finanziellen Gründen nicht erhalten konnten – etwa, weil eine als zu aufwendig betrachtete Therapie nicht über das NHS erhältlich gewesen wäre. In den USA, wo private Krankenversicherung die vorherrschende Form der Gesundheitsfürsorge darstellt, mussten 53 Prozent der Amerikaner schon mal aus finanziellen Gründen auf eine bestimmte Behandlung verzichten. 44 Prozent der Briten erklärten, ihre Familienärzte seien sogar abends und an Wochenenden zu Hausbesuchen erschienen. Dagegen wusste nur ein Prozent aller USBürger von einem solchen Service zu berichten. Lediglich 14 Prozent der Briten halten das staatliche Gesundheitswesen für unhaltbar und würden es lieber durch ein anderes System ersetzen. Immerhin: 12,4 Prozent haben eine private Versicherung abgeschlossen. Wie andere westliche Industriestaaten auch steht Großbritannien vor dem Paradox, dass eine immer gesündere Gesellschaft immer mehr Mittel aufwendet, um d e r noch gesünder zu werden. Allein in der letzten Dekade stiegen die Ausgaben des NHS von 23 Milliarden Pfund auf heute 48 Milliarden Pfund an, etwa 144 Milliarden Mark. Und genau wie in anderen Staaten wird diese Kostenspirale durch eine ausufernde Diagnostik angetrieben: Immer genauere Tests und Untersuchungen führen zu immer aufwendigeren Therapien, wobei allerdings die Diskrepanz zwischen dem gigantischen Aufwand und den tatsächlichen Gesundheitsfortschritten der Bevölkerung zunehmend deutlicher wird. Doch während die Kostensteigerungen in den USA mit ihren privaten, in Deutschland mit dem Mischsystem aus privaten und gesetzlichen Versicherungen kaum noch finanzierbar sind, mag in Großbritannien kaum jemand von einer Existenzkrise des Gesundheitswesens sprechen. Der Konsens für ein staatlich finanziertes Gesundheitswesen bleibt unangetastet. Hatte der konservative Parteichef Winston Churchill bei der Gründung des NHS vor 51 Jahren noch über die „sozialistische Extravaganz“ des neuen Systems gelästert, konnte es nicht einmal die überzeugte Marktwirtschaftlerin Thatcher riskieren, das Gesundheitswesen wieder zu privatisieren. Ihr derzeitiger Nachfolger, Oppositionschef William Hague, verschmäht sogar eine teure privatärztliche Behandlung und lässt sich kostenlos durch die öffentliche Hand kurieren. Und das geschieht weitaus kostengünstiger als in anderen Ländern: Insgesamt gaben die Briten 1997 für die Wiederherstellung ihrer Gesundheit 52,3 Milliarden Pfund (156,9 Milliarden Mark) privat und über den NHS aus – 6,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts. Den Deutschen war ihre Gesundheit 10,4, den Amerikanern sogar 14 Prozent wert. Pro Kopf waren das in Großbritannien 889 Pfund (2667 Mark), in Deutschland mit 4902 Mark fast das Doppelte, in den USA sogar 7491 Mark. Doch die dramatischen Kostenunterschiede spiegeln sich längst nicht in allen Gesundheitsstatistiken wider. So liegt die Lebenserwartung britischer Männer mit 74,5 Jahren sogar noch über der von Männern in Deutschland (73,2) und in den USA (73). Auch die Britinnen leben, wenn auch knapp, länger als deutsche oder US-amerikanische Frauen. Ihre Lebenserwartung liegt bei 79,8, die deutscher Frauen bei 79,7, die amerikanischer bei 79 Jahren. Bei der Kindersterblichkeit hält das Vereinigte Königreich mit 6,2 Toten auf 1000 Lebendgeburten einen Mittelplatz zwischen Deutschland (5,6) und den USA (7,2). Für England und Wales allein genommen, fallen viele Zahlen sogar deutlich besser aus als in den Vergleichsländern. An Lungentumoren sterben in Deutschland jährlich 68 Männer pro 100 000 Einwohner der Altersgruppe von 35 bis 64, in England und Wales nur 50; bei Schlaganfällen von s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 217 Ausland ren auf den Intensivstationen aller Londoner Krankenhäuser zusammen nur noch zwei Betten verfügbar. Dennoch wird es wohl keine deutlichen oder schnellen Erfolge im Kampf gegen die Wartezeiten geben. Im Gegenteil: Allgemeinärzte in den Krankenhäusern, die über das NHS höchstens 61 000 Pfund (183 000 Mark) verdienen, wollen immer größere Freiräume erkämpfen, um durch private Behandlungen ihre Gehälter aufzubessern. Viele Reformer schlagen deshalb eine höhere Kostenbeteiligung der Patienten vor, um den NHS besser auszustatten. Bisher müssen die Briten lediglich eine Rezeptgebühr von 5,80 Pfund sowie Zuschüsse zu Brillen und Zahnersatz zahlen. Solche Vorschläge rühren bei Labour an dunkelste Erinnerungen. Als 1951, drei Jahre nachdem die kostenlose Behandlung eingeführt worden war, dem NHS zum ersten Mal Finanzprobleme drohten, musste Labour Selbstbeteiligungen einführen. Der damalige Gesundheitsminister Aneurin Bevan, Gründer des staatlichen Gesundheitswesens, trat aus Protest zurück.Wenig später verlor Labour die Wahlen. Deshalb wollen die Genossen auch heute im Zweifel lieber mit den Defiziten ihres Systems leben. Schon Bevan, einer der wenigen Labour-Helden, die von Traditionalisten wie Modernisierern gleichermaßen gefeiert werden, hatte gewusst, dass chronischer Geldmangel bei der medizinischen Versorgung auch durch den großzügigsten Staat nicht behoben werden kann: „Die Erwartungen der Patienten werden die Leistungsfähigkeit des Systems immer übertreffen.“ Hans Hoyng PA / DPA Männern im Alter zwischen 45 und 64 Jah- des Gesundheitswesens verknüpft ist, und ren belaufen sich die Todesraten auf 43 in deshalb kämpft er für andere Umstände. Deutschland und 38 in England und Wales. Obwohl sich New Labour in den ersten Nur durchweg schlechte Zahlen in den me- Jahren in manchen Bereichen an die Spardizinisch unterversorgten Regionen von vorgaben ihrer konservativen Vorgänger Schottland und Nordirland verdüstern die gehalten hat, will Blair jetzt 20 Milliarden insgesamt erstaunliche Statistik des so ver- Pfund (60 Milliarden Mark) zusätzlich für rufenen britischen NHS. das NHS ausgeben. Nur ein geringer Teil Bei der Behandlung erkrankter Herz- davon soll für Gehaltsaufbesserungen vor kranzgefäße indes zeigen die Zahlen im allem der unterbezahlten KrankenschwesVergleich zu Deutschland und den Vereinigten Staaten erheblichen Nachholbedarf für das Inselreich. An Herzinfarkten sterben im Alter zwischen 45 und 64 Jahren in den USA 196, in Deutschland 184, in Großbritannien aber 243 Männer pro 100 000 Einwohner. Im Ausland genießt Britanniens staatliche Zuteilungsmedizin einen denkbar schlechten Ruf. Helmut Kohl nutzte das Modell im vorigen Wahlkampf, um Stimmung für das deutsche Gesundheitswesen zu machen. „Niemals“ würde Deutschland, so der damalige Unionskanzler, „ein System Krankenhauspatient in London*: Mitleid der Putzfrau akzeptieren, das gerade älteren Menschen den Zugang zu moderner Me- tern und Pfleger (Höchstgehalt: 28 240 dizin verwehrt“. Pfund jährlich) ausgegeben werden. NeuBritanniens Politiker würden solche einstellungen sollen dagegen helfen, die Alarmrufe nicht einmal verstehen. In einer Wartelisten zu verkürzen. Grundsatzerklärung der Labour-Regierung Die sind lange überfällig. Angetrieben heißt es ohne falsche Bescheidenheit: „Der durch die Regierung, arbeiteten die britidurch Steuern finanzierte NHS ist der schen Krankenhäuser im vorigen Winter fairste und wirksamste Weg zur Gesund- etwa so hart am Rande ihrer Kapazität, heitsversorgung der gesamten Bevölke- dass eine Grippewelle von nicht einmal rung. Die Systeme in anderen Ländern kos- besonders schweren Ausmaßen das ganze ten mehr, sind weniger gerecht und bieten System bedrohte. An einzelnen Tagen waallenfalls geringen zusätzlichen Nutzen.“ Dennoch weiß auch Tony Blair, dass das * Im Gang des Whittington Hospitals, wo er stundenlang Ansehen seiner Regierung eng mit der im- auf die Untersuchung des behandelnden Arztes warten mer wieder versprochenen Modernisierung musste. USA Immer bergan Er war Spitzensportler und Erfolgsautor. Jetzt ist der demokratische Präsidentschaftsbewerber Bill Bradley parteiinterner Rivale von Al Gore. US-Senat gewählt. Drei Amtszeiten lang vertrat er dort seine Wahlheimat New Jersey und machte sich einen Namen als Wirtschaftsexperte und Vorkämpfer für die Rechte der Schwarzen. Bradley verblüffte seine Kollegen öfter auch durch wenig parteikonformes Verhalten: Zwar befürwortete er die legale Abtreibung, focht gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben und für schärfere Waffengesetze; aber er bewilligte immerhin Gelder für Nicaraguas Contras. Ausscheidungen in den bevölkerungsreichsten Bundesstaaten New York und Kalifornien, sind die alles entscheidende Hürde im Nominierungsmarathon. Auch könnte sich noch ein weiterer Star fürs Rennen melden: Hollywood-Schauspieler Warren Beatty, 62. Die Kosten für Anzeigen, Broschüren und Werbespots machen die Wahlkampagne zum aufwendigen Millionenspiel. Zwar verfügt Bradley über finanzstarke Freunde aus der Sport- und Unterhaltungsbranche. REUTERS D Bewerber Bradley, Ehefrau in Crystal City: „Erneuerung des amerikanischen Traums“ Aber als bitterer Kritiker der von Lobbyisten bezahlten Wahlkämpfe will er sich für seine Kampagne auf das gesetzlich festgelegte Spenden-Limit von 1000 Dollar Direktzuwendungen pro Gönner beschränken. Dennoch haben seine Fans rund 13 Millionen Dollar lockergemacht – genug, um die Gore-Fraktion, die bisher rund 17 Millionen Dollar gesammelt hat, das Fürchten zu lehren. Trotzdem, sagt Ehefrau Ernestine Schlant Bradley mit unverkennbar bayerischem Akzent, es werde „noch ein sehr langes Rennen“ werden. Und was noch wichtiger ist: „Es geht immer bergauf.“ Dass eine gebürtige Deutsche First Lady werden könnte, hält sie nicht für einen Nachteil: „Als Einwanderer bin ich doch die wirklich urtypische Amerikanerin.“ Auch die Nachbarn von Vize Gore, Präsident Clinton: „Mit besten Manieren“ der Taylor Street sehen das höchste Amt der Vereinigten Staaten zu. Paar als Bewohner im Weißen Haus. Bradleys Freunde in Crystal City „Bradley schafft es“, brummt Henry schwören, ihr Bill sei ein „feiner Kerl“ und Bryant, 82, auf der Veranda von Nummer ganz klar der richtige Präsidentschafts- 41 und beugt sich verschwörerisch aus seikandidat; doch der Ex-Senator muss vor nem Schaukelstuhl: „Wie nannten ihn allem noch die demokratischen Partei- seine Teamkameraden, als er noch Basgänger in New Hampshire und Iowa von ketball bei den New Yorker Knicks spielseinen Zielen überzeugen. Diese Vorwah- te? Jawohl, sie nannten ihn ,Mister len Anfang nächsten Jahres, gefolgt von President‘.“ Stefan Simons Nach 18 Jahren in der Gesetzgebungsmaschinerie zog Bradley sich 1996 aus der „kaputten Politik“ zurück, wie er es nannte. Er scheffelte Millionenhonorare als Unternehmensberater. Nebenbei schrieb er seine Memoiren und Bücher über Steuerreform und Basketball, betätigte sich als Fernseh-Kommentator. Jetzt marschiert „der Mann auf dem Sprung“ („Time“) zielstrebig auf das GAMMA / STUDIO X ie Häuser entlang der Taylor Street strahlen in properem Beige, in Blassblau oder Schweinchenrosa, die Fenster sind geputzt und die US-Flaggen gehisst. Das satte Grün der Vorgärten ist bürstenkurz getrimmt wie das Haupthaar eines US-Marine: Crystal City, Missouri, 4088 Einwohner, drei Schulen, drei Kneipen und eine Meile mit Tankstellen, Supermärkten und Fast-Food-Hallen, ist eine zeitlose Inszenierung der amerikanischen Idylle. Hierhin, zu seinen Wurzeln, ist der große Sohn der Stadt zurückgekehrt. Auf dem Schulhof seiner High School, flankiert von der aus Passau stammenden Ehefrau Ernestine, verkündet Bill Bradley, 56, vor Wimpel schwenkenden Mitbürgern: „Ich trete an, um Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, ich will die Erneuerung des amerikanischen Traums.“ Anfang des Jahres war der Hüne von 1,96 Metern noch ein mitleidig belächelter Außenseiter. Seitdem hat er sich in den Meinungsumfragen immer dichter an Vizepräsident Al Gore herangearbeitet. Viele Demokraten sind sicher, dass ihre Partei mit dem integren Bradley bessere Chancen bei den Wahlen am 7. November 2000 hätte als mit dem in acht skandalträchtigen Jahren verbrauchten Vizepräsidenten Al Gore. Wichtiger noch für die stetig steigende Popularität des zweiten demokratischen Mitbewerbers ist jedoch seine Erfolgsvita. „Amerikaner wählen keinen Normalsterblichen in das höchste Amt“, schreibt die „Washington Post“. Neben dem brillanten Mann aus Missouri verblasst der dröge Stellvertreter Bill Clintons fast zum Mann ohne Eigenschaften. Als Al Gore Ende der sechziger Jahre in Harvard nur als „Student mit den besten Manieren“ auffiel, war Bradley schon ein nationales Idol: An der Elite-Universität Princeton und in Oxford glänzte er mit sportlichen und akademischen Bestleistungen; 1964, in Tokio, führte er das US-Basketball-Team zum Sieg über die Sowjet-Mannschaft und holte olympisches Gold. Dann wechselte Bradley mit Erfolg zum Profi-Sport. Er gewann zweimal die Meisterschaft mit den „New York Knicks“ und begann schließlich seine dritte Laufbahn: 1978 wurde er für die Demokraten in den d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 219 JARDAI / MODUS Ausland Präsident Prodi mit Mitgliedern der neuen EU-Kommission: „Es kommt darauf an, die Lasten gerecht zu verteilen“ E U R O PA „Das kann keiner kalkulieren“ Der designierte Kommissar Günter Verheugen über die Kosten der EU-Erweiterung und die unterschiedlichen Chancen der mittel- und osteuropäischen Beitrittsanwärter 220 SPIEGEL: Mit einem für die EU-Erweiterung zuständigen Deutschen wird Berlin in besonderer Weise in die Pflicht genommen, vor allem bei den Kosten. Verheugen: Ich hörte die Aussage, die OstErweiterung ist ein deutsches Baby, und ihr müsst dafür bezahlen, noch im vergangenen Jahr in Paris und anderswo in aller Kälte. Hier hat sich etwas verändert. SPIEGEL: Der geltende Finanzrahmen der EU reicht nur bis 2006. Danach, wenn die M. URBAN SPIEGEL: Herr Verheugen, Alt-Bundespräsident Roman Herzog sagt, die Deutschen seien selbstverliebt mit Berlin beschäftigt, Brüssel aber sei wichtiger, das Amt eines EU-Kommissars gewichtiger als das eines Bundesministers. Das gefällt Ihnen? Verheugen: Ja, mit einer Einschränkung: Das Amt des Kommissars ist sicherlich nicht gewichtiger als das jedes Bundesministers. Für mich ist es die Krönung meiner politischen Laufbahn. Ich bin leidenschaftlicher Europäer, war aber tief geprägt von dem Vorurteil, dass Europa vor allem eine unbewegliche Bürokratie ist. SPIEGEL: Das haben Sie mit Ihrem NochChef Gerhard Schröder gemeinsam. Verheugen: Wir beide haben spätestens während der deutschen EU-Präsidentschaft gelernt, dass dies nicht so ist. Herzog hat Recht. Die Gewichte der Politik werden sich in den nächsten Jahren noch stärker von den Nationalstaaten weg hin nach Brüssel verlagern. SPIEGEL: Hatten Sie wirklich nur ein Vorurteil? Verheugen: Ja. Die Kritik muss in erster Linie an den Mitgliedstaaten geübt werden, die nicht zulassen mögen, dass die europäischen Institutionen stärker sind. Und die sich nicht darauf verständigen, wohin wir eigentlich mit diesem Europa wollen. Verheugen beim SPIEGEL-Gespräch „Ich bin leidenschaftlicher Europäer“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 ärmeren Oststaaten erst mal Vollmitglieder sind, wird es richtig teuer. Verheugen: Die finanzielle Vorausschau sieht 22 Milliarden Euro für die Vorbeitrittshilfen und 54 Milliarden Euro für erweiterungsbedingte Kosten nach dem Beitritt vor. Ob die fällig werden, kann noch keiner sagen. Dieser Betrag reicht in jedem Fall. Was die nächste finanzielle Vorausschau für die Zeit nach 2006 bringt, wenn die Beitritte wahrscheinlich vollzogen sind, wage ich nicht vorherzusehen. Das kann keiner heute kalkulieren. Dann allerdings kommt es darauf an, die Lasten gerecht zu verteilen. Rabatte, wie sie jetzt die Briten bekommen, kann es nicht mehr geben. SPIEGEL: Das ist ja das Abenteuerliche an dieser ganzen Ost-Erweiterung. Sie zucken mit den Achseln und sagen, über die wirklichen Kosten wissen wir nichts. Sie und Romano Prodi gehen 2004 in Ruhestand. Was danach kommt, schert Sie nicht mehr. Verheugen: Nein. Die Kosten werden beherrschbar bleiben, weil jede Volkswirtschaft nur eine begrenzte Absorptionsfähigkeit hat und weil die Strukturmaßnahmen sich rentieren werden, das heißt, es steigen auch die Einnahmen. SPIEGEL: Und beim Umweltschutz? Verheugen: Hier werden die EU-Standards von keinem Land bis zum Beitrittstermin erreicht. Die EU rechnet mit 120 Milliarden Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland REUTERS Euro an Umweltkosten im SPIEGEL: Tschechien wird Osten, berechnet auf die nicht in der ersten Beitrittsnächsten 20 Jahre. Ich halte gruppe sein? das für weit unterschätzt. Verheugen: Ob der Beitritt Das wird, selbst bei einem in Gruppen vollzogen wird, anderen Preisniveau, sehr weiß noch keiner. Es kann viel teurer. Die Alt-Mitglieauch individuelle Beitritte der müssen akzeptieren, geben. Im Augenblick hadass die neuen Mitglieder ben alle noch dieselben noch eine Zeitlang zu niedChancen. rigeren Umweltstandards SPIEGEL: Die Tschechen laproduzieren dürfen und so gen mal vorne. gewisse WettbewerbsvorteiVerheugen: Nein, das war le haben. Fassade. Die frühere tschechische Regierung des SPIEGEL: Wie lange? Václav Klaus war wirklich Verheugen: Ich warne zwar der Meinung, dass die EU vor dem süßen Gift der Prags Premier Klaus (1997) der Tschechischen Republik Übergangsfristen.Wenn wir wesentliche Bereiche lange aus dem ge- beitritt und nicht umgekehrt. Deshalb hat meinsamen Binnenmarkt herausnehmen, sie die Verhandlungen nicht sonderlich haben wir keine wirkliche EU-Erweite- ernst genommen. Klaus wollte nicht mehr rung, sondern Teilmitgliedschaften. Das als eine Freihandelszone und nicht wirklich will ich nicht. Im Umweltbereich aber wird volle EU-Mitgliedschaft. Jetzt haben wir es mindestens für ein paar Jahre ohne in Prag eine sozialdemokratische MinderÜbergangsfristen nicht gehen, weil das heitsregierung, die wirklich die volle Integration will. Die tschechische Regierung Geld nicht aufgebracht werden kann. SPIEGEL: Polen und Ungarn fordern auch weiß, dass sie noch Zeit braucht. Deshalb beim freien Kapitalverkehr Übergangsfris- redet sie nicht über Daten und verlangt ten von 18 Jahren bis zur Freigabe des auch keine. Bodenerwerbs. SPIEGEL: Unwillen über den EU-Beitritt Verheugen: Wenn wir die Freiheit des Ka- und seine schmerzhaften Vorleistungen pitalverkehrs auch herausnehmen, bleibt wächst auch in Polen oder Slowenien. vom Binnenmarkt fast gar nichts mehr Verheugen: Die Eliten dieser Länder sind übrig. Investitionskapital aus anderen Län- für diesen Integrationsprozess, selbst wenn dern kommt dann nicht. Niemand ist ver- er Opfer kostet. Wie lange aber hält die pflichtet, Boden zu verkaufen. Ich werde Zustimmung der Öffentlichkeit an? Das ist mein Dilemma: Mache ich zu schnell, kriege ich Probleme in den Mitgliedstaaten, „Die Gewichte der Politik weil dann die Bedingungen aufgeweicht werden sich noch stärker nach wären. Mache ich zu langsam, kriege ich Brüssel verlagern“ Probleme bei den Kandidaten. SPIEGEL: London und Paris machen außernicht mit der Absicht verhandeln, hier dem Druck, jetzt auch Beitrittsverhandüberhaupt Übergangsfristen zuzulassen. lungen mit Rumänien und Bulgarien zu beSPIEGEL: Aus Angst vor billigen Arbeits- ginnen, obwohl sich diese Entwicklungskräften aus Polen verlangt auch der Westen länder eindeutig nicht qualifiziert haben. lange Übergangsfristen beim freien Perso- Verheugen: Ich habe den Willen der Mitnenverkehr. gliedstaaten zu berücksichtigen, die ja Verheugen: In der deutschen Bundesregie- letztlich über die Erweiterung entscheiden rung gibt es Vorstellungen, man könne das müssen. Ich kann damit leben, wenn man bis zu 18 Jahren ausdehnen. Ich rate dazu, beim Gipfel in Helsinki sagt: Wir fangen an, sehr rational dann zu entscheiden, wenn mit der zweiten Gruppe geschlossen zu man absehen kann, ob es wirklich zu ei- verhandeln, differenzieren aber dann entnem unbeherrschbaren Zustrom auf die sprechend den Gegebenheiten. Arbeitsmärkte kommt. Ich sehe das nicht. SPIEGEL: Verhandlungen machen nur Sinn, Ich weiß aber, dass es ohne Fristen beim wenn man zu einem vernünftigen ZeitPersonenverkehr weder in Deutschland punkt zum Abschluss kommen will. Die noch in Österreich die Zustimmung zur EU gerät unter Verhandlungsdruck. Ost-Erweiterung gibt. Während des Über- Verheugen: Nein, nein. Man muss nur ehrgangs könnte man den Zuzug von Ar- lich bleiben und Rumänien und Bulgarien beitskräften über Quoten regeln. sagen, dass sie nicht genauso schnell fertig SPIEGEL: Welche Länder treten denn als sein werden wie Lettland oder Malta. erste bei und wann? SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass man Verheugen: Wir verhandeln jetzt schon mit dann auch beim Beitritt selbst beide Augen sechs Staaten – Polen, Tschechien, Ungarn, zudrückt und Länder aufnimmt, die nicht Slowenien, Estland und Zypern. Die Grup- reif sind? pe ist noch dicht zusammen. Aber die Verheugen: Das darf nicht sein. Wenn die dicksten Brocken kommen in den Ver- EU-Regierungschefs meinen sollten, sohandlungen erst noch. ziale, finanzielle und ökonomische Folgen d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 223 interessieren uns nicht, uns ist außenpoli- ein mittelfristiges Energiekonzept ohne die tische Stabilität wichtiger und wir machen tickenden Zeitbomben. Das wird die EU das jetzt, werden sie es nicht ganz leicht ha- mitfinanzieren müssen, auch über Darleben. Sie bekommen es mit einer Kommis- hen. Man kann nicht sagen, das Geld haben sion zu tun, die sich querlegt: Augenblick wir nicht. Und dann passiert ein zweites mal, dies ist ein Bissen, an dem wir er- Tschernobyl. Keiner, der dann noch lebt, sticken können. würde diese Kurzsichtigkeit begreifen. SPIEGEL: Auch die Kandidaten machen SPIEGEL: Kann eine EU, der bald 20 und Druck. Der polnische Wirtschaftsminister mehr Staaten mit über 400 Millionen Mensagt im SPIEGEL: 2003 sind wir drin. schen angehören, überhaupt noch funkVerheugen: Ich begrüße sehr, dass sich die tionieren? Polen so ein anspruchsvolles Ziel setzen. Verheugen: Es ist ja jetzt schon sehr schwieDarüber wollen wir reden, wenn die rig, die Entscheidungsprozesse zu fünfschwierigen Kapitel zu verhandeln sind. zehnt sind bereits außerordentlich mühPolen kann sich immer darauf verlassen, sam. Die EU kann künftig nur funktioniedass der größte Partner in der EU – jeden- ren, wenn wir wegkommen vom Vetorecht falls in der Tendenz – die polnischen In- der Mitgliedstaaten und übergehen zur tentionen unterstützt. Und wenn Deutsch- Mehrheitsentscheidung als Regel und daland das tut, macht Frankreich das vermutlich auch. Weil Polen im Erweiterungsprozess für Deutschland das wichtigste Land ist, sollte sich Deutschland in Polen so stark wie möglich engagieren. SPIEGEL: Der polnische Wirtschaftsminister sagt auch, seine Bauern dürfen nicht diskriminiert werden, sie müssen alle Subventionen bekommen, die die anderen EU-Bauern auch erhalten. Verheugen: Der Berliner Beschluss ist vollkommen klar: Die Agenda 2000 Verheugen, SPIEGEL-Redakteure*: „Voll auf Prodis Linie“ sieht Einkommensausgleichszahlungen an die Bauern der Bei- von nur Bestimmungen mit Verfassungstrittsländer nicht vor. Diese Direktzahlun- charakter und Entscheidungen über den gen gehen an die Landwirte der Alt-EU, Einsatz militärischer Mittel und die finanweil sie Einkommensverluste erleiden, ziellen Verpflichtungen ausnehmen. wenn jetzt Brüssel die garantierten Ab- SPIEGEL: Wo endet für Sie Europa? Die nahmepreise für Agrarprodukte in Rich- Ukrainer wollen in die EU, Kroatien, Bostung Weltmarkt-Preisniveau senkt. Die pol- nien und Serbien auch. nischen Bauern aber produzieren unter Verheugen: Die EU wird sich erweitern um Weltmarktpreis und können daher keine die Staaten, die jetzt im ErweiterungsproAusgleichszahlungen bekommen. zess sind und möglicherweise einige weniSPIEGEL: Die Polen sagen, bis wir in der EU ge andere, wie zum Beispiel die Schweiz. sind, liegen wir auf Weltmarkt-Preisniveau. Für alle anderen, die sozusagen EU-ErVerheugen: Das stimmt nicht, die Zah- wartungsland sind, wird es eine andere len geben das jedenfalls im Augenblick Heranführungsstrategie geben müssen, die zunächst nicht auf Vollmitgliedschaft annicht her. SPIEGEL: Teurer als geplant wird wohl auch gelegt ist. Zunächst sollte die regionale das Problem der hoch gefährlichen Atom- politische und wirtschaftliche Integration meiler bei den Ländern der zweiten Bei- vorangetrieben werden, auch institutionell angekoppelt an die EU. Es ergäbe sich dann trittswelle? Verheugen: Ich will es zur Voraussetzung eine echte Assoziierung, nicht mehr und für die Aufnahme von Beitrittsverhandlun- nicht weniger. Erst danach kann die volle gen machen, dass bis zum Gipfel in Helsinki Mitgliedschaft anvisiert werden. im Dezember ein für die EU hinnehmbarer SPIEGEL: Wie verstehen Sie sich inzwischen verbindlicher Plan vorliegt, wann diese acht mit Ihrem neuen Chef? Sie haben Prodi nicht nachrüstbaren Blöcke in Litauen, Bul- vorgeworfen, bei der Kandidatenauswahl garien und der Slowakei abgeschaltet wer- eine „Blutspur“ durch Europa zu ziehen. den. In allen drei Ländern ist diese Frage Verheugen: Das war ein ironisch gemeinter außerordentlich umstritten. Aber hier blei- Hinweis, den er nicht in den falschen Hals be ich absolut kompromisslos. Ich verlange gekriegt hat. Ich bin voll auf Prodis Linie. SPIEGEL: Herr Verheugen, wir danken Ihnen * Martin Doerry und Dirk Koch. für dieses Gespräch. 224 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 M. URBAN Ausland Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland ALPEN Das unheimliche Scharnier Europas Im Massiv des Montblanc hat sich die Gebirgswelt radikal verändert. Der Brand im Tunnel hat Chamonix und das Aostatal von seinen Nachbarn abgeschnitten. Die Bewohner fürchten Schlimmes: Der höchste Berg Europas ist nicht mehr stabil. Br e 228 auf dem Gletscher eine Eis- und Schneelawine aus. „Sie raste mit einer Geschwindigkeit von 360 Stundenkilometern in das Val Veny am Südfuß des Montblanc hinab“, erläutert Hans-Rudolf Keusen, ein Geologe und Gerichtsgutachter aus dem schweizerischen Bern. Keusen schätzt, dass insgesamt zehn Millionen Tonnen Fels, Eis und Schnee in rasender Bewegung waren, „ein Ereignis, wie ich es bis dahin nicht gekannt habe“. Für die Bergführer von Courmayeur, dem Hauptort am Ende des Aostatals, steht der alpine Schauplatz seither auf dem Kopf. „Die Route am Brenvasporn ist unmöglich geworden – zu gefährlich. Und die anderen Ostwandtouren sind es auch“, sagt Edy Grange im Bergführerbüro. Sogar die Jahreszeiten scheinen sich verkehrt zu haben. „Man kann die Brenvaflanke jetzt bestenfalls Barriere Petit Dru (3733 m) im Winter angehen, wenn Montblanc hoffentlich alles gefroren Chamonix ist“, so Grange. Auf Courmayeur, zu FRANKREICH dem das gemütliche EnArve Seilbahn trèves mit seinem rauen alpinen Charme gehört, fällt Montblanc-Tunnel aber auch der Schatten ei11,6 Kilometer lang Les Houches nes anderen, noch größeRefuge des ren Unglücks. Man lebt Cosmiques hier vom Tourismus, aber GéantGletscher nicht mehr wie gewohnt, Brenvasporn jedenfalls nicht mehr wie Montblanc vor dem verheerenden Aiguille (4807 m) des Toules Brand im Straßentunnel (3534 m) des Montblanc, bei dem im nv aMärz dieses Jahres 40 Gl et Menschen umkamen. sch Entrèves er Plötzlich sind die Gebirgler von ihren französiCoury n schen Nachbarn im Normayeur e Mont V den des Massivs getrennt. l Chétif Der einzige Weg nach ITALIEN a Chamonix führt über die Gletscher, wie zur Zeit des englischen Alpenpioniers Adolphus W. Moore, der 3km 1865 erstmals den Brenvasporn bezwang. V D er Hubschrauberpilot Ezio Oliva muss aufpassen. Nebel steigen aus dem Becken des Brenvagletschers am Montblanc. Senkrecht darüber sieht man ein Stück Himmel und die Ostwand des Berges, die hier aufragt wie ein einziger unerhörter Abgrund. Oliva ist in Entrèves gestartet, einem Dorf im oberen Aostatal, in dem sich Steingebäude mit grauen Schindeldächern aus Granit eng aneinander schmiegen. Man huldigt hier dem Eindeutigen und Bodenständigen, auch einem amüsanten Divertimento ist man in der Heimat der Polenta nicht abgeneigt. In diesem Sommer aber sind die freundlichen Gesichter im Tal rar geworden, ergeben Nahaufnahmen des Alltäglichen ein anderes Bild. „Wir hatten immer viele Besucher, jetzt ist es fast leer. Molto triste“, sagt Esterina Vaudois, Besitzerin des ehrwürdigen Restaurants „Maison de Filippo“. Gut sei nur, dass im Herbst wieder der Stammgast Juan Carlos, König von Spanien, in der Gegend auf die Jagd nach Gämsen gehe, begleitet von einem Freund, dem Grafen Cinzano. Damit Entrèves und den Herren nichts geschieht, ist Oliva in die wilde und einsame Welt des Brenvakessels geflogen. Er muss eine Felsenpyramide und eine Wand darüber kontrollieren, aus der zwei Millionen Kubikmeter Gestein herausgebrochen sind. Sie stürzten auf die chaotische Oberfläche des Gletschers hinab, aus dem Eistürme aufragen wie Vampirzähne. Oliva hält Abstand zu der finsteren Flucht über ihm, weil Steinschlag den Helikopter treffen könnte. Hier, am so genannten Brenvasporn, hat die Regionalregierung von Aosta ein Frühwarnsystem installieren lassen. Es besteht aus Spiegeln, die von einer Spezialkamera mit Infrarotlicht abgetastet werden. Die Kamera befindet sich fünf Kilometer entfernt auf dem Mont Chétif, dem Skiberg von Entrèves. Bei dem Bergsturz am 18. Januar 1997 waren zwei Skiläufer am Mont Chétif getötet worden. Denn die Felsmassen, die damals vom Brenvasporn prasselten, lösten d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Direktor Tropiano fällt es jetzt noch schwer, den Schock des Tunnelfeuers zu bewältigen. „Das Fett der Margarine brannte heiß wie Öl, die Temperaturen mussten 1300 Grad erreicht haben“, sagt er. Sein Haar ist so weiß geworden wie der Schnee des Montblanc selber. „Es war eine halluzinative Szene. Alles war verbrannt und geschmolzen, Lastwagen und Autos konnte man nur grob unterscheiden.