Primärtherapie der Kopf-Hals-Tumoren

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Primärtherapie der Kopf-Hals-Tumoren
Der Onkologe
Organ der Deutschen Krebsgesellschaft e.V.
Elektronischer Sonderdruck für
A. Dietz
Ein Service von Springer Medizin
Onkologe 2014 · 20:144–151 · DOI 10.1007/s00761-013-2586-x
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
A. Dietz · M. Knödler · F. Lordick
Primärtherapie der Kopf-Hals-Tumoren
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www.DerOnkologe.de
Leitthema
Onkologe 2014 · 20:144–151
DOI 10.1007/s00761-013-2586-x
Online publiziert: 26. Januar 2014
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
A. Dietz1 · M. Knödler2 · F. Lordick2
1 Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Leipzig
2 Universitäres Krebszentrum Leipzig (UCCL)
Primärtherapie der
Kopf-Hals-Tumoren
Die Primärtherapie von Plattenepithelkarzinomen des Kopf-Hals-Bereichs unterliegt aktuell, getriggert
durch neue technische Entwicklungen der Resektion und die HPV16assoziierten neuen prognostischen
Daten beim Oropharynxkarzinom,
einer generellen Überprüfung und
Justierung. Der folgende Beitrag
stellt die grundsätzlichen aktuellen Überlegungen zur Primärtherapie von Kopf-Hals-Karzinomen (ausschließlich Plattenepithelkarzinome) dar.
Das Thema „primäre Therapieoptionen“
bei Kopf-Hals-Tumoren unterliegt seit
Jahrzehnten einer Auseinandersetzung
zwischen Kopf-Hals-Chirurgen, Strahlentherapeuten und neuerdings auch internistischen Onkologen. Neben naturgemäß divergierenden Grundphilosophien
dieser Fachgebiete konkurrieren teilweise dogmatisch konservierte Grundhaltungen bei dünner Studienlage miteinander,
sodass eine produktive Diskussion mangels ausreichender Evidenz mitunter belastet sein kann. Dieser Streit ist jedoch
auch positiv zu bewerten, da er letztlich
die Weiterentwicklung der einzelnen beteiligten Fächer, aber auch die zunehmende Interdisziplinarität in der Kopf-HalsOnkologie stimuliert. Durch die Etablierung von onkologischen Zentren und
dem zertifizierbaren Kopf-Hals-Modul
nach Kriterien der Deutschen Krebsgesellschaft werden die Behandler im Sinne
des nationalen Krebsplans und in Analogie zu den Entwicklungen in anderen onkologischen Organbereichen zur Durchführung von Studien und Verbesserung
bzw. Darstellung der wissenschaftlichen
144 | Der Onkologe 2 · 2014
Evidenz unserer täglichen Arbeit angehalten. Hierdurch wird zunehmend die
Qualität der Therapeuten abgefragt und
Ergebnistransparenz eingefordert. In der
Festlegung des Therapiekonzepts werden
Einzelmeinungen durch mehrköpfige interdisziplinäre Tumorboard-Entscheidungen verdrängt.
Dass noch sehr viel Entwicklungsarbeit zu leisten ist, ist unstrittig und
kommt in den Daten der EUROCARE4-Analysen zur Darstellung, die in ernüchternder Weise die Fünfjahresüberlebensraten von Kopf-Hals-Krebspatienten in Europa, Erstdiagnose in den Jahren
1995 bis 1999, beleuchten [1]. Hier ergibt
sich für alle berücksichtigten Kopf-HalsKrebspatienten (49.569 Fälle) ein relatives
Fünfjahresüberleben von nur 42%. Anders ausgedrückt zeigen die Zahlen, die
sich in den letzten 30 Jahren in der groben Betrachtung nicht verändert haben,
dass auch heute noch weit über die Hälfte der Patienten an Ihrer Erkrankung verstirbt (. Abb. 1).
In einem provokanten Kommentar zur
nachgewiesenen klinischen Effektivität
von Cetuximab in Kombination mit alleiniger Strahlentherapie bei Plattenepithelkarzinomen des Larynx, Oro- und Hypopharynx [2] ließ sich der U.S.-amerikanische Onkologe Marshall Posner im Jahre
2006 zu folgender Aussage hinreißen:
For advanced resectable tumors of the larynx, hypopharynx, and oropharynx, surgery has taken a back seat to organ-preserving strategies that retain speech and swallowing – chemoradiotherapy is now the
standard of care for such cases [3].
Problematisch an dieser These ist der
Ausruf eines „neuen Standards“ nach Vorlage einer einzigen Phase-III-Studie. Mittlerweile ist die initiale und etwas naive Euphorie einiger Onkologen angesichts der
Zulassung neuer biologisch zielgerichteter Medikamente einer ausgewogeneren Bewertung gewichen. Die notwendige Balance der Therapiesäulen „Chirurgie, Strahlentherapie und medikamentöse
Therapie“ wird nicht mehr infrage gestellt.
Vielmehr sollte hervorgehoben werden,
dass mit der Entwicklung neuer Substanzen und Bestrahlungstechniken neue
Stärken und Möglichkeiten der multimodalen Therapie bestehen, die nach Überzeugung der Autoren das Therapiespektrum der Kopf-Hals-Karzinome bereichern, aber definitiv nicht in der von Posner geforderten Radikalität auf den Kopf
stellen.
