Jesus Christ Superstar
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Jesus Christ Superstar
Theater Ulm Spielzeit 2008/09 Jesus Christ Superstar Neuinszenierung Musikalische Leitung: Ariane Müller/Gordian Teupke Inszenierung: Werner Pichler Choreographie: Roberto Scafati Bühne: Britta Lammers Kostüme: Andrea Hölzl Inhalt Seite 01. Kurt Gänzl...................................................................3 Lexikoneintrag über „Jesus Christ Superstar“ 02. Über die Autoren von „Jesus Christ Superstar“............6 Andrew Lloyd Webber und Tim Rice 03. SpiegelOnline vom 24. September 2008.....................7 „Jesus Christ Superstar“ uraufgeführt 04. Andrew Lloyd Webber .................................................9 über die Uraufführung von „Jesus Christ Superstar“ 05. Andrew Llyod Webber ...............................................10 Warum ein Musical über Jesus Christus? 06. Synopsis ...................................................................11 Die Liedtexte aus „Jesus Christ Superstar“ im Vergleich mit original Bibelzitaten 07. Elisabeth Frenzel.......................................................19 Christus auf der Bühne, Theater-Thema Jesus 08. Who’s Who in der Bibel .............................................22 09. Walter Jens ................................................................24 Der Fall Judas 10. Olaf Schulze..............................................................29 „... und verriet ihn mit einem Kuss“ (Judas der Verräter?) 11. Valerian Ehnes ..........................................................31 „MARIA MAGDALENA“ 12. Die Jünger Jesu und Apostel .....................................32 13. Der göttliche Bote .....................................................33 14. „Das Blut der Versöhnung“ .......................................45 15. Ist Jesus dem Glauben im Weg? ................................60 01. Kurt Gänzl „Jesus Christ Superstar“, Musical Gesangstexte: Tim Rice (eigtl. Timothy Miles Bindon Rice). Orchestration: Andrew Lloyd Webber Uraufführung: 12. Okt. 1971, Mark HellingerTheatre, New York Personen: Judas Iscariot/Ischariot; Jesus; Mary Magdalene/Maria Magdalena; Caiaphas/Kaiphas; Annas/ Hannas; 3 Priester; Simon Zealotes/Simon Zelotes; Pontius Pilate/Pilatus; Peter/Petrus; Herod/Herodes; Mädchen am Feuer; Soldat; ein alter Mann. Chor: Jünger, Aussätzige, Soldaten, Gefolge Herods, Händler und anderes Volk Orchester: 2 Fl (1 auch Picc) , Ob, Klar (auch B.Klar), 2 Hr, 2 Trp, 2 Pos (1 auch Tb), MelodieGit, RhythmusGit, elektr. B.Git, SchI, Perc, elektr. Org (auch Synt), Kl (auch elektr. Kl), Streicher Aufführung: Dauer ca. 2 Std. Die Aufführung kann durch eine Pause unterbrochen werden. Eine symphonische Orchesterbesetzung ist verfügbar. Die Rollen von Judas und Jesus erfordern Interpreten mit kräftigen, modernen Gesangsstimmen von beträchtlichem Umfang, die von Caiaphas und Annas einen Basso profondo und einen hohen oder Countertenor; ansonsten genügt modernes Standardkönnen. Das Stück kommt mit einem einfachen, aus Gerüsten und Plattformen bestehenden Bühnenbild aus, vor dessen Hintergrund sich die einzelnen Episoden abspielen. Gesangsnummern: Heaven on Their Minds (Weil sie ach so heilig sind); What's the Buzz (Was ist los); Strange Thing Mystifying (Für mich bleibt's ein Rätsel); Everything's Alright (Alles wird gut sein); This Jesus Must Die (Der Jesus muß weg); Hosanna; Simon Zealotes (Simon Zelotes); Poor Jerusalem (Armes Jerusalem); Pilate's Dream (Der Traum des Pilatus); The Temple (Der Tempel/Die Vertreibung aus dem Tempel); I Don't Know How to Love Him (Wie soll ich ihn nur lieben); Damned for All Time (Verdammt für alle Zeit); Blood Money (Blutgeld); The Last Supper (Das letzte Abendmahl); I Only Want to Say (Gethsemane); The Arrest (Die Gefangennahme / Die Verhaftung); Peter's Denial (Die Verleugnung / Petri Verleugnung); Pilate and Christ (Pilatus und Christus / Christus vor Pilatus); King Herod's Song (Song des Herodes / Herodes-Song); Could We Start Again, Please (Laßt uns neu beginnen); Judas' Death (Der Tod des Judas); The Trial Before Pilate (Das Verhör vor Pilatus / Die Verurteilung); Superstar Entstehung: Jesus Christ Superstar war das erste abendfüllende Werk des Teams Lloyd Webber und Rice und folgte der für Schulaufführungen geschriebenen Miniaturkantate Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat (1968), die auf der Josephslegende basiert. Nach dem Erfolg dieses Stücks war eins der ersten Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit der Song “Superstar”, den die Autoren aber als Teil eines größeren Ganzen betrachteten: Ihnen schwebte ein Bühnenmusical mit der Geschichte Jesu vor, das in Kantatenform wie Joseph gehalten sein und dessen Titelsong "Superstar" werden sollte. Ihr Agent David Land konnte zunächst keinen Produzenten für ein Stück solchen Inhalts finden; statt dessen gelang ihm ein Abschluss mit einer Plattenfirma, die Jesus 1970 veröffentlichte. Diese Aufnahme war (vor allem in den Vereinigten Staaten) so erfolgreich, dass trotz religiöser Bedenken (Juden und Christen könnten gleichermaßen verstört auf ein Musical dieser Thematik reagieren) wieder eine Bühnenfassung in Betracht gezogen wurde. Zwar wollte der für seine spektakulären Musicalproduktionen bekannte Impresario Harold Fielding Jesus in bester Opernmanier auf die Bühne bringen, jedoch gaben die Autoren dem andersgearteten Konzept Robert Stigwoods, des Produzenten der Londoner Version von MacDermots Hair (1967), den Vorzug. Handlung: In Jerusalem und Umgebung: Die Geschichte der letzten sieben Tage im Leben Jesus' wird aus der Sicht von Judas Iscariot erzählt. Jedoch ist es nicht der Judas der christlichen Mythologie, der hier beschrieben wird. Der Mann, dessen Name gleichbedeutend mit dem Begriff „Verräter” geworden ist, ist vielmehr ein normaler Mensch, der mit wachsender Besorgnis beobachtet, wie die neue ethischreligiöse Bewegung, an der er teilhat, zum Ziel von Fanatikern wird und wie ihr Anführer Jesus von seinen hysterischen Anhängern in solch einem Ausmaß verehrt wird, dass Anlass zu Sorge besteht. Judas' Versuche, seinen Herrn und Meister auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ihn an seine eigentliche Mission zu erinnern, werden von dem überspannten Jesus, auf den nur Mary Magdalene einen beruhigenden Einfluss zu haben scheint, launisch abgeblockt. Die Besorgnis ist berechtigt, denn die Priester Jerusalems sind beunruhigt über den von Jesus verursachten Wirbel, der die Aufmerksamkeit der römischen Machthaber auf diesen Teil der Welt zu lenken droht. Sie beschließen, die gefährliche Bewegung samt ihrem aufrührerischen Führer auszuschalten, zumal Jesus sich auch durch die Appelle des Hohenpriesters Caiaphas nicht von seinem Weg abbringen lässt und der Mob den Hass auf die römischen Besatzer geschürt wissen möchte. Als die Lage sich immer stärker zuspitzt und Jesus Anzeichen zeigt, unter dem auf ihm lastenden Druck zusammenzubrechen (der Statthalter Pontius Pilate hat unterdessen von einem Traum berichtet, in dem er für den Tod eines Manns aus Galiläa verantwortlich gemacht wird, und Jesus die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben), schiebt Judas alle Zweifel beiseite. Er glaubt, die einzige Möglichkeit, Gewaltakte unter der Bevölkerung zu verhindern, sei die, Jesus einsperren zu lassen. Deshalb sucht er die Priester auf und verrät ihnen für 30 Silberlinge, die er nur widerstrebend annimmt, wann und wo sie Jesus allein und ohne Gefahr gefangen nehmen und so einen Aufruhr verhindern können. Beim letzten Abendmahl sieht Jesus sein Schicksal voraus und deutet auf Judas als den Verräter, der sein Verhalten jedoch damit rechtfertigt, dass Jesus seinen Idealen untreu geworden sei. Im Garten Gethsemane wird Jesus von Soldaten aufgespürt und verhaftet; der Jünger Peter leugnet, ihn überhaupt zu kennen. Judas erkennt, dass er von Gottes Fügung benutzt worden ist, die Bestimmung Jesus' auf Erden zu vollenden, und erhängt sich voller Verzweiflung. Weder Pilate noch Herod, der König von Galiläa, wollen den Gefangenen aburteilen, aber die von den Priestern aufgewiegelte Volksmenge, die sich von Jesus betrogen fühlt, der sich nicht verteidigen und keine Wunder vor ihren Augen vollbringen will, zwingt Pilate, ihn zum Tod zu verurteilen. Jesus wird gekreuzigt, während Judas' Stimme die Frage stellt, warum alles so kommen musste, wie es gekommen ist: War es Teil eines Plans, Jesus zu einem “Superstar” zu machen, an den man sich in alle Ewigkeit erinnern würde? Kommentar: Jesus Christ Superstar, gelegentlich auch als Rockoper bezeichnet, ist eine Show, die keiner der etablierten Richtungen im Musiktheater der Nachkriegszeit folgt und sich stilistisch an kein bestimmtes Werk anlehnt. In Musik und Texten gibt sich das Musical frisch und ungezwungen. Die gründliche musikalische Ausbildung Lloyd Webbers und sein natürliches melodisches Empfinden vereinen sich mit den kraftvoll-repetitiven Rhythmen moderner Popmusik zu einer zeitgemäßen und handwerklich solide gearbeiteten Theatermusik. (In seinen späteren Arbeiten sollte Lloyd Webber diese Art von Musik noch verfeinern und so stilbildend eine ganze Generation junger Komponisten beeinflussen.) Rices Gesangstexte verbinden einen Konversationston und poetisch phantasievolle Formulierungen mit einem Sinn für Humor, der verhindert, dass die Inhalte als zu gewichtig empfunden werden. Da Jesus kantatenartig durchkomponiert ist, gibt es keine gesprochenen Dialoge, ein Umstand, der einer ganzen Reihe gleichartig gearbeiteter Musicals den Weg geebnet hat. Aufgrund dieses durchkomponierten Stils weist Jesus nur wenige Abschnitte auf, die losgelöst vom Stück als Einzelnummern überleben können. Dazu gehören vor allem Mary Magdalenes “I Don't Know How to Love Him”, das ursprünglich als “Kansas Morning“ in anderem Zusammenhang hatte veröffentlicht werden sollen und für Jesus mit einem neuen Text versehen wurde, und “Superstar"; das wirkungsvollste und schönste Stück dürfte jedoch der für eine moderne Tenorstimme geschriebene Monolog Jesus' im Garten Gethsemane mit dem Wunsch nach Tod und Erlösung sein. Wirkung: Die Uraufführung (Regie: Tom O'Horgan; Judas: Ben Vereen) war phantasievoll und ideenreich, jedoch lenkten die Bühneneffekte und die poppige Ausstattung eher vom Inhalt ab und waren nicht nach jedermanns Geschmack (beispielsweise wurde der gekreuzigte Jesus von einem Gabelstapler von der Bühne gefahren). So liefen religiöse Gruppen denn auch Sturm gegen das Stück. Die einen protestierten gegen die sexuelle Beziehung zwischen Jesus und Mary Magdalene, die anderen störten sich an der Darstellung Jesus' mit einem Koller, noch andere stuften das Musical als antisemitisch ein, da die Priester als blutrünstige Bestien gezeigt wurden. Beim Publikum jedoch, das sehen wollte, wie eine Schallplatte in ein Bühnenspektakel umgesetzt wird, hatte das Stück großen Erfolg; es brachte es auf 720 Vorstellungen am Broadway; Lloyd Webber wurde mit dem Drama Desk Award ausgezeichnet. Bald folgten erste Auslandsproduktionen, von denen die australische besonders hervorzuheben ist: Sie verzichtete auf Exzentrizitäten und war in einem strengen, modernistischen Stil gehalten, der sich als so wirkungsvoll erwies, dass der Regisseur Jim Sharman auch für die Inszenierung in London verpflichtet wurde, wo das Stück 1972 im Palace Theatre, allerdings in mehr traditioneller Form, herauskam und zum Musical mit der längsten Laufzeit (zehn Jahre) in der Geschichte des britischen Theaters wurde. Jesus Christ Superstar ging rund um die Welt, wurde aber in Südafrika aus religiösen Gründen verboten; in Deutschland wurde es 1972 in Münster (Westf.) herausgebracht. Der Verfilmung (1973) von Norman Jewison fehlte der Reiz der Bühnenshow. Das Broadway-Revival von 1977 konnte an den Erfolg der Originalproduktion nicht anknüpfen und wurde nach nur 96 Vorstellungen abgesetzt. 02. Über die Autoren von „Jesus Christ Superstar“ ANDREW LLOYD WEBBER Andrew Lloyd Webber wurde 1948 im englischen Westminster (London) geboren. Er stammt aus einer musikalischen Familie: sein Vater war Organist, Professor für Musiktheorie und Komposition sowie Direktor am London College of Music, seine Mutter eine anerkannte Musikpädagogin und sein Bruder ist der Cellist Julian Lloyd Webber. Zunächst lernte er Horn und Klavier sowie die englische Volks- und Kirchenmusik und die klassische englische Musik des 20. Jahrhunderts (Britten, Elgar, Holst) kennen und verfasste erste Kompositionen (u.a. eine Suite für Kindertheater und Popsongs). Dann studierte er am Royal College of Music und wandte sich schon bald dem Musicalbereich zu. Mit 17 Jahren lernte er den Lyriker Tim Rice kennen, mit dem er etliche Songs sowie 1968 das Pop-Oratorium "Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat" schrieb, das 1972 beim Edinburgh Festival einen großen Erfolg hatte. Es folgten weltweit präsentierte Filmmusiken und Musicals, unter denen "Jesus Christ Superstar" (1971). "Evita" (1978). "Cats" (1981), "Starlight Express" (1984) und "The Phantom Of The Opera" (1986) nur die populärsten sind. 2000 kam "The Beautiful Game" heraus, und zuletzt feierte Lloyd Webber am Londoner Westend mit seiner Musicaladaption von "The Woman in White" Erfolge. "Das Phantom der Oper" wurde im Januar 2006 zum am längsten laufenden Musical in der Geschichte des Broadway. Lloyd Webber gewann zahlreiche Tony Awards, Drama Desk Awards, drei Grammys (1986 für sein "Requiem" in der Kategorie für die "beste klassische zeitgenössische Komposition") und fünf Laurence Olivier Awards. 1992 wurde er zum Ritter der Kunst geschlagen, 1995 in die American Songwriter's Hall of Fame aufgenommen. Im selben Jahr erhielt er auch den Praemium Imperiale Award for Music, 1996 den Richard Rodgers Award for Excellence in Musical Theatre und 1997 gemeinsam mit Tim Rice den Golden Globe und einen Oscar für den Besten Original-Song für die Filmmusik zu "Evita". In Königin Elizabeths Neujahrs-Ehrung des Jahres 1997 wurde er zum Lord Lloyd-Webber of Sydmonton erhoben. 2000 liefen weltweit 27 Lloyd WebberShows gleichzeitig. TIM RICE Tim Rice wurde 1944 in Amersham (Buckinghamshire) geboren. Für kurze Zeit ging er an die Pariser Sorbonne, um Jura zu studieren, wollte aber eigentlich Pop-Sänger werden. Er wirkte sodann in der Schallplattenindustrie und wurde als Rundfunksprecher und Fernsehansager einem breiten Publikum bekannt. Nach den fast anderthalb Jahrzehnten des gemeinsamen Schaffens mit Andrew Lloyd Webber arbeitete Tim Rice für und mit vielen anderen bedeutenden Künstlern, so mit Elton John für den Oscar-gekrönten Titelsong des Disney-Films "König der Löwen" (1995) und für das Musical "Aida" (1999). Neben seiner Tätigkeit als Song- und Stücktexter widmet sich Rice der Herausgabe von Büchern, dem Verfassen von Kolumnen im Londoner "Daily Telegraph" und seiner Aufgabe als Vorsitzender der britischen Foundation for Sport and the Arts. Für seine Leistung auf diesem Gebiet wurde er 1994 von der Königin in den Adelsstand erhoben. “Jesus Christ Superstar” uraufgeführt - einestages http://einestages.spiegel.de/externałShowAlbumB... EINESTAGES - 24. September 2008 16:36 URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/333/1 /_jesus_christ_superstar_uraufgefuehrt.html KALENDERBLATT: 12.10. 1971 "Jesus Christ Superstar" uraufgeführt AP Am 12. Oktober 1971 wird in New York das Musical "Jesus Christ Superstar" uraufgeführt. Die Rockoper bringt dem Komponisten Andrew Lloyd Webber und dem Texter Tim Rice über Nacht Weltruhm - und Jesus Christus wird zum neuen Idol weiter Teile der Jugend. Anfang der 1970er Jahre erwachte in den USA eine neue Religiosität. Nach James Dean, Elvis, den Beatles und Woodstock wurde Jesus Christus zum neuen Idol weiter Teile der Jugend. Sichtbarer Ausdruck dieser Welle war der enorme Erfolg der Rockoper "Jesus Christ Superstar". Sie machte den Komponisten Andrew Lloyd Webber und den Texter Tim Rice über Nacht weltberühmt. Der internationale Triumph von "Jesus Christ Superstar" begann bereits 1970, als ein Jahr vor der Uraufführung des Musicals in New York die gleichnamige Schallplatte in Großbritannien veröffentlicht wurde - allerdings wies zunächst gar nichts auf einen Verkaufserfolg hin. Das änderte sich jedoch, als die Musik in den USA wie eine Rakete einschlug und zweieinhalb Millionen Schallplatten innerhalb von zwölf Monaten verkauft wurden. Für Webber und Rice öffnete das die Türen zum Broadway. "Jesus Christ Superstar" war das erste Musical in der Broadwaygeschichte, das auf einer Plattenproduktion basierte und das erste, das schon vor den Proben ein Erfolg war. Als sich der Vorhang im New Yorker Mark Hellinger Theater zur ersten von insgesamt 720 Aufführungen hob, war das Stück bereits für sechs Wochen im Voraus ausverkauft und hatte schon im Vorverkauf über eine Million Dollar eingespielt. Kunst oder Blasphemie? "Phantastisch" - so lauteten mehrheitlich die spontanen Reaktionen des Premierenpublikums auf das Musical, das in einer als Song-Zyklus gestalteten epischen Bilderfolge die letzten sieben Tage des Lebens von Jesus Christus schildert. Regisseur war Tom O´Horgan, der 1968 schon das Musical "Hair" inszeniert hatte. 1 von 2 24.09.2008 16:37 Uhr “Jesus Christ Superstar” uraufgeführt - einestages http://einestages.spiegel.de/externałShowAlbumB... Während im Saal das Publikum die Rockoper von Webber und Rice mit stehenden Ovationen feierte, protestierten vor den Türen des Theaters konservative religiöse Gruppen. Unbeeindruckt von den Rufen "Blasphemie" hatte sich auch New Yorks damaliger Bürgermeister John Lindsay seinen Weg durch die Demonstranten gebahnt. Auf die Frage, ob er das Musical anstößig finde, meinte er: "Nein, ich finde es großartig." Extravagante Premierenparty Zu den Kritikern gehörte auch das American Jewish Committee. Dort befürchtete man durch eine angebliche Stilisierung der Juden als Mörder eine Verschlechterung der christlich-jüdischen Beziehungen. Dazu meinte ein jüdischer Besucher der Premiere: "Das Stück geht überhaupt nicht hart mit den Juden um. Da stehen im Neuen Testament ganz andere Sachen." Katholische Kreise warfen der Inszenierung vor, die Göttlichkeit von Jesus zu leugnen und Judas zum Helden zu machen. Während Schauspieler und Musiker in der Nacht vom 12. Oktober 1971 mit ihren geladenen Gästen im Lokal "Tavern On The Green" eine der bis dato teuersten und extravagantesten Premierenparties feierten, fieberten Webber, Rice, O´Horgan und Produzent Robert Stigwood den ersten Kritiken entgegen. Diese fielen nicht gerade prächtig aus, wenn man von der "Daily News" absieht, die das Stück als "Triumph" feierte. Der Fernsehsender "ABC" war weniger begeistert: "Enttäuschend" lautete hier das Urteil. Es war vor allem die Inszenierung selber, die viele Kritiker als zu ereignislos bezeichneten. Doch weder Proteste noch die schlechten Kritiken konnten den weltweiten Erfolg von "Jesus Christ Superstar" beim Publikum aufhalten. Externer Link: Weitere historische Ereignisse am heutigen Tag bei Deutsche Welle Kalenderblatt Eingereicht von: DEUTSCHE WELLE: KALENDERBLATT © SPIEGEL ONLINE 2008 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH 2 von 2 24.09.2008 16:37 Uhr 04. Andrew Lloyd Webber Wir wollten etwas schreiben mit vielen Mitwirkenden, etwas Dramatisches, das alle Leute anspricht und eine Oper, weil ich persönlich gern ein ernstes Stück mit populären Techniken machen wollte, nicht bloß Techniken, sondern einfach mit meiner persönlichen Liebe zur Melodie, darauf läuft es letzten Endes hinaus. Wir wandten uns dem Christus-Stoff zu, weil er Tim erlaubte, sich als Dichter zu versuchen und die Christusgeschichte in neuer Art zu interpretieren. Er tat es auch, indem er Judas zum Helden der Geschichte machte. Er schildert ihn als Mann des praktischen Lebens, der einer Gestalt wie Christus zugetan ist, die zu der Zeit schon ihre Aufgabe erfüllt hat und während der letzten sieben Tage des Lebens ihre Kraft verbraucht. Es ist eine sehr menschliche Version von Christus, die seine Größe nicht leugnet, doch die Göttlichkeit einfach nicht zur Diskussion stellt. Dieser Standpunkt zwingt dazu, menschliche Reaktionen von anderen einer großen Gestalt gegenüber zu behandeln. Tims Text führt die Figuren, die um Christus sind, zusammen, der selbst in den Augen der Leute keine klaren Umrisse hat. Maria Magdalena ist die weltliche, die sich in ihn verliebt hat; Pilatus sieht sich mit ihm konfrontiert; Judas hatte laut Bibel die Aufgabe, die Gelder zu kontrollieren; Simon ist der Revolutionär, der in Christus die Leitfigur einer Bewegung zur Überwindung der Welt durch Gewalt sieht. http://www.andrewlloydwebber.com/phprint.php?... Jesus Christ Superstar The 12th October 1971 should have been the happiest night of my life. I was 23 years old and a fairy tale was about to come true. An unknown British young man w a s t o h a v e h i s fi firrs t m u s i c a l p r e m i e r e d o n B r o a d w a y . J e s u s C h r i s t S u p e r s t a r w a s t o o p e n o n t h e v e r y s a m e s t a g e a s M y F a i r L a d y h a d p l ay e d o n l y a d e c a d e a n d a h a l f before. I shall never forget the saga of Jesus Christ Superstar on Broadway. Never in my opinion was so wrong a production mounted of my work. Even though this brash and vulgar interpretation was quite leniently dealt with by the critics at the time, the public saw through it. The biggest selling double album of all time ran in its first theatre incarnation a mere 20 months. Throughout its entire preview period I was never allowed to rehearse the orchestra. Looking back 25 years later, I suppose there were pluses. Because the production was so awful, not production of Superstar in the rest of the world was the same, so I had a baptism of fire by a kaleidoscopic gaggle of directors. Most important, I resolved that night that when I got my first opportunity I would start my own production company. It’s an irony that I’m working with Hal Prince at the moment on the other side of the pond on Whistle Down the Wind whilst Gale Edwards has been creating her production of Superstar here at the Lyceum. For it was Gale who staged Whistle Down the Wind at my annual Sydmonton Festival and as a consequence the project was hijacked from the cinema to the theatre and Hal always wanted to direct Superstar. Back in 1970, whilst Tim Rice and I were in New York, Hal Prince sent a telegram to my parents’ flat saying he wanted to direct and produce Superstar. I only got it after we had signed the rights away. It read “I am the producer of West Side Story, Fiddler on the Roof and Cabaret. Please advise re; rights of Jesus Christ Superstar”. They were gone. I could have cried. I had two idols, Hal and Richard Rodgers. I still wonder how my career would have been perceived in those early days if he had directed it rather than my theatrical debut being allowed to be turned into a mountain of kitsch that looked like a monument to a demented pastry chef. I am writing these brochure notes having seen Gale Edwards’ production in preview. She has listened to everything I told her. I introduced her to John Napier and we had a thrilling evening discussing which painting we felt might be closest to a new production of the piece. We unanimously came down on Holbein’s astonishing, timeless and horrifying The Dead Christ in the Tomb in the Kunstmuseum Basel, Switzerland. We also felt that even if the idea of a “rock opera” sounds like a late 60’s timewarp, I should not change any of the music. In fact the only change is in the orchestration of the final scene because I felt, in preview, that it had to be stripped to its bare bones. I am immensely proud of Gale Edwards and what she has achieved with her virtually unknown cast. She spent a year auditioning over 1,200 actors to arrive at the performers you see and hear tonight. Warts and all, it’s wonderful for me to see the old baby directed and produced in the manner that I had hoped would have marked by Broadway debut. Andrew Lloyd Webber From the 1996 London Production Programme 2 von 3 24.09.2008 13:51 Uhr 06. SYNOPSIS EV'RYTHING'S ALRIGHT Johannes 12,1-11 (...) Da nahm Maria ein Pfund echtes, kostbares Narbenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihrem Haar. Das ganze Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt. Doch einer von seinen Jüngern, Judas Iskarioth, der ihn später verriet, sagte: Warum hat man dieses Öl nicht für dreihundert Denare verkauft und den Erlös den Armen gegeben? (...) Jesus erwiderte: Lass sie, damit sie es für den Tag meines Begräbnisses tue. Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch. (...) JUDAS People we are hungry, people we are starving matter more than your feet and hair. Leute, die Hunger leiden sind wichtiger als deine Füße und Haare. JESUS Think! While you still have me. Move! While you still see me. Denkt nach, solange ihr mich noch habt. Tut etwas, solange ihr mich noch seht. THIS JESUS MUST DIE Johannes 11, 45-53 (...) Da beriefen die Hohenpriester und die Pharisäer eine Versammlung des Hohenrates ein, Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, Dann werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen, Einer von ihnen, Kaiaphas, der Hohepriester jenes Jahres, sagte zu ihnen: Ihr versteht überhaupt nichts. Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. (...) Von diesem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten. PRIESTER What then to do about this Jesusmania? Was sollen wir also tun gegen diese Jesus-Manie? KAIPHAS So like John before him, this Jesus must die. Wie Johannes vor ihm, dieser Jesus muss sterben, For the sake af the nation, this Jesus must die. Zum Wohle der Nation, dieser Jesus muss sterben. HOSANNA Lukas 19,28-40 Nach dieser Rede zog Jesus weiter und ging nach Jerusalem hinauf. Als er an die Stelle kam, wo der Weg vom Ölberg hinabführte, begannen alle Jünger freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie erlebt hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe. Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, bring deine Jünger zum Schweigen! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien. VOLK Hey JC, JC, you're alright by me. Sanna, Hosanna, Hey, Superstar. Hey JC, JC, ich finde dich in Ordnung. Sanna, Hosanna, Hey, Superstar. JESUS If every tongue was still, the noise would still continue, the rocks, the stones themselves would start to sing. Wenn alle schweigen würden, ginge der Lärm trotzdem weiter. Sogar Steine und Felsen würden singen. PILATE'S DREAM Matthäus 27, 11-26 (..,) Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig, Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum, (...) PILATUS Then I saw thousands of millions crying for this man, and then I heard them mentioning my name and leaving me the blame. Dann sah ich Millionen Menschen um diesen Mann weinen. Dann hörte ich, wie sie meinen Namen nannten und mir die Schuld gaben. THE TEMPLE Matthäus 21,12-17 Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und sagte: In der Schrift steht: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein, Ihr aber macht daraus eine Räuberhöhle. Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm und er heilte sie. (...) JESUS My temple should be a house af prayer, but you have made it a den of thieves. Mein Tempel soll ein Haus des Gebetes sein, aber ihr habt es zu einer Räuberhöhle gemacht. Heal yourselves! Heilt euch selbst! DAMNED FOR ALL TIME BLOOD MONEY Matthäus 26,14-16 Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskarioth zu den Hohenpriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm dreißig Silberstücke. Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern. JUDAS Just don't say I'm damned for all time. Doch sagt nicht, ich sei verdammt für alle Zeit. KAIPHAS ANNAS We just need to know, where the soldiers can find him, with no crowd around him, then we can't fail. Wir müssen nur wissen, wo die Soldaten ihn finden können, ohne Menschen um ihn herum, dann können wir nicht versagen. THE LAST SUPPER Lukas 22, 14-34 Als die Stunde gekommen war, begab er sich mit den Aposteln zu Tisch. (...) Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis, Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird. Doch seht, der Mann, der mich verrät und ausliefert, sitzt mit mir am Tisch, (...) Darauf sagte Petrus zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir sogar ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Jesus erwiderte: Ich sage dir, Petrus, ehe heute der Hahn kräht, wirst du dreimal leugnen, mich zu kennen. JESUS I must be mad thinking, I’ll be remembered, I must be out of my head. Look at your blank faces! My name will mean nothing ten minutes after I’m dead. Ich muss verrückt sein zu denken, dass sie sich an mich erinnern, völlig verrückt. Schaut in eure ausdruckslosen Gesichter. Mein Name wird nichts mehr bedeuten, schon zehn Minuten nachdem ich gestorben bin. JUDAS Cut out the dramatics! You know very well who. Lass das Theater! Du weißt ganz genau, wer. And now the saddest cut af all, someone has to turn you in. Und nun, der traurigste Einschnitt von allen, jemand muss dich ausliefern. GETHSEMANE Markus 14, 32-42 (...) Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe, Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst (soll geschehen). Und er ging zurück und fand sie schlafend. Da sagte er zu Petrus: Simon (Petrus), du schläfst? Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben? JESUS I only want to say, if there is a way, take this cup away from me. Ich möchte nur sagen, wenn es einen Weg gibt, nimm diesen Kelch von mir. Why then am I scared to finish what I started, what you started, I didn't start it. Warum bin ich dann zu ängstlich, um zu beenden, was ich begonnen habe, was du begonnen hast. Ich begann es nicht. THE ARREST Lukas 22, 47-53 Während er noch redete, kam eine Schar Männer; Judas, einer der Zwölf, ging ihnen voran. Er näherte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sagte zu ihm: Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn? Als seine Begleiter merkten, was (ihm) drohte, fragten sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug auf den Diener des Hohenpriesters ein und hieb ihm ein Ohr ab. Jesus aber sagte: Hört auf damit! Und er berührte das Ohr und heilte den Mann. (...) Markus 14, 53-65 Daraufhin führten sie Jesus zum Hohenpriester und es versammelten sich alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten, (...) Da stand der Hohepriester auf, trat in die Mitte und fragte Jesus: Willst du denn nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen? Er aber schwieg und gab keine Antwort, Da wandte sich der Hohepriester nochmals an ihn und fragte: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Jesus sagte: Ich bin es. (...) Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Wozu brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Gotteslästerung gehört. Was ist eure Meinung? Und sie fällten einstimmig das Urteil: Er ist schuldig und muss sterben. (...) JESUS Judas, must you betray me with a kiss? Judas, musst du mich mit einem Kuss verraten? APOSTEL Hang on, Lord, we're gonna fight for you. Gib nicht auf, Herr, wir werden für dich kämpfen. PETER'S DENIAL Matthäus 26,69-75 Petrus saß draußen im Hof. Da trat eine Magd zu ihm und sagte: Auch du warst mit diesem Jesus aus Galiläa zusammen, Doch er leugnete es vor allen Leuten und sagte: Ich weiß nicht, wovon du redest. Und als er zum Tor hinausgehen wollte, sah ihn eine andere Magd und sagte zu denen, die dort standen: Der war mit Jesus aus Nazareth zusammen, wieder leugnete er und schwor: Ich kenne den Menschen nicht. Kurz darauf kamen die Leute, die dort standen, zu Petrus und sagten: Wirklich, auch du gehörst zu ihnen, deine Mundart verrät dich. Da fing er an sich zu verfluchen und schwor: Ich kenne den Menschen nicht. Gleich darauf krähte ein Hahn, und Petrus erinnerte sich an das, was Jesus gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen, Und er ging hinaus und weinte bitterlich. PETRUS I don't know him! Ich kenne ihn nicht! MARIA It's what he said that you would do. I wonder how he knew. Er sagte uns, du würdest das tun. Ich frage mich, wie er es wusste. PlLATE AND CHRIST Lukas 23,1-7 Daraufhin erhob sich die ganze Versammlung und man führte Jesus zu Pilatus. (...) Pilatus fragte ihn: Bist du der König der Juden? Er antwortete ihm: Du sagst es. Da sagte Pilatus zu den Hohenpriestern und zum Volk: Ich finde nicht das dieser Mensch eines Verbrechens schuldig ist. (...) Als Pilatus dies hörte fragte er, ob der Mann Galiläer sei. Und als er erfuhr, dass Jesus aus dem Gebiet des Herodes komme, ließ er ihn zu Herodes bringen, der in jenen Tagen ebenfalls in Jerusalem war. PILATUS An amazing thing, this silent king. Sehr beeindruckend, dieser schweigende König, You're Herod's race. You're Herod's case. Du bist Herodes' Rasse, Du bist sein Fall. HEROD'S SONG Lukas 23,8-12 Herodes freute sich sehr, als er Jesus sah; schon lange hatte er sich gewünscht, mit ihm zusammenzutreffen, denn er hatte von ihm gehört, Nun hoffte er, ein Wunder von ihm zu sehen. Er steilte ihm viele Fragen, doch Jesus gab ihm keine Antwort. (...) Herodes und seine Soldaten zeigten ihm offen ihre Verachtung. Er trieb seinen Spott mit Jesus, ließ ihm ein Prunkgewand umhängen und schickte ihn so zu Pilatus zurück. HERODES Prove to me that you're divine, change my water into wine. Beweis mir, dass du göttlich bist, mach aus meinem Wasser Wein. Prove to me that you're no fool, walk across my swimming pool. Beweis mir, dass du kein Narr bist, lauf über meinen Swimming Pool. Or has something gone wrong? Jesus, why do you take so long? Oder ist etwas schief gelaufen? Jesus, warum brauchst du so lang? COULD WE START AGAIN, PLEASE? Johannes 19, 1-3 (...) Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf und legten ihm einen purpurroten Mantel um, Sie stellten sich vor ihn hin und sagten: Heil dir, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht. PETRUS I think you've made your point now. You've even gone a bit too far to get the message home. Ich denke, du hast deinen Standpunkt deutlich gemacht. Du bist dafür sogar ein wenig zu weit gegangen, MARIA So could we start again, please? Könnten wir also von vorn beginnen, bitte? JUDAS'S DEATH Matthäus 27,3-10 Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war, reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohenpriestern und den Ältesten die dreißig Silberstücke zurück und sagte: Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert. Sie antworteten: Was geht uns das an? Das ist deine Sache, Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich. (...) JUDAS I don't believe he knows, I acted for our good. Ich denke nicht, dass er weiß, dass ich für uns alle gehandelt habe. You have murdered me! Du hast mich umgebracht! TRIAL BY PILATE Johannes 18,28-40 (...) Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz! Die Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten. (...) Pilatus ging wieder in das Prätorium hinein, ließ Jesus rufen und fragte ihn: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt? Pilatus entgegnete: Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königreich ist nicht von hier. Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König. Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme, Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen, (...) VOLK Kill him. He says, he's God. He's a blasphemer. He’ll conquer you and us and even Caesar. Töte ihn! Er sagt, er ist Gott! Er ist ein Gotteslästerer. Er wird dich und uns und sogar Cäsar besiegen. JESUS I have got no kingdom in this world, I'm through. In dieser Welt habe ich kein Königreich. Ich bin fertig. PI LATUS This man is harmless so why does he upset you? Dieser Mann ist harmlos, wieso regt er euch auf? 39 LASHES Johannes 19, 1-16a Daraufhin ließ Pilatus Jesus geißeln. (...) Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen: Seht, ich bringe ihn zu euch heraus, ihr sollt wissen, dass ich keinen Grund finde, ihn zu verurteilen. Jesus kam heraus; (...) Pilatus sagte zu ihnen: Seht, da ist der Mensch! Als die Hohenpriester und ihre Diener ihn sahen, schrien sie: Ans Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm! Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn und kreuzigt ihn! Denn ich finde keinen, Grund ihn zu verurteilen, Die Juden entgegneten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Als Pilatus das hörte, wurde er noch ängstlicher. Er ging wieder in das Prätorium hinein und fragte Jesus: Woher stammst du? Jesus aber gab ihm keine Antwort. Da sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. (...) Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf. (...) Pilatus sagte zu den Juden: Da ist euer König! Sie aber schrien: Weg mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt werden konnte. JESUS You have nothing in your hands. Any power you have comes to you from far beyond. Du hast nichts in deinen Händen. Jede Macht, die du hast, kommt von weit her. VOLK Remember Caesar, you have a duty to keep the peace, so crucify him. Vergiss Cäsar nicht, du hast die Pflicht, den Frieden zu bewahren, also kreuzige ihn. SUPERSTAR CRUCIFIXION Markus 15,24 und 34 Dann kreuzigten sie ihn. (...) Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lema sabachtani?, das übersetzt heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Johannes 19,28 und 30 Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet. (...) Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! (...) Lukas 23, 46 (...) und Jesus rief laut: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Nach diesen Worten hauchte er den Geist aus. Johannes 19, 41 An dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten, und in dem Garten war ein neues Grab, in dem noch niemand bestatte' worden war. 07. Elisabeth Frenzel Christus auf der Bühne Theater-Thema Jesus Die Jesus-Figur kam im Mittelalter auf unsere Bühnen, als in Europa Theater zum zweiten Mal erfunden wurde. Das antike Theater war nach seiner eminenten Kraft und Blüte in der nachchristlichen Zeit verschollen. Doch wie das hellenistische Theater hat sich auch das mittelalterliche in engster Verbindung mit und durch den Gottesdienst entwickelt. Die Wurzeln der geistlichen Spiele liegen im 10. Jahrhundert. Die Kunstgattung der Mysterienspiele entwickelte sich als nichtperfektionistische Kunst. Sie thematisierte Geheimnisse des Glaubens. Die Darstellung der JesusFigur blieb von Anfang an äußerst zögerlich und erst die Veränderung der Perspektive, von der aus die Passionsgeschichte berichtet wird, führt zu wesentlichen neuen Impulsen für das Theater des Hochmittelalters. Eine besondere Stellung kommt im 12. Jahrhundert dem Tegernseer AntichristSpiel zu, da es zum ersten Mal den Antichrist als dramatischen Gegenspieler einführte. Diverse theatralische Neudarstellungen beschränkten sich auf die Zitierung oder Paraphrasierung von Christus-Worten und konnten höchstens durch die Auswahl der Züge Varianten des Jesus-Bildes zeichnen. So gibt es den derben, spöttischen Jesus des Trierer, Wiener und Redentiner Osterspiels, den lehrhafternsten des St. Gallener Spiels und den der Frankfurter Spiel-Gruppe, den gerechtstrengen des Zehn-Jungfrauen-Spiels, den Jesus des Rheinauer Weltgerichtsspiels, den des Künzelsauer Fronleichnamspiels und des "Theophilus" und den von der Frauenmystik geprägten milden und liebenden Jesu der Mariä-Himmelfahrt-Spiele des 14. Jahrhunderts, den der Tiroler Spieler und der Augsburger Passion. Die Vielgestaltigkeit der Mysterienspiele dokumentiert die zweite Neugeburt des Theaters. Neben den Mysterienspielen entwickelte sich im späten Mittelalter eine stark moralisierende Abart, die so genannten Moralitäten, die gern mit allegorischen Figuren, wie "das Laster", "der Glaube", '"der Reichtum" arbeiteten und stets von der Bühne herab eine eindringliche Lehre verkündeten. Sie haben später in der Schulkomödie, dem Jesuiten-Theater und bei den Niederländern eine Erneuerung erfahren. Hugo von Hofmannsthals Nachdichtung einer solchen Moralität, das berühmte Jedermann-Spiel vom Sterben des reichen Mannes wie auch sein auf Calderons "Großem Welttheater" basierendes "Salzburger Große Welttheater" zeigen diesen Spiel-Typus. Im Theater des Mittelalters liegen auch die Wurzeln von Paul Claudels modernen Marien-Mysterien „Die Verkündung“ und „Der seidene Schuh“. Im 16. Jahrhundert wurde in Deutschland neben der Meistersingerpoesie und dem Fastnachtsspiel das sogenannte Schultheater gepflegt, das sich, wie das gleichfalls didaktische, mit der Gegenreformation aufkommende Jesuitentheater, besonders der lateinischen Sprache bediente. Dem großen Strom des christlichen Volkstheaters entspringen im 16. Jahrhundert neue kräftige Nebenflüsse in den Kulturen der einzelnen Länder. Am strengsten hat das spanische Drama das mittelalterliche Kulturerbe bewahrt. Als zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Gefolge der raubmordend schwedischen Soldateska überall in Bayern der Schwarze Tod umging, gelobten die Bauern Wallfahrten, Kirchen und Kreuzwege: sie versprachen alles, nur die Beulenplage sollte endlich aufhören. Die Ammergauer waren nicht die einzigen, die eine Spielaufführung als Gegenleistung in Aussicht stellten. War es Zufall, dass die Oberammergauer 1634 ihr österliches Spiel des Benediktinerklosters Ettal auf die Zeit nach Ostern terminierten, auf den warmen und von der Theaterkonkurrenz andernorts nicht genutzten Wonne-Monat? Die Heilige Schrift als Theatertext das Spiel mit Kostüm und Maske, mit Gesang und Tanz, mit lächerlichen und grotesken Figuren bemächtigte sich der Gotteshäuser. Dies so früh und heftig, dass es vom Konzil von Toledo im Jahre 633 aus der Kirche verbannt wurde. Die theaterhaften Umzüge an Fronleichnam sind Papst Urban dem Vierten zu danken, der 1264 die Fronleichnamsfeier anordnete. Aus ihnen hat sich die eine der Hauptgattungen des klassischen spanischen Theaters entwickelt: die "Autos sacramentales", die kirchlichen Fronleichnamsspiele, deren Höhepunkt nicht mehr Spiel ist, sondern ein sakramentaler Akt, die Eucharistie, das Abendmahl. Das spanische Theater, in der Kirche entstanden, aus der Kirche verbannt, der Kirche nutzbar gemacht im Fronleichnamsspiel, bleibt auch dann geistig mit der Kirche verbunden, wenn es später von Wandergruppen, von Berufsschauspielern getragen wird und sich feste Häuser und den Hof erobert. Die Elemente der Prozession sind in das Theater eingegangen; die Begegnung biblischer und historischer, zeitgenössischer und allegorischer Gestalten; Menschen der Gegenwart und der Geschichte zwischen Engeln und Teufeln; die Primitivität der Schauwagen und der Prunk der Kostüme; die Frömmigkeit und die Artistik; der auf das Jenseits gerichtete Glaube und der diesseitige Genuss am Spiel; die distanzlose religiöse Inbrunst und das distanzierte ästhetische Urteil. Die Dorfkirche konnte bald die Zahl der Schaulustigen nicht mehr fassen. Eine Freilichtbühne auf dem Friedhof musste gebaut werden, dann ein eigenes Schauspielhaus. Im 19. Jahrhundert entstand zumindest was die Ausmaße betrifft die größte Bühne der Welt; gebaut nach dem Simultan-Prinzip der mittelalterlichen Bühne mit nebeneinanderliegenden Schauplätzen. Anfang der siebziger Jahre dann, als sich überall in der Bundesrepublik gesellschaftspolitische Veränderungen ankündigten, wirkten sich die allgegenwärtigen Reformtendenzen auch in Oberammergau aus. Eine alternative Barockfassung des Mysterien-Reigens, politisch nicht anfechtbar und künstlerisch anspruchsvoller, wurde 1977 geprobt. Das Schwinden orthodoxer Gläubigkeit seit der Aufklärung brachte eine rationalisierende Darstellung hervor, die in Christus wie etwa N. de Bohaire Dutheiß "Jesus-christ où la veritable religion" nur den Tugendhelden und Lehrer sah oder gefühlsmäßige Aneignung des Stoffes wie in Klopstocks "Messias". Bedeutende Pläne zur Bewältigung des Jesus-Stoffes sowohl von Richard Wagner als auch von Friedrich Hebbel und Otto Ludwig bleiben unausgeführt oder führten bestenfalls zu Fragmenten. Das einschneidende bibelkritische Werk "Das Leben Jesu" (1835) von D. F. Strauss lieferte die theoretischen Grundlagen der folgenden Interpretationen, die Jesu als mythisierte Persönlichkeit, als Sozialrevolutionär, aber auch als pathologischen Fall darstellten. Weitere Säkularisierungstendenzen führten dann dazu, im 20. Jahrhundert beispielsweise Jesu als atheistischen Kommunisten zu sehen. Für die zahlreichen Versuche biblischer Schilderungen, die sich zeitgleich mit dem Leben Jesu zugetragen haben, kann exemplarisch Oscar Wildes Einakter "Salome" stehen, dessen Berliner Skandalpremiere von Max Reinhardt inszeniert, Richard Strauss zu seiner gleichnamigen Oper inspirierte. Nachdem die Jesus-Welle für die Massenmedien zum Thema geworden war, versuchte auch das immerfort suchende Showbusiness dem allgemeinen Trend zu entsprechen, mit dem so genannten "Jesus-Rock". Unter diesem Begriff wurden biblischreligiöse Themen in Rockmanier zusammengefasst; wobei es häufig recht schwierig ist, zu beurteilen, ob sich hinter den entsprechenden Stücken ein bilderstürmender Blick auf die Revolution verbirgt oder ob es sich eher um einen aufrichtigen Versuch handelt, die religiöse Botschaft in zeitgerechte Begriffe und Bilder zu übertragen, die von der jüngeren Generation verstanden werden können. Das Musical "Salvation" (Erlösung) aus dem Jahre 1969 warf keine derartigen Probleme auf. Es gab sich betont antireligiös; obwohl es als eine Art GospelErweckungsgottesdienst aufgezogen war, der durch eine psychedelische Lightshow ergänzt wurde. Die befreiende Erlösung sahen die Musical-Autoren Peter Link und C. C. Courtney in Sex und Drogen. Aus Washington kamen die Musicals "Sweet Jesus", und "Jesus Christ, Lawd Today" und in Belgien das Rock-Oratorium "Gloria Halleluja 2000" heraus. Mit der off-Broadway-Show "Godspell" von Stephen Schwartz und der Rockoper "Jesus Christ Superstar" von Tim Rice und Andrew Lloyd Webber entstanden 1971 zwei Musicals, die erstmals wortwörtlich Jesus-Rock auf die Bühne brachten. "Godspell" stellt Jesus und die Jünger als Clowns in der Tradition der Commedia dell'arte vor. Nichtsdestotrotz blieb es zusammen mit der kompromisslosen RockMusik, den seltsam anmutenden Dekorationen und einer flapsigen Respektlosigkeit eine unmittelbare schlichte Bibelstory. "Jesus Christ Superstar" erzählt die biblische Passionsgeschichte: die letzten sieben Tage im Leben Jesu.Trotz, oder vielleicht gerade wegen heftiger Opposition kirchlicher Kreise, erreichte die Botschaft beider Musicals den Kontakt zur Jugend der siebziger Jahre. Das Genre Jesus-Rock wurde 1976 noch einmal mit dem Farbigen-Spektakel "Your Arm's Too Short to Box with God" aufgegriffen, das im schnoddrigen Slang und mit aktuellen Verfremdungen wie "Godspell" und "Jesus Christ Superstar" gleichfalls auf dem Matthäus-Evangelium des Neuen Testaments basiert. 08. WHO'S WHO IN DER BIBEL JESUS Jesus' Lebensdaten sind bis heute unbekannt. Neueste Forschungen zeigen, dass er ca. 12 v. Chr. geboren und zwischen 30 und 35 n. Chr. gekreuzigt wurde. Von seiner Kindheit und Jugend weiß man wenig und die Authentizität der kaum vorhandenen Schriften wird angezweifelt. Seine Lehre und sein Tod sind hingegen sehr genau durch die vier Evangelien dokumentiert. Durch seine Empfängnis durch den heiligen Geist und die spätere Auferstehung, die in den Traditionen des Judentums nicht vorkommen, wurde Jesus zum Gründer einer neuen Religion. JUDAS Judas Iskarioth bedeutet Judas aus Kerijot, einem Ort in Judäa. Innerhalb der Gruppe der zwölf Jünger um Jesus hatte er den Posten als Verwalter der Kasse inne. Nach jüdischer Überlieferung gehörte Judas zu der Gruppe der Zeloten, die einen bewaffneten Widerstand gegen die Römer forderten. Seine Berühmtheit war das Ergebnis des Verrates an Jesus, den Judas an die Hohenpriester verkaufte. Welche Ambitionen ihn so weit trieben, ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder thematisiert worden, vor allen Dingen nach Auffindung des Judas-Evangeliums. Mittlerweile ist innerhalb der katholischen Kirche eine heiße Diskussion entfacht, ob Judas nicht sogar heilig gesprochen werden sollte. MARIA MAGDALENA Maria aus Magdala oder Maria Magdalena tritt erst spät den Anhängern Jesu bei. Der genaue Zeitpunkt ist unklar. Allgemein wird vermutet, dass Maria Magdalena die Sünderin ist, die Jesus im Haus des Pharisäers die Füße wäscht und sie mit ihren Haaren trocknet. Doch ein eindeutiger Hinweis fehlt. Maria ist weiterhin die erste, die feststellt, dass Jesus' Grab leer ist und ebenfalls die erste, die ihn nach der Aufstehung trifft, auch wenn sie denkt, sie spräche mit einem Gärtner. KAIPHAS Kaiphas (oder Kajaphas) war Hohepriester in Jerusalem von 18 bis 36 n. Chr. und beim Prozess gegen Jesus anwesend. Außerdem war er der Schwiegersohn des Hohenpriesters Annas und gehörte damit zu der Familie, die in der Priesterschaft Jerusalems den Ton angab. ANNAS Annas (oder Hannas) war Hohepriester in Jerusalem und Oberhaupt einer Familie, die dieses Amt sozusagen als Monopol inne hatte. Er wurde im Jahr 15 n. Chr. des Amtes enthoben. Er wird im Johannes Evangelium am Rande erwähnt, da Jesus erst ihm vorgeführt wird, bevor er zu Kaiphas, dem amtierenden Hohenpriester und Schwiegersohn Annas', kommt. SIMON Simon der Zelot war einer der zwölf Apostel Jesu. Es ist unsicher, wie er den Märtyrertod erlitt: ob er gekreuzigt oder in zwei Teile gesägt wurde. PILATUS Pontius Pilatus war von 27 bis 36 n. Chr. Statthalter von Judäa. Jedoch erregte er immer wieder den Zorn der Juden, da er ständig zwischen Taktlosigkeit und unnötigem Auftrumpfen hin- und herschwankte. Am Ende wurde er seines Amtes enthoben. Obwohl Pilatus spürte, dass Jesus ein Unschuldiger war, musste er dem Druck der Menge nachgeben und ihn nach letzten friedlichen Lösungsversuchen kreuzigen lassen. PETRUS Simon, ein Fischer aus Galiläa, war der wichtigste von den Jüngern Jesu und ragt in allen Evangelien aus dem Kreis der Jünger heraus. Daher erhielt er den Beinamen "Petrus" (griech. Fels), obwohl er Jesus drei Mal verleugnete. Zu einem späteren Zeitpunkt ging Petrus nach Rom, wo er während der Neronischen Verfolgung den Märtyrer-Tod starb: angeblich wurde er mit dem Kopf nach unten gekreuzigt. Petrus wird zudem als der erste Papst bezeichnet. Einige Wissenschaftler und auch die katholische Kirche behaupten bis heute, sein Grab befinde sich unter dem Petersdom. Außerdem war Petrus der einzige Jünger, von dem berichtet wird, er habe eine Frau gehabt. HERODES Herodes Antipas (4 v. Chr. 39 n. Chr.) war der Sohn von Herodes des Großen, der [angeblich] den Kindermord in Bethlehem befahl. Er übernahm nach dem Tod seines Vaters als Tetrarch die Herrschaft über Galiläa. Auf den Wunsch seiner Stieftochter Salome, ließ er Johannes den Täufer köpfen und ihr den Kopf auf einem silbernen Tablett servieren. Als Jesus auf Veranlassung von Pontius Pilatus zu Herodes geführt wurde, weigerte er sich Verantwortung zu übernehmen und schickte ihn wieder zurück. 09. Walter Jens „Der Fall Judas“ Ehre sei Gott! Ich, P. Berthold B. OFM, stelle den Antrag, Judas aus Kerioth seligzusprechen, der ein Sohn des Simon war und im Volksmund bis heute Judas, der Sichelmann heißt. Ich bitte dem Heiligen Stuhl zu erklären, dass dieser Judas in die himmlische Glorie eingegangen ist und öffentliche Verehrung verdient. Denn ihm und keinem anderen sonst ist es zu danken, dass in Erfüllung ging, was im Gesetz und bei den Propheten über den Menschensohn steht. Hätte er sich geweigert, unseren Herrn Jesus den Schriftauslegern und Großen Priestern zu übergeben: hätte er nein gesagt, Nein, ich tue es nicht, jetzt nicht und auch in Ewigkeit nicht, als Christus ihn anflehte, barmherzig zu sein und ein Ende zu machen: hätte er sich seiner Bestimmung entzogen und die Tat verschmäht, die um unser aller Erlösung willen getan werden musste - er wäre an Gott zum Verräter geworden. Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer. Ein revoltierender Judas hätte Jesus das Leben gerettet und uns allen den Tod gebracht. Aber Judas rebellierte nicht. Er wusste nämlich, dass es an ihm, einzig an ihm lag, ob die Prophetie des alten Bundes sich erfüllte oder nicht. Eine kleine Bewegung seines Kopfes, ein Schütteln statt eines Nickens, als Jesus den Satz gesagt hatte: Was du tun willst: Tu's schnell! - und Gottes Plan wäre vereitelt worden. Die Prophetie des Alten Testaments: ein Gespött! Davids Weissagung: »Ich bin der Schatten, der dem Körper voranfliegt; ich zeige an, was kommen wird« ein poetisches Bild, weiter nichts. Die Worte des zweiundzwanzigsten Psalms: »Meine Kräfte sind trocken wie eine Scherbe. Die Zunge klebt mir am Gaumen. In den Staub des Todes hast du mich gelegt«« ein makabres Zeugnis angesichts des alten Zimmermanns von Nazareth, der da Judas sich geweigert hatte, ihn auszuliefern - in Galiläa sein Rentnerbrot aß . . . nicht gekreuzigt, sondern Kreuze schnitzend: ein unter Seinesgleichen geachteter Mann, dem die Sprüche längst verziehen waren, die er gemacht hatte, als er jung gewesen war. Dank sei dem Judas! Er hat getan, was getan werden musste. Er hat gewollt, was Gottes Wille war. Einer musste es tun - und dieser eine war Judas. Er wusste, dass es eines Menschen bedurfte, um Jesus zu überliefern: Ein Mensch war vonnöten, kein Gott! Ein Mensch, der bereit war, zum Attentäter zu werden, zum Mordgehilfen und Verräter, um so ein für allemal zu beweisen, wohin Menschen geraten können, die, um ganz sie selbst zu sein, vor keinem Anschlag zurückschrecken am allerwenigsten vor dem Anschlag auf Gott. Dies zu erweisen war Judas' Auftrag: Indem er ihn erfüllte, wurde er zum Vollstrecker des göttlichen Plans - und zwar freiwillig. Aus eigenem Willen. Und auf diesen Tatbestand eben: dass sich hier einer, aus Frömmigkeit, dazu hergab, die Rolle des leibhaftigen Satan zu spielen, den Part Dschingis Khans oder Eichmanns: dass jemand, aus freien Stücken zum Demonstrationsobjekt wurde, um auf diese Art, ex negatione, den Beweis anzutreten, dass wir Menschen, nach Adams Fall, allesamt der Erlösung bedürfen. .. auf diesen Tatbestand gründet sich mein Antrag, Judas aus Kerioth unter die Schar der Märtyrer Christi zu reihen. Nein, der Mann war kein Teufel. Der Verrat geschah auf Gottes Befehl. Um Jesu willen im Dienste der Sonne, des Tages, des Lichts hatte Judas Schatten zu sein, Dunkelheit und Nacht. Vom Totenreich aus brachte er das Leben zum Leuchten, zeigte in der Hölle die Klarheit des Himmels und zeugte als Satan für Gott. Und nun frage ich: Lässt sich ein Martyrium denken, ein Akt der Selbstverleugnung, der heroischer wäre als dieser? Was hat Judas auf sich genommen! Die Verachtung seiner Landsleute, die das Blutgeld nicht wollten - gut, das mag hingehen. Auch die Selbstgefälligkeit eines Schülers vom Schlag des Johannes lässt sich ertragen: der Stolz des Primus, der sich von seinem Lehrer geliebt weiß und gegenüber dem Gesellen auf der letzten Bank nichts als Verachtung empfindet. Aber die Verfluchung durch Jesus selbst! »Einer von euch ist der Teufel.« »Ich weiß, wen ich erwählt habe. Es muss geschehen, dass die Schrift erfüllt wird, in der es heißt: Der mein Brot isst, hat die Ferse gegen mich erhoben.« Und, endlich, das Entsetzlichste: »Der Menschensohn muss sterben; denn es wurde geschrieben: Er geht dahin; aber wehe dem Menschen, der den Menschensohn ausliefern wird - es wäre besser für ihn, er wäre niemals geboren.« In einem solchen Augenblick schweigen zu müssen, seinem Auftrag treu zu bleiben und nicht aufschreien zu dürfen: »Halt ein, ich bitte dich, hör auf. Ich kann nicht mehr« - dieses Martyrium übersteigt alle Vorstellungskraft. Und doch ist auch das noch nicht alles. Denn zur Verdammung im Augenblick, dem Richtspruch des Herrn, kommt das Urteil der Geschichte. Die Verhöhnung durch die Kunst. Der Prozess von Seiten der Theologie. Die kirchliche Inquisition. Judas, der Satan. Judas, Mörder von Anbeginn, Gottes verworfener Sohn. Und dabei war er fromm vielleicht der Frömmste, den es je gegeben hat: Ich kann es beweisen. Mit Hilfe der Heiligen Schrift, mit meinem Glauben und der Vorstellungskraft, die Gott mir. geschenkt hat. Die Bibel zuerst. Im siebenundzwanzigsten Kapitel des Matthäus, Vers drei bis fünf, stehen die folgenden Sätze: »Judas aber, der ihn ausgeliefert hatte, sah nun, dass Jesus verurteilt war, und da packte ihn Reue, und er brachte den Großen Priestern und Mächtigen die dreißig Silberlinge zurück: »Ich habe Unrecht getan«, sagte er, »und einen Menschen ausgeliefert, der unschuldig ist.« Doch sie antworteten ihm: »Was geht das uns an. Dies ist deine Sache: sieh du nur zu!« Da warf er die Silberstücke in den Tempel und ging fort, irgendwohin, und hängte sich auf.« So weit Matthäus: Eine Anklage gegen den Verräter, so scheint es, der, kaum dass er die erste Sünde begangen hat, auch schon der zweiten verfällt: Dem Verrat folgt der Selbstmord. Aber es scheint nur so. Die Sätze trügen; die Wahrheit steht zwischen den Zeilen. Oder, genauer gesagt, sie ergibt sich, wenn man den Bericht über Judas' Reue und Tod mit einer Erzählung vergleicht, die im Alten Testament steht und jenem frommen Propheten gilt, Sacharja, dem die Juden für einen Dienst ebenfalls dreißig Silberlinge gaben. Dreißig Silberlinge: der Kaufpreis eines Sklaven. Eine Summe, die so klein war, dass sie demütigen sollte. Aber Sacharja war stolz, und darum folgte er Jahwes Befehl und warf die Silberlinge in den Tempel des Herrn. Ich denke, das ist deutlich genug: Beide, Sacharja und Judas, hatten ein Amt. Der eine musste die Schafe hüten, der andere musste das Lamm überliefern. Beide handelten auf Gottes Befehl; beide taten, was der Herr von ihnen verlangte. Auch Judas! Indem er Sacharja nachfolgte und den Schandlohn in den Tempel warf, gab er ein Zeichen und deutete, eine Sekunde lang den Zipfel seines Geheimnisses lüftend, dem, der zu lesen versteht, an: Auch ich habe, wie jener Sacharja, im Namen Gottes gehandelt. Nein, hier geht es nicht um die Verzweiflungstat eines Sünders; hier handelt kein verstörter Mensch - ein Mörder, der nicht mehr ein noch aus weiß in blinder Ekstase; hier hat ein frommer Mann seine Botschaft verkündet: Schaut her! Ich habe das Gesetz erfüllt. Lest nach und denkt daran: Es hat seine Bedeutung, wenn ein Mann die Silberlinge in den Tempel wirft zum Zeichen, dass er Gott gehorsam war. Und dann gibt es noch einen zweiten Beweis wiederum in der Heiligen Schrift. Den Kuss im Garten von Gethsemane! Wäre Judas wirklich der Verräter gewesen, den unsere Kirche bis zu diesem Tag in ihm sieht, er hätte die Soldaten zu Jesus geführt, hätte genickt: Der da ist es und sich aus dem Staube gemacht. Nichts davon im Evangelium! Statt des Winkens aus dem Hinterhalt - die Umarmung; statt des verschwiegenen Zeichens der Kuss! Der Liebeserweis eines Mannes, der beauftragt war, sich zu verleugnen und der den ihm von Gott befohlenen Dienst bis zu diesem Augenblick mit einer Konsequenz ausgeführt hatte, an der gemessen selbst das Martyrium des heiligen Papius, den man, wie bekannt, in einen siedendheißen, mit Öl und Fett gefüllten Kessel warf, als ein Kloster-Exerzitium erscheint. Und dann plötzlich bricht es aus Judas heraus. Unfähig, sich noch länger beherrschen zu können, stürzt er auf Jesus zu - Meister, ich habe getan, was du verlangtest. Bist du zufrieden mit mir? -, umarmt und küsst ihn, berührt Christi Mund mit seinen Lippen und Jesus versteht. Mein Freund sagt er zu ihm, und dann, flehentlich wie beim Passahmahl: Tu's jetzt. Es ist Zeit. Ein Kuss, eine Geste der Freundschaft, der Ansatz eines Gesprächs unter Brüdern, sanfte Bewegungen und das Wort Lieber Freund dann wird nur noch verhört, geschlagen, gespieen, gequält, genagelt, geschrien und gefoltert. Verhöhnt und krepiert. Die Umarmung in Gethsemane, der Judaskuss: Das ist für mich das letzte Licht, das Jesus sah. Danach wurde es Nacht. Der Knecht küsst den Herrn, der Herr sagt zum Diener Mein Freund: Auch das ist ein Zeichen, dass Jesus und Judas, wie Brüder, zusammengehören. Wie gesagt, die Prophetie wollte erfüllt sein; einer musste es auf sich nehmen, zum Element des göttlichen Willens zu werden; einer hatte dafür zu sorgen, dass dem incarnatus das resurrexit nachfolgte; einem war von Gott der Auftrag gegeben, den Pendelschlag zu vollenden: vom Himmel zur Erde, von der Erde zum Himmel - und dieser eine, man kann es nicht oft genug sagen, war Judas. Er war auserwählt worden, der Verworfene zu sein; denn er allein war stark genug dafür. Judas, der Fromme. Der Einsame unter den Geselligen. Der Mann aus Judäa inmitten der elf Galiläer. Der Kluge unter den Einfältigen. Der Rechner und Zweifler unter Hirten und Fischern. Warum führte er ihn in Versuchung geradeso, als sei das Vaterunser für ihn selbst, Jesus von Nazareth, nichts weiter als eine Phrase? Und führe uns nicht in Versuchung - eine Bitte, die für Jesus nicht gilt? Nein, das kann ich nicht glauben. Ich weigere mich, mir einen Gott vorzustellen, der, um der Erfüllung seines Plans willen, einen Menschen zur Sünde verurteilt: Auf, Judas, mein Gesell! Ein solches Spiel ist zu ungleich, für mich: Dieser Judas hat keine Chance. Oder doch? Gut. Dann müsste Gott bereit gewesen sein, seinen Plan fallen zu lassen. Dann hätte die Gefahr bestanden, dass es, im doppelten Sinne des Worts, keine Überlieferung gab. Nun, die Wirklichkeit sieht anders aus: Judas war kein Opferlamm. Er tat es freiwillig. Judas war eingeweiht, und darum ging er Seinen auch als seinen Weg. Er war - ich bitte um Verzeihung für das Wort - Jesu Komplize: Nicht nur einer der Zwölf, die Israels zwölf Stämme repräsentieren, das gottgewollte Reich, das das zerstreute Volk am Ende der Tage wieder in Besitz nehmen wird; nicht nur einer aus dem Kreis der Apostel, von denen Jesus gesagt hat: »Am Tage der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten«; nicht nur Jünger unter den Jüngern: nah bei Jesus, mit anhörend die Worte des ewigen Lebens, Gottes Stimme aus der Wolke vernehmend: »Dies ist mein Sohn, mein geliebter Sohn, den ich auserwählt habe.« Judas war mehr. Der Prophetie unseres Herrn, der Fußwaschung und des Passahmahls wurden auch die anderen Apostel gewürdigt, die Jesus zugezählt waren: Judas aber stand höher als die übrigen elf. Er sprach mit dem Herrn in einer Sprache, der Wissende zum Wissenden, die keiner von den andern verstand: Was du tun willst: tu's schnell! (Und nicht etwa: Lass ab davon. Judas, ich flehe dich an: Verfall nicht der Sünde.) Ich bin es doch, Herr? Du hast es gesagt. Ein Zwiegespräch über die Köpfe der Jünger hinweg! (Schweigend saßen sie da und verstanden kein Wort.) Ein Dialog zwischen Jesus und Judas: dem Getreuesten, dessen Erwählung unser Herr bezeichnete, als er ausgerechnet ihn, den Verworfenen. . . kommunizieren ließ. Dem Verräter die heilige Speise, der Brocken vom Passah mahl, und dem Verratenen der Kuss: Wie deutlich wird hier, wenngleich in verhüllender Rede, auf die geheime Übereinkunft, den heiligen Bund zwischen dem Meister und seinem gehorsamen Jünger verwiesen. Und wie könnte das auch anders sein? Sie waren ja verbündet, die beiden; waren aneinandergekettet; waren wie zwei Brüder, von denen der eine den anderen braucht. Judas war nichts ohne Jesus: so, wie der Schatten nichts ohne den Leib ist. Aber Jesus war auch nichts ohne Judas: Wenn der eine nicht zu den Großen Priestern und nach Gethsemane ging, sondern das Geheimnis für sich behielt, war es um den anderen geschehen. Ich wiederhole also: Sie gehörten zusammen Jesus und Judas, Judas in Jesu Hand. Beide hatten ihren Weg zu gehen vereint noch im Tod: hoch über der Erde am Holz. Die Frage ist nur - ich stelle sie zögernd, mit großem Bedenken -, wessen Weg der schwerere gewesen ist: der Weg unseres Heilands oder der Weg jenes Mannes, der Jesus im Sterben voranging. Voranging in der Gewissheit vor Gott, dass die letzte Geste auf Erden auch die erste im Himmel sein werde: Noch einmal Gethsemane, doch jetzt ist es Jesus, der auf Judas zutritt, ihn küsst und umarmt. Und vor den Menschen? Verachtet. Verflucht! Ein Selbstmörder, dem niemand glaubt, dass auch er als seine letzte Stunde kam - Es ist vollbracht - gesagt haben könnte. Ein Verworfener, dessen Todesgedanken noch nie ein Mensch zu denken gewagt hat. Ich aber will es versuchen: »Warum, mein Gott, lässt du nicht zu, dass ich, statt des Schächers, neben Ihm sterbe? Warum verlangst du auch dies noch von mir? Ist es denn noch nicht genug? Du weißt doch, wie viel leichter es ist, an Seiner Seite gekreuzigt zu werden, als Ihn ausliefern zu müssen. Warum also lässt du mich selbst jetzt noch allein und duldest, dass Er dem Schächer das Paradies verspricht, während ich, die Hölle vor Augen, hier am Baum krepieren muss? Ausgerechnet ich, der alles tat: was immer du befahlst.« Aber das war nicht das letzte Wort. Die Gemeinsamkeit zwischen Jesus und Judas geht bis zum Tod: »Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe:« Ist es nicht glaubhaft, dass auch Judas, ehe er starb, diese Worte gesagt hat? 10. Olaf Schulze ... und verriet ihn mit einem Kuss Ein Mann gibt einem anderen einen Kuss, einen Tag später wird keiner mehr von beiden am Leben sein. Der Geküsste, Jesus, stirbt gemartert und gedemütigt den Kreuzestod der andere, Judas, der Übermacht seiner Schuld bewusst, hat sich erhängt. Ihr letztes Zusammensein nach Jahren voller Vertrautheit war ein Kuss ein Kuss, der Geschichte schrieb, der Kuss eines Verräters... und doch ein Kuss. Dieser Kuss hat schon manche Gemüter beunruhigt. Warum zeigt Judas nicht auf Jesus, um ihn den Häschern zu verraten? Warum gibt er ihnen keine präzise Beschreibung und hält sich sonst fern von dem Geschehnis? Würde es nicht genügen, einzig Ort und Zeit preiszugeben? "In Gethsemane am Vorabend des Sabbats werdet ihr ihn finden, aber lasst mich aus dem Spiel!" Wäre dies nicht die adäquate Haltung eines geldgierigen Verräters? Doch ein Kuss?.. oder sollte Judas so kaltblütig gewesen sein, ein solches Zeichen zu wählen, jenes Symbol für die größtmögliche Nähe zweier sich nahe stehender Menschen so zu pervertieren? Schon die frühen Christen hatten ihre Schwierigkeiten mit dem Kuss des Verräters. Die Überlieferung der Evangelien ist nicht eindeutig. Während es bei Markus (Mk. 14,45) und Matthäus (Mt. 26, 49) zu einem Kuss kommt, lässt der Verfasser des Lukas-Evangeliums dies offen: "Judas (...) trat an Jesus heran, um ihn zu küssen. Jesus aber sagte zu ihm: ,Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?" (Lk. 22, 47f). Im Johannes-Evangelium hingegen fehlt das Motiv völlig. Hier ist es Jesus selbst, der sich den Häschern von vorne herein stellt (Joh. 18, 4ff). Überhaupt ist der Blick auf den historischen Judas Iskariot, und seine Beweggründe, sich Jesus anzuschließen und ihn am Ende zu verraten, durch die Folgen seiner Tat verstellt. Im Nachhinein betrachtet erscheint er so als Dieb und Querulant, vom Satan besessen, wenn er überhaupt der Erwähnung wert ist. Dabei gehörte er zum engsten Kreis der Jünger und verwaltete ihre gemeinsame Kasse, tätigte Einkäufe, eine wichtige Aufgabe, und exponiert, vielleicht auch beneidet. Die Episode der Salbung in Betanien mag das Verfahren der Evangelisten verdeutlichen, Judas im Nachhinein aus dem Kreis der Jünger auszugrenzen. Nach dem Markus-Evangelium (Mk. 14, 3-9) zeigen sich einige der Jünger unwillig über die Verschwendung des kostbaren Öls, bei Matthäus gar klingt der Jünger Meinung unisono, man hätte das Öl besser teuer verkauft und das Geld unter die Armen verteilt (Mt. 26, 6-13). Für Johannes ist es jedoch nur Judas, der diese Frage stellt. "Er sagte das nicht, weil er den Armen etwas Gutes tun wollte, sondern weil er ein Dieb war. Er verwaltete die gemeinsame Kasse und griff oft zur eigenen Verwendung hinein." Die Antwort Jesu ist allerdings auch bei ihm letztlich an alle Zeugen der Salbung gerichtet: "Lass sie (die Frau, die Jesus gesalbt hatte; O. S.) in Ruhe! Sie hat es für den Tag meines Begräbnisses getan. Arme wird es immer bei euch geben, aber mich habt ihr nicht mehr lange bei euch." (Joh. 12,1-8). Mag sein, dass sich der historische Judas in seinem sozialpolitischen Engagement von Jesus schließlich enttäuscht sah, der für vieles nur Worte fand, die kaum seine engsten Vertrauten verstehen konnten. Mag sein, dass Judas religiöseschatologischer Aktivismus seinen Höhepunkt im Doppelspiel des Verrates erreichen sollte: Jesus zu zwingen, sich endlich als neuer Messias und König der Juden zu offenbaren und das Land von den römischen Unterdrückern zu befreien. Vielleicht mögen die Ursachen auch in gekränkter Freundesliebe und Eifersucht zu sehen sein, in jenem Moment, da die Massen strömen und der Meister sein Ende nahen sieht und sich in eine scheinbare Privatheit zurückzieht. Auch Judas war ein Mensch in seiner Kompliziertheit, mit seinen Schwächen und Stärken - lässt er sich auf dreißig Silberlinge reduzieren? Judas erkannte seine Schuld und suchte den Freitod. Er war ein notwendiges Werkzeug Gottes zur Erfüllung des Heilsplans. Wenn schon Jesus in Gethsemane um Verständnis rang, musste Judas - ein Mensch durch und durch - an seinem Schicksal verzweifeln. "Judas ist die tragischste Gestalt im Neuen Testament. Er muss das Skandalon auf sich nehmen." (Schalom Ben-Chorin). "Und sogleich trat er zu Jesus und sagte: ,Sei gegrüßt Rabbi!' und küsste ihn. Jesus aber sagte zu ihm: ,Mein Freund, tu, wozu du gekommen bist'!" (Mt. 26, 49f). Vielleicht kamen beide sogar aufeinander zu, wie es bereits auf spätantiken Darstellungen des Verrats zu sehen ist - aufeinander zu zum Begrüßungskuss, der ein Abschiedskuss werden sollte. Giotto gibt in der Arena-Kapelle in Padua (1305-07 entstanden) ein besonders beeindruckendes Bild dieses Typus. Wer nur diesen Ausschnitt betrachtet - Judas, der Jesus mit seinem Mantel umfängt - sieht zwei gute Freunde, die sich nahe sind... ein Kuss auf die Wange, wie schon so oft... ...eine Deutung dieses Kusses ließe sich aus den folgenden Erläuterungen Schalom Ben-Chorins ziehen: "Judas küsst den Meister, und mit diesem Kusse ist der Tod des Gerechten besiegelt. (...) Das Motiv "Mitha bi-Neschika", des Todes im Kusse, wird hier verhüllt, entstellt und gewissermaßen grausam karikiert angedeutet. Der Gerechte stirbt nach jüdisch-haggadischer Vorstellung im Kusse: im Kusse Gottes. Diese Vorstellung knüpft sich an den Tod des Moses, den einsamen Bergtod. Gott küsst Moses die Seele fort. Nicht der Todesengel mit seinen Schrecken naht sich dem Gerechten, sondern Gott, der Vater, neigt sich herab, küsst seinen Sohn und nimmt ihm im Kusse die Seele, die er ihm gegeben. - Im Kusse des Judas ist etwas von dieser Vorstellung des Todes im Kusse, der den Gerechten vorbehalten ist, angedeutet. Mit diesem Kuss ist das Schicksal Jesu besiegelt. Gott, der sich auch des Satans und des dunklen Jüngers zu seinem Heilsplane bedient, sendet dem Todesgeweihten den Kuss als Erkennungszeichen. Der Kuss des Judas ist nicht nur für die Häscher das Zeichen. Er ist es, so verstanden, auch für Jesus selbst." So nähert sich Gott im Mensch dem Menschen... durch einen Kuss auf den Mund, durch einen Kuss, der so vieles bedeuten mag. Tim Rice und Andrew Lloyd Webber haben in "Jesus Christ Superstar" viele der zwischenmenschlichen Beziehungen der Hauptpersonen aufgedeckt... und mögliche Deutungen gegeben. Nicht allein Jesus wird zum Menschen, auch Maria Magdalena (die nicht nur für sich allein, sondern für eine Vielzahl von Jüngerinnen und Frauen um Jesus steht) und vor allem Judas, jene Prototypen der reuigen Sünderin und des Erzverräters, sie werden zu Menschen, indem sie eine Geschichte erhalten und Raum, diese zu erzählen. Eine neue, eine mögliche Botschaft. Auch eine Botschaft von Liebe... von einer Liebe, die beide mit Jesus verbindet, von vielleicht unerwiderter, aber dennoch gelebter Liebe: "I don't know how to love him... Wie soll ich ihn nur lieben?" Und schließlich ist es die Geschichte von einem Kuss, der zuviel bedeuten musste... um für die Küssenden erträglich zu sein. 11. Valerian Ehnes MARIA MAGDALENA Wer kennt sie nicht, die Geschichte der sündigen Maria Magdalena, der gefallenen Prostituierten, der Jesus ihre Sünden vergab. Sie wird daraufhin eine treue Anhängerin des Herrn und ändert ihren Lebenswandel. Doch die Geschichte ist so leider nicht ganz richtig. Maria Magdalena heißt in Wahrheit wahrscheinlich Miriam und kam aus dem Fischerdorf Magdala. Dass sie eine Dirne war, steht indes nicht in der Bibel. Eine neue Generation von Religionswissenschaftlerinnen machte sich daran, die alten Bibeltexte und Übersetzungen neu zu interpretieren. Ihr Ziel war es vor allem, die zahlreichen Missverständnisse, die ihren männlichen Kollegen im Laufe der Zeit unterlaufen sind, zu korrigieren. So fanden sie beispielsweise heraus, dass Maria Magdalena eine der wichtigsten Anhängerinnen des Jesus Christus war, vielleicht sogar seine Vertraute und finanzielle Ratgeberin. Sie ist es auch gewesen, die den Männern, den Aposteln nämlich, die wichtigste Botschaft zu bringen hatte: die der Auferstehung Jesu. Dennoch wird sie in Dichtung und Kunst gerne als die büßende Sünderin dargestellt. Sie ist die Frau unter dem Kreuz Jesu, die meist in Tränen und mit aufgelösten Haaren gleichzeitig über den Verlust ihres Herrn und über ihren sündhaften Lebenswandel weint. Denn auch unter dem Kreuz ist sie - nach traditioneller Darstellung - in erster Linie das ihr Vorleben bereuende und büßende Weib. Wie selbstverständlich kommt der Betrachter dabei auf den Gedanken, ihre Schuld müsse mit ausschweifender Sexualität zu tun haben, denn Magdalena, als attraktive Frau dargestellt, könnte man ein Dasein als Dirne durchaus zutrauen. Verantwortlich für das schlechte Bild der Maria Magdalena machen Bibelgelehrte vor allem einen: Papst Gregor der Große, der im Jahre 591 in einer Predigt mehrere biblische Frauengestalten in einer Person verband. Doch Maria Magdalena war nicht die einzige Frau im Umkreis Jesu. So erwähnt der Apostel Paulus einen gewissen Junius, einen der zahlreichen Anhänger des Jesus, bei dem es sich jedoch tatsächlich um eine Junia handelt. Ältere Versionen der Bibel legen das zu Tage, was Jahrhunderte lang in Übersetzungen männlicher Bibel-Exegeten nicht von Bedeutung erschien, die wichtige Rolle der Frau in Kirche und Religion. 12. Die Jünger Jesu und Apostel Im Bergland bei Kafernaum nahm Jesus eine Auswahl seiner Jünger vor. Er bestellte zwölf zu seiner Gefolgschaft und gab diesen besondere Vollmachten. Sie werden Apostel genannt (griechisch „apostolos“ ist die Übersetzung des aramäischen „schaliach“; das bedeutet „senden“, „mit Vollmacht senden“). Simon, genannt Petrus ist der Gründer der christlichen Kirche in Rom. Den Beinamen „Fels“ (griech.: Petrus, aramäisch: Kefas) erhielt er, weil auf ihm die Kirche Jesu gegründet werden konnte. Petrus war Fischer aus Galiläa. Jesus gegenüber war er der Vertreter der Jünger. Zusammen mit den Söhnen des Zebedäus bildete er die Kerngruppe der Apostel. Nach der Auferstehung nahmen sie es in die Hand, die Jünger zusammen zu halten. 64 n.Chr. wurde er unter Nero kopfunter gekreuzigt. Jakobus, Sohn des Zebedäus und sein Bruder Johannes werden „Boanerges“, „Donnersöhne“, genannt, weil sie anboten, auf die Sekte der Samariter, Feuer vom Himmel zu holen. Jakobus der Ältere war Fischer. Er wurde 44 n.Chr. auf Befehl von König Agrippa I. mit dem Schwert hingerichtet. Seit dem 7. Jahr- hundert verbreitete sich die Legende, dass Jakobus oder sein Leichnam nach Spanien gelangt sei. Sein Grabmal in der Kathedrale von Santiago de Compostela wurde zu einer der bedeutendsten Pilgerstätten. Johannes ist der Bruder von Jakobus dem Älteren. Es heißt, der Fischer wäre der „Lieblingsjünger“ Jesu gewesen. Nach der Kreuzigung war er mit der Betreuung der Mutter Jesu beauftragt. Er erlitt das Martyrium, indem er in heißes Öl gestoßen wurde. Andreas war der Bruder Petrus’ und zunächst Jünger von Johannes dem Täufer. Er soll in Patras an ein Kreuz mit schrägen Balken (Andreaskreuz) geschlagen worden sein. Philippus stammte wie Andreas und Petrus aus einem Fischerdorf in Galiläa. Er wurde von Priestern an einem Kreuz gesteinigt. Bartholomäus ist der Sohn des Ptolemäus. Er wird immer in Verbindung mit Philippus genannt. Er soll in Indien oder Armenien enthäutet und enthauptet worden sein. Matthäus lernte Jesus bei Kafarnaum am Zoll kennen. Thomas ist der Namensgeber für den sprichwörtlichen „ungläubigen Thomas“. Das bezieht sich auf die Nachricht von Jesu Auferstehung. Thomas soll in Indien wegen seiner Großzügigkeit gegenüber Armen von Lanzen durchbohrt worden sein. Jakobus, Sohn des Alphäus wird auch Jakobus der Jüngere genannt. Man vermutet, seine Mutter gehörte zu den Frauen, die Jesus aus Galiläa folgten. Thaddäus verfügte vermutlich über einen sanften Charakter und die Bereitschaft zur Hingabe. Er wurde als Märtyrer erschlagen. Simon Kananäus war ein Anhänger der rigide kämpferisch-konservativen Zeloten-Partei. Unklar ist, ob er ein Zelot im politischen oder religiösen Sinne war. Unsicher ist auch, ob er den Märtyrertod durch Kreuzigung oder durch Zersägen erlitt. Judas Ischariot kam nicht aus Galiläa, sondern Judäa. Er erhielt für den Verrat Jesu 30 Silberstücke. Nach Jesu Verurteilung bereute er, warf das Geld in den Tempel und erhängte sich. Titel Der göttliche Bote In nur 300 Jahren stieg das Christentum von einer Provinzsekte zur Weltreligion auf – trotz schlimmster Verfolgungen. Neue archäologische Funde zeigen: Die Bewegung breitete sich über die jüdischen Viertel aus. Dann kamen vor allem heidnische Frauen dazu. Am Ende gab sich das römische Kaiserreich geschlagen. U m 45 n. Chr. bestieg ein energischer Mann, gehüllt in eine Wollkutte, im Hafen von Antiochia ein Schiff und nahm Kurs auf Zypern. Von Beruf war er Zeltmacher. Quellen beschreiben ihn als „klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen“. Unauffällig mischte sich der Seefahrer unter die Passagiere. Im Herzen trug er einen tollkühnen Plan: Er wollte, so der Bibelforscher Friedhelm Winkelmann, einen „als politischen Verbrecher rechtskräftig Verurteilten, der die Todesstrafe der niedersten sozialen Schicht erlitten hatte“, zum Gottessohn erhöhen. Im Apostel Paulus ballt sich ein Ursprungsrätsel des Christentums. Dieser Mann vor allem war es, der den Kreuzestod Jesu in ein religiöses System aus Sühne und Erlösung umdachte, das die gesamte antike Sittenwelt zum Einsturz brachte. 