“ Tropiano ist ein aufmerksamer, sehr zuvorkommender Beamter, dessen Lebenslauf dramaturgisch genau auf das Amt am Tunnel zugeschnitten war. Er war schon im Juli 1965 bei der Einweihung dabei, damals als Verkehrseinweiser. Nun sitzt er in einem modernen Glasbüro am Tunnel-Vorplatz, gleich vis-à-vis des Schnelllokals „Autogrill“. Sein Blick schweift in die Gegenrichtung zu der Tunnelpforte, über der sich die Schutthalde des Brenvagletschers auftürmt wie eine Ruine. „Der Tunnel ist zwischen den Fluchträumen 18 und 22 einen Kilometer lang zerstört“, erklärt Tropiano, „sogar der Boden hat sich aufgelöst.“ Das will etwas heißen, denn die Röhre besaß eine Betonschale, FOTOS: J. HAGENMULLER / HOAQUI (gr.); AP ( kl.) derwelt archaischer Urängste, die alle Autofahrer in dem Tunnel gespürt haben. Die Betreibergesellschaften haben sich das Bauwerk einträchtig bis zur Mitte hin geteilt und die Mautgelder auch. „Das war wie bei einem Ehevertrag ,comunanza dei beni‘, also mit Gütergemeinschaft“, erläutert Michele Tropiano, der Direktor des italienischen Abschnitts. Doch eine Ausnahme bildeten der Grenzverlauf und damit die Hoheitsrechte. Die Grenze verläuft unweit von Entrèves über den Granitzacken der Aiguille des Toules. Darunter verläuft die Unglücksstrecke. Italien ist demnach juristisch nur Herr über ein Drittel des Tunnels, in dessen Eingeweiden ein Kühllastzug aus Belgien Feuer fing und mit ihm 19 Tonnen Mehl und Margarine. Weil es an Kilometer 6,5 zu dem Brand kam, in Tropianos Tunnelhälfte, aber noch vor der Grenze unter der Aiguille des Toules, ermittelt die Staatsanwaltschaft Hochsavoyens im französischen Bonneville. Sehr zum Entsetzen der italienischen Tunnelgesellschaft, denn die Staatsanwälte haben vor, noch im September das Feuer im Montblanc-Massiv, ausgebrannte Tunnelröhre unter dem Géant-Gletscher: Die Staatsanwaltschaft will das Feuer neu entfachen Die Menschen haben sich auf beiden Seiten des Gebirges früh mit den Mechanismen der Massenzivilisation vertraut gemacht und sich ihnen ergeben. Vor allem aber hat man den Montblanc mit den Stahlkabeln von Seilbahnen eingeschnürt wie einen Rollbraten. Dann wurde die 11,6 Kilometer lange Tunnelröhre angelegt, die sich allerdings nicht unter dem Monarchen der Berge, sondern östlich von ihm unter dem Géant-Gletscher erstreckt – 1300 Meter unter dem Eis, in einer engen Son- Tunnel erneut anzufachen: mit einem baugleichen 40-Tonnen-Volvo und wieder mit 19 Tonnen Mehl und Margarine, die ein Raub der Flammen werden sollen. Der aufwendige Ortstermin hat in Aosta wilde Spekulationen ausgelöst. Es ist die Rede davon, dass im Brandmüll des Tunnels, in dem 10 Autos und 25 Lastwagen verglühten, Reste von Heroin entdeckt wurden. Ein Gerücht besagt, dass unter dem Mehl des originalen „Frigo-Volvo“ Heroinbeutel gestapelt waren. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 die 40 Zentimeter bis zwei Meter dick war, je nach der Ausbildung des Felsenhintergrunds. So schlimm war das Zerstörungswerk, dass die Franzosen nur mit Bulldozern auf ihrem Hoheitsgebiet vorankamen. Bis Mitte Juni war die Kripo mit der Totenbergung beschäftigt, und erst Ende Juli gelang es, die letzten Lastwagen aus dem Tunnel zu hieven, durch den jährlich 15 Millionen Tonnen Fracht befördert wurden. Das entspricht der Hälfte des Waren229 AESOPE oder auch nicht.“ Andere haben sich schlicht in der Adresse geirrt, zum Beispiel die Familie von Carsten Heinze auf der Heimfahrt aus den Ferien nach Kopenhagen. Heinze lehnt am Heck seines zitronengelben Suzuki-Wagon. „Wir hörten von einem Tunnel, in dem es vor ein paar Monaten gebrannt hat. Aber wir dachten, das sei der Tunnel am Großen St. Bernhard. Man kann ja nicht alles wissen.“ Am Anfang der Serpentinen befindet sich die Großtankstelle des Piazzale della Funivia. Sie ist das Reich des Pächters Piero Ceseracciu, der in diesem Weltwinkel schon viele Katastrophen erlebt hat. Sein Umsatz ist um 85 Prozent eingebrochen, von acht Mitarbeitern hat er nur noch einen, und der fegt meistens nur den Asphalt zwischen den verwaisten Zapfsäulen. „Das merkt man an der Autostrada bis nach Mailand und Turin“, sagt er, „hier sind immerhin bis zu 4000 Lastwagen am Tag vorbeigefahren.“ Auch die Reisebusse aus Frankreich fehlen, die durch den Montblanc-Tunnel ins Italienische gerollt waren. „Die haben gehalten, um den Berg anzusehen und dann hier zu essen“, erzählt Giorgio Gialdrone, dessen Brasserie für dicke, dampfende Spaghetti bekannt ist. „Ohne den Verkehr ist es schöner, aber auch trauriger geworden. Wir hatten schon in der Hochsaison 20 Prozent weniger Gäste, wie soll das erst im Winter werden?“ Das südliche Montblanc-Massiv ist eine Welt dramatisch komponierter Bilder, der Kargheit und elementaren Kraft. Die neue Zeit ohne die „Tir“, wie in Italien Lastwagen auf Grund des alten Zollkürzels genannt werden, kommt vielen wie die Zurückgewinnung eines Paradieses vor. Überall, die Tankstellen ausgenommen, hängen Poster mit der Forderung „Sagt nein zu den Lkw“. Eine Unterschriftensammlung hat bisher 30 000 Eintragungen gegen die Rückkehr der Schwergewichte ergeben. Bei 1,8 Millionen Fahrzeugen, darunter 800 000 Tir, die jährlich den Tunnel pas- FOTOS: FOURMY / REA / LAIF (li.); M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV austauschs zwischen Frankreich und Italien. Der Durchstich am Montblanc werde erst im Herbst nächsten Jahres wieder befahrbar sein, heißt es im jüngsten Bericht der Regierungen in Rom und Paris zur Tunnelkatastrophe. Doch das klingt optimistisch, je länger man Direktor Tropiano zuhört: „Es gibt noch viele Giftstoffe dort drinnen, alles ist mit fingerdickem Ruß bedeckt. Es gibt Chlorverbindungen. Alles muss erst dekontaminiert werden. Dazu sucht man in ganz Europa Experten.“ Wer bei dem Desaster nicht gerettet werden konnte, war der Tunnelangestellte Pierlucio Tinazzi. Er war mit einem weißen BMW-Motorrad der Sicherheitsabteilung in den Rauch gefahren, um Fliehende herauszuholen, die ihm entgegentaumelten. Er selber starb im Notraum 22, zusammen mit einem Feuerwehrmann aus Frankreich. Vor kurzem sind 200 Angehörige verschiedener Motorradclubs mit ihren Ducatis und Gold Wings zum Bergsturz am Petit Dru: Als Erdbeben registriert Vorplatz gebraust, um Tinazzis zu gedenken. Die Präsidentin der Tunnelge- teil gefunden worden. Anhand eines Gesellschaft, Bianca Vetrino, war eigens aus genabdrucks – Manno trug Kronen im Rom gekommen, um eine Plakette zu ent- Oberkiefer – gelang es, die Überreste dem hüllen. Wie eine Phalanx reihten sich die Vermissten zuzuschreiben. Manno war am Biker vor dem großen Stahlbogen des Tun- 24. März um 10.50 Uhr auf der ChamonixSeite in den Tunnel eingefahren. neleingangs auf. Dort beseitigt man die letzten Wracks. Doch die Feier begann gleich wieder mit einem unheildrohenden Zeichen: Aus der Asche rieselt aus den grauschwarzen GeBrenvaflanke kam ein dumpfes und lang rippen von zwei Lastwagen, als sie von eianhaltendes Grollen. Beim großen Berg- nem Autokran auf einen Tieflader gehosturz hat sich die Lawine bis an den Hang ben werden. „Der da war vielleicht ein zum Tunneleingang geschoben, fegten Volvo oder Mercedes“, meint ein Techniker Schnee und Eis über die Serpentinen, die der Bergungsfirma Montblanc Manutention, „der andere erinnert mich an einen sich nach Entrèves hinabwinden. Beklemmend war auch die Arbeit, die Daf.“ Die Trümmer kommen in einen Hander deutsche Zahnarzt Dieter Mittmann gar an der Route nationale 205, wo sie als zu verrichten hatte. Mittmann betreibt eine Beweismittel gelagert werden. In ChamoPraxis in Saint-Pierre bei Aosta, einer Som- nix nennt man das Gebäude neben einem merfrische mit Schloss und Apfelkulturen, Schrottplatz „Museum des Todes“. Am Eingang oberhalb Entrèves marwie sie für diese Gegend typisch sind. Erst jetzt hat er den letzten Toten iden- schieren unterdessen „turisti del macabro“ tifiziert, den Lkw-Fahrer Stefano Manno. auf. Sechs Motorradfahrer aus Marienberg Von ihm waren nur ein paar verbrannte im Erzgebirge sind extra hierhergekomZähne und ein verbranntes Unterkiefer- men: „Wir wollen sehen, was es hier gibt Umleitung von Lastwagen ins Departement Savoyen, Restaurantbesitzerin Vaudois: Eine geschäftliche Katastrophe 230 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV sierten, verwundert das wenig. Die Ski- gen, für ihn ein Generaldebakel. „Die In- Bobbahn entlangführte, für Skateboarder pisten am Mont Chétif seien im Winter dustrieführer liebten hier die familiäre freigegeben, die nun auf der steilen Lkwschwarz geworden, auf den Firnen des Atmosphäre“, bekundet Castaldi, „erst Rollbahn zu Tal brettern. „Wie eine Pyramide, von einem innern Montblanc sei es eine Fron gewesen, sind einige mit dem Helikopter hergeflogeheimnisvollen Lichte durchzogen“, so Schnee für das Teewasser der Bergsteiger gen, nun aber nicht mehr.“ zu schmelzen. Carlo Pinelli, Chef einer Weiter im Tal des schäumenden Ge- hat Goethe am 4. November 1779, bei seiUmweltgruppe namens „Mountain Wil- birgsflusses der Arve hat die Raststätten- ner nächtlichen Ankunft in Chamonix, den derness“: „Der Schnee enthielt Rußparti- besitzerin Ghislaine Passard eine Art Ge- Montblanc beschrieben. Inzwischen rutscht kel, das Schmelzwasser war ungenießbar.“ werkschaft der Tunnelgeschädigten ge- dem Massiv aber auch hier der Sockel weg Auch die Wanderer im Val Veny sind gründet. Sie setzt sich für die Schaffung wie auf der Ostseite am Brenvasporn. Am spitzen Dreieck des Petit Dru (3733 froh, dass das Lärmecho nicht mehr zu ih- neuer Arbeitsplätze ein, weil mehrere nen schallt. „Wegen des Smogs haben so- Großtankstellen schließen mussten, so Meter), der kühnsten Berggestalt von Chagar die Schmetterlinge das Hochtal gemie- etwa die Dieselstation von Elf in der Fe- monix, ist ein großer Teil der Westwand den, jetzt aber sind sie zurückgekehrt“, riengemeinde Les Houches. Die Raststätte weggebrochen. In Zürich wurde der Bergsagt Vittorio Levi, ein Manager aus Mai- war ein bevorzugter Stopp für Brummi- sturz als Beben der Stärke 2,5 auf der land, der in Courmayeur ein Haus besitzt. Fahrer aus Belgien, Deutschland, England Richterskala registriert. Schwierige Anstiege, die „directe amériAm Glasgebäude der Firma Grivel, dem und natürlich Nordfrankreich. Die Fahrt größten Unternehmen im oberen Aosta- aus der Normandie hierher dauerte zehn caine“ und die Linie der französischen Altal, spiegelt sich der Montblanc wider. Stunden. Die Trucker tankten auf und aßen pinistin Catherine Destivelle, wurden von „Wie man sieht, ist die Luft sauber, vorher dann Steak frites mit Grilltomate. Auch der Granitlawine ausradiert. „Ich kam mir lag der Smog nur 200 Meter über dem Tal- Ghislaine Passard hat 90 Prozent der Kund- vor wie auf einer Großbaustelle, mächtige Platten über mir bewegten boden“, meint Betta Gobsich, ruckartig verbreiterbi, die Besitzerin des beten sich Felsrisse vor meirühmten Herstellers von nen Augen.“ So beschreibt Steigeisen und Eisäxten in der Sibirier Walerij BabaEntrèves. now die neue Wand, die er Dabei ist auch die Stahlals erster Kletterer durchschmiede von der Tunnelstiegen hat, ein Abenteuer, schließung betroffen. 90 das vier Tage dauerte. Prozent der alpinen ZaIn Chamonix galt der ckenware wird im Ausland Mann aus Omsk als verabgesetzt, Frankreich ist schollen. Helikopter suchein Hauptabnehmer. „Unten ihn, doch da hatte er ser Importeur sitzt drüben sich bereits abgeseilt. „Ich in Chamonix. Er muss nun gehe da nicht mehr hinein per Fax bestellen wie unund empfehle es auch niesere Kunden in Korea, Jamandem“, lautet sein Fapan und Australien“, so zit. Bescheiden lebt BabaBetta Gobbi. now mit seiner Frau auf Der kleine Grenzverkehr dem Campingplatz von ist auch auf anderer Ebene Motorradfahrer bei der Gedenkfeier für Tinazzi: Grollen vom Berg Chamonix. zum Erliegen gekommen. Sogar Berghütten sind im MontblancDie 15 Zahnärzte in Chamonix leiden, weil schaft eingebüßt. „Die Regierung lässt uns ihre italienische Klientel den mehrstündi- hängen, dabei hilft sie etwa den Landwir- Massiv in Schräglage geraten, weil sich der Felsenuntergrund verschoben hat. Die gen Umweg über den Großen St. Bernhard ten bei jeder Schweinepest“, klagt sie. und die nachfolgenden Pässe Col de la In Chamonix, das stets eine Hochburg ultramoderne Refuge des Cosmiques zum Forclaz und Col des Montets scheut. der Gaullisten war, hat Bürgermeister Beispiel muss mit langen Stahlstäben Da ein Drittel der italienischen Dentisten Michel Charlet die politische Zukunft auf im Fels gesichert werden. Eine Biwakkeine staatliche Zulassung besitzt, wirkte einen Tunnel ohne Lastwagen verpfändet. hütte nahe der Brenvawand wurde gedie Zahnarztdichte von Chamonix magne- Die bewegen sich, zur Erleichterung der schlossen, weil die Schieflage so bedrohtisch auf die Patienten im Aostatal. Eine Chamoniarden, nun zum Tunnel von Fré- lich ist. Der Geologe Keusen macht die weltvierköpfige Familie, die vom Zahnarztbe- jus im Departement Savoyen und verstopweite Erwärmung für das Wackeln des such in Chamonix kam, war im Montblanc- fen dort Straßen und Städte. Tunnel verbrannt. „Nun kommen nur noch Bei den Europawahlen gab es in Cha- Montblanc verantwortlich. Die Null-Graddie Leute, die dringend behandelt werden monix einen Erdrutschsieg der Grünen, Grenze steige immer höher an, Eis, das die müssen“, meint der Zahnarzt René Del- und der neue Held der selbst ernannten Flanken und Schuttmassen zusammenhalgove, „das ist Besorgnis erregend“. „Welthauptstadt des Alpinismus“ ist aus- te, löse sich auf. Keusen erkennt „Zeichen Von den reichen Italienern, den Indus- gerechnet „Dany le Rouge“, Frankreichs des sich destabilisierenden Gebirges“. Nichts ist am Scharnier Europas, dem triellen aus Mailand und Turin, die in Cour- heimlicher Grünen-Chef Daniel Cohnmayeur Chalets von der Größe deutscher Bendit. Der hat die Idee, den transalpinen Montblanc, wie es früher einmal war. Auch Mehrfamilienhäuser besitzen, ist in Cha- Lkw-Verkehr auf Eisenbahnzüge umzu- die Statik der Loyalitäten ist nicht länger monix das Spielkasino „Le Royal“ abhän- setzen, zur Kampfsache erklärt und selbst festgezimmert. Wenn die Staatsanwaltschaft Hochgig, ein Prachtbau, der zu Ehren des Kai- den Gaullisten Charlet zur Sache der Grüsers Napoleon III. erbaut wurde. nen bekehrt. Charlet erhofft sich für das savoyens ihren Test mit dem zweiten MarSpielbankchef Jean-Raymond Castaldi Touristenzentrum eine neue Blüte: „So ru- garine-Laster vornimmt, will Direktor Troblickt sinnend auf einen Jeton im Wert von hig und schön muss es 1924 gewesen sein, piano aus Protest den italienischen Tunnel25 000 Dollar. Der Umsatz an den Rou- als in Chamonix die erste Winterolympia- eingang blockieren. Er befürchtet, dass bei lette- und Black-Jack-Tischen ist seit dem de ausgetragen wurde.“ Er hat die Zu- einem neuen Brand die Röhre ganz verloTunnelfeuer um 90 Prozent zurückgegan- fahrtstraße zum Tunnel, an der damals die ren geht. Joachim Hoelzgen 232 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite PA L Ä S T I N A Mit Schleier ins Wasser Die Palästinenser setzen auf Tourismus – sogar der Gaza-Streifen soll ein Ferienparadies werden. Doch der Islam erweist sich als hinderlich. F ausi Nimir, 64, ist eigentlich ein Mann des Militärs. Der Oberst der Palästinensischen Befreiungsarmee war mit Arafat im Exil und focht an dessen Seite für die palästinensische Sache. Doch nun geht Badende Palästinenserinnen: „Wir wollen das Tor es um den Aufbau des Palästinenser-Staates, und da braucht Arafat ihn in ziviler Funktion. Jetzt leitet der groß gewachsene Oberst die Ferienanlage „Stadt der Blumen“ am Strand von Gaza. Statt Schulterklappen trägt er den Titel „GeneralManager“. Seine Visitenkarte schmückt eine Palmeninsel im Ozean. Das ist ein bisschen dick aufgetragen. Denn mit einer tropischen Idylle teilt Nimirs neues Einsatzgebiet bisher allenfalls die Temperaturen. Zwar hat das 80-Zimmer-Hotel einen ge- Strand von Gaza: „Reiches Erbe“ pflegten Sandstrand und den angeblich größten Swimmingpool in Gaza. teres Land, und schon am 1. Oktober könDoch ansonsten verströmt das mit Hilfe nen die Palästinenser mit dem Bau eines der Weltbank finanzierte Staatshotel eher Seehafens in Gaza beginnen. sozialistischen Charme. Mit dem Slogan „Palestine – The Holy Arafat, dessen Hauptquartier gleich ne- Land“ touren Arafats Palästinenser derbenan liegt, bringt hier die Delegationen zeit weltweit über die Messen. „Heilige seiner Staatsgäste unter. Als Urlauber kom- und Propheten haben uns ein reiches Erbe men bisher vorwiegend Palästinenser mit hinterlassen“, schwärmt Abdullah Hidisraelischem Pass. Doch künftig sollen sich schasi, Vize des Tourismusministers. mit ihnen auch westliche Touristen sonTatsächlich liegen viele Sehenswürdignen. „Wir wollen das Tor nach Europa öff- keiten im Palästinensergebiet: Betlehem nen“, sagt Arafats Manager und fügt mit der Geburtskirche, eine der größten schnell noch hinzu: „Wir haben wunder- Attraktionen der Christenheit. Oder die bare Strände.“ Wüstenoase Jericho, die inzwischen nicht Das mag sein. Aber Gaza als Ferienpa- nur eine Seilbahn österreichischen Fabriradies? Der 45 Kilometer lange und bis kats zum „Berg der Versuchung“ zu bieten zu 13 Kilometer breite Streifen, einer der hat, sondern sogar ein florierendes Spielam dichtesten bevölkerten Flecken der kasino. Welt, stand bisher für Flüchtlingselend und Gaza könne „eines Tages in einer Reihe politisches Pulverfass. Zudem ist er Heim- stehen mit Eilat und Akaba am Roten stätte der extremistischen Bewegung Meer“, glaubt Axel Burmeister von der Hamas. Gesellschaft für Technische ZusammenarDoch die Palästinenser meinen es ernst. beit (GTZ), der die Palästinenser beim Auf„Der Tourismus ist das Öl Palästinas“, sagt bau des Tourismus berät. ihr Präsident, der selber nie Urlaub macht. Doch fünf Jahre nach dem Start der AuIm Feriengeschäft sehen Experten das tonomieverwaltung ist die Wirklichkeit größte ökonomische Potenzial für den noch weit von den schönen Urlaubsträukünftigen Staat, der nach der Unterzeich- men entfernt. Nach wie vor fließt nur ein nung des veränderten Wye-Abkommens Bruchteil der Einnahmen aus dem Touriszwischen Israelis und Palästinensern nun musgeschäft im Heiligen Land in die Kasnäher gerückt ist. Israel räumt danach wei- sen der Palästinenser. Sind einige der zehn 236 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 nach Europa öffnen“ Gaza-Hotels bisweilen ausgebucht, liegt das vor allem an den internationalen Delegationen, die aus Solidarität nach Gaza pilgern wie früher westliche Polit-Touristen ins geteilte Berlin. An den Strand gehen diese Besucher jedoch kaum. Selbst die einzigen europäischen Badegäste im Hotel „Blumen-Stadt“ an diesem Morgen stammen quasi aus Gaza – es ist die Frau des russischen Botschafters und einer der russischen Hubschrauberpiloten Arafats. Im „Touristen-Club Seemöwe“ am Nordstrand von Gaza tummeln sich gerade mal ein halbes Dutzend Kinder und junge Paare am Swimmingpool. „Alles Einheimische“, sagt der Besitzer Abd al-Karim Sabawi. Der ehemalige politische Flüchtling machte ein Vermögen in der Viehzucht Australiens, bevor er in seine palästinensische Heimat zurückkehrte: „Als wir 1994 Gaza zurückbekamen, hielt ich es für meine Pflicht, jetzt in Palästina zu investieren.“ Sabawi baute einen Club mit Pool, Freiluftkino und Operettenhaus. Doch auf internationale Gäste wartet er bisher vergebens. Dass sich die Investoren fast alle wieder zurückzogen, die Bürgermeister Aun Saadi al-Schawa 1994 „die Tür einrannten“, hängt vor allem mit der politischen Lage zusammen. Noch immer gelangt man in die Palästinensergebiete nur über Militärsperren der Israelis – der „erste Feind der Touristen“, wie Vizeminister Hidschasi die Check-Points nennt. Sie vermitteln den Eindruck einer ständigen Sicherheitsgefahr. Deshalb kommen viele Besucher nur zu Tagesausflügen und schlafen lieber in israelischen Betten. „Wir sind hier eigentlich ein großes Freiluftgefängnis“, sagt Bürgermeister Schawa bitter. Der Grenzübergang „Eres“ nach Gaza erinnert Deutsche an Marienborn. Der Unterschied ist nur, dass man in die DDR wenigstens mit dem Auto fahren konnte. In Eres dagegen gibt es für Mietwagen wegen der israelischen Nummernd e r schilder keinen Transit. So marschieren Besucher einen Kilometer zu Fuß auf die andere Seite. Selbst den brandneuen Gaza-Airport, Prunkstück moderner orientalischer Architektur, kontrollieren die Israelis. Ihre Checks, zu denen Passagiere mit Sonderbussen gefahren werden, können Stunden dauern. Außer der rumänischen Tarom fliegt bislang keine europäische Linie den Arafat-Airport an. Dennoch sind am mangelnden Touristenstrom nach Palästina nicht nur die Israelis schuld. Hausgemachte Gründe tragen zur Misere bei. So hemmt Gazas stark islamisch geprägte Gesellschaft den Urlaubsspaß. Selbst am Strand sind die einheimischen Frauen tief verhüllt. Wenn sie baden, dann mitsamt Schleier. Als Sabawi seinen Pool in der „Seemöwe“ eröffnete, gab es Proteste. „Doch dann machte ich den Traditionalisten klar, dass das hier Sport ist und nichts mit Religion zu tun hat.“ Inzwischen gibt es sogar einen Badetag für religiöse Frauen, die tief verschleiert ankommen und dann im Bikini ins Wasser hüpfen. Sabawi: „Sie sollten mal sehen, wie die das genießen.“ Im geplanten Feriendorf will er „spezielle Bikini-Zonen“ für Europäer einrichten. Noch heikler ist es beim Alkohol, für religiöse Muslime ein strenges Tabu. Ein leckerer Weißwein zum Fisch? Fehlanzeige. Ein kühles Bier im Gaza-Beach-Hotel? Keine Chance. Wem laue Abende bei Milchshake und Mangosaft nicht ausreichen, muss schon ein Ortskundiger sein, um die ein, zwei verschwiegenen Plätze mit Alkoholausschank zu finden. Oder er sollte jemanden kennen, der ihn in die reich bestückte Bar des UN-Beach-Clubs mitnimmt. Trotz internationaler Hilfsgelder, die den Palästinensern reichlich zufließen, fehlt es in der touristischen Infrastruktur noch immer an Wesentlichem. Es gibt zu wenig einladende Hotels mit Badeplätzen, keine geregelten Transportdienste oder Touristenbüros.Verschmutztes Wasser ist in Gaza nach wie vor ein Problem. Die Sehenswürdigkeiten einer der ältesten Städte der Welt sind für Reisende bisher kaum erschlossen: etwa die „Große Omari Moschee“ oder „Paschas Palast“, der Napoleon 1799 als Quartier diente. Es gibt noch nicht mal Stadtpläne in Englisch. Gerade ist der erste palästinensische Reiseführer erschienen. Doch er enthält keinerlei Hinweise, wie man die historischen Stätten überhaupt findet. Als Ursache für die Mängel nennt der Archäologe und palästinensische Tourismusexperte Adel Jahja vor allem Unfähigkeit und Korruption in den Behörden, die den Tourismus kontrollieren. Privatgeschäfte würden behindert: „Wir planen für das Jahr 2000, als würde es in 2000 Jahren stattfinden.“ Annette Großbongardt s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 237 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland J A PA N Des Kaisers alte Garde Ein aristokratischer Elitezirkel kämpft in Tokio für den Erhalt höfischer Traditionen. SYGMA 240 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 T. WAGNER / SABA V om 34. Stock des KasumigasekiHochhauses in Tokio blickt Clubmanager Nagahide Kuroda, 76, auf das Regierungsviertel herab. Dort schalten und walten Minister, mächtige Bürokraten und Abgeordnete. Würde Kuroda sie in seinen exklusiven Zirkel aufnehmen? Der alte Herr schüttelt höflich den Kopf. Mögen die da unten sich noch so wichtig nehmen – hier oben herrschen eigene Clubchefs Bojo, Kuroda, Matsudaira: „Das sind wir unseren Ahnen schuldig“ Gesetze. Kuroda leitet Japans wohl ältesten und elitärsten Privatclub Kasumi Kaikan, Adel abschaffen – außer dem Kaiser und Tradition“ (Kuroda) um den Erhalt langsam verblassender Rituale. den diskreten Treffpunkt des ehemaligen dessen engerer Familie. So eilten sie zur Stelle, als Tenno HiroHochadels. Anders als der deutsche Adel, der nach Tausende bürgerlicher Landsleute strö- dem Ersten Weltkrieg allein seine Stan- hito 1989 beerdigt wurde, als dessen Sohn men täglich in die Büros und Geschäfte desprivilegien verlor, mussten Japans Akihito 1990 offiziell den Thron bestieg des Gebäudes. Kaum einer ahnt etwas von Blaublüter auch ihre stolzen Titel ablegen. und als Kronprinz Naruhito 1993 seine Geder Existenz des Kasumi Kaikan, den sogar Ihr früheres Clubhaus entweihten die US- mahlin Masako ehelichte. Wer sonst könnKaiser Akihito bisweilen beehrt. Nur wer Besatzer als Offizierskasino. Doch am bit- te den Majestäten zum Beispiel helfen, gemännlicher Nachfahre eines Adelsge- tersten traf sie das Los, nun in bürgerli- treu der Überlieferung die Gewänder zu schlechts ist, darf an der Bar seinen Whis- chen Berufen Geld verdienen zu müssen. schnüren? Um für solche Anlässe in Übung zu bleikey schlürfen, eine Partie an einem der Über dieses demütigende Kapitel sechs Billardtische spielen – den Kaiser- schweigt man vornehm. Keiner der Aristo- ben, verwandeln die distinguierten Herren palast dabei stets im Blick – oder in der Bi- kraten käme auf die Idee, Pläne für eine ihre Etage mehrmals pro Jahr in einen farbliothek schmökern. Selbst Premierminis- Restauration alter Standesprivilegien zu benprächtigen Miniatur-Hof.Auf alten Holzter Keizo Obuchi hat keinen Zutritt. schmieden. Sie bewegt eine größere Sorge: instrumenten spielen sie dann höfische Weisen, Vorsteher Bojo singt mit seinen Auf einer schwarzledernen Standesgenossen 31-silbige Verse, die er Couch, zwischen kostbaren am Neujahrsfest auch dem Tenno vorträgt. Gemälden, Porzellanvasen und Und in der einstigen Kaiserstadt Kyoto gebundenen Familienchroniwetteifern die freiwilligen Hilfstruppen des ken, plaudert Kuroda mit seiKaisertums regelmäßig beim Kemari, einen Vorstandskollegen Yasushi nem altertümlichen Fußballspiel: In schweMatsudaira und Toshikane ren Kimonos und steifen Hüten kicken sie Bojo, beide 72, über die VerBälle, die den Boden nicht berühren dürgangenheit. Jeder kennt hier fen, durch die Luft. den Stammbaum des anderen: Dass die ergrauten Höflinge ihre BräuKuroda ist Sohn eines Hofmarche über Japans trüben Nachkriegsalltag schalls des früheren Kaisers hinwegretten konnten, verdanken sie eiHirohito, Matsudaira Abkömmnem Handel mit der Immobilienfirma Mitling eines Krieger-Fürsten und sui. Die wollte 1968 Tokios erstes HochBojo ein ehemaliger Hofadliger. haus bauen, und der verarmte Adel brauchNatürlich gilt es im Kasumi Kaiser Akihito*: Demütigendes Kapitel te Geld. Also willigte er ein, das alte ClubKaikan als würdelos, mit der eigenen Abkunft zu prahlen. Aber insgeheim dass auch Nippons ehrwürdige Hofkultur haus abreißen und dort den KasumigasekiTurm errichten zu lassen. Das Grundstück haben sich wohl auch Kuroda, Matsudaira aussterben könnte. und Bojo schon gefragt, wie es ihnen erDenn die 930 Mitglieder des Kasumi und der 34. Stock gehören weiter dem gangen wäre, wenn das Kaiserreich Japan Kaikan sind durchschnittlich 60 Jahre alt. Club, auch verdient er mit an den Büroden Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Im bizarren Wettlauf mit der Zeit wollen mieten. So stieg Japans Adel, der vor 52 Jahren Wahrscheinlich würden sie ihr Land heu- sie deshalb ihre Werte den Nachkommen te als mächtige Berater mitregieren. vererben. „Das sind wir unseren Ahnen so tief gesunken war, zumindest räumlich und finanziell wieder auf. Und auch Doch es kam bekanntlich anders. Japan schuldig“, sagt Kuroda. verlor den Krieg, und die siegreichen AmeRegelmäßig leiht der Club Kunstwerke die höfische Tradition gibt der Clubmanarikaner zwangen den Tenno 1946, öffentlich an staatliche Museen aus. Unablässig ger noch nicht verloren: „Was viele Jahrseinem gottgleichen Status zu entsagen. bemühen sich die „lebenden Zeugen der hunderte überlebte“, hofft Nagahide Kuroda, „stirbt nicht einfach in JahrzehnEin Jahr später musste Japan eine demoten.