Prinzipielle
Therapieentscheidungswege
Die prinzipielle Einschätzung der Möglichkeit zur residualtumorfreien (R0)-Resektion steht bei der primären Therapieentscheidung im Vordergrund. Davon
hängt die Entscheidung zur primär chirurgischen Therapie ab, die bei bestehender R0-Resektabilität in der Regel die initiale Therapie der Wahl sein sollte. Auch
wenn die initiale operative Therapie im
Vordergrund steht (ca. bei 80% der Therapieentscheidungen), soll von Anfang an
ein Gesamtkonzept für die Primärtherapie feststehen. Hierbei fließen in Abhängigkeit der histopathologisch definierten Risikofaktoren Möglichkeiten der
post­operativ-adjuvanten Therapie und,
Relative Fünfjahresüberlebensraten (%), altersstandardisiert
0
20
40
60
80
100
Primär chirurgische
Therapieansätze
Dänemark
Finnland
Island
Norwegen
Schweden
Irland
England
Nordirland
Schottland
Wales
Österreich
Belgien
Frankreich
Deutschland
Niederlande
Schweiz
Italien
Malta
Portugal
Slowenien
Spanien
Tschechien
Polen
EUROPA
Abb. 1 8 Übersicht der EUROCARE-4-Daten zu Kopf-Hals-Tumoren: Fünfjahresüberleben Europa;
­Behandlungszeitraum 1995 bis 1999, 49.569 Fälle. (Adaptiert nach [1])
im Falle ablativer Chirurgie, alternative
nichtchirurgische Verfahren mit ein.
Die aktuell abzuwägende primäre Therapie unterzieht sich den nachfolgend zusammengefassten Leitsätzen:
FIm Falle einer gegebenen funktionellen Operabilität ist prinzipiell primär
chirurgischen Verfahren der Vorzug
einzuräumen.
FIn Risikosituationen ist eine postoperative adjuvante Bestrahlung bzw. Radiochemotherapie durchzuführen.
FDie platinbasierte simultane Radiochemotherapie als Primärtherapie
ist bei schwer zu operierenden, fortgeschrittenen Tumoren als Standard
etabliert. Im Falle einer Platinunver-
stritten und Gegenstand klinischer
Studien.
träglichkeit kann alternativ eine „Bioradiotherapie“ mit Cetuximab durchgeführt werden.
FIm Falle der Notwendigkeit einer ablativen Chirurgie (wie beispielsweise
Komplettentfernung des Kehlkopfs)
können alternative nichtchirurgische
Verfahren zur Anwendung kommen.
Hierbei konkurrieren derzeit Induktionschemotherapien, gefolgt von definitiver Strahlentherapie mit der simultanen platinbasierten Radiochemotherapie. Aufgrund erheblicher
Spättoxizitäten (Spätdysphagie) sind
organerhaltende Therapieansätze bei
operablen Kopf-Hals-Tumoren um-
Insbesondere im europäischen Raum gibt
es eine lange Tradition primär chirurgischer Therapieansätze mit guten funktionellen und akzeptablen onkologischen Ergebnissen, die sich am besten am Beispiel
der Einführung der Laryngektomie darstellen lässt. Als Billroth die erste Laryngektomie als Notoperation wegen eines
Karzinoms am 31.12.1873 durchführte,
ahnte er nicht, dass er den Grundstein für
eine Operation legte, die aus vielen Gründen bis heute ein etabliertes Verfahren
zur onkologisch und funktionell sicheren
Therapie des Larynx- und Hypopharynxkarzinoms darstellen würde, auch wenn
der Weg bis zur weltweiten Akzeptanz der
Laryngektomie als Behandlungsmethode
des fortgeschrittenen Larynxkarzinoms
insgesamt 96 Jahre dauerte. Albers führte die Operation erstmals 1829 bei einem
Hund durch. Weltweite Akzeptanz erreichte die Technik wahrscheinlich durch
Tapia, der 1923 in Paris 170 totale Laryngektomien mit einer 75%igen Dreijahresüberlebensrate und einer Letalität von 6%
präsentierte [4].
Davon ausgehend bleibt auch heute die Indikationsstellung für adjuvante oder die radikale Chirurgie ersetzende
Therapieformen in vielen Fällen trotz des
wachsenden Verständnisses der Tumorbiologie, der exakteren Bildgebung, der
diversifizierten Chirurgie und den verbesserten multimodalen Verfahren eine
hoch anspruchsvolle Entscheidung. Studien und Zentrumserfahrungen zeigen,
dass ein Fortschritt in der Behandlung –
bedingt durch zu hohe Toxizität, zu hohe
Rezidivraten oder unbefriedigende funktionelle Ergebnisse – nach wie vor durch
viele Rückschläge bedroht ist.
»
Gerade Spätfolgen der
Therapie sind derzeit zunehmend
Thema der Literatur
Gerade die Spätfolgen der Therapie finden derzeit zunehmend Niederschlag in
der Literatur, wodurch irreversible FunkDer Onkologe 2 · 2014 | 145
Zusammenfassung · Abstract
tionseinbußen nach Therapie in die Wahrnehmung geraten sind [5]. Die in Einzelstudien oft als gut tolerabel beschriebene multimodale Therapie hat in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommenen
[6]. Bei allen Fortschritten, die damit einhergehen, ist dennoch festzustellen, dass
die operationsbedingten Komplikationen
und Spätfolgen mittlerweile auch bei maximaler Radikalität als vergleichsweise
kalkulierbarer einzuordnen sind. Die zusätzlichen funktionellen Langzeitauswirkungen von Radio- und Radiochemotherapie hingegen erfordern weitere objektive und multizentrische Langzeitbetrachtungen.