16 000 Kilometer legte der rastlose Prediger bei seinen Reisen zurück. Heiden und Krüppel umlagerten ihn. Er wurde verprügelt, verspottet, verehrt. Er war in Ankara und auch in Milet, der Urstadt der Mathematik. In (laut Bibel) 13 Briefen hat Paulus seine Missionen beschrieben. Sieben davon Jesus-Malerei (aus dem 4. Jahrhundert)* Höhlenkirche („Petrus-Grotte“) im türkischen Antakya BEN BEHNKE (L.); HELD COLLECTION / BRIDGEMANART.COM (R.) Zauberer oder Herrscher? stammen wirklich aus seiner Feder. Das älteste Schreiben, der 1. ThessalonicherBrief, verfasst im Winter 50/51 n. Chr., ist das früheste beglaubigte Zeugnis des Christentums überhaupt. In „edler Haltung“ und mit „Augen voller Freundlichkeit“, heißt es in frühkirchlichen Texten, habe der Mann seine frohe Botschaft einer Welt der Sklaverei und bluttriefender Amphitheater vorgetragen. „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben“, rief er süß, „und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen.“ Aber er konnte auch ganz anders. Der heiße Atem des Kampfs weht aus seinen Episteln. „Parteisoldat Jesu“ wurde * Aus der Commodilla-Katakombe in Rom. 143 Papstmesse auf dem Petersplatz in Rom (2007): „Obskure messianische Bewegung“ er genannt. Feinde schmähte er als „Hunde“. Exakt an der Stelle, wo der erstaunliche Prediger vor fast 2000 Jahren zu seiner ersten Fahrt aufbrach, sitzt Hatice Pamir auf einem hohen Steinquader. Es ist ein Teil der alten Hafenmole vor Antiochia. Heute heißt der Ort Antakya und liegt in der Türkei. Ende Februar blühen hier schon die Blumen, lauer Wind fegt vom Mittelmeer heran. Die Archäologin von der örtlichen Mustafa-Kemal-Universität arbeitet an einem spannenden Projekt. Sie erkundet die Wiege der Christenheit. Fest steht: Antiochia, drittgrößte Metropole des Römischen Reichs, war die Schaltstelle der Bewegung. Nicht nur Paulus lebte hier (von 36 bis 48 n. Chr.), sondern auch Petrus, der erste Jünger Jesu. Matthäus schrieb hier wahrscheinlich sein Evangelium. Auch der Urbischof Ignatius, den die Römer von wilden Tieren zerfleischen ließen, lehrte in dieser Stadt. Nahezu alle Vordenker des neuen Glaubens hatten sich in der „Krone des Orients“ versammelt. Ob „Christen“ oder „katholische Kirche“ – in Antiochia fielen diese Begriffe zum ersten Mal. Übrig geblieben ist von dem alten Debattierzentrum allerdings wenig. Brände und Erdbeben vernichteten den Ort. Die antike Stadtmauer mit ihren wuchtigen Quadern ist noch halbwegs erhalten. Wie ein zerborstener Lindwurm zieht sie sich auf einem Berggrat hin. Um die unter Flugsanden verschüttete Siedlung überhaupt fassen zu können, 144 wurden deutsche Forscher um Mithilfe gebeten. Der Leipziger Geodät Ulrich Weferling gehört dazu. Jedes Bodendenkmal wird derzeit vermessen, andere erkunden den Grund geomagnetisch. Leiter des Teams ist der Archäologe Gunnar Brands aus Halle. Besondere Aufmerksamkeit gilt einer Urkirche, die in einem steilen Berghang liegt. Wer das Portal durchschreitet, gerät in eine Grotte. Von den grünschimmernden Felswänden rinnt Wasser in ein klobiges Taufbecken. Neben dem Altar öffnet sich ein Tunnel, durch den die Gläubigen einst bei Gefahr fliehen konnten. In dieser schummrigen Höhle, so wird angenommen, hielt vor fast 2000 Jahren der Apostel Petrus die ersten Gottesdienste ab. Religionsforscher verfolgen die Untersuchungen in der Türkei mit Spannung. Sie erhoffen sich Aufschluss über eine Grundfrage, die sie seit langem quält: Wie gelang es den Christen, dieser „winzigen und obskuren messianischen Bewegung“ aus dem randständigen Galiläa (so der USSoziologe Rodney Stark), das klassische Heidentum zu verdrängen und zum Staatskult aufzusteigen? Überraschend schnell glückte dieser Vormarsch. Winkelmann spricht von einer „erstaunlichen Expansion“. Zum Zeitpunkt der Kreuzigung, so viel ist klar, war die Gruppe noch sehr klein. Angeblich besaß sie anfangs nur 120 Anhänger. Im antiken Schrifttum taucht die Truppe als „lichtscheue Gesellschaft“ auf, „stumm in der Öffentlichkeit, in Winkeln geschwätd e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 MARIA GRAZIA PICCIARELLA / ROPI zig“. Sueton berichtet, dass sie 49 n. Chr. in Rom „Unruhe“ stiftete. Schnell gründete die Sekte Ableger in Ephesus und Alexandria. Später griff sie nach Lyon und Köln aus. Im Bauch des Römischen Reichs waren ethische Untergrundkämpfer am Werk. Im Jahr 312 n. Chr. hatte der Glaube bereits Roms obersten Staatslenker erfasst: Kaiser Konstantin, der lorbeergekrönt auf dem Palatin residierte, schob das Christentum mit Staatsgeldern an. Auf sein Geheiß hin entstand der Vorläufer des Petersdoms und auch der Urbau der Hagia Sophia in Istanbul. 50 Bibeln mit goldenen Lettern ließ der Herrscher herstellen. Für jede einzelne starben 700 Ziegen für das Herstellen des Pergaments. Auf dem Sterbebett erklärte sich dieser Cäsar (der den eigenen Sohn meuchelte und mit Astrologen verkehrte) schließlich zur Taufe bereit und beugte sich dem Messias. Die Forscher sprechen von einer „weltgeschichtlichen Epochengrenze“. Nur warum verlief alles so rasant? Die ganze Seltsamkeit des christlichen Siegeszugs wird deutlich, wenn man die Rahmenbedingungen bedenkt: Als die ersten Apostel ausschwärmten, stand ihnen eine gnadenlose Macht gegenüber. Rom war aus Milliarden Schwerthieben errichtet worden. Rund 30 Legionen hielt das Land unter Waffen. Von den Urwäldern Germaniens bis nach Mesopotamien führten sie Krieg. Ganze Völkerschaften wurden entwurzelt und versklavt. 90 Prozent der Einwohner lebten im Dreck. Die Städte waren rand- voll mit Dirnen, Bettlern, Analphabeten. Kein guter Nährboden fürs Evangelium der Liebe. Wegen ihrer Weigerung, dem Kaiserbild Wein und Weihrauch zu opfern, war die Gemeinde von Anbeginn politisch verdächtig. Caligula machte den Auftakt, er ließ Christen martern. Später, während der Pogrome des 3. und frühen 4. Jahrhunderts, kamen Fleischklammern und glühende Eisen zum Einsatz. Allzu redseligen Märtyrern schnitten die Henker die Zunge heraus. Zudem gab es viel Konkurrenz am Himmel. Die einen verehrten die Fruchtbarkeitsgöttin Isis, andere schliefen sich im Heiligtum des Serapis gesund. Aus dem Osten kam Mithras ins Reich geschwappt. Auch gab es jede Menge kraftvolle Heroen – von Jupiter bis Sol. Jesus dagegen kam auf dem Grautier daher. Eine antike Kritzelei zeigt ihn mit einem Eselskopf. Was hatte er zu bieten? Eine lüsterne und unzüchtige Welt musste der Apostel Paulus da bekehren. Die Wandbilder aus Pompeji zeugen vom deftigen Geschlechtsleben der Römer. Huren gab es zuhauf. In der Hauptstadt am Tiber boten gallische Dirnen und geschminkte Transvestiten ihre Dienste an. Paulus hielt das für „Dreck“. Im Körper sei überhaupt „nichts Gutes“, er sei ein „Todesleib“, Sitz der Begierde und „Feindschaft gegen Gott“. Immer wieder erregte sich der Prediger über die „Unzucht“ („porneia“), das „Laster“, die „Werke der Finsternis“. Frauen rührte er nicht an. Er hob sie zwar empor – aber nur um den Preis tota- ERICH LESSING / AKG Titel Apostel Petrus und Paulus (Ritzzeichnung, 4. Jahrhundert): Glaubenskrieg ums Essen ler Entsinnlichung. Wehe, sie reizten. Im Gottesdienst sollten sie schweigen und einen Schleier tragen. Der Historiker Tacitus, der um 112 n. Chr. als Statthalter in der Provinz Asia lebte – wo sich die Urchristen am schnellsten ausbreiteten –, brauchte bloß aus seiner Villa zu blicken, um die Leute zu beobachten. Für ihn war das Ganze ein „verhängnisvoller Aberglaube“. Wer also, das ist eine der Schlüsselfragen der Religionsgeschichte, hörte überhaupt auf die Botschaft von der Nächstenliebe? Welche Schicht entflammte sich für den Heiland aus der Provinz? Die Sache ist deshalb so vertrackt, weil aus dem 1. und 2. Jahrhundert kaum Zeugnisse vorliegen. Fast unsichtbar formierte sich die Schar. Der Bibel zufolge traf sie R M I S C H E S Grenze des Römischen Reichs 106 n. Chr. Rom Hinrichtung des Paulus um 65 n. Chr. sich anfangs privat „in den Häusern“. Schweigend trank die Gemeinde das Blut des Herrn und pries dessen in Brotform gereichten Leib als „Arznei der Unsterblichkeit“. Kulinarische Kontemplation statt Kochshow. Auch in den Katakomben von Rom wurde nach den Ur-Anfängen gefahndet. Mehr als 60 Tunnelsysteme ziehen sich durch den Tuffstein. Es sind Friedhöfe der Frühchristen. Ausgräber stießen auf Skelette sowie Duftlampen gegen den Verwesungsgeruch. In diesen modrigen Gängen prangen zwar die frühesten christlichen Bilder. Zu sehen sind etwa die drei Magier aus dem Morgenland oder der Jesusknabe im Schoße Marias. Doch die ältesten dieser SCHWARZES MEER Byzanz Thessaloniki Philippi Tarsus Paulus’ Geburtsort Antiochia Athen Korinth Unterwandertes Weltreich Frühe Ausbreitung des Christentums im Römischen Imperium Erste, zweite, dritte Paulusreise wichtige, von Paulus gegründete Gemeinden Christliche Gemeinden des 1. Jahrhunderts Christliche Kerngebiete Lystra Ephesus Attalia R E I C H Perge Antiochia Salamis Damaskus Tyrus Bekehrungs- MITTELMEER Caesarea Cyrene erlebnis des Paulus um 32 n. Chr. Jerusalem Alexandria von Petrus geleitete Urgemeinde 250 km Frühchristliches Ankerkreuz-Symbol d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 145 Zeichnungen stammen aus dem 3. Jahrhundert. Erst neuerdings fällt etwas mehr Licht in die Wiege der abendländischen Moral. Mit modernen Techniken wird die Zwielichtzone der ersten 200 Jahre erhellt. Mit der C-14-Methode bestimmen Forscher das Alter von Reliquien. Wiener Archäologen erkunden derzeit mit Laserscannern die 15 Kilometer langen Gänge der Domitilla-Katakombe. Beim Herumkrauchen haben sie bereits neue Malereien aufgespürt. Und auch in Israel hat der staatliche Antikendienst in jüngster Zeit reichlich Beute gemacht. Jesus zeigt sein wahres Gesicht (siehe Kasten Seite 151). Zudem liegen verblüffende Schriftfunde vor. Eine wichtige Entdeckung kommt aus Nag Hammadi am Nil. In einem Tongefäß lagen 13 zerfledderte Bücher. Sie enthalten Texte, die von den Päpsten später verfemt wurden („Apokryphen“). Insgesamt schälen sich vier Aspekte heraus: • Träger des Christentums waren anfangs fast nur Juden. Die Ausbreitung lief über ihre Viertel – deshalb der schnelle Verlauf. • Das Angebot der Fürsorge und Nächstenliebe wirkte wie Sozialkitt im Römischen Reich. Es milderte die Rassenunruhen und Spannungen. • Attraktiv war der neue Glaube vor allem für Frauen. • Am Ende half ein Babyboom. Während die Heiden im großen Stil Kinder abtrieben und Säuglinge töteten, erklärten die Christen die Leibesfrucht für unantastbar. „Wir errichten ein neues wissenschaftliches Gebäude“, meint der Utrechter Bibelkundler Leonard Rutgers. Winkelmann drückt es so aus: Die Pioniere der Bewegung waren nichts anderes als „innerjüdische Reformer“. Mit all diesen Befunden gerät eine Weltreligion neu ins Blickfeld, die vor rund 2000 Jahren im bäuerlichen Galiläa entstand. Jesu Heimatdorf Nazareth war so arm, dass viele Leute in Wohnhöhlen leb- LUISA RICCIARINI / ULLSTEIN BILD Titel Papyrus mit Johannes-Evangelium* „Arznei der Unsterblichkeit“ ten. Der Alttestamentler Wolfgang Zwickel spricht von einer „Klitsche“ mit kaum 200 Einwohnern. Schon vorm Morgengrauen mussten die Frauen raus und Brot backen, das die Männer mit auf die Felder nahmen. Fisch gab es gelegentlich, Fleisch fast gar nicht. Ganz Arme löffelten Malvensuppe. Die Skelette der Region weisen Eisen- und Proteinmangel auf. Da Männer ab 14 Jahre zur Kopfsteuer veranlagt wurden, ist damit zu rechnen, dass auch der junge Jesus zu dem Zeitpunkt einem bezahlten Job nachging. Markus zufolge war er „Bauhandwerker“ – solche Leute mörtelten und setzten Steine. Erst Luther machte aus ihm einen „Zimmermann“. Arbeit gab es genug. Rom und seine jüdischen Vasallenkönige waren gerade dabei, die rückständige Gegend mit einem neuen Way of Life zu beglücken. Städte mit Badehäusern wurden errichtet und große Landgüter. Am See Genezareth entstand eine Fischindustrie mit Magdala als Pökelzentrum. Nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt, wo der Maurer Jesus abends erschöpft aufs Bettlager fiel, saßen angepass* Aus dem 4. Jahrhundert, in koptischer Sprache. Zeit der Apostel Die Macht des Glaubens Chronik des frühen Christentums um 30 n. Chr. Jesus von Nazareth wird in Jerusalem gekreuzigt. frühes Christussymbol 146 Z e i t d e r Ev a n g e l i s t e n ab 32 Petrus als Leiter der Jerusalemer Urchristen. In Antiochia wächst die zahlenmäßig größte Gemeinde heran. um 50 frühester erhaltener Paulusbrief (1. Thessalonicherbrief) 44 Judäa und Galiläa unter römischer Verwaltung. 64 bis 67 Nach dem großen Brand in Rom befiehlt Nero die erste breite Christenverfolgung. Petrus (Kopf-über-Kreuzigung) und Paulus (Enthauptung) verlieren ihr Leben. um 45 bis 58 Die Missionsreisen des Apostels Paulus führen ihn bis nach Athen. Streit innerhalb der Gemeinde, ob Beschneidung und das Gesetz der Tora auch für die JesusAnhänger gelten. te, hellenisierte Juden in der frisch hochgezogenen Prunkmetropole Sepphoris und vergnügten sich in einem Theater für 4200 Gäste. Die einen prassten – die anderen hatten kaum zu essen. Viele Bauern überschuldeten sich unter den neuen Zwingherrn und verloren ihr Ackerland. Der Zusammenhalt in den Dörfern, die alte Solidarität waren bedroht. In dieser Zeit trat Jesus gleichsam als Robin Hood der Levante auf. Sein Einklagen von mehr Nächstenliebe diente als Modell der Umverteilung. Einen „gewaltlosen Widerstand gegen soziale und koloniale Unterdrückung“ habe er gepredigt, so der US-Forscher John Crossan. „Brich dem Hungrigen dein Brot“, sagt Christus, „und wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn.“ Zugleich war der bärtige Twen gegen den überbordenden Opferkult im Tempel von Jerusalem. Die Bauern Galiläas mussten hohe Abgaben zahlen. Wer den Steuerbütteln „Widerstand zu leisten wagte, wurde mit Schlägen misshandelt“, schreibt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus. Allzu viel Tamtam beim Ausüben der Religion lehnte Jesus ab. Mit dem Sabbat nahm er es nicht so genau. Er wollte die Revolution der Herzen gegen eine erstarrte Gesetzlichkeit. Diese würzte er mit einer Prise Eschatologie: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe.“ Etwa ab 27 n. Chr., so sieht es der Berner Theologe Ernst Axel Knauf, sei der „Bettelmönch“ in der Region tätig gewesen. Ein Kostverächter war er nicht. Während Johannes der Täufer in der Wüste hauste und Heuschrecken aß, scheute sich der Nazarener nicht, bei reichen Leuten zu essen. Seine Feinde nennen ihn in der Bibel einen „Fresser und Weinsäufer“. Friedrich Nietzsche verglich die Jünger- Büste des Kaisers Nero 66 bis 70 Jüdischer Aufstand. Die römischen Besatzer schleifen den Tempel von Jerusalem. Die Christen der Stadt fliehen ins jordanische Pella. d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 um 70 Markus, angeblich der Sekretär des Petrus, verfasst die Lebensgeschichte Jesu. um 80 Niederschrift des Matthäus-Evangeliums 80 bis 90 Lukas schreibt sein Doppelwerk, das Evangelium und die Apostelgeschichte. um 95 Evangelium und Offenbarung des Johannes Frühe Darstellung des Evangelisten Lukas NORBERT ZIMMERMANN / ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, INSTITUT FÜR KULTURGESCHICHTE DER ANTIKE Laserscannen eines Grabes (in der Domitilla-Katakombe in Rom): Friedhof der Frühchristen schar mit einer „buddhistischen Friedensbewegung“, die ein „tatsächliches und nicht bloß verheißenes Glück“ anstrebte: Guru Jesus. Selbst über dessen Privatleben lässt sich spekulieren. Der griechische Philosoph Kelsos nannte ihn einen unehelichen Sohn. Die Jungfrauengeburt sei erfunden worden, um die „abstoßenden Umstände“ seiner Herkunft zu verschleiern. Auch wird Jesus in der Bibel als „Rabbi“ bezeichnet. Tora-Lehrer waren stets verheiratet. Er ebenso? Als mögliche Kandidatin wird immer wieder seine Begleiterin Maria Magdalena genannt. Ein lange verschollener Text aus dem 3. Jahrhundert berichtet, dass diese Frau (und nicht Petrus) Jesu Erbe antrat und die erste Gemeinde in Jerusalem leitete. Auftrieb bekam das Gerücht auch durch eine andere Schrift aus Nag Hammadi. Dort heißt es: „Der Erlöser liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger, und er küsste sie oftmals auf ihren Mund.“ Zudem wird sie als „koinonos“ („Lebensgefährtin“) angesprochen. Als der Anführer vermutlich 30 n. Chr. auf der Richtstätte Golgatha am Kreuz hing, reichte sein Ruf allenfalls in die Region. Im Römischen Reich war er ein Niemand. Ein grausiger Fund aus einem Vorort Jerusalems lässt ahnen, was Jesus erlitt. In dem Grab lag ein Gekreuzigter. In seinem Fersenknochen steckte ein 17 Zentimeter langer Nagel. Beide Schienbeine waren durch gezielten Beilschlag glatt durchtrennt worden. Diese Behandlung war noch gnädig. Aus antiken Quellen ist bekannt, dass die Kreuzigung mit einer Geißelung begann. Dabei kamen Peitschen zum Einsatz, an denen Knochenstücke hingen. Ans Querholz gefesselt, schleppte sich der Delinquent dann zur Richtstätte. Dort zog man ihn wie ein Vieh am Kreuz hoch. Um den Todeskampf zu verlängern, besaß der Längsbalken eine Stütze für die Füße. Drohte der Gemarterte wegen des enormen Zugs an den Armen zu ersticken, konnte er sich von dem Brettchen aus hochdrücken. So ging es manchmal über Tage. Mit seinen Gegnern hatte Rom kein Mitleid. Auf die Urgemeinde in Jerusalem wirkte die Quälerei wie ein Schock. Jesu Vision der Liebe war zertreten worden. Also deutete die Gruppe das Geschehen radikal um. Wer die Idee von der Auferstehung des Herrn und seiner nahen Wiederkunft ausheckte, weiß bis heute niemand. Dann schlug die Gruppe los. Nach „Phönizien und Zypern und Antiochia“, heißt es in der Bibel, seien die Blutzeugen des Z eit der Mrtyrer und Kirchenlehrer 2. Jahrhundert Beginnende Konsolidierung von Klerus und christlicher Lehre 132 bis 135 Letzter großer jüdischer Aufstand. Rom zerstört Dutzende Dörfer. Juden dürfen Jerusalem fortan nicht mehr betreten. um 110 Tacitus berichtet in seinen „Annalen“ über die Christen. 165 Der Satiriker Lukian verspottet die Christen als „arme Leute“ mit albernen Ewigkeitsideen. 112 Ein Erlass Kaiser Trajans bestimmt, dass Christen, die sich dem Kaiserkult verweigern, hingerichtet werden. um 125 Ältester erhaltener Papyrus mit einem Text des Neuen Testaments. 249 bis 251 Pogrome unter Kaiser Decius. Der Märtyrertod standhafter Christen wird später zur Grundlage der Heiligenverehrung. 303 bis 311 Letzte große Christenverfolgung im Westen des Reichs. Trotz Massenverhaftungen und der Zerstörung von Kirchen scheitert die staatliche Unterdrückung um 200 Der Kirchenschriftsteller Tertullian geißelt die Gladiatorenkämpfe in Rom. 251 bis 253 Papst Cornelius lässt in Rom das Skelett von Petrus suchen. 313 Kaiser Konstantin erlässt das Toleranzedikt von Mailand. um 200 Eine Liste nennt die meisten neutestamentlichen Schriften (Hebräerbrief, Petrusbriefe, ein Johannes- und der Jakobusbrief fehlen noch). 258 Kaiser Valerian lässt Bischöfe verhaften und ohne Prozess hinrichten. d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 4. Jahrhundert Ursprünge des Weihnachtsfestes Märtyrertod des heiligen Ignatius von Antiochien (Ikonenmalerei) 380 Das Christentum wird Staatsreligion. 147 Panoramamodell im Museo della Civiltà Romana 1 Circus Maximus 2 Apollontempel 3 Haus des Augustus 4 Aquädukt des Claudius Messias ausgeschwärmt, wobei sie vorerst „niemandem als allein den Juden das Wort verkündigten“. Mit ihrer Vorstellung vom Erlöser eckte die Gruppe allerdings schnell an. Die Priester in Jerusalem huldigten einem fernen, drohenden Gott. Die Propheten des Alten Testaments hatten Jahwes Weltgericht vielfach angekündigt, aber es kam und kam nicht. Das Böse (nun in Gestalt der Römer) triumphierte weiter. Die Gerechten Israels blieben unerlöst. Dass Jesus Gottes Sohn sei, hielten die Strenggläubigen für schlimmste Lästerung. Und sie hatten die Mittel, die Querulanten zu stoppen. Hell schimmernd im Sonnenlicht, mit Türen aus feinstem Holz, stand der große Jahwe-Tempel auf einem Berg in Jerusalem. Priester in blauen Gewändern, an denen Schellen und Edelsteine hingen, schritten dort umher; sie wachten über die Speisegesetze und die reine Lehre der Tora. Es gab allein 24 Dezernate für den Opferkult. Wie hart der Kampf mit der neuen Splittergruppe ablief, zeigte sich alsbald. Etwa 36 n. Chr. wurde das ranghohe Gemeindemitglied Stephanus gesteinigt. Bald danach kamen – laut Bibel – alle Apostel in Haft. Petrus, der Leiter der Gemeinde, verteidigte sie. Im letzten Moment entschlüpfte er ins rund 500 Kilometer entfernte Antiochia. 148 5 Tempel des Claudius 6 Kolosseum 7 Kolossalstatue Kaiser Neros 8 Triumphbogen Konstantins Paulus stand anfangs auf der anderen Seite. Unter dem Namen Schaul (Saul) in Tarsus geboren, hatte er in Jerusalem beim Rabbi Gamaliel studiert. Danach schloss er sich den Pharisäern an – einer Religionspartei der Juden –, die an die Auferstehung der Toten glaubten und nach strengster Zucht lebten. Der junge Mann sprühte vor Geist. Auch die aktuelle griechische Philosophie war ihm geläufig. Die Apostelgeschichte erzählt, dass Paulus als Spitzel begann. Auf dem Weg nach Damaskus, wo er wohl im Auftrag des Tempels Christen verfolgen sollte, sei ihm plötzlich Jesus in einer Vision erschienen und habe ihn umgestimmt. Später bildete der Bekehrte die typisch gequälten Züge des Konvertiten aus. Seine Sprache war präzise, aber auch schroff und aufbrausend. Ausgangspunkt seiner Arbeit war ab etwa 36 n. Chr. das herrliche Antiochia. Bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg barg ein Grabungsteam aus Chicago dort ãIn dieser Zeit trat Jesus auf, ein weiser Mensch. Er war nmlich Vollbringer unglaublicher Taten.Ò Flavius Josephus, Jüdischer Geschichtsschreiber, 93 n. Chr. d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 9 Tempel der Venus 10 Thermen des Titus und des Trajan ALINARI / INTE RF OTO Rom zur Zeit Kaiser Konstantins des Großen Hunderte Mosaike, mit denen die Villen der römischen Präfekten und jüdischen Kaufleute gepflastert waren. Es sind die prächtigsten der antiken Welt. Etwa 300 000 Menschen lebten dichtgedrängt in der Stadt, darunter Inder und germanische Söldner. Die Viertel der Syrer und Griechen waren durch eine Mauer getrennt. Immer wieder kam es zu Krawallen. In den Gassen und Souks roch es nach Koriander und Hammeldung. In den Tempeln räucherte Götzenfleisch. Reiche ließen sich des Nachts aus Angst von bewaffneten Sklaven mit Fackeln den Weg weisen. „Mit ihrer irrwitzigen ethnischen Heterogenität und den daraus resultierenden bitteren Konflikten“, sagt der Soziologe Stark, sei das erst 64 n. Chr. angegliederte Antiochia eine typische Stadt des Imperiums gewesen: „Rom schuf seine ökonomische und politische Ordnung zum Preis des kulturellen Chaos.“ Aus diesem Sumpf entstieg die Sehnsucht nach Erlösern. Die Cäsaren hatten die antike Welt globalisiert. Sie war reif für einen Monotheismus, der zu allen Völkern sprach. Basis dieser Idee waren eindeutig die jüdischen Viertel in den Großstädten, wo der neue Glaube zuerst Fuß fasste. Unter dem Honigmond des Orients saßen um 45 n. Chr. jene Umstürzler zusammen, die das Urchristentum ausheckten. Titel d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 Tempel in Jerusalem hielten. Paulus’ Angebot – Freiheit von Beschneidung, Speisegesetzen und Festkalender – war für diese Zuhörer durchaus verlockend. Sie lebten unter dem Druck der Anpassung. „Mein Volk“, „meine jüdischen Geschwister“, rief der Prediger zärtlich. Über sich selbst sagte er: „Ich bin Israelit, aus dem Stamm Benjamin.“ Dann redete er Tacheles. Das Ritualgesetz nannte er „Kot“, nur Dummköpfe würden es sklavisch befolgen. Mit einem – für das Altertum – ungeheuren Gedanken hielt der Prediger dagegen. Alle Schranken des Sozialen, der Kulturen und des Geschlechts wollte er einreißen – zumindest im Glauben. Das Erlösungsangebot Jesu stehe allen Menschen offen, meinte er: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Große Worte. Nietzsche hielt sie für den Beginn der Gleichmacherei. „Das Gift der Lehre – gleiche Rechte für alle – hat das Christentum am grundsätzlichsten ausgesät“, höhnte der Philosoph. Er empfahl, vor der Lektüre des Neuen Testaments „Handschuhe anzuziehen“. Ähnlich dachten die Gegner von einst. Schon in Philippi, wo Paulus seine erste gemischte Gemeinde gründete, kam es zum Eklat. Der Fremde wurde von Entrüsteten mosaischen Glaubens gefangen genommen. Ähnlich lief es in Thessaloniki, wo ihn Synagogengänger verjagten. Der Mann, der da behauptete, ihm entströme der „Wohlgeruch“ des Erlösers, wirkte wie ein verheerender Spaltpilz. In Korinth, wo er im Winter 49/50 n. Chr. ankam, blieb Paulus 18 Monate. Die Hafenstadt war von jeher eine Sündenmeile mit viel Prostitution. Bald gab es auch dort Ärger. Einige Juden folgten dem Bekehrer, andere wurden eifersüchtig und zeigten ihn beim Prokonsul Gallio an. Aus einer steinernen Inschrift lässt sich schließen, dass der Apostel 51 n. Chr. dort weilte. Gegenmissionare wurden tätig, von Paulus als „Lügenbrüder“ und „Falschapostel“ beschimpft. Als die Gemeinden in Galatien umschwenkten und vom gemeinsamen Essen mit den Heidenchristen Abstand nehmen wollten und sogar deren Beschneidung forderten, geriet er in Wut. Auch mit anderen Gemeinden gab es immer wieder Stress. Mal „unter Tränen“, mal polternd versuchte er seine INTERFOTO Wie weiland bei den K-Gruppen oder „neuen Bund“ mit dem Allmächtigen geden Leuten um Robespierre kam es aber schaffen, die Beschneidung sei überflüssig. Ein universeller Heilsplan schwebte dem auch bei diesen Weltverbesserern sogleich zum Richtungsstreit. Es brach ein Problem religiösen Denker vor. Israel sollte sein Exauf, das die Sekte alsbald in eine schwere klusivrecht aufgeben. Wohl 49 n. Chr. brach der Mann in AnKrise führen sollte. Das kam so: Die im Schmelztiegel An- tiochia die Zelte ab und machte auf eigene tiochia tätigen Frühchristen wandten sich Faust weiter. Was folgte, war ein lebensauch an Heiden. Einige der Ungläubigen gefährlicher Sturmlauf. Rückblickend wird fanden Gefallen an der Botschaft von der Paulus sagen: „Ich bin oft in Todesnähe Auferstehung des Herrn und schlossen sich gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal erhalten 40 Geißelhiebe weniger einen; ich der Gemeinde an. Ein verschworener Clan bildete sich, bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal der Gottesdienste feierte und gemeinsam gesteinigt worden, dreimal habe ich Schiffaß. Sowohl Petrus als auch Paulus hielten bruch erlitten.“ Zuerst wandte sich Paulus nach Kleinsolche Mahlgemeinschaften ab. Locker kochten die jüdischen und die vormals asien – von vielen Griechen bewohnt, eine heidnischen Christen zusammen. Das aber verstieß gegen die Ritualgesetze im 3. Buch Mose. Juden durften kein Schwein essen, nicht Ersticktes, nicht Blutwurst, weder Hasen, Uhus noch Shrimps, Aale und anderes Wassergetier ohne Schuppen. Verboten war es, Milch- und Käsegerichte neben dem Fleisch zuzubereiten: „Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter.“ Das war durchaus ehrenhaft gedacht – in diesem Fall zugunsten der Ziege. Auch das seltsame Gebot, Obst von Bäumen unter vier Jahren nicht anzurühren, ließe sich mit den hohen jüdischen Moralvorstellungen begründen – als Früchteschutz für Babybäume. Im Jahr 48 kam es deshalb zur Krisensitzung in Jerusalem. Noch empfand man sich als innerjüdische Gruppierung. Jakobus, ein leiblicher Bruder Jesu, lud zum Konvent. Schließlich wurde ein harter Kurs beschlossen: kein Verzehr von Blut, von Kaiser Konstantin der Große (Statuenkopf) unkoscheren Speisen und kein Sex mit den Heidenchristen. Petrus gehorchte – vorerst. Er löste sei- Wiege der Kunst, des Sports, der Mathene Tischgruppe auf. Der Weg zur Welt- matik –, das seit über 100 Jahren schon religion, kaum angedacht, schien schon von Roms Legionen unterjocht war. Nur mit Wanderstab und Papyrusrolle eilte er wieder verbaut. Einzig Paulus hielt mit einigen Getreuen auf dem Landweg nach Europa. Früher stellte man sich den Prediger wie dagegen. Mit einem Eifer, den nur der Glauben entfacht, versuchte er, die Kon- die Redner im Hyde Park vor. Doch er ventsbestimmungen auszuhebeln. Paulus scheute eher die öffentlichen Plätze. Seine wollte die Pforten des Tempels aufstoßen Anlaufstationen waren die Synagogen, die und das Heil allen Menschen predigen, durchreisenden Juden auch Bett und Frühstück boten. nicht nur den Juden. Schon damals gab es in allen größeren Der Ansatz, den der Abtrünnige dabei verfolgte, ist bis heute für die Kirche von Städten des Römischen Reichs jüdische größter Bedeutung. Weder die Beschnei- Gemeinden, ob in Korinth, Ephesus oder dung noch das starre Einhalten von Essriten Philippi. In Rom standen rund ein Dutstimme Gott gnädig, argumentierte er. Viel- zend Synagogen, in Alexandria noch weit mehr sei es allein der Glaube an Christus, mehr. Dort lebten gebildete Juden, die mit der durch seinen Tod den Menschen von der griechischen Kultur aufgewachsen der Sünde erlöst habe. Dieser habe einen waren und zugleich enge Verbindung zum 149 Titel ihm hielten – das war die Saat des Urchristentums, die erst nach seinem Tod so richtig aufging. Schließlich sammelte der Ex-Pharisäer Geld, das er der bedrängten Gemeinde in Jerusalem schenken wollte. Kaum war er dort angekommen, wurde er angeschwärzt, ihm drohte die Todesstrafe. Als sein Fall vor den Hohepriester Hananias (47 bis 59 n. Chr.) kam, entstand heftiger Streit zwischen den verschiedenen jüdischen Religionsparteien. Im letzten Moment holte ihn ein römischer Offizier aus dem Saal und ließ ihn nach Caesarea in Schutzhaft bringen. Es drohte ein Mordanschlag. Dramatisch und sehr detailliert beschreibt die Apostelgeschichte, wie Paulus sodann nach Italien überführt wurde. Als römischer Bürger hatte er das Recht, sich gen hauste. Manche entleerten ihre Nachttöpfe aus den Fenstern. Aus Sicht der Christen war Rom ein einziges Verderben. Der Evangelist Johannes nannte die Stadt eine „Hure“, ein „Tier aus dem Abgrund“. Doch der Mann lebte weitab in Kleinasien. Die Christen vor Ort verhielten sich ruhiger, aus Angst vor Verfolgung. Meist verzerrt, in kurzen Notizen, berichten antike Historiker über die Schar. Einer von ihnen behauptete, die Sekte würde „die Genitalien ihres Oberpriesters“ anbeten. Unter Nero kam es 64 n. Chr. zur ersten großen Verfolgung. Nach einem Großfeuer standen 10 der 14 Stadtteile in Flammen. Ein Sündenbock wurde gesucht. Deshalb habe der Kaiser die Christen, diese „wegen ihrer Untaten verhassten Leute“, in Tierhäute stecken und von Hunden zer- HELD COLLECTION / BRIDGEMANART.COM Schäfchen bei der Stange zu halten: „Wer euch ein anderes Evangelium verkündet, den trifft Gottes Fluch.“ Es ist diese – unsägliche – Auseinandersetzung, die Schatten auf die Frühkirche wirft. Den „Herrn“ hätten die Orthodoxen getötet, rief Paulus, auch „uns haben sie verfolgt und gefallen Gott nicht und sind alle Menschen Feinde, indem sie uns wehren, den Heiden zu predigen“. Johannes spricht später von der „Synagoge des Satans“: „Ihr habt den Teufel zum Vater.“ Die Altgläubigen vom Tempel hielten dagegen. In einem ihrer wichtigsten Gebete hieß es: „Und die Noserim (wohl Nazarener) und die Minim (Ketzer) mögen augenblicklich vergehen, getilgt werden aus dem Buch des Lebens.“ Jesus und seine Jünger (Fresko aus dem 3. Jahrhundert, in der Domitilla-Katakombe in Rom): Robin Hood aus der Levante Aber auch bei der griechischen Bevölkerung hatte es die Jesus-Truppe schwer. Die Idee der Wiederauferstehung, gedacht als körperliche Rückkehr aus dem Grab, galt den in Chemie bewanderten Hellenen als unsinnig und anstößig. Es klang ihnen wie eine Neuauflage des Mumienkults der Ägypter. Zur völligen Pleite geriet der Auftritt in Athen – der alten Hauptstadt der Philosophie. Nach einer Rede auf dem Gerichtsplatz wurde Paulus als Schwätzer verspottet. In Ephesus, wo er ab 52 n. Chr. mehrere Jahre weilte, geriet der Bekehrer erneut in Haft: In der Stadt stand ein ungeheuer prächtiger Artemistempel. Vor dem Heiligtum verkauften die Silberschmiede Andenken und Amulette. Als Paulus den Götzendienst schalt, wollte ihn das Volk, angeführt von einem Devotionalienhändler, lynchen. Er hetzte weiter. Am Ende hatte er mindestens 13 Gemeinden gegründet, die zu 150 vor einem Gericht in der Hauptstadt zu verteidigen. Bei der Reise kam Sturm auf, vor der Küste Maltas geriet man in Seenot. Schließlich erreichte der Segler die ebenso dreckige wie glänzende Supermetropole am Tiber. Paulus lebte dort angeblich zwei Jahre lang in einer Mietskaserne. Dann brechen die Nachrichten leider ab. Kein Evangelist beschrieb, wie der „Knecht Gottes“ starb. In seinem letzten Brief warnte Paulus nur noch: Zahlt ja eure Steuern. Dass er bald darauf vor den Toren Roms enthauptet wurde, entstammt einer späteren Quelle. So deckt sich ein Schleier des Schweigens über die Urchristen in jener Stadt, in der es von rund einer Million Menschen wimmelte, vom geschniegelten Senator bis zum Waschweib. Im Zentrum standen herrliche Marmorpaläste (siehe Schaubild Seite 148). Gleich dahinter erhoben sich 20 Meter hohe Mietskasernen, in denen der Plebs in elendigen Einraumwohnund e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 reißen lassen, so Tacitus. Andere verbrannten nach Einbruch der Dunkelheit als nächtliche Fackeln. Auch den „Apostelfürsten“ Petrus soll es damals erwischt haben. Kopfüber sei er ans Kreuz genagelt worden. Doch die brutale Geschichte steht erst in den – um 180 n. Chr. verfassten – „Petrusakten“. Sonderlich glaubwürdig sind sie nicht. In diesem legendenhaften Bericht treten auch sprechende Hunde und schwimmende Räucherfische auf. Alle Versuche der Päpste, den Gründer des Stuhls Petri (auf dem sie als Nachfolger sitzen) dingfest zu machen, sind bislang gescheitert. Angeblich liegen seine bleichen Gebeine in einer Krypta unter dem Petersdom in Rom. Über eine geschwungene Freitreppe, vorbei an vier gewundenen Bronzesäulen, geht es hinab ins Gewölbe mit dem Petrus-Schrein. Nachforschungen ergaben indes: Es ist ein heidnischer Grabplatz aus der Zeit um 200 n. Chr. Der historische Jesus Archäologische Funde haben die Evangelien in vielen Details bestätigt. Überlieferte Personen und Schauplätze existierten wirklich. Soziales Umfeld Jesu Heimat, Galiläa, wurde zu dessen Lebzeiten von Herodes Antipas (4 v. bis 39 n. Chr.), einem Vasallen Roms, regiert. Dieser ließ um 29 n. Chr. Johannes den Täufer gefangen nehmen und enthaupten. Sepphoris wurde von Herodes Antipas als prachtvolles Zentrum mit marmorgepflasterten Straßen ausgebaut – Arbeit für zahllose Handwerker, auch aus dem nahe gelegenen Nazareth. Seit 6 n. Chr. war die bäuerliche Bevölkerung Galiläas gezwungen, direkte Abgaben an Rom zu zahlen (14 Prozent). Hinzu kamen bis zu 21 Prozent Tempelsteuer an Jerusalem. Die Folge: Überschuldung und Landverlust vieler Bauern. Leben Jesu Geboren als „Jeschua“ zwischen 7 v. Chr. und 2 n. Chr. in Nazareth als „Sohn eines Bauhandwerkers“. Der griechische Philosoph Kelsos berichtet, dass seine Mutter Maria ein Verhältnis mit einem Legionär hatte: Jesus sei nichtehelicher Herkunft. Mit etwa 15 Jahren ergreift der Junge den Beruf des Vaters und arbeitet wahrscheinlich auf einer der beiden regionalen Großbaustellen in Sepphoris (errichtet ab 4. v. Chr.) oder Tiberias (ab 18 n. Chr.). Phönizien Galiläa Gebiet des Philippus Kapernaum Kana Inschrift des Pontius Pilatus entdeckt in den Ruinen des römischen Theaters; Die Steintafel beweist seine Stellung als Präfekt. See Sepphoris Tiberias Genezareth Nazareth Nain Dekapolis Caesarea Palästina zur Zeit Jesu römische Verwaltung Samarien seit 6 n. Chr. Statthalter von 26 bis 36 n. Chr.: Pontius Pilatus Sichem Herrschaft des Herodes Antipas Judäa Peräa Fischerboot vom See Genezareth Jericho Asdod Möglicherweise besucht Jesus eine lokale Rabbischule, danach bricht er alle Familienkontakte ab und schließt sich dem Asketen Johannes dem Täufer an, der in der Wüste von Peräa einen passiven Widerstand gegen soziale und koloniale Unterdrückung lebt. Ab etwa 27 n. Chr. kehrt er als Wanderprediger an den See Genezareth zurück. Die Menschen dort bauen Wein und Oliven an, unter Herodes entsteht eine Fischindustrie. Jesus hält sich oft im Haus des Petrus in Kapernaum auf. Um 29 n. Chr. wagt der Prediger den Schritt nach Jerusalem, wo er gegen die Tempelsteuer und den erstarrten jüdischen Opferkult opponiert. Nach kurzem Aufenthalt beschuldigt ihn der Hohepriester Kaiphas der Gotteslästerung. Der römische Präfekt Pontius Pilatus bestätigt das Todesurteil und lässt ihn kreuzigen. Paneas Tyrus Jordan Gegen das immer stärker werdende Gefälle zwischen Arm und Reich regte sich bald vielfältiger Widerstand. „Haus des Petrus“ Möglicher Wohnsitz des Apostels, bereits im 1. oder 2. Jh. als Kirche genutzt. Auf den Wänden des Gebäudes finden sich Inschriften wie „Jesus“ und „Petrus“. Jerusalem aus dem 1. Jh. n. Chr.; 1986 im Ufersediment entdeckt; mit solchen Booten fuhren vier der Jünger Jesu, die von Beruf Fischer waren. Qumran Betlehem Askalon Gaza Idumäa Totes Meer Grenze der röm. Provinz Judäa und Syrien (ab 44 n. Chr.) Skelett eines Gekreuzigten aus dem 1. Jh. n. Chr.; nördlich von Jerusalem aufgefunden; Der Fussknöchel war von einem Eisennagel durchbohrt und an einen Holzbalken gepflockt. d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 Knochenkasten des Kaiphas 1990 in Jerusalem entdeckt; aramäische Namensinschrift, das Grabgewölbe stammt aus der Zeit vor 70 n. Chr. 151 AFP (L.); AP / ULLSTEIN BILD (R.) Kreuzigungsszene (aus dem Film „Die Passion Christi“, 2004), Gläubige in der Grabeskirche in Jerusalem: Auf die Urgemeinde wirkte die Quälerei Und doch formte sich der Kreuzesclan heimlich zu immer größerer Stärke. Das gesamte Neue Testament entstand zwischen 50 und 120 n. Chr. Zunächst gab es nur Briefe und eine Spruchsammlung mit Jesu Worten. Der Apostel Markus schuf dann eine neue literarische Form. Um 70 n. Chr. griff der Autor (ein Jude und Begleiter von Paulus) zur Feder und schrieb einen Roman vom Leben und Sterben des Herrn – sein Evangelium. Die neue Erzählweise traf den Nerv der Massen. Bald zogen Matthäus und Lukas nach. Als Letzter schrieb um 95 n. Chr. Johannes, der auch noch einen deftigen Weltuntergang verfasste. Das Aufblühen des christlichen Schrifttums war offenbar eng verzahnt mit dem Niedergang der orthodoxen Gegner. 66 n. Chr. begann in Palästina eine Katastrophe. Nach einer Revolte schlug das Imperium erbarmungslos zurück. Vier Legionen eilten herbei. Jerusalem wurde mit Rammböcken gestürmt, der Tempel geschleift. Im Jahr 132 n. Chr. folgte die noch härter geführte letzte Runde im Kampf Jupiter gegen Jahwe. „Etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Palästinas, circa eine halbe Million, verlor während des Aufstands ihr Leben“, schreibt der Historiker Markus Sasse. Judäa lag in Asche. Kaiser Hadrian erließ damals sogar ein Verbot der Beschneidung. Das schwächte die Altgläubigen enorm. Viele Forscher glauben, dass die DiasporaJuden nun im großen Stil zum Christentum umschwenkten. Die neue Religion sei eine Art „Judentum light“ gewesen, erklärt der Theologe Knauf, „damit konnten die unter starkem Assimilationsdruck Stehenden besser leben“. 152 Klar ist, dass die beiden Bruder-Religionen weit länger ineinander verschlungen waren, als die Päpste später wahrhaben wollten. Noch um 230 n. Chr. focht der Kirchenvater Origenes mit mosaischen Gelehrten ein Rededuell „vor Schiedsrichtern“ aus. Die aktuellen Grabungen bestätigen das Bild: Die frühesten Kirchen aus dem 3. und 4. Jahrhundert standen allesamt in den jüdischen Vierteln. Selbst die erste Gemeindeordnung (um 120 n. Chr.) liest sich wie ein Zerrspiegel der Tora. „Eure Fastentage sollen nicht mit den Heuchlern zusammen sein“, so heißt es da schroff, „sie (die Juden) fasten nämlich am Montag und Donnerstag; ihr aber sollt am Mittwoch und Freitag fasten.“ Aber auch unter den Griechen im Osten des Reichs gewann die Sekte nun zunehmend Anhänger – sie verließ gleichsam die Ghettos. „Nicht nur über die Städte, sondern auch über die Dörfer und Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet“, schreibt im Jahr 112 n. Chr. der Statthalter von Bithynien (in Kleinasien). Dies ist das erste Zeugnis für eine flächendeckende Inva- ãIst es nicht wahr, guter Herr, dass Ihr . .. von einer Frau zur Welt gebracht wurdet, die als Spinnerin arbeitete ... und des Ehebruchs beschuldigt wurde, nachdem sie von einem rmischen Soldaten namens Panthera geschwngert worden war?Ò Der Philosoph Kelsos um 180 n. Chr. über Jesus d e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 sion des Christentums. Im Orient ging es voran. Der ruppige Norden dagegen blieb zurückhaltend. In Gallien und der Provinz Germania waren die Vorbehalte groß. Rom liebte Pferderennen, deftige Schauspiele, blutigen Sport – alles Dinge, die den Christen verboten waren. „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“, heißt es bei Paulus. Matthäus sagt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Solche Sätze gefielen den Senatoren, die auf Fressbetten lagen und gegarte Flamingozungen speisten, in keiner Weise. All die goldbetressten Feldherrn, Latifundienbesitzer und Bankiers, deren Sklaven in den Silberminen schufteten, mochten die Bibel nicht. Besonders übel stieß ihnen der Spruch von der Gleichheit von Mann und Frau auf. Zwar machte Paulus an anderer Stelle Einschränkungen („Ihr Frauen ordnet euch euren Männern unter“, Epheser 5,22). Gleichwohl wies er ihnen wichtige Aufgaben in der Urkirche zu. Bald stiegen Frauen zu Diakoninnen und Leiterinnen von Hauskirchen auf. In der heidnischen Machowelt stand die Frau bis dahin viel weiter unten. Sie galt als biologisch minderwertig. Witwen verarmten schnell und bettelten zu Tausenden auf den Straßen. Mädchen wurden zwangsweise – ab zwölf Jahren – verheiratet, oder man tötete sie gleich nach der Geburt. Gegen diese rohe Sitte stemmten die Christen eine neue Moral. Weder erlaubten sie die Scheidung (was ein Verelenden der Frauen verhinderte), noch überließen sie Witwen ihrem Schicksal. Ein enges Helfernetz wurde aufgebaut – das Kreuz als soziale Bewegung. Titel wie ein Schock Entsprechend groß war der Zulauf. Ein antiker Gegner der Sekte sah es so: „Aus der untersten Hefe des Volkes sammeln sich da die Dummen und die leichtgläubigen Weiber, die wegen der Beeinflussbarkeit ihres Geschlechts ohnedies auf alles hereinfallen.“ Doch gerade weil die Urkirche die wirtschaftliche Stellung und die Würde der Frau hob, kam sie immer besser in Schwung. Sie wuchs und wuchs – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auch streng gegen die Kinderverhütung aussprach. Was den Samen von der Scheide fernhielt, galt als Sünde. Der Apostel Barnabas schimpfte über jene „verdorbenen Weiber, die mit ihrem Munde das Böse tun“. Ganz anders die Heiden: Manche verhüteten mit Kondomen aus Ziegenblasen. Bei der Abtreibung kamen schwere Gifte oder gebogene Klingen und Haken zum Einsatz, mit dem der Fötus gewaltsam entfernt wurde. Arme Leute – 90 Prozent des Volks – konnten es sich einfach nicht leisten, mehrere Kinder durchzubringen. Seneca hielt das Ertränken von Neugeborenen, vor allem von Mädchen, aber auch von schwachen Babys, deshalb für ebenso vernünftig wie üblich. Der US-Archäologe Lawrence E. Stager machte in der Hafenstadt Askalon im Abwasserkanal unter einem Badehaus einen schrecklichen Fund: „Im Müll lagen annähernd hundert Säuglinge.“ Sie waren gleich nach der Geburt in die Kanalisation geworfen worden. Zwar hielt der Staat dagegen. Früh wurden Gesetze erlassen, um Kinderlose finanziell zu bestrafen und ihnen Rechte zu entziehen. Doch es half alles nichts. Schon um die Zeitenwende sei die Geburtenrate im Römischen Reich „unter die Ersatz- und Reproduktionsschwelle“ gefallen, schreibt der US-Soziologe Stark. Die Christen dagegen waren fruchtbar und mehrten sich. „Unsere Zahl wächst von Tag zu Tag“, frohlockte einer von ihnen. Ein anderer gab sich staatstragend: „Wir müssen Lasten auf uns nehmen, welche von den Heiden meistenteils vermieden werden.“ Diese seien durch „Kindsmord dezimiert“. Der Ton der anschwellenden Gemeinde wurde denn bald auch kecker – und irrationaler. Ihre Wortführer zogen über den „teuflischen“ Geist der Heiden her. „Unter Verachtung der heiligen Schriften Gottes beschäftigen sie sich mit Geometrie“, schimpfte der Kirchenvater Eusebius. Ergebnis: Die Wissenschaft fiel bald ins Dauerkoma. Jetzt, im 3. Jahrhundert, wuchs die Bewegung langsam zu einem Kreuzzug heran. Sie verließ die jüdischen Viertel. Vor allem die Griechen begeisterten sich nun für Taufe und Abendmahl. Aber auch einfache Leute stiegen ein, Handwerker und Sklaven. Der Sozialist Friedrich Engels sprach von einer „Bewegung Unterdrückter“. Doch noch war der Kaiser zu keiner Gnade bereit. Ab 249 n. Chr. kam es zu fürchterlichen, reichsweiten Pogromen. Das Imperium schlug zurück. Aufwiegler kamen in Bergwerke. Geschoren, angekettet und gebrandmarkt taten sie in Marmorbrüchen Dienst. Als vier christliche Bildhauer in einem pannonischen Steinbruch ankamen, pickelte dort bereits ein Bischof aus Antiochia. Es nutzte nichts. Vor allem über die Frauen, gleichsam durch die Hintertür, brach sich das Christentum nun endgültig Bahn. Um 370 n. Chr. war die Hausmission bei Heidinnen so erfolgreich, dass der Kaid e r s p i e g e l 1 3 / 2 0 0 8 ser Valentinian ein letztes Mal die Notbremse zog. Er verbot das religiöse Klinkenputzen. Denn war erst mal die Mutter getauft, riefen die Kinder bald ebenfalls Hosianna. Die Forscher sprechen von „Sekundärbekehrung“. Auch der große Kaiser Konstantin kam so mit dem neuen Glauben in Kontakt. Seine Mutter Helena, eine Wirtstochter, war von ihrem Mann verstoßen worden und lag lange in der Gosse. Dort nahm sie den Jesus-Glauben an. Als der Sohn sie „vom Mist auf den Thron“ hob, wie es in der Antike hieß, lag sie ihm ständig mit der frohen Botschaft in den Ohren. Noch im Alter von über 70 Jahren reiste die Dame ins Heilige Land und besuchte Jesu Geburtsstätte in Nazareth. Dann wuchsen prächtige Kirchen empor. Beamte, Kaiser, Feldherren ließen sich taufen. Im Jahre 380 n. Chr. war es so weit: Der Glaube aus dem Orient wurde zur Staatsreligion. Mit dem Einströmen breiter Volksschichten vergaß das Christentum allerdings immer mehr seine jüdischen Wurzeln. Das alte Bilderverbot fiel. Eine neue Form von Götzendienst entstand. In den Katakomben von Rom erhielt Jesus erstmals ein Gesicht. Meist wurde er anfangs als Wundertäter und Zauberer dargestellt, etwa beim Erwecken des Lazarus von den Toten. Schließlich rückte man ihn sogar als Herrscher und König ins Bild. Das Christentum hatte triumphiert. An Roms Grenzen ging es damals allerdings militärisch bergab. Christliche Gutmenschen gab es nun genug, kämpfen wollte keiner mehr. Auch die Büßer, Einsiedler und Mönche, die in die Einsamkeit ausschwärmten, trugen zum Erhalt des Reichs wenig bei. Um 400 n. Chr. kam in der Wüste Ägyptens der masochistische Teil der Bewegung in Gang. Auch dafür hatte noch Paulus die Saat ausgestreut. In engen Zellen lebten die Eremiten, andere verkrochen sich in Gräbern oder Tierställen, aßen bloß Gras oder hängten sich schwere Eisen ans Gemächt. Der heilige Simeon stand 37 Jahre lang bei Wind und Wetter auf einer Säule, die er nur nachts verließ. All das aber ist bereits Kirchengeschichte und hat mit dem Mann aus Nazareth nicht mehr viel zu tun. Der saß oft mit Sündern und Huren zusammen. Die Fleischeslust wollte er streng auf die Ehe begrenzen. Dort aber war alles erlaubt. „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“, heißt es bei Erich Kästner. Diesen Satz hätte der Mann aus Galiläa unterschrieben. Sein Vermächtnis ist einfach. Rabbi Hillel, ein Zeitgenosse Jesu, drückte es so aus: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora.“ Matthias Schulz 153 Titel „Das Blut der Versöhnung“ Zu den Grundlagen der abendländischen Kultur gehört eine brutale Geschichte von Verrat, Folter und Mord. Der Fall Jesus Christus, neu verfilmt von Mel Gibson, fesselt die Menschen noch immer: Scharlatan, Heiland, Produkt der Phantasie? Wer eigentlich hat Jesus umgebracht? KNA Papst-Segen auf dem Petersplatz in Rom D ie Verse sind fast 350 Jahre alt, aber überhaupt nicht von gestern: „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron!“ Der sächsische Protestant Paul Gerhardt (1607 bis 1676) hat den berühmten Choraltext geschrieben, Bach hat ihn zum Höhepunkt seiner Matthäuspassion gemacht, und er könnte ein Werbeslogan für Mel Gibsons Jesus-Film „Die Passion Christi“ sein, diese bildmächtige Folterorgie, die seit Mitte März auch die deutschen Kinobesucher schockiert. „Du edles Angesichte, davor sonst schrickt und scheut das große Weltgewichte, wie bist du so bespeit, wie bist du so erbleichet, wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht mehr gleichet, so schändlich zugericht’?“ O-Ton Gerhardt, der sich 154 auch als Regieanweisung zu Gibsons spektakulärem Film lesen lässt. Aus der Ferne der Jahrtausende kehrt ein Mann auf die Medienbühne zurück, der auf den ersten Blick wie ein Alien wirkt: Jesus Christus, der Schmerzensmann. Eine ökonomische Botschaft hat er nicht, bis auf die, dass Ökonomie nicht alles ist. Seine Bergpredigt mit der Schlüsselbotschaft „Liebt eure Feinde“ – keine seriöse Politik kann damit etwas anfangen. Zudem schmecken die Behauptungen der Bibel über seine Person nach Legende und Schwindel: Er sei von einer Jungfrau geboren worden, er habe Wunder bewirkt, und schließlich sei er auferweckt worden von den Toten und sitze zur Rechten Gottes – wer soll das glauben? Und doch macht der seltsame Wanderprediger von sich reden: Das Buch des CDU-Sozialpolitikers Heiner Geißler „Was d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 würde Jesus heute sagen?