“ kratische Verfassung annehmen und den * Bei seiner Inthronisierung am 12. November 1990. Wieland Wagner Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene KUNSTHANDEL Florierende NS-Kunst A ie Reaktionen blieben, bis auf wenige Leserbriefe in der regionalen Presse, weitgehend aus. Erstaunlicherweise. Denn die „Galerie für gegenständliche Kunst“ im schwäbischen Kirchheim unter Teck stellt Skulpturen, Reliefs und Grafiken Arno Brekers aus. Wie kaum ein anderer gilt Breker (1900 bis 1991) als Paradebeispiel eines willigen NaziKünstlers: Mit seinen überdimensionalen Menschenmonstren gab er dem Hitler-Faschismus skulpturale Gesichter. Doch statt Beschwerden stapeln sich beim Galeristen Siegfried Nöhring, 42, die Aufträge, Brekersche Kitschskulpturen nachgießen zu lassen. Erst im vergangenen Dezember hatte Nöhring, im Hauptberuf Zahnarzt, seinen Kunsthandel eröffnet. Und seit der Breker-Ausstellung, schwärmt er, kämen „Kunstfreunde aus ganz Deutschland, aus Schweden und Italien“. Für den Galeriebetreiber nicht abwegig: „Wo sonst“, fragt er, „bekommt man schon einen Breker zu sehen?“ Anstößig findet er seine Verkaufsschau nicht, politische Verstrickungen, meint er, dürfe man Künstlern nicht anlasten. Obwohl Breker gerade dank seiner umstrittenen Vita einen Vorteil mitbringe: „Der Name ist weltbekannt, und die Werke sind trotzdem noch bezahlbar“ – zwischen 2400 und 8500 Mark kostet der Nachguss einer Skulptur. Wegen der anhaltenden Nachfrage will Nöhring Nöhring („Man muss ans Geschäft denken“) die Schau verlängern. AU T O R E N GOETHE-INSTITUTE Magischer Erfolg „Irgendwo versandet“ ls in Großbritannien kürzlich der dritte Band von Joanne Rowlings „Harry Potter“-Geschichten erschien, durften die Buchhändler das Werk erst nach Schulschluss verkaufen – weil die Lehrer fürchteten, die Schüler könnten kollektiv die Schule schwänzen, um so früh wie möglich an das begehrte Werk heranzukommen. Und tatsächlich: Die erste Auflage von „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ (jetzt im Hamburger Carlsen Verlag auch auf deutsch erschienen) war nach wenigen Stunden verkauft. Damit setzte sich eine der größten Erfolgsgeschichten des Jahrzehnts auf dem britischen Buchmarkt fort – ein Erfolg, der für die vor kurzem noch völlig unRowling bekannte Autorin Rowling, 33, die größte Überraschung ist. Die allein erziehende, arbeitslose Mutter hatte die kurzen Zeiten, in denen ihre Tochter schlief, genutzt, um die Geschichte vom verwaisten Zaubererjungen Harry aufzuschreiben. Auf die Eigenständigkeit dieser Figur führen Potter-Exegeten den Erfolg der Reihe bei Kindern zurück – ein kleiner Zauberer als Vorbild in einer verworrenen Welt. V orbei sind die Jubelfeiern zum Goethe-Jahr, die Unsicherheit über die Zukunft der Goethe-Institute (Jahresetat: 360 Millionen Mark) dauert an: Nachdem vergangene Woche die angekündigte Schließung von bis zu 18 ausländischen Goethe-Instituten für Unruhe sorgte, soll jetzt erst einmal eine Unternehmensberatung nach weiteren Einsparmöglichkeiten suchen. Darauf haben sich Goethe-Instituts-Präsident Hilmar Hoffmann und Bundeskanzler Gerhard Schröder verständigt. „Wahrscheinlich nur zehn“ Institute müsste er dichtmachen, prognostiziert Hoffmann. Seinen Rücktritt, den er einst für den Fall weiterer Etatkürzungen angekündigt hatte, schließt Hoffmann, 74, „unter diesen Umständen aus“. Derweil wird an einigen Instituts-Standorten an die Zeit nach einer Kürzung oder gar Streichung der staatlichen Zuwendungen gedacht: So propagiert der Turiner Bürgermeister Valentino Castellani „ein europäisches Kulturinstitut in allen großen Städten“ – Goethe-Institut, British Council und das Centre cul- Hoffmann d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 turel français sollten unter einem Dach zusammenarbeiten. Ähnliche Vorschläge des Goethe-Instituts waren bisher bei den EU-Partnern auf wenig Gegenliebe gestoßen. „Man macht vernünftige Vorschläge“, sinniert Hoffmann, „und die versanden dann irgendwo im Beamtenapparat.“ DPA T. KLINK / ZEITENSPIEGEL D 243 Szene L I T E R AT U R KUNST Krimkrieg in Liverpool Rausch im Rohzustand Beryl Bainbridge: „Master Georgie“. Aus dem Englischen von Charlotte Breuer. Europa Verlag, Hamburg; 224 Seiten; 38 Mark. 244 E VG BILD-KUNST, BONN 1999 r war ein später Rebell: Erst 1942, mit 41 Jahren, traute sich der Weinhändler Jean Dubuffet (1901 bis 1985), sein Geschäft in Paris zu verpachten, um sich ganz der Kunst zu widmen. Zuvor hatte er sich schon mehrmals als Maler versucht, einst sogar ein Studium begonnen – und es, angewidert vom akademischen Kulturbetrieb, wieder abgebrochen. Lieber spielte er Marionettentheater oder schrieb Gedichte. Von Selbstzweifeln geplagt, kehrte der Viel-Kreative jedoch immer wieder in die vertraute Welt des Weins zurück – bis er endgültig sicher war, dass die Kunst „das höchste Stadium des Rausches“ biete. Dubuffet begeisterte sich für die ursprüngliche Malerei von Kindern und Geisteskranken, für die er den Begriff „Art Brut“, Kunst im Rohzustand, prägte. Er selbst kleisterte Sand, Kieselsteine oder Glassplitter auf die Leinwand und ritzte strichmännchenartige Giganten hinein. Seinen humorvoll provokativen Un-Stil verstand er als gemalte Kritik an elitärer Hochkultur. Nur: Bald gehörte Dubuffet selbst zum anerkannten Kunst-Establishment. So experimentierte er aufs Neue, Dubuffet-Zeichnung „Selbstporträt II“ (1966) Kino in Kürze „L. A. without a Map“. Richard, ein junger Bestattungsunternehmer, verliebt sich in Barbara, eine angehende Hollywood-Schauspielerin (sprich: Kellnerin); er verlässt seine Heimat Schottland und reist der Dame nach – bis Los Angeles. Dort bekommt er Ärger mit Barbaras eifersüchtigen (Ex-)Liebhabern, gerissenen Produzenten und, logisch, mit Barbara selbst. Mika Kaurismäki, Bruder des finnischen Regie-Melancholikers Aki Kaurismäki, hat diese charmant über- Kaurismäki-Film „L. A. without a Map“ drehte Liebeskomödie mit leichter Hand, unverbrauchten Darstellern (allen barer schottischer Akzent die deutsche voran Vinessa Shaw, der Hobby-Hure Do- Synchronisation kaum überleben dürfte. mino aus „Eyes Wide Shut“) und der in finnischen Filmen offenbar unvermeidli- „Ein neuer Tag im Paradies“ ist ein Film von chen Rockband Leningrad Cowboys insze- Larry Clark, der mit „Kids“ einen spektaniert. Nebenbei parodiert er Hitchcocks kulären Trip durch die von Sex und Drogen „Vertigo“ und lässt Johnny Depp in seiner besessene Jugend New Yorks ablieferte. besten Rolle als „Dead Man“ wiederaufer- Auch diesmal geht es um verlorene Seestehen. Schade nur, dass Richards wunder- len: Ein alternder Dieb (großartig: James TIME A ls Russen und Türken aufeinander schlugen, im Krimkrieg (1853/54 bis 1856), waren auf türkischer Seite auch die Engländer von der Partie. Florence Nightingale erblühte dabei zum Vorbild des Gutmenschen und der legendäre „Angriff der Leichten Brigade“, eine Katastrophe, zu patriotischer Poesie. Auch in Beryl Bainbridges Roman „Master Georgie“ zieht ein Trüppchen Engländer in den Krimkrieg. Florence Nightingale schwebt ihnen allerdings nicht über den Weg, und von der „Leichten Brigade“ bleiben nur ein paar verstörte Rösser übrig. Die Engländer, eine Frau und drei Männer, erleben den Krieg als sinnloses Chaos. Beryl Bainbridge, 64 und wie die Beatles aus Liverpool stammend, ist in Britanniens schreibender Frauenriege eine exzentrische Sonderklasse: winzig von Gestalt und dämonisch von Witz, unerbittlich recherchierend, mit einer auf Präzision und Andeutungen reduzierten Sprache und einem Blick, der überall das Chaos sieht. Die vier, die Bainbridge auf die Krim schickt, sind auch in Liverpool zu Hause und daheim ein offenbar gutbürgerlicher Verein: Master Georgie ist Chirurg und Fotograf, sein Schwager Potter ein Intellektueller, der junge Pompey schluckt Feuer und fotografiert dito; und Myrtle, ein Findelkind, wuchs in Georgies Familie als Quasi-Schwester auf. Auf der Krim wird, rückblickend, auch Liverpool zur Krim, zum Chaos. In sechs, als FotoPlatten deklarierten Kapiteln lässt Bainbridge die drei Georgie-Begleiter in IchForm erzählen. Drei Perspektiven tun sich auf und damit Blicke auf die Wirrnis hinter der viktorianischen Fassade, auf ein Puzzle aus Lügen, Betrug, Finsternis – spannend wie ein Krimi. Geschichte birgt Geschichten. Bainbridge hatte schon das eisige Ende des Südpol-Forschers Scott zum Roman gemacht, auch den Untergang der „Titanic“ (deutsch: „Nachtlicht“). Und vor vielen Jahren ließ sie einen jungen Österreicher in England einen Urlaub erleben; Romantitel: „Young Adolf“. Der schrieb mal: „Die Eier des Kolumbus liegen zu hunderttausenden herum.“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Kultur wurde bunter, plakativer. Sein bevorzugtes Motiv blieb aber lange das Gleiche: die menschliche Figur. Das Saarland Museum in Saarbrücken, das sich jetzt nach 18-monatiger Renovierungspause mit einer umfangreichen Dubuffet-Retrospektive zurückmeldet (bis 14. November), zeigt die verschiedenen Werk-Phasen des Franzosen – und belegt so auch dessen stetiges Schwanken zwischen Ernst („Malerei ist wirksamer als Worte“) und Selbstironie: Trete er vor ein Bild, sagte er einmal, sei das so, als gehe er zu einem Zauberer und lasse sich in eine Maus verwandeln. BUCHMARKT Die New Yorker Autorin Melissa Bank, 38, deren in den USA erfolgreicher Episodenroman „Wie Frauen fischen und jagen“ gerade in Deutschland erschienen ist (Diana Verlag), über Singles und die Suche nach dem Mann fürs Leben M. WITT VG BILD-KUNST, BONN 1999 Dubuffet-Bild „Pisser nach rechts“ (1961) Woods) und seine Gefährtin (Melanie Griffith) nehmen ein schmuddeliges TeenagerPärchen unter ihre Fittiche und lehren es das Saufen, Stehlen und Fixen. Eine Ersatzfamilie ohne Zukunft, doch auf seine chaotisch-zärtliche Art schafft es Clark, die Träume der Loser auf die Leinwand zu heben, ohne sie lächerlich zu machen. „Alles aus Liebe – Call it Love“. Eddie und Maureen, deren IQ mühelos von ihrem Promillepegel übertroffen wird, prügeln und küssen sich und flüstern sich rührende Dämlichkeiten ins Ohr. Das halten sie für Liebe. Leider tut der Film das auch. „Alles aus Liebe“, geschrieben vom IndependentRegisseur John Cassavetes („Gloria“) und nach seinem Tod verfilmt von Sohn Nick, will einer Rinnstein-Leidenschaft huldigen, die selbst zehn Jahre Trennung – der psychotische Eddie (Sean Penn) muss in den Knast – übersteht. Nur hat Cassavetes Jr. von der Liebe ungefähr so viel Ahnung wie vom Filmemachen – entschieden zu wenig. Am Rande „O Gott, ich möchte verheiratet sein“ SPIEGEL: Frau Bank, zu Ihren Lesungen kommen vor allem allein stehende Frauen. Wächst dieses Publikum? Bank: Ja, das ist eine Folge der Frauenbewegung. Frauen haben keinen Druck mehr, einen Ehemann finden zu müssen, weil sie heute finanziell unabhängig sind. Daher gibt es in meiner Generation eine gewisse Konfusion darüber, was man mit Männern überhaupt noch anfangen soll. SPIEGEL: Aber es geht in Frauenbüchern oft darum, wie man einen Mann angelt. Bank: Die Sache ist ambivalent, denn die meisten Frauen haben ihr Leben lang die Vorstellung gehabt, irgendwann Mutter und Ehefrau zu sein. Wenn sie in den Dreißigern sind, wollen sie an die Realisierung dieser Vision gehen und stellen fest, dass dies schwierig ist. SPIEGEL: Weshalb? Bank: Wenn Singles sich von außen betrachten, denken sie: O Gott, ich möchte wirklich verheiratet sein. Innen sieht es ganz anders aus. Ob unbewusst oder nicht – viele haben sich dafür entschieden, allein zu leben. SPIEGEL: Und aus welchem Grund? Bank: Weil Männer immer noch dominieren wollen. Immer mehr Frauen akzeptieren das aber nicht. SPIEGEL: In Ihrem Buch plagt sich die Ich-Erzählerin Jane mit einem Ratgeber herum zum Thema, wie man den richtigen Mann findet. Wie erklären Sie sich, dass diese „How to“-Bücher tatsächlich einen riesigen Markt haben? Bank: Frauen und Männer sind heute gleichzeitig Jäger und Gejagte. Die neuen Jagdregeln sind in der Versuchsphase, daher sind beide Geschlechter verunsichert. SPIEGEL: Es gibt aber kein Buch „Wie Männer fischen und jagen“. Bank: Weil Männer nie die Schuld bei sich suchen. Wenn eine Frau beim Tennis den Ball verschlägt, sagt sie: „Es tut mir leid.“ Der Mann dagegen schimpft seinen Schläger aus. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 FC Fidelio I n toto, das behauptet jedenfalls der Deutsche Bühnenverein, treibe es mehr deutsche Menschen in Theater und Opernhäuser als in die Stadien der FußballBundesliga. Fest steht immerhin, dass heute auf den Brettern oft ein höherer Unterhaltungswert erkämpft wird als auf dem Rasen, etwa bei Länderspielen der Kulturnation Deutschland. Außerdem dauern fast alle Opern länger als 90 Minuten; der Konsument kriegt somit mehr fürs Geld. Also – 1:0 für „Fidelio“. Aber: Muss das immer so bleiben: Waden gegen Kehlen, Lattenschüsse gegen Koloraturen? Wäre es nicht wünschenswert, wenn sich Ball und Ballerinen zum Gesamtkunstwerk einen würden? Sie werden, und zwar schon diese Woche. Am Freitag „kommt es live zum ultimativen Steilpass des Staatstheaters Cottbus in die Welt des Fußballs“, verspricht eine gemeinsame Presseerklärung des FC Energie Cottbus und des ortsansässigen Musentempels. Das geht los mit der Premiere der (durch das Tagebuch von Lothar Matthäus inspirierten) KickerShow „Lothar rennt“, bei der die Elf des lokalen Zweitligisten samt Trainer mitspielen und Jörg Steinberg, der frühere Stürmer des SSV Köpenick 08, Regie führen wird, und findet seinen Höhepunkt, wenn die Philharmoniker des Staatstheaters künftig „vor einem wichtigen Heimspiel die Energie-Hymne auf dem grünen Rasen live intonieren“. Leute, das ist erst der Anpfiff für ungeahnte Kombinationen! Ist der schöne Oliver Bierhoff nicht der ideale Werbeträger für den Schwanenritter Lohengrin? Könnte nicht, zumindest bei indisponierten Stimmbändern, René Kollo auch im Tor seinen Mann stehen? Warum nicht die Logenbrüder des Münchner Nationaltheaters künftig geschlossen zur Bayern-Elf karren, warum nicht die Radaubrüder aus den Südkurven zum Arioso ins Parkett laden? Verblüfft würden die neuen Besucher die Ohren spitzen und feststellen: Auch unter den Kickern gibt es Maulhelden, und auch in der Oper wird schwer gefoult. 245 Kultur H O L LY W O O D Indiana Jones in Auschwitz Vor fünf Jahren startete Steven Spielberg sein Shoah-Projekt: Video-Interviews mit 50 000 Überlebenden des Völkermords an den Juden. Inzwischen ist die Sammlung weitgehend abgeschlossen, der dokumentarische Wert des Materials wird von Historikern als dünn beurteilt. Doch das Archiv entwickelt sich zur Goldgrube für seine Besitzer. Von Henryk M. Broder JAD WASCHEM E Jüdische Nazi-Opfer*: „Die Juden müssen anfangen, Lehrer zu sein“ Memorial Museum in Washington und leitete dessen Forschungsinstitut, bis er 1997 von Spielberg als Generaldirektor für die Shoah-Stiftung angeworben wurde. Seitdem traten Spielberg, der erfolgreichste Filmregisseur aller Zeiten („Indiana Jones“, „E.T.“, „Jurassic Park“), und Berenbaum als funktionales Doppelpack auf. Spielberg gab dem Vorhaben die Prominenz und den Glanz, die fürs „Fundraising“, die Finanzierung durch Spenden, gebraucht wurden, Berenbaum sorgte für ein Minimum an akademischer Reputation, ohne die eine Produktion dieser Art auch in Hollywood nicht auskommt. So wurden im Laufe von knapp fünf Jahren weltweit über 50 000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden aufgenommen – SHOAH-FOUNDATION SHOAH-FOUNDATION mit Hilfe von 240 festen Mitarbeitern der Stiftung, rund 3500 Interviewern und über 4000 unbezahlten Freiwilligen, die bei der Organisation des Mammutprojekts halfen. Dabei wurden je nach Angaben 45 bis 70 Millionen Dollar ausgegeben, weitere 50 Millionen Dollar werden gebraucht, um das gesammelte Material auszuwerten und so aufzubereiten, dass eine „Grundlage für die Erziehung zur Toleranz für die ganze Welt“ geschaffen wird, wie es ohne jede falsche Bescheidenheit auf der Website der Shoah-Stiftung heißt. Damit hat Spielberg nicht nur die Verantwortung dafür übernommen, dass die Holocaust-Leugner als Lügner entlarvt werden, er gibt dem Holocaust post festum auch einen Sinn, indem er ihn als „erzie- * Ungarische Juden im Mai 1944 bei der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. SHOAH-FOUNDATION in Bild sagt alles: Man sieht zwei Männer, die Sektgläser in der Hand halten und irgendwas feiern. Der Mann links im Bild hat ein Hemd an, das um den Bauch herum etwas spannt, der Mann rechts im Bild trägt eine offene Sportjacke, Sonnenbrille und eine Schirmmütze. Er wirkt lässiger und souveräner als der Mann im Hemd, der sich leicht nach vorne beugt und verlegen lächelt. Zwischen den beiden sieht man auf einem Tisch eine große rechteckige Torte, die mit hellem Zuckerguss überzogen ist. Und auf dem Zuckerguss steht in großen dunklen Buchstaben ein Wort: SHOAH. Das ist der hebräische Begriff für den Tod von sechs Millionen Juden, Synonym für „Holocaust“. Doch für Michael Berenbaum, links, und Steven Spielberg, rechts, ist es etwas anderes: Markenzeichen für ein Unternehmen, das den Massenmord multimedial vermarktet, die Übernahme des Holocaust durch Hollywood, die Verknüpfung von Show Business und Shoah Business. Sogar das Copyright an dem Foto gehört der „Shoah Visual History Foundation“, die Spielberg 1994 als private Stiftung ins Leben rief, nachdem er „Schindlers Liste“ gedreht hatte, wobei ihm sowohl seine eigene jüdische Identität wie die Tatsache bewusst wurde, dass die Nazis ein größeres Blutbad an den Juden in Europa unternommen hatten. Die Grundidee war, in einem „Rennen gegen die Zeit“ so viele Überlebende des Holocaust wie möglich zu befragen, damit deren Lebensgeschichten und Erinnerungen der Nachwelt erhalten bleiben, „etwas zu schaffen, das die Leugner des Holocaust Lügen straft“. Michael Berenbaum dagegen, gelernter Philosoph und Theologe, hatte mit dem Thema schon länger beruflich zu tun: Er war „Project Director“ für das Holocaust Überlebende in Zeugenaufnahmen, Video-Cover: „Grundlage für die Erziehung zur Toleranz“ 246 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 M. LENGEMANN herisches Mittel“ einsetzt. Denn wer möchte nicht, dass es in der Welt toleranter zugeht? Die einfache Frage, ob der Holocaust ein Ergebnis mangelnder Toleranz war oder, im Gegenteil, durch zu viel Toleranz gegenüber den Nazis erst möglich wurde, wird gar nicht erst gestellt. Sie passt nicht in das Weltbild eines Zauberers, der in allen seinen Filmen am Ende das Gute über das Böse siegen lässt. Spielberg, obwohl in Amerika geboren und in relativer Sicherheit aufgewachsen, zählt sich mittlerweile ebenfalls zu den Holocaust-Überlebenden: „Vor 54 Jahren hätte ich in Buchenwald sein können. Ich wäre nach Buchenwald gekommen, und ich hätte den Holocaust nicht überlebt … auch ich wäre durch den Kamin gegangen“, halluzinierte Spielberg im November 1998 in einem Gespräch mit dem „Stern“, nachdem er aus der Hand von Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz bekommen hatte und es gar nicht fassen konnte: „Nur einen Augenblick später bekomme ich den höchsten deutschen Orden. Das zeigt, wie viel wir geschafft haben: Deutschland ist heute ein Ort geworden, an dem ihr mich ehrt und nicht umbringt.“ Im Februar 1999 kam Spielberg wieder nach Berlin, um eine „Goldene Kamera“ für sein Lebenswerk entgegenzunehmen. Einen Tag nach der großen „Hör Zu“-Gala im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gab die Shoah Foundation an gleicher Stelle ein Fundraising-Dinner für rund 500 geladene Gäste, die pro Kopf 1000 Mark Eintritt bezahlt hatten, um „A wonderful evening with Steven Spielberg and his friends“ erleben zu dürfen, darunter auch Peter Maffay, der an die Seite von Spielberg trat, damit „Dinge, die im Dritten Reich geschehen sind, sich nie wiederholen“. Diesmal gab es keine „Shoah-Torte“. Dafür leuchtete über dem Portal mit der breiten Freitreppe und den hohen Säulen ein Schriftzug aus Neonröhren: „Shoah Foundation“, die Ordner trugen Sticker mit dem Aufdruck „Shoah Security“, Anrufer wurden mit den Worten „Organisationsbüro Shoah“ begrüßt. Und während Spielberg im lockeren Plauderton berichtete, die Shoah habe seinem Leben einen neuen Sinn gegeben, wurde im Foyer des Konzerthauses ein „Ethnic Buffet“ aufgebaut, links eine koschere Salatbar, rechts eine lange Theke mit unkoscheren Schweinerei- „Deutschland ist heute ein Ort geworden, an dem ihr mich ehrt“ PWE KINOARCHIV Spielberg in Berlin, mit Berenbaum und „Shoah-Torte“ (Ausriss) A. SAHIHI Film-Szene aus „Schindlers Liste“ (1994): „Spielberg, der große Geschichtenerzähler, rettet die Überlebenden vor dem Vergessen“ Zurück zur Zukunft Da kann es nur ein Wink der Vorsehung sein, dass die Zentrale der Shoah Foundation ihren Sitz genau an der Schnittstelle zwischen dem Gestern und dem Morgen hat, direkt neben dem Gelände, auf dem der Film „Back to the Future“ gedreht wurde. Am Rande der Universal Studios in Hollywood steht ein Ensemble von Baracken, das wie ein kleines Arbeitslager aussieht. Es gibt kein Schild, keinen Hinweis darauf, dass hier ein einmaliges historisches Projekt verwaltet wird. Ein Ma248 schendrahtzaun soll unerwünschte Gäste vom Gelände fern halten. „Hi, ich heiße Carol und bin ein Kind von Holocaust-Überlebenden“, begrüßt eine attraktive Blondine den angemeldeten Besucher. Carol Stulberg wurde „vor etwa 50 Jahren“ in Hannover geboren und kam mit ihren Eltern als Kleinkind in die USA. Um „bei der ,Shoah‘“, wie sie es sagt, mitzuarbeiten, hat sie eine Karriere als Schmuckdesignerin aufgegeben. „Ich fühle mich glücklich und privilegiert, dass ich diese Arbeit machen darf, für mehr Toleranz und für eine bessere Welt.“ Eine Aufgabe, die nicht nur ehrenvoll, sondern auch mit unkalkulierbaren Risiken verbunden ist. „Machen Sie keine Fotos, auf denen zu sehen wäre, wo wir sind. Wir wollen den Nazis keine Wegbeschreibung geben.“ Bis jetzt sei noch nichts passiert, aber man könne nicht vorsichtig genug sein. Im Eingangsbereich hängen zehn Uhren, welche die jeweilige Ortszeit von Los Angeles über New York, Buenos Aires, Frankfurt am Main, Prag, London und Jerusalem bis St. Petersburg und Sydney anzeigen. Dazu eine große Wandtafel mit dem „Collection Status“, der wie eine Börsenbilanz laufend aktualisiert wird. Seit die Shoah-Foundation im Sommer 1994 ihre Arbeit aufgenommen hat, sind genau 50 023 Interviews in 57 Ländern und 32 Sprachen aufgenommen worden. Die Gesamtdauer der Bänder beträgt 115965 Stunden, es würde 13 Jahre, 3 Monate und 19 Tage dauern, wenn sich eine Person alle Aufnahmen ansehen würde, „ohne zu essen, zu schlafen oder aufs Klo zu gehen“, wie Carol ergänzend bemerkt. Die Gesamtlänge der Videobänder liegt bei 32 154 Meilen (51 751 km), während die Erde nur einen Umfang von 24 900 Meilen (40 075 km) hat. Für jedes Land wird die dazugehörige Zahl der Interviews angezeigt. In den USA waren es 19 368, in Israel 8064, in Polen 1385, in Deutschland 658, in Moldawien 348, in Costa Rica 19 und in Finnland eines. Ein Resümee buchhalterischen Fleißes, das irgendwie an die nach Ländern sortierten Deportationslisten erinnert. „Was wir hier haben, sind 50 000 Bücher ohne Titel, ohne Inhaltsverzeichnis, ohne Seitenzahlen und ohne Index“, sagt Lee Wind, ein Fachmann für Computer-Technologie und einer der etwa drei Dutzend „Katalogisierer“, die das Material „erfassen“. Lee führt ein Interview vor, das bereits digital bearbeitet wurde, die Aussage eines Überlebenden aus dem Lager P¬aszów bei Krakau. Das Zwei-Stunden-Video wurde in 46 Kapitel eingeteilt, jedes Kapitel hat eine Überschrift und eine Zusammenfassung bekommen. „Wir können sehr spezifisch werden“, sagt Lee und fährt mit der Maus von einer Kapitelüberschrift zur nächsten: „Essen in den Lagern, Abtreibung in den Lagern, Tötungen in den Lagern, Erlebnisse beim Todesmarsch, Forscher Kendrick: „Kostbar wie das Cola-Rezept“ Verlust der Angehörigen.“ Der StichA. SAHIHI en, womit auch kulinarisch multikulturelle Vielfalt und Toleranz demonstriert wurden, und eine Klezmer-Kapelle mit dem Namen „Die Schwindler“ da weiter machte, wo Peter Maffay gerade aufgehört hatte. Die Juden, verkündete der Filmemacher anschließend in Interviews, „müssen aufhören, Opfer zu sein, sie müssen anfangen, Lehrer zu sein“, während die Deutschen, die immer noch in einem „Bewusstsein von Schuld und Scham“ leben und „am liebsten ihr Deutschsein verleugnen“ würden, wieder zu sich selbst finden sollten. „Es ist, als müsse erst jemand von außen kommen, der alte Junge aus Amerika, um nebenbei auch den deutschen Krampf zu lösen“, jubelte die „Welt“ und gab bei der Gelegenheit bekannt, bei seinem nächsten Besuch in Deutschland würde Spielberg gerne die Kollegin Leni Riefenstahl kennen lernen. „Spielberg ist eine wichtige kulturelle Macht in der heutigen Welt“, sagt Michael Berenbaum, die Stimme seines Herren, „er weiß, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Er will keine alten Rechnungen begleichen. Es geht ihm um die Gestaltung der Zukunft. Das ist seine Botschaft. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich das als befreiend empfinden.“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur SHOAH-FOUNDATION wortkatalog umfasse inzwischen rund FU Berlin und schrieb ihre Abschlussar11 000 Begriffe, ein guter Katalogisierer beit über die Deportation der deutschen brauche etwa drei Arbeitstage, um ein In- Juden. Als die Shoah-Foundation Kataloterview von zwei Stunden Dauer zu erfas- gisierer suchte, schickte sie eine Bewersen, „manchmal mehr, manchmal weniger, bung nach L. A. und wurde angenommen. je nach Gegenstand“. Inzwischen ist sie „Cataloguing Content Bis jetzt seien erst 2600 Interviews aus- Manager“, Leiterin der Abteilung, in der gewertet worden. Wenn eines Tages alle die Interviews ausgewertet werden. Dabei 50 000 Interviews bearbeitet wären, könn- setzt sie auf die Methode „trial and error“, ten zu jedem Stichwort beliebig viele Versuch und Irrtum. Es sei nicht ihre AufStatements abgerufen werden, zuerst von gabe, „Fakten zu checken, nachzuprüfen, fünf Museen und Archiven in den USA, was richtig ist, was falsch“. „Unsere Sammdie mit dem Zentralrechner namens „Bob- lung ist auch neues Material. Es ist ein rieby“ der Shoah Foundation verbunden siges historisches Reservoir, das noch gar wären, später auch von anderen „Usern“ nicht angezapft wurde.“ Im übrigen sei mit Internetzugang. Vorher müssten nur „oral history“, mündliche Überlieferung die Zugangsmodalitäten geklärt werden. historischer Ereignisse, „ein sehr umstrit„Es ist phantastisch, hier zu arbeiten, tenes Gelände“, und weil dem so ist, „soll eine großartige Erfahrung“, sagt Michael der Verbraucher entscheiden, wer die Engel, Associate Executive Director der Wahrheit sagt, wer nicht“. Shoah Foundation, 1955 in Bei der Verlagerung des Kanada geboren; er produHolocaust in den Cyberzierte TV-Commercials für space, wo es schon zahllose Budweiser und Pepsi, bevor Webcams, Mailing Lists und er von Spielberg als ProdukChatrooms für alle denkbationsmanager eingestellt wurren Bedürfnisse und Interesde. „Wir sind um die ganze sen gibt, kommt es also nicht Welt gefahren und haben Hoauf Tatsachen, sondern auf locaust-Überlebende gefragt, die Wünsche der Verbrauwas sie erlebt haben. Und nun cher an. Und wie die Fans nehmen wir die Geschichten, von Star Wars oder Lara die wir gesammelt haben, und Croft „interaktiv“ mit ihren bringen sie wieder in alle Helden kommunizieren könWelt – als Filme, Bücher, CDnen, ist inzwischen auch der Roms, was immer wir daraus Holocaust zu einem vernetzmachen können.“ ten Abenteuerspielplatz geUrsprünglich sollte das worden, bei dem die „User“ Material nur den großen Hosich ihr Programm selbst zulocaust-Museen zur Verfüsammenstellen können. gung gestellt werden, aber Mitarbeiterin Stulberg Der Historiker Gregory dann habe man gemerkt, Kendrick, 46, der zwei Jahre „dass es noch andere Wege gibt, um mehr für die Shoah Foundation als Berater arMenschen zu erreichen. Wir bringen es zu beitete, spricht von einem „Holocaust für den Leuten, statt dass die Leute es sich ir- jedermann“ und vom Primat der Technogendwo holen müssen“. Schon bald wür- logie über den Inhalt. „Das Motto war: Wir den „pädagogische Produkte“ hergestellt machen etwas, das noch nie gemacht wurwerden, „in verschiedenen Sprachen, für de, nur weil wir in der Lage sind, es zu maverschiedene Altersgruppen, wir wissen chen.