Einleitung Band 31 von polylog

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Einleitung Band 31 von polylog
SONDERDRUCK
HEIDEGGER
INTERKULTURELL?
7
Choong-Su HAN (한충수, 韓忠洙)
Heideggers Denken und sein Ort
»Orte des Denkens« bzw. »Ort des Denkens«
15
Takashi Ikeda
Das Zuhause als übersehener Ort des Denkens:
Eine feministisch-phänomenologische Perspektive
23
Giuseppe Menditto
Nishidas bashō im Gespräch mit dem griechischen
und phänomenologischen Denken
33
Tsutomu Ben Yagi
»Exiled in the Mother Tongue«
Gadamers Beitrag zur Frage nach Heimat und Fremde
forum
43
Leonhard Praeg
Postkarten aus der Postkolonie
63
Heinz Kimmerle
Eine dritte Tradition afrikanischer Philosophie:
afro-karibisch neben afrikanisch und afrikanischamerikanisch
73
Monika Kirloskar-Steinbach
Zwei Perspektiven indischen Philosophierens
Ein Rezensionsessay
81
Rezensionen & Tipps
124
IMPRESSUM
125
polylog bestellen
anke graness & martin ross
Einleitung
Heidegger interkulturell?
polylog 31
Seite 2
Eine Ausgabe des Polylog, die sich der Philosophie Martin Heideggers widmet, bedarf einer Erklärung. Einerseits deswegen, weil das
Denken dieses Philosophen nicht nur enorm
einflussreich, sondern aus sattsam bekannten
Gründen auch höchst umstritten ist. Andererseits, weil prima vista nicht sofort ein Bezug
zu all jenen Themen erkennbar ist, die unsere Zeitschrift seit nunmehr über 15 Jahren
beschäftigen. Nicht zuletzt gibt es dann auch
Beweggründe, die aus unserer alltäglichen
Redaktionsarbeit entstehen können und die
plötzlich Themen eröffnen, an welche die Redaktion nicht gedacht hätte. Der vorliegende
Band 31 unserer Zeitschrift ist auf diese Weise
entstanden.
Ende September 2013 fand am Institut für
Philosophie der Universität Wien eine internationale Tagung statt: »Ort/e des Denkens. Zum
Anspruch inter›kultureller‹ Philosophie«1. Veran1http://ortedesdenkens.univie.ac.at
stalter dieser (Graduierten-)Tagung waren
Murat Ates, James Garrison, Georg Stenger
und Franz Martin Wimmer. Im Call For Papers der Tagung wurden u. a. folgende Fragen
vorgegeben: »Mit Hilfe welcher theoretischen
Ansätze können wir die scheinbare Selbstverständlichkeit eines ortsgebundenen Denkens
verständlich machen? Wie können wir die
Orte fassen, die das Denken voraussetzt –
oder bestimmen gar die Orte zuallererst das
Denken? Kann man überhaupt von ›reinen‹, in
sich abgeschlossenen Orten sprechen? Kann es
auf der anderen Seite ein Denken geben, das
nicht an einen Ort gebunden ist? Wäre ein
›universales‹ Denken möglich, das zwischen
und über den Orten bzw. das stets von woanWir bedanken uns herzlich bei Murat Ates und
James Garrison und den Autoren, die Beiträge hier
veröffentlichen zu können. Jeder Aufsatz ist eine
überarbeitete Fassung des auf der Tagung gehaltenen Vortrags.
Einleitung
ders her denkt? Verändert oder verlagert eine
Pluralität der Orte das offenkundige Spannungsgemenge zwischen Denken und Ort?«
Ziel der Tagung war, das Denken, das an und
in solchen Orten stattfindet, nicht nur explizit zu machen, sondern auch zu vernetzen und
miteinander ins Gespräch, in einen Polylog zu
bringen.