„Resektabilität“ im Kontext
multimodaler Therapieoptionen
Prinzipiell werden im diagnostischen Set­
up die Stadieneinteilung und Resektabilität geprüft. Basierend darauf wird dann
ein abgewogenes Therapiekonzept erstellt. Trotz aller Fortschritte in der Genauigkeit der Bildgebung ist für die Einschätzung der Resektabilität die Expertise und Einschätzung des jeweiligen Operateurs maßgeblich und unterliegt somit
subjektiven Einflussfaktoren. Generell
ist die technisch mögliche Resektabilität
nicht mit sinnvoller Resektabilität gleichzusetzen, die sich nach funktionellen, lokoregionären tumorspezifischen (N-Status) Faktoren, vorhandenen Komorbiditäten und Präferenzen des Patienten selbst
richtet.
»
Zum Erreichen eines
kurativen Therapieziels muss eine
R0-Resektion angestrebt werden
Auf Basis einer stabilen Datenlage ist heute klar, dass zum Erreichen eines kurativen Therapieziels eine R0-Resektion angestrebt werden muss. Wird dies bei der
ersten Operation nicht erreicht, sollte
möglichst nachreseziert werden. In einer
aktuellen Arbeit von Kwok et al. [7] aus
Regensburg konnte an einem Kollektiv von 417 Patienten mit Mundhöhlen-,
Oro- und Hypopharynxkarzinomen gezeigt werden, dass eine mittels unmittelbarer Nachresektion erreichte sekundäre R0-Situation nach primärem R1-Sta-
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A. Dietz · M. Knödler · F. Lordick
Primärtherapie der Kopf-Hals-Tumoren
Zusammenfassung
Hintergrund. In dem Beitrag werden die
wesentlichen aktuellen Betrachtungen zur
Primärtherapie von Plattenepithelkarzinomen des Kopf-Hals-Bereichs dargestellt und
kommentiert. Der Leser soll weniger in die
operativen Details als in den konzeptuellen
Hintergrund aktuell propagierter Therapieempfehlungen eingeführt werden. Hierbei
werden die Grundzüge der chirurgischen und
postoperativen adjuvanten Therapie dargestellt. Schließlich wird die aktuelle Entwicklung und Zielrichtung neuer klinischer Studien diskutiert.
Ziel. Darstellung der aktuellen Diskussionspunkte in der Therapie von Kopf-Hals-Tumoren.
Material und Methode. Sichtung und Zusammenstellung der aktuellen Literatur aus
den Jahren 2011 bis 2013 mit Fokus auf Therapiekonzepte.
Ergebnisse. Die europaweite Fünfjahresüberlebensrate von Plattenepithelkarzinomen der Kopf-Hals-Region (HNSCC) liegt
derzeit bei 42%. Insbesondere in den letzten 3 Jahren haben sich verschiedenen Leitlinien durchgesetzt, die den Versuch bei eingeschränkter Evidenzlage einer Standardisierung von Therapiekonzepten anstreben.
Hierbei wird im europäischen Raum über-
wiegend festgestellt, dass bei funktionaler Operabilität primär chirurgischen Ansätzen der Vorzug gegeben werden sollte. Die
postoperative adjuvante Therapie unterliegt klaren Indikationslinien, die sich aus
Risikoeinschätz­ungen aufgrund der Beurteilung der Resektionsränder, der Halslymphknotenmetastasen und des extrakapsulären
Tumorwachstums dieser Metastasen definieren. Ablativ chirurgische Verfahren konkurrieren mit sog. Organerhaltungsprogrammen,
die sich derzeit im Stadium klinischer Studien
befinden und als Standard nicht empfohlen werden. Bei nicht sinnvoller Resektabilität wird weltweit unstrittig die platinbasierte
simultane Radiochemotherapie empfohlen.
Die aktuellen Bemühungen der weiteren Optimierung der Strahlentherapie beziehen sich
auf bessere Schonung von funktionell wichtigen Strukturen, um die bislang zu hohe Spättoxizität (überwiegend Spätdysphagie) ohne
Effektivitätseinbußen zu senken.
Schlüsselwörter
Radiochemotherapie · Adjuvante Therapie ·
Kopf-Hals-Tumoren ·  
Humanes Papillomavirus 16 ·  
Transorale Roboter-Chirurgie
Primary treatment of head and neck tumors
Abstract
Context. In this CME article, the current major considerations for the primary treatment
of squamous cell carcinoma of the head and
neck region are presented and discussed. The
reader will be introduced in less detail of surgical and oncological techniques than in the
operational conceptual background of currently recommended treatment concepts.
Therefore, the basic principles of surgical
and postoperative adjuvant therapy are presented. Finally, the current development and
needs for new clinical trials are addressed.
Objective. Presentation of the current discussion points in the treatment of head and
neck cancer.
Material and method. Review and summary of the current literature from the years
2011–2013 with focus on standards in therapeutic concepts.
Results. The Europe-wide 5-year survival
rate of squamous cell carcinoma of the head
and neck region (HNSCC) is currently 42%.
Especially in the last 3 years, various guidelines have been established based on limited evidence for standardization of therapeutic concepts in HNSCC. If functional operabili-
ty is possible, surgical approaches are primarily preferred. Postoperative adjuvant therapy
is standardized due to clear indications based
on defined risk situations. Indications are related to assessment of surgical margins, cervical lymph node metastases, and extracapsular tumor growth. Ablative surgical procedures are competitive with so-called organ
preservation programs which are currently addressed in clinical trials because many
open questions regarding late functional outcome are still under discussion. Furthermore,
if successful resectability is questionable,
platinum-based concurrent chemoradiotherapy is recommended as the world standard.