“ Man habe, erinnert er sich, allen heute noch gar nicht, was alles machbar ist, Ernstes überlegt, auf dem Gelände von Uniwir haben die Technik dafür entwickelt, es versal einen Shoah-Pavillon zu bauen, in ist unser Patent“. dem die Besucher des Themenparks AusDank einer „cutting edge technology“, sagen von Holocaust-Überlebenden abrudie speziell für die Shoah-Kollektion ent- fen könnten – nach einem Besuch der wickelt wurde, wird es möglich sein, von Bucht, wo der „Weiße Hai“ gedreht wurde, Auschwitz nach Majdanek und von Treb- oder des Hauses, in dem Hitchcocks „Psylinka nach Groß-Rosen zu surfen, ohne cho“ entstanden ist. Die Interview-Sammsich den Strapazen einer Reise im Vieh- lung sei für die Foundation so wertvoll wie waggon unterziehen zu müssen. Man wird das „Originalrezept für Coca Cola“: Rohganz kommod die irrsten Geschichten vom material, aus dem sich Filme, Bücher und Leben und Sterben hören können, es wird Videoclips herstellen lassen. etwas für jeden Geschmack dabei sein, erSharon Gillerman, 39, die mit einer Arzählt von Zeugen, die alles am eigenen beit über deutsche Juden in der Weimarer Leib erlebt haben und nun andere an ihren Republik promoviert hat, war ebenfalls fast Erlebnissen teilhaben lassen. zwei Jahre bei der Shoah Foundation beAuch Karen Jungblut, 1964 im hessischen schäftigt. „Sie wussten, sie brauchten ein Hofgeismar geboren, hatte schon früh den paar Historiker, aber sie mochten uns nicht. Wunsch, „die ganze Sache von der Über- Wir störten nur den Betrieb.“ lebenden-Seite zu sehen“. Mit 15 fuhr sie Das Shoah-Projekt sei nicht von Anfang nach Israel, studierte später Politik an der an als „Quellenmaterial für historische For250 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite FOTOS: A. SAHIHI schung“ gedacht gewesen, sondern nur als eine Sammlung von Familiensouvenirs, „um jedem Überlebenden die Möglichkeit zu geben, seinen Kindern und Enkeln seine Geschichte zu erzählen“. Einmal, erzählt Gillerman, habe Spielberg einen Toast ausgesprochen: „To the second rescue!“ – auf die zweite Rettung! „Er hat sich vollkommen mit Oskar Schindler identifiziert. Schindler hat über eintausend Juden gerettet, und er, Spielberg, rettet die Überlebenden vor dem Vergessen.“ Chris Kenway, 49, der wie Sharon Gillerman über deutsche Geschichte promoviert hat und zwei Jahre als Historiker bei der Shoah Foundation angestellt war, kann sich an eine ähnliche Situation erinnern. „Eines Tages kam Spielberg zu uns und sagte: ,Mit diesem Projekt verhindern wir einen zweiten Holocaust!‘“ Er habe es vollkommen ernst gemeint, so wie die Technologie-Experten es vollkommen ernst meinten, als sie ein „dreidimensionales Hologramm konstruieren wollten, eine begehbare KZ-Baracke als virtuelle Realität“. „Womit wir es hier zu tun haben, ist Personenkult, wobei Geschichte als Vehikel benutzt wird“, sagt Marc Fisher von der „Washington Post“, der sich mehrmals kritisch mit der Shoah Foundation beschäftigt hat. Interaktive Shoah-CD: „Mit diesem Projekt verhindern wir einen zweiten Holocaust“ Spielberg, meint er, sei „ein perfekter Handwerker und ein großer Geschichtenerzähler“, nur sei er sich seiner Grenzen nicht bewusst: „The Holocaust is history, not his story.“ Dass die Erinnerung an den Holocaust inzwischen von Hollywood aus gemanagt wird, habe mit dem Verhältnis der Amerikaner zur Geschichte zu tun. „Herkules ist eine Gestalt aus einem Abenteuerfilm. Moses ebenso. Die meisten Amerikaner kennen die Geschichte der Zehn Gebote und der Bibel vor allem als eine spannen- de Kino-Geschichte… Wenn Sie herumfragen, wie Moses ausgesehen hat, werden die meisten Befragten antworten: so wie Charlton Heston.“ Spielberg und seine PR-Helfer haben es zudem geschafft, ein grobes Missverständnis fest im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren: dass er der erste und der einzige sei, der die Zeugnisse von Überlebenden einsammelt, unter Einsatz aller Ressourcen, wenige Minuten vor zwölf. „Wir kennen über 200 Oral-History-Projekte überall in der Welt“, sagt Joan Rin- Kultur gelheim, Leiterin des Oral-History-Departments am Holocaust Memorial Museum in Washington, „Spielberg ist weder der Erste noch der Einzige, der so etwas macht, nur hat noch niemand 50 000 Interviews in fünf Jahren gesammelt.“ In ihrer Abteilung liegen 5800 Interviews, Audio- und Videobänder, die mit jüdischen und nicht-jüdischen Überlebenden aufgenommen wurden, darunter Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, polnischen Katholiken und politisch Verfolgten. Das Holocaust Memorial Museum in Washington ist eines von fünf Depots, denen die Shoah Foundation Zugang zu ihrem Material versprochen hat. Mit diesen „Partnerships“, die deklamatorischen Charakter haben, macht die Shoah Foundation vor allem Werbung für sich, will ihre Seriösität unter Beweis stellen. Faktische Fehler Jehuda Bauer, 1926 in Prag geboren und neben Saul Friedländer und Raul Hilberg der Historiker des Holocaust, betrachtet das Shoah-Projekt von Jerusalem aus wie ein richtiger Regisseur die Aufführung einer Laienspielschar – mit ironischer Gelassenheit: „Ich bin offiziell einer der Berater, aber man hat mich noch niemals um Rat gefragt.“ Als die Shoah Foundation in Israel in Zeitungsanzeigen Interviewer suchte, hat er bei den dreitägigen Trainingsseminaren Vorträge gehalten und dabei versucht, Basiswissen zu vermitteln. „Es haben sich Massen von Menschen gemeldet, Studenten, Hausfrauen, die waren alle neugierig, aber nicht qualifiziert. Sie wussten, dass eine Shoah stattgefunden hat und dass die Deutschen schlecht waren, das war schon alles.“ Bauer schätzt, dass von den 50 000 Interviews, die gemacht wurden, „etwa 10 Prozent wertvoll sind und 90 Prozent nutzlos“. Er vergleicht das Projekt mit einem „Glücksspiel“, bei dem eines von zehn Losen gewinnt. „Diese 5000 Interviews wären nicht zu Stande gekommen, wenn nicht auch die anderen gemacht worden wären.“ Als positives Beispiel zitiert Bauer die Aussage eines 90-jährigen Mannes, der sich an alles klar und genau erinnern konnte. „Erinnerung kann mit der Zeit auch besser werden. Seitdem er in Israel angekommen ist, hat er nichts gemacht oder erlebt, was für ihn wichtig war. Die Jahre bis 1945 waren für ihn die wichtigste Zeit in seinem Leben. Wir haben seine Aussagen mit Dokumenten verglichen und festgestellt: Es hat alles gestimmt.“ In anderen Fällen kam es vor, dass „der Interviewte Tatsachen und Phantasie vermischte“; was nicht bedeutet, dass der Be- fragte log. „Er glaubte fest daran, dass es so war“, wie im Falle einer AuschwitzÜberlebenden, die vom Frauenlager aus die Schreie der Vergasten gehört hatte. „Sie konnte die Schreie nicht hören, das ging nicht, aber sie war sich ganz sicher.“ Um solche „faktischen Fehler“ festzustellen, „müsste man jede Zeugenaussage überprüfen, was wahr ist, was vermutlich wahr, was vermutlich unwahr ist, was bestimmt unwahr ist. Das können nur Historiker leisten, dazu ist Spielberg mit seiner Truppe nicht in der Lage.“ Warum überlassen dann Institutionen wie Yad Vashem, dessen Forschungszentrum Bauer leitet, Spielberg das Feld? Bauer: „Ganz einfach. Wir haben kein Geld, Spielberg hat Geld. Wir haben ihm vorgeschlagen, für diese Arbeit eine akademische Basis zu schaffen, eine Kooperation, er wollte nicht. Ihn interessieren nur Sachen für den Sofortgebrauch, was nächstes Jahr passieren wird, interessiert ihn nicht. Es muss morgen früh sein.“ Bauer ist überzeugt, dass Spielberg an der Katalogisierung des Materials scheitern wird. „Dann wird alles zu uns kommen, und wir werden die Arbeit weiter führen. Das wird zwei bis drei Generationen dauern.“ In Yad Vashem werden seit 40 Jahren Dokumente und Oral-History-Zeugnisse gesammelt. Im Archiv der Gedenkstätte Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Shoah-Videoraum: 50 000 Bücher ohne Inhaltsverzeichnis, ohne Index, ohne Titel 256 Hälfte des Materials inzwischen katalogisiert. Anders als bei der Shoah Foundation werden hier die Interviewer wochenlang für ihre Arbeit geschult; die Katalogisierer sind gelernte Historiker, die „psychologische Wahrheiten“ von „historischen Tatsachen“ unterscheiden können. „Wir versuchen nicht, die Überlebenden zu Historikern zu machen.“ Das „Fortunoff Video Archive“, so benannt nach einem Mäzen, der eine Stiftung eingerichtet hat, die jährlich 50 000 Dollar Zinsen einbringt, ist eine der fünf Institutionen, mit denen Spielberg eine „Part- nership“ erklärt hat. Aus Hartmans Sicht stellt sich die Lage ein wenig anders dar. Man habe sich von Anfang an bemüht, Spielberg mit Expertenrat beizustehen. „Wir hatten Bedenken, wie sich die Quantität des Projekts auf die Qualität der Interviews auswirken würde, und richtig problematisch wurde es, als die Shoah Foundation begann, sich als eine pädagogische Einrichtung zu begreifen.“ Doch Spielberg lehnt es „bis heute ab, mit anderen Organisationen zu kooperieren, die auch mit Projekten der Zeugnissicherung befasst sind“. Hartman formuliert seine Kritik auf eine altmodisch dezente Art, indem er sie in A. SAHIHI liegen rund 33000 Zeugenaussagen, schriftliche Erinnerungen, Tonband- und Videoaufnahmen, insgesamt „etwa 55 Millionen Seiten von Dokumentationen“, die erst zum Teil ausgewertet worden sind, weil es an Geld und Personal mangelt. Während Forscher aus aller Welt nach Yad Vashem kommen, bleiben Sponsoren, anders als bei Spielberg, der Gedenkstätte fern. Denn Yad Vashem liegt nicht am Rande von Hollywood und schmeißt auch keine Gala-Benefiz-Partys, deren Besucher viel Geld für das Vergnügen ausgeben dürfen, einen Abend im selben Raum mit einem leibhaftigen Star zu verbringen, der ihnen ein „Ethnic Buffet“ servieren lässt und den Begriff Shoah in ein Logo für gute Laune verwandelt. „Es kann sein, Spielberg glaubt, es gäbe so etwas wie ,before Spielberg‘ und ,after Spielberg‘ bei der Beschäftigung mit der Shoah. Für ihn bedeutet das Wort nicht, was es für mich bedeutet, ich verbinde damit keine Partys, keine Neonlichter und keine Glasur auf einem Kuchen“, sagt Geoffrey Hartman, 1929 in Frankfurt/Main geboren, der 1938 als Neunjähriger mit einem „Kindertransport“ nach England flüchten konnte. Hartman, der immer noch gern Deutsch spricht, ist Professor für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Yale und leitet seit 1981 das „Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies“, eine Unterabteilung der Yale University Library in New Haven. Er hat mit einem kleinen Stab von Helfern in 20 Jahren rund 4000 Interviews mit Überlebenden aufgenommen und etwa die Tafel der aufgenommenen Zeugenaussagen: „90 Prozent der Interviews sind nutzlos“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur FOTOS: A. SAHIHI Lob einbettet. Die von der Shoah Foundation gemachten Interviews „enthalten in jedem Fall interessante Informationen und zeigen Porträts bemerkenswerter Menschen“, doch liege „ihr historischer Wert in der Bestätigung des Bekannten“. Viele Überlebende würden „das Vorgefallene mit Gehörtem oder Gelesenem vermengen“. In einer Sensationsgesellschaft entstehe fast „zwangsläufig der Trend, diese Videos effektiv zu vermarkten“. Damit hat die Shoah Foundation längst begonnen. 1995 wurde das erste „pädagogische Produkt“ in Angriff genommen, der Film „Survivors of the Holocaust“. Der Erstling wurde 1996 von Turner Broadcasting System im Fernsehen gezeigt – gesponsort von der Chrysler Corporation und präsentiert vom Chrysler Vice President Arthur C. Liebler („… damit sich solche Grausamkeiten nie wiederholen …“) – und anschließend als Video auf den Markt gebracht. Der Film setzt weniger den Überlebenden des Holocaust als Spielberg und seiner Foundation ein Denkmal. In einem 18 Minuten langen Vorspann wird die Arbeit der Foundation vom Schauspieler und Spielberg-Freund Ben Kingsley vorgestellt: „Zum ersten Mal in der Geschichte werden wir in der Lage sein, uns durch tausende von Stunden von Zeugenberichten zu navigieren. Eine revolutionäre ComputerTechnologie wird Menschen jeden Alters überall in der Welt in die Lage versetzen, mit der Vergangenheit zu interagieren, wie das bisher noch nie der Fall war.“ Dann unterhalten sich Spielberg und Kingsley miteinander, während Spielberg am Computer spielt und von einer „emotionalen Technologie“ spricht. Der eigentliche Film ist dann nur noch 52 Minuten lang und enthält Statements von nicht weniger als 40 Zeitzeugen, lauter „sound bites“. Kaum ein Bild steht länger als drei bis fünf Sekunden, es wird ständig hin- und hergefahren, überblendet und mit historischem Material Managerin Jungblut unter- und zwischengeschnitten, das nicht immer mit den Originaltönen zu tun hat. Die optische Rutschpartie wird mit kitschigen Effekten angereichert. Eine Überlebende erzählt, sie habe sich im KZ gewünscht, ein Vogel zu sein, denn „die Vögel waren frei, und ich war es nicht“, da flattern plötzlich Vögel über den Bildschirm; doppelt genäht hält besser. Kurz wird die Hinrichtung eines NS-Verbrechers gezeigt, und gleich darauf tanzen jüdische Einwanderer in Palästina auf der Straße. 258 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Hollywood von der Stange Das Ende des Films ist Hollywood von der Stange: Sol Liber, ein Überlebender, im Kreise seiner Familie, mit Frau, Kindern und Enkeln, erklärt sich zum Sieger der Geschichte: „So habe ich Hitler überlistet …“ Ganz zum Schluss kommt wieder Spielberg ins Bild und sagt, diese Berichte seien ein Beispiel dafür, „wie Geschichte und kulturelle Toleranz gelehrt und gelernt werden können“. Inzwischen wird das Video von „amazon.com“ für 16,99 statt 19,90 Dollar angeboten. Auf der Hülle heißt es, die „Nettoerlöse“ aus dem Verkauf kämen der Shoah Foundation zugute. Wer weiß, wie „Netto-Erlöse“ in der Unterhaltungsindustrie berechnet werden, kann sich vorstellen, wie viel am Ende rüberkommt. Doch das ehrgeizigste und am heftigsten promotete „pädagogische Projekt“ ist eine interaktive CD-Rom, die bereits im September 1996 auf der Homepage der Foundation als ideal für Schulen angekündigt wurde, „da die Schüler wirklich durch eine KZ-Baracke gehen, dabei verschiedene Menschen sehen, die sie anklicken können, um ihre Lebensgeschichte zu hören“. Zwei Jahre später wurde die fertige CDRom von Spielberg persönlich der Öffentlichkeit vorgestellt, am 11. September 1998 vor Schülern des Sophie-Charlotte-Gymnasiums in Berlin. Einen Monat darauf, am 22. Oktober, führte Spielberg die CDRom an einer Schule für schwer erziehbare Kinder an der Lower East Side in New York vor. Das Ereignis wurde von deutschen wie von amerikanischen Zeitungen gebührend gewürdigt, vor allem der Einfall, als Moderatoren aus dem Off die Filmstars Winona Ryder und Leonardo DiCaprio einzusetzen, um junge Leute zu ködern, die sich sonst für Geschichte nicht interessieren würden. Der „interaktive“ Kick besteht darin, dass vier Überlebende wahlweise angeklickt werden können, die Episoden aus der Vorkriegszeit, der Kriegszeit und der Nachkriegszeit erzählen und dazwischen Infos zu Stichworten („SS“, „Adolf Hitler“, „Auschwitz“) angeboten werden. Doch auch im Shoah-Business sind große Namen nicht alles. Die Premiere wurde nachträglich zur „pre-publication“ erklärt, die CD-Rom wegen „38 faktischer Fehler“, wie Michael Berenbaum in einem schwachen Moment zugab, zur Nachbesserung zurückgezogen. Freilich auch die nachgebesserte Fassung ist nicht fehlerfrei. Dass die Stadt Kassel in die Nähe von Bielefeld verlegt wird, ist von Los Angeles aus gesehen ein kleines Versehen. Dass bei manchen Bildern die Bildlegenden nicht stimmen, wiegt schon schwerer. Dass die Zahl der in Auschwitz ermordeten Menschen mal mit 1,1 und mal d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 259 A. SAHIHI Kultur Shoah-Hauptquartier in Los Angeles: „Viele fragen sich, warum sie einem Mann Geld geben sollen, der selber so viel hat“ Der deutsche Ableger der Shoah Founmit 1,6 Millionen angegeben wird, mag eine dation wurde am 4. Juni 1997 als eine „GeArt von Intelligenztest sein. Dass die Zahl der ermordeten Zigeuner sellschaft mit beschränkter Haftung“ in das auf „100 000 bis 200 000“ herunterge- Handelsregister beim Amtsgericht Frankschrieben wird, zeugt von massiver Ig- furt am Main eingetragen und vom Finoranz. Dass Palästina eine britische „Ko- nanzamt als „gemeinnützig“ anerkannt. lonie“ war, die von den Briten 1948 an die „Zweck der Gesellschaft“, heißt es unter Vereinten Nationen „übergeben“ wurde, dem Rubrum „Gegenstand des Unternehbestätigt nur die alte Regel: Knapp dane- mens“, ist „die Förderung der Volksbildung, insbesondere der Volksbildung im ben ist auch vorbei. Die CD-Rom ist der ganze Stolz der Zusammenhang mit der weltweiten AufShoah Foundation, sie „bringt Studenten klärung über den Holocaust“. Die deutsche Shoah GmbH funktioniert dazu, sich mit Rassismus, Hass und Antisemitismus zu beschäftigen, mit dem Ziel, als eine Sammelstelle für das kalifornische Toleranz zu verbreiten“. Und was den Mutterunternehmen, ein Ansaugrohr für USA gut tut, das ist für Deutschland gera- Bilder, Töne und Spenden, nicht nur um dezu eine Notwendigkeit. „Wir wollen Er- weltweit „Aufklärung über den Holocaust“ ziehungsarbeit leisten“, sagt Ahavia zu leisten, sondern auch „um eine MögScheindlin, die Vizepräsidentin der Stif- lichkeit zu schaffen, mittels der Berichte tung, „eine Botschaft der Toleranz und des mehr Toleranz zu lehren“, wie es in einer von der Shoah GmbH verbreiteten WerZusammenlebens ist unser Ziel.“ Ahavia Scheindlin, 1945 in Philadelphia beschrift mühsam holpert. Das Kleingedruckte zum weltweiten Togeboren, arbeitet seit Februar 1998 für die Shoah Foundation und führt seit November leranz-, Lehr- und Genozid-Aufklärungs1998 das Berliner Büro der Organisation. Programm steht freilich woanders: in den Erklärungen, die den Die studierte Politologin Interviewten abgenommen („Ich habe meine Abschlusswerden. arbeit über Marx geschrieDa heißt es zwar, dass ben“) hat in den USA als ihre Aussagen „ausschließSpendeneintreiberin für die lich zu historischen und Demokratische Partei und pädagogischen Zwecken für die amerikanischen Museen und anderen geFreunde von „Peace Now“ meinnützigen Vereinigungearbeitet. Ihre derzeitige gen zur Verfügung gestellt Mission in Deutschland verwerden“, doch zugleich besteht sie als eine Art Dienst hält sich die Shoah GmbH am Volk, ein Mix aus Erziealle übrigen und weiteren hung, Therapie und SeelsorVerwertungsoptionen vor. ge: „Wir sind hier, um Dis„Spielberg raubt den Überkussionen anzuregen, um die lebenden ihre LebensgeMenschen zu erziehen. Der schichten, als Dank bekomHolocaust geht nicht nur die men sie einen von ihm unJuden als Opfer etwas an. Die terzeichneten Brief und Beschäftigung mit diesem fühlen sich noch geehrt“, Thema wird den Deutschen sagt eine junge Berlinerin, helfen, gesünder zu werden, die einige Interviews geihren Mangel an Selbstbewusstsein zu überwinden.“ Ex-Mitarbeiterin Gilermann führt hat und aus Angst vor 260 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Konsequenzen nicht genannt werden möchte. Denn auch sie hat, wie alle Interviewer, eine Erklärung unterschrieben, in der es heißt: „Als wesentlicher Teil meiner Pflichten verpflichte ich mich, sämtliche Informationen, die mir im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit für die Stiftung bekannt werden, geheim zu halten und nicht den Medien oder irgendjemandem sonst gegenüber zu veröffentlichen …“ Der Hollywoodisierung des Holocaust folgt dessen heimliche Privatisierung durch die Firma Spielberg & Partner in der „Hall of Fame“ der Geschichte. „Steven Spielberg ist jetzt schon unsterblich“, sagte noch im Februar 1999 Michael Berenbaum, ohne zu ahnen, dass der Unsterbliche ihn bald darauf feuern würde, „er will nur noch Gutes tun. Für viele Menschen ist Philanthropie der Weg zur Unsterblichkeit. Für Steven ist Philanthropie eine Möglichkeit, der Welt das zurückzugeben, was er bekommen hat.“ Doch Spielbergs Demut und Bescheidenheit halten ihn nicht davon ab, immer wieder zu zeigen, wem die „Shoah“ wirklich gehört. Alle Projekte und Produkte der Foundation tragen den Vermerk: „Steven Spielberg in Association with Survivors of the Shoah Visual History Foundation presents …“, was so viel bedeutet wie: „Steven Spielberg präsentiert in Verbindung mit Steven Spielberg …“ Der „Master Teacher“ („Chicago Tribune“) hat bei allem das erste und das letzte Wort. „Es gibt eine heftige Konkurrenz unter den verschiedenen Holocaust-Projekten in den USA“, sagt Geoffrey Hartman, „alle sind auf Sponsoren angewiesen, die erst überzeugt werden müssen.“ Im Falle der Shoah Foundation, die sich ebenfalls aus Spenden finanziert, sei Spielberg zwar das prominente Zugpferd, aber auch ein Handicap für die Organisation. „Viele fragen sich, warum sie einem Mann Geld geben sollen, der selber so viel hat.“ Unter den „Top 40 Entertainers“ des US-Magazins „Forbes“ für das Jahr 1998 Werbeseite Werbeseite Kultur angelegt, sondern auch gleich eine Lizenz zum Gelddrucken erfunden. Wer immer authentische Originaltöne für Dokumentationen über den Holocaust, über die Raubzüge der Nazis, über das Leben in Osteuropa vor dem Krieg und die Mühen des Überlebens nach dem Krieg brauchen wird, der kommt am Archiv der Shoah Foundation nicht vorbei. Und wie bei allen Projekten der angewandten Selbstlosigkeit, bei denen es darum geht, die Welt zu verändern, dem Guten zum Siege und dem Bösen zum Untergang zu verhelfen, stellt sich auch hier die Frage: Wer kassiert die Kohle? Kaum vorzustellen, dass einer, der 175 Millionen Dollar brutto im Jahr verdient und dessen Vermögen auf 1,6 Milliarden Dollar geschätzt wird, auf ein paar zusätzliche Tantiemen aus sein könnte. Andererseits: Im Showbusiness gilt wie in jedem anderen Geschäft die Regel: Wer viel hat, will noch mehr. Und dann gibt es das gewachsene Selbsterhaltungsinteresse eines Apparats, der expandieren muss, wenn er Shoah-Vertreter Engel: Globales Happy End nicht stagnieren will. Die Shoah Foundem würde die Welt etwas, das sie umsonst dation beschäftigt etwa 150 Mitarbeiter in bekommt, nicht schätzen.“ Deswegen sol- Los Angeles und unterhält Büros in Israel, len sich nicht nur Personen, sondern auch Deutschland, Rumänien, Ungarn, Polen, Stiftungen, Regierungen und große Firmen Russland und der Ukraine. an den Kosten beteiligen. „Alle sollen zusammenkommen und sagen: Wir machen Bündnis für die Shoah es, weil wir etwas bewirken wollen, und das ist uns was wert.“ „Die Jungs da drüben in L. A. sind knallUnd um den langen Weg zu einer bes- harte Geschäftsleute“, sagt Beate Wedeseren Welt, zu einem globalen Happy End, kind, ehemalige Chefredakteurin der ein wenig zu verkürzen, bietet die Foun- „Bunten“, voller Bewunderung. dation seit kurzem „bevorzugten Zugang“ Seit sie Spielberg im November 1998 gezu ihrem visuellen Geschichtsarchiv an. troffen hat, ist der Holocaust für sie „ein Obwohl erst etwa fünf Prozent des Mate- Thema“, mit Spielberg zu arbeiten, „hat rials katalogisiert und ausgewertet wurden, mir einen Horizont eröffnet, den ich exkönnen sich Menschen und Organisatio- trem interessant finde“. Sie habe daran nen jetzt schon in der Asservatenkammer mitgearbeitet, dass er eine „Goldene Kades Holocaust bedienen. Sie müssen vorher mera“ bekommt und bei der Gelegenheit nur einen Antrag ausfüllen, in dem ihnen auch gleich die Organisation der Shoahauch die Bedingungen und Kosten des Vor- Benefiz-Gala übernommen. aus-Zugangs erklärt werden. Beate Wedekind ist die VerbindungsJede Arbeitsstunde wird mit 25 Dollar frau zwischen dem Springer Verlag und berechnet. Für jedes Interview, das zur An- der Shoah GmbH, die mietfrei ein paar sicht vorgelegt wird, müssen 15 Dollar be- Räume in einem Springer-Haus nutzen zahlt werden. Die Video-Kopie eines In- darf. Springer trägt auch alle Bürokosterviews kostet 35 Dollar plus Versand- ten, vom Aktendeckel bis zur Telefonrechnung, die bei der Shoah GmbH ankosten. Doch das sind Peanuts verglichen mit fallen. Und weil die Aussöhnung zwischen den den Lizenzgebühren, die anfallen, wenn ein Produzent Material für einen Film Deutschen und ihrer Geschichte auf der eihaben möchte: 45 Dollar pro Sekunde, nen und den Juden auf der anderen Seite das macht 450 Dollar für einen Zehn-Se- für Axel Springer immer ein Anliegen war, kunden-Clip oder satte 2700 Dollar für hat der Springer Verlag zusammen mit den eine Minute Holocaust-Horror aus erster Verlagen Bertelsmann und Burda Ende Hand. Um Antragsteller, die weniger edle 1998 die Initiative „Partners in Tolerance“ Ziele verfolgen, abzuschrecken, müssen gegründet – „zu Gunsten der Shoah die Lizenzgebühren im Voraus bezahlt Foundation“. Völlig berauscht von der Vorstellung, an werden. Damit hat die Shoah Foundation nicht der Seite von Spielberg dafür zu sorgen, nur eine gigantische Holocaust-Data-Bank dass sich der Holocaust nicht wiederholt, D. ROSENTHAL steht Spielberg mit 175 Millionen Dollar Einkommen auf Platz 3 der Liste. Im gleichen Jahr lag das Budget der Shoah Foundation, laut Michael Engel, bei etwa 18 Millionen Dollar. Spielberg könnte also mühelos die Betriebskosten der Foundation übernehmen – und würde dabei sogar noch Steuern sparen. „Steven möchte nicht, dass es so aussieht, als wäre die Foundation sein privates Hobby“, sagt Ahavia Scheindlin, „außer- 262 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite A. SAHIHI Kultur Spielberg-Forum am Berliner Gendarmenmarkt: „Ethnisches Buffet“ mit koscherer Salatbar und unkoscheren Schweinereien traten weitere Medienunternehmen (Ehapa, Kirch Gruppe, Sebaldus) und Prominente (Thomas Gottschalk, Ilona Christen, Uschi Glas) dem Bündnis bei, und schon am 10. Februar 1999 konnte die Initiative eine „erfolgreiche Bilanz“ vermelden: 2,6 Millionen Mark. Zusammen mit den Einnahmen aus der Benefiz-Gala verfügt die deutsche Shoah GmbH damit über knapp drei Millionen Mark, die nun in Aufklärungsarbeit und Toleranzerziehung in Deutschland investiert werden sollen. Natürlich wurde in Deutschland über den Holocaust schon geredet, bevor sich Spielberg seiner angenommen hat, nur nicht richtig, meint Ahavia Scheindlin, die Geschäftsführerin der deutschen Shoah GmbH: „Zuerst waren es die Täter, dann die Kinder der Täter, dann die Kinder der Kinder. Alle waren zu sehr emotional in die Geschichte verwickelt, niemand hatte die Distanz, die man braucht, wenn man junge Menschen mit ihrer Geschichte vertraut machen will, damit sie daraus für die Zukunft lernen.“ Genau dies möchte die Shoah GmbH leisten, sagt Ahavia Scheindlin: „Wer, wenn nicht wir, wäre besser in der Lage, den Deutschen klar zu machen, was sie angestellt haben? Man kann doch nicht erwarten, dass sie sich selbst helfen.“ Eine Art von Ablasshandel also, aber mit Hilfe „modernster Kommunikationsmittel“, wie Beate Wedekind betont. „Es gibt 264 Shoah-Ex-Generaldirektor Berenbaum Handel mit Überlebenden die Wannseevilla, und es gibt Museen, aber das ist alles nicht massentauglich.“ Anders sehe die Sache aus, „wenn sich diese drei großen Verlage zusammentun“ und gemeinsam Projekte starten wie eine deutsche CD-Rom für den Gebrauch an deutschen Schulen. „Parallel dazu“ werde man sich „Gedanken machen, was andere Kommunikationsmittel sind, die man nutzen kann, die eigenen Medien, das Fernsehen, was auch immer …“ Das Shoah-Business, diesmal als amerikanisch-deutsche Koproduktion, steht erst am Anfang eines mächtigen Booms. Kurz bevor Michael Berenbaum als Generaldirektor der Foundation gefeuert wurde – er macht als Berater weiter und schweigt über die Gründe der Trennung –, hatte er noch eine Vision. Mit Hilfe des Shoah-Materials d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 könnte beinah jede deutsche Kommune ihre jüdische Vorkriegsgemeinde „rekonstruieren“ – durch die Aussagen der Überlebenden. Schneller als erwartet scheint die Idee Gestalt anzunehmen. In Dresden möchte man „diese Zeitzeugnisse sehr gern haben, um sie der entsprechenden Nutzung zur Verfügung stellen zu können“, wie es der Direktor der Landesbibliothek im schönsten Behördendeutsch artikuliert. Nur die geschätzten Kosten von etwa einer halben Million Mark machen den Verantwortlichen zur Zeit noch Sorgen. Wenn auch dieses Pilotprojekt klappt, werden andere Gemeinden folgen, und die Shoah Foundation wird jeder Stadt, die es sich leisten kann, ein paar Holocaust-Überlebende zur Ansicht überlassen, zugleich mit der tröstlichen Botschaft, dass es doch möglich war zu überleben, wenn man sich nicht zu dumm angestellt hat. „In Deutschland bringt man unserer Arbeit enorm viel Verständnis und Aufmerksamkeit entgegen“, freut sich Ahavia Scheindlin. In den nächsten Jahren möchte die professionelle Fundraiserin 30 Millionen Dollar für die Shoah Foundation in Deutschland einsammeln, bei privaten Spendern, Stiftungen, Unternehmen und öffentlichen Kassen. „Wir gehören hierher, so sehr wie wir nach Kalifornien gehören. Und wir bleiben hier, bis die Menschheit gelernt hat, in Toleranz zusammenzuleben.