Auffallend war, dass sich etwas mehr als
ein Drittel der Vorträge der jungen Philosophinnen und Philosophen mit dem Denken
Martin Heideggers bzw. mit Phänomenologie und Hermeneutik beschäftigt hat. Dies
war umso erstaunlicher, als es vor allem die
internationalen, also nichtdeutschsprachigen
Vortragenden waren, die ihre Beschäftigung
mit Heidegger präsentierten. Erstaunlich ist
dieser Umstand, weil es ja Heidegger war, der
sagte, die Rede von europäischer Philosophie
sei eine Tautologie, weil Philosophie ihrem
Wesen nach griechisch sei (hier Fußnote) –
und damit die Antithese jedes interkulturellen
Philosophierens formulierte.2 Heidegger als
Anregung für heutige Auseinandersetzungen
zu einem interkulturellen Philosophieren –
wie soll das gehen, haben wir uns gefragt und
auf die Suche begeben nach dem, was Heide2 »Die oft gehörte Redeweise von der ›abendländisch-europäischen Philosophie‹ ist in Wahrheit eine
Tautologie. Warum? Weil die ›Philosophie‹ in ihrem
Wesen griechisch ist –, griechisch heißt hier: die
Philosophie ist im Ursprung ihres Wesens von der
Art, daß sie zuerst das Griechentum, und nur dieses, in Anspruch genommen hat, um sich zu entfalten.« Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie?
Pfullingen 1981, S. 7.
gger heute noch so anregend macht für ein interkulturelles Philosophieren.
Der Zufall wollte es, dass Polylog zur gleichen Zeit erfahren hatte, dass das eigentlich
für Band 31 vorgesehene Thema »Andalusien«
verschoben werden musste. Daher hieß es,
kurzfristig zu handeln und ein neues Thema
zu finden, damit Polylog 31 erscheinen kann.
So kam es, wie es kam: In einem Pausengespräch auf der Tagung wurde spontan die
Idee geboren, der skizzierten Tendenz, Martin Heideggers Denken interkulturell zu erschließen, Raum zu geben. Besonders wichtig
ist uns dabei das Fragezeichen im Titel dieser
Ausgabe. Für Polylog ist es noch nicht ausgemacht, dass Heideggers Denken unter den
Vorzeichen interkulturellen Philosophierens
fruchtbar gemacht werden kann. Denn auch
wenn Heidegger sich explizit mit asiatischer
(insbesondere japanischer) Philosophie auseinandergesetzt und schon aus diesem Grund
eine vielfältige Rezeption durch japanische
Philosophen erfahren hat, ist doch die Frage
zu stellen, inwiefern diese Auseinandersetzung eigentlich sein Denken beeinflusst hat
oder ob diese Auseinandersetzung eine Einbahnstraße war?
Die Diskussion um seine inzwischen veröffentlichten »Schwarzen Hefte«, die – auch so
ein Zufall – ein paar Wochen später eingesetzt
hat und immer noch andauert, befeuert diesen
Zweifel (s.u., Rezensionen). Zugleich ist uns
aber auch das bewusst, was Georg Stenger im
Eröffnungsvortrag zur Tagung pointiert formuliert hat: »Man denkt sich unwillkürlich:
›Heidegger … da war doch was?‹ – Aber wir
»Der Zuspruch über das
Wesen einer Sache kommt
zu uns aus der Sprache,
vorausgesetzt, das wir deren
eigenes Wesen achten.«
Martin Heidegger:
Bauen Wohnen Denken, in
ders: Vorträge und Aufsätze,
Pfullingen 1954, S. 140
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Seite 3
anke graness & martin ross
»Die Sprache ist das Haus des
Seins. In ihrer Behausung wohnt
der Mensch. Die Denkenden und
Dichtenden sind die Wächter
dieser Behausung.«
Martin Heidegger,
Brief über den Humanismus,
GA 9 [Wegmarken],
Frankfurt am Main 1976, S. 313
polylog 31
Seite 4
dürfen nicht vergessen: Der Mann hat auch
gedacht!«
Um ebendieses Denken kreisen die Beiträge, die in diesem Band erscheinen. Allen
Aufsätzen ist gemeinsam, dass sie Heideggers
Denken nicht gleichsam systemimmanent und
heideggerisch weiterdenken wollen, sondern
dass sie einzelne Überlegungen wie in einem
Steinbruch herausbrechen, um sich von ihnen
zu eigenen Überlegungen anregen zu lassen.
Der Beitrag von Choong-Su Han reflektiert
den Titel der Tagung und beginnt mit einer
Reflexion des Bedeutungsunterschiedes von
»Ort« und »Orte«; dieser sei in der koreanischen Sprachtradition nicht vorhanden. Ins
Koreanische übersetzt würde die Einzahl wie
die Mehrzahl sein. Und auch der Bedeutung
des Präfix »inter-« widmet Han eine kurze
etymologische Reflexion, um dann beim Zwischenergebnis zu landen, dass interkulturelle
Philosophie dadurch entstehe, dass eine philosophische Kultur andere philosophische Kulturen in ihr eigenes Denken miteinbeziehe;
wodurch eine interkulturelle philosophische
Perspektive zustandekäme. Dies führt er am
Beispiel von Martin Heideggers Auseinandersetzung mit dem Spruch XI des Daodejing vor.