The current efforts to further optimize radiotherapy are related to better conservation of
functionally in order to reduce irreversible
late toxicity (mainly late dysphagia) without
sacrificing effectiveness.
Keywords
Chemoradiotherapy · Adjuvant treatment ·
Head and neck tumors ·  
Human papillomavirus 16 ·  
Transoral robotic surgery
HPV-Status und der Einfluss
auf die Primärtherapie
Abb. 2 9 Industrieausstellung AHNS Toronto 2012 (Da Vinci Telemanipulator, transorale Roboter-Chirurgie,
TORS)
tus keinen Nachteil für das Gesamtüberleben im Vergleich zu einem primär erzielten R0-Status ergibt.
Definitionsgemäß wird R1 klassifiziert,
wenn am Schnittrand Karzinominfiltrate
oder wandadhärente Tumorzellverbände in Lymph- oder Blutgefäßen nachgewiesen werden. Eine R0-Resektion liegt
vor, wenn am Schnittrand keine Tumorzellen zu sehen sind, ungeachtet des Abstands der Tumorzellen zum Resektionsrand. Unter Umständen können Tumorzellnester nur durch einzelne Bindegewebslamellen vom Resektionsrand getrennt sein, sodass der Abstand weniger
als 0,1 cm beträgt. Auch Tumorverbände ohne Wandadhäsion in Lymph- oder
Blutgefäßen am Resektionsrand werden
als R0 definiert [8]. Der adäquate Sicherheitsabstand bei Resektionen im Larynx/
Hypopharynx wird nach wie vor kontrovers diskutiert [9, 10, 11].
Für Hypopharynxkarzinome, supra­
glottische Karzinome und fortgeschrittene Glottiskarzinome wird ein Sicherheitsabstand von mindestens 0,5 cm gefordert,
um die makroskopisch nicht sichtbaren
submukösen Tumorausläufer zu entfernen [10]. Manche Autoren halten bei kleinen Glottiskarzinomen einen Sicherheitsabstand von weniger als 0,5 cm für ausreichend [12]. Unterschiedliche Studien
[5, 7] belegen eine geringere lokale Rezidivrate und ein längeres Überleben bei
einem Sicherheitsabstand von mehr als
0,5 cm. Patienten mit R0-Resektionen mit
einem Sicherheitsabstand von weniger als
0,5 cm hatten eine Prognose vergleichbar
mit der von Patienten mit R1-Resektionen [13]. Bei kompletter lokaler Tumorentfernung, aber belassenen Fernmetastasen, wird R2 klassifiziert. R1(is) beschreibt
eine hochgradige intraepitheliale Neoplasie (SIN 3; squamöse intraepitheliale Neoplasie Typ 3; alter Begriff: Carcinoma in
situ) am Resektionsrand. Auf Besonderheiten und Probleme der Anwendung der
R-Klassifikation wurde kürzlich hingewiesen [14].
Generell sollten nach Auffassung führender Pathologen heute die Resektionsränder mit einem Tumorabstand in mm
angeben werden. Hierbei gelten Resektionsränder <5 mm (R0<5 mm) als Intermediate-Risk-Situation und nehmen damit ebenso wie der N-Status Einfluss auf
das zu wählende adjuvante Konzept (Radio- bzw. Radiochemotherapie). Histologisch nachgewiesene Karzinominvasion
in Lymphgefäßen, Blutgefäßen oder Perineuralscheiden (L1, V1 und Pn1) sind
nicht mit dem Vorliegen von lymphogenen oder hämatogenen Metastasen
gleichzusetzen [15]. Die Rezidivrate ist
allerdings erhöht und die Überlebensrate vermindert. Umgekehrt können aber
Lymphknoten- oder Fernmetastasen vorliegen, ohne dass Tumorzellverbände innerhalb von Lymph- oder Blutgefäßen zu
erkennen sind. Auch diese Faktoren sind
essenzielle Wegweiser für ein postoperatives adjuvantes Konzept.
Das zurückliegende Jahr ist in der KopfHals-Onkologie von einer Reihe neuer
Studiendaten geprägt, die verdeutlichen,
dass die Weiterentwicklung von Konzepten wie die Induktionschemotherapie, der
Einsatz neuer Medikamente und die Suche nach molekularen Targets bei genauer Betrachtung erhebliche Widersprüche aufzeigt. Die Anzahl ungelöster Fragen, wie z. B. eine mögliche Therapiemodifikation für mit humanen Papillomviren (HPV) assoziierte Plattenepithelkarzinome, hat eher zugenommen. Das Plattenepithelkarzinom im Kopf-Hals-Bereich ist einer der heterogensten, aggressivsten und unberechenbarsten Tumoren,
die wir kennen. HPV16 scheint diese Entität zu diversifizieren. Insbesondere neuere Daten aus den USA bestätigen – im
Gegensatz zu europäischen Beobachtungen – diese Sichtweise eines genetisch und
molekularbiologisch eigenen HPV16-assoziierten Tumortyps.
Interessanterweise führt die HPV-getriggerte Unterscheidung zu Risikobetrachtungen, die auch aus strahlentherapeutischer Sicht die Option einer monomodalen chirurgischen transoralen Primärtherapie beim Oropharynxkarzinom
als probate Therapieform rehabilitieren. Die aktuell in den USA hoch gelobte
transorale Roboter-Chirurgie (TORS) mit
dem Da-Vinci-Telemanipulator hat eine
geradezu euphorische Diskussion zur minimal-invasiven Chirurgie von resekta­
blen Oropharynxkarzinomen ausgelöst.