“ ™ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite T. RABSCH Überlebenskünstler Jünger (1996): „Wir lassen doch allmählich die Moderne hinter uns“ INTELLEKTUELLE Duell der Orakel Beide sahen sich als Ausnahmegestalt: Carl Schmitt, „Kronjurist“ des Dritten Reiches, und Ernst Jünger. Im Briefwechsel der konservativen Vordenker spiegeln sich deutsche Miseren. 268 Berlin, den prominenten Jünger schließlich zu sich nach Hause ein. So begann Mitte 1930 ein unter Kennern schon legendäres Gipfelgespräch: Über 50 Jahre lang, so zeigt es nun ihre Korrespondenz, haben die beiden Einzelgänger einander auf sehr DEUTSCHES LITERATURARCHIV MARBACH W eshalb kannten die Herren sich eigentlich nicht schon lange? Waren sie einander im mondänen Berlin der späten zwanziger Jahre gar absichtlich aus dem Weg gegangen? Irgendwann mussten sie doch aufeinander treffen, der geschniegelte Abenteurer und rechte Wortschütze Ernst Jünger (1895 bis 1998), Verfasser des autobiografischen Kriegs-Bestsellers „In Stahlgewittern“, und der streitbare katholische Jurist Carl Schmitt (1888 bis 1985), der „Politische Theologie“ und „Verfassungslehre“ in Begriffsdichtung verwandeln konnte. Beide spähten ja in die politische Zukunft, beide zogen Risiko, Autorität und Entscheidung der gemächlichen Demokratie vor. Auch an literarischer Phantasie waren die hochgebildeten Versailles-Gegner ebenbürtig. In lockerem Ton lud Schmitt, seit 1928 Professor an der Handelshochschule in deutsche Art intellektuell begleitet, bestärkt und belauert*. So bezog Jünger gleich strategisch Posten: „Aus dem, was Sie … sagen, sehe ich, daß es einen Punkt gibt, von dem aus wir uns … durchaus verständigen können.“ An Schmitts Buch „Der Begriff des Politischen“, das den nackten Gegensatz von Freund und Feind zum entscheidenden Axiom jeder Macht erhob, lobte der Prosaist hochnäsig „die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit“ und schloss martialisch: „Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos explodiert.“ Doch die Imponiergesten verpufften schnell. Kollegial tauschten beide MachtAnalytiker bald Buchtipps und Werkstattberichte. „Was ich beabsichtige, ist [,] jedes Ethos aus dem Arbeitsbegriff herauszubringen“, erläuterte Jünger seine geplante Schrift „Der Arbeiter“. Schmitt, der den „Kultur-Schleim des 19. Jahrhunderts“ samt dem Humanitätsdenken genauso verachtete, konnte nur zustimmen. Selbst Hitlers Machtergreifung 1933 störte ihren Kontakt nicht, auch wenn nun die Wege sich trennten. Schmitt trat in die Partei ein und hoffte, juristischer Tonangeber des neuen Staates zu werden, der in seinen Augen endlich nicht nur legal, sondern auch legitim die Macht ausübte. Jünger hingegen war aus dem braunen Berlin nach Goslar abgewandert; seine Briefe an den „Sehr verehrten Herrn Staatsrat“ erzählten meist von entlegener Lektüre. Nur einmal nannte er die NSDAP-Schnüffler keck ein „Hohes Inquisitionstribunal“. Wenige Tage nachdem Hitler 1934 seine Gegner aus der SA hatte ermorden lassen, peilte Jünger von der Urlaubsinsel Sylt aus die Weltlage: „Wir lassen doch allmählich die Moderne hinter uns – jeder neue Akt wird irgendwie spannender.“ Er ahnte nicht, dass Schmitt, der „von Haus zu Haus“ zu grüßen pflegte und nun auch Patenonkel von Jüngers Sohn Carl Alexander war, über einem Artikel saß, der die Mordaktion stützen sollte: „Der Führer schützt das Recht“. Kein Wort verlor Jünger darüber, und er schwieg auch, als der „Kronjurist“ gut zwei Jahre später von der Nazi-Führung kaltgestellt wurde. Stattdessen übte er sich als Visionär: „Wir stehen jetzt im 22. Jahre des Weltkrieges, der damit vielleicht zum Drittel hinter uns liegt.“ Doch für Prophetentöne hatte Schmitt keinen Jünger nötig. So gab er lieber eine alte okkultistische Deutung des Alphabets zum Besten oder schwärmte über einen Ausflug ins „Moselnest“ Nennig, „wo das schöns- Jünger, Schmitt (1941): Grüße „von Haus zu Haus“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 * Ernst Jünger, Carl Schmitt: „Briefe 1930 1983“. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 896 Seiten; 78 Mark. Werbeseite Werbeseite Kultur te antike Mosaik der Erde … versteckt liegt“. Als Jünger im Oktober 1938 von seinem neuen Wohnort Überlingen meldete, das Patenkind verkrieche sich immer, wenn Flieger herandröhnten, nahm Schmitt die Gelegenheit zur Global-Diagnose wahr: „Carl Alexander fühlt wahrscheinlich schon, daß wir Erdbodenkriecher durch die Flugzeuge um eine Dimension herabgedrückt werden und unser Erdboden sich dadurch, daß über ihm ein Luftverkehrsnetz gespannt ist, eigentlich in eine Art Meeresboden verwandelt.“ Derlei Feinsinn behagte beiden, vor allem jetzt, wo jeder auf seine Art isoliert war. „Der Weltgeist gibt uns doch viel zu sehen“, munkelte Jünger, als der deutsche Einmarsch in Polen begonnen hatte. Und auch Schmitt neckte die braunen Zensoren – etwa im September 1940: Schmitt den unmusikalischen Jünger zu reizen, wenn er seinen Glückwunsch mit dem Karfreitags-Trostwort aus Wagners „Parsifal“ schloss („Du weinest – sieh, es lacht die Aue“)? Der Unmut staute sich nicht nur, weil Schmitt nach einer Internierung durch die Alliierten geächtet im westfälischen Plet- Vorigen Dienstag war ich in der Premiere des neuen Films „Jud Süss“. Ich empfehle Ihnen sehr, sich das anzusehen. Er ist überaus aufschlußreich, in vielen Hinsichten, wenn auch vielleicht nicht so, wie seine Urheber es beabsichtigten. Allerdings hatte Jünger, seit 1939 wieder Soldat, aus eigener Anschauung der Kriegsschrecken bald mehr zu bieten. Heute meldete mir meine Ordonanz zum Frühstück den Beginn des Krieges mit Rußland; ich nahm das auf „als wenn man so’n Butterbrot ißt“, wie mein Großvater, der Knabenlehrer, zu sagen pflegte. Es scheint mir überhaupt, als ob ich rapide aus dem Historischen heraustrete; Scho- Schmitt lästerte, Jünger habe „weder ein Fenster noch eine Tür zum Mitmenschen“ Bestseller Belletristik 1 (1) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 2 (5) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 3 (2) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 4 (4) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 5 (3) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 6 (6) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 7 (11) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 8 (7) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 9 (10) Birgit Vanderbeke Ich sehe was, was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark 10 (8) John Grisham Der Verrat Hoffmann und Campe; 44,90 Mark penhauer hatte doch recht, wenn er dieses Element einem ständig rotierenden Kaleidoskope mit einer geringen Zahl von Figuren verglich. Schmitt, in Egozentrik ungern Zweiter, mochte über so viel Dünkel doch den Kopf schütteln. Sicher grüßte er als „Ihr alter und unveränderlicher“, aber insgesamt sah er sich gegenüber dem erschreckend munteren Rivalen im Hintertreffen. Als er 1943 auch noch ausgebombt wurde, klangen die Lektüre-Funde aus Edgar Allan Poe oder Nikolaus Lenau („Trotz vieler Verschmiertheiten eine echte Antenne“) nur noch wie klägliche Lebenszeichen. Zu Jüngers 50. Geburtstag fabelte Schmitt im März 1945 hintersinnig, er würde dem Jubilar so gern „eine große, 27(!)bändige Enzyklopädie aus den Jahren um 1780 ,Du Naufrage‘ („über den Schiffbruch“) besorgen, die ein ungeheures Material zu Ihrem Thema enthält“. Hieß das insgeheim, auch der andere habe mal einen „Schiffbruch“ verdient? Und glaubte 270 d e r s p i e g e l 11 (12) Paulo Coelho Der Alchimist Diogenes; 32 Mark 12 (–) Martha Grimes Die Frau im Pelzmantel Goldmann; 44 Mark Krimi-Star läßt wieder sterben: Inspektor Jury enträtselt einen mysteriösen Mord 13 (9) Marianne Fredriksson Simon W. Krüger; 39,80 Mark 14 (13) Maeve Binchy Ein Haus in Irland Droemer; 39,90 Mark 15 (14) Terry Brooks Star Wars – Episode 1: Die dunkle Bedrohung Blanvalet; 29,90 Mark 3 7 / 1 9 9 9 tenberg lebte. Bei dem Staatsdenker, der nur abseits der Öffentlichkeit als „Don Capisco“ einige treue Schüler um sich sammeln konnte, lösten die Nachkriegserfolge des Briefpartners blanken Neid aus. Als sich Jüngers utopischer Roman „Heliopolis“ 1949 überraschend gut verkaufte, begann Schmitt in seinem privaten Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark Ich bin aber auch berechtigt, Ihnen in der Sache Rat zu erteilen; ich habe das angesichts der folgenschwersten Entscheidung Ihres Lebens nachgewiesen … Wären Sie aber in der Sache meinem Rat und Beispiel gefolgt, so würden Sie heute vielleicht nicht mehr am Leben sein, aber berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich. Wäre ich damals Ihrem Rat und Beispiel gefolgt, so würde ich heute gewiss nicht mehr am Leben sein, weder physisch, noch sonst. 2 (2) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 3 (–) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark Kritiker-Star als Außenseiter: ein Leben zwischen Grauen und Glück 4 (3) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 6 (4) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 7 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 8 (6) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 9 (8) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 10 (11) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 11 (9) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 12 (14) Jon Krakauer Auf den Gipfeln der Welt Malik; 39,80 Mark 13 (10) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark 14 (13) Gary Kinder Das Goldschiff Malik; 39,80 Mark 15 (12) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark d e r „Glossarium“ über die „entsetzliche Sparsamkeit der ihre Einfälle restlos verwertenden Vollmonade“ namens Jünger zu grollen. „Weder ein Fenster noch eine Tür zum Mitmenschen“ habe dieser Mann, dazu „die ärmste, engste Stimme, die ich in meinem Leben gehört habe“. Mit ausgelöst hatte den Wutanfall, dass im „Heliopolis“-Roman „Parsen“ vorkamen – eine Chiffre für die Juden. Schmitt, seit langem unbelehrbar antisemitisch, fing an zu kritteln, blieb, obwohl „freundschaftlich gewarnt“, hartnäckig und bekam plötzlich von Jünger, dem Jüngeren, in Sachen Antisemitismus eine Predigt: Diese Abrechnung mit seinem fatalen Schritt von 1933 brachte Schmitt in Wut. „Ist das nicht die Rabulistik eines Ich-verrückten Rechthabers? Nachwirkung seines Mescalin-Experiments?“, notierte er. An Jünger schrieb er nur: „Capisco et obmutesco“ („Ich begreife und verstumme“); der antwortete „In alter, durch Meinungen – auch durch die Ihre (über den Unterzeichneten) – nicht zu erschütternder Freundschaft“. Doch Herzlichkeit kam nun kaum mehr auf. Zwar schmeichelten beide verknöcherten Fahrensleute einander bald wieder mit Ehrentiteln wie „Vor-Weiser“ (Jünger über Schmitt, 1957), tauschten Geburtstagsgrüße aus und lästerten über das Sündenbock-Bedürfnis der Nachkriegsdeutschen. Aber für einen intellektuellen Dialog waren die Orakel-Onkel längst zu alt und festgefahren. Es blieben Veteranensprüche: „Die Zahl der Zeitgenossen, mit denen noch ein Gespräch sich lohnt, vermindert sich rapid, besonders in Deutschland“, schrieb Jünger etwa 1972. Endlich überlegten die Greise gar gemeinsam, ob ihre Korrespondenz nach Klassikerart druckreif gemacht werden solle.Was nun erschienen ist – auf fast 900 Seiten, breit und nicht sehr präzise kommentiert –, hätte wohl auch sie stutzig gemacht, so sicher haben der verpanzerte „Anarch“ (Jünger über Jünger) und der verstockte „Chaopolit“ (Schmitt über Schmitt) einander durchschaut. Trotzdem oder gerade deshalb führt ihr langwieriges Kräftemessen zu keinem Ziel. Noch in einem Glückwunsch von 1983 raunte Jünger dem Älteren zu: „Gehen Sie mir weiterhin voran.“ Wohin, darüber hatte er sich mit Bedacht von jeher ausgeschwiegen. Johannes Saltzwedel s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 271 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur T H E AT E R Knallen muss es auf der Bühne Intendant Klaus Bachler über seinen Start am Wiener Burgtheater, aufgeblasene Theaterkrawalle und seinen Vorgänger Claus Peymann SPIEGEL: Herr Bachler, der Schriftsteller Thomas Bernhard schrieb einmal, wer als Intendant des Burgtheaters antrete, sei automatisch ein toter Mann. Wie fühlen Sie sich? Bachler: Höchst lebendig, danke der Nachfrage. Es rührt mich, dass Sie sich solche Sorgen machen. SPIEGEL: Kränkt es Sie, dass in der Presse, in der österreichischen zumal, so getan wird, als käme nach dem großen Claus nun der kleine Klaus? Bachler: Schauen Sie mich an. Ich bin doch groß genug, oder? Man hat hier viele Vorgänger, da ist Claus Peymann nur einer, an dem man sich messen lassen muss, und nicht unbedingt der Größte. In Wirklichkeit ärgert mich etwas ganz anderes, nämlich, dass immer weniger wichtig wird, was eigentlich im Theater selbst passiert. Statt dessen werden die Außenwirkung, der Effekt für die Medien, die Public Relations das Beherrschende. SPIEGEL: Trotzdem trauern schon jetzt viele den Krawallzeiten mit Peymann hinterher. Muss nicht heutzutage jeder Theaterdirektor auf dem Medienklavier spielen? Bachler: Ich trete mit der Behauptung an, dass man das nicht muss. Man muss natürlich klar und manchmal zugespitzt argumentieren. Aber bisher war es doch oft so, dass der Stellvertreterkampf nach außen den Theatern selber eher geschadet hat. Der Knall, den der Direktor vor einer Premiere auslöst, nimmt die Energie weg für den Knall, der eigentlich auf der Bühne zünden müsste. Im übrigen mache ich diesen Job so, wie es meinem Charakter entspricht. Ich kann mich da nicht an meinem Vorgänger orientieren. SPIEGEL: Ihr Vorgänger startete 1986 mit vier eigenen Inszenierungen: Er nahm die Burg im Sturm. Mit welchem Programm wollen Sie, der nicht selber Regie führende Theaterchef, nun loslegen? 274 P. RIGAUD / ANZENBERGER Bachler, 48, wurde im österreichischen Judenburg geboren und lernte am Wiener Max-Reinhardt-Seminar das Schauspielhandwerk. Nach Engagements unter anderem in Hamburg und Berlin wechselte er 1987 ins Theater-Management, leitete 1991 bis 1996 die Wiener Festwochen und seit 1996 die Wiener Volksoper. In dieser Woche eröffnet Bachler seine erste Saison als Chef des Burgtheaters. Burgtheater-Intendant Bachler: „Ich bin doch groß genug“ Bachler: Egal, ob als Leiter der Wiener Festwochen, als Intendant der Wiener Volksoper oder jetzt als Direktor des Burgtheaters: Ich musste bei jeder Station völlig neu anfangen, und genau das will ich auch jetzt wieder tun. Um dem Wiener Publikum die d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Regisseure und Schauspieler vorzustellen, mit denen wir eine kontinuierliche Arbeit planen, stemmen wir nun in dichter Folge erst mal fünf Premieren auf die Bühne … SPIEGEL: … mit Regisseuren wie Andreas Kriegenburg – er inszeniert Wedekinds Werbeseite Werbeseite Kultur FOTOS: R. WERNER Selbstbewusstsein sagen, ich „Lulu“ –, Martin Kusej und bin der Einzige für diesen dem Rumänen Silviu PurcaPosten, der rumgelaufen ist, rete. Die Eröffnung der neuin relativ jungem Alter, mit en Burg mit „Die Tochter der relativ viel Erfahrung. Und Luft“ von Enzensberger zufällig bin ich Österreicher. nach Calderón de la Barca präsentiert aber nicht AnSPIEGEL: Das Burgtheater gilt drea Breth, die Sie jetzt an bis heute als eine der wichWien binden wollen, sontigsten Bühnen. Fürchten Sie dern Frank Castorf. Die erste nicht, dass sich die TheaterPanne? Gemeinde bald mehr dafür interessiert, was in Berlin los Bachler: Erkrankungen komist? Spielt nicht künftig dort men im Theateralltag vor. die Musik? Nachdem Andrea Breth die Inszenierung nicht machen Bachler: Die Musik spielt nie konnte, waren die Schauda, wo man glaubt, dass sie spieler und wir der Meinung, spielt. Aus Berlin höre ich dass nicht eine Übernahme, bisher nur ein paar dumpfe sondern ein extrem anderer Töne. Da geht es doch nur künstlerischer Neubeginn um Fragen wie: Haut der die Produktion ermöglichen Peymann vom Berliner Enkann. Und wir sind glücklich, semble dem Castorf an der Castorf dafür gewonnen zu Schauspielerin Harfouch*: „Wo sollen die besten Leute sonst arbeiten?“ Volksbühne eine rein? Ich haben – für mich ein tolles finde es verkommen, dass die Beispiel, wie man mit solchen Krisen im SPIEGEL: Das führt dann dazu, dass die Wie- Herumhackerei aufeinander für viele TheaTheater umgehen sollte. ner Presse jedem Direktor vorrechnet, wie terleute zum Hauptsport geworden ist. Mir SPIEGEL: Man könnte den Fall auch als Ex- viele spielfreie Abende, sogenannte missfällt diese abgrundtiefe Eifersüchtelei, und ich wünsche mir so etwas Altmodiempel für eine neue Beliebigkeit werten. Schließtage, er benötigt. Ist das legitim? Nicht umsonst gilt Ihr Burgtheater man- Bachler: Ich finde es entsetzlich und eine sches wie Standesbewusstsein. chen Fachleuten schon als „Hamburg II“. Degeneration, dass die Kulturjournalisten SPIEGEL: Und um das durchzusetzen, sind So sehr ähnelt Ihr Programm den Konzep- in Österreich zu Wirtschaftsjournalisten Sie vom Schauspielerberuf zum Manageten von Frank Baumbauer am Deutschen geworden sind. Es ist doch auch ein Irr- ment übergewechselt? Schauspielhaus. sinn, dass Sie über die Festspiele in Salz- Bachler: Ich war so einer, der sich immer Bachler: Überhaupt nicht. Der eine oder burg und anderswo nur noch Zahlen lesen. eingemischt hat. Schon als Schauspieler andere Künstler arbeitet sowohl in Ham- Die Feuilletonisten sollen sich um die In- war ich der Ensemblesprecher, der immer burg als auch in Wien, aber unser Pro- halte und um die Kunst kümmern. Das ist in die Direktion gestürmt ist und gesagt gramm ist vor allem ein spielerisch emo- ihre Aufgabe. Aber es ist natürlich we- hat: So geht es nicht. Und als ich 1987 am tionales und nicht ein literarisch didakti- sentlich skandalträchtiger zu sagen, das Schiller-Theater in Berlin schon wieder alsches. Wo sollen die besten Leute denn ar- Theater haut Geld zum Fenster raus, als len sagte, wie man es machen soll, sagte beiten, wenn nicht hier. Wien ist nun mal sich ernsthaft mit der Kunst auseinander der damalige Intendant Heribert Sasse: Dann machen Sie es doch selber. So wurdie letzte Stadt, in der das Theater eine zu setzen. gesellschaftliche Rolle spielt. SPIEGEL: Die Journalisten kümmern sich de ich künstlerischer Direktor. SPIEGEL: Und warum ist das so? Weil die nicht nur um die Kasse, sondern auch um SPIEGEL: Diese Tätigkeit hat dem Haus Österreicher die Kultur wichtiger neh- Nationalitäten. Glauben Sie, dass Sie die- nicht wirklich gut getan: Sechs Jahre spämen als zum Beispiel Engländer oder Deut- sen Posten auch bekommen hätten, wenn ter wurde das Schiller-Theater dichtgeSie nicht Österreicher wären? sche? macht. Bachler: Weil Kultur das Einzige ist, was Bachler: Das muss ich glauben. Wie soll Bachler: In die Schließung hat es das man hier hat. Deshalb wünschen sich die ich sonst arbeiten? Ich kann mit ruhigem nachfolgende Vierer-Direktorium getrieÖsterreicher, dass die Kultur so wichtig ben. Zu Sasses und meiner Zeit war das * Bei einer Probe zu „Die Tochter der Luft“. sein soll, wie sie sie nehmen. Schiller-Theater ein von der Kritik unge- liebtes, aber toll besuchtes Haus. SPIEGEL: Mittlerweile zählt man Sie gemeinsam mit Tom Stromberg und Frank Baumbauer zum Typus des modernen, nicht selber Regie führenden Theatermanagers. Sind Sie mit dieser Einschätzung glücklich? Bachler: Ich bin kein Typ der Zukunft, sondern ein Typ der Gegenwart. Intendant sein hat nichts mit einem anderen Beruf zu tun. Als Intendant hat man ein libidinöses Verhältnis zu bedeutenden Künstlern. Ich treffe doch alle Entscheidungen gegen das Management. Denn Management heißt: Gewinn bringend arbeiten. Und das tun wir nicht. Um es hochfahrend auszudrücken: Ich will das Haus nicht aus finanziellen, sondern aus geistig-atmosphärischen Gründen füllen. SPIEGEL: Und deshalb haben Sie auch Klaus Maria Brandauer als Cyrano de Bergerac engagiert. Da wird das Haus bis zum obersten Stehplatz geistig und atmosphärisch gefüllt sein. Bachler: Auch diese Ent- Proben-Szene aus „Lulu“*: „Unser Programm ist vor allem ein spielerisch emotionales“ scheidung hat mehr mit Emotion als mit Management zu tun. Der am Burgtheater hatten in den fünfziger ser Zeit selbst ein wenig berühmt zu Mann ist ein Kaliber. Er war karenziert, Jahren die Hälfte der Schauspieler nur sein? aber immer Mitglied des Burgtheaters und Halbjahresverträge, sonst hätten Paula Bachler: Es gibt diese schöne Geschichte kehrt jetzt richtigerweise zurück. Wessely und der Ewald Balser nicht in je- vom Burgtheater-Direktor, der am Ende seiSPIEGEL: Viele Ihrer Intendantenkollegen dem zweiten Film aus dieser Zeit mitspie- ner Amtszeit vom Pförtner mit Blumen verklagen darüber, dass man mit Schauspielern len können. Und zurück zum Theater fin- abschiedet wird. Drei Tage später möchte er wie Brandauer oder Corinna Harfouch, die den die Schauspieler schon von selbst: Po- noch mal ins Haus, weil er seinen Schirm dauernd vor der Filmkamera stehen, kaum pulär wird man beim Film, wirklich vergessen hat – doch der Pförtner weist ihn berühmt wird man nur auf der Bühne. ab, weil er schließlich nicht mehr Direktor ordentliches Theater machen könne. Bachler: Ich finde es absurd, dass man SPIEGEL: Ihr Vertrag läuft erst einmal sei. Ich hoffe also darauf, dass ich meinen Schauspielern vorwirft, dass sie für Film bis 2005. Erhoffen Sie sich, am Ende die- Schirm nicht vergesse. und Fernsehen arbeiten. Das ist ihr gutes Interview: Wolfgang Höbel, Joachim Kronsbein Recht, und neu ist es auch nicht. Hier * Mit Natali Seelig und Franz J. Csencsits. Kultur L I T E R AT U R Die Steine der Liebenden M. WELLERSHOFF / DER SPIEGEL Die Norwegerin Linn Ullmann hat die berühmtesten Eltern Skandinaviens: die Schauspielerin Liv Ullmann und den Regisseur Ingmar Bergman. Nun macht sie mit ihrem ersten Roman „Die Lügnerin“ von sich reden, einer turbulenten, raffiniert konstruierten Familiensaga. Autorin Ullmann: Auf die scheinbare Harmlosigkeit fallen Schatten W er lügt, setzt sich eine Maske auf – die aber auf genau das verweist, was sie eigentlich verbergen soll. Julie zum Beispiel. Sie glaubt, dass ihr Mann Aleksander sie betrügt. Um die Wahrheit herauszufinden, belügt sie ihn: Sie habe eine Nacht mit einem anderen Mann verbracht. Aleksander steht auf, zerschlägt den Badezimmerspiegel, kehrt ins Ehebett zurück und sagt: „Mir ist vor un278 gefähr einem Jahr eine Frau begegnet, ich hatte zu viel getrunken, ich bin mit ihr nach Hause gegangen, es hat mir nichts bedeutet.“ Vera Lund sei ihr Name gewesen. Aber es gibt keine Vera Lund in Oslo und auch nicht im nahe gelegenen Bærum.Vielleicht hat also Aleksander die Geschichte vom Ehebruch erfunden, um quitt zu sein mit Julie. „Quitt“, sagt Julie, „hat in unserer Ehe immer eine große Rolle gespielt.“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Oder: Aleksander hatte wirklich eine Affäre, aber die Frau trug einen anderen Namen. Die Wahrheit in dem Lügenstrickwerk dieser Ehe ist: Julie und Aleksander erfinden sich Masken, weil sie sich ohne diese nackt fühlen würden, weil sie die Leere zwischen sich drapieren müssen. Selbst wenn der Preis dafür ist, dass sie beide füreinander unerreichbar sind. Natürlich könnte auch diese Wahrheit eine Lüge sein. Denn die Szene einer Ehe wird von Julies jüngerer Schwester Karin geschildert, die von sich sagt: „Ich habe immer gelogen, als stehe mein Leben auf dem Spiel.“ Karin ist die Erzählerin des Buches „Die Lügnerin“. Es ist der Debütroman der Osloer Schriftstellerin Linn Ullmann, 33, der jetzt auf Deutsch herauskommt*. Als der amerikanische Literaturagent Andrew Wylie im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse den Verlagen der Welt die Rechte dafür anbot, wurde „Die Lügnerin“ eines der begehrtesten Werke – obwohl der Roman zu der Zeit noch nicht einmal in Norwegen veröffentlicht war. Aber die Eltern der Autorin kannte jeder: die Schauspielerin Liv Ullmann und den schwedischen Regisseur Ingmar Bergman. Nun wird das Buch in 19 Sprachen übersetzt. Für Deutschland erhielt Droemer Knaur den Zuschlag, für „beträchtlich weniger als eine Million Mark“, sagt der Droemer-Verleger Hans-Peter Übleis. „Der Name hat wohl geholfen“, gibt Linn Ullmann zögernd zu. Denn natürlich möchte sie, dass sie und ihr Werk unabhängig von ihren Eltern beurteilt werden, dass sie auch mit einem anderen Namen hätte bestehen können. Schon deshalb dreht sie allen, die in dem Roman nach neuen biografischen Details des skandinavischen Glamourpaares suchen, eine lange Nase: Mutter und Vater kommen vor, aber verfremdet und aufgeteilt auf verschiedenste Figuren. Wie auch Ullmann Aspekte ihrer selbst in dem Roman verstreut hat: Sie heißt mit zweitem Namen Karin, hat aber, wie Julie, jung geheiratet und bei der Führerscheinprüfung versagt. „In der Literatur geht es um die Phantasie, ums Erfinden“, sagt Ullmann. „Wer nur * Linn Ullmann: „Die Lügnerin“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Verlag Droemer Knaur, München; 320 Seiten; 38 Mark. ACTION PRESS nach meinen Eltern und mir sucht, der begreift das Ganze nicht.“ Was schade wäre, weil das Ganze ein einfallsreich zusammengesetztes Mosaik ist und daher mehr als die Summe seiner fünf Kapitel. Vordergründig erzählt Ullmann die Geschichte einer norwegischen Familie. Der Großvater Rikard Blom wandert Anfang der dreißiger Jahre nach New York aus, die Großmutter June kehrt mit ihrer Tochter Anni und ihrer Schwester Selma nach Oslo zurück. Anni heiratet, bekommt die beiden Töchter Julie und Karin, wird geschieden. Hinter der Familiensaga verbirgt sich jedoch ein unsentimentaler Blick auf den Zustand menschlicher Beziehungen: Die Lage ist schlecht, und so ist es vermutlich immer gewesen. Der Roman beginnt, nach einem Prolog, mit Karins ironischer Beschreibung der Hochzeit ihrer älteren Schwester. Allerhand kuriose Gestalten schreiten und schlurfen auf die Kirche zu. Tante Edel und ihr 54-jähriger Sohn Fritz zum Beispiel, die eine Bäckerei betreiben. Fritz wollte mal ausziehen aus dem Haus seiner Mutter, hat es aber nur acht Tage allein ausgehalten. Edel und Fritz sind die Glücklichsten auf der Hochzeitsgesellschaft. Liv Ullmann, Tochter Linn (1977) Männer verzaubernde Schönheit Tante Selma ist „die zornigste alte Dame der Welt“, und wo sie redet, da überlebt kein Lächeln mehr. Selma hasst Menschen, spätestens, seit ihre Schwester June ihr Rikard Blom weggeheiratet hat, den einzigen Mann, den Selma je liebte. Zu ihrer Nichte Anni, der Mutter von Karin und Julie, die in dunkelgrünen Stöckelpumps die Gäste empfängt, sagt sie: „Je älter du wirst, umso abstoßender wirst du. Du bist keine von denen, die mit Stil altern.“ Immerhin ist Tante Selma die Einzige, die niemandem etwas vorspielen muss, noch nicht einmal sich selbst. Die meisten anderen Romanfiguren sind in Täuschungen und Selbsttäuschungen verstrickt, die privates Glück herstellen und zementieren sollen – es aber verhindern. Das erste Kapitel des Romans ist eine turbulente, bunte Komödie. Doch auf die Fröhlichkeit und scheinbare Harmlosigkeit fallen Schatten: Anni wurde von ihrem d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Kultur F. HJERLING / ACTION PRESS Mann verlassen, er zog Ingeborg vor, und keit ist ein Zustand der ÜbersensibilisieAnni hat eigentlich nie verstanden warum. rung“, sagt Ullmann, „Wahrnehmungen Julies Ehemann Aleksander ist ein spießi- und Gedanken scheinen lauter, drängender ger Langeweiler. Die schöne Trauzeugin und greller zu sein.