Wenn Dao der Weg ist – was auch Heidegger
wichtig ist zu betonen –, dann gilt es, die Kluft
des »inter« zu überbrücken, um einen Ort zu
finden. Insoferne dieser Weg bei Heidegger
als Geschehen begriffen wird, existieren für
Han Gemeinsamkeiten mit der aus dem Daoismus stammenden koreanischen Kultur. Er
beschreibt die Relevanz und Inspiration, die
er von Heideggers Texten bekommt, mit der
speziellen Atmosphäre, die von ihnen ausgeht.
Dabei reflektiert Han einige Überlegungen
Heideggers zum Phänomen des »Dings« und
konstatiert eine gewisse Nostalgie, die von
Dingen ausgeht, eine Nostalgie, die er aus
der koreanischen Kultur kennt. Das eröffnet
einen Reflexionsraum, der Anstoß gibt, darüber nachzudenken, auf welche Weise die
Atmosphäre und Denkfigur des Nostalgischen
auch in anderen Kulturen präsent ist.
Takashi Ikeda skizziert ausgehend von
der im Feminismus wichtigen Unterscheidung
zwischen »öffentlich« und »privat« den Ort
des »Zuhause«. Ausgehend von Heideggers
Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« versucht
Ikeda, das Zuhause positiv zu fassen, indem
er den Wohnort als eigentlichen Ort des Handelns und Denkens ansieht. So entwickelt er
die Idee des Zuhauseseins als Bedingung für
die Bildung menschlicher Identität und für
den Entwurf des eigenen Selbst. Insofern sei
es keine bloße private Angelegenheit, ob sich
ein Mensch an einem Ort befinde, an welchem er oder sie zu Hause sein kann. Ikeda
kehrt das Verständnis von »Zuhause« um:
Losgelöst von der kapitalistischen Ideologie
werden Wohnen, Zuhause, ja auch Heimat als
menschliche Tätigkeit begriffen, in der sich
das autonome Subjekt verwirklicht. Er knüpft
dabei an Überlegungen von Iris Marion Young
an, die versucht, Heideggers »Bauen Wohnen
Denken« weiterzuentwickeln: Das Zuhause
als Ort der Dinge, die zu meinem Leben gehören und ein Stück weit meine Bedürfnisse aus-
Einleitung
drücken. Meine Identität materialisiert sich
auf gewisse Weise, wie Ikeda schreibt. Dies
führt dann dazu, dass man seine persönliche
Geschichte erzählt: Es entsteht ein Narrativ
über eine Person (oder auch eine Gruppe).
Auch der Beitrag von Giuseppe Menditto reflektiert die Orts-Thematik, bezieht sich
dabei aber nur indirekt auf Martin Heidegger.
Allerdings zieht der Autor aus der phänomenologischen Tradition Merleau-Ponty und
Derrida heran. Menditto geht von einer bei
Nishida getroffenen Dreiteilung aus: Ort des
Seins, Ort der relativen Nichtigkeit und das
absolute Nichts. Diese setzt er in Verbindung
mit dem Konzept des Fleisches (»chair«) bei
Merleau-Ponty, das sozusagen den Ort des
Subjekts markiert, und mit der von Derrida
gelesenen platonischen »chōra«, die u.a. als
»Raum« ausgelegt wird. »Bashō, chōra und
chair gehören alle zu einer Räumlichkeit, die
nicht als res extensa oder im Sinne Kants mit
unserem Anschauungsvermögen zu verwechseln sind«, schreibt Menditto, der in der anschließenden Erklärung von Nishidas »Bashō«
herausarbeitet, inwieweit er auf platonische
Begriffe zurückgreift. Dies tun auch Derrida
und Merleau-Ponty, wie Menditto darlegt,
wobei er hervorhebt, dass die Begriffe, die
beide verwenden, schwer übersetzbar sind. So
zeigt sich, dass es einem Phänomen wie dem
Ort inhärent zu sein scheint, dass es – einmal nicht als physikalischer Raum verstanden
– eher dunkle Begriffe sind, die es angemessen beschreiben können. Eine philosophische
Reflexion des Ortes, so wie sie Menditto vorführt, wird also letztlich ihre eigene Sprach-
lichkeit reflektieren müssen – intra- und interkulturell.