Namenhafte Radioonkologen wie Harry Quon (Johns Hopkins, Baltimore) und
David Brizel (Duke University, Durham)
setzen sich aufgrund erheblicher Spättoxizität nach primärer platinbasierter Radiochemotherapie dafür ein, in Verbindung mit TORS schonendere adjuvante
Strahlentherapiekonzepte zu entwickeln.
Der im Juli 2012 in Toronto alle 4 Jahre stattfindende internationale Kongress
der American Head and Neck Society
(AHNS) stand unter dem fast erdrückenden Einfluss der neuen TORS und den
damit assoziierten neuen Konzeptüberlegungen (. Abb. 2).
Die beiden Schlüsselthemen HPV und
TORS dominieren also aktuell die interDer Onkologe 2 · 2014 | 147
Leitthema
P16-Färbung
1,0
0,9
Positiv
Anteil Überlebender
0,8
0,7
0,6
0,5
p<0,0001
0,4
Negativ
0,3
0,2
p16 –ve
0,1
p16 +ve
0,0
0
12
24
36
48
60
72
84
96 108 120 132 144
Monate bis zum Versterben (jede Ursache)
nationale Kopf-Hals-Diskussion. Für
HNO-Ärzte kommt dies nicht überraschend, da gerade in deren Erfahrung die
großen Vorzüge minimal-invasiver transoraler Therapieverfahren mit dem CO2Laser seit 2 Jahrzehnten bekannt sind
und die Nachteile einer unreflektiert pauschal propagierten primären Radiochemotherapie auch bei gut resektablen Tumoren kritisiert wurden. Die vermeintliche Überbewertung radiochemotherapeutischer Therapieansätze und damit die
Verdrängung chirurgischer Verfahren in
den USA scheint aktuell einen (aus Sicht
der Autoren) erfrischenden Paradigmenwechsel zu erfahren. Unter Förderung des
National Institute of Health (NIH) werden
aktuell Studien zur TORS, aber auch zur
transoralen Lasermikrochirurgie (TLM)
in die Wege geleitet, die den Stellenwert
dieser Chirurgie im Spiegel der HPV-Assoziation untersuchen sollen. Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, da
im Rahmen der Diskussion primäre chirurgische Konzepte unter Berücksichtigung der Lebensqualität und Spätfunktionalität insbesondere in den USA neu
bewertet werden.
Aus europäischer und v. a. deutscher
Sicht erscheint dieser Aspekt weniger beeindruckend, da primär radiochemotherapeutische Konzepte bei resektablen Tumoren hierzulande nie einen relevanten
Stellenwert in der klinischen Praxis erlangt haben. Die einzige Ausnahme stellen Organerhaltprogramme als Alterna-
148 | Der Onkologe 2 · 2014
Abb. 3 9 Überleben
nach primärer laserchirurgischer Resektion
eines Kollektivs von
204 Patienten mit Oropharynxkarzinom in
Abhängigkeit des p16Status. (Nach [15])
tive zur Laryngektomie dar, die auch in
Deutschland im Rahmen von Studien
untersucht werden. Eine Anwendung
außerhalb von Studien wird nicht empfohlen.
Auch die US-Euphorie gegenüber
TORS, deren erhebliche Kosten im deutschen DRG-System bei weitem nicht gedeckt sind, erscheint in dem TLM-geprägten Deutschland nur schwer verständlich und sollte daher differenziert eingeordnet werden. Dennoch, auch bei für
die Autoren gut nachvollziehbarer Skepsis gegenüber der TORS muss anerkannt
werden, dass man es mit einem signifikanten technischen Fortschritt zu tun
hat. Die hierdurch ausgelöste Diskussion
hat die HNO-Chirurgen insbesondere in
den USA wieder auf Augenhöhe mit den
kompetitiv aufgestellten und mit Studiendaten für die Überlegenheit kombinierter
Radiochemotherapie argumentierenden
Radioonkologen gebracht.
Welche Therapie die beste für HPV16assoziierte Oropharynxkarzinome ist,
kann derzeit nicht festgelegt werden, v. a.
nicht unter Verweis auf die p16-abhängigen besseren Überlebensdaten nach Radiochemotherapie in der RTOG-0129Studie. Haughey et al. [15] publizierten aktuell eine retrospektive Analyse an
204 Patienten (3 Zentren) mit StadiumIII- und Stadium-IV-Oropharynxarzinomen, die konsequent primär transoral
CO2-Laser-reseziert wurden (TLM). In
dieser Betrachtung, die im Übrigen die
einzige weltweit multizentrische Analyse von TLM-Daten an Oropharynxkarzinomen ist, konnte – vergleichbar mit der
RTOG-0129-Studie – auch für ein primär
chirurgisches Vorgehen ein hoch signifikanter Überlebensvorteil der p16-positiven Patienten gesehen werden. Daher darf
man wahrscheinlich davon ausgehen, dass
HPV-assoziierte lokalisierte Kopf-HalsPlattenepithelkarzinome eine insgesamt
bessere Prognose aufweisen, unabhängig vom angewendeten Therapieverfahren (. Abb. 3).
Neck-Dissection und
Stellenwert der extrakapsulären
Tumorausbreitung für die
adjuvante Therapie
Die primäre chirurgische Therapie
schließt die Resektion des Primärtumors,
ggf. plastische Rekonstruktion des resultierenden Gewebedefekts und die einoder beidseitige radikale Resektion zervikaler Lymphknoten (Neck-Dissection)
ein. Moderne Sichtweisen empfehlen bei
fraglichem Lymphknotenbefall zunehmend Konzepte der selektiven, also limitierten Neck-Dissection. Die Neck-Dissection hat kurativen Charakter und dient
gleichzeitig der Evaluation der genauen
Tumorausdehnung und einer möglichen
extrakapsulären Tumorausbreitung („extracapsulary spread“, ECS) im Falle lokoregionärer Lymphknotenmetastasen.