“ erreicht inzwischen die siebte Auflage. „Die politische Botschaft des Evangeliums“ (Untertitel), das auch den Armen und Ausgestoßenen Erlösung verheißt, scheint selbst in Zeiten fortschreitender sozialer Desillusionierung von Interesse. Der Kultursender Arte widmet bis Mitte April zehn hochinspirierte Folgen dem Thema „Die Geburt des Christentums“ – der schrittweisen Loslösung von Jesu Lehre aus dem Judentum. Auch zum Romanhelden bringt es der Mann mit der Dornenkrone dieser Tage ohne Probleme. Anfang des Jahres erschien in Deutschland Dan Browns Thriller „Sakrileg“, seit Wochen auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste. Das Buch handelt vordergründig von einem aktuellen, mysteriösen Mord im Pariser Louvre. Doch den Hintergrund bildet eine abenteuerliche Story aus tiefer Vergangenheit: ICON Szene aus Gibsons „Die Passion Christi“ Darin zeugt Jesus mit Maria Magdalena ein Kind. Nach dem Ende des Gekreuzigten flieht die Christus-Ehefrau ins römisch besetzte Gallien und bringt die Jesus-Tochter Sarah zur Welt. Im fünften Jahrhundert heiratet Sarahs Nachfahrin ins Königsgeschlecht der Merowinger ein – der Religionsstar taugt sogar für den Boulevard der Kolportage. Am lautesten aber ist das Getöse um Gibsons Film „Die Passion Christi“, der die letzten zwölf Stunden des Galiläers als Blut-und-Peitschen-Oper für Nervenstarke vorführt. Während das umstrittene Werk in den USA ein Riesenerfolg ist, und sich die Produktionskosten von 30 Millionen Dollar schnell amortisierten, übte man sich hier zu Lande vor allem in Abwehrarbeit. Die deutschen Kritiker verweigerten Gibsons Schinderstück überwiegend die Zustimmung. „Filmischer Devotionalienkitsch“, schimpfte ein Kritiker, die „Zeit“ nannte das Werk „dumm“ und „unchristlich“ und rückte es in die Nähe von Sado-Maso-Phantasien. Berichte über einen Infarkttod während einer Kinovorstellung in den USA schreckten in Deutschland manchen sensiblen Zuschauer ab (siehe Kasten Seite 158). Gibson, dieser einstige Saulus der Suff- und Rauschgiftgesellschaft, den mit 35 die Droge Umkehr zum erzkatholischen Paulus gemacht hat, inszeniert seine „Passion“ wie einen Western: hier die bösen Kriegsknechte, die bösen jüdischen Glaubenshüter und der unsichere, aber nicht ganz unsympathische Römer Pontius Pilatus, dort der einsame Gottesvertraute Jesus. Zum Showdown treten an: Peitsche gegen Haut, Brutalität gegen Leidensfähigkeit. Wie auf Erden, also auch im Himmel – Gibsons TheoCinema ist knallhart gnostisch: Die Mächte der Finsternis kämpfen gegen die Mächte des Lichts. Da geht es fast so martialisch zu wie im richtigen Leben, diesem tagtäglichen Alptraum aus blutigen Anschlägen, fehlgeleitetem Gotteskämpfertum und fundamentalem Starrsinn. Empfindsame Mitteleuropäer verdrängen, wenn sie sich über all das empören, allzu rasch: Auch zu den Grundlagen der glorreichen westlichen Zivilisation, die Ideale wie Freiheit, Menschenrechte und Weltfriede vor sich herträgt, gehört eine brutale Geschichte von Verrat, Folter und Mord. Sie handelt davon, wie ein gewisser Jeschua Ben Josef, ein Handwerker aus Nazaret (aramäisch „Jeschua“ heißt „Gott hilft“, ein damals dort häufiger Name) und später noch Jesus „Christus“ („der Gesalbte“) genannt, nach kurzem Leben – man weiß nicht recht, warum – mit dreißig am Kreuz zu Tode kam. Dann erzählt sie von seiner wunderba155 Titel ne Zeugen, frisierte Unterlagen, ungenaue Protokolle. Haben den Juden Jesus die Juden beseitigt? Sind es die Römer gewesen? Wer außer Römern oder Juden soll es denn sonst gewesen sein – schließlich spielt dieser Teil der Geschichte in Jerusalem. Das Drehbuch, das die Evangelien für den „Lehrer“ (Mt 23,10) Jesus entworfen haben, sieht den Tod als Höhepunkt der Geschichte von Anfang an vor – schließlich sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden übergeben, damit er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird; aber am dritten Tage wird er auferstehen“ (Mt 20,18-19). Jesus selbst war mit diesem Plan Gottes einverstanden. Denn als Petrus, sein erster Jünger, ihn lange vor seinem Tod bat, sich doch solchen Mordplänen zu entziehen, fuhr Jesus ihn an: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mk ES DURFTE KEIN GEWÖHNLICHER TOD 8,33). SEIN. DER SOHN GOTTES MUSSTE Die Pharisäer, die es ausnahmsweise einmal ERMORDET WERDEN. ABER DURCH WEN? gut mit Jesus meinen, ist Religion von fast allen Völkern erdacht warnen ihn vor den Mordplänen des Heworden, um das jenseitige, das Leben nach rodes – historisch ist davon nichts bedem Tod vorstellbar und erträglich zu ma- kannt, doch immerhin galt Herodes Antichen; um die Angst vor dem Tod in meta- pas, der Johannes den Täufer umbringen physische Heilserwartung umzumünzen. ließ, nicht gerade als zimperlich. Trotzdem Das Evangelium denkt auch den Anfang lässt sich Jesus nicht von einem Besuch seiner Geschichte vom Ende her. Der Mär- Jerusalems abbringen: „Ein Prophet darf tyrertod ist ein Grunderlebnis des Glau- nirgendwo anders als in Jerusalem umbens. So wurde das Kreuz zum Symbol des kommen“ (Lk 13,31). Auf einem Esel reitet er in Jerusalem Christentums – und Folter und Mord wurden zu wesentlichen Bestandteilen der ein. Der Empfang, der ihm laut Matthäus und Johannes in der Heiligen Stadt bereiabendländischen Kultur. Jesus, dieser von Gott auf die Erde tet wird, ist standesgemäß für einen Mesgeschickte Gottessohn, der in seinem kur- sias. „Viele Menschen“ (Matthäus), die zen öffentlichen Leben so viel Positives ge- „Volksmenge“ (Johannes), stehen jubelnd redet und bewirkt hatte, musste die Welt am Rand, legen Äste und Kleider auf noch durch seinen Tod erlösen. Aber: Es den Boden, schwenken Palmzweige, durfte kein gewöhnlicher Tod sein. Der schreien „Hosanna“ und „Gesegnet sei der Sohn Gottes musste ermordet werden. König, der kommt im Namen des Herrn“ (Lk 19,38). Aber durch wen genau? Jesus gerät darüber offenbar in EndzeitBereits zu Beginn seines öffentlichen Wirkens überlegten die Pharisäer, wie sie stimmung. Er knüpft aus Stricken eine ihn umbringen könnten (Mk 3,6). Dass Geißel und treibt Händler wie GeldwechsJesus diesen Plan Gottes genau kannte, ler aus dem Jerusalemer Tempel. Dann verriet er seinen Jüngern angeblich bis ins redet er sich von der Seele, was ihn in dieser letzten Lebensphase bewegt: Detail: Mit einem siebenmaligen „Wehe euch“ „Der Menschensohn wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert; verflucht er die Doppelmoral der Schriftgelehrten und Pharisäer; er weissagt die Christenverfolgungen nach seinem Tod Kaiser Augustus („um des Evangeliums willen“) und die Zerstörung Jerusalems (die erst 40 Jahre später, im Jahre 70, durch die Römer erfolgt). Schließlich kündigt er das nahe Ende mit der Wiederkunft des Menschensohnes Einzug Jesu in Jerusalem A KG ren Auferweckung und seiner Karriere als Heiland einer Weltreligion. Aber was heißt hier schon Geschichte? Kein schriftliches oder auf andere Weise authentisches Zeugnis aus seiner Hand ist bekannt. Wir wissen nicht, ob er überhaupt schreiben konnte, ob er außer Aramäisch auch Griechisch, die damalige Intellektuellensprache, verstand. Und: Hatte er Geschwister? War seine Mutter wirklich eine Jungfrau – oder bloß eine „junge Frau“, wie eine Quelle sagt? War er das uneheliche Kind eines römischen Besatzungssoldaten? Warum haben ihn antike Historiker wie Flavius Josephus, Sueton und Tacitus nur unter „ferner liefen“ erwähnt? Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37/38 bis 100 nach Christus), der über Krieg und Kult seines Volkes Bücher verfasst hat, erwähnt in seiner Schrift „Jüdische Altertümer“ (um 93) Jesus zweimal. In einem Bericht über die Verurteilung und Steinigung des Jakobus, der die Christenschar in Jerusalem angeführt hatte, charakterisiert Flavius Josephus diesen als „Bruder Jesu, der Christus genannt wird“. Die Stelle gilt als authentisch – im Gegensatz zu dem berühmten „Testimonium Flavianum“, wo Josephus Jesus als „weisen Menschen“ und „Lehrer“ bezeichnet, der „unglaubliche Taten“ vollbracht und „viele Juden und Heiden“ angezogen habe: „Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu.“ Kernsätze dieser Passage stammen wohl vom Autor, gewiss aber wurde sie auch von einem Abschreiber kreativ überarbeitet, vor allem positiv gefärbt. Die „Annalen“ des römischen Historikers Publius Cornelius Tacitus (55/56 bis 120 nach Christus) erwähnen Jesus mit einem einzigen Satz; Tacitus sagt, Kaiser Nero habe als Sündenböcke für den Brand Roms im Jahre 64 Leute verfolgt, die man „christiani“ nenne – „dieser Name stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“. Sueton schließlich, der Advokat und Kaiserbiograf (70 bis etwa 130), schreibt in dem Buch „Das Leben der Caesaren“ (etwa 120) darüber, wie Kaiser Claudius aufsässige Juden aus Rom gejagt habe: „Die Juden, die, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten, vertrieb er aus Rom“ („Chrestos“ war ein griechischer Sklavenname, der umgangssprachlich auch auf Christen übertragen wurde). Und dann erst der „Mordfall“ Jesus. Da handelt es sich um ein Justizdrama, das nach heutiger Aktenlage kaum aufklärbar ist, wie so vieles im Leben dieses Herrn: befange- Der Beginn des Christentums 30 v. Chr. 20 Römische Kaiser Jüdische Herrscher Herodes der Große 156 Geburt Jesu 10 Öffentliches Wirken Jesu 0 n. Chr. 10 Augustus s p i e g e l 30 Tiberius Herodes Antipas d e r 20 1 6 / 2 0 0 4 Kreuzigung Caligula ICON „Die Passion Christi“-Szene (mit Maria-Magdalena-Darstellerin Monica Bellucci): „Filmischer Devotionalienkitsch“? Apostelkonzil in Jerusalem 40 Paulinische Briefe 50 Claudius Herodes Agrippa I. in den kommenden Stunden enttäuschen wird: Kassenwart Judas wird ihn an seine Häscher verraten und mit dem falschen Kuss das Signal zur Ergreifung Jesu geben. Unglaublich erscheint für Petrus, den „Fels“, auf den laut Bibel später die Kirche gebaut wird, was der Meister dabei ihm weissagt: In dieser Nacht, „ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen“ (Mk 14,30). Am späten Abend brechen dann alle auf zu dem Gang über den Ölberg in Richtung Bethanien, zum gemeinsamen Nachtquartier im Hause Simons, des Aussätzigen. Dann wird es dramatisch: Ölberg, Garten Getsemani. Jesus betet in Todesangst; Schweiß rinnt „wie Blut“ (Lk 22,44) von ihm herab, während seine Jünger eingenickt sind. Plötzlich erscheint „eine 70 n. Chr.: Zerstörung Jerusalems durch die Röme Römer Aufruhr der jüdischen Bevölkerung in Palästina 60 Nero A KG und dem Beginn des Weltgerichts an. „Schon früh am Morgen kam das ganze Volk zu ihm in den Tempel, um ihn zu hören“ (Lk 21,38). Und: „Das Volk war über seine Lehre bestürzt“ (Mt 22,33). Die Hohenpriester und Schriftgelehrten haben sich, ganz ohne Volk, im Palast des Hohenpriesters Kajaphas versammelt. Dort fassen sie offenbar in aller Stille den Beschluss, Jesus zu töten. Der JesusJünger Judas verspricht ihnen, gegen eine Geldzahlung, nach Matthäus 30 Silberlinge, bei der Gefangennahme seines Rabbis zu helfen. Laut Matthäus-Evangelium bringt Judas die 30 Silberlinge später zurück und erhängt sich (Mt 27,3-5); laut Apostelgeschichte kauft er sich für das Geld einen Acker, „stürzte vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus“ (Apg 1,18). Am Donnerstagabend, einen Tag vor seiner Hinrichtung, geht Jesus mit seinen Jüngern zum Abendessen in das Gemach eines Jerusalemer Hauses. In diesem Haus wollten sie auch das nahe Pessachfest feiern. Bei diesem „letzten Abendmahl“ teilt er Brot und Wein (für Gläubige: seinen Leib und sein Blut) mit den Jüngern und sagt ihnen voraus, wer aus ihrem Kreis ihn Vierkaiserjahr Herodes Agrippa II. Das Christentum wird Staatsreligion im Römischen Reich Entstehung der Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas, Johannes 70 Vespasian d e r große Schar von Männern, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet“ sind, im Auftrag der Hohenpriester (Mt 26,47); vorneweg schreitet Judas zum Judas-Kuss. Eine ganze römische Kohorte (rund 500 Soldaten) ist dabei (laut Johannes). Im Tumult schlägt Petrus einem Knecht der Hohenpriester mit einem Schwert ein Ohr ab; aber Jesus berührt die Wunde, und schon ist das Ohr wieder dran. Während alle Jünger fliehen, wird Jesus gefesselt und abgeführt. Im Innern des Hauses von Kajaphas hat sich die gesamte jüdische Elite Jerusalems versammelt und fasst „den Beschluss, Jesus hinrichten zu lassen“ (Mt 27,1). Gefesselt wird der Übeltäter zum römischen Statthalter Pilatus abgeführt. Vor Pilatus beschuldigen die Hohenpriester und Ältesten Jesus, er wiegele das Volk auf; er verbiete, dem Kaiser Steuern zu zahlen; er behaupte, er sei der „Messias und König“. Pilatus fragt Jesus, ob er der König der Juden sei. Jesus antwortet: „Du sagst es.“ Pilatus, der die Antwort offenbar nicht ernst nimmt, sagt „zu den Hohenpriestern und zum Volk: Ich finde nicht, dass dieser Mensch eines Verbrechens schuldig ist“ (Lk 23,2-4). Als Pilatus hört, dass Jesus aus Galiläa stammt, schickt er ihn zum Vierfürsten s p i e g e l 80 90 Titus Domitian 1 6 / 2 0 0 4 100 Nerva 380 Theodosius I. 157 Titel Herodes Antipas, der für Galiläa zustän- gniert, wäscht sich vor aller Augen die dig ist und sich zufällig in Jerusalem aufhält. Hände und spricht: „Ich bin unschuldig am Residenz des Herodes Antipas: Der Blut dieses Menschen.“ Worauf „das ganze Fürst ist hocherfreut, hat viel von Jesus Volk“ antwortet: „Sein Blut komme über gehört, erwartet ein Wunderzeichen, uns und unsere Kinder.“ Pilatus gibt den stellt viele Fragen, erhält aber von Jesus Mörder Barabbas frei, Jesus aber „lässt er keine einzige Antwort. Die gute Anfangs- geißeln und kreuzigen“ (Mt 27,19-26). stimmung schlägt um in Spott und Hohn; schließlich lässt Herodes IRGENDWANN VOR DEM PESSACHFEST ihm „ein Prunkgewand“ (Lk 23,11) anziehen und BEKAM JESUS PROBLEME ihn zu Pilatus zurück- MIT DER RÖMISCHEN BESATZUNG. führen. Damit haben die Evangelien die Frage Pilatus, der „die Hohenpriester und die anderen führenden Männer und das Volk“ „Von wem wurde Jesus umgebracht?“ zweiherbeigerufen hat, verkündet: „Er hat nichts fach beantwortet. Zum einen: Die Römer getan, worauf die Todesstrafe steht. Daher haben ihn gekreuzigt, weil nur sie in ihren will ich ihn nur auspeitschen lassen, und Provinzen die Gerichtsbarkeit bei Kapitaldann werde ich ihn freilassen“ (Lk 23,13-16). verbrechen wie Aufruhr und MajestätsbeDie Hohenpriester und die Ältesten, so leidigung hatten; und wohl auch weil Jesus, heißt es bei Matthäus, wiegeln die Leute indem er auf die Wiederholung der Pilatusauf, so dass sie fordern, er solle ihnen statt Frage nicht mehr reagierte, ihnen allzu Jesus den Aufrührer und Mörder Barabbas widerspenstig erschien. Und sie taten dies zugleich, weil die jüdische Führungsschicht freigeben und Jesus töten lassen. Dreimal versucht Pilatus, die Volksmas- unbedingt auf dem Tod Jesu bestand. Zum zweiten: Jesus musste sterben, sen umzustimmen; „da schrien sie noch lauter: ans Kreuz mit ihm!“ Pilatus resi- denn es war von vornherein Gottes Plan – weil Jesus als Gottessohn dies von Anfang an gewusst hat, war, so die Deutung Heinrich Heines, sein Tod eigentlich der Selbstmord eines Märtyrers –, was zu dem biblischen Bild vom auffallend „sinnenfrohen“, das Leben liebenden jungen Mann (so Weddig Fricke in seinem Buch „Der Fall Jesus“) allerdings schlecht passt; masochistische Todessehnsucht kennzeichnet eher die frühchristlichen Märtyrer wie etwa Ignatius von Antiochien. Wie auch immer, der Gott der Christen brauchte zur Rettung der Welt ein blutiges Menschenopfer, und zwar das seines persönlichen Gesandten und Sohnes. Die jüdische Führungsschicht war das Instrument Gottes: Sie wollte den Tod Jesu; man könnte auch sagen, sie musste ihn wollen. Doch diese Logik hat einen Haken: Selbst wenn der Gott der Bibel unbedingt die Hinrichtung Jesu Christi benötigte: Warum haben sich die Evangelien-Autoren dann nicht mit dem tatsächlichen historischen Verlauf der „Digitales Oberammergau“ Der Erfolg seines Films „Die Passion Christi“ hat Mel Gibson zu einem der reichsten Männer in Hollywood gemacht. Sogar in der arabischen Welt ist das Werk ein Hit. M Christ“ zählt in den USA zu den zehn kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten. Seit dem Start am Aschermittwoch spielte er dort 330 Millionen Dollar ein, das entspricht rund 40 Millionen Kinobesuchern. Nur den „Herrn der Ringe“ ADAM ROUNTREE / GAMMA / STUDIO X eister- oder Machwerk? Spirituelles Kino oder Gewaltporno? So umstritten Mel Gibsons Kreuzigungsspektakel auch sein mag: HollywoodGeschichte hat es schon jetzt geschrieben – in den Bilanzen. „The Passion of the wollten in den letzten Monaten mehr Menschen sehen. „Passion“-Macher Mel Gibson, 48, der die 30 Millionen Dollar Produktionskosten selbst bezahlt hatte, dürfte damit zum reichsten Mann in Hollywood geworden sein. Denn Gibson, dessen wahre Begabung schon immer mehr im Aushandeln von Gagen als in der Schauspielerei lag, verdient nicht nur an der Kinokasse: Auch das Buch zum Film und die CD mit der Filmmusik stehen ganz oben in den Bestsellerlisten; sogar mehr oder weniger geschmacklosen „Passion“-Klimbim, vom Kaffeebecher bis zu Kreuzigungsnägeln für Sado-Maso-Heimwerker, können gläubige Fans bei Gibsons Firma bestellen. Dazu kommt demnächst der Verkauf von „Passion“-Videos und DVDs, Auflage: 22 Millionen – „eine Art digitales Oberammergau“ („Los Angeles Times“), das „Die Passion Christi“ endgültig zum erfolgreichsten Horrorfilm aller Zeiten machen wird. In Deutschland war das Zuschauerinteresse bisher vergleichsweise gering. Bis „Passion“-Devotionalien (in New York) Klimbim für Sado-Maso-Heimwerker 158 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 fahrts-Event, jeder männliche Gläubige pilgert vom 13. Lebensjahr an jedes Jahr nach Jerusalem, um „das Angesicht des Herrn“ zu schauen und Opfertiere (meist Lämmer), Obst, geröstete Heuschrecken, Honig und andere Leckereien zu essen und dazu geharzten Wein zu trinken. Aussätzige und Frauen, die ihre Regel hatten, durften nicht teilnehmen. Was Jesus betrifft: Es war wohl kaum ein triumphaler Einzug in Jerusalem auf einem Esel, vorbei an jubelnden Volks- PHILIPPE ANTONELLO / AP Geschichte begnügt? Sie hätten den Kreuzestod Jesu doch auch bekommen, ohne die jüdische Führungsschicht systematisch als Kampftruppe gegen Jesus hochzuschreiben? Eine Antwort darauf geben die historischen Umrisse der Passionsgeschichte eher als die Darstellungen der Evangelisten: Jesus kam mit seiner Jünger-Gang zum Pessachfest nach Jerusalem, wie Tausende andere auch. Das Pessachfest ist ein Wall- Jesus-Darsteller Caviezel (M.), Regisseur Gibson (r.): Botschaft der Bibel verkürzt? Sonntag vor Ostern wollten hier lediglich 850 000 Zuschauer sehen, wie sich Hauptdarsteller Jim Caviezel auspeitschen lässt. Anders als in den USA kommandierten deutsche Kirchenleute ihre Schäfchen nicht geschlossen zum Gottesdienst ins Kino, im Gegenteil. In einer gemeinsamen Erklärung warnten der katholische Kardinal Karl Lehmann, sein evangelischer Kollege Bischof Wolfgang Huber und Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor Gibsons Passionsspiel: „Mit dieser drastischen Darstellung“, so die drei Religionsrepräsentanten, „verkürzt der Film die Botschaft der Bibel auf problematische Weise.“ Es sei zudem nicht ausgeschlossen, „dass antisemitische Vorurteile wieder aufleben“. In der arabischen Welt war man weniger zimperlich. „Bewegend“ sei der Film, sagte Palästinenser-Präsident Jassir Arafat nach einer Privatvorführung in Ramallah. Auch in Saudi-Arabien wurde der Film zum Verkaufsschlager – als Raubkopie. In Syrien, Libanon, Kuweit und den Vereinigten Arabischen Emiraten läuft „Die Passion Christi“ sogar ganz offiziell in den Kinos, mit großem Erfolg. Auch die ägyptischen Zensurbehörden segneten den Start von Gibsons Blutorgie ab. Zum Vergleich: Franco Zeffirellis „Jesus von Nazareth“-Film wurde 1977 nach nur fünf Tagen aus den Kinos von Kairo verbannt, um aufgebrachte Islamisten zu beruhigen. Religiöse Eiferer, diesmal christliche, werden in den USA bald wieder Protest-Demos wegen eines Jesus-Films veranstalten müssen: Im Mai kommt die 25 Jahre alte Erlöser-Filmsatire „Das Leben des Brian“ der Anarcho-Komikertruppe Monty Python erneut in die Kinos. Die Pythons („He’s not the Messiah! He’s a very naughty boy!“) zeigen, historisch durchaus korrekt, dass Wander- und Wunderprediger im römisch besetzten Jerusalem an jeder Ecke lauerten. Ihre neue Werbekampagne („Mel oder Monty?“, „Passion oder Python?“) hat am Karfreitag begonnen. Martin Wolf d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 massen; auch keine Volksmassen, wenn er predigte; auch kein Rauswurf der Händler aus dem Tempel. Irgendwann in den Tagen vor dem Fest bekam er vermutlich Probleme mit der römischen Besatzung. Gerade zur Pessachzeit, in der die Juden der Befreiung von der Unterjochung durch die Ägypter gedachten, suchten die Römer Unruhen jedweder Art schnell und brutal abzuwürgen. Sie hatten allen Grund zur Vorsicht: Speziell Galiläa probte regelmäßig den Aufstand gegen die römische Fremdherrschaft, angeführt von marodierenden Zeloten, von „Dolchträgern“, wie die Römer sie nannten. Flavius Josephus berichtet von einem späteren Festtumult, bei dem der Prokurator Cumanus mehr als zehntausend Juden in den Tod getrieben hat. Unglaubhaft ist der Rummel um die Gefangennahme Jesu. 500 römische Soldaten sollen aufgezogen sein, um einen kleinen Rabbi festzunehmen – „eine wahnwitzige Schilderung“, wie Weddig Fricke in seinem Buch „Standrechtlich gekreuzigt“ meint. Judas als Verräter mit JudasKuss – wahrscheinlich Evangelisten-Phantasie, ebenso wie die 30 Silberlinge, die er dafür von den Hohenpriestern erhalten haben soll. Von dem katholischen Neutestamentler Hans-Josef Klauck, Autor eines der besten Judas-Bücher, stammt die plausible These, Judas habe sich von Jesus wahrscheinlich nicht aus Geldgier, sondern aus einer durchaus nachvollziehbaren Enttäuschung abgewandt. Dieser habe sich nicht als der von ihm und anderen erwartete Messias erwiesen, der auch ein Befreier vom Römer-Joch (hohe Steuern; jeder römische Soldat durfte jeden beliebigen Juden als Gepäckträger benutzen) sein sollte, und das hätten die Evangelisten akzeptieren müssen. Unhistorisch ist wohl auch das bombastische Szenario, das die Evangelien malen: der heimliche Todesbeschluss des Hohen Rates, das Verhör Jesu vor dieser Führungsgarde, das Verhör vor Herodes Antipas. Auch die beiden Pilatus-Szenen können, wenn überhaupt, nicht so stattgefunden haben, wie sie in den Evangelien beschrieben werden. Chaim Cohn, der ehemalige israelische Generalstaatsanwalt: ein „unwahrer, aber geheiligter Bericht“. In der Realität wird einzig und allein Pilatus Jesus verurteilt haben. Der Statthalter Pilatus war für seine Brutalität und Rücksichtslosigkeit den Juden gegenüber so verschrien, dass er im Jahr 36 nach Christus nicht zuletzt deswegen seines Amtes enthoben wurde, mit der Auflage, sich in Rom zu verantworten. Einem römischen Präfekten wäre es im unruhigen Palästina von damals auch kaum in den Sinn gekommen, an Stelle eines wunderlichen Wanderpredigers 159 Ewiger Unruhestifter ap ol is 160 ek * Gemälde von Cima da Conegliano (1494). Palästina zur Zeit Jesu D einen Widerstandskämpfer wie Barabbas freizulassen. Nach Verhör und Urteil geht es dann richtig zur Sache: Im Amtssitz des Pilatus machen sich die römischen Soldaten, wie vor Kreuzigungen üblich, über Jesus her. Dornenkrone und Purpurmantel, Spott, Spucke und Prügel gehörten zum Ritual. „Körperliche Gewalt war in der römischen Gesellschaft öffentlich und an der Tagesordnung“, sagt Werner Eck, Professor für Alte Geschichte an der Uni Köln. „Dabei sind extreme Grausamkeiten wie die Geißelung durchaus denkbar.“ An der Tagesordnung war in der Antike die Gewaltanwendung gegen Mörder, Hochverräter, Rebellen, ehrlose Gladiatoren, Straßenräuber und ungehorsame Sklaven. Das Strafregister war eindrucksvoll: öffentliche Auspeitschung, Steinigung, Sturz von einem hohen Felsen, Tötung durch Tiere, lebendig Begrabenwerden, Pfählung durch einen Holzspieß, der in den Anus gerammt wurde, endlich das Aufhängen an einem „Unglücksbaum“ und die Kreuzigung. Während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus ließ Feldherr Titus, der spätere Kaiser, täglich einige hundert gefangene Juden vor den Mauern der Stadt kreuzigen. Nach dem Spartakus-Sklavenaufstand 140 Jahre zuvor wurden 6000 der überlebenden Rebellen entlang der römischen Via Appia gekreuzigt. Der Kreuzestod war besonders qualvoll, weil das Sterben sich oft über Tage hinzog – Todesursache war meist Kreislaufkollaps oder Herzversagen. Oft blieb der Verstorbene noch tagelang am Kreuz, wurde von Raben Jordan Jesu Taufe* heimgesucht, verweste und stank bestia- Einbalsamieren hilft ihm Nikodemus, ebenlisch. Der Delinquent musste auch im falls ein Mitglied des Hohen Rates und Tod noch entehrt werden und zur Ab- heimlicher Jesus-Jünger. schreckung dienen. Erst der spätere Christ Da die Evangelien nun fast an ihr Ende Kaiser Konstantin schaffte diese brutale gekommen sind, hat sich Matthäus in seiStrafart Anfang des 4. Jahrhunderts ab. nem allerletzten Kapitel noch eine kleiWährend nun Jesus das Kreuz zur Richt- ne Boshaftigkeit in Richtung Hohepriesstätte Golgota trägt, gehen noch zwei Ver- ter ausgedacht (Mt 28,11-15). Während die brecher mit. „Eine große Menge Volks und Jünger verrückt spielen, weil das Grab Frauen“, die üblichen Evangelien-Massen, des Herrn leer ist und manche den Erstehen am Straßenrand, und die Frauen scheinungen des angeblich leiblich Auferweinen. Von irgendwelchen Grausamkei- standenen noch nicht so recht trauen ten der Soldaten in dieser Phase der Pas- mögen, erhalten auch die Hohenpriester sion – wie der Gibson-Film sie vorführt – und Ältesten über römische Soldaten Kunist in keinem der Evangelien die Rede. Es de von dem leeren Grab. Da bestechen sie wäre auch, sagt der Historiker Eck, nicht die Soldaten mit „viel Geld“ und bitten historisch nachweisbar. Verordnete Folter: um die Verbreitung der Nachricht, seine ja; doch die spontane Lust einzelner Sol- Jünger seien „bei Nacht gekommen“ und daten am Quälen sei im römischen Heer hätten ihn, während die Soldaten schliefen, hart bestraft worden. Im Gegenteil: Die gestohlen. „So kommt es, dass dieses Römer zwingen einen Bauern, für den ge- Gerücht bei den Juden bis heute verbreischwächten Jesus das Kreuz zu tragen – tet ist.“ das zeugt von Mitleid, nicht von zusätzBei der Betrachtung des galiläischen licher Grausamkeit. Wanderpredigers und Wunderheilers verSchließlich die Ankunft auf Golgota, mischen sich kaum entwirrbar Glauben morgens gegen neun Uhr. „Dann kreuzig- und Wissen. Der Glaube versetzt nicht nur ten sie ihn“, schreibt der Evangelist Mar- Berge, sondern auch Fakten. Ihm geht es kus. Wie genau, ob mit Nägeln oder Fesseln – beides war gebräuchlich –, lassen alle vier Evangelisten offen, und es bleibt bis Tyros heute unbekannt. Paneas Reich Herodes Golgota, zwölf Uhr mittags: Der des Großen Zustand Jesu hat sich offenbar bis 4 v. Chr. G a l i l ä a See drastisch verschlechtert. Der Himunter römischer Kafarnaum Gennesaret mel verfinstert sich für die nächsVerwaltung Kana ten drei Stunden, schreiben die freie Städte Nazaret Evangelisten (außer Johannes). Herrschaft des Gegen drei Uhr nachmittags Nain Herodes Antipas ruft Jesus bei Markus und MatHerrschaft des Cäsarea thäus (Psalm-Vers 22,2): „Mein Philippus Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, bei Johannes: Samarien „Mich dürstet“ (worauf er zur Sichem Betäubung Essig bekommt) und Mit telmeer bei Lukas mit Psalm 31,6: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Judäa Geist.“ Dann schreit er auf und Peräa Jericho stirbt. Jerusalem Qumran Es folgt eine kleine Serie von Aschkelon Betlehem Naturwundern: Der Vorhang im Tempel (der vor dem Allerhei- Gaza ligsten hing) zerreißt von oben bis Idumäa unten, ein Erdbeben hebt an, GräTotes ber öffnen sich, „die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren“ Meer heutige Grenze (Mt 27,52), steigen heraus. Ein röPalästinas mischer Hauptmann, der das miterlebt, bekennt: „Wahrhaftig, das heutige Grenze N a b a t e n e Israels war Gottes Sohn.