Die Sprache befindet sich im Zentrum des
Beitrags von Tsutomu Ben Yagi, und zwar
auf welche Weise sie zum Phänomen des Ortes steht. Er bezieht sich dabei auf entsprechende Überlegungen Gadamers in »Wahrheit
und Methode«. Ausgangspunkt bildet allerdings der berühmte Satz Martin Heideggers
aus dem Humanismusbrief, dass die Sprache
das Haus des Seins sei. »Wenn unser Denken über das Sein nur mit Hilfe von Sprache
möglich ist, dann zeigt Sprache den Standort
an, an welchem wir in Beziehung zum Sein
gebracht werden«, so Yagi. Sprache zeigt Heimat an. An dieser Stelle kommt Gadamer ins
Spiel, der diese rein seinsbezogene Redeweise
von Sprache, die Heidegger pflegt, kritisiert
und erweitert: Es gehe nicht um eine Sprache der Metaphysik, sondern um lebendige
Sprache. Die lebendige Sprache als solche ist
immer die jeweilige Muttersprache, weil sie
nämlich nie als fremde Sprache gelernt wird.
Leben ist Einkehr in die Sprache, diesem
Gadamer-Wort stimmt Yagi zu, differenziert
es aber weiter aus, indem er das Moment
der Rückkehr ins Spiel bringt. Gadamer, der
den Begriff Schellings »das Unvordenkliche« verwendet, bezieht das auf die Heimat.
Wenn Heimat nun »eingeholt werden soll und
doch uneinholbar ist, kehren wir zur Heimat
zurück, ohne wirklich in der Lage zu sein
zurückzukehren« (Yagi).
Im Forum der vorliegenden Ausgabe veröffentlichen wir einen Aufsatz von Leonhard
Praeg, einem Philosophen aus Südafrika,
»Das Wohnen aber ist der
Grundzug des Seins …«
Martin Heidegger:
Bauen Wohnen Denken,
in ders: Vorträge und Aufsätze,
Pfullingen 1954, S. 155
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Einleitung
der unserem Verständnis des Philosophierens
sehr nahe kommt. Es handelt sich um nie abgeschickte Briefe an Valentin Yves Mudimbe,
einem durch sein Buch The Invention of Africa
(1988) und seit seiner Mitarbeit am Gulbenkian-Report international bekannten kongolesischen Philosophen (seit 1979 in den USA
lebend), die auf literarisch-philosophische
Weise den postkolonialen Zustand Südafrikas
reflektieren. Auf gewisse Weise sind die Briefe
Praegs hier nun doch abgeschickt – mit »Polylog« als Postkasten. Ausgehend von Alltagsbeobachtungen, versucht Praeg, diese an gewisse Theorien und Philosophien rückzubinden,
insbesondere an das Konzept des In-der-Weltseins, das Heidegger in »Sein und Zeit« entworfen hatte. Der literarische Anspruch des
Beitrags von Praeg ist, unter Verwendung
der Briefform in einen (fiktiven) Dialog mit
(dem realen) Mudimbe zu treten, um ein Vortragsthema für eine gemeinsame Tagung zu
finden. Viele der Reflexionen Praegs verweilen im Ungefähren, fordern zum kritischen
Mitdenken und vielleicht zum Widerspruch
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heraus, und das ist auch der philosophische
Anspruch seines Text: den schwebenden, ungefähren Zustand Südafrikas – vielleicht Afrikas überhaupt – in Zeiten des Postkolonialismus deutlich zu machen.
Die Auswahl dieser Texte behauptet natürlich keinesfalls, in Sachen »Heidegger interkulturell?« das letzte Wort gesprochen
oder eine Übersicht gegeben zu haben. Sie
folgt einfach jener eingangs erwähnten Beobachtung, dass unter den Philosophinnen und
Philosophen der jüngeren Generation, die
sich mit Interkulturalität beschäftigen, Martin Heideggers Texte offenbar wichtig zu sein
scheinen. Vielleicht kann man auch von einem
Trend sprechen, der, so es ihn geben sollte,
auf erfrischende Weise die Überlegungen dieses berühmten Philosophen für eigene Interessen und Forschungen nutzbar zu machen sucht
und weder im engen Zirkel der HeideggerVerehrung noch in der meist in den Feuilletons ausgebreiteten Heidegger-Ablehnung steckenbleibt.
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