Wird ein ECS nachgewiesen, dient dies
nach aktueller Studienlage als gesicherte Indikation für eine postoperative kombinierte Radiochemotherapie, der Maximalvariante einer adjuvanten Therapie.
Da dem Kriterium eine wegweisende Bedeutung für die Therapiesteuerung zukommt, stellt sich die Frage der Testvalidität.
Van den Brekel et al. aus Amsterdam
haben einer Gruppe von 10 Pathologen
unabhängig voneinander 41 tumorpositive Halslymphknoten zur Beurteilung vorgelegt. Die Übereinstimmung der Befunde war sehr schlecht (κ-Wert 0,14–0,75),
sodass man einigermaßen entsetzt sein
muss, auf welchem „wackeligen Boden“
man aktuell die Entscheidung über eine
im Vergleich zu alleiniger Radiotherapie erheblich toxischer wirkende additive
Chemotherapie stellt. Die Diagnostik des
Tab. 1 Haupt- und Nebenrisikofaktoren
zur Entscheidung für eine alleinige postoperative Radiatio oder eine postoperative
Radiochemotherapie
Nebenrisikofaktoren
(„Kann-Entscheidung“)
T3- oder T4-Tumor
N2- oder N3-Status
Lymphknotenmetastasen in Level IV oder V
Knappe Resektion
(<5 mm)
Perineurale Invasion
(Pn1)
Mikroskopische Veneninvasion (V1)
Hauptrisikofaktoren (Level-IEvidenz)
Inkomplette Resektion (R1/R2)
Extrakapsuläres
Wachstum
therapeutisch hoch relevanten ECS muss
daher international spezifiziert und klaren diagnostischen Kriterien unterzogen
werden [16].
In einer bemerkenswerten Studie der
Gruppe von Sinha et al. [17] konnte anhand eines Kollektivs von 210 Patienten
mit p16-positiven Oropharynxkarzinomen (TLM-operiert) dargestellt werden,
dass auch bei vorliegendem ECS kein
Unterschied des krankheitsassoziierten Überlebens im Vergleich zu adjuvanter alleiniger Bestrahlung und simultaner
Radiochemotherapie gesehen wurde. Da
kein Vorteil verzeichnet wurde, empfehlen die Autoren die Deeskalation der adjuvanten Therapie mit bewusstem Weglassen der Chemotherapie. Dieser Ansatz bedarf allerdings der prospektiven Überprüfung in einer kontrollierten Studie, die aktuell in den USA angelaufen ist (ADEPTStudie).
Postoperative, adjuvante
Therapie im Spiegel neuer
transoraler Resektionsverfahren
Die Hinwendung zur TORS in den USA
veranlasste Quon et al. aufgrund der teilweise neuen, organerhaltenden chirurgischen Therapieoption zu umfangreichen
Überlegungen im Themenfeld adjuvanter
Therapiestrategien [18]. Herausgearbeitet wurden anhand umfangreicher Studiendaten die Mindestbestrahlungsdosen des Tumorbetts nach primärer Resektion in Abhängigkeit von bestimm-
ten Risikofaktoren. Als PORT-Mindestdosis wurden bislang für das Tumorbett
57,6 Gy in täglichen Einzelfraktionen von
1,8 Gy festgelegt (die allgemein erachtete
Spätfibroseschwelle liegt bei ca. 54 Gy).
Bei lymphovaskulärer Invasion werden
60 Gy angeraten. Im Falle von R1 oder
R0<5 mm und/oder ECS werden 63 Gy
(boost) plus Cisplatin empfohlen (die Effektivität höherer Dosen konnte nicht gezeigt werden). Einschränkend sollte das
Alter berücksichtigt werden, da bei Patienten >70 Jahre die Wirkung einer additiven Chemotherapie deutlich nachlässt.
Weiterhin gilt als Standard die elektive Bestrahlung von Risikostrukturen für lokoregionäre Rezidive wie kontralaterale zervikale Lymphknoten und ipsi- wie kontralaterale retropharyngeale Lymphknoten mit 50–54 Gy.
Quon argumentiert, dass die Piecemeal-Resektionen (intraoperatives Zerteilen des Tumos) bei TLM viele Zweifel
über die Resektionsgrenzen offen lassen
und damit die PORT-Planung schwierig
sei. Im Gegensatz dazu würde die TORSen-bloc-Resektion erheblich klarere pathologische Resektionsgrenzen zulassen
und damit vorhersehbarere prognostische
Einschätzungen zulassen. Aus Studien ist
allerdings bekannt, dass das lokale Rezidivrisiko bei T1–2-Oropharynxkarzinomen nach TLM oder TORS <10% ist, wobei der R0-TORS-en-bloc-Resektion eher
zu glauben ist als der R0-TLM-Resektion
in Piecemeal-Technik. Bei diesen Tumorgrößen sowie exophytisch wachsenden
T3-Tumoren sollte sogar auf eine PORT
verzichtet werden. Neu ist die Sichtweise, das ehemalige Tumorbett bei sauberen
Verhältnissen (R0>5 mm; PennsylvaniaUniversity lässt 2 mm zu) in die Bestrahlung nicht mehr einzubeziehen.