“ Es wird bald Abend. Josef aus Arimatäa, ein Mitglied des Hohen Rates und 50 Kilometer zugleich ein heimlicher Jesus-Jünger, bittet Pilatus um den Leichnam Jesu. Er erhält von Pilatus die Genehmigung und bestattet ihn in einem Felsengrab nahe Golgota. Beim A KG AKG / CAMERAPHOTO Titel d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 Rekonstruktion des Jerusalemer Tempels SIPA PRESS Leonardo-da-Vinci-Gemälde „Abendmahl“ (1495/97): „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen“ nünftigen Verehrer Gottes“ zu publizieren. Erst als der Dichter Gotthold Ephraim Lessing nach dem Tod von Reimarus (1768) dessen Schriften anonymisiert veröffentlichte, brach in den protestantischen Kirchen ein Sturm der Entrüstung los. Die spektakulärste Bibelkritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der protestantische Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884 bis 1976). Sein immer wieder aufgelegtes Werk trägt den lapidaren Titel „Jesus“ (1926). Bultmanns Arbeiten wurden weltweit bekannt unter dem Schlagwort „Entmythologisierung“. Bultmanns Fazit: Wir können „vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen“. Die Evangelien, gibt er zu, schildern meist keine historisch nachweisbaren Tatbestände. Historisch eindeutig belegbar sei nur, dass in den neutestamentlichen Texten der Glaube des Ur- JEAN-FRANÇOIS AMELO / AKG um Verkündigung und Erweckung. Der Glaube gehört für den nüchternen Historiker nur als ein Gegenstand unter vielen zur realen Geschichte, als Beleg für deren faktischen Verlauf wirkt er eher störend. Über 300 Jahre dauerte es, bis das Neue Testament seine bekannte Form gefunden hatte. Im 4. Jahrhundert wurden vier der damals zahlreich vorhandenen Evangelien, eine Apostelgeschichte sowie 21 Briefe und die Offenbarung des Johannes zum Kanon gebündelt. Dieser Text wurde von der Kirche immer energischer zur „Heiligen Schrift“ und zum „Wort Gottes“ erhoben und mit der Heiligen Schrift der Juden, dem Alten Testament, verbunden. Dogmatisch versiegelten die Kirchenväter ihr Auswahlpaket: Die Schriften seien von Gott persönlich und wortwörtlich geoffenbart. Punktum. Entsprechend sahen die gehorsamen Theologen jahrhundertelang ihre Aufgabe darin, bestehende Ungereimtheiten entweder mit möglichst klugen Argumenten zu harmonisieren oder ganz einfach zu übergehen. Was Gott den Menschen geoffenbart hatte, konnte einfach nicht falsch sein. Doch mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts änderte sich das allmählich. So verfasste der protestantische Hamburger Orientalist und Theologe Hermann Samuel Reimarus ein folgenreiches Manuskript. Die neutestamentliche Botschaft von der Erlösung der Menschheit durch Jesu Tod und Auferstehung sei, so Reimarus, ein Phantasieprodukt der Apostel, entstanden nach der Kreuzigung Jesu. Um dieses „Wunder“ glaubhaft zu machen, hätten die Jünger den Leichnam des Gekreuzigten heimlich verschwinden lassen. Reimarus wagte damals nicht, seine „Apologie oder Schutzschrift für die ver- christentums sich ausdrücke, der aus dem Menschen Jesus und seinem jüdischen Bekenntnis den Messias mit christlicher Botschaft geformt habe. Bultmann fand das nicht tragisch. Er sah keine Veranlassung, die christliche Religion oder etwa das Neue Testament ad acta zu legen. Ihm genügte es, dass die Ur- und Frühchristen an diesen Erlöser tatsächlich geglaubt haben. Religiöse Wahrheit überschreite, so seine Argumentation, ihrer Natur nach alles historisch Fassbare und habe die Mythen und Bilder gebraucht, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen. Inzwischen bestreiten nicht einmal mehr Skeptiker, die den Kirchen fern stehen, dass Jesus gelebt hat. Er stammte aus einfachen Verhältnissen im Norden des heutigen Israel, dem damaligen Galiläa. Geboren wurde er vermutlich irgendwann zwischen den Jahren sieben vor bis sieben nach der christlichen Zeitrechnung, möglicherweise in dem kleinen Dorf Nazaret. Er hatte etliche Geschwister, laut MarkusEvangelium vier namentlich bekannte Brüder und mehrere Schwestern. Laut Markus dachten die Geschwister von Jesus, dieser sei ganz einfach „von Sinnen“. Von Beruf war Jesus – ebenfalls laut Markus, dem etwa 40 Jahre nach Jesu Tod entstandenen Evangelium – Zimmermann wie sein Vater. Die Schwangerschaft Marias durch Gott, die Geburt in Betlehem, die Hirten, die Weisen aus dem Morgenland an der Krippe, der Kindermord des Herodes und die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, der zwölfjährige Jesus als Wunderkind im Jerusalemer Tempel – alles Le- Judas-Kuss* Signal zur Ergreifung d e r s p i e g e l * Fresko „Christi Gefangennahme“ (1563) von Thomas Pot. 1 6 / 2 0 0 4 161 Titel Ein sterblicher Diener Allahs In der Bibel der Muslime, dem Koran, wird das Jesus-Drama anders erzählt. D REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST er Koran, die heilige Schrift des phet im Koran ist“. Ähnlich wie in Römer Trinität galt dem Propheten Mohammed Islam, umfasst 114 Suren (Kapi- 15,8 wird berichtet, dass es Jesu Aufgabe und seinem jüdisch-christlichen Publikum tel). Er gilt den Muslimen als das gewesen sei, die Juden wieder auf den als Unglaube. Obwohl der Koran die Teilbarkeit GotWort Gottes, gepredigt durch den Pro- rechten Weg zu führen: „Ich bin gekompheten Mohammed in den Städten Mek- men, um zu bestätigen, was von der Tora tes ablehnt und in der 19. Sure sogar die ka und Medina, erstmals niedergeschrie- vor mir vorhanden war“ (Sure 3, Vers Sterblichkeit Jesu erwähnt, lassen die Jeben im 7. Jahrhundert kurz nach seinem 50). Doch auf der Arabischen Halbinsel sus-Suren doch noch ein Schimmern der Tod. Dass allein 15 Suren Jesus Christus erwähnen, dürfte den wenigsten Christen bekannt sein. Generell verbietet es sich sogar für einen Muslim, etwas Unehrenhaftes über Jesus oder seine Mutter Maria zu sagen. Betrachtet man die 15 Jesus-Suren genauer, so ergibt sich, zumindest aus christlicher Sicht, ein reichlich verwischtes Bild von Jesus Christus – unentschieden in der Frage, ob der Heiland nun göttlicher Natur oder doch nur ein Mensch wie Mohammed war. „Man kann Teile des Koran wie eine Fortsetzung der spätantiken Diskussion um christliche Dogmen lesen“, sagt Michael Marx, Koran-Forscher am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin. „Vieles, was man hier über Jesu Geburt erfährt, ähnelt der Schilderung im Neuen Testament, zum Beispiel Pilgerstätte Kaaba in Mekka: Muslimische Frömmigkeit verbietet es, Unehrenhaftes über Jesus zu sagen die Jungfräulichkeit Marias und die Verkündung durch den En- gab es neben Juden auch orientalische göttlichen Würde Jesu erkennen. Zwar Christen sowie mischgläubige Juden- trägt er im Koran nicht den Titel „Sohn gel Gabriel.“ Aber die Umstände des jungfräulichen christen, die in Jesus so etwas wie einen Gottes“, dafür aber den Namen „Issa Ibn Marjam“, was so viel heißt wie: Jesus, Wunders, nachzulesen in der 19. Sure, Engel sahen. Während sich in Byzanz und Rom die Sohn der Maria. Für die arabische Naklingen noch orientalischer als die biblische Version. Nicht in einem Stall, wie bei Dogmen der Orthodoxie und des Katho- mensgebung, die jedes Kind nach seinem Lukas, oder in einem Haus, wie bei Mat- lizismus langsam auszubilden begannen, Vater benennt, ist das eine absolute Austhäus, sondern „an dem Stamm einer Pal- lebten die Christen im Hedschas, dem nahme. In der 3. Sure heißt es sogar: „Jeme“ überkamen Maria die Wehen; und Gebiet um Mekka und Medina, weit ent- sus ist vor Gott gleich Adam, denn auch die Datteln des Baums sollen die Bitter- fernt von den Zentren der Glaubenshüter ihn erschuf er aus Erde“ – wohl ein Bekeit ihrer schmerzlichen Geburt gelindert und Kirchenväter. Hier fand sich der Frei- leg dafür, dass eine irdische Vaterschaft raum, nachbiblische Lehren, wie die der ausgeschlossen sein muss. haben. Zudem ist Jesus einer der wenigen „Die Worte des Propheten“, so Marx, Dreifaltigkeit vom Vater, dem Sohn und „sagen auch etwas darüber aus, mit wem dem Heiligen Geist, in Frage zu stellen. Propheten im Koran, der Wunder vollMohammed sprach, wer seine Zuhörer Die Suren des Korans liefern eine Ant- bringt. Im Gegensatz zu den anderen waren.“ So sei es bezeichnend, dass „Je- wort: „Sprechet nicht: ‚Drei‘. Allah ist nur circa 25 Propheten, dazu zählt der Koran sus nach Mose der meistgenannte Pro- ein einiger Gott“ (Sure 4, Vers 171). Die Adam, Noah und Abraham, vermag es 162 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 CORBIS SYGMA Qumran-Höhlen, Qumran-Text genden, um die Ausnahmestellung des Wunderkindes herauszustreichen. Wie Jesus aussah, wie er sich gab und wie er die Tage und Nächte verbrachte, ist in Wahrheit unbekannt. Das älteste, um 70 entstandene Markus-Evangelium schreibt jedenfalls nichts über die Jugend Jesu. Markus beginnt seine Erzählungen erst mit dem öffentlichen Auftreten des Charismatikers: wie Jesus sich im Jordan von dem landesweit bekannten und historisch belegten Bußtäufer und Asketen Johannes taufen ließ. Nur einer Randbemerkung im 20 Jahre später entstandenen Lukas-Evangelium (3,23) lässt sich entnehmen, dass Jesus da etwa 30 Jahre alt gewesen sein könnte. Nach heutigem Forschungsstand ist die Taufe Jesu im Jordan wahrscheinlich mal ein historisches Faktum – eine nachträgliche Erfindung wäre „propagandistisch“ funktionslos gewesen. Nicht historisch ist aber das in den TaufPassagen gleich mitgelieferte Deutungsmuster: Die in den Jahren 70 bis 100 verfassten Evangelien benutzten jede sich bietende Gelegenheit, Jesus von ihren handelnden Figuren als Messias oder Gottessohn deklarieren zu lassen – Titel, die BURROWS / LIAISON / GAMMA / STUDIO X Ein „Lehrer“ wie Jesus Jesus zu Lebzeiten wahrscheinlich nie auf sich selbst bezogen, geschweige denn für sich in Anspruch genommen hat. Erst das Urchristentum hat den Verkündiger der Botschaft zu deren zentralem Inhalt erhoben. Bei Jesu Taufe im Jordan schwebte laut Markus-Evangelium „der Geist wie eine Taube“ auf Jesus herab, und „eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Gefallen gefunden“ (Mk 1,10-11). Dem Täufer Johannes gestehen die biblischen Texte bloß die Rolle eines Vorläufers Jesu zu. Johannes der Täufer, im Gegensatz zu dem vermutlich gepflegt auftretenden Jesus wohl eher ein rauer Naturbursche im Zottelgewand aus Kamelhaaren, kannte wahrscheinlich die Theologie der Qumran-Gemeinde der Essener, einer überwiegend am Toten Meer heimischen asketischen Sekte, deren „Lehrer“ – ähnlich Jesus – als letzter Prophet vor dem nahen Ende der Welt galt. In den Höhlen von Qumran wurden von 1947 bis 1956 etwa 900 antike Schriftrollen gefunden. Elf Höhlen lagen in der Nähe einer Siedlung, die etwa zwischen 100 vor und 68 nach Christus bewohnt war. In dem religiösen Schrifttum der Essener tritt dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ AKG Jesus, Kranke zu heilen, Speisen aus dem Himmel herabkommen zu lassen und Vögel aus Lehm zu erschaffen. Dieses Vogelwunder, das sich in der Bibel nicht findet, aber dem apokryphen, kirchenoffiziell nicht anerkannten Evangelium des Thomas entlehnt sein könnte, ist mehr als ein Nachhall des spätantiken Streits um die Kanonisierung der Bibel. Dass Jesus im Koran, wie der Schöpfer selbst, erschaffen kann, zeigt immerhin auch die besondere Qualität des Propheten Jesus. Elfmal wird Jesus im Koran als der Messias bezeichnet, mehrere Male, wie auch im Johannes-Evangelium, als das „Wort von Gott“ (Sure 4, Vers 171). Doch zu Johannes („Am Anfang war das Wort“) sieht Experte Marx keine direkte Abhängigkeit. Diese sprachliche Wendung stehe im Koran vielmehr für die Allmacht Gottes und sei nicht, wie bei Johannes, gleichzusetzen mit der Idee des Logos, einer präexistenten, gottähnlichen Weisheit. Umstritten ist vor allem die Kreuzigung Jesu. Sie wird in der 4. Sure als ein Irrtum geschildert, was je nach Auslegung des Korantextes mehrere Interpretationen nach sich zog. Der mehrheitlichen Deutung nach hätten sich die Juden in der Person geirrt, als sie dachten, sie würden Jesus kreuzigen. Einer zweiten Auslegung nach sei es sehr wohl Jesus gewesen, der gekreuzigt wurde, doch sei er nicht am Kreuz gestorben, sondern Jahre später auf natürliche Weise zu Tode gekommen. In beiden Fällen ist Jesus nicht mehr als ein sterblicher Diener Allahs. Aber wie auch in der Bibel kommt ihm am Jüngsten Tag eine besondere Rolle zu. Er sitzt zwar nicht zur Rechten Gottes, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, wird jedoch in der 4. Sure als „Zeuge“ bezeichnet. Dennoch gilt es in der islamischen Theologie als ausgeschlossen, dass es Jesus vermochte, durch sein Leiden die Sünden der Welt auf sich zu nehmen. „Dies ist eine der vielen Trennlinien zur koranischen Christologie“, meint Marx. Denn die Jesus-Suren waren unter anderem von der Intention geprägt, „die Unterschiede zum Christentum der Arabischen Halbinsel zu betonen“. Heute beschäftigen sich muslimische Theologen nur noch wenig mit dem Propheten Jesus, obwohl allein die Erzählung seiner Geburt zahlreiche Verse umfasst. Jesus bleibt reduziert auf seine Aufgabe, „Gesandter“ zu sein, „der den Gesandten verkündet“ (Sure 61, Vers 6). Und damit ist er dem Islam vor allem dies: ein Vorläufer für Mohammed, das „Siegel der Propheten“ (Sure 33, Vers 40). Hindeja Farah Christus vor Pilatus*: „Ich bin unschuldig“ d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 * Gemälde von Mihály Munkácsy (1881). 163 164 DER SPIEGEL KARGER-DECKER / INTERFOTO d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 ICON als Widerpart ein „Lügenmann“ entgegen. Namen werden nicht genannt. Irgendwann um das Jahr 30 ließ Galiläas und Peräas jüdischer Herrscher, der „Vierfürst“ Herodes Antipas, den Täufer Johannes ins Gefängnis werfen, weil der es gewagt hatte, die Ehemoral des Fürsten öffentlich zu kritisieren. Obgleich Jesus offensichtlich zum Jüngerkreis des Täufers gehörte, nahm er möglicherweise die Verhaftung des Johannes zum Anlass, sich abzusetzen. Fortan zog Jesus als eine Art freiberuflicher Wanderprediger, Wunderheiler und Exorzist, der von Spenden lebte, wohl hauptsächlich durch Kreuzweg-Szene aus „Die Passion Christi“: Ein Bauer hilft dem Gottessohn sein kleines Galiläa (es maß etwa 40 mal 50 Kilometer). Sein öffent- schen Christen und Juden in der Messias- „bekämpft“ werden, bis sie Tribut zahlen. liches Wirken dauerte höchstens drei Jah- Frage. Während gläubige Juden den Messias Islamistische Gotteskrieger, die ihre Feinre, vermutlich sogar nur ein einziges Jahr. noch immer erwarten, ist für Christen die de in den Tod bomben, können sich darauf Wenn die Evangelien Orte, Zeiten und Gottesherrschaft mit Jesus „angebrochen“. kaum berufen. Wie Jesus zunächst den Underdogs, daAnlässe benennen, so ist das meist nur ein Weltberühmt wurde die Szene aus dem Stilmittel, das die Erzählung anschaulicher mals die Mehrheit der Bevölkerung, ihr Johannes-Evangelium: Jesus lehrt vor und einprägsamer machen soll. So hat die Selbstbewusstsein stärkte, ging mit dem großem Publikum im Jerusalemer Tempel. weltberühmte Bergpredigt weder auf ei- vielfachen „Selig“ der Bergpredigt in die Auf der Suche nach einem Klagegrund genem „Berg“ noch vor „vielen Menschen“ Weltliteratur ein: „Selig, die arm sind vor gen Jesus haben Pharisäer und Schriftge(Mt 5,1) stattgefunden, sondern überhaupt Gott“, „selig die Trauernden“, „selig, die lehrte ihm eine Frau vorgeführt, die nach nicht. Sie ist lediglich eine Textsammlung hungern und dürsten, denn sie werden ge- dem Gesetz des Mose wegen Ehebruchs von etwa 25 zentralen Motiven christlicher tröstet werden“, und „ihnen gehört das gesteinigt werden muss. Jesus erledigt die Moralvorstellungen – höchstens einige da- Himmelreich“ (Mt 5,3-10). Sache höchst unkonventionell: Besonders attraktiv müssen zudem im von gehen auf Jesus selbst zurück. „Jesus aber bückte sich und schrieb mit Jedenfalls kamen die Worte an. Politisch 1. Jahrhundert die Akzente gewirkt haben, dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig unter der Knute der römischen Besatzungs- die Jesus in Moralfragen setzte. Dem weiterfragten, richtete er sich auf und sagmacht, religiös unter der Fuchtel spitzfin- Dickicht von religiösen Gesetzen und Hun- te zu ihnen: ‚Wer von euch ohne Sünde ist, diger Religionsexperten, sozial weitgehend derten Einzelvorschriften setzte er ganze werfe als Erster einen Stein auf sie.‘ Und er verarmt, chancenlos, rechtlos, mit einer Le- zwei Grundgebote gegenüber, beide be- bückte sich wieder und schrieb auf die reits lange zuvor Bestandteil der jü- Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, dischen Bibel: ging einer nach dem andern fort, zuerst „Du sollst den Herrn, deinen die Ältesten … Da sagte Jesus zu ihr: ‚Auch Gott, lieben mit ganzem Herzen … ich verurteile dich nicht. Geh und sündige und deinen Nächsten lieben wie von jetzt an nicht mehr‘“ (Joh 8,6-11). dich selbst“ (Mt 22,37-39). An diesen So müsste er gewesen sein, dieser origibeiden Geboten, fügte Jesus hinzu, nale Jesus, denkt man. Doch ausgerechnet hänge „das ganze Gesetz samt den diese Szene stand nicht im ursprünglichen Propheten“. Für den, der es nüch- Johannes-Evangelium, sondern wurde erst terner mochte, empfahl er die Gol- viel später in den Text hineingeschrieben. dene Regel: „Alles also, was ihr von Aber auch wenn sie erfunden ist, ist sie anderen erwartet, das tut auch ih- gut erfunden. nen“ (Mt 7,12). Mehr noch: „Wer bei Vom historischen Jesus stammen geneTheologen Reimarus, Bultmann euch der Erste sein will, der soll der rell wohl die Bildvergleiche zwischen dem Die Legenden entzaubert Sklave aller sein“ (Mk 10,43). Reich Gottes und einfachen Motiven aus Wie er sich das im Alltag vorstellte, er- dem ländlichen Galiläa: Sie erzählen vom benserwartung von vielleicht 35 Jahren, die Frauen eher weniger – solche Leute hatten klärte er immer wieder konkret: „Ich aber Sämann auf dem Feld oder vom Unkraut für Botschaften von naher Erlösung und sage euch: Liebet eure Feinde“ (Mt 5,44). unterm Weizen, vom prall gefüllten FischZum Verzeihen bereit sein müsse man netz und vom Schatz im Ackerboden, oder Befreiung stets offene Ohren. Vom historischen Jesus waren sie wohl „nicht siebenmal, sondern siebenundsieb- vom „Sauerteig, den eine Frau unter einen nur für Juden gedacht, weil er als Jude ledig- zigmal“ (Mt 18,22). Ein vergleichbar groß- großen Trog Mehl mischte, bis es ganz lich eine Reform des Judentums im Sinn herziges Gebot lässt sich in der heiligen durchsäuert war“ (Mt 13,33). Der Sinn solhatte: „Ich bin nur den verlorenen Schafen Schrift der Muslime, dem mehr als 500 Jah- cher Gleichnisse ist stets: kleiner Anfang, des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Eine re nach den Evangelien aufgeschriebenen große Wirkung. Oder: erst Verzweiflung Botschaft für die „Heiden“ wurde daraus Koran, nicht finden. Der Koran fordert und Chaos, dann Gottes Sieg. Handfest wie sein Denken könnte auch erst nach Jesu Tod. Und seitdem besteht der einerseits dazu auf, Juden und Christen zu wichtigste theologische Unterschied zwi- „respektieren“, andererseits sollen sie auch Jesu tatsächliches Leben gewesen sein. Er Titel „Gott kennt das Leid“ SPIEGEL: Herr Wahl, Jesu Geburt in durch andere aushalten müssen. Und er Betlehem, die Krippe, die Heiligen Drei kann sicher sein: Alles Leid, das MenKönige, Herodes’ Kindermord – alles schen durchmachen müssen, ist Gott nur Legende. Wann entschuldigen Sie nicht fremd. Am Tag, als ich den Film sich bei den „Wort zum Sonntag“-Zu- sah, hatte ich vorher einen Mitarbeiter schauern für die historischen Schwin- besucht, der im Sterben lag. Ich kann deleien in der Bibel? Wahl: Für mich ist die Geschichte Jesu nicht beendet. Sein Leben ist nicht nur ein historisches Datum. Betlehem oder Nazaret? Das Wichtigste ist, dass Gott Mensch geworden ist. Auch wenn ich eine Zeit lang in Jerusalem gelebt habe, ich klammere mich nicht an historiografisch verbürgte Orte. Aber sie sind hilfreich, sich bewusst zu machen, dass Gott wirklich einmal Staub unter den Füßen hatte. SPIEGEL: Sie glauben also an etwas, was historisch nicht so existiert hat, wie die Evangelien berichten? Wahl: Dass Jesus existiert hat, steht für mich außer Frage, aber ich suche heute einen Zugang zu Jesus Christus. Ich sehe ihn nicht nur als historische Gestalt, die über die Jahrhunderte hinweg auf mich schaut. Mit den Evangelien haben wir aber etwas, was norma- Theologe Wahl le historische Fakten übersteigt. Und „Es gibt einen Glaubenssprung“ es gibt einen Glaubenssprung, der darin besteht anzunehmen, dass das, was nicht sagen: Gott hat dieses Leid gein den Evangelien steht, stimmt. schickt, aber: Gott kennt dieses Leid. SPIEGEL: Stimmt? Wie ist das zu ver- Damit bleiben noch viele Fragen offen, aber wenn ich das nicht glauben könnstehen? Wahl: In Jesus Christus ist Gott in ei- te, hätte alles keinen Sinn. ner konkreten Stunde der Geschichte SPIEGEL: Was können junge Leute, die Mensch geworden und ist auch heute fast ohne Kenntnis der Bibel aufwachin meinem Leben erfahrbar. Was das sen, mit den Passionsszenen anfangen? Christentum von anderen Religionen Wahl: Ich befürchte, nicht viel. Aber unterscheidet, ist der Glaube, dass Gott wer will das beurteilen? Gott kennt viedie Fülle der menschlichen Existenz le Wege. Vielleicht weckt der Film bei nicht aus einer sicheren Distanz beob- manchen die Neugier, mehr zu erfahachtet, sondern sie durch seinen Sohn ren über Jesus Christus. Immerhin beam eigenen Leib erfahren hat. schäftigt er die Leute, es wird darüber SPIEGEL: Hat Sie Mel Gibsons Passions- diskutiert. Der Film und damit Jesus film in diesen frommen Gefühlen be- Christus ist Thema. SPIEGEL: Was hilft gegen die Glaubensstärkt? Wahl: Es gibt den Pasolini-Film, der unbildung? mich mehr beeindruckt hat. Gibson Wahl: Es gibt kein Zurück zum Schulbringt eine Verkürzung des Glaubens meisterlichen. Es geht nur über das auf Leid und Opfer. Mich bewegt und Weitertragen von persönlichen Gotteserschreckt allein schon der Gedanke, erfahrungen. Das stand auch am Andass Gott am Kreuz gestorben ist, um fang unseres Glaubens. Die historiuns zu erlösen. Da brauche ich keine schen Fakten über die Anfänge, die Nahaufnahmen, wie die Haut aufbricht. Bindung an die Tradition sind wichtig, SPIEGEL: Was kann der Gläubige über- aber es kommt darauf an, wie glauhaupt von der Passion Christi lernen? bende Menschen heute die Welt geWahl: Er kann erkennen, wozu der stalten. Im Vertrauen auf und im ReMensch fähig ist und was Menschen spekt vor Gott. 166 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 MARKUS NOWAK / KNA Stephan Wahl, 43, katholischer Priester und „Wort zum Sonntag“-Sprecher über Glauben heute schien sie alle zu fesseln: Kinder, Frauen und Männer, Arme, Kranke, Krüppel und Besessene ebenso wie Schriftgelehrte, Älteste und Tempelpriester. Mit Pharisäern saß er zuweilen sogar zu Tische. Aber er speiste auch mit Zöllnern und Huren, weshalb er seinen Feinden als „Fresser“ und „Säufer“ galt (Mt 11,19). Als ihm die Pharisäer dies vorhielten, konterte er: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mt 9,12). Insbesondere Jesu Verhältnis zu Frauen ist bemerkenswert. Frauen gehörten zu seinem Jüngerkreis, was ungewöhnlich war und daher kaum erfunden sein dürfte. Noch ungewöhnlicher: „Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besaßen“ (Lk 8,2-3). War Jesus gleichwohl, für einen jüdischen Rabbi damals die Normalität, verheiratet? Weil die Evangelien darüber schweigen, erwecken sie den Eindruck, Jesus habe unverheiratet oder gar abstinent gelebt. Wahrscheinlich sah er das Ende der Zeiten so nah, dass er eine Heirat überflüssig fand. Was die Ehemoral betrifft, war er wohl ein Rigorist. Matthäus lässt ihn predigen: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ Andere Evangelienstellen drängen dennoch Fragen auf wie: Hatte Jesus eine Freundin, eine Geliebte, eine Lebensgefährtin? Möglichkeiten hatte der vielfach Bewunderte gewiss mehr als genug. Im Verdacht steht meist Maria Magdalena, die legendäre „schöne Sünderin“. Laut Lukas-Evangelium gehörte sie zu den ständigen Jesus-Begleiterinnen, nachdem der Meister persönlich sie geheilt hatte – von „sieben Dämonen“ (Lk 8,2). Einen Absatz vorher beschreibt Lukas, wie Jesus im Haus des Pharisäers Simon zu Gast ist – eine namentlich nicht identifizierte Hure kommt herein und weint, wäscht Jesus mit ihren Tränen die Füße, trocknet sie mit ihren aufgelösten Haaren und küsst sie (Lk 7,36-50). Und das auch noch mit aufgelösten Haaren – das war damals so viel wie nackt. Ein bisschen Liebe? Obwohl Lukas es nicht sagt, könnte diese Hure durchaus Maria Magdalena gewesen sein. Dass sie ihren Rabbi Jesus ernsthaft geliebt haben könnte, zeigt sich vor allem, als es Jesus schlecht geht. Laut Markus-Evangelium steht sie bei der Kreuzigung, gemeinsam mit ein paar anderen Frauen, in Sichtweite (Mk 15,40). Jesu Männer waren, ausgenommen der legendäre Lieblingsjünger Johannes, getürmt. Nach der Grablegung will sie das Grab sehen und den toten Jesus salben (Mk 16,1-8). Und auch später lässt sie nicht locker. Am Tag nach dem Pessach-Fest ist sie morgens früh die Erste vor der Grotte, sieht ins leere Grab, ist entsetzt, bis ihr als Erster Jesus nach seinem Tod erscheint und sie tröstet (Joh 20,11-18). Sie ist ihm also durchaus nicht gleichgültig. in seinem Jesus-Buch, „sind so viele Wunder überliefert wie von Jesus.“ Kaum ein Exeget verteidigt heute noch diese biblischen Wunder als Fakten. In der antiken Welt, so Becker, „stehen außergewöhnliche mehr aus dessen Lebzeiten, er will dem Meister nur nach dessen Auferstehung in einer Vision begegnet sein. Auch Paulus glaubt an das baldige Ende der Welt, aber der intellektuelle Weltmann, Jude wie die Jünger, betreibt die Heidenmission und überAUSGERECHNET DER JUDE PAULUS WIRD schreitet dabei die Grenzen der jüdischen ÜberZUM PAMPHLETISTEN DER CHRISTLICHEN lieferung. Er hat erst daJUDENFEINDLICHKEIT. durch den Glauben an Christus für die MenschPhänomene aller Art prinzipiell im Einklang heit geöffnet – so gesehen, ist eigentlich Paulus der Stifter dieser Weltreligion. Auf mit dem Wirklichkeitsverständnis“. In endzeitlicher Erwartung verbrachte sein Mitbetreiben ist die Beschneidung die Urgemeinde nach Jesu Tod die ersten nicht mehr Pflicht, will einer vollwertiges Jahre in Jerusalem. Die Lehre, zuerst noch Mitglied einer christlichen Gemeinschaft nirgends aufgeschrieben, breitete sich sein: Die Beschneidung der Herzen, so Paulus, sei wichtiger. Der Sabbat muss mündlich trotzdem aus. Mit Paulus betritt um 40 nach Christus nicht mehr unbedingt geheiligt sein, auch eine geniale Figur die Baustelle der ent- die Reinheit des Essens wird großzügistehenden Christenheit. Anders als Petrus ger beurteilt. Grausame Ironie der Geschichte ist, dass und der Jesus-Bruder Jakobus kennt der mit dem antiken Weltbild und der griechi- ausgerechnet der Jude Paulus zum ersten schen Sprache vertraute Paulus Jesus nicht Pamphletisten des christlichen Antijudaismus wird. Im Paulusbrief an die Thessalonicher, um 50 nach Christus entstanden und damit der älteste erhaltene christliche Text, stehen im zweiten Kapitel zwei schreckliche Verse: Die Juden, heißt es da, „haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen“ (1 Thess 2,15-16). Diese Stelle löst bei den Schriftgelehrten unserer Zeit große Verlegenheit aus. Ein kleiner Teil der Exegeten erklärt sie als nachträgliche Einfügung. Aber die Mehrheit hält sie für echt. Der Professor für jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, Daniel Schwartz, versucht eine Erklärung: „Ich muss leider sagen, dass die Feindseligkeit der Juden untereinander oft keine Grenzen kennt.