“ Und so bestimmt dieVal Bryn zerstört Ehen, um sich ihrer se- ses Halbwachsein, das Lauschen, Denken, xuellen Macht zu vergewissern. Phantasieren und flirrende Assoziieren Elliptisch, von einer Figur zur nächsten auch die literarische Form des Buches. wandernd, die eine in der anderen reflekAls sie an der New York University tierend, zwischen Jahrzehnten hin- und Literatur studierte und auch als sie später herwechselnd, tastet Ullmann sich an ihre Literaturkritikerin und Kolumnistin der Hauptpersonen heran – wie eine Jazzim- Osloer Zeitung „Dagbladet“ war, sei sie provisation, in der das Grundthema variiert gerade an „Struktur, Stil und Komposiwird. Reales wechselt sich mit Surrealem tion“ von Romanen interessiert gewesen, ab, auf leise Passagen folgen laute. erzählt Ullmann: „Es reicht nicht aus, nur Karin präsentiert sich mal als einfühlsame eine gute Geschichte zu haben.“ Sie selbst Schwester, mal als ungebremste Verführerin, sei nicht besonders gut darin, von A nach deren Opfer lächerlich sind, Karikaturen. Z zu erzählen. Auch ihre ZeitungskolumEin Liebhaber wird ohne seine Cowboy- nen, die sie weiterhin alle drei Wochen abstiefel zu einer Makrele. liefert, sind oft eher imEine knallige Metapher, pressionistisch als strinwie ein zu hoher Ton auf gent argumentativ. der Trompete, der noch Der „Lügnerin“ vorschriller wirkt, weil die ausgegangen waren vor Melodie eigentlich traurig fünf Jahren einige Kurzist. „In den alten Bilgeschichten. Sehr interdungsromanen waren die essant, befand ihr Verleverführten Frauen schager und riet ihr, sie wegblonenhaft geschildert“, zuwerfen – bis auf eine, sagt Ullmann dazu, „ich die von einer Hochzeit habe die Sache mal umhandelte. Von der wiegedreht.“ Und moderniderum blieb nur das siert: Die Frauen sind Motiv der Lügnerin. Ullstark, die Männer schwach mann machte sich Noti– der Tendenz nach jezen, recherchierte die hisdenfalls, denn alle Persotorischen Hintergründe nen sind ambivalent. Die und nahm sich schließlich männlichste Figur ist eine ein Jahr frei von ihrem Frau, Karin. „Orlando“, Redakteursjob. Virginia Woolfs grandioWenn sie ihren Sohn, ser Androgynen-Roman, der aus einer geschiedeist eines von Ullmanns Linn Ullmann, Vater Bergman* nen frühen Ehe stammt, Lieblingsbüchern. in die Schule gebracht Nach und nach demontiert Ullmann alle hatte, begann sie zu schreiben. Wenn er ihre Figuren. Sie schält die Schichten der mittags nach Hause kam, wurde aus der Lebenslügen ab, bis sie, ganz unten, auf Schriftstellerin wieder die Mutter. Diesen den Grund trifft: Sprachlosigkeit, Traurig- Rhythmus hat sie beibehalten, jetzt arbeikeit, Unmöglichkeit. Es ist ausgerechnet tet sie am zweiten Buch – und die einder langweilige Aleksander, der eben doch jährige Beurlaubung streckt sich ins dritnicht so langweilig ist, an dem entlang sie te Jahr. Liv Ullmann hatte von ihrer Tochter als zur tiefsten Ebene des Unglücks vordringt. Ullmann hat sich für die Schlüsselszene Schriftstellerin gesprochen, bevor übervon einem Gemälde der schwedischen Ma- haupt jemand wusste, dass die an einem lerin Lena Cronquist inspirieren lassen, das, Roman schrieb. Sie soll zufrieden gewesen so freundlich in den Farben, so unfreundlich sein mit dem Resultat, auch wenn sie in der Anmutung ist: Eine nackte Frau liegt als naiv-egoistische, Männer verzaubernneben ihrem schlafenden Mann im Bett, de Schönheit Anni auftaucht. Die träumt von jener Weltkarriere als Schauspieleumzingelt von schwarzen Felsbrocken. Bei Ullmann liest sich das so: Schlaf- rin, die Liv Ullmann sich tatsächlich erlos wälzt sich Aleksander neben Julie, spielt hat. Auch Ingmar Bergman hat sich wiederwährend er überlegt, wie er die Steine wegschaffen kann, die zwischen ihnen liegen entdeckt: Nicht jedoch in dem Vater, der und auf dem Boden und auf dem Schrank: mit Karin ins Kino geht – obwohl, wenn „Man kann nicht überall Steine herumlie- der Regisseur seine jüngste Tochter Linn in gen haben, wenn man schlafen will, denkt den Sommerferien besuchte, die beiden genau das getan haben. Nein, er fühlte sich er. Das geht ganz einfach nicht.“ „Bevor du schläfst“ lautet der Original- in der zynischen und bösartigen Tante titel von Ullmanns Roman. „Schlaflosig- Selma angemessen porträtiert. „Und meine Mutter“, sagt Ullmann, „sah das ge* Bei Linn Ullmanns Hochzeit 1989. nauso.“ Marianne Wellershoff 280 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur Andrej Tarkowski und Grusel-Sentenzen wie „Die Wahrheit ist eine Lüge“ geradezu ideal, um alle trüben Vorurteile gegen Venedig, die alljährliche Feier der hohen Kino-Kunst, aufs Niederschmetterndste zu belegen. Verblüffenderweise aber schafften es beide nicht in den Wettbewerb, sondern wurden in eine Nebenreihe verbannt. In Venedig nämlich sollte diesmal alles jünger, leichter, lebendiger sein; dafür hatten sich die Veranstalter des traditionsreichsten internationalen Filmfests extra einen neuen Festivalleiter ausgeguckt. Alberto Barbera, 49, Filmkritiker und zuvor Organisator eines kleineren Kinospektakels in Turin, hatte für die diesjährigen 56. Venedig-Festspiele eine geradezu radikale Kur versprochen. Statt die üblichen Autorenfilmer mit ihren jüngsten Werken sozusagen automatisch einzuladen, gelobte er „Neugier auf junge Talente“, die Kandidaten für den Hauptpreis wollte er „mit extremer Offenheit, aber ohne Kompromisse“ aussuchen und die Zahl der Wettbewerbsteilnehmer reduzieren. Der Cineast Barbera hat gute Arbeit geleistet (so traurig es ist, dass bei seiner Vorauswahl sämtliche deutsche Kandidaten auf der Strecke blieben); die 18 um den Goldenen Löwen konkurrierenden Hauptfilme zeichneten sich dieses Jahr nach Meinung fast aller Venedig-Veteranen durch ungewohnt hohes Niveau aus – und doch musste Barbera erleben, dass zumindest die italienischen Medien die große KinoKunst ein wenig vernachlässigten. Die TV-Anstalten und Zeitungsleute des Gastgeberlandes ballerten sich in schöner Einmütigkeit auf das Hauptthema von Venedig ’99 ein: Wie viel Sex braucht, verträgt und erduldet der Kinomensch? Schon die Eröffnung mit Stanley Kubricks Nachlass-Werk „Eyes Wide Shut“ KINO Lasst uns über Sex reden Venedig, das Fest der hohen Film-Kunst, sollte sich unter neuer Leitung jünger und strenger präsentieren – doch alles drehte sich um die Frage: Wie viel Nacktheit verträgt das Kino? D das Elend sich abbilden lässt am Ende unseres Jahrhunderts! Der Italiener Giuseppe Bertolucci (der Bruder von Bernardo) und der Deutsche Fred Kelemen reisten zum Filmfestival in Venedig mit Werken an, die ihre Verschmocktheit bereits im Titel vor sich hertragen. Sowohl „Il dolce rumore della vita“ (Der süße Lärm des Lebens) wie „Abendland“ sind mit hölzernen Anleihen bei REUTERS ie Welt ist schlecht, und das Kino ist manchmal die reinste Geisterbahn. Da schwanken verlorene Gestalten durch knietiefes Wasser und ein immerfort verdüstertes Europa, ein Findelkind liegt blutüberströmt im Waschbecken einer Zugtoilette, und verlotterte Unglücksmenschen streunen ohne Arbeit und Hoffnung umher. Jedes Bild brüllt den Betrachter an: Sieh her, wie bedeutungsvoll und kostbar PR-Auftritt für Pornofilm AP Lustvolles Spiel am Lido „Eyes Wide Shut“-Stars Kidman, Cruise: Tun sie das, was alle Eheleute miteinander tun? 282 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 konnte da als Einstimmung herhalten: Tom Cruise und Nicole Kidman spazierten über den Lido, und die Fachleute debattierten noch mal über die eher keusche Darstellung erotischer Ausschweifung – und darüber, ob die beiden auch vor der Kamera taten, was Eheleute in aller Welt mitunter miteinander tun. Der Koreaner Jang Sun Woo zeigte dann in seinem Wettbewerbsfilm „Lies“ (Lügen) FOTOS: ROPI Kiarostami-Wettbewerbsbeitrag „Der Wind wird uns tragen“, US-Star Griffith*: Kino-Welten prallen ungefedert aufeinander auf sehr elegisch-elegante Weise, was eine 18-jährige Jungfrau und ein gut doppelt so alter Bildhauer treiben, wenn sie sich in eine sadomasochistische Affäre stürzen. Der keineswegs allzu provokante Film, so hieß es bald, habe den Vatikan zu Protesten bei der Festivalleitung veranlasst. Weiteren Stoff zum Thema lieferte, gleichfalls im Wettbewerb, der Belgier Frédéric Fonteyne mit „Une liaison pornographique“ (Eine pornografische Liebschaft): Ein Paar (Nathalie Baye und Sergi Lopez) findet zueinander, weil sich beide für eine bestimmte Sex-Praktik begeistern. Nur, und darin besteht der Witz des Films, erfährt der Zuschauer nie, um welch sensationelle Variante es eigentlich geht. Sobald die beiden, einander mehr und mehr verfallend, zur Sache kommen, schlägt der Regisseur den neugierigen Gaffern im Kinosaal die Tür vor der Nase zu. Egal, Sex ist immer ein toller Empörungsgrund: Ordentlich pornografisch ging es zu in „Guardami“ (Sieh mich an). Der Film des Italieners Davide Ferrario lief zwar nur in einer Nebenreihe, dafür benutzt er die (wie die Beteiligten beteuern, irgendwie dokumentarische) Story einer lebensgefährlich erkrankten Porno-Königin dazu, weibliche und männliche Geschlechtsorgane in Aktion abzubilden. „Guardami“ ist bescheuert, kein Zweifel – ob er aber dumm genug ist, um zu rechtfertigen, dass sich Schauspielerinnen wie Valeria Bruni Tedeschi und Francesca Neri in Venedig öffentlich über die Darstellung weiblicher Nacktheit im Gegenwartskino erregten, ist fraglich. Zumal sich Michelle Hunziker, schöne Ehefrau von Eros Ramazzotti und nebenbei auch ein bisschen Schauspielerin, von den Zeitungen als Sprecherin der Empörten zitieren ließ: Dergleichen würde sie Mann und Kindern nie antun. Haben wir Frau Hunziker nicht gerade auf sturzpeinlichen Nacktfotos in „Max“ posieren gesehen? Natürlich darf man das ganze venezianische Sex-Palaver durchaus als schönen Spaß werten, bei dem alle Beteiligten lustvoll mitspielten. Schon der diesjährige Festival-Trailer versuchte schließlich, erotischen Reiz und wunderbare Kino-Impressionen zu verknüpfen: Der Spot lässt die mit dem Zeichenstift leicht verfremdete Schauspielerin Asia Argento nackt in ein Schwimmbecken springen, wo sie lauter legendären Helden wie Ingrid Bergman, Greta Garbo und Jean-Paul Belmondo begegnet – das Kinofestival als TauchAusflug zu sagenhaften Schätzen. Aber die sind immer rar. Wie weit ist es etwa mit der neuen Kargheit her, die im Mai dazu geführt hatte, dass in Cannes fast ausschließlich Laiendarsteller mit Schauspielerpreisen bedacht wurden, und die den dänischen „Dogma 95“-Puristen zu weltweiter Berühmtheit verhalf? In Venedig präsentierte der Amerikaner Harmony Korine das Verwirrspiel „Julien Donkey-Boy“, das mit dem „Dogma“-Zertifikat geadelt ist: Man sieht einen jungen Schizophrenen (Ewen Bremmer aus „Trainspotting“), und man sieht den deutschen Filmemacher Werner Herzog in der Rolle eines Familienpatriarchen, der einem Haushalt von komplett Verrückten vorsteht. Freundliche Betrachter nannten Korines bunt-verwackeltes Panoptikum einen „echten Experimentalfilm“, in Wahrheit ist es schon fast eine Bankrotterklärung für Dogma: Schließlich ging es den Dogma-Mitstreitern ursprünglich nicht um das Zubereiten kunstsaurer Bildsalate, sondern um ein genaueres Abbild der Realität. Genauigkeit, Klarheit und eine nur manchmal nervenzehrende Gelassenheit demonstrierten in Venedig vor allem die Virtuosen des klugen Exotenkinos: der Iraner Abbas Kiarostami und die Chine* Im Film „Crazy in Alabama“. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 sen Zhang Yimou und Zhang Yuan. Kiarostamis „Der Wind wird uns tragen“ schildert den Ausflug einiger Hauptstadtmenschen aus Teheran zu einem Dorf im iranischen Teil Kurdistans und setzt die schiere Beobachtung an die Stelle einer Erzählfabel. Zu sehen sind Städter, die sich von einem kleinen Jungen durch eine rätselhafte Welt führen lassen und zwischendurch mit dem Handy auf einen Hügel stürmen. Yimou lässt eine 13-jährige Aushilfslehrerin aus der chinesischen Provinz in die Großstadt aufbrechen, um einen ihrer Schüler zurückzuholen; die Strenge und Geduld, die er in „Nicht einer weniger“ beweist, zeichnet auch den Film „Siebzehn Jahre“ seines Landsmannes Yuan aus: die Geschichte einer Schwestermörderin, die nach 17 Jahren im Gefängnis zu ihren Eltern zurückkehrt. So staunenswert der Rhythmus und die Erzählkunst dieser Filme aus fernen Welten sind, so nutzlos wäre der Wunsch, ihre Tugenden aufs Kino der westlichen Welt zu übertragen. Den Zauber von Venedig macht eher aus, wie ungefedert hier Welten aufeinander prallen – wobei der Rummel naturgemäß nicht den Asketen und Träumern aus China oder Iran gilt, sondern den allzeit von Fotografen belagerten Stars wie Antonio Banderas, Melanie Griffith und Catherine Deneuve. Selbst die Kunst-Begutachter am Lido diskutierten nicht allein über die schauspielerischen Vorzüge der Glamour-Diven, sondern auch (und besonders leidenschaftlich) darüber, ob und in welchem Maß Griffith und Deneuve die Arbeit von Schönheitschirurgen in Anspruch genommen haben: Auch in solchen Momenten, in denen der – sexistisch gesteuerte – Blick pralle Lippen und hohe Wangenknochen nach Spuren von Collagen-Einlagen absucht, verwandelt sich das Kino wieder in eine Geisterbahn. Wolfgang Höbel 283 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft SOVFOTO Prisma Russische Antarktisstation A N TA R K T I S Russischer Rückzug vom Südpol S eit nahezu einem Jahrzehnt darbt die russische Wissenschaft. Die Gehälter sind knapp, für Investitionen fehlt das Geld. Zu einem Opfer der chronischen Unterversorgung droht nun auch Russlands Südpolforschung zu werden. Über 200 Techniker, Geologen und Gletscherforscher arbeiteten einst während des antarktischen Sommers auf der Station Molodjoschnaja. Im ehemaligen russischen Hauptquartier, gelegen am Ostrand der südpolaren Eiskappe, motten derzeit Experten die gesamte Sta- tion ein. Ein ähnliches Schicksal droht auch der Küsten-Basis Mirnyj, bislang Ausgangspunkt für die Versorgung der Forschungsstation Wostok. Vor 42 Jahren wurde sie auf einem fünf Kilometer dicken Eispanzer gebaut, direkt über einem riesigen See, dessen Wassermassen samt der darin womöglich enthaltenen Lebensformen seit einer Million Jahren nicht mit der Außenwelt in Berührung gekommen sind. Russische Techniker haben eine Bohrung kurz vor der Seeoberfläche gestoppt; noch ist ungeklärt, wie sich steril Wasser entnehmen lässt. Ob russische Forscher daran teilnehmen werden, steht dahin. Die Hälfte der Wostok-Wissenschaftler ist bereits abgezogen, weil alle Lebensmittel und aller Treibstoff per Schlittentreck durch die polare Eiswüste herangeschafft werden müssen. Bei der Versorgung der Wostok-Basis, die außerhalb der Reichweite russischer Versorgungsflugzeuge liegt, sind die Russen nun auf Mithilfe von Antarktisforschern anderer Nationen angewiesen. FREIZEIT AU T O M O B I L E Fliegendes Ei Finger statt Schlüssel E ine „lautlos schwebende“ Aussichtsplattform für bis zu 80 Personen planen die Schweizer Architekten Robert Häfelfinger und Giuseppe Gerster. Ein eiförmiger Heliumballon mit Passagierabteil im unteren Bereich soll, an einem Seil gehalten, über lokalen Großveranstaltungen, etwa dem Münchner Oktoberfest oder dem Formel-1Grand-Prix von Monaco, in die Höhe steigen. Der 28 Meter breite und 56 Meter hohe Ballon kann am Schlepptau von einem Hubschrauber zum jeweiligen Einsatzort gezogen werden. Am Seil wäre eine Steighöhe von etwa 1000 Metern technisch realisierbar. Doch die schönste Aussicht, so die „Exposphere“-Erfinder, lasse sich etwa 300 Meter über dem Erdboden genießen. Aus noch größerer Höhe erscheinen Oktoberfestbesucher oder Rennwagen zu klein. „Exposphere“-Ballon über New York (Montage) d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 W ie Fahnder der Kriminalpolizei sollen Automobile künftig Fingerabdrücke identifizieren können. Die Entwickler der Autozuliefersparte von Siemens arbeiten derzeit an einem Startsensor, der vom Fahrer nur angetippt werden muss. In Sekundenbruchteilen analysiert ein optisches Erkennungsfeld im Armaturenbrett die Hautstruktur auf der Startsensor Fingerkuppe. Nur wenn sie mit derjenigen des Fahrzeugbesitzers oder einer anderen autorisierten Person übereinstimmt, startet die Bordelektronik den Motor. Das System könnte die aktuellen Wegfahrsperren weiter verbessern, da es auch den Autodiebstahl durch Zündschlüsselklau ausschließt. Nach Angaben des Herstellers soll der Fingersensor in spätestens zwei Jahren serienreif sein. 285 Prisma Computer AU K T I O N E N Babys, Nieren und die Wahrheit im Angebot I AP mmer häufiger muss das kalifornische Online-Auktionshaus eBay in das Treiben auf seiner Webseite eingreifen. Dass dort Hitlers „Mein Kampf“ in der Originalausgabe von 1933 feilgeboten wird, mochte die Betreiberin Meg Whitman noch hinnehmen, nicht aber die Offerten „verkaufe eine Niere“ und „ungeborenes Baby, abzugeben von zwei Jurastudenten aus Chicago“ (der Intelligenzquotient der Eltern konnte angefordert werden). Während für ein weiteres inseriertes Kind 109 000 Dollar geboten eBay-Chefin Whitman wurden, war ein Patient sogar bereit, für die Niere 5,7 Millionen Dollar zu zahlen. eBay schritt ein, unterband den obskuren Handel und erklärte, die Angebote seien wohl nichts als üble Scherze. Neben diesen sittenwidrigen Offerten lockten die Online-Auktionen in letzter Zeit noch mit anderen skurrilen Inseraten. Im April bot ein Händler 16 Kommunikations-Ingenieure zum Verkauf an. Bedingung: Die Männer seien nur als Gruppe ins kalifornische Silicon Valley erhältlich. Im Juni machte die „Kolumnen schreibende Küchenschabe Bernie“ ein besonders verlockendes Angebot: Zum Verkauf stand die Wahrheit. Das höchste Gebot betrug 565 Dollar. VIDEOSPIELE Uni-Personal im Computer-Stress Digital-Kamera „DC215 Zoom“ KAMERAS Megapixel für unterwegs W er bislang eine Digital-Kamera erstehen wollte, stand vor der Wahl: Entweder er investierte über 1500 Mark für ein Gerät mit über zwei Millionen Bildpunkten, oder er bekam für wenig Geld eine sehr viel schlechtere Auflösung. Doch langsam bessert sich die Qualität auch im unteren Preissegment. Eine Kamera mit einer Million Bildpunkten stellt Kodak mit der „DC215 Zoom“ vor. Das 800 Mark teure Gerät hat ein Weitwinkel-Zoom-Objektiv mit einer Brennweite von 29 bis 58 Millimetern. Auf einer vier Megabyte CompactFlash-Karte kann die Kamera maximal zwölf Bilder im Format 1152 mal 864 Pixel speichern. Für eine schnelle Übertragung auf den Laptop liefert Kodak für 30 Mark zusätzlich einen PCMCIAAdapter. 286 80 % D er in die Jahre gekommene Taschen-Spielcomputer „Game Boy“ von Nintendo soll im Sommer nächsten Jahres als „Game Boy Advance“ eine Renaissance erleben. Der Rechner wird voraussichtlich mit einem 32-Bit-Prozessor von ARM ausgestattet sein. Zentrale Neuheit aber ist die OnlineSchnittstelle, mit der sich die Geräte übers Internet verbinden lassen. In Japan kommt im April zunächst ein Adapter für die aktuellen „Game Boy Color“-Geräte in den Handel, mit dem mehrere „Game Boys“ übers Handy in Kontakt treten können. Das größte Problem der neuen Netz-Spielgeräte sieht ein Pressesprecher von Nintendo bei den Telefonkosten. Weil Kinder keine Kreditkarten besitzen, sei noch unklar, wer die Telefonrechnung begleicht. 60 % 40 % 20 % 0% Taschen-Spielcomputer „Game Boy“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 unter 35 45 55 65 Jahre 35 Jahre bis 44 bis 54 bis 64 und älter HOCHSCHULEN Frust durch PC D GAMMA / STUDIO X F. SCHUMANN / DER SPIEGEL Game Boy geht online ie technologische Vorhut, Speerspitze des Intellekts, überfordert von Computern? Das „Higher Education Research Institute“ in Los Angeles hat rund 34 000 Hochschulangehörige zu ihrer beruflichen Situation befragt. Fast 70 Prozent gaben an, dass ihnen der Druck, wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen, und die Pflicht, Studenten zu unterrichten, weniger zu schaffen macht als die Komplexität der PC-Technik. Am wenigsten beeindruckt zeigten sich in dieser Hinsicht jüngere Mitarbeiter. Trotz des Stressfaktors Technik waren aber auch unter den älteren Befragten neun von zehn Universitätsangehörige der Meinung, dass der Einsatz von Computern die Lern-Leistung der Studenten steigere. Werbeseite Werbeseite AFP / DPA Technik US-Soldaten bei digitalem Manöver, jugoslawische Flugabwehr gegen Nato-Luftangriffe: Mit unsichtbaren Waffensystemen wird eine Nation M I L I TÄ R T E C H N I K „Die Fronten sind überall“ Im Kosovo-Krieg gelang es US-Militärs offenbar, fiktive Flugzeuge in die Zielcomputer der serbischen Flugabwehr zu zaubern – ein Vorspiel zum Krieg der Zukunft? Die weltweiten Datennetze könnten zum Schlachtfeld werden. Mit Hilfe von Computer-Viren und geheimen Zugangscodes lässt sich die digital gesteuerte Infrastruktur des Gegners attackieren. E lf Wochen feuerte die serbische Flugabwehr. Doch die Raketen explodierten meist im Leeren. Nur zwei Flugzeuge – einen Tarnkappenjet vom Typ F117A und einen F-16-Jagdbomber – verlor die Nato im Kosovo-Krieg durch Abschuss. Eine der Ursachen für die erstaunlich geringe Trefferzahl der jugoslawischen Abwehr wird nun deutlich: Im Krieg auf dem Balkan wurde offenbar erstmals eine Waffe eingesetzt, welche die künftige Kriegsführung total umkrempeln dürfte. Viele der serbischen Raketen trafen durchaus ihr Ziel – doch dieses erwies sich als Phantom. Denn US-Elektronikexperten hatten die Computer der jugoslawischen Flugabwehrsysteme manipuliert: Die Radaroffiziere sahen auf ihren Monitoren feindliche Flugzeuge aufblitzen, wo in Wahrheit nur leerer Himmel war. Die Einspeisung der virtuellen Ziele, so berichtet das US-Fachblatt „Aviation Week 288 & Space Technology“, sei einfach gewesen. Auch hätten die USA im Kosovo-Krieg „mit Hilfe ihrer Computernetze die Stromversorgung und die Kommunikationswege“ des Gegners lahm legen können, behauptet einer der Experten, die im USVerteidigungsministerium derzeit unter strenger Geheimhaltung den jüngsten Balkan-Krieg analysieren. Er wird, so viel scheint sicher, als eine Art Vorspiel einer neuen Kriegsführung in die Geschichte eingehen, die unter den Strategen RMA genannt wird. Das Kürzel steht für „Revolution in Military Affairs“. Mit der Umwälzung streben die Militärs einen Krieg an, der ohne Sprengstoff und Bomben („War by other means“ – WBO) ausgefochten wird, wenn möglich ohne Tote („zero death“). Zum unblutigen Schlachtfeld werden die weltweit gespannten Datennetze mit all ihren Verzweigungsästen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Sieger der neuartigen Waffengänge ist, wer sich die Kontrolle über möglichst viele Informationen verschafft. Der Verlierer ist der Informationsüberlegenheit seines Gegners ausgeliefert. Die Vorbereitungen auf den Cyber-Krieg laufen auf Hochtouren. Das Tempo wird, anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, nicht von den Militärs und deren Waffennarren vorgegeben. Die Informationskrieger hecheln hinter der Hard- und Software her, die im letzten Jahrzehnt von den Experten in den Computerfirmen, Halbleiterlabors und Denkfabriken der freien Wirtschaft ausgetüftelt wurden. Der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA hat in seinem Hauptquartier in Langley (Virginia) vor drei Jahren eine Stabsstelle eingerichtet, deren Mitarbeiter sich ausschließlich um den Informationskrieg („Information Warfare“ – IW) kümmern. Auch die supergeheime National Se- REUTERS paralysiert, ohne dass ein einziger Soldat ins Feld geschickt werden muss lysieren können, ohne dass ein einziger Soldat an die Front geschickt werden muss. Was sich wie Science-Fiction-Thriller liest, ist häufig schon Realität, wie der amerikanische Militär- und Geheimdienstjournalist John Adams in seinem neuesten Buch „The Next World War“ deutlich macht. In diesem fiktiven Großkrieg sind laut Untertitel „die Computer die Waffen“ und „die Fronten überall“. Die Voraussetzungen für eine neue Form von Krieg sind bereits vorhanden: Dieselben Netze, durch die sich Banküberweisungen, persönliche E-Mails, Einsatzpläne für Vertreterkolonnen oder Hotelreservierungen befördern lassen, eignen sich auch zum Versand von Desinformationen sowie von Daten, die Kraftwerke, Flugkontrolle oder Bankenverkehr lahm legen D. BURNETT / CONTACT / AGENTUR FOCUS curity Agency (NSA), die Amerikas Abhöreinrichtungen in aller Welt betreibt, mischt auf diesem Gebiet mit. In einem 1996 erschienenen Report werden die Aufgaben der Geheimdienste definiert: Sie sollen den Vereinigten Staaten „die globale Informationsüberlegenheit“ verschaffen. Hilfe dabei erhalten die CIAund NSA-Trupps durch Kollegen in neuen Sonderabteilungen, die inzwischen bei allen Waffengattungen der US-Streitkräfte und auch bei der Bundespolizeibehörde FBI ihren Dienst aufgenommen haben. Vor einigen Jahren noch, sagt der amerikanische Experte für Informationstechnik, Howard Frank, habe „niemand die Möglichkeiten und Auswirkungen eines Informationskrieges ernst genommen“. Nun sind tausende von Info-Spezialisten damit beschäftigt, die USA für einen digitalen Waffengang zu rüsten, aber auch Frühwarnsysteme und Abwehrmechanismen gegen IW-Angreifer zu entwickeln. Regelmäßig testet die neue Kaste der Cyber-Krieger in Simulationsübungen und Kriegsspielen ihre Kenntnisse. Nur gelegentlich sickern Einzelheiten über den Verlauf der im Computer ausgefochtenen „War Games“ an die Öffentlichkeit. Zu den Quellen zählen etwa Studien, die der US-Kongress von unabhängigen Gremien oder angesehenen Denkfabriken durchführen lässt. Auch eine Reihe von Büchern über das neue Kapitel der Militärgeschichte ist inzwischen erschienen. Es geht darin um stumme und unsichtbare Waffensysteme, die eine ganze Nation para- und so eine Wirtschaft kollabieren lassen können. Das Elektron als kleinster Baustein der Datenverarbeitung, sagt John Deutch, ehemals Direktor der CIA, „ist die ultimative Präzisionswaffe“. Angreifen und manipulieren lassen sich die elektronischen Telekommunikationssysteme vielfach heute schon, so etwa durch: π Viren – Programm-Codes, die Datensätze manipulieren und sich selbständig vermehren; bekannt sind derzeit knapp 17 000 Viren, fünf Prozent von ihnen gelten als potenziell gefährlich; π Würmer – Programme, die geheime Daten wie Passwörter oder Codes ausspähen und dem Absender melden; π Logische Bomben – Software, die unter bestimmten Konstellationen zum Beispiel große Datensätze zerstört; π Falltüren – in Software eingebaute Geheimzugänge, die ein Eindringen in das System unter Umgehung gängiger Sicherheitsvorkehrungen erlauben; π Elektromagnetische Pulse (EMP) – energiestarke, sehr kurzwellige Strahlung, die elektronische Anlagen in Bruchteilen von Sekunden zerstören kann, selbst wenn diese ausgeschaltet sind. Dass die Vereinigten Staaten als derzeit einzige militärische Supermacht und technisch fortgeschrittenste Nation zugleich auch besonders verwundbar ist, zeigte ein Kriegsspiel, das Amerikas höchste Militärs vorletzten Sommer anberaumten. Aufgabe eines feindlichen „Red Team“ war es, im Verlaufe des Unternehmens mit dem Codenamen „Eligible Receiver“ (Befugter Empfänger) die Fähigkeit der USStreitkräfte und der politischen Führung zu testen, einem massiven „Cyber-Angriff“ zu widerstehen. Die roten Hacker waren gehalten, nur solche Techniken und Informationen zu nutzen, die öffentlich zugänglich waren, etwa im Internet von jedermann abrufbar. Nach drei Monaten hatten die Hacker es geschafft: Amerikas Fähigkeit zur Führung eines Krieges war lahm gelegt. Offenbar geschockt vom Ausmaß der eigenen Verwundbarkeit, verfügten die US-Verteidigungsministerium: „80 bis 100 Hacker-Angriffe pro Tag“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 289 Technik R. FURSA / IMAGES.DE REUTERS Die Modernisierung wurde so rasch be- knipsen, die das Telefonnetz ausschalten Kriegsspielstrategen die höchste Geheimhaltungsstufe über die Ergebnisse der Nie- trieben, dass die Spezialisten für den und das Verkehrssystem lahm legen“, bederlage. Aus Sorge, dass die aufgezeigten Schutz gegen unbefugte Zugriffe nicht mit- teuert Clarke. Jeder Angriff auf den „ameSchwachstellen nicht behoben würden, halten konnten. Ergebnis: „Die amerika- rikanischen Cyberspace“ sei ein Angriff ließen einige Mitspieler Einzelheiten nischen Verteidigungssysteme wurden ge- auf die Vereinigten Staaten, „so als landegen Cyber-Angriffe zunehmend verwund- ten Soldaten an der Küste von New Jerdurchsickern. „Mit bemerkenswerter Leichtigkeit“, bar“, so das Fazit einer Studie, die das Na- sey“. Doch noch ist die Gefahr von Attacken so berichtet Buchautor Adams, gelang tional Research Council im Auftrag des USes den Hackern, „die gesamte Logistik Kongresses erstellte. Seit einigen Monaten aus dem Ausland gering. Denn gegenüber durcheinander zu wirbeln“: Eine Jet- steht der 298 Seiten umfassende Report im potenziellen Gegnern wie etwa der darniederliegenden Ex-Weltmacht Russland Staffel hatte Raketen angefordert – die Internet. und der aufstrebenden RegionalHacker klinkten sich ins Nachmacht China genießen die Compuschubnetz ein und änderten den ter-Nationen des Westens und ihre Bestellzettel; Folge: Statt der beasiatischen Zuarbeiter wie Japan, stellten Luft-Boden-Raketen wären Taiwan oder Indien eine gewaltige im Ernstfall Scheinwerfer angelieInfo-Übermacht. fert worden. Als Russland beispielsweise bei In einer anderen Spielsituation IBM und Siemens 100 Großrechner warteten hunderte von Soldaten für den zivilen Einsatz bestellte, stundenlang auf einem Flugplatz, machte die CIA schnell als tatsächvon dem aus sie mit Zivilflugzeulichen Empfänger das Moskauer gen ins Einsatzgebiet geflogen werVerteidigungsministerium aus. Die den sollten. Die TransportanfordeSoftware wurde daraufhin mit alrung war ordnungsgemäß erteilt, lerlei Fallen, Viren und Logischen doch die vom roten Hackerteam Bomben gespickt und ausgeliefert. umgeleiteten Jets waren längst zu Vor dem Einsatz nahmen Expereinem anderen Einsatzort unter- Jet-Start von Flugzeugträger: Scheinwerfer statt Raketen ten des russischen Geheimdienstes wegs. Im Gegensatz zu den Militärs, denen FAPSI, Pendant zur amerikanischen NSA, Solche Spiele werden vor realem Hintergrund ersonnen: Die Anzahl der Versu- beigebracht wird, das Unkalkulierbare zu die Großlieferung aus dem Westen unter che von Hackern, in die Datenbanken des erwarten und sich darauf einzustellen, ha- die Lupe. Ob es ihnen gelang, alle unerUS-Verteidigungsministeriums einzudrin- ben Amerikas Unternehmer und Politiker wünschte digitale Fracht zu tilgen, ist ungen, belaufe sich, so der stellvertretende häufig Schwierigkeiten, die unsichtbaren gewiss. Nachhaltig prägte dieser Betrug die US-Verteidigungsminister John Hamre, auf Angriffe auf die Computer der Nation ernst zu nehmen. russische Haltung gegenüber Amerikas „80 bis 100 pro Tag“. Wenn Richard Clarke, von Clinton be- InfoKriegern, die aus Moskaus Sicht geFür Surfveteranen sind die Computer im Fünfeckbau am Ufer des Potomac eine rufener Terrorismus-Experte im Weißen gen Ende der neunziger Jahre damit bebeliebte Spielwiese. 