»
In der cN1-Situation
wird eine selektive
Neck-Dissection empfohlen
Durch die intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT) ist eine klarere Konturierung mit Schonung der Glandula parotis und der Konstriktoren möglich, ohne Kompromisse bei den Halslymphknoten und retropharyngealen Knoten eingehen zu müssen. In der cN1-Situation wird
eine selektive Neck-Dissection empfohlen, da nach Erfahrungen der Penssylvania-University in 29% ein pathologisches
„upstaging“ stattfindet (pN2, ECS etc.),
was dann bei fehlender PORT-Indikation
im Bereich des Primärtumors zu einer
PORT- bzw. PORCT-Indikation führen
kann. Quon et al. empfehlen, die NeckDissection 14 Tage nach TORS durchzuführen, um die bis dahin vorliegenden pathologischen Befunde der Primärtumorresektion in die zweizeitige Neck-Dissection einfließen zu lassen [18]. Eine NeckDissection in der N2- bzw. N3-Situation
ist unstrittig; auch für den N0-Hals wird
bei Oropharynxkarzinomen die selektive
Neck-Dissection empfohlen.
Die T3- und T4-Situation bleibt aktuell in der Diskussion unberücksichtigt,
da hier einerseits eine PORT als Standard
empfohlen wird und andererseits diese
Tumorgröße für TORS ausreichend validiert und auch noch nicht von der FDA
zugelassen ist. Die aktuelle Datenlage
unterstützt das von Quon et al. vorgestellte „customized“ PORT-Konzept und lässt
sich wahrscheinlich auch auf die bei uns
etablierte TLM übertragen. Umfangreichere Studienergebnisse zu diesem Thema stehen jedoch bislang noch aus. Aktuell ist nach den Daten aller vorliegenden kontrollierten klinischen Studien
eine PORCT nur dann indiziert, wenn
eine R1-Situation oder ein ECS vorliegen.
Liegt eine R0-Situation mit Tumorgrenzen <5 mm vor, wäre eine Nachresektion
anzustreben. Gelingt dies nicht, besteht
auch in diesem Fall Konsens, eine PORCT
durchzuführen („intermediate risk“). Alle weiteren Indikationen (n2c etc.) sind im
Einzelfall zu prüfen, da die Evidenz niedriger ist.
Algorithmus für die Praxis
Die gesicherte Indikation zur postoperativen, adjuvanten alleinigen Radiatio besteht bei einem Nebenrisikofaktor. Die Indikation zur postoperativen Radiochemotherapie bei mindestens zwei Nebenrisikofaktoren (nicht in prospektiven Studien
gesichert) oder einem Hauptrisikofaktor
(Level-I-Evidenz; . Tab. 1).
Der Onkologe 2 · 2014 | 149
Leitthema
1,0
Vollständige Resektion,
Ränder negativ
Gesamtüberleben
0,8
0,6
Vollständige Resektion,
Ränder positiv
0,4
0,2
Keine Operation
Subtotale
Resektion
0,0
0
10
20
30
40
Erstes Rezidiv (Monate)
Salvage-Chirurgie im Rahmen
primärer radiochemotherapeutischer Konzepte
Bei lokaler Irresektabilität gilt heute die simultane platinbasierte Radiochemotherapie als Therapie der ersten Wahl. Ist der
Tumor resektabel, spielt zunehmend die
Begrifflichkeit der organerhaltenden und
ablativen Resektion eine Rolle. Alternativ können dann selbst bei gegebener Resektabilität nichtchirurgische Konzepte zur Anwendung kommen. Diese Verfahren kommen sowohl bei Frühstadien
der Glottis (reine Bestrahlung) als auch
bei fortgeschritteneren Stadien des Larynx, Hypo- und Oropharynx als Alternative zur ablativen Resektion (z. B. Laryngektomie) zur Anwendung (Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie). Letztere Therapieansätze befinden
sich derzeit in der Entwicklung und sollten außerhalb von Studien aufgrund vieler offener Fragen und der derzeit schwer
einschätzbaren Spättoxizität nur in Ausnahmefällen Anwendung finden. Es ist
beispielsweise heute nicht sicher einzuordnen, ob bei einem resektablen fortgeschrittenen Larynxkarzinom eine Induktionschemotherapie mit nachgeschalteter
Strahlentherapie oder eine simultane platinbasierte Radiochemotherapie durchgeführt werden sollte. Aufgrund der Spättoxizität der simultanen Radiochemotherapie mit erheblichen Dysphagieraten
wird hierzu im Kontext des funktionellen
Organerhalts (trotz voreilig gefasster anderslautender Empfehlungen der Ameri-
150 | Der Onkologe 2 · 2014
50
60
Abb. 4 9 Überlebenskurven in Abhängigkeit des Salvage-Resektionsstatus. (Adaptiert nach [19])
can Society of Clinical Oncology) eher abgeraten.
»
Der Salvage-Chirurgie
kommt mittlerweile eine
erhebliche Bedeutung zu
Bei Residuen bzw. Rezidiven nach radiotherapeutischen Therapieverfahren
ist prinzipiell die Möglichkeit der Salvage-Resektion zu prüfen. Durch den international steigenden Anteil primärer Radio- bzw. Radiochemotherapien kommt
der Salvage-Chirurgie mittlerweile eine
erhebliche Bedeutung zu. Generell wird
empfohlen, mit dem Restaging nach primärer Radiochemotherapie bis 2 Monate
nach Therapieabschluss zu warten, da in
dieser Zeit von einer relevanten Abnahme der Tumorgröße auszugehen ist. Die
strahleninduzierte Spättoxizität (Fibrose)
setzt ab dem 3. Monat nach Therapieende
ein und findet die volle Ausprägung nach
ca. 12 Monaten. Ist die volle Spättoxizität
erreicht, gestaltet sich die Salvage-Chirurgie sehr schwierig, da mit signifikant stärkeren Wundheilungsstörungen zu rechnen ist. Als Zeitfenster für eine SalvageChirurgie mit kalkulierbaren Risiken gelten 1 bis 4 Monate nach Abschluss der Primärtherapie.