“ Der Antijudaismus eine Erfindung der Juden? Wohl kaum. Immerhin sahen sich, so schätzen Experten, 6,5 Millionen Einwohner des Römischen Reiches als Anhänger des Judentums an, also knapp ein Zehntel der Bevölkerung. Den Juden, die in der Diaspora wegen ihrer Reinheitsvorschriften das gemeinsame Mahl mit Nichtjuden verweigerten, begegneten die Römer mit Ablehnung, aber auch Bewunderung, weil die römische Staatsreligion mit ihrer Vielgötterei besonders bei der römischen Oberschicht als korrumpiert galt. Für die Verstärkung des Antijudaismus in späteren Epochen hat Sigmund Freud eine interessante Erklärung. Mit Gewalt, so schreibt der Erfinder der Psychoanalyse in seinem Mose-Buch, seien die Völker christianisiert worden. Den Verwundungen und AKG Quer durch die Jahrhunderte wuchern um diese Beziehung die wildesten Geschichten. Bereits im 2. Jahrhundert bezeichnet das apokryphe Philippus-Evangelium Maria Magdalena als Gefährtin Jesu. Im 12. Jahrhundert, der Gründerzeit des Templer-Ordens, wurde unter anderem die These gehandelt, Maria Magdalena sei nach dem Tode Jesu gen Südfrankreich geflüchtet und habe dort in einer Höhle bei Sainte-Baume als Einsiedlerin gelebt. Im Spätmittelalter kamen gar Legenden von ihrer Himmelfahrt auf – der Körper ohne Kleider, nur bedeckt von ihren langen Haaren. Die Evangelien berichten über 29 Wunder, die Jesus bewirkt haben soll: 3 Austreibungen böser Geister, 16 Heilungswunder, 3 Totenerweckungen (außer der eigenen), 7 Naturwunder. Jesus beruhigt den Sturm auf dem Meer, geht übers Wasser, sättigt mit ein paar Broten und Fischen einmal 4000, ein andermal 5000 Leute. „Von keinem antiken Wundertäter“, schreibt der Neutestamentler Jürgen Becker Das Jüngste Gericht (Ikone, 17. Jahrhundert) Endzeitliche Erwartung 167 dem daraus resultierenden Hass auf das Christentum stand nur ein Ventil zur Verfügung – der Hass auf die Juden als angebliche Christus-Mörder, eine Umleitung der Aggression, psychoanalytisch gesprochen: eine klassische Verschiebung. Abgesehen vom düsteren Kapitel des Antijudaismus, gehört die Nachwirkung der frühchristlichen Jesus-Verklärung zu den großen Erfolgsgeschichten der Menschheit. Noch heute bekennen sich rund zwei Milliarden Gläubige zur Botschaft der Evangelien. Was die Menschen an ihr stets besonders fasziniert hat, sind ihre Paradoxien: Auferweckung im Tod, Sieg in der Niederlage, Stärke durch Schwäche, das „Blut der Versöhnung“ (Klopstocks „Messias“-Dichtung), die Rettung im Weltuntergang, vor allem aber: Gott als Mensch. Anders als die meisten Kulte der Spätantike bezog sich das Christentum nicht nur auf zeitlose Mythen und Legenden, sondern auf ein einmaliges historisches Ereignis – auch wenn dies weitgehend legendär dargestellt und ausgeschmückt wurde. Gerade in der konkreten Historizität der Jesus-Gestalt lag das besondere Machtpotenzial des frühen Christentums. Alexander der Große hielt sich für einen Sohn des Zeus, im Osten des römischen Reichs wurde Kaiser Augustus als Gott verehrt, Jesaja feierte den persischen König Kyros, der die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft befreite, als Messias – das waren alles gloriose Überhöhungen eindeutig irdischer Helden. Das skandalös Neue an Jesus dagegen: die – von den Kirchenvätern sehr bald nach dem 1. Jahrhundert dogmatisierte – strikte Identität von Gott und Mensch (zwei Personen, eine Natur), die Behauptung, dieser eine Mensch Jesus habe nicht nur göttlichen Rang, sondern sei Gott selbst. Aus der paradoxen Verquickung von einmaligem geschichtlichem Ereignis und ewiger Wahrheit ergab sich ein propagandistischer Vorteil besonderer Art: Alle möglichen Spuren des Authentischen – heilige Orte, heilige Knochen, Turiner Grabtuch, Schweißtuch der Veronika – wurden zu zusätzlichen Stützen des Glaubens. Die spektakulärste Ikone dieser Art ist das jahrhundertelang vom Fürstenhaus Savoyen bewahrte, im Turiner Dom als Reliquienschatz verehrte und gehütete Leichentuch Christi – aus schattenhaften Umrissen zeichnet das vier Meter lange Leinentuch erstaunlich genau das Bild eines übel Ausgepeitschten und Gekreuzigten. Lange für eine Fälschung des Mittelalters gehalten, wurde dem heiligen Laken vor zwei Jahren, nach akribischen Textil- und Pollenuntersuchungen, bescheinigt, dass zumindest der Stoff wohl aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammt. Solche Gegenstände der Verehrung warben jahrhundertelang effektvoll für den 168 d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 AKG Kreuzigungsdarstellung auf Isenheimer Altar (Matthias Grünewald, 1512/1515): Können wir ohne Religion leben? Heiland in Gesellschaften, die überwie- schen Part der phantastischen Story zu gend aus Analphabeten bestanden. Aber überprüfen und womöglich zu widerauch Gebildete erlagen schon frühzeitig legen, ist klar. Die Christen haben keinen dem seltsamen Sog des Reliquienkults: Grund, darüber die Nase zu rümpfen – ist Helena, die vornehme Mutter des Kaisers doch das Historischwerden ihres GotKonstantin, reiste im 4. Jahrhundert nach tes keine entbehrliche Zutat dieser ReJerusalem, ließ sich Grabstätte und Gol- ligion, sondern eine ihrer wesentlichen gota zeigen und soll mindestens zwei Pointen. Das Christentum ist Theologie aus jener Nägel, die angeblich durch Hand- Geschichte. gelenke und Füße des Herrn getrieben Rudolf Augstein jedenfalls zog, in seiworden waren, erworben haben – 1968 nem Buch „Jesus Menschensohn“ (1972/ wurde in Jerusalem der von einem Gekreuzigten des 1. Jahrhunderts CHRISTLICH-JÜDISCHE „TIEFENGRAMMATIK“ stammende, von einem PRÄGT VIELE HEUTIGE eckigen Nagel durchbohrte Fersenknochen VERSTÄNDIGUNGSPROZESSE. ausgegraben, der belegt: Die Füße des Opfers wurden getrennt ans 1999), aus der verworrenen Jesus-ÜberlieKreuz genagelt. ferung die Konsequenz: Er nahm Abschied Ob Kaisermutter Helena die echten Nägel vom Glauben an den Gottessohn Jesus erwarb, bleibt ungewiss, überliefert aber ist, wie von der Deutungshoheit der Kirchen. dass einer der Nägel in das Zaumzeug von „Können wir ohne Religion leben?“, fragSohn Konstantins Lieblingspferd eingearbei- te sich Augstein und antwortete: „Wir wertet wurde. Eine Religion zum Anfassen: den das wohl müssen.“ Während das Denken über die Einheit des Gleichwohl: Nach rund 200 Jahren SäUnvereinbaren, des Unendlichen und Endli- kularisation, die in Europa erst zur Trenchen, grübelt, betasten die Hände die Nägel, nung von Kirche und Staat, dann auch zur die den Gottessohn durchbohrten. Trennung von Religion und Gesellschaft geDass eine derartige Religion die Zweif- führt hat, ist das allgemeine Interesse an ler herausfordert, zumindest den histori- Jesus und seiner Lehre immer noch groß d e r s p i e g e l 1 6 / 2 0 0 4 und anhaltend. Wie der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf in seinem neuen Buch „Die Wiederkehr der Götter – Religion in der modernen Kultur“ schreibt, sind von der christlich-jüdischen „Tiefengrammatik“ nach wie vor viele heutige Verständigungsprozesse geprägt, etwa wenn das Tierschutzgesetz mit dem christlichen Begriff „Mitgeschöpf“ argumentiert. Offenbar hängen die Menschen zäh an jener unverfügbaren Würde, die jedem Einzelnen von ihnen durch die Botschaft vom Gottmenschen zugespielt wird. Sie empfinden diesen unverhandelbaren „Transzendenzcharakter“ (Graf) als Schutz gegen die Manipulation durch alle möglichen Sachzwänge und selbst ernannten Herren der Welt. Gewiss setzt die Teilhabe an diesem Schutz den Sprung in den Glauben voraus, und Glauben ist nicht Wissen. Der Münchner Publizist Peter Seewald, 49, beschließt sein anrührend autobiografisches Buch „Grüß Gott – Als ich begann, wieder an Gott zu denken“ mit einer Ferienszene, die zugleich sehr alltäglich und sehr symbolisch für das Wagnis des Glaubens ist: „Ich holte ganz tief Luft und tauchte, und dann schwamm ich in weiten Zügen hinaus Nikolaus von Festenberg, aufs Meer.“ Manfred Müller, Mathias Schreiber 169 Gesellschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H Ist Jesus dem Glauben im Weg? Der evangelische Neutestamentler Andreas Lindemann über die Widersprüche zwischen Jesus-Forschung und kirchlichen Lehren AKG SPIEGEL: Herr Professor Lindemann, Ru- Raffael-Gemälde „Auferstehung Christi“ (um 1499) ist Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel und einer der renommiertesten deutschen Bibel-Forscher, der so genannten Exegeten. Lindemann, 56, schrieb 1975 gemeinsam mit dem 1989 verstorbenen Bultmann-Schüler Hans Conzelmann das „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“, mit 84 000 Exemplaren (12. Auflage 1998) eines der meistgekauften Bücher zu dem Thema. Überdies gibt er das „Handbuch zum Neuen Testament“ heraus. 130 M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV Lindemann dolf Augstein hat sein Buch „Jesus Menschensohn“ jetzt neu bearbeitet und darin folgenden Kernsatz formuliert*: „Nicht, was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion und mit ihr die Geschichte des so genannten christlichen Abendlandes bestimmt.“ Stimmen Sie dem zu? Lindemann: Ich würde es nicht so apodiktisch formulieren, aber im Prinzip kann ich diesem Satz zustimmen, wenn auch nicht den Konsequenzen, die Augstein in seinem Buch daraus zieht. SPIEGEL: Augstein wirft Ihnen, Herr Lindemann, Schizophrenie vor. Als kritischer Exeget stellen Sie in Ihren Büchern und Aufsätzen Widersprüche zwischen dem Menschen Jesus und dem Christentum fest; als Theologe erklären Sie, es sei „letztlich ohne Bedeutung“, ob sich das Christentum „in Anknüpfung oder im Widerspruch zu Jesus“ entwickelte. Lindemann: Aus Augsteins Sicht mag das schizophren scheinen, ich sehe es nicht so. Wir Christen glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus. In einer Predigt würde ich sagen: Wir glauben an Gottes Handeln an Jesus, der dadurch zum Christus wurde. SPIEGEL: Wenn sich nahezu alles, was über Jesus in der Bibel steht, als unhistorisch erwiese, könnte es Ihren Glauben erschüttern? Lindemann: Nicht im geringsten. Zugespitzt formuliert ist es sogar umgekehrt, wie gemeinhin angenommen wird. In der historischen Erforschung des Neuen Testaments kann es immer nur Wahrscheinlichkeiten, nichts völlig Sicheres geben, und man muss immer mit neuen Erkenntnissen rechnen, die ein Umdenken erfordern. Für den Glauben gilt dies nicht. Und vor allem kann ich ihn nicht davon abhängig machen, was wir historisch forschenden Theologen jeweils feststellen. SPIEGEL: Gehen Sie so weit wie Heinz Zahrnt, der Autor mehrerer Jesus-Bücher, der auch Christ bleiben würde, wenn man „den Nachweis brächte, dass Jesus von Nazaret nicht gelebt hätte“? * Rudolf Augstein: „Jesus Menschensohn“. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg; 573 Seiten; 54 Mark. Gesellschaft lebt hat, daran gibt es keinen begründeten Zweifel. SPIEGEL: Augstein führt in seinem Buch die Argumente an, die gegen eine Existenz Jesu sprechen. Lindemann: Die Argumente sind aber schwach, und nach meinem Eindruck macht er sie sich auch nicht zu Eigen. Hätte Jesus nicht gelebt, wäre der christliche Glaube ein Mythos. SPIEGEL: Ist nicht die Kunstfigur Christus, die es nur in der Bibel und im Glauben der Christen gibt, ohnehin ein Mythos, selbst wenn dieser Mythos einen Bezugspunkt zu einem Menschen namens Jesus hat? Lindemann: Ich würde nicht von einem Mythos sprechen, denn der Mensch Jesus oder, wie wir Exegeten sagen, der „historische Jesus“ ist mehr als ein Bezugspunkt. SPIEGEL: Papst Johannes Paul II. und seine Hoftheologen ignorieren fast immer, was die Jesus-Forschung in den 250 Jahren seit der Aufklärung erbracht hat. In einer „Handreichung“ des Vatikans zum so genannten Heiligen Jahr 2000 wird behauptet, „dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt“. Lindemann: Das wird seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet. SPIEGEL: „Kein Augen- oder Ohrenzeuge spricht noch direkt zu uns.“ Das schreibt der Heidelberger Exeget Christoph Burchard über die Autoren des Neuen Testaments. Also haben weder, wie jahrhundertelang behauptet wurde, der Apostel Matthäus noch der Apostel Johannes ein Evangelium geschrieben, auch waren die Evangelisten Markus und Lukas keine Begleiter von Aposteln. Stimmen die Exegeten darin überein? Lindemann: Ich denke schon. Es gibt natür- SPIEGEL: Deshalb brauchten wir nach Zita- lich immer Ausnahmen. SPIEGEL: Der Papst hält an den beiden Aposteln als Autoren fest, und er verkündet, die Evangelien seien zwar Glaubensschriften, aber „als historische Zeugnisse nicht weniger zuverlässig“. Lindemann: Ich kenne jedenfalls im deutschsprachigen Raum keinen Exegeten, auch keinen katholischen, der sich so äußert. SPIEGEL: Belassen wir es bei diesen Proben römischer Ignoranz.Weihnachten läuft im Ersten Deutschen Fernsehen drei Stunden lang ein zweiteiliger Jesus-Film, in dem vieles so dargestellt wird, als habe es sich wirklich ereignet. Stört Sie der Aberglaube an die Buchstaben der Bibel, wie er im Vatikan verbreitet und auf dem Bildschirm vorgeführt wird? Lindemann: Ich würde nicht gerade von Aberglauben sprechen. Es ist jedoch ein Missverständnis der biblischen Texte, wenn sie als Tatsachenberichte aufgefasst werden. Trotzdem kann und muss man sogar danach forschen, was insbesondere in den Evangelien historisch zuverlässig ist. SPIEGEL: Genau das wollen wir jetzt. Wir möchten mit Ihnen einige zentrale Bibelberichte über Jesus falsifizieren oder verifizieren. Lindemann: Wir können das gern tun, aber vorab möchte ich sagen, was mir an diesem Vorgehen missfällt, wie es mir auch an Augsteins Buch missfällt. Er begnügt sich durchgängig damit, festzustellen, was nicht stimmt, was sich nicht ereignet hat. SPIEGEL: Erwarten Sie mehr von jemandem, der wissen will, was geschehen ist? Lindemann: Eigentlich schon. Es ist einerseits eindrucksvoll, in welchem Umfang Augstein die neuere exegetische Literatur heranzieht … ten von Theologen nicht zu suchen. Wir fanden alle, die wir für dieses Gespräch brauchten, in Augsteins Buch. Lindemann: … aber es ist andererseits bedauerlich, dass er es sozusagen atomistisch tut. Wenn es ihm wichtig ist, zitiert er zu einem Thema drei, vier Exegeten und greift dabei aus ihren Büchern nur G. STOPPEL / GRAFFITI Lindemann: Nein, keinesfalls. Dass Jesus ge- Vatikan-Bischof Kasper „Gefährliche Nähe von Mythologie“ die ihm passend erscheinenden Zitate heraus. SPIEGEL: Was hätte er sonst tun sollen? Lindemann: Er wird den Autoren, die er zitiert, oft nicht gerecht, die sich ja nicht so punktuell geäußert haben, und er macht dadurch sein Buch insgesamt doch recht einseitig. SPIEGEL: Das Positive, das Sie vermissen, liefern einige Theologen im Übermaß. Ihr Kollege Traugott Holtz gehört nicht zu ihnen. Hat er Recht, wenn er in seinem dieses Jahr erschienenen Jesus-Buch schreibt: „Über die Zeit bis zu Jesu erstem öffentlichen Auftreten wissen wir gar nichts.“ Lindemann: Holtz hat völlig Recht. Hinzu kommt: Ob Jesus mit 30 Jahren öffentlich auftrat, weiß man nicht. Das steht nur im Lukas-Evangelium. Und auch über die Dauer seines Wirkens – ob ein, zwei oder drei Jahre – können wir nichts sagen. SPIEGEL: Vielen ist noch immer unbekannt, dass Jesus weder im Jahre null oder eins noch in der Heiligen Nacht, noch in Bethlehem geboren ist, und viele halten die Legenden vom Kindermord des Herodes in Bethlehem und von der Flucht der so genannten Heiligen Familie nach Ägypten noch immer für Tatsachenberichte. Lindemann: Unterschätzen Sie nicht die Allgemeinbildung der Deutschen? SPIEGEL: Bei einer Umfrage für den SPIEGEL erklärten in diesem Jahr 77 Prozent der Befragten, Bethlehem sei der Geburtsort Jesu – weil sie es nicht besser wissen. Lindemann: Das Geburtsjahr kennt man in der Tat nicht; die Angaben in den Evangelien sind vage und widersprechen sich. Die Vermutungen reichen von 7 vor Christus bis 6 nach Christus. Der 25. Dezember war ursprünglich der Geburtstag des römischen Sonnengottes. Und Bethlehem wird wahrscheinlich nicht der Geburtsort AP Papst Johannes Paul II.*: Jesus-Forschung fast immer ignoriert * Beim Abendgebet in der Sakramentskapelle der Kathedrale von St. Louis (USA) am 27. Januar. Gesellschaft gewesen sein. Bethlehem wird vermutlich nur deshalb genannt, weil es die Stadt Davids war und dort laut Altem Testament der Messias geboren werden sollte. SPIEGEL: Ist Jesus in Nazaret geboren? Lindemann: Das vermute ich und mit mir viele andere. SPIEGEL: Dass die Jungfrauengeburt nicht historisch ist, ist feste protestantische Überzeugung. Wie äußern sich dazu heutzutage die katholischen Exegeten? Lindemann: Nach meinem Eindruck halten nur wenige katholische Neutestamentler daran noch fest. Aber auch die anderen katholischen Kollegen tun sich hier schwer, denn es geht offenbar um ein zentrales Dogma ihrer Kirche. Deshalb breiten sie zwar alle Argumente aus, meiden aber ein klares Ja oder Nein, und einige schweigen sich in ihren populären Büchern zu diesem Thema aus. So gehen sie einem Konflikt mit Rom aus dem Wege und brauchen sich doch nicht wider besseres Wissen zu äußern. SPIEGEL: Ist es für Sie ein Problem, einerseits überzeugt zu sein, dass es keine Jungfrauengeburt gegeben hat, und andererseits das Glaubensbekenntnis zu sprechen: „Geboren von der Jungfrau Maria“? Lindemann: Nein, überhaupt nicht. Glauben, das kann ich auch als kritischer Exeget tun, weil Matthäus und Lukas erzählend die Glaubensüberzeugungen vermitteln, dass Jesus in noch ganz anderer Weise als vor ihm Johannes der Täufer mit dem Heiligen Geist und mit Gott verbunden ist. SPIEGEL: Hielt sich Jesus für Gottes Sohn? Lindemann: Nein. SPIEGEL: Trotzdem schreibt Walter Kasper, bis vor kurzem Bischof von RottenburgStuttgart und neuerdings im Vatikan, in seinem Jesus-Buch, dass „mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes der christliche Glaube steht und fällt“*. Noch strikter heißt es im römisch-katholischen „Weltkatechismus“: „Um Christ zu sein, muss man glauben, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Warum müssen die Christen glauben, was Jesus selbst nicht glaubte. Lindemann: Einem evangelischen Theologen fällt es immer schwer zu fordern, dass man etwas glauben „muss“. Aber in der Sache gebe ich Kasper und sogar dem „Weltkatechismus“ Recht. Es geht nicht darum, ob Jesus der Sohn Gottes war, sondern um das Bekenntnis, dass er der Sohn Gottes ist. SPIEGEL: Christ wird man durch die Taufe. Hat Jesus getauft? Lindemann: Nein. SPIEGEL: Hat er von seinen Anhängern verlangt zu taufen? Lindemann: Der historische Jesus hat es nicht verlangt, das wird im Neuen Testament auch nicht behauptet. Der Missionsund Taufbefehl … * Walter Kasper: „Jesus der Christus“. GrünewaldVerlag, Mainz; 332 Seiten; 48 Mark. d e r s p i e g e l 5 0 / 1 9 9 9 SPIEGEL: „Darum geht hin und macht zu M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV Jüngern alle Völker, taufet sie …“, Matthäus Kapitel 28, Vers 19. Lindemann: … ist erst durch den Auferstandenen ergangen. SPIEGEL: Wie sollen Christen sich das vorstellen: dass der auferstandene Jesus diesen Auftrag auf wunderbare Weise aus dem Jenseits erteilt hat oder dass die Urchristen ihm dies in den Mund gelegt haben? Lindemann: Letzteres. Der Evangelist Matthäus hat den Taufbefehl formuliert, um die von der urchristlichen Gemeinde von Lindemann (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* Im Glauben unerschüttert Anfang an geübte Taufpraxis zu legitimieren. SPIEGEL: Hat sich Jesus in der Erwartung geirrt, das Weltende und das Reich Gottes seien nahe? Es gibt Jesus-Worte, die dies vermuten lassen, das bekannteste findet sich im Markus-Evangelium Kapitel 9, Vers 1: „Unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie gesehen haben, dass das Reich Gottes mit Macht gekommen ist.“ Lindemann: Viele Exegeten lösen das Problem, indem sie Jesus diese Aussage absprechen. Dafür gibt es auch gute Argumente. Andererseits halte ich es für unwahrscheinlich, dass der Evangelist Markus dieses Wort Jesus in den Mund gelegt hat. Es hatte sich ja schon zu Markus’ Lebzeiten als Irrtum erwiesen. Einer von beiden hat sich jedenfalls geirrt, Jesus oder Markus. Im Grunde ist das egal. SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht zu leicht? Der katholische Bischof Kasper jedenfalls nimmt dieses Problem ernster, vielleicht weil zu einem unfehlbaren Papst ein irrender Christus schlecht passt. Zitat Kasper: „Hat sich Jesus etwa in dieser seiner Naherwartung getäuscht? Wäre dies der Fall, dann hätte dies weit reichende Konsequenzen nicht nur für den Vollmachtsanspruch seiner Person, sondern für den Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch seiner ganzen Botschaft.“ Lindemann: An diesem Anspruch ändert der Irrtum in der Terminfrage nichts. SPIEGEL: Laut Bibel hat Jesus Tote auferweckt, einen Sturm gestillt, ist über Wasser gegangen, hat fünftausend mit fünf * Mit den Redakteuren Werner Harenberg und Manfred Müller in Bethel. 135 Gesellschaft Lindemann: Viele, und weit mehr als noch vor 20, 30 Jahren. Der christliche Glaube ist keine Fortsetzung der Botschaft Jesu, sondern bezieht sich auf das Heilsereignis in Christus, auf die Auferstehung und eben nicht auf die Verkündigung Jesu. SPIEGEL: Dann wären die „echten“ JesusWorte, wenn man sie denn feststellen kann, jüdisch und nicht christlich? Lindemann: Kein Zweifel. Jesus hat sich stets ausschließlich als Jude verstanden. SPIEGEL: Wie steht es dann mit der Bergpredigt? Dass Jesus sie gehalten hat, be- R. MEISEL / VISUM Broten und zwei Fischen gesättigt, Wasser in Wein verwandelt. War Jesus zu solchen Wundern, also zu Taten fähig, die vor oder nach ihm kein Mensch vollbracht hat? Lindemann: Ich halte es für ausgeschlossen, dass Jesus die von Ihnen genannten Wunder getan hat. Solche Erzählungen gab es damals auch über andere große Männer. Für historisch halte ich, dass Jesus Kranke geheilt und, nach dem Sprachgebrauch der Bibel, „Dämonen ausgetrieben“ hat. SPIEGEL: Hielt sich Jesus für den Messias, den viele Juden damals erwarteten? Protestantische Taufe: Befehl vom Evangelisten Matthäus Lindemann: Nach allem, was wir wissen, nicht. Er hat auch nach der Darstellung der Evangelien nichts von dem getan, was vom kommenden Messias erwartet wurde. SPIEGEL: Hat Jesus gehofft, nach seinem Tode als Christus das Haupt einer Kirche zu werden? Lindemann: Auch diese Frage ist, historisch gesehen, zu verneinen. Jesus wollte keine Kirche gründen. Überhaupt sah er die Entwicklung nicht voraus, die nach seinem Tode, wie Sie sagen, nach seiner Auferstehung, wie wir Christen sagen, einsetzte und die Welt veränderte. SPIEGEL: Was von all dem, was Christen sonst noch glauben oder glauben sollen, hat Jesus schon geglaubt? Dass er präexistent war, es ihn also schon gab, bevor er gezeugt wurde? Dass er wiederkehren werde am Ende der Tage? Lindemann: All das ist christlicher Glaube, und Jesus hat dies nicht geglaubt, er hätte dies auch nicht glauben können, denn er war Jude und kein Christ. Er sah seine Aufgabe in Israel, und keinesfalls wollte er eine neue Religion stiften. SPIEGEL: Würden das die meisten Exegeten so formulieren? 136 hauptet heute wohl kein ernst zu nehmender Exeget mehr. Lindemann: Das stimmt. Die Bergpredigt ist eine Komposition des Evangelisten Matthäus. Er hat Vorgefundenes und Eigenes zu einem literarisch und theologisch bedeutenden Werk vereint. In ihm gibt es Christliches und Jüdisches, Hellenistisches und eben auch von Jesus Stammendes. Auf ihn gehen, wie ich meine, insbesondere das Vaterunser und das Gebot der Feindesliebe zurück. SPIEGEL: „Alle neutestamentlichen Aussagen, die den Tod Jesu als Heilsereignis verstehen, sind erst nach Jesu Tod entstanden“, so der Frankfurter Theologe Hans Kessler. Also verstand auch Jesus selbst seinen Tod nicht als Sühnetod für die Sünden der Menschen, wie es im Credo steht. Lindemann: Davon hat Jesus in der Tat nicht gesprochen. Die Worte, mit denen er seinem Sterben Heilsbedeutung zuschreibt, sind ihm nachträglich in den Mund gelegt worden. SPIEGEL: Wieder halten wir Ihnen entgegen, was Bischof Kasper dazu schreibt: Wenn es so wäre, „dass dieser Gedanke keinerlei Anhalt im Leben und Sterd e r s p i e g e l 5 0 / 1 9 9 9 ben Jesu selbst“ hat, dann „rückt das Zentrum des christlichen Glaubens in gefährliche Nähe von Mythologie und Ideologie“. Lindemann: Wir sind in der Tat an einem zentralen Punkt. Auch hier gilt: Die Wahrheit des christlichen Glaubens hängt nicht vom Selbstverständnis Jesu ab. SPIEGEL: Wenn Jesus von seinem Sühnetod nichts wusste, kann er auch das Abendmahl nicht eingesetzt, nicht von seinem Blut gesprochen haben, „das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“. Lindemann: Ich meine in der Tat, dass die Abendmahlsworte nicht historisch auf Jesus zurückzuführen sind. Die urchristliche Gemeinde hat ihren Glauben in Worte Jesu gekleidet. SPIEGEL: Herr Lindemann, wenn wir Sie so hören, kommt uns der Gedanke: Was man über den Menschen Jesus weiß, ist dem christlichen Glauben im Wege. Lindemann: Das bestreite ich nicht. Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Wir haben ja bislang nur erörtert, was Jesus nicht gesagt oder nicht getan hat. Es gibt aber auch Aussagen Jesu, die dem christlichen Glauben widersprechen. Ich denke an vieles, was mit der ausschließlichen Bindung Jesu an das Judentum zusammenhängt. SPIEGEL: Woran etwa? Lindemann: An die Sabbat- und Reinheitsgebote, an denen Jesus bei aller vorhandenen Kritik selbstverständlich festgehalten hat. SPIEGEL: Was von all dem, was in den Evangelien über die Auferstehung steht, ist Legende? Lindemann: Die Überlieferung vom leeren Grab und seinem Auffinden durch Frauen und Jünger, die unterschiedlichen Schilderungen der Begegnungen mit dem Auferstandenen und natürlich auch die Himmelfahrt. SPIEGEL: War das Grab denn leer? Lindemann: Das weiß ich nicht. Aber selbst wenn das Grab und Reste des Leichnams Jesu gefunden würden, würde dies meinen Glauben an die Auferweckung Jesu durch Gott nicht berühren. SPIEGEL: Was halten Sie denn von den Visionen, die Paulus im 1. Korintherbrief aufzählt: dass Christus „gesehen“ worden sei, zuerst von Petrus, dann von anderen und schließlich von Paulus selbst? Was wäre auf dem Film gewesen, wenn damals eine Kamera diese Visionen hätte aufnehmen können? Lindemann: Man würde auf dem Film die von Paulus erwähnten Menschen, vielleicht ihre Reaktionen, aber gewiss kein filmisch wahrnehmbares Gegenüber sehen. SPIEGEL: Reicht Ihnen als Basis für Ihren Glauben die Behauptung von Menschen, was sie erlebt haben? Ihr Glaube lebt vom Glauben dieser Urchristen? Lindemann: So ist es. SPIEGEL: Herr Professor Lindemann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.