95 Prozent der „nicht Haus, amerikanischen Konzernbossen die gannen, die russische Kommunikationsgeheimen“ militärischen Kommunikation Gefahr eines Cyberwars erläutert, „dann technik unter ihre Kontrolle zu bringen – laufen über öffentliche Datennetze. Zu glauben die, ich würde von einem 14-jähri- mal im Zuge der Privatisierung russischer großen Teilen besteht die Welt im Pentagon gen Hacker reden, der ihnen ihre Web-Sei- Hightech-Firmen mit westlichen Krediten, mittlerweile aus marktgängiger Hard- und te kaputt macht“. Dabei gehe es ihm um mal durch die Lieferung weiterer „Leute, die in einer Stadt das Licht aus- Großrechner und Server, vor allem aber Software. durch die verstärkte Lieferung von Personalcomputern. Im Januar 1995 war jeder vierte der 1,2 Millionen russischen Computer in Russland hergestellt; ein Jahr später waren vier Millionen Computer in Betrieb, von denen fast keiner mehr aus russischen Fabriken stammte. „Sämtliche Geräte, die wir inzwischen für unsere Infrastruktur einsetzen“, sagt der russische Sicherheitsexperte Witalij Zygitschko, „sind westlichen Ursprungs. Und niemand weiß, was in ihnen wirklich verborgen ist.“ Sie könnten die Grundlage jener „Informationswaffen“ bilden, mit denen die russischen „Informations- und Telekommunikations-Systeme penetriert werden können, um Informationen zu stehlen, zu deformieren oder zu zerstören“, heißt es in einem 60 Seiten umfassenden Dokument, das dem amerikanischen Autor Adams vom FAPSI übersandt wurde. Ein- und Angriffe auf „automatisierte oder kritische Technologien“, befürchten die Geheimdienstler, könnten schließlich „Russlands wirtschaftlichen, politischen, Kommandozentrale des Energiekonzerns Gazprom in Moskau: Mit Leichtigkeit lahm legen? 290 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 292 d e r TIERE Lächelnde Killer TV-Star, verspielter Menschenfreund und Lebensretter – der Delfin gilt als Publikumsliebling unter den Wildtieren. Jetzt gerät das Bild ins Wanken. A lles begann mit dem Fund der Mordopfer. Tierärzte und Biologen hatten tote Schweinswale gefunden, gestrandet im Moray Firth, einer Bucht im Nordosten Schottlands. Ben Wilson, Meeresbiologe an der Universität von Aberdeen, untersuchte die Ka- ABERDEEN UNIVERSITY technischen und ökologischen Interessen schweren Schaden zufügen“. Was können die Info-Krieger wirklich? Das im Unklaren zu lassen, ist schon Teil der Schlacht um die Informationshoheit. Die NSA betrachtet jedes Bit auf der Welt als ihr Operationsgebiet. Auf jede Datei sucht sie sich das Zugriffsrecht zu sichern. Strenge Exportrichtlinien verbieten amerikanischen Softwarefirmen, wirkungsvolle Verschlüsselungsprogramme auf den Weltmarkt zu bringen. Ohne viel Aufhebens haben sich die großen Softwarekonzerne mit den Begehrlichkeiten der Infowar-Strategen arrangiert. So baut die Firma Lotus in die Exportversion ihrer „Notes“-Software, die in vielen Konzernen den internen E-MailAustausch verwaltet, eine Art Sollbruchstelle in den Code ein. Der Schlüssel, der Firmengeheimnisse vor neugierigen Blicken schützen soll, ist zweigeteilt: Fremde Eindringlinge müssten einen PC jahrzehntelang knobeln lassen, um eine verschlüsselte Nachricht zu entziffern; die NSA jedoch kennt einen Teil des Schlüssels, und den exportgenehmigten Rest, so vermuten Kryptologen, können ihre Spezialrechner innerhalb von Minuten oder Sekunden knacken. Vorletzte Woche geriet auch Microsoft ins Zwielicht. Als ein Sicherheitsspezialist die neueste Version des Betriebssystems „Windows NT“ unter die Lupe nahm, das auf Millionen von Rechnern weltweit den Datenverkehr regelt, stieß er auf das verdächtige Kürzel „_NSAKEY“ in einem Programmteil, der für die Einbindung von Verschlüsselungstechnik in das Betriebssystem verantwortlich ist. Wozu der bis vor kurzem unbekannte Zweitschlüssel mit dem verdächtigen Namen dient, konnte der Konzern nur gewunden erläutern. Es handele sich um einen Reserveschlüssel für den Fall des „Verlusts des Primärschlüssels“, sei aber unter Microsofts Kontrolle und „zu keinem Zeitpunkt Institutionen oder Behörden bekannt gegeben“ worden. Kryptologen zweifeln an dieser Lesart. Heftig tobt im Internet die Diskussion über die Tragweite der Entdeckung. Wäre der „_NSAKEY“ doch im Besitz des Supergeheimdienstes – so meinen einige –, könnten die NSA-Experten womöglich manipulierte Software als Microsoftprodukt ausgeben und so den Geheimnisschutz nach Belieben aushebeln. „Haltlose Spekulationen“, erklärt der Gates-Konzern. „Microsofts Erklärungen sind weder logisch noch befriedigend“, findet dagegen SPD-Technologiexperte Jörg Tauss. Schriftlich forderte er die Minister für Inneres, Wirtschaft, Forschung und Justiz auf, zu prüfen, ob man es angesichts der undurchsichtigen Lage verantworten könne, in „sicherheitsrelevanten Bereichen noch Microsoft-Systeme einzusetzen.“ Rainer Paul, Jürgen Scriba Getöteter Schweinswal, „Delfintherapie“ für daver. Die Tiere hatten gebrochene Rippen, innere Blutungen und Prellungen am ganzen Leib. Bei einigen hatten die Rippen die Lungenflügel zerfetzt. Alles deutete auf äußere Gewalteinwirkung hin. Waren die Wale mit Fischerbooten kollidiert oder in Netze geraten? Dazu, so fanden die Forscher schnell heraus, passte das Verletzungsmuster nicht. Verräterisch schienen ihnen vor allem charakteristische, dreieckige Wunden in der Haut einiger Opfer. Sie lagen auf einer Linie und gingen in parallel verlaufende, oberflächliche Kratzer über. Wilson tippte auf Biss-Spuren und vermaß den Abstand der Wunden. Das Ergebnis erlaubte kaum einen Zweifel: Den passenden Kiefer hat einzig der Große Tümmler, bekannt als Hauptdarsteller der Kinder-Serie „Flipper“. Im s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Wissenschaft den Lippen, der Schiffbrüchige rettet und Schwimmer vor Haien beschützt, wird vielerorts Profit geschlagen. Kommerzielle Organisationen karren Touristen vor die Küste Floridas, wo sie mit Delfinen schwimmen können. Allein der Anblick eines Delfins, so eine Werbebroschüre, komme einer Erleuchtung gleich. Auf den Bahamas verspricht das „Delphines Centre“ zahlungskräftigen Kunden Begegnungen mit wilden Delfinen. „Die Liebe und hohe Intelligenz dieser Tiere verändern die Menschen“, schwärmen die Anbieter. Im israelischen Eilat und in Florida soll die „Delfintherapie“ behinderten Kindern helfen. „Wir haben so ein positives Bild von Delfinen“, sagt Dale Dunn, Veterinär aus Washington, „dass uns Gewalt unter diesen Tieren total verstört.“ Bislang gibt es zwar cken auf Jungtiere und Schweinswale, die mit purer Mordlust nicht viel zu tun haben. Möglicherweise töten männliche Delfine den Nachwuchs anderer Männchen, um die Weitergabe des eigenen Erbguts zu gewährleisten. Große Tümmler kalben in der Regel nur alle zwei bis vier Jahre und bleiben in der Zwischenzeit sexuell inaktiv. Verliert ein Weibchen sein Junges, ist es meist schon nach wenigen Tagen wieder zur Paarung bereit. Für ein fortpflanzungswilliges DelfinMännchen könnte der Mord an einem fremden Jungtier somit die einzige Möglichkeit sein, die eigenen Gene weiterzugeben, zumal in einer so kleinen Population wie der im Moray Firth, wo die Anzahl geschlechtsreifer Weibchen gering ist. Solche Fälle von Kindstötung sind im Tierreich nicht unbekannt. Auch Schim- D. ATLAN / GAMMA / STUDIO X Moray Firth leben die einzigen Großen Tümmler der Nordsee, eine Population von rund 130 Tieren. „Mein Gott“, dachte Delfinforscher Wilson, „die Tiere, die ich seit zehn Jahren erforsche, bringen Schweinswale um!“ Wenig später wurden die Wissenschaftler selbst Zeugen, wie eine Gruppe von Delfinen Jagd auf einen Schweinswal machte. Die Delfine rammten das kleinere Tier und griffen es wiederholt brutal an, bis es aus dem Blickfeld der Beobachter verschwand. Die Verwirrung um diese scheinbar grundlose Mordlust wuchs, als die schottischen Biologen auch die ähnlich verstümmelten Leichen von Delfinkälbern am Strand fanden. Später musste Wilson vom Boot aus sogar fast eine Stunde lang zusehen, wie ein erwachsener Delfin ein of- behindertes Kind (in Florida): Scheinbar grundlose Mordlust fenbar bereits totes Jungtier immer wieder heftig auf die Wasseroberfläche schlug. „Das sind die ersten Berichte von Kindsmord unter Meeressäugetieren“, schrieb Wilson vergangenes Jahr in einem britischen Fachblatt. Inzwischen häufen sich die Beweise für den Infantizid. Vor der Küste Virginias entdeckten US-Veterinäre mehrere verendete Delfinkinder mit Prellungen und Rippenbrüchen. Eins von ihnen zeigte außerdem die typischen Biss-Spuren. Das von TV-Serien und Reiseveranstaltern propagierte Bild des gutmütigen Delfins wankt seither. Die „New York Times“ erklärte den Delfin gar zum blutrünstigen Killer, „weit entfernt vom glücklichen, friedfertigen Wesen, das die Menschen zu kennen glauben“. Aus dem Mythos vom intelligenten, hilfsbereiten Flipper mit dem Lächeln auf keine gesicherten Hinweise darauf, dass Menschen von Delfinen angegriffen werden. Dennoch warnt Dunn: „Wilde Delfine verdienen denselben Respekt wie andere wilde Tiere.“ Für den Biologen Thomas Orthmann vom Institut für Meereskunde der Universität Kiel ist die Aufregung um die „Killerdelfine“ indes kaum verständlich. „Meeresbiologen wissen schon länger um das Gesamtspektrum der Verhaltensäußerungen dieser Tiere“, so Orthmann. „Für uns sind diese Erkenntnisse nicht neu und auch nicht überraschend.“ Das scheinbar freundliche Grinsen der Tiere lasse leicht vergessen, dass es sich um frei und wild lebende Tiere handelt, die auf der Grundlage evolutionär geprägter Verhaltensmuster agieren. So gibt es wissenschaftliche Erklärungen für die Attad e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 pansen oder Löwen töten gelegentlich den Nachwuchs anderer Männchen. „Vom Killerschimpansen hat deswegen noch niemand gesprochen“, sagt Biologe Orthmann, „dabei stehen uns die Primaten entwicklungsgeschichtlich viel näher als die Delfine.“ Dass häufig auch Schweinswale angegriffen werden, könnte mit dem Infantizid zusammenhängen. Da sie etwa so groß sind wie die getöteten Delfinkälber, wäre es möglich, dass die Delfine das Töten von Jungtieren erproben. „Aus menschlicher Sicht erscheint das schrecklich und brutal“, räumt Orthmann ein, „trotzdem kann es dafür eine pragmatische Erklärung geben.“ Letztlich sei der Delfin, trotz aller Eigenschaften, die ihm der Mensch andichte, „auch nur ein Tier“. Julia Koch 293 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Technik S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Das Auto ist ein Container“ Automobildesigner Giorgetto Giugiaro über die Uniformität moderner Karosserien, die Protzlust der Autofahrer und die Notwendigkeit strengerer Gesetze zur Eindämmung der Blechlawine Giorgetto Giugiaro zählt zu den erfolgreichsten Automobildesignern der Welt. Giugiaro, 61, entwarf den ersten VW-Golf, aber auch Exoten für Ferrari und Maserati. Schon als junger Kunststudent hatte er eine Vorliebe für Autoskizzen entwickelt und damit das Interesse des Fiat-Chefkonstrukteurs Dante Giacosa geweckt, der den gerade 17-Jährigen 1955 als Designer einstellte. 1967 machte sich Giugiaro, Enkel eines Piemonteser Freskenmalers, selbständig und verlegte sich auf Großserienfahrzeuge. In seiner Firma Italdesign wurden mittlerweile über 80 später in Massen produzierte Autos entworfen. 296 worfene VW Golf wurde zum Vorbild moderner Massenautos. Sind Sie der Schuldige für das monotone Einheitsdesign auf den Straßen? Giugiaro: Der Vorwurf ist verständlich, aber ungerecht. Als Autodesigner können Sie keine Skulpturen nur fürs Auge machen. Die Architektur des Automobils ist enormen technischen und ökonomischen Zwängen unterworfen. SPIEGEL: Der deutsche Designer Luigi Colani behauptete, Sie hätten die „Schuhschachtel auf Rädern“ erfunden. Giugiaro: Ich gehe noch weiter: Das Auto ist ein Container. Sehen Sie, der Container verkörpert die maximale Rationalität der Raumnutzung – das ist logisch. Machen Sie einfach nur eine Kugel und einen Würfel mit dem gleichen Durchmesser. Der Würfel bietet mehr Platz. Genauso ist das mit den Autos. Je rundlicher sie sind, desto enger sind sie. Colani, der sich mehr als Bildhauer versteht, denkt nur an sich und vergisst diese anderen Kriterien. SPIEGEL: Diesen Kriterien folgend haben Architekten und Designer die Welt weitgehend verschachtelt. Die Städte sind übersät mit Schachtelhäusern, die Straßen verstopft mit Schachtelautos. Giugiaro: Das sehen Sie zu undifferenziert. Schauen wir uns doch selbst an. Sie und ich, wir haben keine völlig verschieden geformten Nasen, Münder, aber die Proportionen sind ein wenig anders. Dennoch wird es uns nicht gelingen, nur auf Grund dieser Proportionen zu unterscheiden, wer der Schönere ist. Auch bei den Autos, die alle gleich erscheinen, sind diese Unterschiede vorhanden. SPIEGEL: Wie konnte der von Ihnen entworfene Fiat Panda, mit dem Sie das rationale Schachtelprinzip auf die Spitze getrieben haben, zum Kultauto werden? Giugiaro: Der Panda ist der totale Container, seine Form fast schon militärisch. Im Militärwesen ist man sehr rational. Der Panda-Fahrer sieht genau darin einen Wert. Er lehnt unnütze Barockismen ab und begreift die Einfachheit als Schönheit. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Ihre Vorfahren waren Freskenmaler in Kathedralen und Schlössern. Was würde ein Michelangelo zum heutigen Gebrauchsdesign sagen? Giugiaro: Er wäre schockiert. Denn er könnte die Gründe für die Evolution der For- AUTO, MOTOR UND SPORT L. VITALE / GRAZIA NERI SPIEGEL: Herr Giugiaro, der von Ihnen ent- Neue Bugatti-Studie von Giugiaro „Freiheit wird zur Verrücktheit“ men nicht sofort nachvollziehen. Ein Bildhauer bekam damals Aufträge von einer Elite schwerreicher Menschen. Er musste sich um die Masse der Menschen, die nicht einmal ein Pferd hatten, um von Florenz nach Bologna zu reiten, nicht kümmern. Genau das müssen Designer heute tun. Das ist der Grund für Formen, die Sie als monoton und langweilig empfinden. SPIEGEL: Als Autodesigner würde Michelangelo scheitern? Giugiaro: Ja. Es sei denn, er würde alles, was ihn ausmacht, was ihn einzigartig macht, ablegen. SPIEGEL: Würden Sie lieber als Bildhauer in einem vergangenen Jahrhundert leben? Giugiaro: Unglücklicherweise bin ich in diesem Jahrhundert geboren. Natürlich bedaure ich es zuweilen, nicht die Freiheiten eines Renaissancemalers zu haben. Ich gehe gern in eine Kunstausstellung und trenne mich in Gedanken völlig von den Zwängen meines Berufsfelds – Computern, Fließbändern, Produktionstechniken. SPIEGEL: Die unmittelbaren Vorgänger der Autodesigner haben doch im Prinzip viel schönere und komfortablere Fahrzeuge geschaffen, die hohen, geräumigen Kutschen. Giugiaro: Auch die folgten rationalen Anforderungen. Die Straßen waren holprig, voller Schlaglöcher. Darum brauchte man enorm große Räder. Doch so konnte es nicht weitergehen. Als die Geschwindigkeiten zunahmen, musste der Schwerpunkt immer weiter abgesenkt werden. SPIEGEL: Eine Fehlentwicklung? Giugiaro: In gewisser Hinsicht, ja. Heute sitzen die meisten Autofahrer so tief wie früher nur in Rennwagen, auch wenn sie gar nicht schnell mit ihren Autos fahren. Nehmen Sie die Amerikaner. Die lieben seit jeher flache Autos mit sportlichem Erscheinungsbild, obwohl ihre Tempolimits zu den strengsten der Welt gehören. SPIEGEL: Neuerdings wachsen die Autos doch wieder in die Höhe, manche so sehr, dass sie bei Testmanövern umkippen. Entwickelt sich das Auto zurück? Giugiaro: Nein. Solche Autos brauchen nur anspruchsvollere Fahrwerke, im Zweifelsfall elektronische Systeme, wie sie ja bereits eingeführt wurden. Das kriegt man technisch in den Griff. Es bleibt aber ein psychologisches Problem: Je höher ich sitze, umso stärker spüre ich die Seitenneigung des Fahrzeugs und bekomme Angst. Das ist die Schattenseite des größeren Komforts beim Einsteigen, des angenehmeren Raumgefühls. SPIEGEL: Was ist die wichtigste Eigenschaft des Automobils? Giugiaro: Die einfache Bedienbarkeit, der Komfort. Die bedeutendsten Verbesserungen des jüngeren Autodesigns sind der ebene Wagenboden und die hohe Sitzposition. In einem engen, niedrigen Sportwagen ist die Lebensqualität am schlechtesten. Lebensqualität hängt nicht nur von der Ästhetik ab. Sie wird davon bestimmt, wie ich wirklich in dem Gerät lebe, das ich benutze. Auch die Möbeldesigner konzipieren oft viel zu niedrige Sofas, die gut aussehen, aber den Erfordernissen des menschlichen Körpers überhaupt nicht entsprechen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 M. NYARY / AUTO BILD C. PIEPENBURG / AUTO BILD Technik Giugiaro-Entwürfe VW Golf (1974), Fiat Panda (1980): „Michelangelo wäre schockiert“ SPIEGEL: Mit Ihren Argumenten der reinen Ländern, was wünschen sie sich zuallererst? Sie wollen Autos. SPIEGEL: Bevorzugen Sie selbst auch Protzkarossen? Giugiaro: Als junger Mann wollte ich auch einen unkomfortablen, flachen Sportwagen, gegen jede Vernunft. Das ist ein ganz infantiler Reiz. Heute, glaube ich, bin ich etwas reifer. Da legt sich das. SPIEGEL: Was für ein Auto fahren Sie heute? Giugiaro: Einen Seat Ibiza Cupra … SPIEGEL: … das Topmodell mit Turbolader und 180 PS, immerhin. Das Automobil hat sich jeder Form von Aufklärung erfolgreich widersetzt. Ist es seine Aggressivität, die den Menschen so fasziniert? Giugiaro: Das Auto ist ein Produkt, das Stärke ausstrahlt. Das ist eine ganz wichtige Komponente. Allerdings müssen Sie als Designer auf eines achten: Je höher die Preisklasse, in der das Produkt angesiedelt ist, umso weniger darf diese Ausstrahlung offensichtlich werden. Weiter unten, bei billigeren Autos, können Sie sich mehr Frivolitäten erlauben. SPIEGEL: Welche Psychologie steckt hinter der Geländewagenmode? Giugiaro: Die Psychologie der Kraft, der Gewalt. Hier geht es um reinen Exhibitionismus. Ich sehe übrigens viele Frauen in Geländewagen. Zierliche Frauen kaufen einen bulligen Geländewagen, um sich die Stärke des Mannes anzueignen. Sie fahren damit in die Stadt, parken demonstrativ auf dem Gehsteig. Die Psychologie des Geländewagens lässt sich leicht durchschauen. Er ist ein Spielzeug der Selbstdarstellung. SPIEGEL: Energiekrisen und der Verkehrsinfarkt konnten die Urinstinkte des Automobilisten offensichtlich nicht verändern. Übermotorisierte Statussymbole dominieren auch in diesem Jahr wieder die Frankfurter IAA. Mercedes stellt einen Sportwagen mit über 500 PS aus. Giugiaro: Das Auto ist etwas sehr Nützliches, aber die Freiheit, die es dem Menschen gibt, wird zur Verrücktheit, wenn der Gesetzgeber nicht eingreift. Es wäre absolut sinnvoll, etwa die Länge der Autos auf vier Meter zu begrenzen. Vier Meter – und stopp! Oder das Gewicht auf 1200 Kilogramm. Dann natürlich auch den Verbrauch und die Motorleistung. Aber die Menschen wollen das nicht. SPIEGEL: Auch Sie schüren die Lust am Unsinn. Im Auftrag von VW haben Sie inzwischen die dritte Bugatti-Studie entworfen, ein Monsterauto mit 18 Zylindern. Giugiaro: Sicher. Das Auto ist die ständige Demonstration des Menschen gegen Restriktionen. Das kann und darf ein Autodesigner nicht ignorieren. SPIEGEL: Der größte Feind des Designers, behaupten Sie, sei das Marketing. Einmal sagten Sie, Sie würden die Marketing-Leute regelrecht hassen. Was haben die Ihnen denn getan? Giugiaro: Der Zwist zwischen Marketing und Design ist ein uralter Machtkampf. Die Marketing-Leute sind selbst völlig unfähig, ein Auto zu entwerfen, sie wollen uns DeP. VANN Vernunft könnte man das Auto auch gleich abschaffen. Es verbraucht zu viel Energie, zu viel Platz, verstopft die Städte … Giugiaro: Das Auto hat überlebt, weil es weit über seine Transportleistung hinaus ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt, den Wunsch nach Selbstdarstellung. Wer kein prächtiges Haus hat, keine schönen Bilder, keine schönen Möbel, der kann mit seinem Auto auf die Straße hinausfahren und sich fühlen wie ein wichtiger Manager. Das Auto, das eigentlich einem erheblich reicheren Menschen zusteht, kann sich im Zweifelsfall auch der Ärmere leisten. Das Haus niemals. SPIEGEL: Das Auto hat überlebt, weil die Menschen damit angeben wollen? Giugiaro: Zweifellos ist das einer der wichtigsten Gründe. Große, teure Autos werden in erstaunlich großer Zahl verkauft. Viele Menschen verschulden sich dafür. Das Auto ist das bedeutendste Wohlstandssymbol der Welt. Und dadurch wurde es auch ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Die Menschen in den nicht industrialisierten Zukunftsstudie von Alfa Romeo (1954): Flügel oder Kuckucksuhr? 298 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Technik 300 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 L. VITALE / GRAZIA NERI DPA signern aber alles vorschreiben, SPIEGEL: Wie würde Ihr Konzept weil sie glauben, alles analysiert funktionieren? zu haben, alles zu begreifen. Zu Giugiaro: Ein privater oder öfdominantes Marketing erstickt fentlicher Betreiber verteilt die die Kreativität. Den VW Golf einzelnen Autos in der Stadt wie hätte ich nach reinen MarketingEinkaufswagen im Supermarkt. Vorgaben nie so gemacht. Das Wer will, kann sich dann mit gilt auch für andere erfolgreiche der Scheckkarte ein Fahrzeug Autos, etwa den Fiat Punto. schnappen und so weit fahren, wie er möchte. Dort lässt er es SPIEGEL: Japanische und koreafür den nächsten stehen. Man nische Hersteller, für die Sie zuwürde es benutzen wie einen weilen auch arbeiten, bringen Omnibus. vorwiegend Autos im Null-Design auf den Markt. Bestimmen SPIEGEL: Und Sie glauben, da in Fernost die Marketing-Leute würden die Leute einfach mitalles? machen? Giugiaro: Nicht alles, aber sie doGiugiaro: Nicht freiwillig. Die minieren dort sehr. Das Markestädtischen Behörden müssten ting, heißt es, grenzt die Risiken die Straßen für andere Autos ein. Und die fernöstlichen Hersperren. Nur mit gesetzlichem steller fürchten nichts so wie das Druck haben intelligentere ProRisiko. Darum kopieren sie auch dukte eine Chance. Die aktuelso viel. Die Toyota-Luxusmarke len Gesetze geben nahezu abLexus folgt zum Beispiel Mersolute Freiheit. Keiner verbietet cedes. Das kann man ganz deutIhnen, ein Auto mit 40 Zylindern lich sehen. zu bauen und zu fahren. SPIEGEL: Vorausgesetzt, dass der SPIEGEL: Fordern Sie den autoMut zum Risiko nicht ganz verritären Staat, die Öko-Diktatur? schwindet, wie wird sich das Giugiaro: Zwang ist durchaus etAuto im Laufe der kommenden was Gutes. Ohne Zwang gibt es zehn Jahre verändern? keine intelligenten Lösungen. Frei zu sein ist nicht so schön. Giugiaro: Äußerlich wird sich da nicht so viel tun. Die Qualität SPIEGEL: Das Auto in seiner heuim Detail wird noch einmal tigen Konzeption ist also ein Irrdrastisch verbessert werden. Raketenmann*: „Der Wunsch ist ungebrochen“ tum, hervorgerufen durch zu Das zeichnet sich heute schon große Freiheit? ab. Die Passungen werden immer genauer. enormem Entwicklungsaufwand erreichen Giugiaro: Der Fehler besteht darin, dass Das Auto wird sein wie eine perfekte Uhr. sie Geschwindigkeiten weit über 200 Stun- nicht weit genug gedacht wurde. Das ProSPIEGEL: Das klingt ja nicht sehr berau- denkilometer, obwohl man fast nirgends blem sind die Proportionen, die nicht stimschend. Früher hatten die Designer Visio- so schnell fahren kann, meist nicht einmal men. Man kann auch anders herum argunen von Autos, die aussahen wie Flug- darf. Das ist im Prinzip eine Dummheit. Ein mentieren: Die Straßen in den Städten sind geräte. Und Sie bieten uns eine Kuckucks- Autozug, der 300 oder mehr erreicht, wäre schlicht zu klein für die Verkehrsmittel, die wir benutzen. eine gute Lösung. uhr auf Rädern an? Giugiaro: Sicher, das waren tolle Entwürfe. SPIEGEL: Dazu bräuchte man viel kleinere SPIEGEL: Die Städte werden wir nicht mehr Als ich in den fünfziger Jahren bei Fiat an- Autos. Aber die kommen beim Kunden verändern können. fing, habe ich immer diese amerikanischen nicht an. Das zeigt die mühsame Marktein- Giugiaro: Deswegen sage ich ja, wir brauZeitschriften verschlungen. Die waren vol- führung des Smart. Auch Sie haben einmal chen dort andere Verkehrsmittel. Wenn wir ler beflügelter Zukunftsautos. Und wenn ein ähnliches Fahrzeug entworfen, das City- diese Verkehrsmittel im Moment noch Sie sich heute umsehen: Nichts, aber auch auto „Biga“ mit Elektromotor.Woran schei- hässlich oder langweilig finden, kann ich gar nichts davon hat sich durchgesetzt. Der tern solche Fahrzeuge? nur sagen: Habt etwas Geduld! Wunsch, mit dem persönlichen Verkehrs- Giugiaro: Sie scheitern am Versuch, sie in- SPIEGEL: Herr Giugiaro, wir danken Ihnen mittel vom Boden abzuheben und zu flie- dividuell zu verkaufen. Solche Fahrzeuge für dieses Gespräch. gen, ist natürlich ungebrochen. sehen grundsätzlich nicht SPIEGEL: Sie haben sogar schon über eine gut aus und taugen desArt Düsen-Rucksack nachgedacht, mit dem halb auch nicht für den man durch die Lüfte pest. Privatbesitz. Man kann Giugiaro: Das wäre der Gipfel der Freiheit sich nicht damit identifi– eine Welt voller Menschen, die herum- zieren. Ehe ich mir einen schwirren wie die Vögel. Technisch ist das Biga kaufe, werde ich durchaus denkbar. mich doch fragen: O weh, SPIEGEL: Bis dahin sind allerdings noch was mache ich damit bloß etliche Probleme am Boden zu lösen. für eine Figur? So klappt Die Straßen ersticken in Autos. Manche das nie. Verkehrsexperten haben bereits über Mischformen von Schienen- und Straßen- * Oben: bei der Eröffnung der verkehr nachgedacht. Liegt hier die Lö- Olympischen Sommerspiele in Los Angeles 1984; unten: Christisung? an Wüst und Jürgen Petermann Giugiaro: Vielleicht. Klar ist, dass die Auto- im Ausstellungsraum von Italmobile heute falsch qualifiziert sind. Mit design. Giugiaro (r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Vier Meter und stopp“ Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Form der Malaria. Übertragen durch den Stich der Anopheles-Mücke, durchläuft er MEDIZIN im menschlichen Körper einen komplizierten Vermehrungszyklus, an dessen Ende er die charakteristischen Fieberschübe auslöst. Seine Wandlungsfähigkeit ließ den Erreger bisher immer wieder als Sieger über Ein Antibiotikum eröffnet neue Perspektiven in der Malariadie Kunst der Pharmakologen triumphieTherapie. Um es zum Medikament fortzuentwickeln, gründeten ren. Kleinste Veränderungen im Erbgut brachten neue Parasitenstämme hervor – die Entdecker in Gießen ein Pharma-Unternehmen. unempfindlich gegen bewährte chemische Attacken. Auch das gängige Malaria-Medikament Chloroquin schlägt inzwischen bei vielen Stämmen nicht mehr an. Dringlich macht die Suche nach neuen Wirkstoffen vor allem die wachsende Zahl von Infektionen. Zwei bis drei Millionen Menschen sterben jährlich