Generell stellt ein Rezidiv per se einen
negativen Prognosemarker dar. In Übereinstimmung mit einigen historischen
Arbeiten bestimmen bei gegebener Resektabilität die T- und N-Kategorie sowie
der R-Status die Prognose nach Salvage-
Chirurgie. In einer Analyse von 264 Patienten aus Boston, USA, (Oropharynxkarzinome, 89,8% Stadien III und IV)
nach primärer Radiatio bzw. Radiochemotherapie erlitten 77 Patienten Rezidive, von denen 37 einer Salvage-Resektion
zugeführt wurden. Bei 36,4% der Rezidive traten Fernmetastasen (überwiegend
Lunge) auf. 22,6% erlitten regionale Metastasen, 51,9% lokale Rezidive. Von den
37 geplanten Salvage-Kandidaten schieden schließlich weitere 5 Patienten wegen Nichtresektabilität aus und weitere 3
verweigerten die Chirurgie. Als „major
complications“ in Folge der Salvage-Chirurgie traten in einem Fall perioperativer
Tod und in zwei Fällen Herzinfarkt und
eine Fazialisparese auf. R1- bzw. R2-Situationen ergaben sich durch Infiltrationen
von prävertebraler Faszie, A. carotis, Pharynx, Larynx und angrenzendem Weichgewebe. In 10 Fällen wurde eine perineurale Invasion beobachtet. Die Resektionen
waren überwiegend ablativ und die Rekonstruktionen wurden mittels M.-pectoralis-major-Schwenklappen bzw. freien
Muskellappen (Unterarm, M. vastus lateralis) durchgeführt [19]. In . Abb. 4 sind
die Überlebenskurven in Abhängigkeit
des Salvage-Resektionsstatus aus der o. g.
Studie gezeigt.
Zukunft – „The head and
neck surgical oncologist“
We show pictures, they show curves.
Mit diesem Titel brachte John A. Ridge,
Kopf-Hals-Chirurg, Fox Cancer Center
Philadelphia, USA, in seinem bemerkenswerten Referat auf dem Jahrestreffen der
„American Head and Neck Society“ 2010
die aktuellen philosophischen Unterschiede der Disziplinen im Spiegel der jüngsten großen Studien auf den Punkt [20].
Er beklagt, dass Kaplan-Meier-Kurven
aus vermeintlich repräsentativen Studien
in der Betrachtung des individuellen Patienten oft nicht hilfreich sind, aber aufgrund neuer nichtchirurgischer Ansätze
gegenüber der „altmodischen“, zu wenig
in Studien untersuchten und dargestellten Chirurgie Überlegenheit suggerieren
könnten. Ridge spricht sich dafür aus, dass
die Kopf-Hals-Chirurgie aufgefordert ist,
durch moderne und kreative Studienan-
sätze ihre guten Ergebnisse multizentrisch zu dokumentieren und sich aktiv in
die internationale Diskussion zu involvieren. Er schließt seine Ausführungen folgendermaßen:
This is the only way that the future „multidisciplinary team“ will have not merely
­head and neck surgeons, but rather head
and neck surgical oncologists as members;
that is what I hope the guidelines come to
reflect in years to come.
Fazit für die Praxis
FDie Primärtherapie von Plattenepithelkarzinomen des Kopf-Hals-Bereichs unterliegt aktuell, getriggert
durch neue technische Entwicklungen der Resektion und die HPV16assoziierten neuen prognostischen
Daten beim Oropharynxkarzinom,
einer generellen Überprüfung und
Justierung.
FAspekte der Spätfunktionalität nach
Primärtherapie werden heute gleichbedeutend mit reinen Überlebenszahlen bewertet und haben damit
neue strategische Vorzeichen gesetzt.
FDie aktuellen Konzepte propagieren
vor diesem Hintergrund wieder vermehrt primäre chirurgische Konzepte,
gefolgt von streng abgewogenen und
in Weiterentwicklung befindlichen
adjuvanten Therapieansätzen.
FInsbesondere im Bereich der adjuvanten Therapie lohnt es sich, jeden einzelnen Fall genau zu prüfen und im
interdisziplinären Tumorboard unter
Berücksichtigung zu erwartender
Spättoxizitäten an der individuellen
Indikationsstellung zu feilen.
FLediglich bei nicht zu erwartender R0Resektablilität ist die primäre platinbasierte simultane Radiochemotherapie als unumstrittener Standard indiziert.
FIm Falle eines nichtchirurgischen
Funktionserhalts (früher Organerhalts) bei resektablen lokal fortgeschrittenen Tumoren wurden Induktionschemotherapiekonzepte eingeführt, die allerdings als Standard noch
nicht außerhalb von Studien empfohlen werden können.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. A. Dietz
Klinik und Poliklinik für Hals-,
Nasen-, Ohrenheilkunde,  
Universitätsklinikum Leipzig
Liebigstraße 10–14,
04103 Leipzig
andreas.dietz@medizin.unileipzig.de
Einhaltung der ethischen
Richtlinien
Interessenkonflikt. A. Dietz gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.  
 
Der Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder
Tieren.
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