an dem heimtückischen Wechselfieber. Die Gießener jedoch haben eine Schwachstelle der Plasmodien aufgespürt. Bei der Herstellung lebenswichtiger Moleküle leistet sich der Parasit offenbar einen extravaganten Stoffwechselweg. Erst seit kurzer Zeit bekannt, könnte er dem Erreger nun zum Verhängnis werden. Alle Zellen, ob bei Tieren, Pflanzen oder Bakterien, bilden eine bestimmte Kohlenstoffverbindung namens Isopren. Aus dieser wiederum werden unverzichtbare Naturstoffe wie Cholesterin hergestellt. Bis vor einigen Jahren war nur ein einziger Weg bekannt, der zur Bildung dieser Ausgangsstoffe führt. Dass es noch einen zweiten SynMalaria-Überträger Anopheles-Mücke: Immer neue Triumphe über die Kunst der Pharmakologen theseweg gibt, haben Michel Rohmer von der Universität Straßburg in paar bunte Kugeln, verbunden ten sich die Erfolge ein – viel zu schnell, um und Duilio Arigoni von der ETH Zürich durch kurze Metallstäbe – auf den etwa Geld aus der Industrie zu beantragen. vor sechs Jahren an verschiedenen MikroIn Experimenten der Gießener Forscher organismen, Algen und höheren Pflanzen ersten Blick sieht die Konstruktion auf Hassan Jomaas Schreibtisch nicht sehr erwies sich Fosmidomycin als tödliche Waf- bewiesen. Diese stellen Isopren aus andeeindrucksvoll aus. Dennoch ist das farben- fe im Kampf gegen den Parasiten ren Grundbausteinen her als Mensch und frohe Atommodell der ganze Stolz des im Plasmodium falciparum. Der Einzeller ist Tier. Und sie nutzen dabei gänzlich andeLibanon geborenen Mediziners – und zu- der Erreger einer besonders schweren re Enzyme. Diese Entdeckung war der Startpunkt gleich Grundlage einer Biotechnologie-Firfür Jomaa: Er stieß im Plasmodien-Erbgut ma, die er vor kurzem gegründet hat. auf das Gen für ein bestimmtes Enzym, Die Substanz, deren molekularen Aufdas nur in dem neu entdeckten Stoffwechbau die Kugeln und Stäbe zeigen, ist ein selweg vorkommt. Nicht nur Bakterien und Antibiotikum und heißt Fosmidomycin. Pflanzen, folgerte der Mediziner, auch PaDie Substanz, so hoffen Jomaa und seine rasiten wie der Malaria-Erreger scheinen Kollegen an der Universität Gießen, könnden alternativen Weg zu gehen. te die Malaria-Therapie grundlegend verKönnte man das Enzym lahm legen, ändern – falls es gelingt, das Geld für die so Jomaas Überlegung, käme der StoffWeiterentwicklung aufzubringen. wechsel des Erregers zum Erliegen, er Trotz verheißungsvoller Ergebnisse sind wäre besiegt. „Wir wussten einfach, dass die erhofften Fördermittel – etwa von der es funktionieren würde“, erinnert sich Weltgesundheitsorganisation WHO – bisJomaa. lang ausgeblieben. Unvermittelt sahen sich Was fehlte, war ein geeigneter Stoff zur Jomaa und sein Team mit den Tücken prakgezielten Hemmung des Enzyms. Die tischer Betriebswirtschaft konfrontiert. Gießener Forscher durchforsteten FachliParadoxerweise entstanden die finanziteratur und Datenbanken und wurden fünellen Engpässe gerade deshalb, weil es mit dig: Fosmidomycin, ein bereits in den siebder Forschung so rasch voranging. Schon Malaria-Forscher Jomaa nach wenigen Monaten Laborarbeit stell- „Ich wusste einfach, dass es funktioniert“ ziger Jahren von einem japanischen UnOSF / OKAPIA Sieg über das Wechselfieber? B. BOSTELMANN / ARGUM E 302 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite ternehmen entwickelter Wirkstoff, schien Bekämpfung längst nicht ausgeschöpft. ein aussichtsreicher Kandidat zu sein. Die Erreger anderer InfektionskrankUrsprünglich hatte der in Osaka ansäs- heiten, etwa Tuberkulose oder Toxoplassige Konzern Fujisawa Pharmaceuticals ein mose, scheinen verwundbar wie die PlasMittel gegen bakterielle Infektionen auf modien. den Markt bringen wollen. Klinische StuAngesichts dieser Möglichkeiten waren dien an Menschen wurden zwar durchge- die Malaria-Forscher überrascht von den führt. Doch zur Zulassung kam es nie. Zu Schwierigkeiten, denen sie sich bei der Fiviele andere Antibiotika waren billiger und nanzierung des Projekts gegenüber sahen. wirkungsvoller als Fosmidomycin. Zwar gehört Jomaas Team zu den zehn Unbeachtet verstaubten die Fläschchen Forschergruppen, die die WHO im Rahmit der Substanz seither in den Regalen der men ihres Programms „Roll-Back-MalaPharma-Firma – bis die Forscher aus Gießen ria“ für eine Förderung in Betracht gezosie im Labor nachkochten und ihr Potenzial gen hat. „Allerdings waren die daran als Malaria-Medikament testeten. geknüpften Bedingungen für uns nicht Stolz konnte Jomaa jetzt im Fachblatt akzeptabel“, erklärt Ewald Beck, ein Mit„Science“ verkünden, dass sich seine Pro- autor der „Science“-Arbeit. „Wir hätten phezeiung bestätigt hat: Plasmodien, die in auf die Rechte an der Entdeckung verZellkultur mit Fosmidomycin behandelt zichten müssen.“ wurden, starben nach kurzer Zeit ab. SoBis jetzt hat die Universität Gießen das gar Stämme, die gegen alle bekannten Me- Projekt finanziell unterstützt. Zum Teil dikamente gewappnet sind, streckten an- steuerten die beteiligten Wissenschaftler gesichts des Enzymhemmers die Waffen. auch private Mittel bei. „Und wenn es eiAuch im Tierversuch zeigte Fosmi- nen Jackpot gibt, spielen wir Lotto“, bedomycin die erhoffte Wirkung. Mit dem richtet Beck. Malaria-Erreger infizierte Mäuse, die das Medikament erhielten, wurden wieder völlig gesund. Selbst in späten Krankheitsstadien schlug die Therapie noch an. Die Freude über den Erfolg ist trotzdem verhalten. Für die weiterführenden Versuche, die jetzt nötig wären, fehlt der kleinen Arbeitsgruppe das Geld. Wenn die Studien durchgeführt werden könnten, schätzt Jomaa, wäre Fosmidomycin in etwa zwei Jahren zulassungsreif. Erste klinische Tests sind im Senegal ge- Malaria-Kranke in Angola: Jährlich drei Millionen Tote plant. Dabei kommt den Pharma-Entwicklern Mit ihrer neu gegründeten Firma Jomaa besonders zugute, dass Fosmidomycin Pharmaka GmbH haben sich die Biochenicht unbekannt ist: Schon vor 20 Jahren miker ihre Idee einer Malaria-Therapie pahatte Fujisawa bewiesen, dass die Substanz tentieren lassen. Die Suche nach einem fikaum Nebenwirkungen hat. Denn die be- nanzstarken Partner hat das kleine Untersondere Eleganz der Therapie liegt darin, nehmen selbst in die Hand genommen – dass sie in einen Stoffwechselweg eingreift, bisher mit mäßigem Erfolg. der beim Menschen gar nicht vorhanden „Anfangs sind wir ziemlich naiv an die ist. „Auf dieser Grundlage können wir her- Sache herangegangen“, erzählt Junguntervorragende Medikamente entwickeln“, nehmer Jomaa. „Wir dachten, wenn wir schwärmt Jomaa. den Banken sagen: ‚Wir wollen die Welt Die Forscher arbeiten noch an abge- retten, und ihr könnt dabei sein‘, wären sie wandelten Formen des Wirkstoffs, die schon überzeugt.“ Mittlerweile haben die langsamer ausgeschieden werden. Um zu Wissenschaftler dazugelernt. Für den hesverhindern, dass sich auch gegen Fosmi- sischen Gründungswettbewerb „Sciencedomycin Resistenzen bilden, müsse die 4Life“ stellten sie ihren ersten BusinessSubstanz außerdem mit einem anderen Plan auf. „Ich wusste bis dahin gar nicht, Wirkstoff kombiniert werden. „Ein Kom- was das ist“, sagt Jomaa. binationspräparat ist zwar teurer“, räumt Verhandlungen mit größeren Firmen Jomaa ein, „aber es bewahrt uns davor, in und privaten Kapitalanlegern kommen ein paar Jahren wieder mit einem wertlo- langsam in Gang. Jomaa ist zuversichtlich, sen Medikament dazustehen.“ sein Projekt bald mit einem passenden InDas Potenzial der Enzymhemmung ist vestor weiterführen zu können. Bis dahin nach Jomaas Einschätzung mit der Malaria- wird Lotto gespielt. Julia Koch 304 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 GUTHER / SIPA Wissenschaft Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Abonnementspreise Inland: Zwölf Monate DM 260,– Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– Europa: Zwölf Monate DM 369,20 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Halbjahresaufträge und befristete Abonnements werden anteilig berechnet. Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. ✂ Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Oder per Fax: (040) 3007-2898. Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das monatliche Programm-Magazin. Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte bekomme ich zurück. 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S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. 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Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 L O N D O N Hans Hoyng, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 N E W YO R K Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 PA R I S Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 P E K I N G Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 4. 9. MACHTWORT Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) entlässt seinen Justizminister Alfred Sauter. Doch der von Affären geschüttelte Politiker will erst gehen, wenn der Landtag zustimmt. NAHER OSTEN PLO-Chef Jassir Arafat und Israels Ministerpräsident Ehud Barak unterzeichnen ein Zusatzabkommen zum Wye-Vertrag, das als Durchbruch bei den Nahost-Friedensgesprächen gefeiert wird. SONNTAG, 5. 9. SCHLAPPE Die SPD ist der Verlierer der Landtagswahlen in Brandenburg und im Saarland. In beiden Ländern geht die absolute Mehrheit verloren. Das Saarland wird künftig von der CDU allein regiert. 4. bis 10. September KRITIK Trotz der SPD-Wahlniederlagen will Bundeskanzler Gerhard Schröder an seinem Sparkurs festhalten. Die ParteiLinke fordert einen Kurswechsel. DIENSTAG, 7. 9. UNABHÄNGIGKEIT Indonesien verhängt das Kriegsrecht über Ost-Timor. Wenige Tage vorher sprachen sich 80 Prozent der Wahlberechtigten für die Unabhängigkeit von Indonesien aus. FUSION Der US-Medienkonzern Viacom übernimmt CBS. Die Fusion gilt als größte der Medienbranche. ERDBEBEN Bei einem schweren Erdbeben in Athen kommen mindestens 97 Menschen ums Leben. Über 6000 Gebäude im Norden der griechischen Hauptstadt werden stark beschädigt. KOSOVO Russische Soldaten der Kosovo- Friedenstruppe Kfor erschießen drei Serben, die eine Gruppe Albaner überfielen. Vier Bergsteiger starteten vergangenen Donnerstag zur Besteigung der EigerNordwand. Nach 30 Stunden erreichten sie den Gipfel. Das Fernsehen war live dabei – auch nachts im Biwak. MITTWOCH, 8. 9. REDEN Bundespräsident Johannes Rau SPIEGEL TV REPORTAGE Mit Vollgas durch die „Grüne Hölle“ – die Bleifuß-Freaks vom Nürburgring Geschwindigkeit ist ihre Leidenschaft. Jedes Wochenende rasen hunderte von Amateur-Rennfahrern mit tiefer gelegten Alltagsautos und getunten Motorrädern über den Nürburgring, die gefährlichste Rennstrecke der Welt. Offiziell gilt hier die Straßenverkehrsordnung, doch kaum einer hält sich daran. Neben unzähligen Blechschäden registrierte die Polizei in diesem Jahr schon mehr als 50 Verletzte und drei Tote. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX EXTRA Die Busch-Rambos: Unterwegs mit einem Box-Wanderzirkus im australischen Outback fordert eine Stärkung der Bürgergesellschaft. Gemeinsam mit seinen Amtsvorgängern Roman Herzog, Richard von Weizsäcker und Walter Scheel spricht er sich für mehr Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen und weniger Staat aus. SPORT Die deutsche FußballNationalelf schlägt Nordirland mit 4:0 und hat damit die Qualifikation für die Europameisterschaft so gut wie sicher. „Desert Sands“-Teilnehmer SPIEGEL TV DONNERSTAG, 9. 9. NEUBESETZUNG Teile der SPD-Bun- destagsfraktion sind empört, dass Kanzler Schröder den saarländischen Ministerpräsidenten Reinhard Klimmt zum Verkehrsminister ernennen will. Klimmt gilt als Gegner von Schröders Sparplänen. Rund 90 Kamele, eine Truppe Faustkämpfer und etwa 3000 Zuschauer treffen sich zur Wüstenkirmes „Desert Sands 2000“. SAMSTAG 22.35 – 0.40 UHR VOX SPECIAL EHEN Tausende von Paaren geben SPIEGEL TV sich im Schnapszahl-Fieber das Jawort. Bei einer Massenhochzeit in Chemnitz trauen sich gleich 98 Paare. Die 99. Braut scheiterte an deutscher Bürokratie: Die Papiere ihres Mannes waren unvollständig. Hollywood und der Krieg – wie Starregisseur John Ford den D-Day drehte FREITAG, 10. 9. MANÖVER China startet groß angelegte Militärübungen. Mit den Seemanövern will die Pekinger Führung offenbar demonstrieren, dass sie Taiwan auch mit Waffengewalt zurückerobern könnte. MEDIEN Nikolaus Brender, 50, TV- DPA MONTAG, 6. 9. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 SPIEGEL TV BERLIN Das SPD-Präsidium schlägt Bun- desverkehrsminister Franz Müntefering als künftigen „Generalsekretär“ vor. SPIEGEL TV Programmchef des WDR, wird neuer ZDF-Chefredakteur. Nächstes Jahr soll er den 63-jährigen Klaus Bresser ablösen. d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Eine Dokumentation mit Original-Farbmaterial von der Invasion in der Normandie und Interviews über die Dreharbeiten am D-Day. SONNTAG 21.55 – 22.45 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die bayerisch-kanadische AmigoConnection – Aufstieg und Fall des Strauß-Spezis Karlheinz Schreiber; „Ecstasy“ bis zum Exzess – die Drogenszene auf der spanischen Party-Insel Ibiza; Westernheld auf Abwegen – wie der amerikanische Schauspieler John Wayne Geheimagent werden wollte. 309 Register Walther Reyer, 77. Als es noch männlich war, männlich zu sein, und als die Bretter noch die Welt bedeuteten, war er der Mann für alle Jahreszeiten. Von den Tiroler Bergen her hatte er, Mitte der fünfziger Jahre, ein anderes Hochgebirge erklommen, das Wiener Burgtheater, spielte da, nobel und dramatisch, die klassischen jungen Helden und Liebhaber, geriet als fescher Graf in die „Sissi“Filme und als romantischer Maharadscha in Fritz Langs „Indisches Grabmal“ und den „Tiger von Eschnapur“. In Salzburg war er ein „Jedermann“, wie es keinen andern gab, aber an der Wiener Burg, seiner „großen, unerfüllten Liebe“, gingen für ihn zunehmend die Lichter aus. Er blieb ihr Mitglied, über 40 Jahre lang, und als er vorzeitig, für einen ruhebedürftigen Direktor, seine Garderobe räumen musste, raunte er: „In diesen Räumen sind viele Dinge geschehen, die werden ihm keine Ruhe lassen.“ Walther Reyer retirierte nach Tirol, spielte ein bisschen im TV-Zirkus mit und starb am 5. September in seiner Heimat. borene Regisseur gehörte zu den leisen Verstörern und Provokateuren der Bühne. Sein illusionsloser Blick, der gemütliches Einvernehmen mit den Verhältnissen nie aufkommen ließ, brachte ihm in der DDR die üblichen Demütigungen und Schikanen ein – nach einer LorcaInszenierung wurde ein Parteiverfahren gegen ihn eingeleitet. König wurde in die Provinz verbannt. Er ließ sich dadurch nicht verbiegen, inszenierte etwa in Anklam einen eisig erstarrten Marivaux und wurde 1983 ausgebürgert. Er arbeitete in Düsseldorf und München und stieß 1987/88 zur Berliner Schaubühne, wo er, eine seiner glücklichsten Erfahrungen, Heiner Müllers „Philoktet“ erarbeitete. Seine große Liebe gehörte dem Verzweiflungsvirtuosen Samuel Beckett. Zu seiner letzten Inszenierung, Becketts „Warten auf Godot“ in Leipzig, schrieb König ins Programmheft: „Als junger Regisseur wollte ich die Welt, mindestens aber den Sozialismus verbessern. An Beckett scheiterte meine Verän310 d e r S. ROTHWEILER Herbert König, 55. Der in Magdeburg ge- Allen Funt, 84. Mit dem Start der Radiosendung „Candid Microphone“ 1947, die ein Jahr später als „Candid Camera“ ins Fernsehen kam, begann auch seine Erfolgsstory. Als Erfinder und Moderator der in den sechziger Jahren unter den erfolgreichsten amerikanischen TV-Shows rangierenden Ulk-Sendung war Funt ein gemachter Mann. Das Prinzip der „Ehrlichen Kamera“, die 1961 von Chris Howland als „Vorsicht Kamera“ auch in Deutschland eingeführt wurde, bestand darin, die Reaktion von Leuten, später vor allem von Prominenten, auf für sie unvorhergesehene Streiche oder Ärgernisse vorzuführen. Wenn ein derart Überraschter mit offenem Mund staunte, tauchte Funt mit seinem Slogan auf: „Bitte lächeln, Sie sind vor der ‚Ehrlichen Kamera‘.“ Die Idee, Leute aufzunehmen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, kam Funt, als er während des Zweiten Weltkriegs die Nachrichten der Soldaten an ihre Familien weitergeben sollte. Er fand es viel spannender aufzuzeichnen, was die Soldaten vor Beginn der Sendung spontan und ungehemmt von sich gaben. Allen Funt starb am 5. September in Pebble Beach (Kalifornien). s p i e g e l AP DPA Alfredo Kraus, 71. Noch vor wenigen Jahren gab der Tenor umjubelte Solokonzerte und mutete sich Tourneen zu wie ein 30-Jähriger. Nur sein unnachahmliches helles Timbre und die belcanteske Stimmführung bewiesen dann, dass er aus besseren Zeiten der Gesangskunst stammte: Schon 1956 hatte der in Las Palmas/Gran Canaria geborene Sänger in Kairo debütiert, wurde als Spezialist für elegante lyrische Rollen im italienischen und französischen Fach – etwa als Alfredo in Verdis „La Traviata“, Massenets „Werther“ oder Gounods „Faust“ – rasch anerkannt und war spätestens seit seinem Erscheinen an der New Yorker Met 1964 ein Weltstar. „Ein Sänger ist wie ein Gewichtheber“, sagte er gern. Deshalb beschränkte er sich auf nur zwölf Rollen und hielt mit seiner Stimme Haus – so sorgsam, dass er an guten Tagen das hohe Es meisterte. Alfredo Kraus starb am vergangenen Freitag in Madrid an Krebs. 3 7 / 1 9 9 9 DPA derungwut.“ Herbert König, der zuckerkrank war, starb am 3. September an Herzversagen. gestorben Werbeseite Werbeseite Personalien AFP / DPA AP Suzana Werner, 22, brasilianisches Model und TV-Moderatorin, deren lang währende und Image fördernde Verbindung mit dem brasilianischen Fußballidol Ronaldo Nazario de Lima, 22, vor zwei Monaten endete, hat eine neue Idee zur Selbstvermarktung. Sie sei bereit, gestand sie der Zeitung „Extra“, sich nackt fotografieren zu lassen, aber nur „gegen viel Geld“. Nach zwei Freunden in ihrem Leben sei sie „tief enttäuscht von der Liebe“. Der eine Freund Werner, Ronaldo „starb, der andere brachte es nicht“. Seither fühlt sie sich „leer“ und zieht jetzt das Alleinsein vor. Wenn sie früher die meiste Zeit mit dem Fußballstar verbrachte, widmet sie sich jetzt lieber der Arbeit. Tatsächlich hat sie bereits mehrere Angebote zu Nacktaufnahmen erhalten, gesteht sie. „Ich bin noch nicht bereit“, sagt die Schöne, aber bei einem Angebot „deutlich über 500 000 Dollar“ könnten die Hüllen schon fallen. Werner H. SCHNAARS ne entschieden ist, in denen Lasarenko Unterschlagung von Staatsgeldern und Geldwäsche vorgeworfen werden. In einer Presseerklärung wehrte sich Lasarenko gegen die Vorwürfe. Er sei Opfer einer politischen Intrige, im Gegenteil habe er „in seiner Heimat um eine allmähliche Reform zur Verbesserung des Wirtschaftsklimas gekämpft“. Während seiner einjährigen Amtszeit als ukrainischer Ministerpräsident waren Lasarenkos Reichtum und Einfluss so dramatisch gewachsen, dass der ukrainische Staatspräsident ihn 1997 seines Postens enthob. Walter Momper, 54, abgeschlagener Spitzenkandidat der SPD im Berliner Wahlkampf, zeigte Entschlussfreudigkeit im Kleinen. Bei einer öffentlichen Diskussion mit dem Politgrafiker Klaus Staeck, 61, in einer Galerie in Berlin Mitte redeten die Momper, Staeck beiden weit über die geplante Zeit. Abrupt unterbrach Staeck die Debatte und fragte aufgeregt in die Runde, ob es noch eine Chance für seinen letzten Zug nach Heidelberg gebe, der in 15 Minuten vom Bahnhof Zoo abfahre. Spontan sprang Momper auf: „Komm mit, ich schaffe das.“ Ohne jedes Abschiedswort verließen die beiden überstürzt die Galerie und ließen ein verblüfftes Publikum zurück. Momper hatte nicht zu viel versprochen, er brachte Staeck noch rechtzeitig an den Zug. NYT TRANSPARENT Pawel Lasarenko, 46, ehemaliger Ministerpräsident der Ukraine, hat wenig Freude an einer protzigen Immobilie im nördlichen Kalifornien, die selbst für den dort allenthalben gezeigten Reichtum Maßstäbe setzt. Zum 41-Zimmer-Haus auf einem sieben Hektar großen Grundstück gehören zwei Hubschrauber-Landeplätze, fünf Hundezwinger und ein scheunengroßer Tanzsaal. Natürlich sind die Türklinken vergoldet. Das Anwesen wurde einst von Hollywood-Star Eddie Murphy bewohnt und vor einem Jahr für 6,75 Millionen Dollar verkauft – in bar. Zwar hat sich Lasarenkos Familie in dem Anwesen einquartiert, er selbst aber muss ihm fernbleiben. US-Bundesbeamte halten den Ukrainer in Untersuchungshaft, bis über Auslieferungsanträge aus der Schweiz und der Ukrai- Lasarenko, Lasarenko-Anwesen in Kalifornien 312 d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 Monica Lewinsky, 26, Ex-Praktikantin im Weißen Haus, verlegt sich aufs Kunsthandwerk, um ihre Schulden abzutragen. Die einstige Clinton-Geliebte hat allein durch Rechtshändel nach ihrer Affäre mit dem US-Präsidenten einen Schuldenberg von über zwei Millionen Dollar aufgehäuft. Den will sie etwas abtragen durch den Ver- CDU-Dame eine gelbe Bluse, der CSU-Herr eine gelbe Krawatte. „Macht ihr hier alle in Gelb für den Westerwelle?“, juxte der Fraktionschef in Anspielung auf die FDP-Farbe Gelb und das miserable Abschneiden der Liberalen in beiden Ländern weit unter der Fünfprozenthürde. Angela Merkel, der Struck bereits diverse Komplimente zu ihrer aparten Erscheinung gemacht hatte, nahm die Frage des SPDFraktionschefs denn auch völlig unpolitisch: „Ist doch ’ne gute Farbe, oder?“ Struck, nun wieder ganz Galan: „Ja, und mit diesem schönen schwarzen Stoff steht Ihnen das auch sehr gut.“ Das sei „kein Schwarz“, widersprach die CDU-Generalin, „das ist Blau“, und hielt dem SPD-Mann den Ärmel ihres Kostüms hin. Der legte, wie zur Stoffprobe, seine Rechte auf den hingehaltenen Unterarm. Das war der Moment des CSUGeneralsekretärs, der das Struck-Geturtel trocken kommentierte:„Schaut her, jetzt ist er schon farbenblind geworden.“ kauf von selbst entworfenen Handtaschen. Die Produkte der Handtaschendesignerin kosten zwischen 70 und 130 Dollar. Ein eingenähtes Etikett verspricht: „Made especially for you by Monica“. Die Taschen „für die romantische, die künstlerische, die konservative und die trendige“ Frau sind über das Internet zu ordern und enthalten eine wichtige Botschaft: „Dry clean“ – chemisch reinigen, eine Anweisung, die sie im Falle ihres mit Präsidentensperma befleckten Kleides auf Anraten von Linda Tripp ignorierte. Lewinsky-Handtaschen Willi Lemke, 53, SPD-Bildungssenator in Bremen und ehemaliger Manager von Werder, macht von seinen Bundesliga-Erfahrungen listigen Gebrauch. Vor Journalisten erläuterte Lemke sein Personalkonzept für die Schulen. Die überalterten Lehrerkollegien der Hansestadt, so der Senator, bedürften der Auffrischung. Zur Begründung des an sich Selbstverständlichen führte Lemke klangvolle und weniger bekannte Spieler-Namen aus der wechselvollen Werder-Geschichte der achtziger und neunziger Jahre an: „Man kann in der Bundesliga nicht nur mit Burgsmüller und Kostedde spielen, sondern braucht auch einen Dabrowski oder einen Frings, denen im Team ganz bestimmte Aufgaben übertragen werden“, so der Senator. „Die jungen Spieler profitieren dann von den Erfahrungen der Burgsmüllers und Eilts und wachsen in die Mannschaft hinein.“ Kurzum: „Es kommt eben auf die Mischung an; nicht nur bei Werder, auch in der Schule.“ Bei seinen Senatskollegen hat Lemke mit solchen Redensarten bereits Erfolg. Denen habe er, so sagt er, für das neue Schuljahr 20 zusätzliche Lehrerstellen abgeluchst. Und die Grauschädel an den bremischen Erziehungsstätten sind auch nicht unglücklich über den Vergleich mit Spitzenfußballern. F. OSSENBRINK Rupert Murdoch, 68, australisch-amerikanischer Medienmogul, ist dem Oberhaupt Tibets, dem Dalai Lama, auf die Füße getreten: Die stecken laut Murdoch in Gucci-Schuhen, in denen der „politische alte Mönch herumschlurft“. Seine Beobachtungen legte der chinafreundliche Tycoon, der es abgelehnt hatte, die chinakritischen Memoiren des einstigen britischen Gouverneurs von Hongkong, Chris Patten, zu drucken, in einem Interview mit dem amerikanischen Magazin „Vanity Fair“ imaginären „Zynikern“ in den Mund. Trotzdem kritisierten ihn Menschenrechtsaktivisten für seine Äußerung. Auch auf dem amerikanischen Markt könnte sich Murdoch, dessen asiatischer Sender „Star TV“ heikle innenpolitische Themen, inklusive Tibet, schon mal weglässt, mit seinen Mutmaßungen über Schuhgeschmack und Gangart des Dalai Lama geschadet haben: Das charismatische Auftreten des Friedensnobelpreisträgers hat in den USA einen Buddhismus-Boom ausgelöst. Merkel, Struck Peter Struck, 56, Chef der SPD-Bundestagsfraktion, hatte beim Zusammentritt der ersten „Berliner Runde“ zu den Wahlen in Brandenburg und im Saarland ein Problem mit der Farbpalette. Die Generalsekretäre Angela Merkel, 45, (CDU) und Thomas Goppel (CSU) trugen Gelb: die d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9 313 Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem Fragebogen der „Woche“ mit der „Peep“-Moderatorin und Lebensgefährtin von Schlagersänger Dieter Bohlen, Nadja ab del Farrag: „Wer sind für Sie die drei klügsten Köpfe unserer Zeit?“ Antwort Farrag: „Bill Gates, Dieter Bohlen, Stephen Hawking.“ Zitate Aus einer Mitteilung der Pressestelle des Schleswig-Holsteinischen Landtags: „Zwischen Schleswig-Holstein und Polen gibt es seit langem ganz unterschiedliche Verbindungen. Da ist etwa der Nord-Ostseekanal.“ Aus dem „Main-Echo“ Aus dem „Südkurier“ in Konstanz: „ Der junge Mann (Lord Frederick Windsor –Red.), der als Urenkel von König George V. auf Platz 28 der Thronfolge rangiert, erklärte nach einem Bericht der ‚Sunday Times‘, er habe inzwischen vom Kokain die Nase voll: ‚Ich werde mich ganz auf mein Studium konzentrieren.‘“ Aus der „Waiblinger Kreiszeitung“ Aus dem Videotext des österreichischen Rundfunks ORF: „Das Auto ist so nützlich, dass es jeder haben will, und 90 Prozent allen Pkw-Verkehrs geht per Auto vor sich, auch die Hälfte des öffentlichen Verkehrs.“ Aus der „Wuppertaler Rundschau“ Bildunterschrift im Berliner „Tagesspiegel“: „Verprügelt vom Ehemann. 75,7 Prozent der Opfer sind Frauen, in gut 86 Prozent waren Männer die Täter.“ Aus der „Leonberger Kreiszeitung“: „Unter dem Motto ‚Mit Mose unterwegs‘ erlebten die Jungscharler lebendige Abenteuer auf den Spuren des Volkes Israel. So erlebten sie hautnah, wie hart die Sklavenarbeit in der Diaspora war.“ 314 Der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Egidius Braun, in der „Südwest Presse“ zu dem SPIEGEL-Interview mit DFBTrainer Uli Stielike über seine Differenzen mit Teamchef Erich Ribbeck „Fußball – ‚Die Gewehre sind geladen‘“ (Nr. 35/1999): DFB-Präsident Egidius Braun hat Uli Stielike, Assistent von Teamchef Erich Ribbeck, wegen dessen Äußerungen in einem SPIEGEL-Interview gerüffelt. „Ich musste mich leider damit beschäftigen. Ich halte es für den völlig falschen Zeitpunkt, auf diese Art und Weise solche Kritik auszusprechen. Das war nicht klug von Uli Stielike“, kritisierte Braun. Außerdem sei es nicht die Sprache des Deutschen Fußball-Bundes, von „geladenen Gewehren“ zu reden. „So etwas sagt man nicht. Ich werde mit Uli Stielike über diese Äußerungen noch sprechen“, kündigte Braun an. Ob es für Stielike Konsequenzen geben werde, ließ der DFB-Präsident offen: „Ich kämpfe jeden Tag für das Ansehen des deutschen Fußballs, und ich erwarte von anderen, das ebenfalls zu tun.“ Die „Saarbrücker Zeitung“ zu der vom damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (SPD) im Jahr 1994 durchgesetzten Verschärfung des saarländischen Pressegesetzes, die der designierte saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller („persönlicher Rachefeldzug Lafontaines“) wieder rückgängig machen will: Rund zwei Jahre zuvor hatte Oskar Lafontaine im Gewand des französischen ,,Sonnenkönigs“ die Titelseite des Hamburger Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL geziert. Damit begann 1992 die sogenannte Pensionsaffäre, in der aufgedeckt wurde, dass Lafontaine zusätzlich zu seinem Gehalt als Ministerpräsident auch noch ein Ruhegehalt (Ausgleichszahlungen) als Ex-Oberbürgermeister von Saarbrücken erhielt. Kurze Zeit später kam die ,,Rotlichtaffäre“. Die ,,Geschichten des O.“ erschienen erneut zuerst im SPIEGEL. Es ging um angeblich kompromittierende Lafontaine-Fotos, mit denen der Saarbrücker Ex-Rotlichtkönig Hugo Lacour dem damaligen Ministerpräsidenten gedroht haben soll. In den entsprechenden Recherchen kam zwar nicht viel heraus; das Fass war aus Sicht Lafontaines jedoch offenbar übergelaufen. Er prägte den Begriff der „Schweinejournalisten“ – und im Mai 1994 wurde das Pressegesetz an der Saar geändert. Dazu hieß es aus Reihen von SPDMitgliedern: ,,Oskar wollte das so, dann wird es so gemacht!“ d e r s p i e g e l 3 7 / 1 9 9 9